Kapitel 9

 

9

 

Dick Shannon bewohnte ein Stockwerk am Haymarket, und am Tag nach Audreys Entlassung aus dem Gefängnis waren Inspektor Lane, Steel und er selbst dort versammelt.

 

»Sie haben sie verfehlt?« fragte der Inspektor.

 

Dick seufzte und nickte.

 

»Aber da sie vorzeitig entlassen wurde, muß sie sich melden, und das wird man mir sofort berichten. Lassen wir das einstweilen. Wie steht es denn mit Malpas?«

 

»Er bleibt nach wie vor ein Rätsel«, erwiderte Lane. »Und sein Haus ist ein noch größeres Geheimnis als er. Er bewohnt es ununterbrochen seit Januar 1917, und kein Mensch hat ihn gesehen. Seine Rechnungen bezahlt er prompt, und gleich nach seinem Einzug hat er viel Geld für allerlei neue Anlagen ausgegeben: elektrische Leitungen, Alarmapparate und dergleichen Finessen. Eine große Turiner Firma hat das Haus ausgestattet.«

 

»Hat er keine Dienstboten?«

 

»Nein. Das ist das Seltsamste an der Geschichte. Nahrungsmittel kommen nicht ins Haus, woraus hervorgeht, daß er entweder verhungern oder ausgehen muß. Ich habe es von vorn und von hinten beobachten lassen, aber keiner meiner Leute hat den Mann zu sehen bekommen, obwohl sie sonst verschiedene sonderbare Dinge bemerkten.«

 

»Bringen Sie jetzt das Mädchen herein, Steel«, sagte Shannon, und gleich darauf schob sein Assistent eine stark gepuderte junge Dame ins Zimmer, die sich mißmutig auf einem Stuhl niederließ.

 

»Miß Neilsen, Berufstänzerin ohne Anstellung?« fragte Dick.

 

»Ja.«

 

»Erzählen Sie uns von Ihrem Besuch in Portman Square Nr. 551.«

 

»Hätte ich gewußt, daß ich gestern nacht, als ich so mitteilsam war, mit einem Detektiv sprach, dann hätte ich nicht soviel gesagt«, entgegnete sie unwillig. »Der alte Mann verlangte von mir, daß ich nebenan bei Mr. Marshalt Spektakel machen und schreien sollte, daß Marshalt ein Schuft wäre. Dann sollte ich ein Fenster einschlagen und mich verhaften lassen.«

 

»Einen Grund dafür gab er nicht an?«

 

»Nein. Die Sache paßte mir nicht, und ich war heilfroh, als ich wieder draußen war. War das ein scheußlicher Kerl! Und das Zimmer ganz dunkel! Ein richtiges Gespensterhaus! Türen, die von selbst aufgehen – Stimmen, die von nirgendwoher kommen – ich dankte meinem Schöpfer, als ich wieder auf der Straße stand.«

 

»Woher kannten Sie denn den Mann?« fragte Dick mißtrauisch.

 

»Er hatte meinen Namen in den Inseraten gelesen – bei den Stellengesuchen.«

 

Da weitere Fragen ergebnislos blieben, wurde sie wieder entlassen, und nun berichtete Lane weiter.

 

»Der Steuerbeamte beschwerte sich, daß er Mr. Malpas nicht zu sehen bekäme. Man glaubte, daß er zu wenig Einkommensteuer zahlte. Als er aber vorgeladen wurde, kam er nicht selbst, sondern sandte statt dessen einen Erlaubnisschein zur Einsicht in sein Bankkonto. Es war das einfachste Konto von der Welt: fünfzehnhundert Pfund jährlich bar eingezahlt und fünfzehnhundert Pfund im Jahr ausgezahlt. Keine Geschäftsquittungen. Nichts weiter als Abgaben, Grundsteuer und größere Summen für laufende Ausgaben.«

 

»Und Besuch kommt nie ins Haus?«

 

»Nur zweimal im Monat, gewöhnlich an einem Sonnabend. Wie es scheint, ist es jedesmal ein anderer Mann. Die Leute kommen immer erst nach Einbruch der Dunkelheit und bleiben nie länger als eine halbe Stunde. Einmal war es ein Neger, und einer meiner Leute machte sich an ihn heran, konnte aber nichts aus ihm herausbringen.«

 

»Malpas muß schärfer beobachtet werden«, befahl Dick, und der Inspektor machte sich eine Notiz. »Nehmen Sie einen dieser Besucher unter irgendeinem Vorwand fest und durchsuchen Sie ihn. Vielleicht stellt sich dabei heraus, daß Malpas nur Almosen verteilt – oder auch nicht!«

 

 

Audreys kleiner Geldvorrat schwand dahin, und es war ihr noch nicht gelungen, eine Anstellung zu erhalten. Am ersten Weihnachtstag bestand ihr Frühstück nur aus einer trockenen Brotscheibe und kaltem Wasser.

 

Am folgenden Dienstag erhielt sie jedoch zu ihrer größten Überraschung einen Brief, der nur aus zwei mit Bleistift geschriebenen Zeilen bestand:

 

»Kommen Sie heute nachmittag um fünf zu mir. Ich habe Arbeit für Sie. Malpas, Portman Square Nr. 551.«

 

Sie runzelte die Stirne und starrte auf den Zettel. Wer war Malpas, und wie hatte er von ihr erfahren?

 

Aber Not kennt kein Gebot, und zur angegebenen Zeit stand Audrey, durchnäßt vom Regen, vor dem Haus und klopfte leise mit den Fingern an, da sie keinen Klopfer fand.

 

»Wer ist da?«

 

Die Stimme schien aus dem Türrahmen zu kommen.

 

»Miß Bedford.«

 

Nach einer kurzen Pause öffnete sich die Türe langsam.

 

»Kommen Sie herauf – das Zimmer im ersten Stock«, sagte die Stimme.

 

Die Haustür schloß sich wieder hinter Audrey. Von unerklärlichem Grauen gepackt, wollte sie entfliehen und suchte nach dem Türgriff, aber sie entdeckte keinen. Schließlich bekämpfte sie ihre Angst und stieg die Stufen hinauf. Im ersten Stock bemerkte sie nur eine Tür und klopfte nach einem kleinen Zögern dort an.

 

»Herein!« Diesmal kam die Stimme von oben.

 

Einen Augenblick brauchte Audrey noch, um Mut zu sammeln, dann trat sie durch die nur angelehnte Tür ein.

 

Die Wände des großen Raums waren so dicht mit schwarzem Samt verkleidet, daß man nicht sehen konnte, wo sich die Fenster befanden, und wo die Decke anfing. Der dicke Teppich verschlang jedes Geräusch ihrer Schritte.

 

Am entfernten Ende des Zimmers saß an dem Schreibtisch eine merkwürdig widerwärtige Gestalt. Das Licht einer Stehlampe, die von einem grünen Schirm bedeckt war, warf einen fahlen Schein auf sie. Der Kopf war kahl, das bartlose Gesicht von tausend Falten bedeckt, die Nase dick. Und das lange, spitze Kinn bewegte sich fortwährend, als ob der Mann mit sich selbst spräche.

 

»Setzen Sie sich auf diesen Stuhl«, gebot die dumpfe Stimme.

 

Audreys Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt, und sie nahm zitternd hinter dem kleinen Tisch Platz.

 

»Ich habe Sie kommen lassen, um Ihr Glück zu machen«, murmelte die Stimme. »Schon viele haben auf dem Stuhl dort gesessen und sind als reiche Leute fortgegangen. Sehen Sie, was auf dem Tisch liegt?«

 

Er mußte wohl auf einen Knopf gedrückt haben, denn plötzlich flammte über ihrem Kopf ein strahlend helles Licht auf, und sie sah ein Bündel Banknoten auf dem Tisch.

 

»Nehmen Sie es!« sagte der Mann.

 

Sie streckte zitternd die Hand aus und ergriff das Paket und einen Schlüssel. Das Licht erlosch langsam wieder.

 

»Ihr Name ist Audrey Bedford, nicht wahr? Nach neunmonatlicher Haft, die Sie wegen Mitschuld an einem Juwelenraub verbüßt haben, sind Sie vor drei Wochen aus dem Gefängnis entlassen worden?«

 

»Ja, ich mache kein Hehl daraus. Ich hätte es Ihnen auf jeden Fall gesagt.«

 

»Sie waren natürlich unschuldig?«

 

»Ja.«

 

»Sie sind schlecht angezogen … das verletzt mein Schönheitsgefühl. Kaufen Sie sich gute Kleider, und kommen Sie nächste Woche zur selben Zeit wieder. Der Schlüssel öffnet alle Türen, wenn die Sperrvorrichtung ausgeschaltet ist.«

 

Endlich erholte sich Audrey von ihrem Staunen.

 

»Ich muß aber wissen, welche Pflichten ich zu übernehmen habe«, sagte sie. »Es ist sehr großmütig von Ihnen, mir so viel Geld anzuvertrauen, aber Sie werden einsehen, daß ich es unmöglich annehmen kann, ohne zu wissen, was Sie von mir verlangen.«

 

»Ihre Aufgabe besteht darin, einem Mann das Herz zu brechen!« lautete die Antwort. »Gute Nacht!«

 

Sie fühlte einen kühlen Luftzug und drehte sich um.

 

Die Tür stand offen, und Audrey wußte, daß sie entlassen war.

 

Hastig eilte sie die Treppe hinunter. Als sie den Schlüssel in das winzige Loch stecken wollte, entglitt er ihren zitternden Fingern und fiel zu Boden. Sie suchte danach und fand dicht daneben einen nußgroßen Kieselstein, an dem ein Klümpchen roten Siegellacks mit dem deutlichen Abdruck eines Petschafts klebte. Sie nahm sich vor, den sonderbaren Gegenstand nächste Woche wieder mitzubringen, und steckte ihn in ihre Handtasche. Gleich darauf stand sie wieder auf der Straße.

 

Ein Mietauto kam vorbei und hielt auf ihren Wink hin am Bordstein an. Schon wollte sie einsteigen, als sie plötzlich eine Frau in durchnäßtem Pelzmantel bemerkte, die sich taumelnd bemühte, den Klopfer des Nachbarhauses in Bewegung zu setzen. Trotz ihres Abscheus vor betrunkenen Frauen erregte diese Jammergestalt doch Audreys Mitleid, und sie wollte auf sie zugehen, um ihr behilflich zu sein. Aber im gleichen Moment wurde die Haustür aufgestoßen.

 

»Was soll denn das heißen?« rief ein ältlicher Mann. »Wer macht hier einen solchen Spektakel vor dem Haus eines Gentlemans? Gehen Sie weg oder ich hole einen Polizisten!«

 

Es war Tonger. Die Betrunkene schwankte auf ihn zu und brach zusammen. Er schleuderte sie ins Haus und schlug die Tür zu.

 

»Das ist Mr. Marshalts Haus«, meinte der Chauffeur. »Er ist der afrikanische Millionär. Wohin soll ich Sie bringen?«

 

Kapitel 1O

 

1O

 

 

Martin Elton war mit seiner Frau im Theater und schlenderte während einer Pause im Foyer umher. Er stammte aus gutem Haus, war aber durch Spiel, Wetten und manche andere Dinge allmählich immer mehr heruntergekommen. Nur ab und zu nickte ihm noch jemand aus der Ferne zu, und der einzige, der ihn anredete, war ihm unwillkommen.

 

»Abend, Elton! Na, wie geht’s? Stanford soll ja in Italien sein, wie ich höre? Haben Sie was vor?« fragte Slick Smith.

