Kapitel 15

 

15

 

Lacy Marshalt war in schlimmster Laune. Shannons Knöchel hatten rote Flecke auf seinem Gesicht hinterlassen, und er hatte eine schlaflose Nacht verbracht. Er saß noch beim Frühstück, als Tonger hereinkam und Mr. Elton anmeldete.

 

»Guten Morgen, Elton!«

 

»Guten Morgen, Marshalt!«

 

Martin legte Zylinder und Stock beiseite und begann langsam, seine Handschuhe auszuziehen. Dann zog er einen Stuhl heran.

 

»Ich schrieb Ihnen kürzlich und ersuchte Sie, meine Frau nicht wieder zu Tisch einzuladen«, sagte er ruhig. »Seit dieser Warnung ist sie trotzdem zweimal bei Ihnen gewesen. Das darf nicht wieder vorkommen.«

 

»Ihre Frau war gestern mit ihrer Schwester hier. Audrey aß bei mir, und Dora kam her, um sie abzuholen …«

 

»Aber an jenem Konzertabend war Audrey doch wohl nicht hier?« fragte Elton mit einem bitteren Lächeln.

 

Marshalt antwortete nicht.

 

»Für die Gelegenheit wird sich schwer eine Ausrede finden lassen. Sie sind ein schlauer Kerl, Marshalt – ein dunkler Kunde allerdings auch, wenn ich nicht sehr irre. Ich denke, es ist nicht erforderlich, daß ich die üblichen heroischen Redensarten vorbringe und Sie zum Beispiel darauf hinweise, daß es besser ist, ein lebendiger Millionär zu sein als – sonst etwas. Die Geschworenen würden Ihren Anverwandten vermutlich ihr Beileid aussprechen – eine Auszeichnung, die mir nicht zuteil werden dürfte. Aber es ist viel angenehmer, einen Bericht über das Ableben anderer Leute zu lesen, als die Hauptrolle bei dem eigenen zu spielen.«

 

Er erhob sich wieder und griff nach Stock und Hut.

 

»Guten Morgen, Mr. Marshalt. Sie brauchen meine Frau nicht erst anzurufen. Ich habe unseren Apparat vorsichtshalber in Unordnung gebracht, bevor ich das Haus verließ.«

 

Er nickte ihm noch einmal zu und ging.

 

An einem strahlenden Wintertag seufzte Audrey erleichtert auf, als sie gegen Mittag ihre täglichen Schreibereien erledigt und das große, schwere Kuvert in den Hotelbriefkasten gesteckt hatte.

 

Wer war nur dieser Mr. Malpas, und welche Geschäfte betrieb er? Mit Unbehagen dachte sie an die bevorstehende Unterredung, die vielleicht ein enttäuschendes Ende für sie nehmen würde. Aber noch mehr beschäftigte sie die Freundschaft, die zwischen ihrer Schwester und Marshalt zu bestehen schien. Sie war entsetzt darüber und hätte trotz aller bösen Erfahrungen dieses Verhalten nicht von Dora erwartet.

 

Als sie zum Lunch hinunterging, überreichte ihr der Portier einen Brief, der eben für sie abgegeben worden war. Sie erkannte die Handschrift auf den ersten Blick und las die Mitteilung staunend:

 

 

»Ich verbiete Ihnen, Marshalt wiederzusehen. Der Antrag, den er Ihnen heute machen wird, muß abgelehnt werden.

 

Malpas.«

 

 

Ungehalten über diesen gebieterischen Ton steckte sie den Brief ein und ging zum Speisesaal. Sie war noch nicht mit ihrer Mahlzeit fertig, als ein Angestellter ihr auch schon das angekündigte Schreiben von Marshalt brachte. Der Mann begann mit demütigen Entschuldigungen, erklärte, daß er sich selbst sein rohes Benehmen niemals verzeihen könne, und schloß mit den Worten:

 

»Aber ich kenne Sie länger, als Sie ahnen, und ich liebe Sie heiß und aufrichtig. Wenn Sie einwilligen, meine Frau zu werden, machen Sie mich zum Glücklichsten aller Sterblichen.«

 

Ein Heiratsantrag! Empört stand sie auf, um ihre Antwort unverzüglich zu Papier zu bringen.

 

 

»Ich danke Ihnen für Ihre Zeilen, die wohl ein Kompliment für mich bedeuten sollen, aber ich bedaure, Ihren Antrag nicht in Erwägung ziehen zu können.

 

Audrey Bedford.«

 

 

»Senden Sie das durch Eilboten ab!« sagte sie zu dem Portier.

 

Sie hatte einen Entschluß gefaßt, und am Nachmittag fuhr sie zur Curzon Street. Das Dienstmädchen erkannte sie nicht wieder und meldete sie Mrs. Elton als »Miß Audrey«.

 

Wenige Minuten später standen sich die beiden Schwestern gegenüber. Dora sah die Besucherin zornglühend an.

 

»Nur ein paar Worte«, sagte Audrey.

 

»Jede Sekunde, die du in meinem Haus verbringst, ist zuviel! Was willst du?«

 

»Ich möchte dich bitten, Marshalt aufzugeben, Dora.«

 

»Um ihn dir zu überlassen?«

 

»O nein, ich verachte ihn. Ich will nicht predigen, Dora, aber Martin ist doch nun einmal dein Mann, nicht wahr?«

 

»Ja, er ist mein Mann.«

 

Das klang so verzweifelt, daß Audrey unwillkürlich Mitleid fühlte und sich ihrer Schwester näherte. Aber Dora wich mit haßerfüllten Blicken von ihr zurück.

