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Die Straßenlaternen brannten, und der letzte Schimmer des Tageslichts verschwand im Westen, als Ferrabys großer Wagen in schnellem Tempo die Hauptstraße einer Vorstadt entlangfuhr und vor der ländlichsten aller Polizeistationen Londons anhielt. Super saß in seinem kleinen Büro, war gerade dabei, eine große, schwerverdauliche Pastete zu verzehren und hatte eine dampfende Tasse Kakao vor sich stehen. Er schaute auf und deutete auf einen Stuhl.

 

»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte er undeutlich. Dann goß er mit einem einzigen Zug den brühheißen Inhalt seiner Tasse hinunter und trocknete sich die Lippen mit einem Taschentuch ab, das schon bessere Tage gesehen hatte. Er nahm eine Zigarrenkiste aus der Schublade seines Schreibtisches und bot sie Jim an.

 

»Nein, ich danke, Mr. Minter«, sagte Ferraby schnell.

 

»Was ist denn mit Ihnen los?« fragte Super verletzt. »Ich wüßte niemand, der diese Zigarren nicht gern möchte.«

 

»Seien Sie mir nicht böse«, sagte Jim.

 

»Die Sitten des Landes geraten immer mehr in Verfall«, sagte Super traurig, als er mit einem Streichholz einen giftig aussehenden Glimmstengel anzündete. »Ich muß allerdings zugeben, daß diese Zigarren schon mehr Leute umgeworfen haben, als ich zählen kann.«

 

Er blies übelriechende Rauchwolken in die Luft, und die Zigarre schien ihm sehr gut zu schmecken.

 

»In Amerika können Sie diese Zigarre nicht unter zehn Cent das Stück kaufen – dort ist sie auch gewachsen.«

 

»Ich muß sehr um Entschuldigung bitten, wenn ich das nicht glaube.«

 

»Sie ist auch nur aus heimischem Tabak gemacht«, gestand Super. »Es ist eine Art vaterländischer Versuch, und wenn Sie erst einmal daran gewöhnt sind, finden Sie sie gar nicht so schlecht. Unser Abteilungsarzt bei der Polizei hat sogar gesagt, daß sie gesund sei. Nach seiner Meinung kann selbst kein Ziegenbock im Umkreis von einer Meile am Leben bleiben, wenn eine solche Zigarre geraucht wird. Auch behauptet er, daß er lebhaft an den Krieg erinnert wird, wenn er hierherkommt. Er hat nämlich eine Gasvergiftung in Frankreich hinter sich.«

 

Super hustete und schüttelte sich: Dann schaute er verzweifelt auf seine Zigarre und warf sie in den Kamin.

 

»Eine ist nicht so gut wie die andere«, sagte er und stopfte seine Pfeife. »Wir werden bald aufbrechen.« Er sah nach seiner Uhr. »Ich habe Lattimer schon vorausgesandt. Er ist ein ganz brauchbarer Mann. Aber wenn etwas herauskommen sollte, so war er nicht dabei.«

 

»Sie meinen, wenn es irgendwelche Unannehmlichkeiten gibt, weil Sie außerhalb Ihres Bezirks arbeiten?«

 

»Ich habe Lattimer gerne, obgleich ich es ihn niemals merken lasse«, sagte er. »Ein junger Mann wird gleich übermütig, wenn man ihn gut behandelt. Und er ist temperamentvoll, geradeso wie ich. Und dann ist er auch ein wenig faul.«

 

Als Super aufstand, um Hut und Mantel zu holen, glaubte Jim eine passende Gelegenheit gefunden zu haben, ihm die Geschichte von den Banknoten in Form eines großen lateinischen ›B‹ zu erzählen, die er heute von Elfa erfahren hatte. Super hörte gespannt zu.

 

»Elson war die Nacht dort?« fragte er. »Das ist doch ein prachtvolles Zusammentreffen, denn diese Frau hat Elson gern, wenn meine Beobachtungen und Schlußfolgerungen stimmen. Und obendrein scheint sie ihn in der Hand zu haben. Mir dämmert schon ein wenig davon, wie sehr wir auf dem Posten sein müssen, um alles zu verstehen, was wir heute nacht zu sehen bekommen werden – ich wünschte nur, Mr. Cardew wäre auch da.«

 

Als Jim eine Frage stellte, schüttelte er den Kopf.