 

»Nein.«

 

»Kürzlich von Marshalt gehört?«

 

»Ich weiß nicht viel von ihm.«

 

»Aber ich. Er ist auch ein Dieb, und wenn er etwas stiehlt, bleibt gewissermaßen eine Lücke zurück. Aber da klingelt es schon – auf Wiedersehen!«

 

Als Martin und Dora nach Hause kamen, wandte sie sich im Wohnzimmer ungeduldig an ihn.

 

»Was hast du denn, Bunny? Diese Launen sind wirklich unausstehlich!«

 

»Hast du etwas von deiner Schwester gehört?« entgegnete er und warf ein Scheit in den Kamin, bevor er sich niederließ.

 

»Nein, und hoffentlich höre ich auch nie wieder von ihr! Die winselnde Gefängnisratte!«

 

»Ich habe sie nicht winseln hören. Und ins Gefängnis haben wir sie gebracht.«

 

Sie schaute ihn verwundert an.

 

»Du hast sie doch selbst geradezu aus dem Haus gejagt, als sie das letztemal hier war!«

 

»Ja, das weiß ich. Aber London ist ein verteufelter Platz für alleinstehende junge Mädchen ohne Geld und Freunde. Ich wollte, ich wüßte, wo sie ist.«

 

»Überlassen wir sie dem Schutz Gottes«, erwiderte Dora spöttisch.

 

Aber Martins Augen wurden klein und lauernd.

 

»Wenn du dich so gegen deine Schwester benimmst, wie würde es dann wohl mir ergehen, wenn du einmal in aller Eile zwischen mir und deiner eigenen Sicherheit wählen müßtest?« fragte er langsam.

 

»Sauve qui peut – das ist mein Wahlspruch«, erklärte sie lachend.

 

Er warf seine Zigarre ins Feuer und stand auf.

 

»Dora«, sagte er dann mit eisiger Stimme, »Lacy Marshalt ist kein wünschenswerter Bekannter.«

 

Sie musterte ihn erstaunt.

 

»Ist er unehrlich?« entgegnete sie harmlos.

 

»Es gibt viele unehrliche Männer, mit denen eine Dame nicht in einem reservierten Zimmer bei Shavarri dinieren darf.«

 

»Ach, du hast spioniert? Marshalt kann unter Umständen sehr nützlich für uns sein.«

 

»Für mich nicht – am allerwenigsten, wenn er heimlich mit meiner Frau diniert.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Wenn es noch einmal vorkommt, suche ich ihn auf und jage ihm drei Kugeln durch die Brusttasche, in der er seine vorzüglichen Zigarren bei sich trägt. – Was ich mit dir machen würde, weiß ich noch nicht. Das hängt ganz von meiner Stimmung und von – deiner Nähe ab.«

 

Sie war totenbleich geworden, suchte vergeblich nach Worten und lag ihm plötzlich schluchzend zu Füßen.

 

»Ach, Bunny, sprich doch nicht so – schau mich nicht so entsetzlich an! Ich will ja alles tun, was du willst … ich schwöre dir, daß nichts vorgefallen ist … es war eine Laune von mir, daß ich hinging …«

 

Er strich über ihr goldenes Haar.

 

»Du bedeutest mir sehr viel, Dora«, sagte er freundlich. »Ich habe dich nicht gut beeinflußt … ich habe selbst die meisten guten Grundsätze über Bord geworfen, nach denen sich andere Leute richten. Aber an einem werde ich immer festhalten: ich verlange ehrliches Spiel unter Dieben, weil ich selbst ehrlich spiele!«

 

Kapitel 37

 

37

 

Unterdessen hatte sich auch Dick vor Marshalts Haus eingefunden, und da alles Klopfen kein Gehör fand, verschafften sich die Leute eine kurze Brechstange, der das Schloß zu weichen begann.

 

»Sie ist hier – ganz sicher?«

 

Martin nickte.

 

»Stanford nahm sie gestern abend mit und sagte, er wollte sie in das Haus von Malpas bringen.«

 

Die Tür von Nr. 551 hatte Dick schon zu öffnen versucht, aber sie war elektrisch gesperrt.

 

Sobald das Schloß nachgab, stürmte Dick als erster ins Haus und eilte geradenwegs zu dem Arbeitszimmer hinauf. Er wußte jetzt, daß der Weg nur durch den Kamin gehen konnte. Das Loch war denn auch bald gefunden, und sobald sich Tongers selbstgefertigter Pfriemen darin drehte, schwang der Kamin herum und gab den Blick in Malpas Zimmer frei.

 

»Rühren Sie den Griff nicht an!« rief er warnend, stellte rasch die elektrischen Sperrhebel ab und rannte durch die offene Tür, als er zwei Schüsse vernahm. Totenbleich hielt er eine Sekunde an, aber dann stürzte er um so schneller vorwärts.

 

Als er die Tür erreichte, kamen zwei Männer heraus – zwei Männer, die einander so vollkommen glichen, daß er fast die Fassung verlor.

 

»Hier ist der Schurke«, sagte der kleinere und übergab seinen mit Handschellen gefesselten Gefangenen den wartenden Polizisten.

 

Dann riß er mit einem Ruck Nase, Kinn und Perücke ab.

 

»Ich glaube, Sie kennen mich?«

 

»Ja, sehr gut«, erwiderte Dick. »Sie sind Slick Stornier – oder, wenn Sie das lieber hören – Slick Smith.«

 

»Wann erkannten Sie mich?«

 

Dick lächelte.

 

»Das müßte ein so kluger Detektiv wie Sie doch wissen!«

 

Dann entdeckte er jemand auf dem Gang, der sich ängstlich fernhielt. Er stürzte auf Audrey zu und zog sie in die Arme.

 

Slick warf einen Blick auf sie und wandte sich dann an Torrington.

 

»Ich kann mir denken, daß Sie Ihre Tochter gern begrüßen möchten, und sie wird sich sicher auch freuen, Sie zu sehen, aber ich glaube, den Herrn kennt sie besser als Sie.«

 

Torrington nickte stumm.

 

 

»Wie Sie mich hier eigentlich einschätzten, war mir nie ganz klar«, sagte Slick Smith, als er abends als liebenswürdiger Gastgeber an einer herrlich geschmückten Tafel präsidierte. »Ich übernahm diesen Auftrag vor nunmehr neunzehn Monaten, als mich Mr. Torrington ins Vertrauen zog und mich ersuchte, Nachforschungen nach seiner Frau und seiner angeblich gestorbenen Tochter anzustellen. Was er mir bei der Gelegenheit von Lacy Marshalt erzählte, interessierte mich nicht nur als Detektiv, sondern auch als Mensch. Nun weiß ich, daß Privatdetektive hierzulande nicht sehr angesehen sind, und teilte deshalb Captain Shannon in meiner Eigenschaft als Mr. Stormer mit, daß ein notorischer amerikanischer Dieb in England eintreffen werde. Ich fügte eine genaue Personalbeschreibung bei und erreichte, was ich wollte. Gleich bei seiner Ankunft wurde ›Slick Smith‹ gewarnt und von diesem Augenblick an dauernd beobachtet. Nun habe ich es mir zur Regel gemacht, daß mich nur drei oder vier meiner Angestellten persönlich kennen dürfen. Das hat für mich den Vorteil, daß diese drei oder vier mich identifizieren können, es aber nicht tun. Ferner konnte ich immer einen von ihnen in meiner Nähe haben, ohne irgendwelchen Argwohn bei meinen Bekannten in der Verbrecherwelt zu erregen. Sie werden sich erinnern, daß mir beständig ein Stormerscher Agent folgte.

 

Ich war auch beauftragt worden, das Verschwinden eines Diamantenvorrats aufzuklären, der aus Torringtons Minen entwendet und nach Ansicht der dortigen Polizei nach England gebracht worden war. In Afrika ist es bekanntlich strafbar, ungeschliffene Diamanten zu besitzen, wenn man sich nicht darüber ausweisen kann. Lacy Marshalt betrieb einen solchen strafbaren Handel seit Jahren und hatte einen regelmäßigen Kurierdienst eingerichtet, um die Steine herüberzuschaffen. Unter verschiedenen Namen hatte er zwei Häuser am Portman Square gekauft und Nr. 551 durch eine italienische Firma mit ungemein klug erfundenen elektrischen Einrichtungen versehen lassen. Lacy ist selbst ein sehr geschickter Mechaniker, und der Kamin und das Götzenbild waren für ihn eine Arbeit, die ihm Freude machte. Den Götzen kaufte er in Durban. Ich stellte das vor ungefähr einem Jahr fest und kannte auch den Mechanismus genau. Aber die Drehzapfenöffnung war Marshalts eigene Erfindung.

 

Die tragische Gestalt in der Geschichte ist Tonger. Marshalt hatte ein Verhältnis mit seiner Tochter angefangen, und als Tonger davon erfuhr, bewog Marshalt das Mädchen, die Schuld auf Torrington zu schieben, und schaffte sie rasch nach New York hinüber. Unter der Bedingung, daß sie das Geheimnis bewahrte und regelmäßig zufriedene Briefe an ihren Vater schrieb, zahlte er ihr monatlich eine angemessene Summe für ihren Unterhalt. Aber sie geriet in schlechte Gesellschaft, begann zu trinken, und kam schließlich in einem Anfall von Verzweiflung nach London. Sie war es, die damals in betrunkenem Zustand zu ihrem Vater flüchtete, als Sie vorüberkamen, Miß Audrey, und sie war es auch, die Sie später im Park tot auffanden. Obwohl Tonger es verheimlichen wollte, entdeckte Marshalt doch, daß sie sich im Haus aufhielt, und in seiner Angst, daß die Wahrheit ans Licht kommen könnte, beschloß er, die Unglückliche aus dem Weg zu räumen. Um sein Vorhaben ausführen zu können, schickte er Tonger unter einem nichtigen Vorwand nach Paris. Er gab dann dem Mädchen eine Flasche mit vergiftetem Kognak und sagte ihr, sie möchte nach dem Park gehen und dort auf ihn warten. Der Plan war geschickt ausgedacht, aber das Unglück wollte es, daß Tonger noch an demselben Abend von dem Tod seiner Tochter erfuhr – und zwar gerade in dem Augenblick, als Marshalt im Nebenhaus auf Miß Audrey wartete. Tonger geriet außer sich, stürzte durch den Kamin in Malpas Zimmer und forderte Rechenschaft von Marshalt. Er gab zwei Schüsse auf ihn ab und hielt ihn für tot, denn er wußte nichts von der kugelfesten Weste. Als Tonger dann nach Nr. 552 zurückkehrte, kam Marshalt wieder zu sich, folgte ihm, schoß ihn nieder und ergriff die Flucht.

 

Vorsichtshalber hatte er für ein Versteck gesorgt. Unter dem Namen eines Rechtsanwalts Crewe hatte er eine prachtvolle Wohnung in den Greville-Gebäuden gemietet, was mir längst bekannt war, da ich nebenan wohnte. Dorthin ging er an jenem Abend, um sich etwas zu stärken und zu erholen, und kehrte dann zurück, um die Diamanten an sich zu nehmen. Das weiß ich, weil ich ihn gesehen habe.«

 

»War es etwa Ihr Gesicht, das ich in jener Nacht durch das Oberlicht sah?« fragte Dick gespannt.

 

»Natürlich!« erwiderte Stormer lachend. »Der Mann auf dem Dach hatte mich selbstverständlich auch gesehen, aber er durfte nichts davon sagen. Klettern ist immer meine Spezialität gewesen, obwohl mir Martin Elton darin noch überlegen ist. Der kam nämlich ohne Strick hinauf.