 

»Rühr mich nicht an, du Gefängnisdirne! Du willst, daß ich Marshalt aufgebe, daß ich ihn dir überlasse? Ach, wie ich dich hasse! Von jeher hab‘ ich dich gehaßt! Marshalt aufgeben? Ich werde ihn heiraten, sobald ich Martin los – sobald es soweit ist. Hinaus mit dir, Audrey Torrington!«

 

»Torrington!« wiederholte Audrey tonlos. Dann wandte sie sich ab, ging zur Tür hinaus und die Treppe hinab.

 

Aber nun geriet Dora außer sich.

 

»Du hinterlistige Diebin!« schrie sie. »Dich will er heiraten! Aber das soll niemals geschehen – nie!« Im Nu hatte sie aus einer an der Wand befestigten Waffentrophäe einen langen Dolch herausgerissen und stieß zu. Audrey duckte sich instinktiv, und der Dolch fuhr in den Türpfosten. Dora zog ihn heraus und stieß wieder zu. In ihrer Todesangst strauchelte Audrey und fiel.

 

»Jetzt hab‘ ich dich!« kreischte Dora wie wahnsinnig und hob die Waffe.

 

Aber plötzlich packte jemand ihr Handgelenk. Sie fuhr herum und starrte in ein Paar belustigte Augen.

 

»Wenn ich eine Filmaufnahme unterbreche, tut es mir leid«, sagte Slick Smith. »Aber vor Stahl habe ich Angst – richtige Angst!«

 

 

Slick Smith führte die fassungslose junge Frau nach oben, brachte ihr ein Glas Wasser und sprach beschwichtigend auf sie ein.

 

»Daß sich die Frauen doch immer wieder über irgendeinen Mann bei den Haaren kriegen! Und dieses Mädchen scheint so nett zu sein. Sie ging doch ins Gefängnis, um Sie zu retten?«

 

Erst jetzt kam Dora zum Bewußtsein, daß er ein Fremder für sie war.

 

»Wer sind Sie?« fragte sie mit stockender Stimme.

 

»Ihr Mann kennt mich. Ich bin Smith – Slick Smith aus Boston. Verehrte Mrs. Elton – er ist es nicht wert!«

 

»Nicht wert? Von wem sprechen Sie denn?«

 

»Von Lacy Marshalt. Das ist ein ganz übler Bursche – das müssen Sie doch schon gemerkt haben. Martin mag ich leiden, und es würde mir verdammt leid tun, wenn er gerade in dem Augenblick gefaßt würde, in dem er den Revolver auf sich selbst richtete. So was kommt vor. Und vielleicht würden Sie im Gerichtssaal sitzen, und er würde Ihnen zulächeln, wenn der Richter die schwarze Kappe aufsetzte, bevor er Elton nach der Totenzelle schickte. Und Sie würden wie gelähmt sein und daran denken, welch ein elender Kerl Marshalt war, und daß Sie beide Männer ins Grab gebracht haben.«

 

»Hören Sie auf! Sie machen mich verrückt –«

 

»Sie wissen nicht, was für ein Hundsfott dieser Marshalt ist –«

 

Sie hob abwehrend die Hand.

 

»Ich weiß … bitte, gehen Sie jetzt!«

 

Als Slick Smith das Haus verließ, kam Elton gerade die Stufen herauf.

 

»Zum Teufel, was suchen Sie denn hier?« fragte er gereizt.

 

»Ich wollte Ihnen sagen, daß Sie sich in acht nehmen und nicht so leichtgläubig sein sollten. Das vortrefflich gemachte Geld, das Stanford Ihnen andrehen will, wurde auch mir angeboten. Giovanni Strepesi in Genua verfertigt es und hat schon eine Menge in Umlauf gesetzt, aber – als Nebengeschäft ist Einbruch weniger riskant, und Bakkarat eine wahre Sinekure.«

 

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden –« stammelte Martin.

 

»Und ich sage Ihnen, selbst der Schwindel von Malpas ist besser als Stanfords neue Liebhaberei!«

 

»Welchen Schwindel betreibt denn Malpas?«

 

Slick überlegte einen Augenblick.

 

»Ich weiß es nicht genau. Aber ich rate Ihnen, nie allein zu ihm ins Haus zu gehen! Ich sah ihn einmal – aber er bemerkte mich nicht. Deshalb bin ich noch am Leben, Elton.«

 

Kapitel 16

 

16

 

Am Sonnabendmorgen saß Marshalt in seinem Studierzimmer am Schreibtisch, als Tonger ihm ein Paket Briefe brachte. Der Millionär sah sie rasch durch.

 

»Wieder nichts dabei von unserem Freund aus Matjesfontein«, sagte er dann unmutig. »Seit vier Wochen hat der Kerl nichts von sich hören lassen!«

 

»Vielleicht ist er tot«, meinte Tonger.

 

»Es könnte ja auch sein, daß Torrington etwas zugestoßen wäre.«

 

»Sie sind ein Optimist, Lacy!« spottete Tonger, wurde dann aber nachdenklich. »Vielleicht kann er doch nicht schwimmen«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu.

 

Lacy blickte rasch auf.