 

»Nein, wir haben keinen Landstreicher aufgegriffen. Das ist gar nicht so merkwürdig, wie Sie vielleicht denken. Die Gegend ist unübersichtlich, ab und zu mit Bäumen bestanden, und was noch mehr ins Gewicht fällt, Cardews Grundstück liegt nur in kurzem Abstand von der südlichen Hauptstraße. Leere Marktwagen verkehren dort den ganzen Tag über, und es ist sehr leicht, auf einen solchen Wagen zu klettern und sich unter der regendichten Decke zu verbergen. Und da wir gerade über wasserdichte Decken sprechen …«

 

Er ging zum Fenster und schaute zum Himmel auf, kam wieder zurück und klopfte an ein Barometer, das auf seinem Tisch stand.

 

»Vermutlich wird es regnen – haben Sie einen Gummimantel bei sich?«

 

»Ja, er liegt im Wagen.«

 

»Sie werden ihn nötig haben«, meinte Super lakonisch.

 

Der Mond schien schwach durch dichtes Gewölk, als sie die Horseham Road entlangfuhren. Sie waren kaum zwölf Meilen unterwegs, als es am südlichen Horizont wetterleuchtete und kleine Staubwirbel sich im Lichtkegel der Autoscheinwerfer zeigten. Super saß zusammengekauert an Jims Seite und sprach lange Zeit kein Wort. Als sie an der äußeren Grenze von Horseham waren, begann es zu regnen. Jim hielt an, um das Verdeck hochzumachen. Man konnte das Rollen des Donners hören.

 

»Ein schönes Gewitter«, sagte Super. »Da ist nichts Spitzfindiges dabei – Gewitter sind Tatsachen, und die braucht man nicht psychologisch zu ergründen. Es ist gerade so, als ob man einen Mann auf frischer Tat ertappt.«

 

Der Wagen hatte Horseham hinter sich, und sie fuhren die Worthing Road entlang.

 

»Wenn eine Frau sich in den Kopf gesetzt hat, zu heiraten, dann ist sie gerade so vernünftig wie ein hungriger Wolf im Fleischerladen. Ich möchte nur wissen, was das ›B‹ zu bedeuten hatte.«

 

»Ich vermute, daß es mit Großfuß zusammenhängt«, meinte Jim.

 

Die Wolken vor ihnen wurden durch hellerleuchtete Blitze zerrissen, und Super wartete mit seiner Antwort, bis das Krachen und Rollen des Donners vorüber war.

 

»Mit Großfuß? Ja, das ist möglich. Warum glauben Sie eigentlich, daß ich mein Leben in dieser stürmischen Nacht riskiere, mitten in der Wut der Elemente? Meinen Sie etwa, ich will meine Neugierde wegen Hanna Shaw befriedigen? Nein, das ist es nicht, ich will« – er sprach langsam und betonte jedes Wort – »ein Geheimnis enthüllen, das ist der richtige Ausdruck.«

 

»Und was ist das für ein Geheimnis, wenn es nicht das merkwürdige Betragen Hanna Shaws ist?« fragte Jim etwas belustigt.

 

»Ich bin einem Geheimnis auf der Spur«, sagte Super und nickte feierlich. »Seit sechseinhalb Jahren. Es ist das Geheimnis einer Verabredung, die niemals eingehalten wird.«

 

Jim schaute ihn verwundert an.

 

»Das ist aber sehr sonderbar, Super.«

 

»Es ist nichts Sonderbares dabei«, sagte Minter selbstgefällig. »Das ist eine nackte Tatsache. Genau wie die Blitze dort und die Himmelsartillerie, wenn ich diesen schönen Ausdruck gebrauchen darf, den ich neulich in einem Buch gelesen habe. Sechseinhalb Jahre – das ist eine lange Zeit. Aber für einen alten Mann bedeutet es nur eine kurze Spanne. Wenn es auch lange dauert, schlägt es doch endlich ein. – Er bat mich, daß ich in sein Haus in Chellamore kommen möchte. Sein Name war Sir Joseph Brixton. Er war sogar ein Stadtrat der City. Jetzt ist er tot, und man nimmt allgemein an, daß er im Himmel ist. Aber damals bat er mich, zu ihm zu kommen, und als ich hinkam, war er nicht zu Hause. Wenigstens ließ er bestellen, daß er nicht zu Hause sei. Sein Diener brachte mir einen Brief, in dem er mir für die Mühe dankte, die ich mir gegeben hätte. Es lagen zwei Zehnpfundnoten bei, die ich zu wohltätigen Zwecken benutzte.« Super machte eine Pause. »Und diese Wohltätigkeit beginnt in meinem eigenen Haushalt.«

 

»Was in aller Welt hat denn das mit unserem wilden Abenteuer in der Nacht zu tun?« fragte Jim.

