Kapitel 20

 

20

 

Sergeant Lattimer wartete die Dunkelheit ab, ehe er seine Wohnung verließ. Er machte einen Umweg durch einsame Straßen und näherte sich langsam dem Haus des Amerikaners. Er ging nicht durch die Vordertür, sondern er benutzte eine kleine Öffnung in der Hecke, die er genau kannte. Nachdem er sich durch das Dickicht hindurchgezwängt hatte, kam er zu der kleinen grünen Pforte in der Mauer. Diesmal war Mr. Elson nicht anwesend, um ihn zu erwarten, noch war seine Gegenwart nötig. Lattimer steckte einen Schlüssel ins Schloß, trat ein, schloß wieder hinter sich zu, und nach einem kurzen Umhersehen eilte er vorsichtig über den Kiesweg zum Haupteingang. Er klopfte nicht. Er hatte etwas vor, das er schnell erledigen wollte. Aus seiner Tasche nahm er ein Stück weißes, auf der Rückseite gummiertes Papier, feuchtete es an und drückte es gegen, das mittlere Paneel der Eingangstür. Als das geschehen war, ging er halb um das Haus herum und kam zu zwei Türfenstern, die sich auf den Rasenplatz öffneten. Er klopfte leise. Eine Zeitlang kam keine Antwort. Als er wieder klopfte, hörte er das Rücken eines Stuhles und bemerkte, wie die schweren Vorhänge beiseite gezogen wurden. Elsons erschrockenes Gesicht sah ins Dunkle.

 

»Sie sind es?« grollte er.

 

»Ja, ich«, erwiderte Lattimer lakonisch. »Sie können Ihren Revolver einstecken, es will Ihnen niemand etwas tun.«

 

Er zog die Vorhänge dicht hinter sich zusammen, fiel in einen Stuhl und langte mechanisch nach der offenen Zigarrendose.

 

»Super ist in die Stadt gegangen«, sagte Lattimer.

 

»Meinetwegen kann er in die Hölle gehen«, knurrte Elson.

 

Die Anzeichen seiner schweren Trunkenheit waren deutlich sichtbar. Sein Gesicht war kaum wiederzuerkennen. Seine Hände und seine Lippen zitterten bei dem geringsten Anlaß.

 

»Ich darf wohl Sagen – Super geht überallhin, wenn es sich um einen interessanten Fall handelt.«

 

»Er sollte vorsichtiger sein«, begann der Mann laut; aber Lattimers erhobene Hand und sein erschrockener Gesichtsausdruck dämpften seine Stimme.

 

»Es ist nicht notwendig, deshalb ein Geschrei zu erheben.«

 

»Ich habe nichts damit zu tun.«

 

»Vielleicht denkt er das«, sagte Lattimer und biß das Ende der Zigarre mit seinen starken Zähnen ab. »Sie wissen nie, was Super denkt. Ich bin neugierig, ob er mich verdächtigt. Er gab mir heute morgen eine lange Lektion über den Vorteil des Bekehrens von Kronzeugen.«

 

Elson feuchtete seine Lippen an.

 

»Ich sehe nicht ein, was das mit Ihnen oder mit mir zu tun hat«, begann er.

 

»Wir wollen nicht ins Persönliche kommen«, sagte Lattimer nachlässig. »Ich werde einen kleinen Schluck Whisky nehmen, der ganze Rest bleibt Ihnen – haben Sie heute ein Freudenfeuer angezündet?«

 

»Wie? Was meinen Sie?«

 

»Ich sah Ihren Schornstein rauchen. Es ist doch wohl zu warm, um zu heizen.«

 

Elson antwortete nicht gleich.

 

»Ich habe eine Menge altes Zeug weggeschafft«, sagte er dann kurz.

 

Sie rauchten fünf Minuten lang schweigend.

 

»Sie waren heute morgen in der Stadt«, stellte Lattimer fest.

 

Der Mann sah ihn mißtrauisch an.

 

»Ich wollte einmal aus diesem verfluchten Nest heraus. Ich kann doch wohl noch in die Stadt gehen, nicht wahr?«

 

»Was für eine Kabine haben Sie bekommen?«

 

Elson sprang entsetzt auf.

 

»Vermutlich nahmen Sie nicht die direkte Linie nach New York?«

 

»Woher wissen Sie das?« keuchte Elson.

 

»Ich vermutete es. Ich habe schon lange das Gefühl. Und natürlich bedrückt es mich«, sagte Lattimer lässig, »wenn ich sehe, daß mir eine Einkommensquelle versiegt.«

 

»Ich dachte, Sie nannten mein Geld ›Darlehen‹«, grinste Elson. »Ich möchte wissen, warum ich Ihnen überhaupt etwas gab.«

 

»Ich bin nützlich. Ich mag am nächsten Sonnabend noch nützlicher sein. Natürlich können Sie niemand brauchen, der weiß, daß Sie das Land verlassen wollen. Ich vermute, Sie sind in Kanada sicherer …«

 

»Ich bin überall sicher«, rief Elson heftig. »Ich sage Ihnen, ich habe nichts mit der Polizei zu tun.«

 

»Das haben Sie mir schon so oft erzählt, daß ich es beinahe glaube. Nur heraus damit, Elson, warum so eilig?«

 

»Ich habe England satt«, sagte Elson mürrisch. »Seit Hanna tot ist, bin ich mit den Nerven fertig. Sagen Sie, Lattimer, was ist aus diesem Landstreicher geworden?«

 

»Dem Burschen, den Super aufgriff? Ach, der ist irgendwo in London. Warum?«

 

»Ich weiß nicht – es interessierte mich nur«, sagte Elson heiser. »Ich sah ihn in meinem Garten an jenem Morgen, an dem er eingefangen wurde – mein Chauffeur war auf der Straße, als Minter ihn fing. Diese Sorte von Landstreichern ist mir unheimlich. Er ist doch verrückt, nicht wahr?«

 

»Verrückt? Ja, ich glaube – wenigstens Super glaubt es. Ich habe nicht die Erlaubnis, etwas zu denken, wenn Super in der Nähe ist.«

 

»Hören Sie, Lattimer« – Elson beugte sich vor und dämpfte seine Stimme zu einem heiseren Flüstern – »Sie kennen das Gesetz dieses Landes … niemand achtet darauf, was ein verrückter Bursche sagt, nicht wahr? Ich meine, die Richter? Gesetzt den Fall, er erzählt etwas – er verleumdet Menschen oder so etwas? Man würde doch nicht darauf achten, nicht wahr?«

 

Lattimer sah ihn durchdringend an. »Warum erschrecken Sie so?« fragte er.

 

»Ich erschrecke nicht«, keuchte Elson. »Ich bin nur neugierig. Ich habe eine Erinnerung, als ob ich diesen Burschen in Amerika irgendwo getroffen hätte. Mag sein in Arizona. Ich war Farmer und beschimpfte ihn – das habe ich mit vielen Leuten gemacht. Sie verstehen, was ich meine? Das ist das einzige, worüber ich besorgt bin.«

 

Er log, und Lattimer wußte, daß er log.

 

»Ich glaube nicht, daß sie groß Notiz von dem nehmen, was ein Verrückter sagt – ich hoffe, sie werden es nicht tun. Aber er wird nicht mehr lange verrückt sein. Super erzählt mir, daß er operiert werden soll und daß große Hoffnung auf seine Wiederherstellung besteht.«

 

Elson sprang auf, sein Gesicht zuckte.

 

»Das ist eine Lüge! Eine Lüge! Er kann nicht recht haben! Gott, wenn ich das gewußt hätte! Wenn ich das gewußt hätte!«

 

Lattimer beobachtete ihn unentwegt. Kein Muskel seines scharfen Gesichtes regte sich.

 

»Ich dachte es mir. Das ist der Mann, der Sie in der Hand hat. Sie können aber ruhig sein: Es wird Tage und Wochen dauern, bevor John Leigh reden kann – wenn er überhaupt jemals redet.«

 

Elson wurde ruhiger, und es fiel ihm etwas in Lattimers Ton auf, als er sich zu der halbleeren Whiskyflasche wandte.

 

»In welchem Verhältnis stehen Sie zueinander?«

 

Der Sergeant zuckte die Schultern.

 

»Ich habe nichts mit ihm zu tun.«

 

Elson bewegte sich nicht. Sein aufgedunsenes Gesicht war Lattimer zugekehrt.

 

»Nehmen wir an, daß er nicht so verrückt ist, wie Sie glauben. Man sagt, daß er in einer Höhle oder so etwas oben bei den Klippen in der Nähe von Beach Cottage gehaust hat. Es ist doch sehr leicht möglich, daß er nicht weit entfernt war, als Hanna dort hinausfuhr. Was denken Sie darüber?«

 

Lattimer lachte und blies eine Rauchwolke zur Decke empor.

 

»Was würden Sie dazu sagen?« fragte er dann eindringlich.

 

»Sie haben unrecht, wenn Sie glauben, daß ich irgend etwas mit Leigh zu tun habe. Natürlich habe ich von ihm gehört, aber ich habe ihn niemals gesehen, bis Super ihn verhaftete – ich wußte selbst nicht, daß er verhaftet war, als ich ihn sah. Er saß mit Super im Büro und trank Tee.«

 

Elson hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, und lauschte angestrengt. Plötzlich zog er seine Uhr.

 

»Meine Dienerschaft kommt zurück«, sagte er.

 

»Kommt jemand hier herein?«

 

»Nein, nur wenn ich läute.«

 

Aber während er noch sprach, klopfte es schon an der Tür. Lattimer erhob sich schnell und schlüpfte hinter die Fenstervorhänge, als Elson zur Tür ging und aufschloß. Es war der Diener.

 

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte er, »ich wollte Sie nicht stören …«

 

»Nun ja, aber warum haben Sie mich dann gestört?« fragte Elson.

 

»Ich weiß nicht, Sir, ob Sie den Zettel an der Tür gesehen haben. Ich konnte ihn nicht abreißen, denn er ist mit der ganzen Fläche angeklebt.«

 

»Ein Zettel an der Tür?« fragte Elson mit veränderter Stimme. »Wovon sprechen Sie eigentlich?«

 

Er ging hinter dem Diener her und eilte quer durch die Halle. Die Lichter brannten bereits. Er sah das weiße, viereckige Papier auf der Türfüllung, las es langsam und traute seinen Augen kaum.

 

»Zuerst Hanna Shaw. Sie werden der nächste sein, der stirbt.«

 

Er faßte sich mit der Hand an die Kehle und versuchte zu sprechen, aber er konnte nur ein ängstliches Ächzen und Stöhnen hervorbringen. Er taumelte zu seinem Arbeitszimmer zurück, warf die Tür krachend hinter sich zu und schloß sie ab.

 

»Lattimer«, rief er keuchend. »Lattimer!«

 

Er sah hinter die Vorhänge, aber der Sergeant war bereits auf dem Weg verschwunden, auf dem er gekommen war.

 

Kapitel 21

 

21

 

Von Supers Hinterhof kam der vertraute Spektakel des Motorrades, den alle Leute so gut kannten, die im Umkreis von einem Kilometer wohnten. Einst hatten mehrere gute Freunde und Gönner eine Subskription eröffnet, um Super die neueste und geräuschloseste Maschine zu kaufen. Sie wurde ihm in Gegenwart des Majors und der ganzen Spitzen des Ministeriums überreicht. Es dauerte genau eine Woche, dann war diese schöne Maschine plötzlich verschwunden! Super erzählte den Leuten eine ergreifende Geschichte, wie er mit dem Motorrad Schiffbruch erlitten hatte. Aber es war ein offenes Geheimnis, daß er es auf einer öffentlichen Auktion verkauft und sich von dem Erlös einen Brutapparat für seine Hühner gekauft hatte. Außerdem wurde davon auch Feuerfliege neu angestrichen, und er zahlte noch eine beträchtliche Summe auf der Bank ein.

 

Es war noch sehr früh am Morgen, und die meisten Bürger waren noch nicht auf. Super hatte seine Maschine auf dem Küchentisch vollständig auseinandergenommen und war gerade dabei, ein Stück des Motors zu reparieren, das nur durch sein eigenes Herumbasteln in Unordnung geraten war.

 

Ein Beamter stand in respektvoller Haltung, ebenfalls in Hemdsärmeln, neben ihm. Er verstand etwas von Motoren und Maschinen und wurde deshalb stets bei solchen Gelegenheiten zugezogen, um allem, was Super sagte, seine Zustimmung zu geben. Und in Supers Augen blieb er auch nur so lange eine Autorität in mechanischen Dingen, wie er seinen Ansichten beistimmte.

 

»Lärm ist natürlich, mein lieber Sergeant«, sagte Super, als er mit einem Schlüssel eine Schraube festzog. »Haben Sie schon einmal gehört, daß jemand einen Schalldämpfer für den Donner erfand?«

 

»Nein, Sir.«

 

»Das Schaf blökt, und die Rinder brüllen.«

 

»Ich schlug Ihnen nur vor, sich einen besseren Schalldämpfer für Ihren Motor anzuschaffen«, sagte der Beamte respektvoll.

 

»Das wäre Geldverschwendung, Sergeant. Außerdem lieben alle Leute das Geräusch der Feuerfliege. Sie drehen sich dann nachts in ihren Betten um und sagen: Es ist alles in Ordnung, Super ist unterwegs.«

 

Super ließ seinen Motor Probe laufen, und es drehten sich wirklich viele Leute in ihren Betten um, ohne allerdings über das Geräusch sehr erfreut zu sein.

 

»Aber Super, wäre es nicht unangenehm, wenn ein Dieb, der in eine einzelne Villa einbricht, schon von weitem hört, daß Sie ankommen?«

 

»Die hören überhaupt nicht, wenn ich komme«, sagte Super und schaute seinen Untergebenen groß und erstaunt an. »Das Geräusch dieser Maschine ist wie das Sprechen eines Bauchredners. Sie glauben, es kommt von rechts, während es tatsächlich von links kommt. Aber was ist denn eigentlich heute mit Ihnen los, Sergeant? Sie streiten dauernd mit mir herum. Zum Donnerwetter, man kann ja überhaupt nicht mehr zu Wort kommen!«

 

Infolgedessen schwieg der Sergeant von jetzt ab. Super beendete seine Arbeit zu seiner größten Zufriedenheit, steckte seine Pfeife an, betrachtete den Morgenhimmel und fand das Wetter gut.

 

Nachdem er das Hühnerhaus revidiert und die Eier eingesammelt hatte, ging er hinein, um sich vollständig anzuziehen. Er trocknete sich gerade mit seinem rauhen Badehandtuch ah, als Lattimer sich zum Dienst meldete.

 

»Wo waren Sie eigentlich vorige Nacht, Lattimer?« fragte Super und brummte ihn über die Ecke seines Handtuches an.

 

»Es war meine freie Nacht.«

 

»Wie ich so jung war, da gab es so etwas wie freie Nacht überhaupt nicht«, sagte der alte Mann bissig. »Bringen Sie mir die Post.«

 

Lattimer kam mit einem kleinen Paket amtlicher Briefe zurück.

 

»Das ist eine Rechnung, da ist wieder eine Beschwerde über Feuerfliege, das ist ein Steckbrief, ein Brief von dem durchtriebenen Kerl im Finanzministerium«, murmelte Super vor sich hin, als er Umschlag für Umschlag durch die Finger gleiten ließ. »Und das ist der Brief, den ich haben will.«

 

Es war ein einfacher Briefumschlag, wie Lattimer bemerkte, und er hatte einen gedruckten Kopf, den er nicht lesen konnte.

 

»Hm!« sagte Super, als er den Inhalt überflogen hatte. »Haben Sie schon einmal etwas von Akonit gehört?«

 

»Nein – ist es ein Gift?«

 

»Es ist schon ein bißchen giftig – soviel wie ein Stecknadelkopf würde Sie unter die Erde bringen, Lattimer, obgleich es mich nicht umbringen würde, denn ich bin stärker und robuster als Sie und bringe meine Nächte nicht mit Jazz und Charleston zu und tanze nicht immer gleich mit einem ganzen Dutzend Mädchen herum.«

 

»Ist es der Bericht des Gerichtschemikers?« fragte Lattimer.

 

»Ja. Sie können einmal nachforschen und herausfinden, ob jemand Akonit gekauft hat. Für gewöhnlich wird so etwas nicht gehandelt. Fragen Sie einmal in Scotland Yard nach. Haben Sie noch nichts von Akonit gehört?«

 

Super schloß gerade seinen Kragen und richtete seine verzweifelten Blicke zur Decke.

 

»Nein, das Zeug ist mir unbekannt.«

 

»Ich wette, daß der alte Cardew, dieser berühmte Amateurdetektiv, Ihnen ein Dutzend Fälle an den Fingern aufzählen kann, in denen Leute mit Akonit getötet wurden.«

 

»Leicht möglich«, stimmte Lattimer bei.

 

»Ich kann Giftmörder nicht leiden«, sagte Super vergnügt und band seine Krawatte mit ungewöhnlicher Sorgfalt. »Es ist ungefähr die niedrigste Art von Mördern, und außerdem gestehen sie niemals ihre Tat ein. Wissen Sie das, Lattimer? Ein Giftmörder gesteht niemals, selbst wenn ihm schon der Strick ums Genick gelegt ist.«

 

»Ich wußte das nicht«, sagte Lattimer geduldig.

 

»Ich möchte aber wetten, daß der alte Cardew es weiß. Und ich wette obendrein, daß er Bücher über Mörder und Giftmorde hat, daß Ihnen die Haare zu Berge stehen. Ich muß mir doch tatsächlich ein Abonnement für eine wissenschaftliche Bibliothek zulegen. Ich bin so weit hinter meiner Zeit zurück, daß ich mich bei der erstbesten Gelegenheit blamieren kann.«

 

Er erledigte seine amtliche Korrespondenz in äußerst kurzer Zeit. Dann bestieg er seine Maschine, um verschiedene wichtige Besuche zu machen. Sie wären vielleicht nicht wichtig gewesen, aber Super hielt sie eben für wichtig. Eine Viertelstunde lang war er in der Telefonzentrale und fragte den Leiter der Station aus. Dann verbrachte er ungefähr zwei Stunden auf der Polizei in High Street und erwarb sich in dieser Zeit eine außerordentliche Kenntnis über verschiedene Arten von Schreibpapier, Wasserzeichen und anderen Erkennungszeichen. Danach informierte er sich kurz in einem Schreibmaschinengeschäft. Als er dann aber weit von seinem Bezirk entfernt die Seitenstraßen durchwanderte, die vom Strand abzweigen, begannen erst seine eigentlich wichtigen Nachforschungen.

 

Jim sah ihn zufällig, als er mit Elfa zum Green Park fuhr. Zu seinem Mißvergnügen bestand sie darauf, daß er anhielt. Sie fuhren ungefähr hundert Meter zurück, um den weit ausschreitenden alten Super einzuholen.

 

»Wir fahren nach Kensington Garden, wollen Sie nicht mitkommen?« fragte sie.

 

Super drehte sich nach dem Wagen um.

 

»Ich glaube nicht, daß junge Leute meine Gegenwart lieben, Miss Leigh. Ich bin niemals ein Spielverderber gewesen und gehöre nicht zu den Menschen, die jungen Liebesleuten im Wege sein wollen.«

 

»Unsere Herzen sind zwar jung«, sagte Elfa, »aber sie lieben sich nicht.« Sie wurde sehr rot dabei. »Mr. Ferraby ist nur immer sehr freundlich zu mir.«

 

»Wer würde nicht freundlich zu Ihnen sein?« fragte Super. »Sind Sie denn auch sicher, daß Mr. Ferraby nichts dagegen hat?«

 

»Warum sollte er denn etwas dagegen haben?«

 

Super stieg zögernd ein.

 

»Ich sagte gerade, daß. es mir sehr fernliegt, zu stören, wenn zwei junge Leute allein sein wollen.«

 

»Wir sind sehr erfreut, Sie zu sehen, Super«, sagte Jim etwas steif.

 

»Ich bin der Meinung, daß junge Leute noch viel Zeit haben, sich in die Augen zu schauen, sich an den Händen zu halten und so weiter. Und man braucht nicht gerade den Kopf zu verlieren, wenn irgend so ein alter Onkel ins Zimmer kommt, ohne vorher zu husten oder anzuklopfen. Ich selbst bin niemals verliebt gewesen«, sagte er ganz traurig. »Ich habe früher einmal so eine Affäre mit einer Witwe gehabt – habe ich Ihnen jemals von dieser temperamentvollen Dame erzählt?«

 

»Ich bin überzeugt, daß sie sich sehr nach Ihnen gesehnt hat, als Sie sie verließen«, meinte Jim etwas boshaft.

 

»Das hat sie auch wirklich getan. Sie hat sich nur zollweise an unsere Trennung gewöhnt. Und dann möchte ich noch bemerken, daß der Teller, den sie mir an den Kopf warf, haarscharf vorbeiging.«

 

Es war das erste und einzige Mal, daß er die Art und Weise erwähnte, wie er mit seiner temperamentvollen Witwe auseinanderkam.

 

»Ich bin dafür, daß die Menschen sich in jungen Jahren heiraten. Wenn sie alt genug geworden sind, um sich scheiden zu lassen, haben sie sich schon so aneinander gewöhnt, daß sie es bleiben lassen.«

 

»Heute abend sind Sie aber sehr lustig aufgelegt«, sagte Jim und mußte trotz seiner schlechten Stimmung lachen.

 

»Ich bin niemals lustig um diese Tageszeit.«

 

Als sie an der Wache im Hyde Park vorbeifuhren, stand der Posten stramm und präsentierte das Gewehr. Super zog feierlich den Hut und dankte.

 

»Er grüßte doch den Offizier auf der anderen Seite«, erklärte Elfa. Super schüttelte traurig den Kopf.

 

»Ich dachte, man würde mich auf meine alten Tage doch noch anerkennen. Man müßte eigentlich jedesmal die Kirchenglocken läuten, wenn ich nach London komme.«

 

Bei der dritten Tasse Tee erwähnte er so nebenbei, warum er zur Stadt gekommen war, und sagte plötzlich in seiner charakteristischen, sprunghaften Weise: »Miss Leigh, der Kuchen ist vorher präpariert worden. Ich will Ihnen nichts vormachen, Sie würden mir ja doch nicht glauben.«

 

»Er war also vergiftet?« fragte sie und wurde blaß. Super nickte.

 

»Ich glaube, daß Ihr Vater einen Feind hat, der nicht wünscht, daß er wieder zu Verstand kommt. Es ist möglich, daß er zu viele Dinge von seiner kleinen Höhle aus sah. Vermutlich war es aber etwas, bevor er – bevor sein Geist Schaden litt. Wenn Sie mich fragen, wer es tat, so kann ich Ihnen darauf keine Antwort geben, weil ich Ihnen das nicht sagen darf. Und wenn ich es Ihnen auch wirklich sagte, so hätte ich doch noch keinen Beweis dafür und könnte den Mann nicht verhaften.«

 

Seine Blicke wanderten über die Nachbartische.

 

»Als ich ein junger Beamter war, wäre es mir nie eingefallen, wie ein feiner Herr herumzulaufen und Eiscreme zu essen.« Der Übergang von einem Gegenstand zum andern war so plötzlich, daß Elfa bestürzt war. Aber Jim, der Supers merkwürdige Gewohnheiten kannte, folgte seinen Blicken. An einem der äußeren Tische sah er ein bekanntes Gesicht.

 

»Haben Sie Lattimer hierher bestellt?«

 

Super schüttelte den Kopf.

 

»Eiscreme essen«, sagte er entrüstet. »Wie ein junges Mädchen! Als ich in dem Alter war, habe ich kameradschaftlich ein oder mehrere Glas Bier getrunken.«

 

»Hat er Sie gesehen?« fragte Jim mit leiser Stimme.