 

»Was soll denn das heißen?«

 

»Die Kinder eines königlichen Kommissars sollten eigentlich auch schwimmen können«, fuhr Tonger fort. »Oder wenn sie es nicht können –«

 

Lacy schwang sich auf seinem Stuhl herum.

 

»Jetzt hab‘ ich aber dein Gefasel satt!« rief er ungeduldig. »Sage jetzt gefälligst, was du meinst.«

 

»Na, vor ungefähr anderthalb Jahren nahmen die Kinder von Lord Gilbury ein Segelboot und fuhren in die Tafelbai hinaus. Hinter dem Wellenbrecher kenterte das Boot, und sie wären ertrunken, wenn nicht einer der Sträflinge, die dort arbeiteten, ins Wasser gesprungen und hingeschwommen wäre. Der hat sie gerettet.«

 

Lacys Mund stand weit offen.

 

»War das Torrington?« fragte er leise.

 

Tonger zuckte die Schultern.

 

»Ein Name wurde nicht genannt. In den Zeitungen stand nur, daß der Sträfling lahm war, und daß man von einer Begnadigung spräche.«

 

Wütend sprang Lacy auf und schlug mit der Faust auf den Tisch.

 

»Natürlich! So muß es sein!« stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Er ist frei, und seine Rechtsanwälte halten es geheim. Und du hast es die ganze Zeit gewußt, du Hund!«

 

»Gewußt habe ich nichts«, erwiderte Tonger gekränkt. »Vermutet habe ich es allerdings. Aber glauben Sie, Dan Torrington würde Sie in Frieden lassen, wenn er ein freier Mann wäre? Und warum sollte ich Ihnen mit solchen Gerüchten Angst machen? Ich weiß, daß ich Ihnen viel Dank schuldig bin, Lacy, und ich kenne Ihre guten und Ihre schlechten Seiten. Und ich hab‘ wahrhaftig keinen Grund, Torrington zu lieben. Wollte er nicht gerade an dem Tag, an dem Sie ihn faßten, mit meiner kleinen Elsie auf und davongehen?« Er griff in die Tasche und holte einen zerlesenen Brief hervor. »Die ganzen Jahre hab‘ ich ihn mit mir herumgetragen. Es ist der erste Brief, den sie mir aus New York schrieb. Hören Sie zu:

 

 

›Liebes Väterchen, ich möchte Dir doch sagen, daß ich ganz zufrieden bin. Ich weiß, daß Torrington verhaftet ist, und in mancher Hinsicht bin ich froh darüber, daß ich auf seinen Wunsch hin hierher vorausreiste. Väterchen, willst Du mir verzeihen und mir glauben, daß ich zufrieden bin? Ich habe hier in der Riesenstadt neue Freunde gefunden, und mit dem Geld, das mir Torrington gab, habe ich ein ganz einträgliches, kleines Geschäft gegründet. Nach Jahren, wenn alles vergessen ist, werde ich zu dir zurückkehren.‹«

 

 

Vorsichtig legte er das dünne Blatt wieder zusammen und schob es in die Tasche.

 

»Nein, ich habe keinen Grund, Torrington zu lieben«, sagte er, »aber viel Grund, ihn zu hassen.«

 

»Haß ist Furcht«, murmelte Lacy. »Du fürchtest ihn auch.«

 

Unruhig ging er im Zimmer auf und ab.

 

»Mrs. Elton sagt, sie hätte einen hinkenden Mann gesehen –«

 

»Ach was! Solche Damen sind immer nervös und sehen alles mögliche –« Er unterbrach sich plötzlich, denn es klopfte dreimal gedämpft, aber deutlich an die Wand.

 

Lacy blieb stehen und wurde totenbleich.

 

»Was – was ist das?« flüsterte er mit zitternden Lippen.

 

»Ach, irgendein Gehämmer. Vielleicht hängt der alte Mann Bilder auf.«

 

Lacy feuchtete seine trockenen Lippen mit der Zunge an und riß sich zusammen.

 

»Du kannst gehen. Heute nachmittag mußt du aber nach Paris fahren.«

 

»Nach Paris? Was soll ich in Paris – ich kann doch kein Wort Französisch, und Seefahrten bekommen mir nicht. Schicken Sie doch jemand anders!«

 

»Es muß ein Mann sein, auf den ich mich verlassen kann. Ich werde Croydon anrufen, damit sie ein Flugzeug bereithalten. Dann kannst du noch vor Einbruch der Nacht zurück sein.«

 

»Flugzeuge sind auch nicht mein Geschmack! Wann komme ich denn zurück – wenn der Fall überhaupt eintritt?«

 

»Um zwölf fliegst du ab, um zwei bist du in Paris, gibst den Brief ab, und um drei bist du schon wieder auf der Rückreise.«

 

»Na, wenn es sein muß –« knurrte Tonger. »Wo haben Sie den Brief?«

 

»In einer Stunde kannst du ihn dir holen.«

 

Als Lacy allein war, meldete er erst ein Gespräch nach Paris an, ließ sich dann mit Stormers Detektivagentur verbinden und ersuchte, Mr. Willitt sofort zu ihm zu schicken. Darauf setzte er sich an den Schreibtisch und hatte seinen Brief gerade geschrieben und zugesiegelt, als Mr. Willitt auch schon gemeldet wurde.

 

»Wenn ich nicht irre, sind Sie der Chef der Agentur?« begann Lacy sofort und deutete auf einen Stuhl.

 

Willitt schüttelte den Kopf.