 

»Sehr viel – jetzt erst fange ich an, mich über unsere Fahrt heute abend zu freuen. – Ich hoffe, daß Lattimer einen Regenmantel hat.«

 

»Wissen Sie, warum Brixton nach Ihnen geschickt hatte?«

 

Super nickte im Dunkeln.

 

»Das weiß ich. Und ich weiß auch, warum er seine Verabredung nicht einhielt.«

 

»Aber Sie sagten doch …«, begann Jim.

 

»Ich weiß das Warum, aber das Wie ist mir ein Rätsel.«

 

Der Regen strömte nieder, und die Blitze zuckten unaufhörlich. Jim bog von der Poststraße in eine Nebenstraße ein, die nach dem Ort Groß-Pawsey führte.

 

Das alte Dörfchen lag in vollständiger Dunkelheit da, nur aus den Fenstern des Gasthauses drang Licht. Das Auto fuhr jetzt an breiten, grünen Rasenflächen und Gebüschen vorüber und wandte sich dann zu dem tieferliegenden Küstenweg.

 

Groß-Pawsey lag von Klein-Pawsey ungefähr zehn Kilometer entfernt – Klein-Pawsey wurde es noch auf den Karten des 19. Jahrhunderts genannt; aber es hat längst seine Vorsilbe verloren. Das kleine Fischerdorf hatte sich in ein elegantes Bad verwandelt. Der Name Pawsey war in riesengroßen Buchstaben aus elektrischen Lampen an den Klippen nach der See angebracht. Es besaß einen großen Wintergarten, eine Promenade und einen modernen Anlegeplatz für Dampfer. Kapellen spielten in seinen herrlich angelegten Gärten, bedeutende Schauspieler traten auf den Bühnen seiner Theater auf, und es gab Hotels von solcher Größe und Bedeutung dort, daß allein schon ihre Portiers große Herren waren.

 

Zwei Wege verbanden Pawsey mit dem kleinen Dorf gleichen Namens. Der eine führte parallel zu den Klippen durch die Dünen, der andere unten an der Küste entlang. Der erste war vollständig mit einer Schotterschicht überzogen und großartig beleuchtet, der zweite war verfallen und kaum noch ein Fahrweg zu nennen. Auf die Herstellung und Unterhaltung des höheren Weges hatten die Gemeinde und der Stadtrat Von Pawsey alles Geld ihrer Steuerzahler verschwendet, auf den anderen Weg dagegen nichts. Seit langer Zeit war diese Straße ein Streitobjekt zwischen dem Kriegsministerium, das dort ein großes Stück Küstenland besaß, und den Stadtvätern. Und so war sie in dem Zustand geblieben, in dem sie sich schon zu der Zeit unserer Vorväter befand. Hier und da brachten die Zeitungen einen heftigen Artikel mit einer Überschrift von riesengroßen Buchstaben: »Der Zustand der Küstenstraße ist ein Skandal.« Ausfallende Bemerkungen und Feststellungen wurden in großen Versammlungen gemacht, die das Kriegsministerium beschuldigten, daß es sich nicht an den Kosten der Straßenreparatur beteiligen wolle. Aber das Resultat all dieser Reden und der vielen Artikel war schließlich nur, daß alles beim alten blieb.

 

»Es ist wirklich eine verteufelt schlechte Straße«, sagte Super, als der Wagen mit vielen Stößen über den holprigen Weg fuhr. »Wir wollen in dem alten Steinbruch halten, wenn Sie nichts dagegen haben.«

 

»Kennen Sie den Platz?« fragte Jim überrascht.

 

»Amtliche Karte«, war die Erklärung. »Habe sie den ganzen Morgen studiert. Das Haus liegt fünfhundertfünfzig Meter vom Fuße des Hügels und vier Kilometer von Pawsey entfernt. Wir müßten eigentlich Lattimer an dieser Stelle finden. – Blenden Sie die Lichter ab, Ferraby.«

 

Lattimer stand im Schutz einer überhängenden Felsenpartie und war in einen vollständig nassen und glänzenden Regenmantel gehüllt. Sie wären an ihm vorbeigefahren, ohne ihn zu sehen, wenn er nicht aus seinem Versteck herausgetreten wäre.

 

»Es ist bisher niemand zu dem Haus gekommen«, berichtete er, als sie aus dem Wagen stiegen.

 

»Das ist aber sonderbar – Miss Shaw ist doch schon heute morgen hierhergefahren«, sagte Jim.

 

»Ich hätte mich sehr gewundert, wenn sie gekommen wäre«, warf Super ein. »Ich wußte, daß sie nicht hierherfuhr.«

 

Ferraby wurde stutzig.