 

»Sicher hat er mich gesehen. Dieser Lattimer sieht alles. Er ist so ähnlich wie die bekannte Spinne mit den vierzig Millionen Augen.«

 

Aber wenn Lattimer ihn auch gesehen hatte, so ließ er sich doch nichts merken. Er aß seelenruhig sein Eis und genierte sich nicht im mindesten, als Super aufstand, zu ihm hinkam und ihm gegenüber Platz nahm. Jim bemerkte, wie der alte Mann auf ihn einsprach. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, war Super in seiner bissigsten Gemütsverfassung.

 

Als er zurückkam, rief Lattimer den Kellner, zahlte und verschwand etwas plötzlich.

 

»Ich habe ihm die striktesten Anweisungen gegeben, die Wache nicht zu verlassen – und hier ißt er Eiscreme wie ein Backfisch! Haben Sie eine Uhr bei sich, Mr. Ferraby? Ich habe keine. Früher hat man einmal davon gesprochen, daß man mir eine verehren wollte, aber dieser Plan kam nicht zur Ausführung. Wenn Sie noch eine alte Uhr haben, die Sie nicht brauchen, so können Sie sie mir geben.«

 

Als Jim die genaue Zeit gesagt hatte, stand er auf.

 

»Ich muß nun gehen. Ich habe Feuerfliege in der Bayswater Road stehen, das ist ja nur ein paar Schritte von hier.«

 

Mit einer kurzen Verbeugung vor Elfa war er gegangen, bevor sie auch nur eine von den Fragen an ihn richten konnte, die sie sich zurechtgelegt hatte.

 

Von ihren Plätzen aus konnten sie die Straße und die Brücke überschauen, die über den See führte. Als Super fortging, sah Jim einen Mann quer über die Straße gehen und ihm in respektvoller Entfernung folgen. Es war Lattimer.

 

»Ich bin nur neugierig, was Lattimer eigentlich macht. Super sagte doch, daß er ihn zur Polizeiwache zurückgeschickt hat, aber er scheint den Befehl nicht so schnell ausführen zu wollen.«

 

Die beiden blieben noch eine halbe Stunde sitzen und plauderten sorglos miteinander. Dann gingen sie zum Wagen, der auf der Seite der Straße parkte. Jim war schon eingestiegen, als ihn jemand beim Namen rief.

 

»Entschuldigen Sie, Mr. Ferraby.«

 

Jim schaute sich um, und sein Blick fiel auf ein unbekanntes Gesicht. An den zerrissenen Schuhen und dem verbeulten Strohhut des Mannes sah man deutlich, daß er ein Landstreicher war.

 

»Können Sie sich nicht mehr auf mich besinnen – ich bin Sullivan, der Gentleman, gegen den Sie damals so liebenswürdig waren, in Old Bailey als Staatsanwalt aufzutreten.«

 

»Donnerwetter!« sagte Jim leise. »Sie sind also der Verbrecher, den man eigentlich hätte einsperren müssen?«

 

»Ja, das stimmt«, sagte der andere und ließ sich nicht im mindesten einschüchtern. »Können Sie mir nicht etwas Geld für ein Nachtlogis geben? Ich habe eine Woche lang draußen im Freien geschlafen.«

 

Jim; der wenig Lust hatte, seine Bitte zu gewähren, schaute sich nach einem Polizisten um. Aber anscheinend hatte sich Sullivan schon vorher genau umgesehen, ob jemand von der Polizei in der Nähe war. Jim sah ein Lächeln auf dem Gesicht Elfas und wandte sich zu ihr um.

 

»Dies ist der arme Kerl, über den wir damals gesprochen haben, Elfa. Sie besinnen sich, daß ich die Anklage gegen ihn vertrat?«

 

»Das haben Sie gut gemacht«, sagte Sullivan devot. In diesem Augenblick sah Jim, wie eine berittene Polizeipatrouille um die Ecke bog; aber Sullivan sah sie auch.

 

»Geben Sie mir doch ein paar Shilling«, sagte er plötzlich mit dringlicher Stimme. »Sie helfen mir damit außerordentlich. Das einzige Geld, das ich mir verdienen konnte, war ein Shilling, den ich gestern abend von einem Herrn bekam, weil ich einen Kuchen nach Trafalgar Square brachte.«

 

Die scharf umherblickenden Polizisten kamen näher, und Sullivan wandte sich, um zu entschlüpfen; aber Jim hielt ihn am Arm fest.

 

»Kommen Sie einmal mit, mein Freund. Was ist das für eine Geschichte, die Sie da erzählen, daß Sie einen Kuchen fortgetragen haben? Wer hat Ihnen den gegeben?«

 

»Irgend so ein Mensch – ich habe ihn früher nie gesehen. Er hielt mich plötzlich am Themseufer an und fragte mich, ob ich mir nicht einen Shilling verdienen wollte. Ich will Sie nicht belügen, Sir, es ist wahr. Ich sollte ein Paket für ihn zu dem Botenbüro des Bezirks bringen.«

 

»Haben Sie sein Gesicht gesehen?« fragte Jim schnell.

 

Sullivan schüttelte den Kopf.

 

Die Patrouille war jetzt neben ihnen. Der eine Polizist brachte sein Pferd zum Stehen und schaute mißtrauisch auf den Landstreicher. Jim trat auf die Straße, stellte sich mit ein paar Worten vor und erzählte ihm, was Sullivan soeben mitgeteilt hatte.

 

»Ja, Sir, wir hatten eine entsprechende Benachrichtigung in unserem Tagesbefehl«, sagte der Polizist und zeigte auf Sullivan. »Sie können mit mir gehen, und wenn Sie den Versuch machen fortzulaufen, schieße ich Sie über den Haufen.«

 

An demselben Abend wurde Sullivan Super zur Vernehmung vorgeführt. Super war durchaus nicht mit seinem Bericht einverstanden. Zunächst hatte er das Gesicht des Fremden nicht gesehen, und dann war es ihm auch in keiner Weise möglich, seine Identität auf irgendeine andere Art festzustellen.

 

»Er hat sehr eindringlich mit mir gesprochen. Zuerst dachte ich, er wäre ein Detektiv.«

 

»Sage mir, was du wirklich meinst«, sagte Super milde. »Ich kenne die Redeweise der gewöhnlichen Leute sehr gut. Er benahm sich wie ein Detektiv – meintest du das?«

 

»Ja, die ganze Art und Weise, wie er mir den Auftrag gab, ließ mich das annehmen.«

 

Super sprach mit dem Polizisten, der Sullivan auf der Wache eingeliefert hatte.

 

»Hat man ihn in dem Büro dem Boten gegenübergestellt? Gut, ich erinnere mich, daß Mr. Ferraby sagte, du hättest ihn um Geld für ein Nachtlogis gebeten. Also heute abend bekommst du eins, und es hat noch den großen Vorteil, daß es dich nichts kostet. – Bringen Sie ihn in die Zelle!« sagte Super mit einer freundlichen Handbewegung.

 

Sullivan verließ unter Protest den Raum.

 

Kapitel 11

 

11

 

Obwohl Jim Ferraby halbtot vor Müdigkeit war, mußte er doch dem Mann an seiner Seite zuhören, während er den Wagen nach Pawsey lenkte. Super war vollkommen auf der Höhe und sprach so viel, wie ihn Jim niemals hatte reden hören. Er war so frisch und munter, als ob er eine lange Nachtruhe hinter sich hätte.

 

»Es dauert Jahre, bis man ein guter Detektiv wird. Nehmen Sie zum Beispiel Lattimer. Man sollte denken, daß er seinen Beruf durchaus verstände, aber das ist nicht der Fall. Diese jungen Beamten beschäftigen sich zuviel mit Schlußfolgerungen, Psychologie und Deduktion und können nicht mehr scharf hingucken. Müde?«

 

»Furchtbar müde«, erwiderte Jim.

 

»Denken Sie einfach, es ginge Ihnen sehr gut«, sagte Super. »Stellen Sie sich einmal vor, Sie tanzten mit dem Mädchen Ihres Herzens –«

 

»Wen meinen Sie?« fragte Jim erstaunt. »Meinen Sie etwa Miss Leigh? Was wollen Sie mit ›Mädchen Ihres Herzens‹ sagen, Super?«

 

»Na, ich bin in so feiner Unterhaltung nicht ganz zu Hause«, meinte Super höflich. »Wenn ich einen Faukspaß gemacht habe, bitte ich um Entschuldigung.«

 

»Faukspaß? Sie meinen doch nicht etwa Fauxpas? Ihr Französisch ist aber schrecklich, Super.«

 

»Es ist nichts im Vergleich zu meinem Englisch.« Super seufzte schwer. »Das hat sie mir immer ins Gesicht gesagt, daß ich keine Bildung hätte. Nun ist sie tot, und ich lebe, und daraus geht hervor, daß all diese höhere Bildung weiter nichts als eine Illusion ist. Nennt man das Psychologie?«

 

»So ähnlich!« sagte Jim.

 

»Es kann aber auch Anthropologie sein«, meinte Super.

 

*

 

»Dieser Ort wird aber auch mehr und mehr zu einem Vergnügungspark. Wenn ich denke, daß es einst ein ehrbares kleines Fischerdorf war, wo man den Unterschied zwischen einer Schenke, und einem Kaffeehaus nicht kannte.«

 

Pawsey lag im hellen Sonnenlicht mit seinen vergoldeten Kuppeln und seinen prächtigen Stuckfassaden vor ihnen. Auf der weiten Promenade gingen viele Leute spazieren, die sich einen Feiertag machten. Die gelbe Küste war von Müßiggängern bevölkert.

 

Der Wagen hielt vor dem Grand Hotel. Ein Portier in glänzender Livree stürzte herbei und half ihnen beim Aussteigen.

 

Mr. Cardew hatte das Glück, daß er eine leere Zimmerflucht nach der See bekommen hatte. Als sie zu ihm hinaufgingen, lag er noch im Bett; aber er war vollständig wach.

 

»Haben Sie irgendwelche neuen Nachrichten?« fragte er, als sie noch nicht die Tür hinter sich geschlossen hatten. »Ist die arme Hanna tot?«

 

Super erzählte ihm von dem Trauring, der gefunden worden war, und Cardew setzte sich überrascht in seinem Bett auf.

 

»Verheiratet? Hanna war verheiratet? Das ist unmöglich«, sagte er heftig. »Ich kümmere mich nicht darum, welche Informationen Sie haben oder was Sie entdeckten, aber das steht fest: Hanna Shaw war nicht verheiratet!«

 

»Woher wissen Sie das so genau, Mr. Cardew?«

 

Das blasse Gesicht Gordon Cardews war in Falten gezogen, und es dauerte eine Weile, bevor er antwortete. Er hatte sich wieder beruhigt.

 

»Ich war lange Jahre Hannas Anwalt«, sagte er. »Sie hatte kein Geheimnis vor mir! Sie mag vielleicht eine Zuneigung zu einer bestimmten Person gefühlt haben, und ich habe manchmal die Möglichkeit einer Verheiratung erwogen; aber sie konnte sich nicht verheiraten ohne meine Einwilligung.«

 

Selbst Super war starr vor Staunen.

 

»Und warum?« fragte er.

 

Cardew gab eine einfache Erklärung. Als seine Frau starb, hatte sie Hanna eine jährliche Rente ausgesetzt, die eine ziemlich beträchtliche Summe ausmachte – unter der Bedingung, daß sie sich ohne die Zustimmung ihres Mannes nicht verheiraten sollte.

 

»Meine arme Frau konnte den Gedanken nicht ertragen, daß ich allein bleiben sollte, ohne einen Menschen, der für mich sorgte, und sie hat ihr deshalb das Legat unter der Bedingung vermacht, daß sie in meinen Diensten bliebe und sich nicht verheiratete, wie ich Ihnen schon vorher sagte.«

 

»Wie hoch belief sich die jährliche Rente?«

 

»Ungefähr zweihundert Pfund – das war für Hanna sehr viel Geld. Mit einer Ausnahme«, fuhr er nach einem kleinen Zögern fort, »hat mir Hanna alle ihre Geheimnisse erzählt. Und diese Ausnahme ereignete sich vor drei Jahren, als sie mir einen großen, versiegelten Briefumschlag übergab und mich bat, ihn für sie aufzuheben. Ich fragte sie natürlich, welche Dokumente sie mir zur Aufbewahrung einhändigte. Aber in diesem Punkt verweigerte sie energisch jede Auskunft. Natürlich bin ich nicht weiter in sie gedrungen, weil ihre Jugend sehr traurig war. Wir haben sie aus einem Waisenhaus geholt, und über ihrer Herkunft liegt ein Schleier. Ich habe niemals genauer nachgeforscht, aber sie hat sich dauernd bemüht, Licht in das Dunkel zu bringen. Ich habe die Vermutung, daß der Briefumschlag die Resultate ihrer Nachforschungen enthielt.«

 

Super nickte.

 

»Das ist sehr merkwürdig«, sagte er, »und ich muß natürlich diesen Briefumschlag haben. Wo bewahren Sie ihn auf?«

 

»In meinen Büroräumen in King’s Bench Walk«, sagte Cardew. »Wenn Sie sich die Mühe machen, heute dorthin zu schicken, so werden Sie ihn in einem kleinen japanischen Lackkasten finden, der auf dem Deckel die Buchstaben H. S. trägt. Es ist einer von den wenigen Aktenkästen, die in meinem Büro zurückgeblieben sind. Es liegen noch mehrere andere Papiere darin, die, wenn ich mich recht besinne, eine beglaubigte Abschrift des auf Hanna bezogenen Absatzes des Testaments meiner Frau enthalten, dann noch Briefe, die wir von dem Direktor des Waisenhauses erhielten, ihre Geburtsurkunde und ähnliche Schriftstücke, die aber mehr oder weniger unbedeutend sind.«

 

Er griff nach seinen Kleidern, die auf einem Stuhl vor seinem Bett lagen, und überreichte dem Oberinspektor einen Schlüsselbund.

 

»Hier sind die Büroschlüssel. Haben Sie nichts Neues entdeckt?«

 

»Nichts«, sagte Super. »Wie sie zurückkehrte und in das Haus ging, während Lattimer dort faktisch auf den Türstufen saß, grenzt fast an Zauberei. So etwas Ähnliches ist in keinem der bisherigen Mordfälle bekanntgeworden.«

 

»War Lattimer die ganze Zeit dort?« fragte Cardew schnell.

 

»Ja«, sagte Super nachdrücklich.

 

Mr. Cardew strich mit der Hand über sein unrasiertes Kinn.

 

»Ich habe meine eigenen Gedanken, aber ich möchte sie nicht aussprechen, bevor ich sie nicht vollständig ausgearbeitet habe.«

 

Er sah, wie sich Supers Lippen kräuselten, und lächelte, während jener mißmutig dreinschaute.

 

»Sie glauben nicht recht an Theorien, und doch schwöre ich, daß meine Theorie, wie der Mörder aus der Küche entkam, genau stimmt.«

 

»Dann erzählen Sie doch«, sagte Super etwas kühl.

 

»Die beiden, nämlich Hanna und ihr Mörder, gingen zusammen in die Küche. Einer der beiden, entweder, er oder sie, schloß von innen ab. Dann wurde sie ermordet und fiel gegen die Tür. Der Mann hatte nicht die Nervenkraft, ihren Körper aufzuheben, und entschloß sich, durch das kleine Fenster in der Wand zu fliehen. Der Schlüssel, der auf der Innenseite steckte, hat ihn wahrscheinlich dazu veranlaßt. Als er erst im Speisezimmer war, war es eine einfache Sache, den Rolladen herunterzuziehen, da es ein Schnappschloß ist …«

 

Super schlug sich aufs Knie.

 

»Das ist richtig, so war es«, stimmte er ohne Zurückhaltung zu. »Da haben Sie eine prachtvolle Theorie ausgearbeitet, und ich wäre nicht im mindesten überrascht, wenn sie richtig wäre. Aber wie ist er hinein- und herausgekommen, ohne daß Lattimer ihn gesehen hat?«

 

»Es gibt doch noch eine Hintertür …«, begann Cardew.

 

»Die war verriegelt und von innen zugeschlossen«, erwiderte Super prompt. »Alle Fenster sind mit Rolläden versehen und außerdem noch durch Eisenstangen gesichert. Niemand ist diesen Weg heraus- oder hineingekommen. Wenn der Mörder durch die Hintertüre ging, wie ist es ihm dann gelungen, die Tür wieder von innen zu schließen? Nein, Mr. Cardew, so war es nicht.«

 

Cardew nickte bedächtig.

 

»Da stimme ich mit Ihnen überein«, sagte er. »Und ich will auch zugeben, daß es nicht meine eigene Überzeugung ist. Vielleicht werde ich Ihnen eines Tages eine Hypothese mitteilen, die selbst Sie überzeugt, mein lieber Oberinspektor.«

 

Als sie die Treppe hinuntergingen, sagte Super: »Hypothese? Das ist etwas ganz Neues für mich. Wenn diese Kerle anfangen, lateinisch zu reden, dann bin ich verloren. Aber er hat ganz bestimmt recht mit seiner Erklärung, wie der Mörder aus der Küche entkommen ist. Und daß er das herausgebracht hat, ist ganz gegen meine Erwartung. Ich dachte, er würde eine Theorie aufstellen von unterirdischen Gängen oder von Geheimtäfelungen und Geheimtüren in der Wand, die wie ein Bücherschrank von außen aussehen, der sich dreht, wenn man eine Feder oder auch zwei drückt. Dann wird eine lange Reihe von Stufen sichtbar, und aus dem Gang dringt Erdgeruch herauf.«

 

»Super, ich glaube, Sie lesen Kriminalromane«, lachte Jim.

 

»Ich lese immer alles in der Zeitung, mit Ausnahme der Börsenberichte. Und die würde ich auch lesen, wenn nicht so viele Zahlen darin ständen.«

 

Merkwürdigerweise fühlte sich Jim nicht mehr müde. Er nahm seinen Platz am Steuer wieder ein und lenkte den Weg durch die belebten Straßen von Pawsey auf die offene Landstraße hinaus. Und selbst wenn er müde gewesen wäre, hätte ihn Super wachgehalten. Denn der alte Mann war außergewöhnlich gesprächig, und die ersten fünfundzwanzig Kilometer des Weges nach London hielt er ihm einen langen Vortrag über die Vorzüge und Nachteile der Schulbildung.

 

»Als ich in die Polizeitruppe eintrat, mußte man nur lesen, rechnen und schreiben können. Wenn man mehr Einbrecher und Diebe dingfest machte als andere Detektive, wurde man befördert. Auch wenn man überhaupt nichts von Differenzenrechnung wußte … Wie heißt doch bloß das Wort richtig – es hat irgend etwas mit Kalkulation zu tun …«

 

»Sie meinen Differentialrechnung.«

 

»Ja, das meine ich. Man brauchte auch nichts über Botanik oder Zoologie oder sonst etwas zu wissen. Das einzige, was man zu tun hatte, war, die Augen aufzuhalten und womöglich den Verbrecher bei der Tat zu fassen. Wenn man einen Kerl erwischte, der größer und stärker als man selbst war und der anfing, sich zur Wehr zu setzen, dann mußte man noch ein bißchen Anatomie verstehen, um ihn an der richtigen Stelle mit dem Stock zu treffen. Aber das war praktisch alle Wissenschaft, die man in früheren Tagen lernte. Ich habe niemals ein Mikroskop gebraucht, es sei denn, um mein kleines Gehalt damit zu betrachten. Auch keine chemischen Probiergläser. Die modernen Luxusdetektive brauchen solche Dinge, um herauszubekommen, ob der Fleck auf der Manschette Bier oder Blut war. All das hat man früher nicht auf einer Polizeistation gesehen. Persönlich will ich nichts gegen eine gute Erziehung sagen. Ich würde gerne sechs Sprachen sprechen, und es wäre mir angenehm, wenn ich mich gebildet in Suaheli unterhalten könnte. Aber ich bin auch ohne alle diese Vorzüge etwas geworden. – Jetzt gehe ich zu Cardews Büro, um den Briefumschlag von Hanna Shaw zu holen. Kommen Sie mit?«

 

Die Andächtigen strömten aus der Kirche des Temple, als der schmutzbespritzte Wagen vor Cardews Büro hielt. Jim, der das Gebäude sehr gut kannte, führte ihn die Treppe hinauf bis zu der großen eisernen Außentür. Im Temple hat jede einzelne Flucht von Bürozimmern doppelte Türen. Wenn die äußere Tür geschlossen ist, zeigt das an, daß der Insasse nicht gestört werden will. Aber während der Bürostunden steht sie auf. Durch die innere Tür kann man eintreten, ob sie offensteht oder geschlossen ist. Nun war die äußere Tür aber nicht verschlossen, und als der Detektiv den großen Schlüssel in das Schloß steckte, fühlte er, daß sie unter seinem Druck nachgab.

 

»Es ist nicht abgeschlossen«, sagte er und ging hinein. Sie kamen in einen engen Gang, an dessen rechtem hinterem Ende Elfa Leighs Büro lag, wie Jim wußte. Die Tür war geschlossen, aber die zu Mr. Cardews Büro stand sperrangelweit auf. Super trat in die Türöffnung und betrachtete einige Zeit schweigend den Raum.

 

»Es sieht so aus, als ob wir zu spät kommen«, brummte er.

 

Die wenigen Aktenkästen, die noch im Büro waren, lagen auf dem Fußboden umher, und ihr Inhalt war nach allen Richtungen hin verstreut. Cardews Schreibtisch, der mit einer Rolljalousie verschlossen werden konnte, war geöffnet, und eine Menge Papiere lagen auf der Tischplatte.

 

»Es scheint schon jemand vor uns hier gewesen zu sein«, bemerkte Super. Dann sah er die offenen Kästen nacheinander an. »Hier ist der Deckel mit H. S. – der Kasten ist leer.«

 

Kapitel 12

 

12

 

Er sah sich langsam um, bis sein Blick auf das Gitter vor dem Kamin fiel, der vollständig mit schwarzer Papierasche gefüllt war. Die Blätter mußten einzeln ins Feuer gelegt worden sein, um auch die letzte Spur von Schrift zu zerstören. Die Schubladen des Schreibtisches waren herausgezogen und auf den Fußboden gestellt. Als Super die eingehende Untersuchung aller vorhandenen Papiere und Dokumente beendet hatte, war nicht einmal ein Kuvert, geschweige denn ein Schriftstück, das sich auf Hanna Shaw bezog, in seine Hände gekommen.

 

Er nahm die schwarze Schachtel mit den Buchstaben H. S. und stellte sie auf den Tisch, den er dicht ans Fenster ins helle Licht rückte.

 

»Der Kasten ist nicht beschädigt. Er muß mit einem Schlüssel geöffnet worden sein.«

 

Er setzte ihn wieder hin und ging quer durch das Zimmer zum Kamin. Dort kniete er nieder und räumte Lage für Lage die Asche aus. Es dauerte zehn Minuten, bevor er sich mit staubigen Knien erhob. Dann suchte er den Fußboden ab. Plötzlich bückte er sich und nahm ein großes Streichholz auf, das er eingehend untersuchte.

 

»Ich wäre imstande, herauszubekommen, wer dieses Streichholz gemacht hat und wie viele Leute in London diese Sorte gebrauchen. Aber alles, was ich jetzt sagen kann, ist nur, daß es dazu benutzt wurde, das Papier im Kamin anzustecken.«

 

Er untersuchte die Fenster, er zog an den Gurten einer Rolljalousie. Als sie in die Höhe ging, flatterte ein Stück Papier, das dort eingeklemmt war, auf den Fußboden. Er bückte sich und hob es auf, und als er es betrachtete, war es die Quittung eines Kaufmanns über einen kleinen Betrag.