 

Marshalt war verzweifelt, als sein Diamantenversteck entdeckt wurde, und mit Hilfe Stanfords, den er zu dem Zweck in das Geheimnis einweihen mußte, leerte er das Götzenbild gewissermaßen vor Ihren Augen. Aber Stanford war ungeschickt, und als die Steine in den Beutel gepackt waren, probierte er an dem Mechanismus herum. Das hatte zur Folge, daß der Götze ins Zimmer zurückgedreht wurde. Dabei hatte er das Licht abgestellt und muß den Beutel wohl in seiner Angst aus der Hand gelegt haben, denn der Götze nahm den Beutel mit, als er sich wieder drehte.«

 

»Woran verbrannte ich mir denn eigentlich die Hand?« fragte Steel.

 

»Am Kamin. Sie berührten die heißen Eisenstangen des Rosts, aus dem die Kohlen eben erst herausgenommen worden waren. Stanford brach dann bei Shannon ein und raubte die Steine, während Marshalt den kleinen Autozwischenfall in Szene setzte. Stanford hatte mehr Glück als Marshalt, denn er fand die Steine. Er war übrigens noch im Haus, als Shannon heimkam und seinen Diener in besinnungslosem Zustand entdeckte. Nachdem er die Beute wieder an sich gebracht hatte, verbarg Marshalt die Diamanten in seiner Wohnung in den Greville-Gebäuden. Ich fand sie, als ich dort einbrach, um nach Miß Audrey zu suchen. Natürlich nahm ich den Beutel mit und gab ihn erst heraus, als ich ihn in die rechten Hände legen konnte, ohne selbst verhaftet zu werden. Leider faßte Marshalt aber einen Verdacht gegen Stanford und schoß ihn nieder. Was zwischen den beiden vorgegangen ist, weiß ich nicht, aber vermutlich erfuhr Marshalt erst bei dieser Gelegenheit, daß Miß Audrey in dem Haus versteckt gehalten wurde. Und da das Spiel nun doch für ihn verloren war, wollte er sich zum Schluß noch an der Tochter des Mannes rächen, den er mehr als alles andere auf Erden haßte und fürchtete. Zu seinem Unglück war ich jedoch häufig im Haus, früher, um die Leute zu beobachten, die ihm Diamanten brachten, und jetzt, weil ich das Geheimnis jener Kammertür lösen wollte. Wenn ich bei ihm einbrach, verkleidete ich mich immer als Malpas. Einmal habe ich die junge Dame mit dem Gesicht halb zu Tode erschreckt.«

 

Er lächelte, und auch Audrey konnte jetzt lächeln, als sie sich daran erinnerte.

 

»Ich habe fürchterlich geschrien, nicht wahr?« sagte sie beschämt.

 

»Ich schreie auch zuweilen«, erwiderte Smith, »oder ich hätte doch wenigstens Lust dazu. – Aber eins muß ich noch erwähnen, obwohl Sie es sich wohl schon gedacht haben, Shannon. Sobald Marshalt die Diamanten zurückerobert hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf dramatische Weise wieder aufzutauchen! Und das besorgte er beinahe allzu gründlich. Er stellte sich ins Wasser, legte sich selbst die Handschellen an und wartete mit dem Schlüssel in der einen und einem Revolver in der anderen Hand auf Ihr Erscheinen. Aber Sie kamen etwas später, als er berechnet hatte, und in den fünf Minuten ließ er aus Versehen den Schlüssel zu den Handschellen ins Wasser fallen, so daß er sich nicht wieder befreien konnte. Wenn Sie nicht erschienen wären, hätte er ertrinken müssen. Die Pistole warf er ins Wasser, sobald er auf Sie geschossen hatte. Ich habe sie nachher an mich genommen. Wenn er Sie getötet hätte, wäre seine Unschuld erwiesen gewesen – denn in der Verfassung konnte er allem Anschein nach die Tat nicht begangen haben .– Aber nun möchte ich Sie um Ihr Abzeichen bitten, Miß Torrington!«

 

Etwas überrascht öffnete sie ihre Tasche und reichte ihm den kleinen silbernen Stern.

 

»Danke!« sagte Slick liebenswürdig. »Hoffentlich nehmen Sie es mir nicht übel. Ich lasse mir jedesmal den Stern zurückgeben, wenn jemand aus meiner Firma ausscheidet und zu einem Konkurrenzunternehmen übergeht.«

 

Er zwinkerte Shannon vergnügt zu, und beide lachten.

 

Kapitel 5

 

5

 

Dick begrüßte seinen Assistenten Steel, der in seiner Wohnung auf ihn wartete, mit einer Frage.

 

»Wissen Sie etwas über Dora Eltons Verwandte?«

 

»Nein. Hat die denn überhaupt Verwandte?«

 

»Vielleicht weiß Slick darüber Bescheid. Ich habe ihn zu sechs Uhr herbestellt. Ist übrigens die Leiche identifiziert worden?«

 

»Nein. Aber nach den Schuhen und dem Tabaksbeutel zu urteilen, kam der Mann aus dem Ausland, wahrscheinlich aus Südafrika. Vielleicht ist er mit der ›Buluwayo‹ oder der ›Balmoral Castle‹ angekommen. Haben Sie mit dem Bognor-Mann wegen der Diamantenkette gesprochen?«

 

»Ja, aber er behauptet, er hätte sich mit Elton verkracht und wüßte nicht, was der vorhätte. Eltons Haus wird doch bewacht, nicht wahr? – Gut. Ich glaube nicht, daß vor heute abend um dreiviertel neun etwas geschieht. Um diese Zeit wird die Kette die Curzon Street verlassen, und ich werde ihr persönlich nach ihrem Bestimmungsort folgen, weil mir viel daran liegt, das fünfte Mitglied der Bande kennenzulernen. Vermutlich ist es ein Ausländer. Und dann werde ich Dora Elton endlich haben.«

 

»Denken Sie nicht, daß es Bunny sein könnte?«

 

»Der hat wohl Mut, aber doch nicht so viel, daß er mit einer gestohlenen Kette durch London spaziert, die von der gesamten Polizei gesucht wird. Das ist nichts für Bunny. Seine Frau wird es versuchen.« Dick sah auf die Uhr. »Vor einer halben Stunde ist sie angekommen. Ich möchte nur wissen –«

 

In diesem Augenblick erschien Mr. Slick Smith, wie immer sorgfältig gekleidet, selbstbewußt und sorglos. Steel nickte ihm grinsend zu und verließ das Zimmer.

 

»Schön, daß Sie kommen«, sagte Dick Shannon. »Sie haben recht behalten – der Schmuck ist weg, und Elton ist in die Geschichte verwickelt.«

 

Slick zog spöttisch die Augenbrauen hoch.

 

»Wirklich? Nicht zu glauben!«

 

»Lassen Sie Ihre ironischen Bemerkungen. Wissen Sie eigentlich etwas über Mrs. Elton?« fragte Dick und schob ihm die Whiskyflasche zu.

 

»Eine reizende Dame – entzückende Person! Früher war sie ein braves Mädchen, aber eine schlechte Schauspielerin. Vermutlich hat sie Elton geheiratet, um einen besseren Menschen aus ihm zu machen.«

 

»Hat sie eine Schwester?« erkundigte sich Dick gespannt.

 

Slick leerte sein Glas.

 

»Wenn sie eine hat, möge ihr Gott gnädig sein!« erwiderte er.

 

 

Audrey hatte eine Viertelstunde auf dem Victoria- Bahnhof zugebracht und die Anschläge über den Raub der Diamantenkette studiert, während sie vergeblich auf Dora wartete. Schließlich bat sie einen Polizisten um Auskunft und benutzte den von ihm empfohlenen Omnibus, um nach der Curzon Street zu fahren. Ein zierliches Zimmermädchen öffnete ihr.

 

»Mrs. Elton ist beschäftigt«, sagte sie. »Kommen Sie vielleicht von Seville?«

 

»Nein, ich komme aus Sussex. Bitte melden Sie Mrs. Elton, daß ihre Schwester hier ist.«

 

Das Mädchen führte sie in ein kleines Wohnzimmer und ließ sie dort allein. Audrey redete sich ein, daß der Brief, in dem sie Dora ihre bevorstehende Ankunft mitgeteilt hatte, verlorengegangen sein müsse. Die Schwestern standen sich nicht nahe. Dora war vor Jahren zur Bühne gegangen und hatte sich dann kurz vor dem Tod ihrer Mutter »gut« verheiratet. Sie war Audrey stets als hervorragendes Beispiel hingestellt worden, und ihre Mutter hielt sie bis zuletzt für ein Muster von Vollkommenheit, obwohl sie von Dora völlig vernachlässigt wurde.

 

Die Tür öffnete sich plötzlich, und eine junge Frau trat herein. Sie war größer als Audrey und fast ebenso schön wie diese, nur hatten ihre Haare nicht das strahlende Blond und ihre Augen nicht den freundlich-humorvollen Blick Audreys.

 

»Aber liebes Kind, wo kommst du denn her?« fragte Dora Elton bestürzt und streifte mit ihrer schlaffen, ringgeschmückten Hand die Wange der Schwester.

 

»Hast du meinen Brief nicht bekommen?«

 

»Nein. Du bist aber groß geworden, Kind!«

 

»Ja, allmählich zähle ich auch zu den Erwachsenen. Ich habe das Haus verkauft.«

 

Dora sah sie erstaunt an.

 

»Warum denn?«

 

»Es gehörte mir ja längst nicht mehr – es war über und über mit Hypotheken belastet.«

 

»Und nun kommst du hierher? Das ist sehr peinlich. Ich kann dich unmöglich zu mir nehmen.«

 

»Ach, wenn ich nur einmal acht Tage lang hier schlafen könnte, Dora, bis ich Arbeit gefunden habe.«

 

Ihre Schwester runzelte die Stirne und ging auf und ab.

 

»Ich habe Gäste zum Tee«, sagte sie schließlich, »und heute abend ein kleines Diner. Was soll ich mit dir anfangen – in diesem Aufzug? Geh lieber in ein Hotel, schaffe dir elegante Kleider an und komme am Montag wieder.«

 

»Das würde mehr Geld kosten, als ich besitze«, erwiderte Audrey ruhig.

 

Dora kniff die Lippen zusammen.

 

»Wie kannst du einem nur so einfach ins Haus schneien!« rief sie. »Na, warte hier – ich will mit Martin sprechen.«

 

Audrey hatte sich den Empfang kaum anders vorgestellt. Nach einer Weile kam Dora zurück und zeigte ein erzwungen freundliches Gesicht.

 

»Martin meint, du solltest hier bleiben«, erklärte sie und führte ihre Schwester zu einem hübschen Fremdenzimmer im zweiten Stock. »Du hast hier in London wohl gar keine Bekannten?« fragte sie, als sie das elektrische Licht andrehte.

 

»Nein. Aber das ist ja ein entzückendes Zimmer!«

 

»Ich war vorhin vielleicht etwas abweisend, Liebling«, fuhr Dora fort und legte eine Hand auf Audreys Arm. »Du bist mir doch nicht böse deshalb? Ich bin manchmal so nervös. Und du hast Mutter ja versprochen, für mich zu tun, was du könntest.«

 

»Du weißt, daß ich mein Versprechen halte«, entgegnete Audrey.

 

Dora streichelte ihren Arm.

 

»Unsere Gäste brechen schon auf. Du mußt herunterkommen und Mr. Stanford und Martin kennen lernen.«

 

Sie verließ ihre Schwester und ging in den Salon zurück.

 

»Es wäre vielleicht doch besser, sie in ein Hotel zu schicken«, meinte ihr Mann.

 

Dora lachte.

 

»Ihr beide habt euch nun schon den ganzen Nachmittag den Kopf zerbrochen, wie wir das Ding zu Pierre hinschaffen könnten. Keiner von euch wollte sich der Gefahr aussetzen, mit der Diamantenkette der Königin von Griechenland abgefaßt zu werden –«

 

»Nicht so laut!« brummte Elton zwischen den Zähnen.