 

»Nur Stellvertreter. Mr. Stormer verbringt seine Zeit meistens bei unserer New Yorker Zweigagentur. In Amerika nehmen wir eine viel bedeutendere Stellung ein und werden oft mit Regierungsaufträgen betraut. Hier in England –«

 

»Ich habe einen Auftrag für Sie«, fiel ihm Lacy ins Wort. »Haben Sie schon einmal von einem gewissen Malpas gehört?«

 

»Von dem alten Mann, der nebenan wohnt? O ja! Wir wurden bereits ersucht, seine Persönlichkeit festzustellen – unsere Auftraggeber möchten eine Photographie von ihm haben.«

 

»Wer sind die Leute?«

 

»Das kann ich Ihnen leider nicht mitteilen.«

 

Lacy holte ein Bündel Banknoten heraus, wählte zwei aus und schob sie dem Detektiv hin.

 

»Hm.« Der Mann lächelte verlegen. »Vielleicht kann ich dieses eine Mal eine Ausnahme machen. Es handelt sich um einen gewissen Laker, der vor einiger Zeit verschwand.«

 

»Laker? Den kenne ich nicht. Sind Sie denn an den alten Mann herangekommen?«

 

»Nein, der lebt wie eine Auster.«

 

Lacy überlegte eine Weile.

 

»Ich wünsche, daß Sie ihn unausgesetzt bewachen. Beobachten Sie das Haus Tag und Nacht von allen Seiten. Stellen Sie auch einen Mann oben auf dem Dach meines Hauses auf.«

 

»Dazu würde ich sechs Leute brauchen«, meinte Willitt und zog sein Notizbuch hervor. »Und was sollen sie tun?«

 

»Ihm folgen und feststellen, wer er ist. Und wenn möglich, mir eine Photographie von ihm verschaffen.«

 

»Von wann ab?«

 

»Sofort. Ich werde veranlassen, daß der Mann, den Sie aufs Dach beordern, eingelassen wird. Mein Diener Tonger wird dafür sorgen, daß es ihm an nichts fehlt.«

 

Der Detektiv empfahl sich, als sich das Pariser Telephonamt meldete, und Lacy Marshalt gab in geläufigem Französisch eine Reihe von Anordnungen.

 

Kapitel 13

 

13

 

Audrey Bedford hatte von unbekannter Hand einen Brief erhalten, der folgenden Inhalt hatte:

 

 

»Sehr geehrte Miß Bedford,

angesichts des ungeheuerlichen Fehlurteils, dem Sie zum Opfer fielen, würde es mir eine Freude sein, Ihnen behilflich zu sein. Ich bitte Sie, mich deshalb morgen abend um halb acht aufzusuchen. Meine Adresse finden Sie oben. Ich glaube, daß ich Ihnen eine zusagende Beschäftigung verschaffen könnte.

 

Ihr sehr ergebener

Lacy Marshalt.

 

P.S. Ich bitte um freundliche Drahtantwort.«

 

 

Sie grübelte den ganzen Morgen über diesen Brief nach. Marshalts Name war ihr bekannt, und nachdem sie mit Hilfe eines Nachschlagebuches festgestellt hatte, daß es eine Mrs. Marshalt gab, sandte sie mittags ein zustimmendes Telegramm ab. Sie konnte ja unmöglich wissen, daß die erwähnte Mrs. Marshalt nur eine Finte war, die dem lebenslustigen Millionär seit fünfundzwanzig Jahren gute Dienste leistete. Da er nie von seiner Frau sprach, nahm man allgemein an, daß eine Entfremdung vorläge, und bedauerte ihn.

 

Bei ihrer Ankunft in Portman Square wurde Audrey von einem korrekt gekleideten Hausmädchen empfangen. Sie sah in ihrem einfachen, schwarzen Abendkleid so entzückend aus, daß Marshalt sie überrascht anstarrte, während sie sich vergeblich nach Mrs. Marshalt umsah.

 

»Ich hoffe, daß Ihnen ein Diner zu zweien nicht unangenehm ist«, sagte er und hielt ihre kleine Hand nicht länger als üblich in der seinen. »Vor zwanzig Jahren liebte ich große Gesellschaften, aber jetzt hasse ich sie.«

 

Diese zarte Betonung seines Alters wirkte beruhigend auf sie.

 

»Es war sehr freundlich von Ihnen, mich einzuladen, Mr. Marshalt, trotzdem Sie meine Vorgeschichte kennen«, erwiderte sie lächelnd.

 

»Sie waren doch vollkommen unschuldig«, erklärte er mit einem Achselzucken. »Ich hatte sogar den Eindruck, daß Sie sich für andere aufopferten, und bewunderte Sie deshalb. Ich glaube, daß ich Ihnen helfen kann –«

 

»Eine Anstellung habe ich ja bereits, aber ich bin nicht sehr begeistert davon. Ihr Nachbar, Mr. Malpas, beschäftigt mich mit Schreibarbeiten.«

 

Es wurde gemeldet, daß angerichtet sei, und sie gingen zu dem elegant ausgestatteten Speisezimmer. Als sie eintraten, blieb Lacy etwas zurück und sprach leise mit dem Mädchen, worüber Audrey sich etwas wunderte.

 

Plötzlich fiel ihr ein, daß nur diese Wand sie von dem Haus ihres geheimnisvollen Arbeitgebers trennte.

 

Tapp, tapp, tapp!

 

Im Malpas’schen Haus klopfte jemand an die Wand.