 

»Es muß an einem windigen Tag gegen die Jalousie geweht worden sein«, sagte Super, »gerade, als sie heruntergelassen wurde. Ist der Zufall nicht wunderbar? – Wir müssen die Polizei davon benachrichtigen, und ich werde heute abend den alten Cardew aufsuchen und es ihm in Ruhe beibringen; denn wenn ich ihn richtig beurteile, wird er durch diesen Einbruch ebenso mitgenommen werden wie durch den Mord. Es ist das Schlimmste, was einem Anwalt passieren kann, und es bricht ihm beinahe das Herz, wenn auf diese Weise Akten abhanden kommen.«

 

Jim begleitete ihn zum Polizeibüro in der Stadt, und schließlich war er froh, daß er loskommen konnte. Er ging sofort nach Hause, zog sich ohne weiteres aus, legte sich ins Bett und schlief sofort ein.

 

Erst als die Sonne unterging, wachte er wieder auf. Sein erster Gedanke war Elfa Leigh. Er wagte nicht zu telefonieren und nahm sich eine Taxe, um nach Cubitt Street zu fahren. Er hatte Glück; denn er traf sie gerade, als sie die Stufen vor der Haustür herunterkam.

 

»Haben Sie Minter noch gesehen?« fragte sie sofort. »Er ist vor ein paar Minuten von mir fortgegangen.«

 

»Schläft der Mann denn niemals?« fragte Jim erstaunt. »Hat er Ihnen schon etwas von dem Einbruch im Büro erzählt?«

 

Sie nickte.

 

»Er ist heute nachmittag deshalb zu mir gekommen«, erzählte sie, als sie an seiner Seite ging. »Offenbar sind die Einbrecher nicht in mein Büro gegangen, denn die Tür war zugeschlossen. Wissen Sie etwas von ›Großfuß‹?« fragte sie plötzlich.

 

Jim wunderte sich, warum Super ihr von dieser Entdeckung etwas mitgeteilt hatte. Er hatte doch diese alarmierende Neuigkeit ängstlich vor Mr. Cardew geheimgehalten.

 

»Er wollte nur erfahren, ob ich den Namen jemals gehört habe«, fuhr sie fort, ohne zu wissen, daß sie damit seine unausgesprochene Frage beantwortete. »Natürlich habe ich niemals davon gehört. Was hat das überhaupt zu bedeuten, Mr. Ferraby?«

 

Er erzählte es ihr.

 

»Es ist alles so schrecklich und geheimnisvoll – ich kann noch gar nicht glauben, daß Miss Shaw wirklich tot ist. Es ist zu fürchterlich, sich das auszudenken.«

 

Sie gingen langsam in Richtung Holborn, und Jim hätte gerne gewußt, aus welchem Grund sie abends noch ausging, wenn sie nicht im Park spazierengehen wollte. An der Ecke von Kingsway hielt sie an.

 

»Ich muß Ihnen noch ein kleines Geheimnis mitteilen«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. »Es ist zwar so unbedeutend, daß ich Sie eigentlich gar nicht um Ihre Hilfe bitten darf. Trotzdem ist es sehr merkwürdig.«

 

»Je kleiner das Geheimnis ist, desto brauchbarer werde ich sein«, sagte Jim interessiert. »Ich möchte nur den Wunsch äußern, Sie im Wagen zu Ihrem Ziel zu fahren. Dieser Wunsch ist sogar egoistisch, denn dann kann ich rauchen.«

 

»Sie können auch auf dem Dach eines Autobusses rauchen«, sagte sie, als er eine Taxe anrief. »Taxe zu fahren, gehört eigentlich zu den schlechten Gewohnheiten.« Trotzdem widersprach sie nicht weiter und gab dem Fahrer eine Adresse in Edward Square an.

 

»Ich muß meinen Mieter aufsuchen«, erklärte sie. »Das klingt sehr großartig, nicht wahr? Als mein Vater starb, hinterließ er mir das Haus, in dem wir wohnten. Es ist ein kleines Anwesen, aber trotzdem viel zu groß für midi. Deshalb habe ich es vermietet, und die Miete bedeutet eine gute Unterstützung für mich, so klein sie auch ist. Ich brauche nicht besorgt zu sein, meinen Mieter zu verlieren, denn Wohnungen sind knapp in diesen Zeiten. Aber der arme Mann ist sehr nervös geworden wegen der Eier, und ich fürchte, wenn nicht irgend etwas geschieht; wird er sich nach einem anderen Haus umsehen.«

 

»Eier?« fragte Jim erstaunt.

 

Sie nickte ernst.

 

»Eier – manchmal Kartoffeln, gelegentlich auch ein paar Kohlköpfe. Aber Eier sind die hauptsächlichsten Merkwürdigkeiten, weil sie am häufigsten vorkommen. Mr. Lattimer hat es zuerst als Scherz aufgefaßt, aber …«

 

»Lattimer?« unterbrach sie Jim. »Ist er ein Verwandter des schneidigen Sergeanten?«

 

»Er ist sein Onkel. Ich habe erst heute entdeckt, als Sergeant Lattimer mich zur Stadt brachte, daß Mr. Bolderwood Lattimer, sein Onkel, ein wohlhabender Lebensmittelhändler und Junggeselle ist. Ich glaube nicht, daß er mit dem Sergeanten überhaupt spricht. Jedenfalls stehen sie nicht sehr gut miteinander, denn Sergeant Lattimer erzählte mir, daß er niemals in Edward Square war. Sein Onkel ist nicht damit einverstanden, daß er bei der Polizei dient. Er glaubt nämlich, daß er dadurch dem Ansehen der Familie schadet.«

 

»Aber, bitte, erzählen Sie mir doch etwas von den Eiern.«

 

»Und den Kartoffeln«, fügte sie hinzu. »Die ganze Angelegenheit ist so absurd, daß ich dachte, es wäre ein Scherz, als ich zum erstenmal davon hörte. Seitdem Mr. Bolderwood Lattimer im Haus Edward Square Nr. 178 wohnt, kommen diese ungewöhnlichen Gaben zu ihm. Meistens fand man sie frühmorgens auf den Stufen seiner Haustür. Und wie ich Ihnen schon sagte, sind die Geschenke manchmal Eier, manchmal rote Rüben, Blumenkohl und ähnliche Gemüse. Zuweilen findet er ein Dutzend Kartoffeln in ein schmutziges Stück Zeitungspapier eingewickelt. Während der Sommermonate sind die Geschenke immer von einem Blumenstrauß begleitet. Mr. Lattimers Diener öffnete die Tür letzten Freitagmorgen und fand davor die ganze Krone eines Fliederstrauches, dazu ein Dutzend Spargel. Die Sache dauert nun schon zu lange, als daß es ein Scherz sein könnte, und es scheint, daß es meinem Mieter auf die Nerven geht. Ich bin sehr froh, daß Sie kamen. Vielleicht können Sie eine Lösung finden.«

 

Edward Square ist eine abgelegene und sehr konservative Gegend des alten London, ein Bezirk, in dem es nur kleine Häuser mit Vorgärten gibt. Goldregen hängt hier über den Eingangswegen zu den Häusern, und alle Fensterbänke sind voll blühender Blumen.

 

Mr. Bolderwood Lattimer sah den Wagen vor seiner Tür halten und kam den kleinen Weg herunter, um seinen Besuch zu begrüßen. Er war nicht groß, etwas untersetzt, hatte eine Glatze und ein rotes Gesicht. Sein Benehmen war nicht sehr freundlich. Jim dachte bei sich, daß er das Aussehen eines Kirchendieners habe, der gerne Portwein trinkt.

 

»Treten Sie näher, Miss, Leigh«, sagte er und verneigte sich höflich vor ihr. »Haben Sie meinen Brief bekommen? Es tut mir sehr leid, daß ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereite, aber diese Angelegenheit wird wirklich zu einer unerträglichen Belästigung für mich.«

 

Er führte sie in ein Wohnzimmer, das ziemlich altmodisch eingerichtet war. Teppiche mit Blumenmustern harmonieren nicht mit steifen Plüschmöbeln.

 

»Ich wollte mich schon immer bei der Polizei beschweren. Bis jetzt habe ich diese außerordentlichen Beweise von Aufmerksamkeit als einen Scherz betrachtet, oder ich dachte, daß es jemand wäre, dem ich geholfen habe und der mir auf diese Weise seinen Dank abstatten will.«

 

Er sprach geläufig und kam sich sehr wichtig vor. Wenn er etwas besonders betonen wollte, so machte er eine entsprechende Handbewegung.

 

»Ich bin nun zu einem Resultat gekommen und glaube, daß ich meine Ansicht rechtfertigen kann. Diese allwöchentliche Niederlegung von Gegenständen an meiner Haustür bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine niederträchtige, gemeine Beschimpfung eines Menschen, der mich dauernd daran erinnern will, daß ich ein einfacher Lebensmittelhändler bin. Ein erfolgreicher Mann hat immer Feinde. Gewisse Leute, deren Namen ich nicht nennen möchte, ärgern sich darüber, daß ich in den Stadtrat von Kensington gewählt worden bin. Es sind sogar Mitglieder – ich bedaure, es sagen zu müssen – meiner eigenen Kirche. Ich gestehe ganz offen, daß ich in keinem anderen Beruf als im Handel tätig bin. Und diese Beleidigungen sind deshalb ein wenig überflüssig.«

 

»Zu welcher Zeit werden diese Dinge gewöhnlich auf Ihre Treppe gelegt?« fragte Jim, nachdem er sich vorgestellt hatte.

 

»Zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens. Ich habe verschiedene Nächte gewacht, in der Hoffnung, diesen Schuft auf frischer Tat zu fassen und eine Erklärung von ihm zu fordern. Und wenn ich ihn gefaßt hätte, würde ich ihn dem nächsten Polizisten übergeben haben. Aber meine Nachtwachen hatten keinen Erfolg.«

 

»Es scheint mir aber doch eine sehr harmlose Beleidigung zu sein«, sagte Jim lächelnd. »Vor allem ist die Sache doch mit Vorteilen verknüpft – Sie erhalten Lebensmittel, die Sie sonst auf dem Markt kaufen müßten!«

 

»Sie könnten aber doch vergiftet sein«, entgegnete Mr. Bolderwood Lattimer eisig. »Ich habe verschiedene dieser Sachen zu dem öffentlichen chemischen Untersuchungsinstitut geschickt, und obwohl ich gerne zugebe, daß keine Spur irgendeines Giftes entdeckt wurde, ist es doch naheliegend anzunehmen, daß die sogenannten Gaben eine Zeitlang harmlos sind, um mich arglos und zuversichtlich zu machen.«

 

»Das scheint mir aber nicht der Fall zu sein«, sagte Jim. »Haben Sie denn die Sache der Polizei angezeigt?«

 

»Ich habe zwei Beamte gesprochen, die Nachtdienst hatten, und habe um ihre Hilfe gebeten, den Mann zu stellen, der mich verfolgt. Aber ich habe keine offizielle Beschwerde bei der Polizei eingereicht.«

 

»Es wäre doch das beste, wenn Sie einmal mit Ihrem Neffen die Sache besprächen. Soviel ich weiß, ist Sergeant Lattimer mit Ihnen verwandt?«

 

Ein unangenehmer, fast schmerzlicher Ausdruck zeigte sich in dem Gesicht des Lebensmittelhändlers.

 

»Wir sind keine Freunde und kennen einander kaum. In seiner frühen Jugend hat John Lattimer ein hervorragendes Angebot, das ich ihm machte, abgelehnt. Ich wollte ihn nämlich in meinem Ladengeschäft anstellen. Natürlich zuerst in untergeordneter Stellung; denn es ist meine Ansicht, daß jemand von unten anfangen muß, wenn er etwas erreichen will. Das ist die amerikanische Methode, eine der wenigen, denen ich zustimme. Und denken Sie, er hat es abgelehnt. Um meines lieben verstorbenen Bruders willen gab ich mir alle Mühe, ihn zu überreden: Aber nein, für diese Art Leben hatte John kein Interesse. Und um seiner Undankbarkeit die Krone aufzusetzen, ist er in den Polizeidienst getreten. Diese Leute sind natürlich sehr brauchbar«, fügte er schnell hinzu, »und ohne ihren Schutz wären wir übel daran. Aber es ist doch nicht gerade der Beruf, den der Sohn meines Bruders ergreifen sollte.«

 

»Es ist ein sehr ehrenwerter Beruf«, meinte Jim.

 

Mr. Lattimer zuckte die Schultern.

 

»Man hört merkwürdige Geschichten«, sagte er ungewiß. »Man weiß nicht recht, was man davon halten soll. Das Gehalt eines Polizeisergeanten ist doch sicherlich nicht sehr hoch, und es scheint mir, daß er es sich nicht leisten kann, in teuren, erstklassigen Lokalen zu Abend zu speisen. Es ist noch keine Woche her, da sah ich John mit meinen eigenen Augen im Ritz-Carlton eine Gesellschaft von vier Herren bewirten, und zwar mit den teuersten Gerichten. Einer von ihnen war, soviel ich weiß, ein Millionär. Verstehen Sie mich recht – ich will niemand anklagen«, sagte er und zeigte mit seinem Finger auf Jims Brust. »Ich sage nur, was man hört. Und obwohl ich sicher bin, daß unsere Polizeibeamten unbestechlich sind … Sie verstehen mich, Diners im Ritz-Carlton kosten eine kolossale Menge Geld!«

 

Im Augenblick war Jim zu erstaunt, um eine Entgegnung zu finden. Lattimer, dieser ruhige, höfliche Mann mit dem guten Betragen! Und doch war es ganz unmöglich, daß Bolderwood seinen Neffen mit einem anderen verwechselt haben konnte.

 

»Ich glaube nicht, daß ich John um Rat fragen werde. Ich hätte gerne Miss Leigh gesprochen, weil ich dachte, daß sie möglicherweise diese Sache erklären könnte. Sie hat dieses Haus früher lange Jahre bewohnt.« Er schaute fragend auf Elfa, aber sie schüttelte den Kopf.

 

»Als wir in dem Haus wohnten, ereignete sich nichts dergleichen, Mr. Lattimer. Ich kann Ihnen nur raten, die Sache der Polizei zu melden.«

 

»Das beunruhigt mich sehr«, sagte Bolderwood Lattimer, der zu den Leuten gehörte, die die Last der Unterhaltung nicht gern andern aufbürden. »Es geht mir auf die Nerven. Ich habe natürlich meine Gegenmaßregeln getroffen. Vielleicht haben Sie schon eine meiner Annoncen gelesen, die ich alle persönlich abgefaßt habe«, fügte er hinzu und wußte nicht, wie außerordentlich komisch er war. »Ich fühle mich sehr unglücklich bei dem Gedanken, daß ich das Opfer einer Vendetta bin. Eier, Kartoffeln, Kohl – warum hat diese Bande nur mich ausgesucht, um ihre verdammte Wohltätigkeit an mir zu üben?«

 

»Erhalten Sie die Gegenstände in großen Mengen?« fragte Jim.

 

Mr. Bolderwood Lattimer schüttelte den Kopf.

 

»Gewöhnlich finde ich nur so viel, wie ein Mann in seinen Taschen tragen kann. Der große Fliederbusch war eine ungewöhnliche Gabe. Ich habe schon von den geheimnisvollen Warnungen gelesen, die manchmal dem bevorstehenden Opfer einer Verbrecherbande zukommen. Mr. Ferraby, glauben Sie auf Grund Ihrer umfassenden Erfahrungen, daß man diese Vorkommnisse zu solchen Dingen zählen kann?«

 

»Nein, das glaube ich nicht.« Jim konnte nur mit Mühe ernst bleiben. »Hören Sie auf meinen Rat und ziehen Sie die Polizei zu. Sie wird Sie wahrscheinlich von all Ihrer Unruhe befreien.«

 

Mr. Lattimer verzog verächtlich den Mund.

 

»Ich fühle mich hier sehr wohl und möchte dies Haus nicht verlassen. Miss Leigh kann Ihnen bestätigen, daß ich ihr schon oft angeboten habe, das Haus zu kaufen. Aber in letzter Zeit habe ich doch ernstlich darüber nachgedacht, ob es nicht besser wäre, meinen Wohnsitz zu verlegen und abzuwarten, ob ich auch dann weiter von diesen Quälgeistern verfolgt werde.«

 

»Das scheint mir aber eine sehr unbequeme Methode zu sein«, sagte Jim lächelnd. »Das ist so, als ob Sie ein Haus abbrennen müßten, um ein Schwein zu braten. Kommen denn auch manchmal schriftliche Nachrichten mit diesen Geschenken?«

 

»Nein, niemals. Vielleicht der einzige Anhaltspunkt, um einen Schlüssel zu diesem Rätsel zu finden, wenn ich mich eines Polizeiausdrucks bedienen darf, kam mit dem Fliederbusch. Auf dem Papier, das den Strauß einhüllte, waren mit Bleistift einige Worte geschrieben, aber ich konnte keinen Zusammenhang daraus entnehmen.«

 

»Haben Sie das Papier noch?« fragte Jim, den die Sache plötzlich interessierte.

 

»Ich werde einmal nachsehen.«

 

Mr. Lattimer verschwand und kam für einige Zeit nicht wieder.

 

»Glauben Sie, daß sich jemand einen Scherz mit ihm macht?«

 

»Es sieht beinahe so aus. Diese sonderbare Sache dauert nun schon seit Jahren an. Vielleicht können wir aus dem Papier und den Bleistiftworten etwas entnehmen.«

 

Als Mr. Lattimer zurückkehrte, konnte er nur berichten, daß der ›Schlüssel‹ dazu benützt worden war, das Küchenfeuer anzuzünden.

 

»Ich glaube nicht, daß Sie aus den Worten etwas ersehen hätten. Ich habe sie auch nicht verstanden und nehme an, daß sie nur geschrieben waren, um mich von der richtigen Spur abzulenken. Vielleicht standen sie auch schon auf dem Papier, als es gebraucht wurde, um die Blumen einzuwickeln, und hatten darum überhaupt keine Bedeutung.«

 

Hiermit endete die Unterredung. Jim war während der ganzen Rückfahrt nach Bloomsbury schweigsam. Aber das hatte nichts mit Mr. Lattimer und seinem unbekannten Wohltäter zu tun.

 

»Sie sprechen ja gar nicht. Glauben Sie, daß etwas Böses hinter diesen Kartoffeln und Eiern steckt?« fragte Elfa, als sie durch den Park fuhren.

 

Jim fuhr auf.

 

»Die Eier? Nein. Ich dachte nicht daran. Aber die Geschichte, die er uns von Sergeant Lattimer erzählt hat, ist sehr sonderbar.«

 

»Warum soll der arme Mann denn nicht einmal im Ritz-Carlton zu Abend essen?«

 

»Aus dem einfachen Grund, weil arme Leute nicht in diesem Restaurant dinieren können«, sagte Jim ruhig. »Und das Polizeipräsidium ist natürlich mißtrauisch gegenüber Beamten, die ihr Geld zum Fenster hinauswerfen können.«

 

Kapitel 13

 

13

 

Super hatte eine Gabe, die allen großen Männern eigen ist: Er konnte an den unmöglichsten Stellen und in beliebigen Zwischenräumen schlafen. Wenn er in dem Zug, der ihn auf sein Revier brachte, etwas schlief und später in seinem Bürosessel noch zwei Stunden mit geschlossenen Augen döste, dann hatte er genügend Ruhe gehabt.

 

Die Glocken läuteten zum Abendgottesdienst, als er Lattimer zu sich rief, der ihm ein wenig hohläugig und offensichtlich sehr müde mit einem unterdrückten Gähnen zuhörte.

 

Der ruhige Lattimer war ein großer, kräftiger Mann. Phantasievolle junge Frauen bezeichneten ihn als distinguiert. Das frühzeitige Grau an seinen Schläfen, die melancholische Nase und ein festes, hartes Kinn machten ihn interessant.

 

Super schaute scharf über seine Brillengläser, als sein Untergebener eintrat.

 

»Ich habe soeben mit Mr. Ferraby telefoniert. Irgend jemand bombardiert Ihren Onkel mit Gärtnerwaren, Eiern, Fliederbüschen – ich will wetten, daß es das erstemal ist, daß ihm jemand Blumen schickt.« Er sagte aber nichts von dem Diner im Ritz-Carlton.

 

»Ich hoffe, daß einige der Wurfgeschosse das Ziel erreichen«, sagte Lattimer böse. »Er ist ein scheinheiliger, alter Mensch, hochnäsig wie ein Herzog und hat soviel menschliches Gefühl wie ein Küchenofen.«

 

»Er scheint ein netter Kerl zu sein«, sagte Super vergnügt. »Was ich noch sagen wollte!« fügte er plötzlich hinzu. »Elson ist zurück! Er kam kurz vor sechs nach Hill Brow. Sein Wagen ist mit Schmutz bedeckt, der eine seiner Scheinwerfer und die beiden vorderen Kotflügel sind eingedrückt.«

 

Eine lange Pause entstand.

 

»Ich dachte, daß es am besten wäre, wenn ich einmal nach ihm sehe«, sagte Super und schaute dabei aus dem Fenster. »Wenn der umsichtige und schlaue Beamte, den ich auf Wachtposten bei dem Hause aufgestellt habe, nur soviel Verstand gehabt hätte wie eine Mücke, dann hätte er ihn schon längst verhaftet wegen zu schnellen Fahrens oder Fahrens in betrunkenem Zustande oder sonst etwas und hätte ihn hinter Schloß und Riegel gebracht. Am liebsten habe ich einen Kerl verhaftet, bevor ich ihn ausfrage. Das ist der alte, solide Weg. Aber euch Jüngeren ist das ja nicht recht.«

 

Er seufzte und erhob sich.

 

»Ich will jetzt schnell nach Hill Brow. Sie bleiben im Büro und achten auf jede Nachricht, die aus Pawsey kommt. Mir ist die Aufklärung des Falles von Amts wegen übertragen worden. Ich habe es gerade vor zwei Stunden vom Kommissar erfahren. Berichten Sie dem aufgeblasenen Inspektor von Pawsey recht höflich, daß er in dieser Angelegenheit nichts zu sagen hat.«

 

Super fuhr auf seinem alten Motorrad nach Hill Brow. Er war erstaunt, als Elsons Diener die Tür öffnete und ihn einlud näher zu treten.

 

»Mr. Elson erwartet Sie, ich werde Ihnen den Weg zu seinem Zimmer zeigen.«

 

Sie stiegen die breite, eichene Treppe empor und gingen dann über einen Korridor, der mit roten Teppichen ausgelegt war, zu einem Zimmer, das am Ende des Ganges lag. Der Raum war als Wohnzimmer möbliert. Man konnte von hier aus weit das Land überschauen, ebenso die Fahrstraße, auf der sich etwaige Besucher dem Hause nähern mußten.

 

Elson hockte zusammengekauert in böser Stimmung in einem Lehnsessel. Er war unrasiert, und seine Schuhe waren dick mit Straßenkot bedeckt. Auch wurde sein unangenehmes Äußeres durch ein langes Wundpflaster nicht gehoben, das von der Schläfe bis zum Kinn reichte. Als Super den Raum betrat, hielt Elson ein großes Glas in der Hand, das halb gefüllt war. Eine offene Whiskyflasche stand in Reichweite auf dem Tisch vor ihm.