 

»Hör zu!« rief Big Bill Stanford. »Ich kann mir denken, was du sagen willst, Dora. Wer soll die Kette hinbringen?«

 

»Wer? Natürlich meine kleine Schwester!« erwiderte Mrs. Elton kühl.

 

Kapitel 32

 

32

 

Am Nachmittag desselben Tages hielt sich Martin Elton fast eine Stunde lang in seiner Bank auf, prüfte den Inhalt seines diebessicheren Safes, zerriß allerlei Papiere und steckte vier einzelne, dicht beschriebene Briefbogen in seine Brusttasche. Sobald er wieder nach Hause kam, rief er Stanford an und bat ihn, sofort zu ihm zu kommen.

 

Stanford erklärte sich erst nach längeren Ausflüchten und Einwendungen dazu bereit und war in übler Laune, als er kurz vor fünf in der Curzon Street erschien.

 

»Zum Teufel, was fällt dir denn ein, daß du mich herbeorderst, als ob ich ein Kuli wäre!« fuhr er Martin wütend an.

 

Elton lag auf einer Couch und blickte von seinem Buch auf.

 

»Mach die Tür zu und schrei nicht so!« erwiderte er gelassen. »Die Sache ist ernst, sonst hätte ich dich nicht herbestellt.« Er stand auf, nahm sich eine Zigarre und bot auch Stanford eine an, die dieser mißmutig nahm. »Audrey ist jetzt bei Stormer angestellt, und das Kind ist schlau.«

 

»Was geht mich das an! Wenn du mich nur deshalb-«

 

»Ich sage dir, daß sie schlau ist. Und daß sie uns nach jener Diamantengeschichte nicht gerade freundlich gesinnt ist, kannst du dir wohl denken. Nun weiß ich zufällig, daß Stormer für fast alle Botschaften in London arbeitet –«

 

Stanford lachte höhnisch.

 

»Meinetwegen kann sie Beweise sammeln, soviel sie will!« sagte er. »Mir soll’s recht sein. Ist das alles?«

 

»Nicht ganz. Besinnst du dich noch auf den kleinen Feldzugsplan für die Sache mit der Königin von Griechenland, den du wie gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten schriftlich ausgearbeitet hast?«

 

»Gewiß, aber der ist doch vernichtet.«

 

»Leider nicht«, fuhr Martin kaltblütig fort. »Es war eine so geniale Arbeit, daß ich sie dummerweise aufbewahrte. Audrey war vorgestern hier. Sie kam, während Dora und ich ausgegangen waren, und ging zu Doras Zimmer hinauf, um ihr Haar überzukämmen. Dora bewahrt die Schlüssel zu meinem Depositenfach in ihrem Schreibtisch auf.«

 

Stanford starrte ihn an.

 

»Nun – und?«

 

»Als ich heute nach der Bank ging, um Geld herauszunehmen, waren all meine Papiere verschwunden.«

 

Stanford wurde bleich.

 

»Du meinst, daß mein Plan auch verschwunden ist?«

 

»Ja, das meine ich.« Er hob abwehrend die Hand. »Geh bitte nicht gleich in die Luft. Ich gebe zu, daß es verrückt von mir war, ihn aufzuheben. Natürlich hätte ich ihn sofort vernichten müssen – besonders weil du darin sogar Namen genannt hattest, wenn ich mich recht erinnere. Für mich ist die Geschichte ebenso fatal wie für dich – vielleicht noch unangenehmer, da Dora und ich etwas bei ihr auf dem Kerbholz hatten, du dagegen nicht.«

 

»Du hast mich reingelegt, du Schweinehund! Wie kann man nur so wahnsinnig sein, so etwas aufzuheben?«

 

»Warum hast du Namen hineingeschrieben? Natürlich mache ich mir Vorwürfe, aber wenn die Sache vor Gericht kommt, so ist deine eigene Schlauheit daran schuld.«

 

Stanford zuckte die Schultern. Trotz seiner scheinbaren Stärke und Großmäuligkeit war er im Grund ein Schwächling, wie Martin sehr wohl wußte.

 

»Was soll ich denn jetzt tun?« fragte er verbissen.

 

Elton begann nun, Mittel und Wege mit ihm zu besprechen …

 

 

Torrington hatte Audrey für den Abend entlassen.

 

»Ich habe noch eine wichtige Besprechung«, sagte er. »Sie können also ins Theater gehen oder sich sonst nach Belieben die Zeit vertreiben.«

 

Audrey freute sich darüber, denn Dora hatte sie eingeladen, bei ihr zu essen.

 

»Ich gehe nachher noch aus und muß deshalb früh essen«, hatte Dora am Telephon geäußert. »Du brauchst dich also nicht schön zu machen.«

 

Sie öffnete ihrer Schwester selbst die Tür.

 

»Meine Köchin ist eben auf und davon gegangen«, erklärte sie und küßte Audrey. »Und mein Mädchen wollte so gern ihre kranke Mutter besuchen. Ich hatte nicht das Herz, ihr die Bitte abzuschlagen. Du mußt also Nachsicht haben. Martin ist zum Glück in den Klub gegangen. Er kommt erst nachher, um mich abzuholen.«

 

Der Tisch war sehr hübsch für zwei Personen gedeckt, und auch das Essen ließ nichts zu wünschen übrig, denn trotz all ihrer Fehler war Dora eine vorzügliche Hausfrau.

 

»Wir wollen eine kleine Flasche Sekt trinken, um unsere Versöhnung zu feiern«, sagte sie beim zweiten Gang, stand auf, nahm eine Flasche aus dem silbernen Kühler und entfernte geschickt den Draht über dem Korken.

 

Audrey lachte.

 

»Ich habe lange keinen getrunken«, sagte sie.

 

»Solchen Sekt hast du wohl noch nie bekommen«, plauderte Dora heiter. »Martin ist ein Kenner.«

 

Der Propfen knallte, und sie füllte ein Glas, so daß der rosige Schaum überlief.

 

»Auf unser nächstes vergnügtes Beisammensein!« sagte sie und hob ihr Glas.

 

Audrey lachte leise und nippte.

 

»Du mußt aber austrinken!« rief Dora.

 

Ihre Schwester leerte das Glas mit feierlicher Miene.

 

»Ach«, sagte sie dann etwas bestürzt, »das schmeckt ja ganz bitter – fast wie Chinin. Aber ich verstehe wohl nicht viel von Wein.«

 

Eine halbe Stunde später kam das Hausmädchen unerwartet zurück.

 

»Ich dachte, Sie wollten ins Theater gehen?« fragte Dora scharf.

 

»Ich habe solche Kopfschmerzen bekommen«, erwiderte die Angestellte. »Leider konnte ich die Eintrittskarte, die Sie mir schenkten, nicht benützen. Aber wenn ich vielleicht bei Tisch aufwarten soll…«

 

»Wir sind schon fertig mit dem Essen«, entgegnete Dora. »Miß Bedford ist eben gegangen.«

 

 

Torrington warf seinem Besucher einen scharfen, prüfenden Blick zu und deutete dann stumm auf einen Stuhl.

 

»Wenn ich nicht irre, haben wir uns schon gesehen, Mr. Torrington«, begann Martin.

 

»Ich weiß genau, daß wir uns nie gesehen haben, obwohl ich Sie vom Hörensagen kenne. Legen Sie Ihren Mantel ab, Mr. Elton. Sie baten um eine Unterredung unter vier Augen, und ich habe sie aus verschiedenen Gründen bewilligt. Ich glaube, Sie sind ein Schwager meiner Sekretärin.«

 

Martin neigte den Kopf.

 

»Ja, unglücklicherweise.«

 

»Unglücklicherweise?« Der alte Herr zog die Augenbrauen hoch. »Ach, Sie meinen wegen ihrer Vergangenheit? Das arme Mädchen war ja wohl in einen Juwelenraub verwickelt.«

 

»Sie hatte die Diamanten bei sich, als sie verhaftet wurde.«

 

»So? Das ist ja schlimm! Natürlich wußte ich das, als ich die junge Dame anstellte. Sie wollen mich wohl vor ihren Ränken warnen?«

 

»Nein, ich komme aus einem ganz anderen Grund her, erwiderte Martin, der trotz Torringtons ernster Miene das Gefühl hatte, der alte Mann triebe seinen Spott mit ihm. »Verzeihen Sie mir, wenn ich ein sehr peinliches Thema berühren muß. Sie wurden vor Jahren in Südafrika wegen unerlaubten Diamantenhandels verurteilt –«

 

»Ja, ich war das Opfer eines der größten Schurken im Diamantengebiet, eines gewissen Lacy Marshalts, der jetzt tot ist.«

 

»Sie hatten eine junge Frau«, fuhr Martin zögernd fort, »und ein Kind – ein kleines Mädchen, das Dorothy hieß.«

 

Torrington nickte stumm.

 

»Ihre Frau war außer sich über die Schande, verschwand aus Südafrika und ließ nie wieder von sich hören, nicht wahr?«

 

»Doch, einmal schrieb sie.« Die Worte klangen wie ein Peitschenhieb.

 

»Sie kam mit dem Baby und einer älteren Tochter nach England, nahm den Namen Bedford an und lebte hier von ihrem kleinen Einkommen.«

 

»Von einer Rente«, verbesserte Torrington. »Ich hatte sie vor meiner Verhaftung in eine Rentenbank eingekauft. Bitte, sprechen Sie weiter!«

 

Martin holte tief Atem.

 

»Aus irgendeinem Grund erzog die Frau Dorothy in dem Glauben, daß sie die Tochter ihres ersten Gatten sei, während sie das andere kleine Mädchen für älter ausgab. Aus welchem Grund –«

 

»Lassen wir das!« fiel ihm Torrington ins Wort. »All dies kann wahr oder unwahr sein.«

 

Martin wagte nun den entscheidenden Schritt.

 

»Sie sind der Meinung, daß Ihre Tochter Dorothy tot ist. Das stimmt aber nicht. Sie lebt, und zwar hier in England. Sie ist meine Frau.«

 

Daniel Torringtons Augen schienen den Mann zu durchbohren.

 

»Ist das die Geschichte, die Sie mir erzählen wollten?« fragte er. »Daß meine kleine Dorothy noch lebt und Ihre Frau ist?«

 

Eine lange, drückende Pause entstand.

 

Endlich brach Torrington das lastende Schweigen.

 

»Sind Ihnen eigentlich die näheren Umstände meiner Verhaftung bekannt? – Nein? Dann werde ich sie Ihnen einmal erzählen.

 

Ich saß auf der Vortreppe meines Hauses in Wynberg und hatte mein Baby auf dem Schoß, als ich Marshalt um das Gebüsch herumkommen sah. Ich war überrascht, daß er zu mir kam – bis ich zwei Detektive hinter ihm bemerkte. Er hatte Angst vor mir, Todesangst! Als ich aufstand und das Kind in die Wiege legte, zog er einen Revolver und schoß. Nachher sagte er, ich hätte zuerst gefeuert, aber das war eine Lüge. Ich hätte überhaupt nicht geschossen, aber seine Kugel traf die Wiege, und ich hörte das Kind schreien. Da erst legte ich auf ihn an, und er wäre ein toter Mann gewesen, wenn ich nicht des Kindes wegen in so große Aufregung geraten wäre. Ich fehlte, und sein zweiter Schuß zerschmetterte mir das Bein. Wußten Sie das?«

 

Martin schüttelte den Kopf.