 

Tapp, tapp, tapp!

 

Es klang fast wie eine Warnung … aber wie konnte der alte Mann wissen …?

 

Nach dem Kaffee lehnte Audrey dankend eine Zigarette ab, warf einen Blick auf die Kaminuhr und erhob sich.

 

»Sie werden verzeihen, wenn ich so früh aufbreche, Mr. Marshalt, aber ich habe noch zu tun.«

 

»Das hat doch Zeit! Miß Bedford, ich möchte Sie vor Mr. Malpas warnen. Ich glaube, hinter seinem Entgegenkommen verbergen sich sehr häßliche Absichten.«

 

»Mr. Marshalt!« rief sie empört. »Wie können Sie so etwas sagen! Sie haben mir doch selbst erzählt, daß Sie den Herrn gar nicht kennen!«

 

»Ich habe meine Informationsquellen. Bitte, nehmen Sie doch wieder Platz. Es ist ja kaum neun Uhr!«

 

Mit innerem Widerstreben folgte sie seiner Aufforderung.

 

»Ich kenne Sie bereits länger, als Sie ahnen. Sie werden sich wohl kaum daran erinnern, mich in Fontwell gesehen zu haben? Aber ich versichere Ihnen, daß sich mir Ihr Bild seitdem unauslöschlich eingeprägt hat. Audrey, ich habe Sie sehr lieb.«

 

Sie stand wieder auf, und auch er erhob sich.

 

»Ich kann Ihnen den Lebensweg sehr angenehm machen, liebes Kind.«

 

»Ich ziehe aber einen rauheren Weg vor«, entgegnete sie gelassen und ging auf die Tür zu.

 

»Noch einen Augenblick!« bat er.

 

»Sie verschwenden nur Ihre Zeit, Mr. Marshalt. Ich verstehe dunkel, was Sie mir vorschlagen wollen, und ich hoffe, daß ich mich täusche. Törichterweise bin ich zu Ihnen gekommen, weil ich Sie für einen Gentleman hielt, der einer – ungerecht Verurteilten helfen wollte.«

 

Sein Ton änderte sich plötzlich.

 

»Als ob Ihnen das irgend jemand glauben würde!« rief er brutal und lachte laut. »Seien Sie doch vernünftig, und laufen Sie nicht davon. Dieser Teil des Hauses ist vollständig von dem übrigen Gebäude abgesperrt, und die Tür ist verschlossen.«

 

Sie eilte hin und rüttelte an dem Griff, aber sie fand seine Worte bestätigt. Im Nu hatte er sie eingeholt, hob sie auf und trug sie zurück. Mit fast übermenschlicher Anstrengung befreite sie sich, ergriff ein spitzes Tranchiermesser, das auf dem Tisch lag und wandte sich ihm zu.

 

»Wenn Sie mich anrühren, bringe ich Sie um! Öffnen Sie sofort die Tür!«

 

Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und schloß auf.

 

»Wollen Sie mir verzeihen?« flüsterte er.

 

Ohne zu antworten, ging sie an ihm vorüber und ließ das Messer fallen.

 

»Nach rechts!« rief er leise, und sie bog wirklich in den schmalen Gang ein, obwohl ihr ein Instinkt sagte, daß sie geradeaus gehen müßte. Bevor sie sich der Gefahr bewußt wurde, kam er hinter ihr her. Sie floh den Korridor entlang und mehrere Treppen nach oben, aber dann sah sie, daß es nicht weiterging. Über ihr befand sich nur ein unerreichbares Oberlichtfenster. Leise und behutsam schlich sie wieder nach unten. Plötzlich vernahm sie eine schluchzende Frauenstimme, wußte jedoch nicht, ob die Laute von oben, von unten oder von nebenan, aus Mr. Malpas‘ Haus, kamen. Sie horchte angestrengt, bis das Schluchzen leiser wurde und verstummte. Von Marshalt war nichts zu sehen, und sie erreichte schließlich den kleinen Vorplatz, hinter dem die Freiheit winkte.

 

Aber dort ergriffen sie plötzlich wieder zwei starke Arme, und sie wurde ins Eßzimmer zurückgeschleppt.

 

»So, mein Schatz!« rief Marshalt und schob sie in einen tiefen Lehnsessel. »Nun wirst du wohl Vernunft annehmen. Ich kann dir alles geben, was dein Herz begehrt. Für mich bist du die einzige Frau, die meiner Liebe wert ist …«

 

»Verschwenden Sie keine Worte mehr, Mr. Marshalt«, erwiderte sie und wandte den Blick nicht von ihm. »Ich werde ins Hotel zurückkehren, Captain Shannon anrufen und ihm mitteilen, was sich hier zugetragen hat.«

 

Er lachte laut auf.

 

»Ach, du willst mir mit der Polizei drohen, mein liebes Kind? Wie altmodisch! Übrigens ist Shannon ein Weltmann. Er weiß, daß ich mir keine Dame aus Holloway einladen würde, wenn … Na, nimm deinen Verstand zusammen, Liebling! Und er weiß auch, daß du die Einladung nicht angenommen hättest, wenn du nicht mit meiner Liebeserklärung gerechnet hättest.«

 

»Bei manchen Mädchen mag das stimmen, aber ich bin anders.«

 

»Bei Gott, das bist du! Und deshalb mag ich dich ja so gern!« Er riß sie empor und zog sie in seine Arme.