 

»Treten Sie näher, Minter«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Ich möchte Sie gerne sprechen. Was ist das für eine Geschichte, daß Hanna Shaw ermordet worden sein soll? Ich habe in den Sonntagszeitungen gesehen …«

 

»Wenn es in der Sonntagszeitung stand, dann möchte ich den Mann kennenlernen, der es schrieb«, meinte Super ruhig. »Wir haben den Mord erst heute morgen entdeckt.«

 

»Ich habe es aber irgendwo gelesen … möglich auch, daß ich davon gehört habe«, sagte Elson und wies mit zitternder Hand auf einen Stuhl. »Nehmen Sie doch bitte Platz, ich werde Ihnen einen Whisky einschenken.«

 

»Ich bin Abstinenzler von Geburt«, sagte Super. »Da es also nicht in der Sonntagszeitung stand, müssen Sie es irgendwo gehört haben.«

 

»Dann muß es in den späteren Ausgaben der Sonntagszeitungen gestanden haben. Ich sah es in London«, sagte Elson hartnäckig. »Was hat das zu bedeuten? Sie glauben doch nicht, daß ich irgend etwas davon weiß?«

 

Argwohn klang aus seinen Worten. Super schüttelte den Kopf.

 

»Der letzte, von dem ich annahm, daß er etwas wisse, sind Sie, Mr. Elson. Sie haben Hanna Shaw doch kaum gekannt. Oder kannten Sie sie doch?«

 

Elson zögerte.

 

»Ich habe sie in Cardews Haus gesehen, das ist alles.«

 

»Möglicherweise kam sie auch ein- oder zweimal hierher«, meinte Super fast entschuldigend nebenbei. »Haushälterinnen gehen manchmal in die Nachbarschaft, um Dinge zu leihen, die ihnen fehlen. Ich wette, sie ist ein- oder zweimal hier gewesen.«

 

»Ja, das mag sein«, gab Elson zu. »Wie ist denn die Sache eigentlich passiert?«

 

»Also sie war ein- oder zweimal hier – nicht wahr? Sie war doch hier?« fragte Super hartnäckig. »Ich kann mich auch erinnern, daß ich sie gesehen habe, als sie aus der Haustür kam – vielleicht kam sie aus Ihrem Zimmer … ich kann mich auf Einzelheiten schlecht besinnen.«

 

»Sie kam einmal her, um mich zu fragen –« Wieder zögerte er. »Sie hatte eine Frage wegen einer geschäftlichen Angelegenheit. Das war das einzige Mal, daß sie hier war. Und wenn einer von den verdammten Dienstboten sagt, daß sie öfter hier war, dann lügt er.«

 

»Ich habe nicht mit den Dienstboten gesprochen«, sagte Super beleidigt. »Ich bespreche Angelegenheiten der Herrschaften niemals mit Dienstboten. Also sie war hergekommen, um eine geschäftliche Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen. Was für eine Angelegenheit war denn das?«

 

»Eine Privatangelegenheit«, sagte Elson kurz und trank mit einem Zug den Rest seines Whiskyglases aus. »Wo wurde sie ermordet?«

 

»Ja, wo wurde sie ermordet! Da drunten in Pawsey. Sie wollte das Wochenende dort zubringen – und wurde ermordet.«

 

»Wie – wie kam denn das?«

 

»Ich glaube, sie wurde erschossen.« Super zog die Stirne kraus, als ob es ihn eine unendliche Anstrengung koste, sich auf irgend etwas zu besinnen. »Ja, jetzt bin ich sicher, sie wurde erschossen.«

 

»Im Hause?« fragte Elson schnell.

 

»Ja, in einer Art Sommervilla, die Cardew gehört. Kennen Sie das Haus?«

 

Elson feuchtete seine trockenen Lippen an.

 

»Ja, ich kenne es«, antwortete er kurz. Dann sprang er zu Supers Erstaunen auf und legte die zusammengepreßten Hände auf den Fenstergriff. »Zum Donnerwetter, hätte ich nur gewußt …«

 

Er hielt plötzlich inne, als ob ihm bewußt würde, daß der Detektiv ihn aufmerksam beobachtete.

 

»Ja, sicher hätte es einen großen Unterschied gemacht, wenn Sie gewußt hätten«, sagte Super mitfühlend. »Wenn Sie nur gewußt hätten – nämlich was?«

 

»Nichts«, sagte Elson aufgeregt. »Sehen Sie auf meine Hand.«

 

Er streckte seine große Hand aus, die wie ein Baumblatt zitterte. »Es hat mich mitgenommen … erschossen wie ein toller Hund!« Er ging in dem Zimmer auf und ab, faltete die Hände aufgeregt zusammen und riß sie wieder auseinander.

 

»Wenn ich es nur gewußt hätte!« sagte er heiser.

 

»Wo waren Sie die letzte Nacht?«

 

Super stellte diese Frage ohne irgendwelche Betonung.

 

»Ich?« Elson drehte sich plötzlich um. »Ich weiß es nicht. Soviel ich mich besinnen kann, war ich betrunken. Manchmal passiert mir das. Ich schlief irgendwo … War es Oxford? Eine Menge Studenten mit Kappen wanderten in den Straßen herum. Ja, ich glaube, es war Oxford.«

 

»Warum fuhren Sie nach Oxford?«

 

»Ich weiß es nicht … ich fuhr einfach hin … ich mußte irgendwohin fahren … Ach Gott, wie ich dieses Land hasse! Ich würde diese Hand geben und die andere dazu und zwei Drittel meines Vermögens, wenn ich nach St. Paul zurückgehen könnte.«

 

»Warum gehen Sie denn nicht zurück?« fragte Super ruhig.

 

Elson schaute ihn wütend an.

 

»Weil es mir nicht paßt«, sagte er rauh.

 

Super zupfte an seinem kleinen, grauen Schnurrbart.

 

»In welchem Hotel mögen Sie wohl in Oxford logiert haben?«

 

Elson stellte sich breitspurig vor ihn hin.

 

»Was wollen Sie eigentlich?« fragte er. »Glauben Sie denn, ich weiß irgend etwas darüber, wie Hanna Shaw erschossen worden ist? Ich sagte Ihnen doch, ich war in Oxford, mag auch sein in Cambridge. Ich habe den Weg verloren und bin über ein großes Heideland gefahren. Da ist doch eine große Rennbahn – Market oder so ähnlich –«

 

»New Market«, nickte Super. »Sie waren also in Cambridge.«

 

»Meinetwegen Cambridge.«

 

»Sie sind also in einem schönen, großen Hotel abgestiegen und haben dort Ihren Namen eingeschrieben? Nicht wahr, Mr. Elson?«

 

»Möglich, daß ich das getan habe – darauf kann ich mich nicht besinnen. Wie wurde sie denn ermordet, sagen Sie mir das doch. Wer fand sie?«

 

»Ich fand sie, und Mr. Cardew fand sie, und Sergeant Lattimer fand sie«, sagte Super und sah, wie der Mann sich wand.

 

»War sie schon tot, als …«

 

Super nickte. Wieder nahm Elson seine rastlose Wanderung im Zimmer auf. Nach einer Weile wurde er ruhiger.

 

»Ich weiß nichts davon«, sagte er. »Ich habe natürlich Hanna Shaw getroffen. Sie kam hierher, um mich etwas zu fragen, und ich habe ihr eine Antwort nach bestem Wissen und Gewissen gegeben. Ein Mann wollte sie heiraten, oder sie wollte einen Mann heiraten – ich weiß nicht einmal, wer es war, aber ich glaube, sie lernten sich auf einer ihrer Autofahrten kennen.«

 

»Ach, sehen Sie einmal an!« Super gab sich den Anschein, als ob ihn diese Neuigkeit sehr interessiere. »Auf einer ihrer Autofahrten? Ist das nicht seltsam? Ich habe nun nachgedacht und allerhand Theorien über diesen Fall aufgestellt, und gerade das vermutete ich auch, daß sie ihn auf einer Autotour kennengelernt hat.«

 

»Dann wissen Sie davon?« fragte Elson schnell.

 

»Ich weiß nur wenig davon, Mr. Elson.« Er schlug sich auf das Knie und erhob sich. »Nun gut, ich werde Sie nicht länger aufhalten. Sie haben einen hübschen Garten, er ist genauso schön wie der von Cardew.«

 

Elson, der froh war, daß er diese unangenehme Unterhaltung hinter sich hatte, ging zum Fenster. »Ja, er ist sehr hübsch«, sagte er, »aber die Leute aus der Stadt stehlen mir die Blumen. Neulich hat doch einer nachts die Krone von dem Fliederbusch abgerissen.« Er zeigte auf eine Stelle, aber Super sah nicht hin, er dachte schnell nach.

 

»Die Krone von einem Fliederbusch?« murmelte er. »Das ist doch sehr seltsam.«

 

Nachdem sich der Polizeibeamte entfernt hatte, ging Elson in sein Zimmer, zog seine schmutzigen Kleider aus, badete und rasierte sich. Er nahm eine kleine Mahlzeit zu sich – für gewöhnlich war er ein starker Esser – und brachte die letzten Stunden des Tages damit zu, unruhig in seinem Garten und dem Gelände umherzugehen. Seine Hände waren tief in den Taschen vergraben, und den Kopf hielt er gesenkt. Um halb zehn ging er durch den großen Rosengarten den Abhang hinunter und kam schließlich zu einer kleinen Tür, die in die große Mauer eingelassen war.

 

Hier wartete er. Plötzlich wurde leise geklopft. Er zog den gutgeölten Riegel zurück und stieß das grüngestrichene Holztürchen auf. Sergeant Lattimer kam herein und wartete, bis die Tür wieder verschlossen war.

 

»Was, zum Donnerwetter, haben Sie denn Super wegen des Fliederbusches gesagt?« fragte er scharf.

 

»Ach, lassen Sie mich in Ruhe«, murmelte Elson. »Kommen Sie zu mir herauf, ich werde Ihnen etwas zu trinken geben. Die Dienerschaft kann Sie von dieser Seite des Hauses aus nicht sehen.«

 

Kapitel 14

 

14

 

Zu einer ungewöhnlich frühen Stunde machte der Polizeipräsident einen Besuch im Dienstgebäude der Staatsanwaltschaft. Jim hatte das Glück, daß er der älteste Beamte im Dienst war. Sein Chef lag mit einem Fieberanfall zu Bett, und der zweite Direktor war bei dem Geschworenengericht in Herford, um einer Gerichtssitzung beizuwohnen.

 

Super sprach von dem Polizeipräsidenten Colonel Langley nur als von dem ›langnasigen Vorgesetzten‹ manchmal mit den heftigsten Verwünschungen. Der Polizeipräsident sprach selten von ihm, aber wenn er von ihm sprach, so tat er es nur in Ausdrücken der Bewunderung und Hochachtung. Der Streit zwischen Super und dem Polizeipräsidium war eigentlich nur in der Einbildung Supers vorhanden.

 

»Super ist das reinste Glückskind in seinem Beruf«, sagte Langley neidisch. »Durch günstige Umstände kommt er zu einem schweren Fall, wie die Fliege in die Milch fällt. Als er mich bat, ihn nach Abteilung I zu versetzen, glaubte ich schon, er leide an Verstandesschwäche.«

 

»Er hat mir gegenüber immer behauptet, daß er nach Abteilung I verbannt wurde«, bemerkte Jim.

 

»Super ist ein Lügner«, war die ruhige Antwort. »Niemand darf Super verbannen. Was sollten wir ohne ihn anfangen? Wir waren natürlich alle froh, als er sich von uns verabschiedete; denn mit ihm zusammenleben zu müssen, ist eine harte Aufgabe. Aber das ist so ganz seine Art, daß er jetzt noch obendrein behauptet, man habe ihn verbannt und beiseite gestellt. Er hat ausdrücklich darum gebeten und Lattimer mit sich genommen. Lattimer hat dasselbe Glück, daß ihm die Bearbeitung dieses Falles in den Schoß fällt.«

 

Es gehörte nicht zu Jim Ferrabys Pflichten, dem Polizeipräsidenten alles zu erzählen, was er über Lattimer wußte. Er hatte es Super mitgeteilt, und das war genug. Aber es war verständlich, daß er wenigstens eine Frage wegen des Vorlebens des Sergeanten stellte.

 

»Ich weiß wenig von ihm. Er hat eine gute Erziehung genossen und hat ausgezeichnete Verbindungen.«

 

Lattimer interessierte den Polizeipräsidenten wirklich nicht, und er kam nun direkt auf den Grund seines Besuches zu sprechen.

 

»Super hat mir mitgeteilt, daß auch Sie kurz nach dem Mord in Pawsey waren. Wir hatten gestern eine Konferenz in Scotland Yard, und ich muß zugeben, daß wir alle sehr überrascht sind. Die großen Fußabdrücke sind nicht das Sonderbarste an dem Fall, denn sie führen nur zu dem Hause hin – Super hat sie fotografiert, und die Abzüge kamen gestern abend an. Hier sind die Resultate, ich wäre sehr froh, wenn Sie sie nachprüfen würden.« Er zeigte auf die Bilder.

 

»Das Haus war verschlossen, als Sie Sonnabend vor Mitternacht dort ankamen, und Lattimer war seit einigen Stunden dort auf Posten. Er hatte auch das Haus genau untersucht und bestätigt Supers Angabe, daß das Vorhängeschloß außen an der Tür befestigt und sie außerdem noch verschlossen war. Die Tür auf der Rückseite des Hauses war von innen zugeriegelt. Die Fenster waren geschlossen, die Rolläden heruntergelassen und befestigt, und die Versuche, die man gestern abend auf unser Ersuchen angestellt hat, haben deutlich bewiesen, daß es unmöglich war, durch eines der Fenster in das Haus zu gelangen. Der Kamin ist zu schmal, um einen normalen Mann durchzulassen. Und bis jetzt konnten wir keinen anderen Eingang zu dem Haus entdecken. Kurz vor Mitternacht kommt Miss Shaw in einem alten Auto an. Sie hält vor der Haustür, nimmt das Vorhängeschloß ab, schließt die Tür auf und geht hinein. Dann verschließt oder verriegelt sie die Tür hinter sich. Super versuchte, die Tür zu öffnen, als er den Wagen besichtigte, und stellte fest, daß sie geschlossen war. Zehn bis fünfzehn Minuten später kommt Miss Shaw aus dem Haus, schließt die Tür wieder ab und fährt weg.

 

Hier eine wichtige Tatsache, die man im Auge behalten muß, Ferraby. Wenn Miss Shaw früher am Tage mit einem Begleiter gekommen wäre, dann wäre es ja möglich, daß sie ihn eingeschlossen hätte, obgleich das ein ungewöhnlicher und verdächtiger Umstand wäre. Aber sie war den ganzen Tag über nicht dort, und die Ortspolizei hat überzeugende Beweise, daß kein Mann auf dem Grundstück verborgen war, ehe Lattimer ankam. Am Abend vor dem Mord kam ein Polizist, der diese vereinsamten Häuser überwacht, an Beach Cottage vorbei, stieg von seinem Rad und untersuchte wie gewöhnlich die Haustür. Das ist angeordnet worden, weil Vagabunden und anderes Gesindel gelegentlich in solche verlassene Villen einbrechen. Der Mann hatte einen Landstreicher bemerkt, der auf einer der oberen Klippen entlanglief. Er wandte deshalb eine Vorsichtsmaßregel an. Wie Sie wissen, haben die Polizeipatrouillen kleine Holznägel bei sich, an denen ein schwarzer Faden befestigt ist. Hiermit wird die Türöffnung verspannt, die einem Einbruch ausgesetzt ist. Man befestigt Stifte so unauffällig in Ritzen oder Spalten, daß sie nur von Leuten entdeckt werden können, die wissen, daß sie vorhanden sind.

 

An dem Abend, an dem der Mord geschah, kam der Polizist kurz vor Sonnenuntergang wieder an dem Haus vorbei. Lattimer hatte seinen Wachtposten schon bezogen. Der Mann machte an der Tür von Beach Cottage halt und sah, daß der Faden unversehrt war. Es war also niemand durch die Haustür gegangen, sonst wäre der Faden zerrissen.«

 

Jim nickte.

 

»Das wirft also meine Theorie um, daß der Mörder schon in dem Haus verborgen war.«

 

»Ja. Hören Sie weiter. Miss Shaw kommt aus Beach Cottage heraus, fährt die Straße entlang, den Hügel hinauf und verschwindet. Ihr Wagen wird später oben in den Klippen gefunden, ihr Regenmantel und ihr Hut werden von einem Polizeibeamten entdeckt, sie hängen an einem Strauch in halber Höhe der Klippe.«

 

»Wann war das?« fragte Jim erstaunt.

 

»Diesen Morgen. Ich hörte gerade davon, ehe ich Scotland Yard verließ. Unsere augenblickliche Vermutung ist nun, daß Miss Shaw sich verabredet hatte, einen Mann in dem Haus zu treffen. Sie entdeckte aber, daß sie beobachtet wurde. Es ist möglich, daß sie Ihren Wagen sah, der in dem Steinbruch verborgen war, oder daß sie jemand von Ihnen bemerkte – soviel ich weiß, hatten Sie sich versteckt, als sie durchfuhr. Um Sie nun fortzulocken, kehrte sie nach der Spitze der Klippe zurück, schlich aus ihrem Wagen und kam auf einem der vielen kleinen Pfade, die den Abhang durchziehen, zurück. Möglicherweise wartete der Mann an der Stelle, wo sie den Wagen verließ, und begleitete sie zu dem Haus zurück.«

 

»Warum hat sie denn ihren Hut und ihren Mantel abgenommen?« fragte Jim.

 

»Der Regenmantel und der Hut waren von heller Farbe. Ihr Kleid unter dem Mantel dagegen war schwarz. Es ist leicht möglich, daß sie die beiden Kleidungsstücke ablegte, um nicht gesehen zu werden. Jedenfalls wurden sie in der Nähe eines dieser vielen Pfade gefunden.«

 

Jim schüttelte den Kopf.

 

»Sie vergessen, Herr Präsident, daß Lattimer zurückgelassen wurde, um das Haus zu bewachen.«

 

»Daran habe ich auch gedacht. Lattimer wurde in Groß-Pawsey zurückgelassen, das in einiger Entfernung von der Küste liegt, und kam erst eine halbe Stunde später zu dem Haus zurück. Wenigstens sagte er so. Das, war reichlich Zeit genug für die Frau, mit ihrem Begleiter zurückzukommen. Es ist allerdings eine sehr einfache Erklärung, aber in Fällen dieser Art ist die einfachste Erklärung gewöhnlich die richtigste.

 

Ich habe meine Ansicht Super bereits durchs Telefon gesagt, und obgleich er sehr höflich war, fühlte ich doch, daß er wütend wurde. Er sagte, es sei lächerlich, zu behaupten, Hanna Shaw habe genug Zeit gehabt, die Klippen herunterzusteigen, bevor Lattimer zu dem Haus zurückkehrte.

 

Wer ist dieser Großfuß? Wer hat diese unglückliche Frau verraten? Wir kommen jetzt zu einem Vorfall, bei dem Sie, wie ich glaube, Zeuge waren. Den Abend vorher hatte Mr. Cardew ein Essen gegeben. Super erzählte nun, daß er einen Landstreicher sah, der im Schatten eines Strauches vor den Fenstern stand und mit einer Pistole bewaffnet war. Später hörte er, wie dieser Strolch Byrons Übersetzung eines bekannten spanischen Liedes sang – ›Ay de mi, Alhama!‹ Nun stimmt die Beschreibung dieses Mannes, die Super gibt, genau mit der des Ortspolizisten überein, der sah, wie sich ein Landstreicher oben in den Klippen versteckte. Nach dem Mord hörte Super diesen Mann dasselbe Lied singen wie vorher in dem Gehölz von Barley Stack. Der Mann, den wir suchen, ist der singende Landstreicher. Darin stimmen wir überein?«

 

»Ist das auch Supers Ansicht?« fragte Jim vorsichtig.« Er für seine Person war geneigt, die Theorie des Präsidenten rückhaltlos anzunehmen.

 

»Supers Ansicht? Nein. Sie werden doch nicht erwarten, daß Super dieselbe Meinung wie das Polizeipräsidium hat. Offensichtlich ist er auf einer anderen Spur. Gestern abend kam eine eilige Anforderung von ihm, daß wir die Polizei in Cambridge um Nachforschungen ersuchen sollten – er wollte nämlich wissen, ob Mr. Elson in der Mordnacht dort geschlafen habe. Aber das sieht Super wieder ähnlich. Er sagt, daß Elson mit der ermordeten Frau sehr eng befreundet war. Aber er hat sich noch nicht herabgelassen, mir zu erklären, warum er einen amerikanischen Millionär verdächtigt, eine harmlose Haushälterin zu ermorden. Wahrscheinlich sandte er Lattimer, um Erkundigungen einzuziehen, denn einer meiner Bekannten berichtete, daß der Sergeant heute morgen auf seinem Weg nach Cambridgeshire London passierte. Anscheinend waren Lattimers Nachforschungen vollkommen unbefriedigend.«

 

Jim erwartete nicht, daß der Sergeant ihn auf seinem Rückweg besuchen würde, denn es lag kein Grund vor, warum er das tun sollte. Er war daher überrascht, als Lattimer spät am Nachmittag bei ihm eintrat. Im ersten Augenblick dachte er, daß er mit einer Botschaft von Super käme.

 

»Ich habe gehört, Mr. Ferraby, daß Ihnen viel daran liegt, zu erfahren, ob Elsons Alibi stimmt.«

 

»Mir war nicht das geringste davon bekannt, daß man ihn in Verdacht hatte«, sagte Jim lächelnd.

 

»Der Verdacht fiel auf ihn«, sagte Lattimer zögernd. »Wenn Super irgendeinen Gedanken gefaßt hat, so ist es schwer, ihn davon abzubringen. Elson wurde von Sonnabend mittag bis Sonntag abend vermißt. Es scheint, daß er zu einer Trinkerei gefahren ist und die Nacht in Cambridge zubrachte. Sein Name steht zwar in keiner der Hotellisten, aber ich fand den Eigentümer einer Garage, der sich entsinnen kann, daß er seinen Wagen einstellte. Es ist möglich, daß Elson irgendein Privatlogis fand.«

 

»Das ist aber kein lückenloses Alibi«, sagte Jim, und Lattimer war verstimmt.

 

»Ich hoffe, daß es den Oberinspektor befriedigt«, sagte er kühl. »Ich habe seit Sonnabend nacht kein Bett gesehen, ich bin fertig. Es scheint, daß Super überhaupt nicht zu schlafen braucht. Er war heute morgen schon wieder vor Tagesanbruch draußen.«

 

»Haben Sie neue Entdeckungen in Pawsey gemacht?«

 

Lattimer schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube nicht, daß noch viele Entdeckungen zu machen sind«, entgegnete er. »Haben Sie gehört, daß wir ihren Hut und ihren Mantel gefunden haben? Sie hingen an einem Strauch, wo der Klippenabhang am steilsten ist.« Der Sergeant lächelte schwach. »Das war ein Schlag für Super, denn er erwartete, die Sachen woanders zu finden.«

 

»Wo denn?« fragte Jim erstaunt.

 

»Das weiß ich nicht genau. Ich glaube beinahe, daß er es selbst nicht weiß!«

 

»Wie lange dauerte es, bis Sie die Beobachtung des Hauses wieder aufnahmen, nachdem wir Sie in Pawsey zurückließen?«

 

»Sie meinen in der Nacht, in der der Mord geschah?« vergewisserte sich Lattimer. »Das mag ungefähr eine Viertelstunde gewesen sein. Super erklärte, daß Hanna Shaw in dieser Zeit nicht zurückkehren konnte. Meiner Meinung nach war reichlich Zeit dazu. Ich vermute sogar, daß sie ähnlich wie Miss Leigh die Klippe herunterschlitterte und dabei Hut und Mantel verlor. Aber es hat ja keinen Zweck, Super gegenüber Theorien zu erwähnen. Er ist ein Tatsachenmensch. Als ich ihm sagte, daß das Haus auf einem Platze stände, wo früher Schmuggler ihren Wohnsitz hatten, und daß sich wahrscheinlich unterirdische Keller unter dem Haus befänden, wurde er so grob, wie noch niemals in den Jahren, seit ich ihn kenne. Er läßt sich überhaupt nicht auf Theorien ein, und darin hat er ja auch recht.«

 

»Warum denn?«

 

Lattimer schaute ihn befremdet an, und ein unmerkliches Lächeln huschte über seine Züge.