 

»Ich dachte mir, daß es Ihnen neu sein würde. Das Kind war verwundet – die Kugel fuhr durch den kleinen Zeh des einen Fußes und zerbrach den Knochen – mich wundert nur, daß Ihre Frau Ihnen davon noch nichts gesagt hat –«

 

Martin schwieg.

 

»Meine kleine Dorothy ist nicht tot. Das weiß ich schon seit einiger Zeit, und nun habe ich sie auch mit Hilfe meines Freundes Stormer gefunden.«

 

»Und sie weiß – ?« fragte Martin totenbleich.

 

»Nein, sie weiß es nicht. Sie soll es erst erfahren, wenn meine Aufgabe erledigt ist.«

 

Seine kalten Augen durchdrangen unbarmherzig Martins Gesicht.

 

»Ihre Frau ist meine Tochter, wie? Sagen Sie ihr, sie möchte herkommen und mir ihren linken Fuß zeigen. Sie können Geburtsscheine fälschen, Elton – aha, das saß – aber kleine Fußzehen, die zerschossen wurden, können Sie nicht nachbilden!«

 

Er klingelte.

 

»Bringen Sie den Herrn hinaus«, sagte er, »und wenn Miß Bedford nach Hause kommt, möchte ich sie sofort sprechen…«

 

Eine Viertelstunde später standen sich Dora und Martin im Wohnzimmer gegenüber, und er berichtete ihr das Ergebnis seiner Unterredung mit Torrington.

 

»Vielleicht läßt sich alles noch zu unseren Gunsten verschieben. Er wird zahlen, um sie zurückzubekommen, wenn –«

 

»Wenn -?«

 

»Wenn sie noch lebt«, erwiderte Dora leise, »und wenn inzwischen nichts anderes passiert ist.«

 

Kapitel 33

 

33

 

Abends um elf erhielt Slick Smith den Besuch einer Dame. Der Hauswirt, der sehr auf guten Ruf hielt, erklärte unmutig, daß er das zu so später Stunde nicht dulden könnte.

 

»Es handelt sich um eine äußerst wichtige Botschaft meines Freundes, Captain Shannon. Vielleicht würden Sie so freundlich sein, mir Ihr Wohnzimmer auf kurze Zeit zur Verfügung zu stellen?« erwiderte Slick.

 

Dazu erklärte sich der Mann bereit.

 

Nach einer Viertelstunde entfernte sich die Dame wieder, und Slick bedankte sich bei dem Wirt.

 

Dann ging er in seine Wohnung hinauf, vertauschte den Frack mit einem Straßenanzug, schlüpfte in einen Flauschmantel und steckte allerhand rätselhafte Gegenstände ein. Die Dame, die ihn besucht hatte, wartete noch vor dem Haus auf ihn, und sie gingen zusammen bis zum Marble Arch. Slick bemerkte sehr wohl, daß der unvermeidliche Mann von Stormer ihm folgte, kümmerte sich aber nicht darum. Er verabschiedete sich von der Dame und fuhr in einer Droschke nach dem Greville-Gebäude, wo der Nachtportier ihn dienstbeflissen empfing und im Lift nach oben fuhr. Slick besaß zur Zeit eine elegante Wohnung im zweiten Stock des Hauses …

 

 

Am selben Abend machte Sergeant Steel seine übliche Runde durch die zahllosen, außerordentlich verschiedenartigen Nachtklubs, die in London seit dem Krieg aus dem Boden geschossen waren. Gegen zwölf kehrte er heim und fühlte schon in der Tasche nach seinem Schlüssel, als ihm ein Mann mit einer Handtasche entgegenkam. Steel war todmüde, aber als er diese Tasche sah, nahm er die Verfolgung sofort auf. Sie war so schwer, daß der Mann sie bald in die eine, bald in die andere Hand nahm. Es war eine lange Jagd, denn der Mann merkte die Gefahr, beschleunigte seine Schritte, huschte bald um diese, bald um jene Ecke und begann schließlich zu laufen. Aber auch Steel hatte flinke Beine und ließ nicht von ihm ab, denn sein Instinkt sagte ihm, daß er diesen Mann stellen müßte. Der Flüchtling wurde immer nervöser, als die Verfolgung andauerte, und als er an einer Straßenecke einen Polizisten stehen sah und Steel dicht hinter sich wußte, zauderte er eine Sekunde, ließ dann die Tasche fallen und eilte blitzschnell davon.

 

In diesem Augenblick erkannte ihn Steel: es war Slick Smith.

 

»Folgen Sie dem Mann«, befahl er dem Polizisten und wandte seine Aufmerksamkeit der Handtasche zu …

 

 

Dick Shannon war beim Auskleiden, als sein Assistent mit leuchtenden Augen ins Zimmer stürzte.

 

»Sehen Sie her!« rief er und öffnete die Tasche mit einem Ruck.

 

Wie versteinert schaute Dick hinein.

 

»Die Diamanten!« flüsterte er.

 

»Slick Smith hatte sie!« fuhr Steel atemlos fort. »Ich sah ihn von weitem und folgte ihm, ohne zu wissen, daß er es war. Er kniff aus, und als ich ihn erreichte, ließ er die Tasche fallen.«

 

»Holen Sie ein Auto!« erwiderte Dick und zog sich schnell wieder an.

 

Fünf Minuten später erschien Steel wieder, und diesmal hatte er die nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Das Auto war von Polizisten umringt. Sie verteilten sich auf den Sitzen und brachten die Diamanten wohlbehalten nach Scotland Yard.

 

Dick kehrte mit Steel dann zum Haymarket zurück. Vor seiner Haustür fand er einen kleinen, schmutzigen Jungen. William stand neben ihm.

 

»Er sagt, er hätte einen Brief für Sie«, meldete der Diener. »Mir wollte er ihn nicht geben.«

 

»Ich bin Captain Shannon«, sagte Dick, aber der kleine Mann schien immer noch abgeneigt, sich von seiner Botschaft zu trennen.

 

»Bringen Sie ihn herein«, befahl Shannon.

 

Im Wohnzimmer zog der Junge endlich einen unsauberen Fetzen Zeitungspapier aus der Tasche. Dick nahm ihn und sah, daß es ein Stück von einem Londoner Morgenblatt war. Die Botschaft war mit Bleistift auf den unbedruckten Rand gekritzelt:

 

 

»Um Himmels willen, retten Sie mich! Ich bin am Foulds Kai. Der Teufel will mich noch vor morgen früh umbringen.

 

Lacy Marshalt.«

 

 

»Lacy Marshalt!« schrie Steel. »Großer Gott, das ist doch nicht möglich!«

 

»Woher hast du das?« fragte Dick rasch.

 

»Ein Junge gab es mir in der Spa Road. Er sagte, ein Herr hätte es dicht bei Dockhead durch ein Gitter gesteckt, und ich würde ein Pfund kriegen, wenn ich es Captain Shannon brächte.«

 

»Warum kam er denn nicht selbst damit her?«

 

Der Bursche grinste.

 

»Weil er Sie kennt!«

 

»Weißt du, wo Foulds Kai ist?«

 

»Ja, ich hab‘ oft dort geangelt.«

 

»Gut, dann kannst du uns den Weg zeigen. William, holen Sie den Wagen heraus. Setzen Sie den Bengel neben sich, und desinfizieren Sie ihn! Hier hast du dein Geld.«

 

Sie fuhren bei Scotland Yard vor, um ein paar Beamte mitzunehmen, und hielten an der London Bridge an, wo sie einen Distriktssergeanten vorfanden, der am Fluß Bescheid wußte. Dann wurde der Junge entlassen. Kurz darauf sahen sie das glitzernde Wasser der Themse.

 

»Nach rechts«, sagte der Sergeant.

 

Sie betraten einen Pfahlrost, auf dem Dicks Schritte hohl und dumpf tönten, als er darauf entlangging und ins Wasser hinunterschaute.

 

»Niemand zu sehen. Wir müssen ins Lagergebäude hinein.«

 

»Hilfe!«

 

Die Stimme klang schwach, aber Dick hörte sie und hob die Hand.

 

Einen Augenblick standen alle reglos und lauschten, dann hörten sie das leise Wimmern wieder:

 

»Hilfe! Um Himmels willen, Hilfe!«

 

Dick beugte sich über das Wasser hinab. Die Flut stieg, und etwas weiter nach rechts lag ein Boot. Vorsichtig tastete er sich hin und sprang hinein.

 

»Hilfe!« Jetzt klang die Stimme näher.

 

»Wo sind Sie?« schrie Dick.

 

»Hier!«

 

Es war Marshalts Stimme!

 

Da keine Ruder vorhanden waren, zog sich Dick, nachdem er das Boot losgemacht hatte, mit den Händen an den Planken entlang, bis er die Stelle erreichte, von der der Ruf gekommen war. Mit seiner Taschenlampe leuchtete er umher, und wenige Sekunden später fiel ihr Schein auf Marshalts Gesicht. Der Mann stand bis über die Schultern im Wasser, und seine über den Kopf emporgereckten Hände waren an einem Pfahl festgebunden.

 

»Machen Sie das Licht aus – sonst faßt er Sie!« schrie er.

 

Dick folgte der Aufforderung, und im selben Augenblick knallten zwei Schüsse. Sein Hut flog davon, und er fühlte einen brennenden Schmerz am linken Ohr. Rasch paddelte er das Boot mit den Händen zurück und holte Steel.

 

»Holen Sie Ihren Revolver heraus und machen Sie Licht«, sagte er, während er das Boot wieder durch das Labyrinth der faulenden Pfähle steuerte. »Und schießen Sie, sobald Sie einen Kopf sehen!«

 

Drei Minuten später war Marshalt aus seiner furchtbaren Lage befreit und sank keuchend auf dem Boden des Bootes nieder. So schnell als möglich brachten sie ihn zur nächsten Polizeiwache, wo er nach einem heißen Bad und in geborgten Kleidern etwas mehr zu sich kam. Er zitterte allerdings noch wie Espenlaub.

 

Dick hatte inzwischen mit einigen Leuten das Lagerhaus durchsucht, ohne etwas anderes zu finden als eine der grünen Patronenschachteln, die er in Marshalts Vorratszimmer gesehen hatte.

 

Marshalt selbst wußte nicht viel zu erzählen, als Dick erschien.

 

»Es war dumm von mir, in die Falle zu gehen, als Tonger mir den Brief brachte«, begann er. »Den Brief einer Dame, die mir schrieb, daß ich sie dort treffen würde. Sie können Tonger fragen.«

 

»Ich fürchte, er kann uns nichts mehr sagen«, warf Dick ein.

 

»Wie? Er ist doch nicht –«

 

»Eine Stunde, nachdem man Sie überfallen hatte, fand man ihn – erschossen auf.«

 

»Großer Gott!« erwiderte Marshalt tonlos und schwieg eine Weile. »Ich weiß selbst nicht, wie ich dazu kam«, fuhr er dann mit einem Seufzer fort, »aber ehe ich hinüberging, zog ich eine kugelfeste Weste an – ein unbequemes Kleidungsstück, das ich während des Kriegs im Balkan getragen hatte, als ich dort in Geschäften herumreiste. Sie rettete mir tatsächlich das Leben. Ich ging ohne Mantel nach Nr. 551 hinüber und wurde auch gleich eingelassen, nachdem ich geklopft hatte. Als eine Stimme von oben mich aufforderte, hinzukommen, folgte ich der Einladung natürlich und stand plötzlich einem offenbar verkleideten Mann gegenüber. ›Nun hab ich dich!‹ rief er lachend und richtete den Revolver auf mich. Der Schuß war das Letzte, was ich hörte, bevor ich wieder zu mir kam. Auch was nachher mit mir geschah, weiß ich nicht recht. Ich muß wohl viel geschlafen haben, und ein paarmal kam der alte Mann und bohrte mir eine Nadel in den Arm …« Er lehnte sich matt zurück. »Und das Weitere wissen Sie ja bereits.«

 

Dick nickte.