 

Sie fühlte sich entsetzlich hilflos und elend und glaubte, daß sie im nächsten Augenblick das Bewußtsein verlieren würde. Aber im selben Moment hörte sie ein leises Rasseln im Schloß. Er hatte es auch vernommen und ließ sie so jäh los, daß sie in die Knie sank. Als er sich hastig umwandte, ging die Tür auf, und eine schwarzgekleidete Frau stand auf der Schwelle. Drohend und düster starrte sie auf das Mädchen.

 

Es war Dora Elton, und Audrey sah den Haß in den Augen ihrer Schwester. Schaudernd fuhr sie zusammen.

 

»Ich störe wohl«, sagte Dora und begegnete Lacys zornigem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

 

Audrey erhob sich mühsam, ging mit zitternden Knien hinaus, griff nach ihrem Cape und trat in die kalte, reine Nachtluft hinaus.

 

Marshalt schenkte sich mit unsicherer Hand ein Glas Wein ein und goß es hinunter.

 

»Wenn du glaubst, daß ich in dieses Schaf Gottes verliebt bin, dann irrst du dich gewaltig«, sagte er. »Komm her, ich will dir etwas gestehen, und das mußt du mir glauben. Es gibt einen Mann, den ich mehr hasse als alle anderen Menschen auf der Welt. Und dieser Mann ist Audrey Bedfords Vater.«

 

»Sie heißt gar nicht Bedford!«

 

»Du hast recht. Sie heißt Torrington. Dan Torrington und ich sind alte Feinde. Ich habe eine lange Rechnung und bin noch durchaus nicht damit fertig.«

 

»Ihr Vater ist ein Sträfling«, erwiderte Dora finster.

 

»Ja, er sitzt in lebenslänglicher Haft in Kapstadt. Wenn ich eine bessere Büchse gehabt hätte, wäre er ein toter Mann gewesen. Aber er hatte Glück: ich traf ihn nur ins Bein und schoß ihn lahm. Wenn die Detektive ihn nicht in demselben Augenblick gefaßt hätten, wäre es wohl mit mir aus gewesen.«

 

»Du hast ihn verhaften lassen?« rief sie.

 

»Ja. Ich leitete den Geheimdienst für die Streams Diamond Corporation und entdeckte, daß Dan Torrington einen kleinen, unerlaubten Diamantenhandel betrieb. Ich stellte ihm eine Falle. Das ist die ganze Geschichte. Nur wurde er noch strenger bestraft, weil er auf mich geschossen hatte.«

 

Doras Zorn war verflogen.

 

»Ist das wirklich wahr, Lacy?« fragte sie. »Aber wie kannst du dich denn dadurch an Torrington rächen, daß du eine Liebschaft mit diesem Mädchen unterhältst?«

 

»Ich wollte sie heiraten.«

 

»Heiraten!« stieß sie atemlos hervor. »Du sagtest doch, daß du niemals heiraten würdest!«

 

Er zog sie neben sich auf das Sofa und versuchte sie zu beruhigen.

 

»Die Sache liegt so. Als Torrington damals Diamanten von den Eingeborenen kaufte, besaß er die Farm Graspan. Nun gibt es tausend Graspans in Südafrika, aber dieses Graspan lag an einem der Flüsse, nach denen Fourteen Streams genannt wurde. Er war kaum zur Zwangsarbeit weggeschickt worden, als auf seiner Farm Diamanten entdeckt wurden. Das habe ich erst kürzlich erfahren, weil die Mine unter dem Namen seiner Rechtsanwälte Hallam E Coold betrieben wurde und noch heute Hallam E Coold Mine heißt. Dan Torrington ist also Millionär, und zwar ein sterbender Millionär. Seit ich wieder in England bin, bekomme ich von einem der Gefängniswärter regelmäßig Berichte über den Mann, und das letztemal schrieb er, es ginge mit ihm zu Ende.«

 

»Und wenn du Audrey heiratest –«

 

Er lachte.

 

»Ganz recht! Dann bin ich ein steinreicher Mann!«

 

»Aber das bist du doch jetzt schon!«

 

Sein Gesicht verfinsterte sich.

 

»Ja, ich bin reich«, sagte er hart, »aber ich will noch reicher werden.«

 

Es klopfte.

 

»Wer ist da?« rief er gereizt.

 

»Ein Herr wünscht Sie zu sprechen. Er sagt, es wäre dringend.«

 

»Ich kann jetzt niemand empfangen. Wer ist es denn?«

 

»Captain Shannon.«

 

Dora sah ihn entsetzt an.

 

»Er darf mich nicht sehen«, flüsterte sie. »Wo soll ich hin?«

 

»Durch den Wintergarten und über den Hof!« erwiderte Marshalt ärgerlich.

 

Er hatte sie kaum in die dunkle Bibliothek geschoben und die Tür hinter ihr geschlossen, als Dick Shannon eintrat. Er war im Frack, und sein Gesichtsausdruck verriet seine Stimmung.

 

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Marshalt.«

 

»Mr. Marshalt«, brummte der Millionär, der nichts Gutes ahnte.

 

»Sie hatten heute abend eine Dame eingeladen.«

 

»Vielleicht hat sie sich selbst eingeladen?«

 

»Sie luden sie ein und beleidigten sie in der gröblichsten Weise.«

 

»Mein Lieber, Sie sind doch ein Weltmann. Glauben Sie etwa, daß dieses Mädchen zu mir kam, ohne – nun, sagen wir einmal, ohne gewisse Möglichkeiten ins Auge zu fassen?«

 

Eine Sekunde lang starrte Dick Shannon den Mann drohend an, dann schlug er ihm mit dem Handrücken ins Gesicht, so daß er mit einem Aufschrei zurücktaumelte.