 

»Weil Super alles weiß«, sagte er trocken. »Niemand weiß besser als er, wie dieser Mord begangen wurde und warum er begangen wurde.«

 

Bevor sich Jim von seinem Erstaunen erholen und weitere Fragen an Lattimer stellen konnte, war der Sergeant gegangen.

 

Kapitel 15

 

15

 

Elfa Leigh hatte aus dem Haus in Edward Square alle persönlichen Gegenstände mitgenommen, die sie mit ihrem Vater einst geteilt hatte. Elfa war ihm sehr zugetan gewesen. Sie hatte keine Mutter mehr gehabt und liebte diesen träumerischen, etwas hilflosen Mann. Als ihr mit einem allgemein gehaltenen Ausdruck des Beileids die kurze Mitteilung von der britischen Admiralität überbracht wurde, daß der amerikanische Transporter ›Lenglan‹ mit allen Leuten an Bord untergegangen sei, betäubte sie diese Nachricht; aber sie glaubte sie nicht. Das Schiff war an der Südküste Englands während eines Sturmes von einem Unterseeboot torpediert worden und gesunken.

 

John Kenneth Leigh kehrte damals aus Washington zurück, wohin er von seinem Chef zur Beratung gerufen worden war. Während des Krieges war er Verbindungsoffizier zwischen dem englischen und dem amerikanischen Schatzamt gewesen und war in weitgehendem Maße für die finanziellen Vereinbarungen zwischen den beiden Ländern verantwortlich.

 

Als Amerika in den Krieg eintrat, wurde er dem Heer zugeteilt, und Elfa sah zwölf Monate lang wenig von ihrem Vater. Er pendelte zwischen den beiden Ländern hin und her, und es schien unvermeidlich, daß er einmal verunglücken würde, obwohl er dem Verderben oft genug mit knapper Not entkommen war.

 

Elfa mußte ein neues Leben beginnen und tat dies mit einem Mut, der über jedes Lob erhaben war. Sie gab das Haus in Edward Square auf, bezog eine Wohnung von drei Räumen im Obergeschoß des Hauses Cubitt Street Nr. 75 und baute ihr Leben neu auf.

 

Sie hatte Verwandte in den Vereinigten Staaten, aber sie zog es vor, in der Stadt zu bleiben, die ihr durch die Erinnerung an ihren Vater teuer war.

 

In der kleinen Wohnung erlangte sie allmählich ihr Gleichgewicht wieder. An den Wänden des schönen Wohnzimmers hingen die Drucke und Aquarellbilder; die ihr Vater gesammelt hatte, obgleich er kein eigentlicher Kenner war. Der alte Lehnstuhl, in dem er so gerne saß, hatte seinen Ehrenplatz neben dem Fenster, sein Pfeifenbrett hing über dem Kamin und darunter sein Säbel. Er hatte früher einmal in der amerikanischen Kavallerie gedient.

 

Elfa hatte kaum Freundinnen und nur einige wenige Bekannte. Sie ermutigte die Leute, die sie besuchten, nicht, wiederzukommen. Aber Super hatte ein gewisses Vorrecht bei ihr erlangt, und als das Dienstmädchen ihr am Montag nachmittag seine Karte brachte, sandte sie hinunter, um ihn hereinzubitten. Super stieg die drei Treppen hinauf und trat in den hübschen Wohnraum. Er hielt den Hut in der Hand, und auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, das jeden erschreckt hätte, der ihn nicht kannte.

 

»Ich werde alt«, sagte er, als er seinen Hut auf das Klavier legte. »Ich kann mich noch deutlich auf die Zeit besinnen, wo ich diese Treppe mit sechs Schritten genommen hätte.« –

 

Sie konnte aus seinem Betragen nicht schließen, ob er gekommen war, ihr neue Nachrichten zu bringen oder weiter über diesen geheimnisvollen Großfuß bei ihr nachzuforschen. Vielleicht verriet die Art und Weise, wie er sein Gespräch begann, das so ziellos und sprunghaft schien, doch eine bestimmte Absicht und gehörte zu seinem System, die Leute auszufragen. Sie dachte es sich und war damit nicht weit von der Wahrheit entfernt.

 

»Sie haben ein hübsches Zimmer, Miss Leigh; es ist wirklich nett eingerichtet. Wenn Sie sagten, daß ich Platz nehmen solle, würde ich es tun. Aber wenn Sie sagten: Minter, Sie können rauchen, dann würde ich es nicht tun – nämlich nicht die Sorte Tabak, die ich gewöhnlich rauche.«

 

»Sie können beides – sich niedersetzen und rauchen«, sagte sie lachend. »Die Fenster sind weit offen, und ich habe den Geruch von Tabak sehr gern. Auch bin ich nicht wählerisch in den Sorten.«

 

»Man kann aber sehr daran zweifeln, ob das, was ich rauche, überhaupt Tabak genannt werden kann«, sagte Super und füllte seine Pfeife aus einem alten Tabaksbeutel. »Manche sagen so und manche anders. Ich nenne es Tabak … Spielen Sie Klavier, Miss Leigh?«

 

»Ja, manchmal spiele ich«, sagte sie belustigt.

 

»Das gehört doch zur guten Erziehung, und niemand ist gebildet, der nicht Klavier spielen kann. Grammophon spielen ist leicht. Haben Sie die schlechte Nacht nun überwunden?«

 

Sie nickte.

 

»Wenn ich auf der Klippe im Regen gelegen hätte, wäre ich tot«, sagte er. »Aber Sie sind noch jung und haben nichts abbekommen als Rheumatismus.«

 

»Ich habe nicht einmal Rheumatismus!«

 

»Aber Sie werden ihn bekommen. Sie haben sich Rheumatismus geholt – Sie merken es nur noch nicht, das kommt erst in zwanzig Jahren.«

 

Er setzte sich nicht nieder, sondern wanderte im Zimmer umher und sah sich die Bilder an.

 

»Hübsche Bilder – sind doch wohl Originale, Miss Leigh?« Als sie lachend bejahte, fuhr er fort: »Das kann man eigentlich nie unterscheiden. Ich habe gedruckte Reproduktionen gesehen, die gerade so gut aussahen wie handgemalte Bilder, manchmal sogar noch besser. Sie malen sicher selbst?« Er zeigte auf eine Aquarellandschaft.

 

»Nein, das Bild stammt von einem großen französischen Künstler«, entgegnete sie.

 

»Die Franzosen haben es doch weg, so etwas zu machen. Und es ist doch nur eine bestimmte Fertigkeit, die richtigen Farben an die richtige Stelle zu setzen. Das kann jeder, der darin unterrichtet ist. – Sie haben eine ganz hübsche Bibliothek.«

 

Er besah sich die Bände, die drei lange Bücherregale füllten.

 

»Haben Sie nichts über Anthropologie? – Von der Krankheit sind Sie also noch nicht befallen? Oder vielleicht haben Sie etwas über Psychologie? Ich sehe auch kein einziges Buch über Verbrechen.«

 

»Ich interessiere mich nicht sehr für Verbrechen«, sagte Elfa. »Das hier waren die Bücher meines Vaters.«

 

Er nahm einen Band heraus und blätterte langsam darin.

 

»Er fiel im Krieg. Ich bin ihm einmal begegnet.«

 

»Meinem Vater?« fragte sie schnell.

 

Er nickte.

 

»Ja, einer seiner Angestellten im Büro stahl Geld – er hatte bei den Rennen gewettet –, und ich wurde gerufen. Er war ein sehr schöner Mann – ich meine, Ihr Vater.«

 

»Er war der beste Mann auf der Welt«, sagte Elfa ruhig.

 

Super nickte beifällig.

 

»Ich höre es gern, wenn die Kinder so von ihren Eltern sprechen. Heute ist das leider anders. Immer, wenn ich heutzutage Kinder schlecht von ihren Eltern reden höre, freue ich mich, daß ich nicht geheiratet habe.«

 

»Sie sind Junggeselle?«

 

»Ich? Ja. Ich habe nur einmal in meinem Leben einen Roman erlebt, und das war nicht einmal eine Liebesgeschichte. Es war eine Witwe mit drei Kindern, aber sie war temperamentvoll, genauso wie ich. Und in einem Haus ist nun einmal kein Platz für zwei temperamentvolle Leute. Nun waren es aber im ganzen fünf, denn die Kinder waren nicht weniger temperamentvoll. Sie wollten das Frühstück ans Bett haben, und das ist doch das Temperamentvollste, was ich je erlebt habe. Ist Mr. Cardew heute ins Büro gekommen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, er hat heute morgen telefoniert. Er ist nach Barley Stack zurückgekehrt. Ich glaube, er hat sich von der Aufregung erholt, die ihm der Tod der armen Miss Shaw verursachte, denn sein Diener erzählte mir, daß er in seinem Studierzimmer bei der Arbeit säße.«

 

»Er denkt wieder neue Theorien aus und zieht psychologische und logische Schlüsse«, sagte Super düster. »Ich habe ihn heute morgen besucht, ehe ich hierherkam. Da saß er auch schon in seinem Studierzimmer bei Büchern über Anthropologie und Soziologie und Logik und all solchem Zeug. Er hatte einen Plan von seiner Villa vor sich und maß alles mit Zirkel und Maßstab nach. Dabei entdeckte er, daß es 8,60 Meter von der Küchentür bis zur Haustür sind. Er hatte auch Bücher über die Gezeiten … ein Mikroskop war noch nicht da. – Diese Art zu arbeiten kann ich nicht leiden. Er hatte auch noch keine Reagenzgläser, aber es ist möglich, daß er das alles noch hergeholt hat, nachdem ich gegangen war. Ich wollte den Plan des Hauses haben, aber er brauchte ihn selbst und überließ ihn mir nicht. Er rechnete sich alle Maße aus und auch die Flutzeiten, und dann hat er eine Sandprobe – heute abend werden wir ja erfahren, wer den Mord begangen hat.«

 

Obwohl sie über so grauenvolle Dinge sprachen, mußte sie doch lachen.

 

»Sie sind kein großer Anhänger der deduktiven Methode, Mr. Minter?«

 

»Nennen Sie mich doch Super«, bat der alte Detektiv. »Da haben Sie unrecht. Ich achte sie sehr hoch, ich glaube an die Wissenschaft. Bei der Polizei werden nicht genügend wissenschaftliche Methoden angewandt. Da fehlt es noch sehr bei uns. – Sie hat übrigens den Hut in Astors Warenhaus in der High Street in Kensington gekauft. Sie wollte diese Form haben, obgleich sie schon ein Jahr lang aus der Mode ist. Es ist eine merkwürdige Sache, daß eine Frau einen Hut kauft, der so unmodern ist.«

 

Der Übergang des Gesprächs von den verschiedenen Methoden, Verbrechen aufzuspüren, zu der realen Wirklichkeit der Kleider war so unerwartet und schnell, daß Elfa etwas verblüfft war.

 

»Meinen Sie Miss Shaw? Was für einen Hut kaufte sie denn?«

 

»Einen großen gelben Strohhut mit einem Schleier. Sie kennen die Art, die bis zur Nase heruntergeht? Sie kaufte ihn am Sonnabend, kurz bevor der Laden geschlossen wurde, und er paßte ihr nicht. Die Verkäuferin sagte ihr das. Sie muß sehr aufrichtig sein. Wenige Verkäuferinnen würden einer Kundin sagen, daß ein Hut ihr nicht stehe. Aber Hanna Shaw sagte, daß sie diese Art wünsche, und so bekam sie ihn. Sie bezahlte und nahm ihn gleich mit. Ich habe Cardew nichts davon erzählt. Solche Neuigkeiten würden ihn verrückt machen. Er würde daraus schließen, daß sie den Hut kaufte, um ihn auf dem Kontinent zu tragen, und würde Paris mit dem Zollstock nachmessen.«

 

Super trat wieder an den Bücherschrank und nahm ein Buch nach dem andern in die Hand, ließ es durch die Finger gleiten und warf nur gelegentlich einen Blick auf den Inhalt.

 

»Gab es noch einmal Eier und Kartoffeln?« fragte er plötzlich.

 

»Sie meinen in Edward Square? Nein, ich habe nichts mehr von Mr. Bolderwood Lattimer gehört.«

 

»Ich kann nicht verstehen, warum er sich selbst Bolderwood nennt. Ich dachte, nur Leute, die Smith heißen, haben so verrückte Vornamen. Lieben Sie Blumen, Miss Leigh?«

 

»Sehr.«

 

Super kratzte sich am Kinn.

 

»Wer liebt sie nicht?« fragte er. »Blumen regen mich mehr an als irgend etwas anderes. Haben Sie jemals ein Feld mit Butterblumen gesehen … jemals einen Blick auf Glockenblumen geworfen, die aus dem dunklen Wald schimmern? Ich habe ein Sammelbuch für Ausschnitte von Gedichten über Blumen zu Hause – Rosen und Veilchen und Primeln und viele andere. Es ist komisch, daß noch niemand ein Gedicht über Flieder gemacht hat.«

 

Sie sah ihn mißtrauisch an.

 

»Mr. Minter, Sie kommen auf einem Umweg zu den Blumen, die in Edward Square niedergelegt worden sind. Ich würde ein Gedicht über Flieder schreiben, wenn ich überhaupt ein Gedicht schreiben könnte – es sind meine Lieblingsblumen.«

 

»Meine sind Tulpen«, sagte Super.

 

Er setzte sich umständlich hin.

 

»Sind Sie je Mr. Elson begegnet – mögen Sie ihn? Er ist auch Amerikaner, nicht wahr?«

 

»Ja.«

 

»Er kann – richtig lesen und beinahe schreiben. Er hält sich eine Sekretärin für seine Korrespondenz, aber er selbst kann kaum schreiben.«

 

»So?« fragte sie überrascht. »Ich glaubte, es gäbe fast niemand in Europa, der nicht lesen und schreiben könnte.«

 

»Er ist in gewisser Weise ein Niemand«, sagte Super.

 

Ein paar Minuten später ging sie aus dem Zimmer, um Tee zu bestellen, und als sie zurückkam, fand sie ihn wieder am Bücherschrank.

 

»Lieben Sie Bücher sehr?«

 

»Bücher zum Lesen liebe ich sehr«, gab er zu. »Bücher zum Studieren sind für mich soviel wie Masern, Scharlach und alle diese berüchtigten Krankheiten.« J.K.L. las er auf dem Vorsatzblatt eines Buches. »Das war Ihr Vater, Miss Leigh?«

 

»Ja, das ist der Name meines Vaters – John Kenneth.«

 

»Ein schöner Mann«, sagte Super nachdenklich. »Nicht die Art, die sich Feinde macht.«

 

»Nein, er hatte keinen Feind auf der Welt«, sagte sie. »Jeder liebte ihn.«

 

»Das wird man niemals über mich sagen. Eine Liste der Leute, die mich nicht lieben, würde diesen Band füllen, Miss Leigh. Und dann würde noch genug Papier übrig sein, das Zimmer damit zu tapezieren. Alles nur«, fügte er bescheiden hinzu, »aus Eifersucht der anderen über meine Genialität. Merken Sie sich das, Miss Leigh: Wenn ein Mensch nicht beliebt ist, so kommt das von der Eifersucht. Und wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie den Menschen selbst, er wird es Ihnen bestätigen.«

 

»Ich glaube, Sie sind gar nicht so unbeliebt«, sagte sie, als sie den Tee einschenkte.

 

»Ich bin es nicht, aber ich bin im Begriff, es zu werden«, meinte er düster. »Passen Sie nur auf, ich bin dabei, einer der unbeliebtesten Menschen bei der Polizei zu werden – und zwar bald.«

 

Kapitel 16

 

16

 

Als Super sich verabschiedete, erzählte er Elfa, daß er zu seinem Revier zurückginge, Er erlaubte sich dabei eine Unwahrheit, die in seinen Augen gerechtfertigt war. Er verbrachte eine unangenehme Zeit im Polizeipräsidium, wo ihn seine Chefs interviewten. Aber das Mißvergnügen war hauptsächlich auf ihrer Seite. Im Verlauf von zwei Stunden zerstörte er im allgemeinen und im besonderen mindestens zweiundzwanzig Theorien und Nebentheorien und tat das mit solchem Wohlgefallen an boshaften Bemerkungen und Illustrationen, daß selbst der Polizeipräsident froh war, als sich die Tür wieder hinter Super schloß.

 

Er verließ Scotland Yard und ging in ein schönes Kino, nicht weil ihn das Programm anzog, sondern weil ihn an diesem Zufluchtsort kein Licht ins Gesicht schien, denn er schlief am besten in der Dunkelheit. Zwei Stunden lang saß er zusammengekrümmt in einem Stuhl, sein Kopf ruhte auf der Brust, seine Arme waren verschränkt. Die halsbrecherischen Kunststücke beliebter und hochbezahlter Artisten zogen an seinem dämmernden Bewußtsein vorüber. Männer vollbrachten waghalsige Taten, kriegerische Helden übersprangen gähnende Abgründe, schöne Mädchen wurden aus schrecklichen Gefahren befreit; aber Super schlief, bis ein Platzanweiser seine Schulter berührte und ihn fragte, ob er gütigst aufstehen wolle, um eine starke Dame vorbei zu lassen. Erfrischt ging er in das Theaterrestaurant, trank schnell hintereinander drei Tassen Kaffee, aß ein Paket Keks und ging wie neugeboren von dannen.

 

Sein Ziel war Fregetti. In bezug auf Exklusivität hatte dieses Lokal nichts vom Ritz-Carlton oder anderen noch so prachtvollen Restaurants zu befürchten. Fregetti liegt in einem unansehnlichen Viertel, an dem unteren Ende der Portland Street, aber unter Feinschmeckern gilt es allgemein als das beste Lokal Londons.

 

Super nahm an einem Tisch Platz und wartete. Wagen auf Wagen hielt vor dem Glasdach, und elegant gekleidete Damen und Herren stiegen aus. Es war schon Viertel nach neun, als ein Auto vorfuhr, das die beiden Männer brachte, auf die Super wartete. Der erste war Elson. Er war im Gesellschaftsanzug und trug auf dem Hinterkopf einen glänzenden Zylinder, der ihm irgendwie nicht zu passen schien. Ein eleganter Herr folgte ihm. Er wartete, bis Elson den Chauffeur bezahlt hatte, und verschwand dann hinter den Glastüren des Restaurants. Super sah befriedigt aus.

 

»Ich hoffe, Sie freuen sich auf das Essen, Lattimer«, sagte er vor sich hin. »Sie sehen sehr rüstig aus für einen müden Mann!«

 

Lattimer schlenderte durch den Palmengarten in das Halbdunkel des Restaurants. Außer der gedämpften Beleuchtung in den Wandleisten erhellten nur Tischlampen den Raum und gaben ihm eine seltsame Traulichkeit.

 

Elson war dieses Dämmerlicht willkommen. Er haßte helles Licht beinahe ebenso wie Gesellschaft, und er ging schnell, wenn auch unsicher, auf den Tisch in der Ecke zu, den er telefonisch bestellt hatte.

 

»Wo haben Sie diesen alten Narren gelassen?« grollte er, als er sich setzte und nach dem Cocktail langte, der auf ihn wartete.

 

»Super? Oh, der ist irgendwo in London«, sagte Lattimer, nahm eine Zigarette aus der goldenen Dose und entzündete sie. »Sie brauchen sich keine Sorgen um ihn zu machen.«

 

»Wenn Sie glauben, daß ich um ihn besorgt, bin, sind Sie schwer im Irrtum«, keuchte Elson. »Nein, mein Herr, ich habe keinen Respekt vor der englischen Polizei.«

 

»Danke«, sagte Lattimer.

 

»Sie glauben wohl, ich spreche von Ihnen?« fragte Elson wild. »Wo bleibt denn bloß der Kellner?«

 

Der Kellner kam schließlich, und nachdem er sie bedient hatte, verschwand er wieder.

 

»Nun, was wünschen Sie also?« fragte Elson, legte seine Gabel hin und lehnte sich zurück.

 

»Ich brauche noch einmal fünfhundert«, erwiderte Lattimer kühl.

 

»Das ist in Dollars nicht viel«, murrte der andere, »aber in Pfunden ist es eine Menge! Ich gab Ihnen doch gestern nacht hundert – was haben Sie denn damit angefangen?«

 

»Sie liehen mir hundert«, verbesserte Lattimer sorgsam, »und ich gab Ihnen einen Wechsel. Was ich mit dem Geld angefangen habe, tut nichts zur Sache. Ich brauche jetzt fünfhundert.«

 

Elsons Gesicht wurde dunkel vor Ärger.

 

»Wie lange glauben Sie mich noch aussaugen zu können?« fragte er. »Wenn ich zu diesem alten Esel gehe und ihm erzähle …«

 

»Aber das werden Sie nicht tun«, sagte Lattimer sanft. »Ich weiß wirklich nicht, warum Sie sich so darüber aufregen. Es ist doch wertvoll für Sie, sich mit mir gut zu stellen. Ich habe Sie vor einer Menge Unannehmlichkeiten bewahrt und bin bereit, Ihnen noch weiter zu helfen. Ich kann Ihnen aus allem heraushelfen, wenn Sie nicht einen Mord begangen haben.«

 

Elson schrak zusammen.

 

»Was wollen Sie denn mit Mord?« fragte er laut.

 

Vom Nachbartisch drehte sich jemand nach ihnen um, und Elson fuhr leiser fort: »Ich hoffe, daß Sie mir in diesen Tagen nützlich sind, und wenn Sie es nicht sind – Ihr Chef wird eine Freude haben, wenn er Ihre Wechsel in meinen Händen sieht. Ich werde Ihnen die fünfhundert geben, nicht weil Sie sie von mir zu bekommen haben, sondern weil ich sie Ihnen geben will. Ich habe nichts von der Polizei zu befürchten, noch habe ich etwas …«

 

»Ausgenommen St. Paul«, unterbrach ihn Lattimer mit gespitzten Lippen. »Die Polizei von St. Paul sucht Sie wegen eines Raubes mit tätlichem Angriff. Sie sind zweimal im Zuchthaus gewesen wegen Raubes und anderer Dinge, und wenn das Auslieferungsgesetz angewandt wird, ist es nicht schwer, Sie wieder dorthin zu bringen. Aber«, sagte er lächelnd, »ich habe nichts gegen Sie.«

 

»Sie sind ein Erpresser«, stieß Elson zwischen den Zähnen hervor.

 

»Und Sie ein Narr«, erwiderte Lattimer in ausgezeichneter Stimmung. »Sehen Sie, Elson oder Alstein oder wie immer Ihr Name ist, ich kann Ihnen sehr nützlich sein. Denken Sie daran, daß es nicht zählt, was ich darüber denke – was Super denkt, das ist wichtig.«

 

»Weiß er von dieser St.-Paul-Geschichte?«

 

»Es macht nichts, ob er es weiß«, war die kühle Antwort. »Es war nichts, weswegen das Auslieferungsgesetz in Betracht käme …«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte der erstaunte Millionär. »Sie erzählten mir doch …«

 

»Ich habe Ihnen viel gesagt, was ich vor Gericht nicht aufrechterhalten könnte. Aber jetzt sage ich Ihnen die Wahrheit. Solange Sie in England bleiben, können Sie nicht bedrängt werden, und Sie brauchen nicht böse dreinzuschauen, weil ich bis heute nichts darüber wußte.« Er lehnte sich über den Tisch und dämpfte seine Stimme. »Elson, es wird große Unannehmlichkeiten wegen Hanna Shaw geben. Super sandte mich nach Cambridge, um Nachforschungen über Ihre Geschichte anzustellen; aber sie hielt der Prüfung nicht stand. Ich kam mit der Nachricht zurück, daß ich die Garage gefunden hätte, wo Sie Ihr Auto für die Nacht einstellten. Aber ich habe niemals eine solche Garage gefunden. Sie waren nicht dort!«

 

»Wie soll ich wissen, wo ich war? Sagte ich Ihnen nicht, daß ich betrunken war? Ich erinnere mich nur, daß ich irgendwo in der Nähe einer Schule war. Das ist alles.«

 

Sergeant Lattimer musterte das Gesicht des unruhigen Mannes.