 

»Nur eins, Marshalt! Gibt es einen Durchgang oder eine Tür, die das Malpas’sche Haus mit dem Ihrigen verbindet?«

 

»Meines Wissens nicht.«

 

»Und Sie behaupten, Malpas nicht wiedererkannt zu haben? Sie müssen doch irgendeinen Gedanken – oder wenigstens eine Ahnung über seine Persönlichkeit haben?«

 

Marshalt zögerte einen Augenblick.

 

»Sie werden es vielleicht phantastisch finden«, meinte er dann, »aber es kommt mir so vor, als ob – als ob Malpas eine Frau wäre.«

 

Kapitel 34

 

34

 

Audrey hatte einen fürchterlichen Traum. Es war ihr, als ob sie auf der Kante eines hohen, schmalen Turmes läge, der dauernd hin- und herschwankte. Außerdem quälten sie entsetzliche Kopfschmerzen. Sie fühlte ein dunkles Verlangen nach einer Tasse Tee und streckte die Hand nach der Klingel aus, aber sie griff ins Leere, und nach einiger Zeit wurde ihr klar, daß sie auf einer Matratze am Boden lag, denn ihre tastende Hand berührte den Fußboden. Es war stockdunkel, und sie war sehr durstig. Die Zunge klebte ihr am Gaumen.

 

Schließlich erhob sie sich langsam und unsicher, mußte sich aber an die Wand stützen, um nicht umzusinken. Sie suchte nach einer Tür, fand auch eine und öffnete sie. Sie hatte die unklare Empfindung, daß sie einen langen Gang vor sich hätte, an dessen Ende ein Deckenlicht brannte. Sie ging darauf zu und entdeckte in einem kleinen Raum eine Wascheinrichtung, wo sie sich erfrischen konnte. Sie wusch das Gesicht und trank nachher von dem Wasser, indem sie die Hände als Becher benützte. Dann ließ sie sich auf einer Fensterbank nieder und versuchte nachzudenken.

 

Mühsam ging sie Schritt für Schritt in ihrer Erinnerung rückwärts, und plötzlich entsann sie sich des Sektes, der so abscheulich geschmeckt hatte … Dora!

 

Sie stand immer noch unter dem Einfluß des Betäubungsmittels, aber allmählich drang doch zu ihrem Bewußtsein durch, warum es so dunkel war. Sämtliche Fenster waren durch schwere Läden verschlossen. Vergeblich suchte sie die fest eingerammten eisernen Riegel zu bewegen. Die Anstrengung erschöpfte nur ihre schwachen Kräfte, und sie sank ohnmächtig‘ zu Boden.

 

Als sie wieder zu sich kam, war sie erfroren und steif, aber die Kopfschmerzen hatten bedeutend nachgelassen. Sie trank noch etwas Wasser und kehrte dann in das Zimmer zurück, in dem sie erwacht war. Nach einigem Suchen gelang es ihr, dort Licht zu machen, und nun sah sie, daß die Einrichtung des Raumes nur aus der Matratze und einem zerbrochenen Stuhl bestand. Unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft riß sie eine starke Stange von der Lehne ab, um sie im Notfall als Waffe zu benützen. Dann sank sie erschöpft auf die Matratze nieder und fiel sofort in tiefen Schlaf.

 

Nach einer Weile erwachte sie wieder und richtete sich auf, denn sie hatte jemand sprechen hören. Lautlos schlich sie den Gang hinab bis zu der verschlossenen Tür und lauschte. Die Stimme kam von unten, und als sie sie erkannte, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen.

 

Es war Lacy Marshalt! Zitternd kauerte sie sich nieder und schaute durch das Schlüsselloch. Draußen war es hell, und sie bemerkte die Gestalt eines Mannes.

 

»Hier irgendwo muß es sein!« sagte Marshalt eben wieder.

 

Der Mann draußen schien ebenso angestrengt zu horchen wie sie selbst. Plötzlich drehte er sich um, und sie sah die große Nase, das lange Kinn – Malpas!

 

Mit wankenden Knien flüchtete sie in das Zimmer zurück. Ein furchtbares Grauen hatte sie gepackt und raubte ihr fast den Verstand. Nach wenigen Sekunden klopfte es leise an die Flurtür.

 

Mit angehaltenem Atem starrte sie auf die Tür. Noch zweimal klopfte es, dann wurde es wieder totenstill. Audrey wagte nicht, sich zu rühren. Endlich knirschte ein Schlüssel, es raschelte, dann fiel die Tür wieder zu. Audreys Herz schlug rasend, als sie sich nach einer Weile auf den Gang hinauswagte. Aber dann wäre sie vor Freude fast in Tränen ausgebrochen. Auf dem Fußboden stand ein Tablett mit heißem Kaffee, Brötchen, Butter und kaltem Fleisch, Nachdem sie gierig gegessen und getrunken hatte, klärten sich ihre Gedanken, und sie begann zu überlegen. Was konnte Dora nur veranlaßt haben, sie hier im Haus von Malpas gefangenzuhalten? Sie drehte alle Lichtschalter an, die sie finden konnte, und öffnete auch den Wasserhahn wieder. Die Helligkeit und das plätschernde Wasser übten eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Ab und zu ging sie an die Flurtür, aber draußen herrschte tiefe Stille.

 

Erst als sie zum siebtenmal hinaustrat, hörte sie jemand die Treppe herabkommen. Rasch kniete sie nieder und schaute durch das Schlüsselloch. Eine dunkle Gestalt glitt an der Tür vorüber und hielt auf dem breiten Treppenpodest an. Nun sah sie den Mann deutlich. Er trug einen langen Mantel und einen Schlapphut. Jetzt streckte er die Hand aus, und ein Teil der Wand öffnete sich – eine etwa sechs Zoll große Tür, die so gut durch die Tapete verdeckt war, daß nicht einmal Shannons geübtes Auge sie entdeckt hatte. Er griff mit der Hand hinein, eine blaue Flamme zuckte auf, und das Licht im Flur erlosch. Dann kam er auf die Tür zu.

 

Audrey sah, wie das Ende des Schlüssels in das Loch fuhr, wandte sich mit einem entsetzten Schrei um, rannte in ihr Zimmer zurück, schlug die Tür fest zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen … »

 

Die Flurtür öffnete sich …

 

Kapitel 35

 

35

 

Um vier Uhr morgens kehrte Dick nach Hause zurück, nachdem er Marshalt zu seiner Wohnung begleitet und sich an Stanfords Verlegenheit über diese unvermutete Auferstehung ergötzt hatte. In seinem Arbeitszimmer fand er zwei Herren: den übermüdeten, aber ausdauernden Willitt und –

 

»Mr. Torrington! Sie sind hier?«

 

Der Mann war vollständig verwandelt. Es war nichts mehr von dem leicht spöttischen Ton zu hören, in dem er sonst so gern sprach.

 

»Ich warte sehnsüchtig auf Sie, Captain! Meine Tochter ist verschwunden –«

 

»Ihre -?«

 

»Meine Tochter – Audrey. Ach, Sie wissen wohl nicht, daß sie meine Tochter aus zweiter Ehe ist?«

 

Dick starrte ihn entgeistert an.

 

»Audrey – verschwunden?«

 

»Gestern abend ging sie aus und kam nicht zurück. Ich sagte ihr, sie solle den Abend nach ihrem Belieben verbringen, weil ich eine Verabredung mit Elton hatte.« Er berichtete in kurzen Zügen über die Besprechung, die er mit Martin gehabt hatte, »Natürlich waren mir alle Tatsachen bekannt, und er war noch nicht zu Ende, als ich seine Absicht längst durchschaut hatte. Ich gab Auftrag, Audrey gleich nach ihrer Rückkehr zu mir zu bitten. Um elf war sie noch nicht zurück, und als ich um Mitternacht nach ihr fragen ließ, war sie auch noch nicht da. Nun weiß ich ja, daß junge Mädchen heutzutage bis in die späte Nacht hinein unterwegs sind, und machte mir keine Sorgen, bis es eins und schließlich zwei wurde. Dann rief ich Scotland Yard an, und als sie dort nichts von Ihnen wußten, konnte ich es nicht länger aushalten und kam hierher.«

 

»Wohin wollte sie denn gehen?« fragte Dick schnell.

 

»Ich weiß es nicht, und im Hotel hat sie auch nichts davon erwähnt.«

 

»Wir müssen in ihren Zimmern nachsehen«, erwiderte Dick und fuhr mit Torrington zu dem Ritz- Carlton zurück.

 

In Audreys Papierkorb fand er einen zerrissenen Brief, den er wieder zusammensetzte und las.

 

»Ich muß zu Elton«, sagte er dann kurz. »Sie brauchen nicht mitzukommen.«

 

Es dauerte ziemlich lange, bis Martin herunterkam. Er trug einen Schlafrock, aber Spuren von Zigarrenasche über einem Knopf verrieten, daß er nicht aus dem Bett aufgestanden war.

 

»Ist Ihre Frau auf? Ich muß Sie beide sprechen«, sagte Dick in befehlendem Ton.

 

Einige Minuten später erschien Dora.

 

»Sie wünschen mich zu sprechen, Captain Shannon?«

 

»Ich will wissen, wo Audrey Torrington ist.«

 

»Das weiß ich nicht –« begann sie.

 

»Hören Sie zu, Mrs. Elton. Ihre Schwester kam auf Ihre Einladung hin zu Ihnen. Sie ist gegen sechs hier eingetroffen …« Er unterbrach sich. »Rufen Sie Ihr Mädchen!«

 

Dora machte allerhand Einwendungen, aber Dick war unerbittlich, so daß Martin sich schließlich bequemte, hinaufzugehen und sie zu rufen. Zu seiner Verwunderung kam das Mädchen sofort vollständig angekleidet und in Hut und Mantel heraus.

 

»Nanu!« rief er verwundert, faßte sich aber sofort wieder. »Captain Shannon wünscht Sie zu sprechen. Er fragt nach der Schwester meiner Frau. Sie hat ja gestern abend hier gegessen. Sagen Sie ihm doch, daß Sie die ganze Zeit im Haus waren und gesehen haben, wie sie fortging.«

 

Sie folgte ihm schweigend.

 

»Weshalb sind Sie denn angezogen?« rief Dora ärgerlich, als das Mädchen eintrat.

 

Aber Shannon fiel ihr ins Wort.

 

»Bitte, beantworten Sie erst meine Fragen. Miß Audrey Torrington, die Sie als Miß Bedford kennen, war gestern zu Tisch hier?«

 

»Ich glaube, ja. Ich war nicht zu Hause, als sie kam, und ich habe sie auch nicht fortgehen sehen. Mrs. Elton schenkte mir ein Theaterbillett und entließ die Köchin, so daß nur drei Menschen im Hause waren: Mr. und Mrs. Elton und Miß Bedford.«

 

»Ich war nicht hier!« warf Martin ein. »Ich war im Klub.«

 

»Sie waren oben, aber hier im Haus«, erwiderte das Mädchen gelassen. »Ich habe Miß Bedford nicht fortgehen sehen, weil ich am anderen Ende der Straße mit einem unserer Leute sprach. Ich sah eine Droschke wegfahren, und als ich dann nach Hause kam, war Miß Bedford wohl wirklich fort.«

 

»Einer von Ihren Leuten –? Wie soll ich das verstehen?« fragte Dick.

 

Sie zog einen kleinen silbernen Stern aus der Tasche.