 

»Das ist eine Lüge, die Sie nicht wiederholen werden«, sagte Dick leise.

 

»Und Sie nennen sich einen Polizeibeamten – gehört ein solches Benehmen vielleicht auch zu Ihren Amtspflichten?« schrie ihn Marshalt an.

 

»Ich kenne meine Pflichten sehr gut«, erwiderte Shannon streng. »An der Außenwand von Old Bailey ist eingegraben: ›Schützt die Kinder der Armen und straft die Übeltäter.‹«

 

Kapitel 1

 

1

 

Graue Nebelschleier lagen über London, als in den Abendstunden ein Mann mit unsicheren Schritten in den Portman Square einbog und nach einigem Suchen vor Nr. 551 anhielt. Während er zu den dunklen Fenstern hinaufstarrte, verzog sich sein Mund zu einem widerwärtigen Grinsen.

 

Diesem alten Teufel wollte er schon beibringen, daß man nicht ungestraft Leute ausplündern konnte! Warum sollte Malpas ein üppiges Leben führen, während sich sein bester Agent elend und kümmerlich durchschlagen mußte? So oft Laker betrunken war, legte er sich diese Frage vor.

 

Seine äußere Erscheinung, die in dieser vornehmen Gegend höchst sonderbar wirkte, verriet allerdings deutlich genug, daß es ihm schlecht ging. Er trug einen schäbigen Anzug, und sein Gesicht, das von der Backe bis zum Kinn von einer häßlichen Narbe entstellt wurde, sah verkommen und unrasiert aus.

 

Nachdem er noch einen kurzen Blick auf seine abgenützten Schuhe geworfen hatte, stieg er die Stufen zur Haustür hinauf und klopfte.

 

»Wer ist da?« fragte sofort eine Stimme von innen.

 

»Laker!« erwiderte er laut.

 

Geräuschlos öffnete sich die Tür. Er trat in die kahle Halle, ging die Treppe hinauf und stand gleich darauf in einem verdunkelten Zimmer. Nur vor dem Mann am Schreibtisch brannte eine schwache Lampe. Laker hatte kaum die Schwelle überschritten, als sich die Tür wieder hinter ihm schloß.

 

»Setzen Sie sich«, sagte der Alte am anderen Ende des Zimmers.

 

Grinsend ließ sich Laker drei Schritte entfernt auf einem Stuhl nieder.

 

»Wann sind Sie gekommen?«

 

»Heute morgen, mit der ›Buluwayo‹. Ich brauche Geld, und zwar schnell, Malpas.«

 

»Legen Sie auf den Tisch, was Sie mitgebracht haben«, entgegnete der alte Mann barsch. »Kommen Sie in einer Viertelstunde wieder, dann können Sie sich das Geld holen.«

 

»Ich will es aber jetzt haben!« rief der Betrunkene trotzig.

 

Malpas wandte ihm sein grauenerregendes Gesicht zu.

 

»Hier gilt nur mein Wille! Sie sind wieder einmal betrunken und benehmen sich danach. Blöder Narr!«

 

»Ich bin nicht so ein blöder Narr, daß ich noch länger diese Gefahren auf mich nehme! Ihnen bekommt die Sache sicher auch bald schlecht. Sie wissen nicht, wer nebenan wohnt.«

 

Malpas zog den Schlafrock enger zusammen und kicherte.

 

»Ich weiß, daß Lacy Marshalt mein Nachbar ist, Sie Dummkopf! Würde ich sonst vielleicht hier wohnen?«

 

Laker starrte ihn mit offenem Munde an.

 

»Was? Aber er gehört doch zu den Leuten, die Sie ausplündern – wenn er auch ein Verbrecher ist, Sie bestehlen ihn! Warum wollen Sie denn neben ihm wohnen?«

 

»Das geht Sie nichts an. Legen Sie jetzt den Kram hin, und machen Sie, daß Sie fortkommen!«

 

»Ich lege nichts hin, und ich gehe auch nicht fort, bis ich alles weiß, Malpas«, erwiderte Laker und stand auf. »Für nichts und wieder nichts sitzen Sie nicht an dem einen Ende dieser dunklen Stube und lassen mich immer am anderen warten. Ich werde Sie jetzt einmal genau betrachten, mein Lieber. Sie sind nicht der, für den Sie sich ausgeben! Rühren Sie sich nicht – Sie können den Revolver in meiner Hand nicht sehen, aber er ist da, verlassen Sie sich darauf!«

 

Er machte zwei Schritte vorwärts, prallte dann aber zurück. Ein in Brusthöhe quer durch das Zimmer gespannter Draht, der im Dunkeln nicht zu sehen war, hielt ihn auf. Im selben Augenblick ging das Licht aus. Wütend bückte er sich, um unter dem Hindernis wegzukommen, verhakte sich aber gleich darauf mit dem Fuß in einem zweiten Draht, der dicht über den Boden gezogen, war, und fiel hin.