 

»Kommen Sie, Elson«, sagte er sanft. »Sie haben mir etwas mitzuteilen. Erzählen Sie, alter Junge!«

 

Der andere schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe nichts zu erzählen«, sagte er scharf. »Was ist mit Ihnen los? Sie wissen alles – warum fragen Sie mich?«

 

»Wer tötete Hanna Shaw?«

 

Elsons Augenlider fielen herunter.

 

»Vielleicht wissen Sie nichts darüber«, grinste er höhnisch. »Vielleicht wissen Sie nicht, wo sie an dem Nachmittag war.«

 

»Warum sollte ich auch?« fragte Lattimer gleichgültig.

 

»Sie haben wohl Hanna Shaw niemals am Ende der Straße nach Einbruch der Dunkelheit getroffen? Und wenn sie in ihrem Wagen ausfuhr, begegneten Sie ihr da nicht und machten lange Fahrten mit ihr?« fragte Elson, während er Lattimers Gesicht aufmerksam beobachtete. »Ich glaube, Super weiß das nicht!«

 

»Er weiß nicht alles«, war die kühle Antwort.

 

»Ich möchte wetten, er weiß nichts! Hanna Shaw und Sie waren gute Bekannte. Sie kannten sie zu gut, als daß Sie jetzt zu mir kommen und mich ausfragen wollen. Sie hat mir ein oder zwei Dinge von Ihnen erzählt, die vor Gericht nicht gut klingen würden. Sie haben monatelang mit Hanna gespielt. Super weiß es nicht, und Cardew weiß es nicht. Ich habe heute morgen die Zeitungen gelesen – und anscheinend wurde kein Geld gefunden, als man Hannas Zimmer durchsuchte. Ich weiß« – er sprach langsam – »daß Hanna Shaw vierhunderttausend Dollar besaß, als sie verschwand. Ich weiß nicht, woher sie es hatte, aber ich weiß, daß sie es hatte. Wo ist dieses Geld geblieben?«

 

Lattimer gab keine Antwort.

 

»Es gibt nichts, was Sie nicht für Geld tun würden, Lattimer. Sie haben ihr noch vor einer Woche erzählt, daß Sie alles tun würden, wenn Sie zehntausend Dollar bekämen.«

 

»Bestellen Sie noch eine Flasche Wein«, sagte Lattimer, »und lassen Sie uns von etwas anderem sprechen!«

 

Mitternacht war vorbei, als Elsons Wagen vorsichtig die Straße entlangfuhr und vor seinem Haus hielt. Der Amerikaner stieg aus und schwankte zur Tür. Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich, sie zu öffnen. Er erreichte die Halle, stützte sich an der Wand und stieß die Tür auf. Als er die Treppe hinaufging, klammerte er sich krampfhaft an das Geländer. Schließlich kam er zu einer Couch, setzte sich und fiel sofort in Schlaf. Die scharfe Ecke seines Kragens hielt ihn aber bei halbem Bewußtsein. Er erwachte mit schmerzendem Kopf, und seine Beine waren so schwach, daß sie kaum das Gewicht seines Körpers tragen konnten, als, er endlich auf den Füßen stand. Schläfrig zerrte er an dem Kragen, und nach vielen Versuchen riß er ihn ab. Alle Lichter brannten, und dunkel erinnerte er sich, daß er besser schlafen würde, wenn er sie auslöschte. Während er das Zimmer mit unsicheren Schritten durchquerte, zog er seinen Rock und das Oberhemd aus, und bevor er den Schalter umdrehte, lehnte er sich an die Wand und zog die Schuhe aus. Die geisterhafte Dämmerung ernüchterte ihn halb. Er ging zur Couch zurück, schenkte sich einen Whisky-Soda ein, goß ihn mit einem Zug hinunter und fühlte sich sofort wieder wach.

 

Der Morgen war warm. Er ging zum Fenster, zog den Vorhang zurück, beugte sich hinaus und atmete in tiefen Zügen die kühle Morgenluft ein. Dann wurde ihm bewußt, daß sich beinahe unter ihm eine Gestalt an der Ecke des Blumenbeetes bewegte, die hier und da anhielt, um eine Blume zu pflücken. Ihre linke Hand hielt schon einen großen Strauß.

 

Eine Sekunde lang dachte Elson, daß seine Augen ihm einen Streich spielten, denn der Garten lag noch im Dunkel der Nacht. Dann hörte er den Mann summen.

 

»Hallo!« rief er. »Was machen Sie hier?«

 

Der Mann blickte auf. Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen.

 

»Was machen Sie hier?« brüllte Elson zornig, als keine Antwort kam.

 

Während Elson sprach, lief der Eindringling quer über die Beete schnell auf die Fahrstraße zu.

 

»Ich werde dich schon kriegen!« schrie Elson in unsinniger Wut.

 

Dann kam aus dem Dunkel der Bäume der Gesang:

 

Eine Weile stand Elson still und klammerte sich an das Fenster. Sein Gesicht war grau, und seine Augen starrten unbeweglich geradeaus.

 

»Ay de mi, Alhama!« Der Refrain erstarb in der Ferne. Aber Elson hörte es nicht. Er lag zitternd auf dem Boden, er stieß demütige Bitten und wilde Verwünschungen aus – er schrie vor Entsetzen, denn er hatte eine Stimme aus dem Grabe gehört.

 

Aber im Schatten des Hauses war jemand, der von diesem Gesang zum Leben erweckt wurde. Super hörte das Lied und sah einen Augenblick lang den Sänger, als er wie ein Schatten über die Straße lief. Im nächsten Augenblick explodierte sein fürchterliches Motorrad gleich einem Maschinengewehr, und er fuhr die Straße entlang, um den nächtlichen Wanderer abzufangen. Der Strolch sah ihn, lief über ein Feld und tauchte in einer Wildnis von Gebüsch und Gehölz unter, das die Ecke eines angrenzenden Besitztums bildete. Supers geräuschvolle Maschine drehte, flog die Hauptstraße hinab und um die Ecke einer alten Mauer herum, als der Landstreicher Deckung suchte.

 

Der Mann lief wie der Wind. Er hielt die Blumen, die er gepflückt hatte, noch in der Hand. Als Super Seite an Seite mit ihm kam, wandte er sich im rechten Winkel, sprang über einen Graben und eilte quer über eine Wiese. Super überlegte schnell, raste mit größter Eile die Straße entlang, verlangsamte das Tempo, als er um die Ecke fuhr, und bog dann in einen Feldweg ein. Er wußte, daß dieser parallel zu der Wiese lief, über die er den Mann hatte laufen sehen. Sein Manöver hatte Erfolg. Als der Mann auf die Straße kam, sprang Super von seinem Rad.

 

»Halt, mein Freund!« sagte er.

 

Der bärtige Mann blickte ihn mit einem sonderbaren Lächeln an.

 

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen so viel Mühe gemacht habe«, sagte er schwach.

 

Er hatte die Stimme eines kultivierten Amerikaners, aber Super war darauf vorbereitet.

 

»Gar keine Mühe«, erwiderte er freundlich. »Können Sie stehen?«

 

Der Mann erhob sich unsicher.

 

»Ich glaube, es ist besser, wenn Sie mit mir auf die Wache gehen und etwas essen«, sagte Super, und der andere folgte ihm ohne Widerstand.

 

Als sie langsam der Stadt zuwanderten, drückte Super seine innere Befriedigung durch große Geschwätzigkeit aus.

 

»Vor einer Woche hätte ich Sie rauher behandelt, muß ich gestehen. Ich glaubte, Sie seien ein sehr schlechter Mensch.«

 

»Ich bin kein schlechter Mensch«, sagte der andere einfach.

 

»Ich bin überzeugt, daß Sie es nicht sind«, stimmte Super bei. »Nein, mein Herr, ich habe viele Theorien über Sie ausgedacht, und ich vermute, daß ich recht habe. Ich weiß Ihren Namen.«

 

Der Mann lächelte.

 

»Ich habe so viele Namen. Ich wünschte nur, ich wüßte den richtigen.«

 

»Ich werde Ihnen den richtigen sagen«, erwiderte Super. »Durch Logik und Deduktion und Theorie habe ich Ihren Namen festgestellt. Sie sind John Kenneth Leigh vom Schatzamt der Vereinigten Staaten!«

 

Kapitel 17

 

17

 

Mr. Gordon Cardew legte seinen Kompaß hin, nahm seine Brille ab und starrte mit offenem Mund auf Super, nachdem dieser seine sensationelle Neuigkeit erzählt hatte.

 

»Aber ich dachte, Miss Leigh hätte gesagt, er sei im Krieg gefallen?«

 

»Er lebt und liegt in einem Krankenhaus.«

 

Mr. Cardew sah von dem Plan des Landhauses zu dem Detektiv auf, als ob er sich überlegte, ob diese Nachricht genügend interessant sei, um eine Unterbrechung seiner Arbeit zu rechtfertigen.

 

»Ich bin sehr froh«, sagte er schließlich. »Außerordentlich froh. Ich habe von solchen Fällen gehört, aber ich ließ mir niemals träumen, daß ich jemals persönlich damit in Berührung kommen würde. Das erklärt mir natürlich, warum Miss Leigh nicht zu mir kam, als ich sie anrief.«

 

Und hier war für Mr. Cardew, soweit er in Betracht kam, die Sache zu Ende. Denn während die Auffindung eines verlorenen Vaters für Super in seiner Beamteneigenschaft mehr oder weniger interessant sein mochte, hatte Mr. Cardew wenig damit zu tun.

 

»Es ist kein Zweifel, daß er es war, der in der Mordnacht sang«, sagte Super. »Ich glaube, daß er in einer jener Höhlen dort oben lebte und eine Strickleiter hätte, die er nachts herabließ und am Morgen wieder heraufzog. Er erzählte mir so etwas.«

 

»Der Strolch!« keuchte Cardew. »War er nicht der Mann, der in jener Nacht im Garten war, als Sie bei mir saßen?«

 

Super nickte.

 

»Aber ein Landstreicher … Miss Leighs Vater! Es ist unglaublich! Was in aller Welt machte er denn? Ein Strolch!«

 

»Was Strolche eben machen«, sagte Super. »Herumstreifen, Dinge aufgreifen. Er muß sich irgendwie erinnert haben, wo er lebte. Ich glaube, er hatte eine verworrene Vorstellung, daß seine Tochter Hunger leiden könnte. Er pflegte Eier und Kartoffeln zu sammeln und sie auf die Treppe seines alten Hauses zu legen. Manchmal waren auch Blumen dabei.«

 

»Ist er nicht ganz richtig im Kopf?« fragte Mr. Cardew ängstlich. »Das will ich nicht hoffen. Diese Zerrüttungen sind häufig erblich.«

 

»Er ist bei Verstand und auch wieder nicht bei Verstand«, war Supers wenig zufriedenstellende Erklärung. »Der Arzt glaubt, daß ein Druck auf seinem Gehirn liegt – vielleicht ein Schädelbruch –, er hat eine zehn Zentimeter lange Narbe am Kopf. Jemand gab ihm einen Schlag, den er nicht so schnell vergaß.«

 

Der Rechtsanwalt legte die Fingerspitzen zusammen und schaute an die Decke.

 

»Vielleicht war es ein Granatsplitter – ich habe von solchen Fällen gehört. Aber ich kann nicht verstehen, wie er dazu kam, ein Landstreicher zu werden. – Es muß eine sehr freudige Aufregung für Miss Leigh gewesen sein, als sie erfuhr, daß ihr Vater noch lebt. Ich hoffe, daß Sie ihr die Nachricht vorsichtig beigebracht haben, obwohl Freude ja nicht tötet.«

 

»Ja, ich brachte es ihr taktvoll bei«, nickte Super. »Ich rief sie an und erzählte ihr, daß ich nicht glaube, daß ihr Vater tot sei. Und das bereitete sie auf die Neuigkeit vor.«

 

Mr. Cardew zog die Lippen zweifelnd zusammen. Er war wirklich nicht an der bemerkenswerten Entdeckung interessiert, höchstens so weit, als Leighs Gegenwart in Pawsey ein neues Moment in den Fall brachte.

 

»Sie bringen diesen Mann in Zusammenhang mit dem Verbrechen?« fragte er. »Wenn ich mich recht erinnere, glaubten Sie, daß er dieser Großfuß sein könnte?«

 

»Das habe ich nie gedacht!« brummte Super, der nichts so übelnahm, als wenn man ihm falsche Ansichten unterschob, die er nie gehabt hatte. »Sie theoretisieren wieder, Mr. Cardew.« Er sah auf den Plan, der kreuz und quer mit Bleistiftlinien durchzogen war. »Ist die ganze Sache nun ausgearbeitet?« fragte er dann ironisch. »Mord, begangen von einem linksfüßigen Mann?«

 

Mr. Cardew lächelte nachsichtig.

 

»Das ist nicht das Resultat meiner Untersuchungen«, entgegnete er. »Aber ich habe etwas Wichtiges von dem Bauamt von Pawsey erfahren. Man sagte mir, daß das Haus an der Stelle eines früheren Gebäudes errichtet wurde. Zweifellos gibt es unter dem Boden der Küche Keller …«

 

Super seufzte.

 

»Um Himmels willen«, sagte er sanft. »Vergessen Sie doch, die Keller! Wie entkam denn der Bursche? Etwa durch ein Loch im Boden? Und sind nicht auch geheime Federn vorhanden, die man berühren muß, damit sich das ganze Haus umdreht?«

 

»Jedenfalls hin ich davon überzeugt, daß Nachforschen nicht schaden kann«, versicherte Mr. Cardew. »Ich bin bereit, meine Erlaubnis dazu zu geben. Da das Haus mein Eigentum ist, kann ich nicht einsehen, was man dagegen einwenden könnte – ich werde die Grabarbeiten sogar bezahlen.«

 

»Kennen Sie meinen Sergeanten?« unterbrach ihn Super in seiner sprunghaften Art.

 

»Lattimer? Ja, ich kenne ihn. Er ist bei verschiedenen Gelegenheiten hier gewesen«, erwiderte Cardew überrascht.

 

»Hat er jemals versucht, sich freundschaftlich mit Ihnen zu stellen?«

 

Mr. Cardew zögerte.

 

»Hm … Ich möchte nicht zu seinem direkten Vorgesetzten über ihn sprechen, aber …«

 

»Aber was?«

 

»Nun wohl, einmal deutete er mir vorsichtig an, daß er etwas Geld borgen möchte.«

 

»So«, brummte Super, »das tat er? Haben Sie ihm was geliehen?«

 

»Nein. Ich kann wohl sagen, daß ich sehr enttäuscht war. Man vermutet doch nicht, daß ein verantwortlicher Polizeibeamter derartige Sachen macht. Ich habe es Ihnen nie erzählt, weil ich den Mann nicht in Unannehmlichkeiten bringen möchte.«

 

Super grübelte nach, dann zeigte er wieder auf den Plan.

 

»Haben Sie Ihre Theorie nun gut ausgearbeitet?«

 

Cardew lachte laut.

 

»Ich nehme Ihnen Ihre Sticheleien nicht übel, Oberinspektor«, sagte er in guter Laune, »weil ich doch weiß, daß Sie es nicht böse meinen. Aber ich möchte wetten, daß ich der Wahrheit über den Mörder näher bin als Sie.«

 

Er ging mit Super zur Vordertür.

 

»Mr. Elson ist krank«, sagte Super. »Er hat einen Anfall, ich nehme an, daß das von seiner Trinkerei kommt. Der Kerl ist der schlimmste Säufer, den ich je kennengelernt habe. Ich fragte heute morgen den Arzt, ob er schon das Delirium habe; aber er antwortete mir nicht darauf. Diese Ärzte sind alle Geheimniskrämer.«

 

»Wo ist Ihr Landstreicher jetzt?« fragte Cardew.

 

»Mr. John Kenneth Leigh vom Schatzamt der Vereinigten Staaten«, sagte Super korrekt, »liegt in einem Krankenhaus und wird dort gepflegt.«

 

»Und seine Tochter?«

 

»Miss Elfa Henrietta Leigh ist bei ihm, und sie möchte ihn gern über seine Erlebnisse zum Reden bringen. Aber er singt nur immer das verrückte Lied von dem maurischen König, der auf und ab reitet. Es mag ja ein ganz schönes Lied sein, aber mir gefällt es nicht. Anscheinend war es seine Lieblingsmelodie. Ich sah sie auf dem Notenpult des Klaviers stehen, als ich sie besuchte. In der Bibliothek habe ich auch verschiedene Bücher über spanische Dichtkunst gefunden. Daraus habe ich dann meine Schlüsse gezogen. – Wenn Sie noch irgendwelche Vermutungen oder Theorien über den Mörder haben, dann wissen Sie ja meine Telefonnummer. Ich werde mich stets dafür interessieren. Die Londoner Polizei teilte mir mit, daß sie nichts über den Einbruch in Ihrem Büro herausgebracht hat.«

 

»Das wundert mich«, sagte Mr. Cardew trocken. »Der Zusammenhang zwischen dem Mord und der Verbrennung der Dokumente der armen Hanna ist doch sehr augenfällig. Das müßte doch Scotland Yard auch einsehen.«

 

»Nichts ist klar in Scotland Yard«, sagte Super freundlich.

 

Mr. Leigh war in ein Krankenhaus in der Weymouth Street gebracht worden. Spät am Vormittag fand Super Zeit, dort einen Besuch abzustatten und sich nach seinem Patienten zu erkundigen. Elfa kam in den Empfangsraum herunter. Ihre Wangen waren frisch und rosig, und ihre Augen leuchteten, obgleich noch Tränen darin schimmerten.

 

»Er schläft jetzt«, sagte sie.

 

»Erkennt er Sie?« fragte Super.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Noch nicht ganz – ich muß mich aber auch in den letzten sechs Jahren sehr verändert haben. Er fragte mich, ob ich sein kleines Mädchen kenne.« Dabei zitterten ihre Lippen. »Wenn ich außer Fassung bin und weinen muß, so tadeln Sie mich, Super. Ist es nicht wunderbar, daß ich ihn wiedergefunden habe?«

 

»Ich habe ihn gefunden«, sagte Super.

 

Sie nahm seine rauhe Rechte zwischen ihre Hände und drückte sie.

 

»Ja, das haben Sie getan«, sagte sie sanft. »Niemand außer Ihnen hätte den Gesang mit meinem lieben Vater in Zusammenhang gebracht. Das Seltsamste ist doch, daß ich ihn an dem Abend singen hörte, als ich auf der Klippe lag. Ich dachte damals, daß ich träumte.«

 

»Wußten Sie denn überhaupt etwas von dem Vagabunden, der spanische Lieder sang?«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich sicher gewesen, daß es mein lieber Vater war, obgleich ich längst annehmen mußte, daß er tot ist. Er hat auch all die Lebensmittel auf die Treppe in Edward Square gelegt. Er muß sich irgendwie an die Vergangenheit erinnert haben. Was ich nicht verstehen kann, ist nur, daß er niemals das Haus betrat oder sich zeigte. Er hat sich all die Jahre lang versteckt – ich möchte nur wissen, warum.«

 

Super lachte breit.

 

»Das hatte ich schon seit langer Zeit vermutet.«

 

Ein paar Türen von dem Krankenhaus entfernt wohnte der berühmte Arzt, den Super auf eigene Verantwortung zu Rate gezogen und gebeten hatte, eine Untersuchung von Mr. Leigh vorzunehmen. Super hatte Glück. Er traf den Doktor zu Hause, und der Bericht klang sehr ermutigend.

 

»Ich würde ihn nicht für geisteskrank halten, obgleich man ihn nicht für seine Handlungen verantwortlich machen kann. Alle Symptome weisen darauf hin, daß ein schwerer Druck auf seinem Gehirn lastet. Wenn man diesen Druck aufheben kann, besteht gute Aussicht, daß Mr. Leigh wieder vollkommen normal wird. Ich kann Ihnen natürlich nicht mit voller Gewißheit den Erfolg versprechen, aber eine Operation erscheint auf jeden Fall gerechtfertigt. Ein Beamter der amerikanischen Botschaft hat mich besucht und erklärt, daß keine Ausgaben gespart werden sollen.«

 

»Wann wollen Sie die Operation vornehmen?« fragte Super.

 

Der Arzt schüttelte den Kopf.

 

»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Im Augenblick ist der Patient noch nicht kräftig genug, um einen so schweren Eingriff zu überstehen. Wir müssen erst seine Lebenskräfte wieder aufbauen.«

 

»Tun Sie es schnell, Doktor«, sagte Super. »Ich möchte diesen Fall vor meinen großen Ferien beenden. In sechs Wochen sind wieder Sitzungen des Gerichtshofes in Old Bailey. Es ist möglich, daß ich bis dahin alles soweit aufgeklärt habe.«

 

Er nahm ein kleines Notizbuch aus seiner Westentasche und sah darin nach.

 

»Ja, es stimmt. Voruntersuchung und Prozeß können im Juni abgeschlossen werden, und dann wird der Kerl im Juli aufgehängt. Das ist gerade die Zeit, wo ich in Urlaub gehen will – ich liebe es nicht, fortzugehen, bevor ich nicht meinen Verbrecher richtig tot habe. Bei all diesen Berufungsinstanzen und diesen Ausflüchten wegen Verrücktheit oder unbewußten Handelns unter fremder Suggestion können Sie nie sicher sein, daß Sie Ihren Mann wirklich haben, bevor er am Galgen hängt!«

 

Er ließ den armen Arzt im ungewissen, ob er betrunken war oder unter einem Sonnenstich litt.

 

Super brauchte sich dem Sergeanten der Polizeiwache von Marylebone Lane nicht vorzustellen und verschaffte sich ein Interview mit dem diensttuenden Beamten, indem er einfach ins Büro ging und die Tür hinter sich schloß.

 

»Ich möchte einen Beobachtungsposten vor der Klinik Weymouth Street 59 haben«, sagte er. »Dort liegt ein Mitglied der amerikanischen Botschaft mit Namen Leigh. Hier habe ich Ihnen eine Liste von Leuten aufgestellt, die ihn nicht besuchen sollen.«

 

Bei diesen Worten legte er ein Schriftstück auf den Schreibtisch.

 

»Ich habe der Vorsteherin gesagt, daß man ihm keine Nahrung geben soll, die nicht aus der Küche des Krankenhauses kommt. Keine Konfitüren, Bonbonnieren, Schokoladen, Trauben oder andere Früchte, die ihm von guten, anhänglichen Freunden geschickt werden. Ich verlange von Ihrem Polizeibeamten nur, daß er aufpaßt; daß niemand nach Einbruch der Dunkelheit in das Haus geht.«

 

Er erklärte dann weitläufig die Wichtigkeit der Aufgabe. Die meisten Polizeiinspektoren hätten das Auftauchen eines ›Fremden‹ von einem anderen Polizeibezirk als eine Beleidigung empfunden und wären bei seinem entschiedenen Ton stutzig geworden. Aber Super war eben Super. Es gereichte ihm zu großer Genugtuung, daß man versprach, seine Anordnungen auszuführen.