 

»Ich bin bei Stormer angestellt, ebenso wie das letzte Mädchen Mrs. Eltons. Ich erwartete Sie schon, aber ich kann Ihnen nur eins sagen: hier im Haus ist Miß Bedford nicht. Ich habe es bereits bis auf den letzten Winkel durchsucht. Als ich den Ecktisch abräumte, habe ich den Weinrest aus Miß Bedfords Glas in dieses Fläschchen geschüttet.« Sie reichte Dick eine kleine Medizinflasche. »Und dies fand ich nachher in Mrs. Eltons Schmuckkasten.«

 

Dora griff blitzschnell nach der blauen Phiole, aber das Mädchen war auf der Hut und legte sie in Dicks ausgestreckte Hand.

 

»Es riecht nach Butyl«, sagte sie.

 

»Sie hören, was diese Dame aussagt, Elton. Wo ist Audrey?« fragte Dick mit gefährlicher Ruhe.

 

»Wenn Sie das wissen wollen, müssen Sie dafür zahlen«, erwiderte Martin. »Nein, nicht Geld! Aber ich verlange vierundzwanzig Stunden für Dora und. mich, um England verlassen zu können. Wenn Sie mir das gewähren, will ich Ihnen sagen, wo sie ist. Und ich rate Ihnen, auf die Bedingung einzugehen, Shannon. Sie ist in größerer Gefahr, als Sie ahnen. Versprechen Sie es mir?«

 

»Ich verspreche nichts. Sie entkommen lassen? Nein! Nicht einmal, wenn Audreys Leben auf dem Spiel stände. Wo ist sie?«

 

»Bringen Sie das doch selbst heraus!« rief Dora höhnisch.

 

Dick sagte kein Wort, zog ein Paar Handschellen aus der Hüfttasche und legte sie um Martins Handgelenke. Elton leistete keinen Widerstand, aber sein Gesicht wurde plötzlich grau und alt. Im nächsten Augenblick war auch seine Frau gefesselt.

 

Als Dick die beiden nach der Polizeiwache gebracht hatte, wandte er sich noch einmal an die Agentin Stormers.

 

»Haben die zwei kürzlich Besuch gehabt?«

 

»Ja, Stanford war bei ihnen, und sie zankten sich.«

 

»Glauben Sie, daß Stanford damit zu tun haben könnte?«

 

»Ich weiß nicht recht. Gute Freunde scheinen sie nicht zu sein.«

 

»Hm! Als ich ihn diese Nacht sah, schien er mir jedenfalls nichts auf dem Gewissen zu haben«, meinte Dick und reichte ihr zum Abschied die Hand.

 

Dann ging er aber doch zum Portman Square, wo er lange klopfen und schellen mußte, bis Stanford schließlich in Person erschien und ihm aufmachte. Beim Anblick des Detektivs schrak er leicht zusammen.

 

»Wo ist Miß Bedford?« fragte Dick laut und schroff. »Überlegen Sie Ihre Antwort; Stanford! Eltons sitzen bereits im Loch, und für Sie ist auch noch in der Zelle Platz!«

 

Der Mann starrte ihn wie betäubt an und suchte nach Worten.

 

»Was ist denn mit Audrey Bedford?« erwiderte er schließlich mit stockender Stimme. »Und wie soll ich etwas über sie wissen? Ich war den ganzen Abend hier. Sie haben mich doch selbst gesehen. Und mit Elton hab‘ ich mich überworfen…«

 

»Wer ist da?« ertönte eine Stimme von oben, und gleich darauf kam Marshalt im Schlafrock die Treppe herunter.

 

»Audrey Bedford ist verschwunden«, entgegnete Dick. »Sie scheint betäubt und entführt worden zu sein, und ich habe Grund zu der Annahme, daß Stanford von der Sache weiß.«

 

Die drei Männer gingen zusammen nach oben, aber Stanford leugnete beharrlich.

 

»Ich kann Sie auch abgesehen von dieser Geschichte festnehmen!« drohte ihm Dick. »Sie haben den Lederbeutel gekauft, in dem die verschwundenen Diamanten lagen. Der Kaufmann Waller in der Regent Street hat das ausgesagt. Nun, wollen Sie jetzt sprechen?«

 

Marshalt machte ein erstauntes Gesicht.

 

»Antworten Sie jetzt, Stanford!«

 

»Ich habe nichts zu sagen. Was Sie da von dem Beutel erzählen, ist einfach Blech!«

 

»Kennen Sie Slick Smith?«

 

»Gesehen hab ich ihn mal.«

 

»Nun, wenn ich Sie brauche, werde ich Sie schon finden, und wenn es sich herausstellt, daß Sie an dieser Entführung beteiligt sind, sollen Sie es bitter bereuen!«

 

Trotz der kurzen Entfernung schlief Dick zwischen dem Portman Square und dem Ritz-Carlton fest ein und mußte von dem Chauffeur geweckt werden.

 

»Sie sind ja vollständig fertig!« sagte Torrington teilnahmsvoll, als er ihn sah.

 

Gegen fünf Uhr kehrte Dick völlig erschöpft heim, schlief ein paar Stunden wie ein Toter und ging dann um neun wieder zum Portman Square.

 

Seine Autodroschke war kaum um die Ecke gebogen, als aus einem gegenüberliegenden Portal Slick Smith heraustrat. Er mußte sehr vorsichtig sein, denn er wußte, daß sämtliche Polizisten Londons nach ihm Ausschau hielten. Aber er hatte Glück, denn eben kam ein Mietauto vorüber, und im nächsten Augenblick befand er sich auf Dicks Fährte. Sobald er sich davon überzeugt hatte, daß der Detektiv einen Besuch bei Marshalt machen wollte, stieg er aus und entließ den Chauffeur. Zwei Minuten später schlüpfte ein untersetzter Mann in das Hoftor des Malpas’schen Hauses, ohne daß die in der Hintergasse beschäftigten Kutscher und Chauffeure ihm irgendwelche Beachtung schenkten.

 

Unterdessen ersuchte der Detektiv Mr. Marshalt, mit ihm zu Malpas zu gehen und ihm an Ort und Stelle zu schildern, was ihm dort zugestoßen war. Dick hatte einen Schlüssel, und als sie eingetreten waren, schob er einen in der Halle liegenden Holzklotz mit dem Fuß unter die Haustür, um sie offenzuhalten. Oben bat er Marshalt, sich dorthin zu stellen, wo ihn der Schuß getroffen hatte.

 

Lacy ging auf die verhängte Nische zu.

 

»Hier stand Malpas, und ich stand dort, wo Sie jetzt stehen«, sagte er.

 

Im selben Augenblick fiel die Tür krachend ins Schloß.

 

»Was ist das?« rief Lacy.

 

Dick versuchte, die Tür zu öffnen, aber es gelang ihm nicht.

 

»Wo ist Stanford?« fragte er.

 

»Irgendwo in meiner Wohnung. Wer hat denn das getan?«

 

»Das werde ich heute noch feststellen, und Sie sollen mir dabei helfen. Ah, da geht sie schon wieder auf!«

 

Sie gingen ins Treppenhaus hinaus und schauten über das Geländer nach unten, aber es war nichts zu sehen. Als sie ins Zimmer zurückkehrten, zog Dick den Vorhang im Alkoven beiseite, fuhr aber mit einem Schrei zurück. Auf dem schwarzen Marmorsockel lag mit schlaff herabhängendem Kopf – Bill Stanford!

 

Dick neigte sich über ihn.

 

»Er ist nicht tot, aber es ist höchste Zeit, ihm zu helfen«, sagte er hastig.

 

Marshalt eilte in sein Haus zurück, um die Unfallstation anzurufen.

 

Dick untersuchte inzwischen den Unglücklichen und entdeckte drei Schußwunden: eine an der Schulter, eine dicht unter dem Herzen und die dritte am Hals. Der ganze Sockel war mit Blut überströmt, und Dick bemühte sich, den Bluterguß aus der Schulter zu stillen, als die schrille Klingel des Krankenwagens ertönte. Sanitäter kamen herauf und hoben den Bewußtlosen auf eine Bahre.

 

»Wie ist das nur zugegangen?« fragte Marshalt düster.

 

»Ich verließ ihn in einer Vorratskammer, wo ich allerlei Sachen aufbewahre. Wir hatten einen Wortwechsel, weil er meiner Meinung nach etwas über Audreys Verschwinden weiß, und er sagte, er würde das Haus verlassen. Sicher ist er dort umgebracht worden, nachdem wir fortgegangen waren.«

 

»Haben Sie bemerkt, daß er keinen Kragen und Schlips trug?« fragte Dick nachdenklich.

 

»Ja, das fiel mir auch auf. Vorher hatte er beides an.«

 

»Zeigen Sie mir doch einmal, wo er war«, erwiderte Dick.

 

Die beiden gingen nach Lacys Haus zurück. In der Vorratskammer waren Stanfords Kragen und Schlips über einem Zapfen aufgehängt. Sonst konnte Dick nichts Auffälliges bemerken. Die Dienstmädchen sagten aus, daß sie Stanford kurz vor Dicks Ankunft in der Vorratskammer gesehen hätten. Auch eine Untersuchung von Stanfords bescheidenem Gepäck führte zu keinem Ergebnis.

 

Kapitel 36

 

36

 

Nachdem Shannon bitter enttäuscht gegangen war, saß Marshalt noch lange Zeit mit aufgestütztem Kopf an seinem Schreibtisch. Schließlich klingelte er und erklärte den beiden noch im Haus befindlichen Mädchen, daß er seinen Haushalt auflösen müsse, weil er England zu verlassen gedenke. Er zahlte ihnen ihren Lohn aus und beobachtete von der Treppe aus, wie sie sich mit ihrem Gepäck entfernten. Er verschloß und verriegelte die Haustür sorgfältig und kehrte dann in sein Arbeitszimmer zurück. Eine halbe Stunde später weckten ihn heftiges Klingeln und Klopfen an der Haustür aus seinen Grübeleien. Vorsichtig schaute er durch das Fenster nach unten und sah auf den Stufen vor der Haustür Martin und Dora Elton. Auch Torrington war bei ihnen. Er erkannte ihn sofort wieder, obwohl er ihn seit langen Jahren nicht gesehen hatte. Und hinter diesen dreien standen ein Polizeiinspektor und vier Kriminalbeamte in Zivil.

 

Marshalt nahm einen Pfriemen und einen flachen Griff aus der Tasche und befestigte sie aneinander. Dann ging er auf den Kamin zu und steckte den Pfriemen tief in das Schnitzwerk des Gesimses. Sein Handgelenk bewegte sich, und der ganze Kamin drehte sich plötzlich lautlos um einen verborgenen Zapfen. Zu seiner Rechten befand sich das große Götzenbild, zu seiner Linken der umgedrehte Kamin. Nun öffnete er eine Schublade in seinem Schreibtisch, zog unter einem falschen Boden eine Schachtel hervor und machte sich eine Weile mit dem Inhalt zu schaffen. Eine Perücke, eine Hängenase, ein langes, spitzes Kinn wurden mit wenigen geschickten Griffen befestigt.

 

Dann trat er in den halbkreisförmigen Kaminvorsatz und drehte den Pfriemen wieder, diesmal nach der andren Seite. Als Wand und Kamin herumschwangen, stemmte er den Fuß auf, um einen heftigen Stoß zu verhüten. Der ungeschickte Tonger hatte das einmal versäumt, so daß eine glühende Kohle in Malpas Zimmer geflogen war. Wieder trat der Pfriemen in Tätigkeit, und der Kamin schwang zurück. Marshalt nahm das Instrument auseinander und legte die beiden Teile in seine Geldbörse. Dann stieg er langsam die Treppe hinauf.