 

»Das ist meine Schlußfolgerung«, sagte Super selbstzufrieden. »Logische Schlußfolgerung, auch möglich, daß etwas Psychologie dabei ist.«

 

»Aber woher wissen Sie denn, daß sie heute morgen nicht hierherkam?« fragte Jim hartnäckig.

 

»Weil Lattimer es mir vor einer Stunde durch das Telefon gesagt hat. Das ist ganz einfache Polizeilogik – man stellt eine Schildwache auf den Platz und läßt sie durch die Strippe reden. Und außerdem ist es auch ein logischer Schluß – ich schließe nämlich aus seiner Beamtenstellung, daß er mir die Wahrheit sagen wird. Wir wollen den Wagen hier rechts seitlich unterstellen, damit ihn niemand sehen kann, Mr. Ferraby. – Leuchten Sie einmal mit Ihrer Taschenlampe, Sergeant … Nun aber, bitte, alle Lichter aus.«

 

Unbarmherzig strömte der Regen nieder, obgleich das Gewitter vorübergezogen war. Bei dem Wetterleuchten draußen auf der See sahen sie den Weg, als sie die Straße entlanggingen. Manchmal half auch der Sergeant mit seiner Lampe.

 

Beach Cottage, das Haus Mr. Cardews, erhob sich zwischen der Straße und dem Meeresufer. Es war ein niedriges, viereckiges Steingebäude, von einer brusthohen Ziegelmauer umgeben. Auf jeder Seite des Hauses war für Durchfahrten eine Öffnung in der Umfassungsmauer.

 

»Sind Sie sicher, daß niemand im Hause ist?«

 

»Ich bin meiner Sache ganz sicher. Die Tür ist von außen mit einem Vorhängeschloß geschlossen.«

 

»Was ist das hinten für ein Gebäude – eine Garage?«

 

Jim konnte kein anderes Gebäude sehen, aber Super hatte Augen wie eine Katze.

 

»Nein, das ist ein Bootshaus. Es ist leer. Als Mr. Cardew das Haus bewohnte, hatte er dort ein langes Ruderboot, wie mir ein Bootsmann erzählte. Aber er hat es später verkauft.«

 

Super untersuchte die Tür und die Fenster, ohne etwas zu finden.

 

»Sicher konnte sie nicht hineinkommen«, sagte Jim. »Wahrscheinlich hat sie das Unwetter abgehalten.«

 

Super brummte etwas, als ob das Unwetter Hanna Shaws Plänen sehr zustatten käme.

 

»Ich behaupte nicht, daß sie bestimmt kommen wird. Es ist möglich, daß ich da nur eine Theorie aufgestellt habe. Es ist ja immer schlimm, wenn ich zuviel denke.«

 

Jim hatte noch nie ein so verlassenes Haus gesehen. Auf der einen Seite dehnte sich die Küste, auf der anderen, jenseits der Straße, stiegen die steilen Klippen empor, die man aber in der stockdunklen Nacht nur ahnen konnte.

 

»Die Gegend ist sehr reich an Höhlen«, sagte Lattimer. »Die meisten sind aber nicht zugänglich.«

 

Sie gingen langsam wieder zu der Stelle zurück, wo sie den Wagen versteckt hatten.

 

»Ich wundere mich, daß eine so lebhafte Nachfrage nach Cardews Sommerhaus besteht«, sagte Jim.

 

»Was meinen Sie damit?« fragte Super. »Das ist gerade ein Platz, an den ich mich gerne zurückziehen möchte, wenn ich einmal in Pension gehe. Ich wette, daß es bei Sonnenschein ein wunderbares Plätzchen ist. Und nachts braucht man doch nur zu schlafen.«

 

Er hüllte sich fröstelnd in seinen Mantel, und Jim bemerkte, wie er auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr sah.

 

»Es ist fast elf Uhr – wir wollen ihr bis zwölf Uhr Zeit geben. Wenn dann nichts passiert ist, muß ich Sie um Verzeihung bitten.«

 

»Was vermuten Sie hier zu finden?« fragte Jim. Er drückte jetzt in Worten aus, woran er schon den ganzen Abend gedacht hatte.

 

»Das ist sehr schwer zu sagen«, entgegnete Super. »Sehen Sie, wenn eine alte Jungfer in die Jahre kommt und mannstoll wird, und wenn sie schon damit droht, daß was passiert, wenn sie sich nicht verheiratet, dann habe ich alle Veranlassung, mich um die Sache zu kümmern. Es ist möglich, daß ich mehr erwartet habe, als wir hier finden, möglich –«

 

Plötzlich ergriff er Jims Arm und zog ihn zur Seite.

 

»Schnell hinter den Felsen«, stieß er hervor.