 

Nachdem er diese Arbeit getan hatte, konnte er sich den Luxus eines freundschaftlichen Besuches bei Jim Ferraby wohl erlauben. Sein Gedächtnis für die Gewohnheiten und charakteristischen Eigenheiten seiner Freunde war so groß, daß er gleichzeitig mit Jim auf der Treppe zu dessen Klub auftauchte.

 

Jim stürzte sich beinähe auf ihn, um neue Nachrichten zu erhalten.

 

»Ich versuchte den ganzen Morgen, Sie zu treffen. Miss Leigh berichtete mir telefonisch von der großartigen Neuigkeit. Aber seit der Zeit konnte ich nicht mehr mit ihr in Verbindung kommen. Dieser Landstreicher ist ihr Vater? Es scheint doch kaum möglich zu sein!«

 

»Ich stelle selten Theorien auf, aber wenn ich etwas vermute, so ist es fast sicher und nie unmöglich. Ich hätte Sie gern besucht, aber dann hätte ich im Restaurant essen müssen, und das ist sehr teuer. Deshalb zog ich es vor, Sie in Ihrem Klub aufzusuchen. Man ißt hier ebensogut, wenn nicht besser.«

 

Erst nachdem sie das Essen beendet hatten und beim Kaffee im Rauchzimmer saßen, begann Super zu sprechen.

 

»Das spanische Lied an und für sich konnte mir noch keinen Aufschluß geben, obgleich ich mir sofort sagte, daß dieser Vagabund anders als alle anderen war. Ich verfolgte seine Spur und erhielt überall aus dem Lande durch die lokalen Polizeibehörden Nachrichten über ihn. Ich entdeckte, daß er sehr wohl bekannt war. In Canterbury hatte er sogar wegen Landstreicherei eine Woche im Gefängnis gesessen. Ich wundere mich nur, daß der Gefängnisarzt nicht sah, daß er nicht recht bei Verstand ist. Als Sie mir aber letzten Sonntag die Nachricht von den Eiern und den Kartoffeln brachten, die auf der Türschwelle seiner alten Wohnung niedergelegt wurden, war mein Interesse geweckt. Meiner Meinung nach konnte das nur eins bedeuten, nämlich, daß jemand, der Miss Leigh gern hatte, diese kleinen Gaben niederlegte. Aber er wußte nicht, daß sie nicht mehr in dem Hause wohnte. Es konnte also nur jemand sein, der die verrückte Idee hatte, daß sie bitterste Not litt. Und der einzige, der so fühlen konnte, war ihr Vater. Ich besuchte die junge Dame also, und es war keine große Mühe, den Landstreicher zu identifizieren. Die Ärzte glauben, daß eine Operation ihn wieder völlig heilen wird, und dann werden wir sehr viele romantische Dinge erfahren, von denen Sie sich überhaupt nichts träumen lassen.«

 

»Was denn?« fragte Jim.

 

»Erinnern Sie sich nicht an den Stadtrat von Brixton, von dem ich Ihnen erzählte?«

 

Jim nickte.

 

»Das war ein ganz minderwertiger Bursche.«

 

»Was war denn mit ihm?« fragte Jim.

 

»Nichts«, erwiderte Super ausweichend. »Ich wollte nur wissen, ob Sie sich auf meine Äußerung von damals besinnen können.«

 

»Was hat der aber mit dem Landstreicher zu tun?«

 

»Sehr viel – auch mit der Ermordung Hanna Shaws. Bitte, achten Sie darauf, was ich Ihnen jetzt sage. Dieser Brixton wird ein hochinteressanter Zeuge werden.«

 

Er nahm sein Notizbuch heraus, legte es auf den kleinen Tisch, auf dem der Kaffee stand, schlug den Deckel auf und nahm einen gefalteten Briefumschlag heraus.

 

»Erinnern Sie sich daran?«

 

Jim nickte.

 

»Es war der Briefumschlag, der in der Mordnacht in der Küche gefunden wurde.«

 

»Nur zwei Leute außer mir wissen hiervon«, sagte Super. »Sie und Elfa Leigh. Selbst Lattimer hat keine Ahnung davon. Der Mann, der den Brief schrieb, der zu diesem Umschlag gehört, war der Mörder Hanna Shaws. Das ist mir vollständig klar. Ob er nun den Kamin heruntergekrochen ist oder aus unterirdischen Tiefen, geheimen Kellern oder anderen merkwürdigen Plätzen kam – der Mann, der das geschrieben hat« – er tippte bedeutungsvoll auf den Umschlag – »hob die Pistole, mit der die unglückliche Frau getötet wurde. Möglicherweise ist sie gar nicht so unglücklich und beklagenswert, wie man im allgemeinen annimmt. Persönlich habe ich die Überzeugung, daß es für sie sehr gut war, aus diesem Trubel und den Wirrnissen herauszukommen.«

 

»Wo herauszukommen?« fragte Jim verwundert.

 

»Aus allem. – Wenn, Sie mir noch etwas bestellen wollen, dann möchte ich gerne einen alten Kognak trinken. Süße Damenliköre sind nicht nach meinem Geschmack.«

 

Er gab Jim die Adresse des Krankenhauses, dann holte er sein Motorrad aus der Garage von Scotland Yard, wo alle jungen Polizisten es gebührend bewunderten, und fuhr unter geräuschvollen Explosionen zu seiner Polizeistation zurück. Lattimer war nicht zugegen. Er hatte ihn schon früh am Morgen nach Pawsey geschickt, um Untersuchungen anzustellen. Die gerichtliche Verhandlung der Leichenschau sollte am nächsten Tage stattfinden. Super mußte sich darauf vorbereiten, und es war sehr schwierig zu prüfen, ob alle Tatsachen im Gerichtssaal der Öffentlichkeit preisgegeben werden durften oder ob sie im Interesse der Aufklärung des Mordes geheimzuhalten waren. Von Zeit zu Zeit hob er seinen Kopf und legte die Feder hin. Er hatte schadenfrohe Gedanken und dachte besonders daran, daß Mr. Cardew seine theoretische Arbeit, mit der er den Kriminalfall aufklären wollte, im Stich lassen mußte, um in einem kleinen, dumpfen Gerichtszimmer ungeduldig zu warten.

 

Lattimer kehrte gegen Abend zurück und berichtete das Resultat seiner Nachforschungen.

 

»Ich folgte dem Feldpfad südlich von Pawsey drei Kilometer weit. Ein Wagen konnte unmöglich dorthin entkommen. Der Weg ist sehr eng und außerdem durch zwei Zauntritte versperrt. Später mündet er in die London Lewes Road, wie Sie vermuteten.«

 

»Wie ich wußte«, verbesserte ihn Super. »Also ein Wagen konnte den Weg nicht fahren. Ich wäre auch sehr verwundert gewesen, wenn es gegangen wäre.«

 

Lattimer machte große Augen.

 

»Ich dachte, Sie erwarteten …«

 

»Ich wiederhole Ihnen, ich wäre wirklich sehr verwundert gewesen, wenn ein Wagen den Weg hätte fahren können«, sagte Super befriedigt. Als Lattimer sich zum Gehen wandte, fügte er noch hinzu:

 

»Elson geht es wieder besser, wie ich hörte.«

 

»Ich habe nicht einmal gewußt, daß er krank war«, sagte Lattimer gleichgültig.

 

»Ich weiß nicht, ob Delirium tremens eine Krankheit oder ein Dauerzustand ist. Aber jedenfalls geht es ihm jetzt besser. Es wäre ganz gut, wenn Sie morgen früh zu ihm gingen und einige unverfängliche Fragen stellten. Ich hätte ihm Blumen gesandt, nur scheint mir das zu voreilig zu sein – dann, Lattimer, ich brauche Sie morgen früh auf dem Gericht.«

 

»Ich werde dort sein.«

 

Dicht bei der Polizeiwache lag das Häuschen, in dem Super wohnte. Es gehörte auch ein kleiner Garten dazu. Zwei Schlafzimmer und ein Wohnzimmer lagen in einem Stockwerk, während sich auf der Hinterseite des Hauses ein kleines Feld befand, auf dem seine kostbaren, braungelben Orpington-Hühner lebten und sich von den Erträgnissen der Nachbargärten nährten. Denn es gehörte zu ihren ständigen Gewohnheiten, über die Grenzen ihres Feldes hinauszugehen. Supers Name hatte aber eine solche magische Kraft, daß nur wenige Klagen kamen, obgleich die gefiederten Räuber die Dorffelder und Gärten der Umgebung dauernd heimsuchten. Es gab aber auch noch andere Räuber in dieser Gegend, die weder vor Super noch vor seinen Hühnern Respekt hatten. Manchmal kamen nachts von der Spitze des Hügels rote, schleichende Gestalten, aber Super entdeckte bald den Weg, auf dem die Füchse kamen, und brachte eine Falle mit Selbstschuß dort an, sehr zum Nachteil der dortigen Jagd. Es war eine gute Falle, obwohl er sie selbst verfertigt hatte.

 

Es war schon dunkel, als Super zu dem kleinen Schuppen hinübergingt in dem er sein Motorrad aufbewahrte, Er wollte ein paar Ausbesserungen an der Maschine vornehmen und seinen Vergaser reinigen. Die Zeit nach Mitternacht schätzte er besonders, um Reparaturen an seinem Rad auszuführen.

 

Obgleich er sehr gut sehen konnte, hatte er sich angewöhnt, mit der Hand an der Lichtleitung entlangzufühlen, die das Haus mit dem Schuppen verband. Er war kein gelernter Elektriker und hatte sie etwas roh angelegt.

 

Als er nun wieder an dem Draht entlangtastete, merkte er zu seinem großen Erstaunen, daß die Leitung unterbrochen war. Als er sich bückte, entdeckte er das schlaff herabhängende Ende des Drahtes auf dem Erdboden. Nun war ja an einem abgerissenen Draht nichts Besonderes, aber als er ihn heute am Tag gesehen hatte, war er noch straff gespannt, und er konnte sich nicht vorstellen, wie er zerstört worden war.

 

Er machte kurz kehrt, ging ins Haus zurück und nahm das lose Ende des Drahtes mit sich, nachdem er es von dem Isolator abgenommen hatte. Beim Licht der Tischlampe prüfte er die Bruchstelle. Der Draht war durchgeschnitten, er konnte die Kneifstellen einer Zange deutlich feststellen.

 

»Donnerwetter!« sagte Super.

 

Eins war sicher. Ein Spaßvogel erlaubte sich keinen Scherz mit Super. Der Draht war also aus einem guten Grund abgeschnitten, und es mußte sicher zum Schaden Supers geschehen sein.

 

Er ging in sein Schlafzimmer, holte eine kleine Kiste unter seinem Bett hervor, nahm daraus einen schweren Polizeirevolver, lud ihn, und nachdem er eine Weile gesucht hatte, fand er eine Polizeilampe. Mit diesen beiden Dingen ging er auf den Hof zurück und schlich sich geräuschlos wie eine Katze zu dem Schuppen. Kein Laut kam durch die Stille der Nacht, nur ab und zu ertönte das schläfrige Gackern einer Henne. Er ahnte den Zusammenhang. In der Hütte war eine Gefahr verborgen.

 

Der Lichtschalter für den kleinen Schuppen war draußen hinter dem Dachvorsprung gegen Wind und Wetter geschützt. Die Tür wurde niemals verschlossen. Es war sehr einfach, in den Hof zu kommen und in den Schuppen zu gehen. Vorsichtig schritt er vorwärts und beleuchtete den Weg mit seiner Lampe, die andere Hand hatte er am Revolver. Er drückte sich ganz auf die Seite und riß plötzlich die Tür zum Schuppen auf. Eine betäubende Explosion folgte, und darauf hörte er Glas splittern. Als sich der Rauch verzogen hatte, schaute er durch eine Spalte der Tür, hinter der er stand.

 

Das mußte seine eigene Fuchsfalle mit dem Selbstschuß gewesen sein. Er hatte sie aber nicht so aufgestellt, daß die Mündung nach der Tür zeigte. Auch hatte er nicht die Schnur der Falle an die Türklinke gebunden. Als er sie zum letztenmal gesehen hatte, war sie einige hundert Meter entfernt zwischen den Gebüschen verborgen aufgestellt gewesen.

 

Er hörte jemand rufen und ging zum Haus zurück. Dort traf er Lattimer.

 

»Hallo, ich dachte, Sie wären schon zu Bett!« sagte Super.

 

»Ich hörte eine Explosion – was hatte das zu bedeuten? Es war zu nahe für einen Schuß aus der Fuchsfalle.«

 

Lattimer war außergewöhnlich aufgeregt.

 

»Treten Sie näher«, sagte Super. »Hier ist eine gute Gelegenheit für junge Detektive, um sich an der Aufklärung solcher Dinge zu üben.«

 

»Ist irgendein Schaden geschehen?« fragte Lattimer atemlos.

 

»Drei Glasscheiben sind zertrümmert, und fünfundzwanzig erstklassige Rassehühner sind aus ihrem schönen Schlaf aufgeschreckt. Das ist alles.«

 

Eine Rauchwolke lagerte über dem Garten, und man konnte überall den Geruch von verbranntem Schießpulver wahrnehmen. Lattimer folgte seinem Vorgesetzten in den Schuppen und besah sich die Schießfalle. Es war eine sehr einfache Konstruktion, die Super selbst hergestellt hatte.

 

»Hatten Sie die Falle im Schuppen stehen?«

 

Super sah ihn ironisch an.

 

»Natürlich – ich versuchte, Selbstmord zu verüben. Ich mache öfter solche Verrücktheiten.«

 

Er schaute wie eine alte Eule auf das noch rauchende Schießeisen und schüttelte den Kopf.

 

»Na, der hat einen Schreck bekommen!«

 

»Wer?« fragte Lattimer schnell.

 

»Der Kerl, der mir diese Falle gestellt hat! Ich wette, daß er der elendste Bursche im Umkreis von -zig Kilometern ist. Er mußte doch wissen, daß ich das Licht anmache, bevor ich die Tür öffne. Aber er wollte vermeiden, daß ich die Falle sehe, und schnitt deshalb die Lichtleitung durch. Er ist ein verschmitzter Kerl, dieser Großfuß. Ich will Ihnen noch etwas sagen, Sergeant. Wenn Elson im Bett läge, wäre dies nicht passiert. Wenn er in eine Zwangsjacke gesteckt worden wäre, so daß er nicht hätte umherschleichen können, so würde die Falle noch in ihrem alten Versteck unter den Sträuchern stehen.«

 

»Glauben Sie, daß Elson das getan hat?«

 

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Super. »Das habe ich auch nicht gesagt. Legen Sie mir niemals Worte in den Mund, die ich nicht geäußert habe. Ich habe nur bemerkt, daß ich nicht gezwungen wäre, morgen für mein gutes Geld Glas kaufen zu müssen, wenn dieser Mensch in eine geschlossene Zelle gebracht worden wäre. Ich dachte, Sie wären schon schlafen gegangen, Sergeant.«

 

»Nein, ich fühlte mich nicht mehr so müde wie vorher. Ich ging noch die Straße auf und ab und rauchte eine Pfeife, als ich hörte, wie der Schuß losging. Dieser Fall geht mir wirklich auf die Nerven.«

 

»Sie sind zu temperamentvoll«, sagte Super.

 

Er schlurfte zu seinem Haus zurück, der Sergeant ging hinterher.

 

»Legen Sie sich schlafen, mein Sohn. Sie werden Ihre hübsche Gesichtsfarbe noch ganz verlieren.«

 

Er wartete, bis Lattimer zu seiner Wohnung zurückgegangen war, dann begann er eine systematische Durchsuchung des Grundstücks. Der mordlustige Besucher konnte auf vielen Wegen gekommen sein, aber er konnte keine Spuren von ihm finden; denn der Boden war trocken und hart.

 

*

 

»Es wäre vielleicht gut, wenn ich einen tüchtigen Bluthund hielte«, sagte Super am nächsten Morgen, als er sich rasierte. »Fast alle Detektive brauchen Spürhunde. Ich müßte eigentlich auch einen haben. Es ist nur ein Unglück, daß ich keinen Hund vom andern unterscheiden kann.«

 

»Sind Sie davon überzeugt«, fragte Lattimer, »daß jemand die Schießfalle in der Absicht aufgestellt hat, Sie zu töten? Es kann doch auch ein Scherz gewesen sein.«

 

»Da möchte ich aber laut loslachen«, sagte Super und zog, die Stirn kraus, als er sich das Kinn rasierte. »Solche dummen Scherze nötigen mir nicht einmal ein Lächeln ab, nicht in Hunderten von Jahren.«

 

»Wo haben Sie die Schießfalle zuletzt gesehen?«

 

»Draußen auf den Feldern, in der Nähe der Weißdornbüsche. Ich habe sie dort gegen die Füchse aufgestellt. Nehmen Sie einmal an, ich hätte die Tür geöffnet, ohne zu wissen, daß etwas geplant war. Was würden die Leute wohl gesagt haben? Man hätte doch sicher behauptet, dieser alte, verrückte Super habe eine Schießfalle in seinem Schuppen aufgestellt und vergessen, daß sie dort stand. Ergebnis der Leichenschau: Tod durch Unfall, man soll der Witwe Bedauern und Teilnahme aussprechen. Und da ich nicht verheiratet bin, wäre die letzte Bemerkung überflüssig gewesen. Ich kann überhaupt nicht begreifen, warum Leichenschaugerichte so sentimentale Anwandlungen haben. Und dann würden drei Zeilen Normaltypendruck in der Zeitung stehen – wenn es hoch kommt, sind es auch vier, und vielleicht auch ein oder zwei Zeilen unter den Schauernachrichten. Lattimer, wenn ich unter den Händen solcher Schufte und Verbrecher sterben soll, dann brauche ich eine ganze Spalte und eine dicke Überschrift in der Zeitung. Ich weiß, was ich mir schuldig bin und was ich beanspruchen darf. Wenn ich an diesen schmutzigen Hund denke, der die Schießfalle im Stall aufgestellt hat, dann kommt mir die Wut. Die Explosion hat auch meinem Motorrad sehr geschadet. Die ganze Farbe um den Handgriff herum ist weggeschmort und abgeblättert. Ich muß Feuerfliege wieder neu anstreichen. Was meinen Sie zu einem dunklen Orange, Sergeant?«

 

»Das wird sehr schön sein«, meinte Lattimer.

 

Super schärfte sein Rasiermesser mit einem abwesenden Blick.

 

»Elson fühlt sich besser, er wird den Abend wieder herumwandern können. Ich habe das Kriegsministerium angerufen, daß man mir einen Tank zur Unterstützung senden soll. Wenigstens habe ich daran gedacht, aber ich habe es noch nicht getan.«

 

Jim Ferraby, der auch als Zeuge bei der Leichenschau anwesend war, holte Super und Lattimer mit seinem Wagen nach Pawsey ab. Er fand den alten Oberinspektor in sehr gehobener Stimmung; er war sogar zum Scherzen aufgelegt. Man hätte niemals aus seinem Benehmen schließen können, wie nahe er in den frühen Morgenstunden dem Tode gewesen war. Als Jim vor der Polizeiwache auf Super wartete, weil dieser noch in elfter Stunde den diensttuenden Beamten eine Rede halten mußte, sah er, daß Cardews Auto vorbeikam und der Anwalt seinen Wagen zum Stehen brachte.

 

»Nein, ich danke Ihnen, ich habe versprochen, Super nach Pawsey zu bringen«, sagte Jim auf seine freundliche Einladung.

 

Cardew lächelte bitter.

 

»Ich hoffe, daß ich das Vergnügen haben werde, Sie zurückzufahren. Ich glaube, daß ich Ihnen eine endgültige Erklärung geben kann, wie der Mord ausgeführt wurde. Es wurde mir plötzlich über Nacht klar, als ich im Halbschlaf lag. Je länger ich nun darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, daß ich die richtige Lösung für diesen ganzen Fall gefunden habe, der bisher ein unerklärliches Rätsel schien. Und was noch viel wichtiger ist«, fuhr er nachdenklich fort, »ich habe einen Parallelfall entdeckt, den Mordfall Starkie, der 1769 begangen wurde. Er ist ausführlich in einem alten Kalender beschrieben. Danach scheint es nämlich, daß ein Mann mit Namen Starkie …«

 

Aber Jim hatte weder Zeit noch den Wunsch, alle Einzelheiten dieses Mordes anzuhören, und entschuldigte sich, als Super auf der Bildfläche erschien und ein Paar wildlederne Handschuhe anzog, die so wenig zusammenpaßten, daß Jim diesen Umstand der Geistesabwesenheit und Zerstreutheit Supers zuschrieb.

 

»Einer ist immer schlechter als der andere«, sagte der Oberinspektor, als er sich an Jims Seite setzte und die Beine bequem ausstreckte. »Ich verliere immer meinen linken Handschuh. Ich wundere mich nur, warum noch niemand auf die Idee gekommen ist, rechte und linke Handschuhe einzeln zu verkaufen. Damit ließe sich doch ein gutes Geschäft machen – da fährt der alte Cardew in einer großen Staubwolke vor uns her und sein Gehirn ist ganz voll von Hypothesen und Vermutungen. Er hat so etwas wie eine juristische Auffassung der Sache, mit anderen Worten, er kann nicht geradeaus sehen.«

 

»Er hat schon eine Theorie fertig ausgearbeitet, um sie Ihnen vorzulegen«, sagte Jim, als der Wagen in schnelle Fahrt gekommen war und die langsame Limousine vor ihnen überholte.

 

»Das glaube ich gern, daß er schon wieder eine neue Theorie hat«, sagte Super selbstzufrieden.

 

»Er hat die Theorie wieder mitten in der Nacht gefunden.«

 

»Sie hat sich wohl geschämt, ihn am Tag zu überfallen«, lachte Super. »Na, ich möchte nicht den Verstandesapparat von Cardew haben, und wenn man mir zehn Millionen Pfund dazu schenkte. Ich kann Ihnen seine Theorie schon im voraus sagen. Er wird den Mut finden, mir all diese Märchen von heimlichen Kellern und dergleichen auf die Nase zu binden, und seine Theorie wird in der kühnen Behauptung gipfeln, daß Hanna Shaw von Miss Leigh ermordet wurde.«

 

»Was meinen Sie?« fuhr Jim auf, und in seiner Erregung lenkte er den Wagen plötzlich quer über die Straße.

 

»Nein, seien Sie nicht gleich böse, wenn ich einen Spaß mache. Wer täte das nicht einmal? Meine Nerven sind nicht ganz auf der Höhe, aber ich möchte wetten, das ist seine Theorie. Miss Leigh traf Hanna Shaw – sie hatte ihr doch telegraphiert –, und dann sind beide in Streit geraten, und Miss Leigh hat sie erschossen. Sie ist aus dem Haus gegangen und hat die Tür hinter sich zugeschlossen.«

 

»Aber das ist doch verrückt!«

 

»Natürlich ist das verrückt«, sagte Super vergnügt. »Aber das ist die Erklärung, die ein so romantischer Mann wie Cardew geben wird.«

 

»Er ist mir niemals romantisch vorgekommen«, lächelte Jim.

 

»Er ist aber romantisch. Warum würde er sonst all die Bücher über Anthropologie lesen? Wenn es noch etwas Romantischeres als seine Kriminalstudien gibt, dann sagen Sie es mir bitte.« Ein paar Minuten später erzählte er gleichgültig sein Erlebnis mit der Schießfalle.