 

Audrey war da. Nur widerstrebend hatte Stanford es eingestanden. Und nun würde dieses Trauerspiel, das ihm sein Vermögen und beinahe auch sein Leben gekostet hätte, bei Audrey enden – bei der es begonnen hatte. Seine Lippen verzogen sich langsam zu einem Lächeln, das auf seinem Gesicht zu gefrieren schien.

 

Aber plötzlich verjagte ein Gedanke das Lächeln. Wie kam es, daß sich die Tür geschlossen und geöffnet hatte, während er mit Shannon in dem Zimmer stand? Hatte das eine besondere Ursache? Schließlich zuckte er die Schultern. Das Wetter und tausend andere Dinge konnten auf die elektrische Verbindung einwirken …

 

Nun lauschte er vor der Tür, hörte leichte Schritte im Gang und lächelte wieder. Er öffnete das Schränkchen an der Treppe, legte einen Hebel um und wußte, daß es drinnen dunkel sein würde, wenn er nach seiner Beute suchte.

 

Als er den Schlüssel umdrehte, hörte er, wie Audrey den Gang entlang lief und die Tür zuschlug. Sie war da – er fühlte es!

 

»Komm her, mein Schatz! Diesmal entwischst du mir nicht wieder!«

 

Er hörte etwas huschen und versperrte die Tür mit beiden Armen.

 

»Dein Liebhaber, der blöde Shannon, und seine Kumpane stehen unten! Dein Vater ist auch dabei! Du wußtest wohl gar nicht, daß du einen Vater hast? Er wird dich zu sehen bekommen – nachher!«

 

Plötzlich sprang er zu und packte einen Arm, aber es war nicht der Arm, den er erwartet hatte. Und jetzt zuckte vor ihm ein seltsamer, schauerlich grüner Lichtschein auf. Er gewahrte sein eigenes Gesicht – Nase, Kinn, Kopf!

 

Ein anderer – grauenhafter, ungeheuerlicher Malpas hielt ihn fest.

 

»Gott, was ist das?« schrie er entsetzt und versuchte, sich freizumachen.

 

»Kommen Sie mit!« sagte eine hohle Stimme.

 

Mit einem wilden Schrei schlug Lacy zu und ergriff die Flucht. Im gleichen Augenblick flammte das Licht auf, und als er sich umwandte, erblickte er sein Ebenbild – Malpas! Aber er selbst war doch Malpas!

 

»Zur Hölle mit dir!« keuchte er und zog den Revolver.

 

Er feuerte einmal – zweimal –

 

»Sparen Sie sich die Mühe, mein Freund!« sagte sein Doppelgänger. »Die Patronen sind blind – ich habe sie ausgewechselt.«

 

Wütend schleuderte Lacy ihm die Waffe ins Gesicht. Der Mann duckte sich, und im nächsten Moment sprang er Marshalt an die Kehle.

 

Und irgendwo im Dunkeln stand Audrey und krampfte in Todesangst die Hände ineinander.

 

Kapitel 27

 

27

 

Elton war nicht lange bei Stanford geblieben und hatte gerade begonnen, einen Brief zu schreiben, als seine Frau erschien. Er legte die Feder aus der Hand. »Dora, was hast du eigentlich getrieben, ehe wir uns kennenlernten?« fragte er unvermittelt.

 

»Ach, anfangs ging ich als Statistin mit Marsh und Bignall auf Reisen. Marsh machte Bankerott, und ich war dann in einer Schießbude und so weiter. Ich bin alles gewesen von der ersten Liebhaberin bis zur Garderobiere. – Von elektrischen Leitungen verstehe ich mehr als mancher Mechaniker. Aber warum fragst du danach?«

 

»Wo lerntest du Marshalt kennen?«

 

»Hier in London«, entgegnete sie nach kurzem Zögern. Ihre Hand, in der sie eine Zeitung hielt, zitterte leicht. »Ach, ich wollte, ich wäre vorher gestorben!«

 

»Dora – hast du ihn lieb?«

 

»Ich hasse ihn!« rief sie leidenschaftlich. »Ich habe ihn einmal geliebt – ja. Ich habe sogar an Scheidung gedacht. Aber ich war nicht schlecht genug. Ich fing an, ihn zu langweilen. In gewisser Weise bin ich vielleicht auch altmodisch.«

 

Er hatte sich in den Sessel zurückgelehnt und beobachtete sie unter gesenkten Lidern.

 

»Glaubst du, daß er tot ist?«

 

Sie machte eine ungeduldige Bewegung.

 

»Ich empfinde ihn nicht als tot – aber es ist mir gleichgültig.«

 

Sie sprach aufrichtig, davon war er überzeugt.

 

»Hat er jemals Malpas erwähnt?«

 

»Ja, oft! Und dabei wurde er immer nervös. Malpas haßte ihn. Der Polizei gegenüber behauptete Lacy, nichts von ihm zu wissen, aber er wußte sehr viel. Er sagte, Malpas und er wären früher Partner gewesen, und er wäre mit Malpas‘ Frau durchgegangen.«

 

Er stand auf und legte die Hände auf ihre Schultern.

 

»Ich danke dir – für alles, was du gesagt hast. Ich glaube, wir beide werden jetzt fest zusammenhalten. Wie stehst du denn jetzt zu Audrey?«

 

»Ich weiß es selbst nicht. Meine Abneigung gegen sie ist sehr groß. Ich wurde ja dazu erzogen, sie zu hassen.«

 

»Das tut mir leid.« Martin klopfte sie sanft auf die Schulter und ging.

 

Als er nachmittags nach Hause kam, traf er Dora in der Halle. Sie war zum Ausgehen angekleidet, aber er bat sie, ins Wohnzimmer hinaufzukommen.

 

»Als Audrey das letztemal hier war, sagtest du ihr, sie hieße gar nicht Bedford, und ihr Vater säße wegen Diamantendiebstahls in einer Strafanstalt in Südafrika«, sagte er hastig. »War das wahr?«

 

»Ja«, erwiderte sie verwundert. »Weshalb – ?«

 

»Abends sagtest du mir, er wäre lahm – hätte bei der Verhaftung einen Schuß ins Bein bekommen. Wie hieß Audreys Vater?«

 

»Daniel Torrington.«

 

Martin pfiff leise durch die Zähne.

 

»Ich habe – jemand getroffen, der behauptet, Torrington wäre hier in London. Man hat ihn begnadigt, und es scheint, daß er sich schon längere Zeit hier aufhält. Wußte Marshalt wohl davon?« »Nein, wenn er das gewußt hätte, wäre er wohl nicht so vergnügt gewesen. Ach!« Sie preßte die Hand einen Augenblick auf den Mund. »Malpas!« flüsterte sie.

 

Er starrte sie an, denn ihm war derselbe Gedanke gekommen.

 

»Marshalt muß es gewußt oder geahnt haben«, fuhr sie leise fort. »Er hat die ganze Zeit nebenan gewohnt! Bunny, Malpas ist Torrington!«

 

»Das glaube ich nicht.« Martin schüttelte den Kopf. »Es klingt zu romanhaft! So rachsüchtig ist kein Mensch. Und nun gar Torrington, der nach seiner Tochter sucht!«

 

»Er hält Audrey sicher für tot. Er hing sehr an dem Kind, und auf Marshalts Rat hin hat ihm Mutter geschrieben, daß Audrey an Scharlach gestorben wäre. Torrington hat ihr sogar unten bei Kapstadt einen Gedenkstein errichten lassen. Das weiß ich von Marshalt. Ist Torrington sehr reich?«

 

»Er soll zwei Millionen Pfund wert sein. Was er wohl – für die Wahrheit zahlen würde?«

 

»Nie im Leben soll er sie von uns erfahren! Mag er sie selbst herausbringen!«

 

»Wie ist sie getauft?« fragte er langsam und nachdenklich.

 

»Dorothy Audrey Torrington. Aber er weiß nicht, daß wir sie Audrey nannten. In seinem Brief schrieb er von Dorothy.«

 

»Schreibe an Audrey und lade sie zum Tee ein«, sagte Martin langsam. Sie schaute ihn empört an.

 

»Ja, schreibe ihr, es täte dir leid, daß du so unfreundlich zu ihr gewesen wärst und ihr allerlei vorgelogen hättest – über ihren Vater. Und wenn sie kommt, sagst du ihr, Torrington wäre dein Vater. Wo kann ich mir Audreys Geburtsschein verschaffen?«

 

»Ich habe oben noch allerlei Papiere von Mutter. Es kann sein, daß er darunter ist. Hole sie doch herunter, Bunny! Sie liegen in meinem Schrank – in einem Blechkasten.«

 

Er brachte ihn und öffnete ihn geschickt, als kein Schlüssel zu finden war. Auf dem Boden des Kastens lag ein blauer Briefumschlag mit zwei Geburtsscheinen. Martin breitete sie auf dem Tisch aus, und seine Augen glänzten.

 

»Dorothy Audrey Torrington«, las er, »und du heißt Nina Dorothy Bedford. Aus dem Namen Audrey läßt sich etwas anderes machen. Dora, du mußt Audrey schreiben und ihr – mit oder ohne Tränen – sagen, sie wäre deine ältere Schwester –«

 

Es klopfte.

 

»Mr. Smith aus Chicago«, meldete das Mädchen.

 

Martin zögerte einen Augenblick.

 

»Du kennst den Menschen ja wohl, Dora«, sagte er schließlich. »Ich lasse bitten.«

 

Slick Smith war wie immer tadellos gekleidet und legte seinen glänzenden Zylinder fast zärtlich auf einen Stuhl.

 

»Ich störe doch nicht?« begann er mit strahlender Miene. »Ich dachte, es würde Sie interessieren, daß 147 Ihre verehrte Schwägerin in den Polizeidienst eingetreten ist. Streng genommen kann man es vielleicht nicht als Polizeidienst bezeichnen, aber jedenfalls ist sie bei Stormers Agentur angestellt.«

 

»Soll das Scherz oder Ernst sein?« fragte Martin schroff.

 

»Voller Ernst. Ich sah zufällig, daß sie mit Willitt in einen Juwelierladen ging, wo er ihr das Stormersche Abzeichen kaufte: einen kleinen silbernen Stern mit Stormers Namen auf der Rückseite. Ich kenne es, und die junge Dame schien sich sehr darüber zu freuen. Und wissen Sie, was Willitt tat, nachdem er sich von ihr getrennt hatte?«

 

Martin zuckte ungeduldig die Schultern.

 

»Er ging zu dem nächsten Telephon und rief das Ritz-Carlton-Hotel an, um dort eine Zimmerflucht für die junge Dame zu bestellen.« Smith zog sein Taschentuch heraus, betupfte die Lippen und fuhr dann lächelnd fort: »Mr. Brown – oder Torrington – wohnt im Ritz-Carlton.«

 

Martin und Dora waren fassungslos.

 

»Ich dachte, ich müßte es Ihnen mitteilen«, meinte Smith. »Für Leute, die heute ein gewisser Wilfred auf die Spur von Torringtons Millionen gebracht hat, kann die Nachricht ja von Wert sein. – Ein reizendes Mädchen, Ihre jüngere Schwester, Mrs. Elton!«

 

Martin zuckte zusammen, aber Dora hatte ihre Fassung wiedergewonnen.

 

»Sie meinen Audrey?« erwiderte sie lachend. »Ich bin ein volles Jahr jünger als sie!«

 

Slick sah sie prüfend an.

 

»Man scheint sich allseitig sehr für Ihre Schwester zu interessieren«, bemerkte er nachdenklich. »Jetzt hat schon der dritte Mann versucht, sie im Palace-Hotel zu fangen, und auch diesem dritten ist es mißlungen. Ich habe eine Ahnung, als ob ich noch zur Beerdigung des vierten gehen würde!«