 

»Es hat mir doch etwas zugesetzt, aber nicht so viel wie das Geld, das ich dem alten Smith für neue Scheiben zahlen muß. Der flaust mir vor, daß es jetzt einen Glastrust gibt und daß alle Preise gestiegen sind. Er muß immer lügen …« Super schaute über seine Schulter zurück. Mr. Cardews Wagen lag weit hinter ihnen. »Wenn ein Mann bekannt werden möchte, dann weiß er gewöhnlich nicht die Grenzen einzuhalten. Morgen werden in allen Zeitungen Artikel von ihm stehen, und keiner von diesen Reportern wird mich auch nur bitten, ein freundliches Lächeln zu zeigen. Persönlich ziehe ich es ja vor, die öffentliche Meinung nicht auf mich zu lenken. Ich bin einer der stillen Arbeiter, von denen Sie in den Büchern lesen. Haben Sie das auch schon gefunden?«

 

»Nein«, sagte Jim.

 

»Aber es ist tatsächlich so«, behauptete Super. »Ich gehe diesen Spürnasen von Zeitungsleuten eine Meile weit aus dem Weg. Im ›Surrey Comet‹ wurde einmal geschrieben: ›Der Oberinspektor Minter arbeitet gern im Dunkeln‹ – ich habe mir sechs Exemplare der Zeitung aufgehoben und will sie Ihnen dieser Tage einmal zeigen.«

 

Aber Supers Bescheidenheit trat nicht sehr deutlich in Erscheinung, als sie die Stadthalle erreicht hatten, wo die Leichenschau abgehalten werden sollte. Jim beobachtete, daß Super sich sofort unter eine Gruppe von Zeitungsberichterstattern mischte und gleich darauf an der Spitze der ganzen Schar im Hotel Royal verschwand. Die Gesellschaft kam gerade noch rechtzeitig vor Beginn der Verhandlung an. Super entschuldigte sich bei ihm.

 

»Ich habe den jungen Leuten nur eine Runde spendiert – ich wollte nämlich, daß sie mich nicht erwähnen, und ich dachte, es wäre besser, wenn ich ihnen das vorher sage.«

 

Am Abend las Jim den Bericht über die Sitzung, und es war merkwürdig, daß trotz der Vorsichtsmaßregeln Supers nicht nur sein Name erwähnt war, sondern auch äußerst schmeichelhafte Bemerkungen über seine Klarheit, sein Talent und seine bewunderungswürdige Begabung hinzugefügt waren.

 

Die Verhandlung dauerte länger, als Jim vermutet hatte. Supers Aussage war ein Wunder an Konzentration; aber es verging doch eine geraume Zeit, bis er fertig wurde. Ferraby selbst war eine halbe Stunde lang auf dem Zeugenstand, während Cardews Erklärungen über eine Stunde dauerten. Es war schon ziemlich spät am Nachmittag, als der Gerichtshof zu seinem Spruch zusammentrat.

 

»Haben Sie gehört, was Cardew alles erzählte?« fragte Super ärgerlich. »Ich wußte ja schon im voraus, daß er nur so übersprudeln würde – er tat es natürlich im Gegensatz zu mir, um mich zu ärgern. Als dieser kindische Leichenbeschauer ihm obendrein für seine äußerst wertvollen Angaben dankte, platzte er direkt vor Stolz.«

 

Sie nahmen erst noch ihren Tee im Hotel ein, bevor sie in die Stadt zurückkehrten. Mr. Cardew gesellte sich ihnen ungebeten zu, obwohl er aus dem harten, abweisenden Blick Supers hätte entnehmen können, daß es nicht der geeignete Augenblick war, seine neuen Hypothesen auszukramen. Jim versuchte, ihn auf eine neue Spur zu bringen, aber Cardew wollte sich nicht geschlagen geben.

 

»Ich habe heute morgen zu Ferraby gesagt, daß ich Ihnen die Lösung dieses merkwürdigen Rätsels mitteilen wollte.«

 

»Hören Sie gut zu, Lattimer«, sagte Super mit zweifelhafter Höflichkeit. »Ein junger Beamter kann nicht genug lernen. Und wenn Sie einen Gentleman wie Mr. Cardew anhören, der seine Theorien auseinandersetzt, dann müssen Sie die Ohren aufmachen. Das ist für Sie eine Art Erziehung. Es mag auch sein, daß es Ihnen nicht viel nützt, das kann man niemals vorhersagen. Also nun sitzen Sie still und hören Sie zu!«

 

Aber Lattimer brauchte solche Ermahnungen nicht. Er paßte angestrengt auf.

 

»Soviel ich aus der ganzen Verhandlung entnehme«, begann Mr. Cardew, »hatten Sie drei sich an der Küstenstraße versteckt, als die arme Hanna ankam. Sie sahen sie als dunklen Schattenriß, als sie vorbeifuhr. Sie haben ihren Hut und ihre Gestalt erkannt, und Sie sahen, wie sie vor der Haustür hielt, aber nicht, wie sie herauskam.«

 

»Ganz recht!« bemerkte Super. »Da haben Sie aber eine Schlußfolgerung gezogen, auf die Sie stolz sein können.«

 

»Sie haben sie nicht herauskommen sehen«, fuhr Cardew wohlwollend fort. »Und wenn Sie sie nicht herauskommen sahen, dann haben Sie auch nicht den Mann gesehen, der sieh in dem hinteren Teil des Wagens versteckt hatte und sich in der Nähe des Hauses niederbückte, um nicht gesehen zu werden. Es ist möglich, daß er unerkannt in den Wagen sprang, als Hanna auf der Straße vorbeifuhr, und wartete, bis sie die Tür geöffnet hatte. Dann sprang er auf sie zu, brachte ihren Hilferuf zum Verstummen und zog sie in das Haus hinein. Daß die Küche verschlossen war, beweist doch genau, daß er den Raum als Gefängnis für sie benützte.«

 

»Die Tür schloß sich hinter ihm – ich hörte, wie sie krachend ins Schloß fiel«, sagte Super gelangweilt.

 

»Er konnte sie doch mit seinem Fuß zugezogen haben«, antwortete Cardew schnell. »Was sich in der Küche zutrug, weiß niemand. Sicher sind sie nicht so lange dort gewesen, bis dieser mörderische Schuft die arme Frau erschoß. Was haben sie dann getan?«

 

»Ach ja – was haben sie dann getan?« fragte Super.

 

Cardew schaute ihm gerade ins Gesicht.

 

»Er zog ihren Mantel an und setzte, ihren Hut auf«, fuhr Cardew langsam fort. »Er kam aus der Tür, schloß sie und stieg in den Wagen ein. Er schaltete die Scheinwerfer ein – Sie sagten doch selbst, daß sie ein paar Sekunden aufleuchteten und dann wieder ausgemacht wurden. Der Grund dafür ist ganz klar. Wenn er die Lampen hätte brennen lassen, wäre ihr Schein auf die Vorderwand des Hauses gefallen, und jede Person in der Nähe wäre erkannt worden, und vor allem hätte man gesehen, daß er nicht eine Frau, sondern ein Mann war, trotz des Frauenhutes, den er trug.«

 

Super war mäuschenstill.

 

»Er fuhr dann mit dem Wagen auf die Straße«, fuhr Cardew fort und weidete sich an der Sensation, die er durch seine Erklärung hervorgerufen hatte. »Er fuhr auf die Höhe der Klippe, legte Hut und Mantel ab und ging zu Fuß zu seinem Wagen, der auf ihn wartete – wahrscheinlich war es nur ein kleiner Wagen, den man leicht verstecken konnte.«

 

Super sah ihn mit großen Augen an.

 

»Das ist eine der bedeutendsten Theorien, die ich jemals gehört habe«, sagte er schließlich, und Jim wußte, daß er es im Augenblick nicht ironisch meinte. Seine Augen waren weit geöffnet, und sein Schnurrbart schien sich zu sträuben. »Donnerwetter, Sie haben recht!«

 

Tödliches Schweigen folgte. Dann erhob sich Super langsam, streckte seine große Hand aus und ergriff Cardews Rechte.

 

»Ich danke Ihnen«, sagte er schlicht.

 

Super sprach auf der Rückfahrt von Pawsey bis zur Polizeistation kein Wort. Er lehnte Jims Einladung ab, neben ihm Platz zu nehmen, und kauerte sich auf einem der Rücksitze zusammen. Neben ihm saß Lattimer. Nur einmal während der Fahrt war es Jim, als ob er etwas vor sich hin brummte. Erst beim Abschied brach er das Schweigen.

 

»Ich nehme viel von dem zurück, was ich über Cardew sagte nicht alles, aber vieles. Ich dachte niemals, daß Anwälte derartig viel oder zu etwas anderem taugten, als Briefe an Leute zu schreiben, die ihre Kohlenrechnungen nicht bezahlt haben. Aber dieser Cardew hat etwas fertiggebracht, das ihm so leicht kein anderer nachmacht, Mr. Ferraby. Er hat mein Selbstvertrauen gestärkt. Er hat mir gezeigt, daß ich klüger bin als er, und einen Mann, der das zustande bringt, nenne ich einen Wohltäter der Öffentlichkeit.«

 

»Aber wieso sind Sie klüger als er?« fragte Jim erstaunt.

 

»Er erwähnte Großfuß mit keinem Wort. Nun sehen Sie mich an – ich weiß, wer Großfuß ist, und ich kenne ihn ebensogut wie Lattimer.« Er schaute zu dem Sergeanten. »Ich weiß es auch ohne Theorien, Schlußfolgerungen, Hypothesen oder anderem gelehrtem Unsinn. Vor einigen Tagen war Großfuß in meinem Büro. Ich hätte Ihnen Großfuß vorstellen können, wenn ich gewollt hätte.«

 

»Den Mörder?«

 

Super nickte.

 

»Großfuß war ganz bestimmt der Mörder.«

 

»Kam er denn durch die Hintertür in das Haus?«

 

Super nickte wieder.

 

»Ja, er kam auf verschiedenen Wegen, er ging sicher durch die Hintertür des Hauses.«

 

Jim war verstört.

 

»Aber hat Hanna Shaw ihn gekannt?«

 

»Nein, Hanna Shaw hat niemals seine Füße gesehen. Sie war tot, ehe Großfuß kam.«

 

»Aber Super, Sie haben doch gesagt, daß sie von ihm ermordet wurde!«

 

»So war es«, sagte Super, als er in die Polizeistation eintrat. »Also denken Sie darüber nach, mein Sohn. – Sergeant, holen Sie mir eine Abendzeitung, ich möchte doch einmal sehen, was diese stenografierenden Verbrecher über mich gesagt haben.«

 

Kapitel 1

 

1

 

Es war ein Zufall, daß Super gerade an diesem schönen Frühlingsmorgen einen Besuch in Barley Stack machte, denn er wußte noch nichts davon, daß man versucht hatte, in Mr. Stephen Elsons Haus einzubrechen. Er hatte auch keine Ahnung, daß ein Landstreicher namens Sullivan existierte und daß sein schwachsinniger Kumpan frei in der schönen Gegend umherwanderte und obendrein noch närrische kleine Liebeslieder in einer Sprache sang, die niemand verstand.

 

Barley Stack hatte für Super dieselbe geheimnisvolle Anziehungskraft wie die Lampe für die Motte oder, um ein besseres Bild zu gebrauchen: die Schlacht für ein altes Soldatenpferd. Übrigens hätte er wissen müssen, daß Mr. Cardew um diese Stunde schon zur City gefahren war – Gordon Cardew hatte seine alte Gewohnheit beibehalten, um neun Uhr morgens im Büro zu sein, obgleich er seinen Beruf längst aufgegeben hatte.

 

Trotzdem machte Super einen Besuch. Er hatte zwar keine Gelegenheit, sich mit Cardew zu streiten, aber es war schon eine Befriedigung für ihn, sich mit Hanna Shaw ein wenig herumzuzanken. Mr. Cardew war ihm gegenüber sehr empfindlich, denn Super hatte ihn früher einmal beleidigt. Aber auch Hanna Shaw konnte nicht höflich und liebenswürdig sein. Sie haßte den alten Polizeioberinspektor und gab sich nicht die geringste Mühe, ihre Gefühle zu verbergen.

 

Sie stand vierschrötig in der Durchfahrt von Barley Stack, und die bösen Blicke ihrer braunen Augen sagten genug. Sie war eine Frau von mittlerer Größe und etwas untersetzt, obwohl man sie nicht als korpulent bezeichnen konnte. Auch war ihr schwarzes Alpakakleid nicht dazu angetan, ihre Anmut zu heben. Ihr Gesicht war glatt und von regelmäßiger Schönheit. Dichtes schwarzes Haar legte sich in Wellen über die Stirn und zeigte nicht den leisesten Anflug von Grau, obwohl sie schon Anfang der Vierzig war.

 

»Wir haben schönes Wetter heute«, sagte Super. Müde lehnte er sich an sein altes, verbeultes Motorrad. Seine Augen waren halb geschlossen. Die Wärme des Morgens und die Schönheit der Gegend schienen ihn schläfrig zu machen. »Der Garten sieht prächtig aus, ich habe noch nie so viele Nelken und Narzissen zusammen gesehen. Ich möchte wetten, daß Sie einen guten Gärtner haben. – Ist Mr. Cardew zu Hause?«

 

»Nein.«

 

»Sicher verfolgt er die Spur der Boscomp-Bankräuber«, sagte Super und schüttelte mit geheuchelter Bewunderung den Kopf. »Als ich den Bericht über den Einbruch in der Zeitung las, sagte ich zu meinem Sergeanten: ›Um die Bande aufzuspüren, braucht man einen Mann wie Mr. Cardew – die gewöhnliche Polizei kann das nicht, die würde niemals einen Anhaltspunkt finden und gleich von vornherein auf die falsche Spur geraten.‹«

 

»Mr. Cardew ist in sein Büro gegangen, wie Sie wohl wissen könnten, Minter«, fuhr sie ihn an und schaute böse drein. »Er hat etwas anderes zu tun, als sich um Polizeisachen zu kümmern. Wir zahlen unsere Steuern und Abgaben für die Polizei, aber ich muß schon sagen, das sind mir nette Leute – alles unwissende, unbedeutende Menschen, die nicht einmal eine ordentliche Erziehung haben.«

 

»Man kann nicht alles zu gleicher Zeit erwarten«, sagte Super traurig. »Das müssen Sie doch einsehen. Mrs. Shaw …«

 

»Miss Shaw«, verbesserte ihn Hanna laut.

 

»In meinen Gedanken sind Sie immer ein Fräulein«, entschuldigte sich Super. »Ich sagte noch neulich zu meinem Sergeanten: ›Ich weiß gar nicht, warum sich diese reizende, hübsche Dame nicht verheiratet. Sie ist jung …‹«

 

»Ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten, Minter …«

 

»Mr. Minter«, bat Super höflich.

 

»Wenn Sie irgendeine Nachricht für Mr. Cardew haben, so will ich sie annehmen – im übrigen habe ich eine Menge Arbeit und Besseres zu tun, als mit Ihnen zu plaudern.«

 

»Ist in dieser Gegend in letzter Zeit irgendein Einbruch vorgekommen?« fragte Super, als sie sich schon halb zum Gehen gewandt hatte.

 

»Nein«, sagte sie kurz. »Und wenn wirklich einer gewesen wäre, dann hätten wir auch nicht nach Ihnen geschickt.«

 

»Das weiß ich ganz genau. Mr. Cardew hätte die Maße der Fußspuren der Räuber genommen und in seinen Büchern über Anthro – oder wie das Zeug heißt – nachgesehen, und noch vor Abend wäre der arme Kerl verhaftet worden.«

 

Hanna Shaw wandte sich plötzlich zu ihm um.

 

»Wenn Sie glauben, daß Sie sich hier mit Ihrer Schlauheit brüsten können, dann möchte ich Ihnen mitteilen, daß es in London Leute gibt, gegen die Sie klein und häßlich sind. Wenn Mr. Cardew zum Minister ginge und ihm nur die Hälfte von all dem erzählen würde, was Sie tun und sagen, dann müßten Sie noch vor Ende der Woche Ihre Uniform ausziehen.«

 

Super schaute kritisch auf den Ärmel seines Rockes.

 

Was hat das zu bedeuten? fragte er sich, als sie ihm die Tür heftig vor der Nase zuschlug.

 

Er lächelte nicht und war auch nicht beleidigt. Er nahm seine alte, schmutzige Pfeife aus der Tasche, füllte sie bedächtig, schaute bewundernd auf die herrliche Blumenpracht, die auf allen Beeten blühte, nahm sich schnell noch eine Nelke und steckte sie an das Knopfloch seines abgetragenen Rocks. Dann fuhr er unter großem Lärm mit seinem alten Motorrad die Hauptstraße hinunter.

 

Eine halbe Stunde später war er in seinem Büro.

 

»Wenn ein Mann in meine Jahre kommt und in einer gewissen Position ist«, sagte er mit einem schnellen Blick auf den hübschen, jungen Beamten, der ihm auf der anderen Seite des Tisches gegenübersaß, »dann darf er auch sentimental werden. Und heute bin ich sentimental. Es liegt etwas Wunderbares in der Luft, etwas vom Frühling, und ich habe am letzten Sonntag sogar einen Kuckuck gehört. Wenn der Kuckuck ruft und die blauen Glockenblumen auf der Wiese blühen, geht mir das Herz auf. Vorhin hatte ich eine kleine Unterhaltung mit der schönen Herrin von Barley Stack, und nun ist mein Kopf voll sentimentaler Gedanken. – Sie sagen, ich soll mir den Landstreicher einmal ansehen? Ich möchte viel lieber Schlüsselblumen pflücken.«

 

Super war ein großer, eckiger Mann. In seiner äußeren Erscheinung war er etwas ungewöhnlich. Er trug alte, zerschlissene Anzüge, die noch aus der Zeit vor dem Krieg stammten. Sie waren gereinigt und gewendet, aber sie verdienten eigentlich ihren Namen nicht mehr. Sein längliches, braunes Gesicht und seine buschigen Augenbrauen gaben ihm ein respektables Aussehen, das jedoch durch seine schlechte Kleidung wieder zerstört wurde. Aber die Verachtung, mit der zum Beispiel Hanna Shaw seine Garderobe betrachtet hatte, erfüllte ihn mit freudiger Genugtuung.

 

Es gab mehrere Oberinspektoren bei der Londoner Polizei, aber wenn jemand von ›Super‹ sprach, meinte er damit nur Patrick J. Minter und niemand anders.

 

»Nun gehen Sie und verhören Sie den Landstreicher, mein lieber Sergeant.« Er machte eine liebenswürdige Geste mit der Hand. »Die schwierige Aufgabe, Verbrecher aufzuspüren, gehört meiner Vergangenheit an. Das war etwas zu einfach für mich, dabei bekam ich Gehirnerweichung. Deshalb habe ich doch auch diese Stellung angenommen, wo ich mir auf dem Land Hühner und Kaninchen halten kann und wo ich der Natur in ihrer Schönheit nahe bin.«

 

*

 

Polizeibezirk I der Hauptstadt umfaßte jenen Teil der ländlichen Vororte Londons, die an Sussex grenzen, und es ist allgemein bekannt, daß dies ein etwas gemütlicher Bezirk ist, ein ruhiger Hafen, in den die Beamten dankbar einlaufen, wenn sie die Stürme von Limehouse, Greenwich und Noddingdale hinter sich haben. Der Bezirk I hatte hauptsächlich mit so aufregenden Verbrechen wie Landstreicherei und Wilddieberei zu tun. Hin und wieder wurde auch einmal ein Heuhaufen auf den Feldern angesteckt. Die Beamten hatten verlaufene Pferde und Rinder einzufangen und darauf zu achten, daß die Vorschriften über Maul- und Klauenseuche eingehalten wurden. Man nannte sie allgemein nur die Jockel, die Heuhüpfer oder die ›Verlorene Legion‹. Aber sie lebten in hübschen, kleinen Landhäusern, bebauten ihre Gärten, viele von ihnen betrieben sogar einen kleinen Handel mit Gemüse, und sie konnten zufrieden lächeln, wenn ihre neidischen Kameraden dumme Bemerkungen über ihr ländliches Leben machten.

 

Man hatte Super nicht von Scotland Yard an diesen ruhigen Platz versetzt, weil seine Vorgesetzten außerordentlich zufrieden mit ihm waren oder weil man seine ungewöhnlichen Verdienste belohnen wollte – er war einer der fünf großen Beamten, die damals die russische Bande in Whitechapel niederkämpften –, in Wahrheit war er versetzt worden, weil er verschiedenen höheren Beamten ein Dorn im Auge war. Super war eine stete Quelle der Beunruhigung. Er hatte vor niemand Respekt, er war zu niemand höflich, er konnte sich mit niemand vertragen. Er machte Schwierigkeiten, er diskutierte, und gelegentlich trotzte er auch. Aber das Unangenehmste war, daß er meistens recht hatte. Und wenn es sich herausstellte, daß seine Vorgesetzten unrecht und er recht hatte, so erwähnte er das im Laufe eines Tages mindestens zwanzig- bis dreißigmal.

 

»Was die Hauptsache ist«, fuhr er fort, »wenn ich mich mit diesem Landstreicher befassen soll, muß ich meine Studien unterbrechen. Ich bin jetzt gerade dabei, einen eingehenden Kurs über Kriminologie zu nehmen. Haben Sie niemals etwas von Lombroso gehört? Ich will wetten, nein – dann wissen Sie überhaupt nichts von Verbrechergehirnen. Ein gewöhnliches Hirn wiegt – ich habe es vergessen, wieviel. Aber die Verbrechergehirne sind leichter. Bringen Sie mir das Gehirn dieses Mannes, und ich werde Ihnen gleich sagen, ob er versuchte, in Barley Stack einzubrechen. Auch ist es wichtig, zu erfahren, ob er gelenkige Füße hat, mit denen er greifen kann. Wissen Sie nicht, daß fünf Prozent der Verbrecher Gegenstände mit ihren Zehen aufheben können? Nehmen Sie ein Maß und messen Sie diesen Strolch, prüfen Sie auch, ob er ein unsymmetrisches Gesicht hat. Früher war es verhältnismäßig schwierig, Bösewichte zu fangen, aber heutzutage ist es kinderleicht geworden!«

 

Sergeant Lattimer war zu klug, um seinen Vorgesetzten zu unterbrechen. Erst als sein Redestrom allmählich verebbte, schien ihm der günstige Moment gekommen, auch eine Bemerkung einzuwerfen.

 

»Super, das ist kein gewöhnlicher Einbruch, wenn man den Aussagen Sullivans Glauben schenken kann – so heißt nämlich dieser Kerl …«

 

»Nun hören Sie einmal zu. Landstreicher haben überhaupt keinen Namen«, sagte Super gelangweilt. »Da sind Sie auf einem ganz falschen Weg. Die heißen Johann oder Karl oder Klamottenaugust, aber sie haben keine Familiennamen.«

 

»Sullivan hat ausgesagt, daß der andere Landstreicher, der bei ihm war, ihn daran hinderte, Elsons Haus zu betreten und Geld zu stehlen. Er hat anscheinend nach etwas gesucht …«

 

»Vielleicht Grundstücksurkunden über alten Familienbesitz – mag sein. Oder den Geburtsschein des rechtmäßigen Erben«, sagte Super nachdenklich. »Auch möglich, daß Mr. Elson ein Mann aus amerikanischen Verbrecherkreisen ist, der den heiligen Rubin aus dem rechten Auge des Gottes Hokum gestohlen hat, und nun sind diese finsteren Inder auf seiner Spur und suchen eine günstige Gelegenheit. Das ist ein Fall für Cardew! Aber vielleicht werden Sie auch damit fertig. Also, fangen wir an! Sie werden dann in den Zeitungen erwähnt, und das bringt Ihnen das Lob Ihrer Vorgesetzten ein. Vielleicht heiraten Sie dann das Mädchen, das scheinbar eine Dienstmagd ist, sich später aber als Tochter eines Herzogs entpuppt, die in ihrer Jugend von Zigeunern gestohlen wurde – also lassen Sie sich nicht abhalten!«