 

»Machen Sie Licht, Sie alter Halunke!« schrie er außer sich, als er wieder auf die Beine kam. »Sie nützen mich nur aus – seit Jahren leben Sie von mir, Sie Schurke! Heraus mit dem Geld, oder ich verpfeife Sie bei der Polizei!«

 

»Das ist das drittemal, daß Sie mir drohen!«

 

Die Stimme ertönte hinter Laker. Rasend fuhr er herum und feuerte. Die mit Stoff bespannten Wände dämpften den Knall, aber beim Aufflammen des Mündungsfeuers sah er die Gestalt, die auf die Tür zuschlich, und drückte noch einmal ab.

 

»Machen Sie Licht!« brüllte er wieder, aber schon öffnete sich die Tür, und die Gestalt schlüpfte hinaus. Wenige Sekunden später stand auch Laker auf dem Treppenpodest, aber der alte Mann war verschwunden. Der Betrunkene sah eine andere Tür, warf sich dagegen und rief wild nach Malpas. Er erhielt keine Antwort. Plötzlich sah er etwas auf dem Boden liegen und hob es auf. Es war ein hervorragend gut modelliertes und gefärbtes Wachskinn mit zwei Gummibändern, von denen eins zerrissen war.

 

Laker lachte laut auf.

 

»Malpas, ich habe Ihr halbes Gesicht hier! Kommen Sie heraus, sonst trage ich es zur Polizei. Die Leute holen sich dann vielleicht den anderen Teil!«

 

Als alles stumm blieb, ging er schließlich die Treppe hinunter und versuchte, die Haustür zu öffnen. Aber sie hatte keinen Griff, und das Schlüsselloch war so winzig, daß man nicht hindurchsehen konnte. Fluchend rannte er wieder die Stufen hinauf und hatte fast den ersten Absatz erreicht, als etwas herabfiel. Er schaute nach oben und blickte in das verhaßte Gesicht. Auch das schwarze Gewicht sah er noch und versuchte, ihm auszuweichen. Aber eine Sekunde später glitt er wie ein schwerfälliger Klotz die Treppe hinab.

 

Kapitel 2

 

2

 

In der amerikanischen Botschaft fand ein Ball statt, und schon seit einer Stunde brachten zahllose elegante Limousinen die vornehmen Gäste herbei. Aus einem der letzten Wagen stieg ein etwas untersetzter Herr mit jovialem Gesicht aus. Er nickte dem Polizisten freundlich zu, der den Eingang von neugierigen Zuschauern freihielt, und betrat gleich darauf die große Halle.

 

»Colonel James Bothwell«, sagte er zu dem Diener und ging auf die Empfangsräume zu.

 

»Verzeihung.«

 

Ein hübscher Herr in tadellosem Frack nahm seinen Arm und führte ihn in ein kleines Vorzimmer.

 

Colonel Bothwell zog die Augenbrauen hoch. Er war etwas erstaunt über diese Vertraulichkeit.

 

»Sie irren sich wohl«, sagte er. »Ich glaube nicht –«

 

Die grauen Augen des anderen lächelten ihn freundlich an.

 

»Mein lieber amerikanischer Freund«, begann der Colonel wieder, »Sie täuschen sich bestimmt.«

 

Der Fremde schüttelte sanft den Kopf.

 

»Ich irre mich nie, und ich bin, wie Sie sehr gut wissen, Engländer – ebenso wie Sie. Es tut mir leid, mein armer, alter Slick!«

 

Slick Smith seufzte.

 

»Sehen Sie her, Captain, ich habe eine Einladung. Und wenn mich mein Botschafter zu sehen wünscht, so geht Sie das vermutlich nichts an.«

 

Captain Dick Shannon lächelte.

 

»Er wünscht Sie ja gar nicht zu sehen. Im Gegenteil, es wäre ihm höchst unangenehm, einen so gewandten englischen Dieb in der Nähe von einer Million Dollars in Diamanten zu wissen. Colonel Bothwell vom vierundneunzigsten Kavallerieregiment würde er gewiß gern die Hand drücken, wenn dieser Mann zu Besuch nach London käme, aber den Juwelendieb Slick Smith kann er wirklich nicht gebrauchen!«

 

»Schade! Den Halsschmuck der Königin von Griechenland hätte ich mir doch zu gern angesehen. Es ist vielleicht die letzte Gelegenheit. Zu meinem Unglück bin ich nämlich mit einem Detektivinstinkt begabt, und Sie dürfen mir glauben, daß die Diamantenkette bereits vorgemerkt ist! Eine sehr geschickte Bande ist dahinter her – Namen nenne ich natürlich nicht.«

 

»Sind die Leute hier?« fragte Dick schnell.

 

»Ich weiß es nicht. Das wollte ich ja selbst feststellen. Ich bin in solchen Dingen wie ein Arzt – sehe gern bei Operationen zu. Man lernt dabei immer etwas Neues, was einem nie einfiele, wenn man immer nur seine eigene Arbeit studierte.«

 

Dick Shannon überlegte einen Augenblick.

 

»Warten Sie hier, und lassen Sie das Silber in Frieden«, sagte er dann und ließ Slick allein, der ihm entrüstet nachschaute.

 

Er drängte sich in den überfüllten Räumen durch die Gäste, bis er von einer freien Stelle aus den Botschafter beobachten konnte. Der Amerikaner sprach mit einer hochgewachsenen, müde aussehenden Dame, zu deren Schutz Dick Shannon in die Gesandtschaft beordert worden war.

 

An ihrem Hals glänzte eine Kette, die auch bei der leisesten Bewegung strahlend aufblitzte. Der Detektiv sah sich um und winkte unauffällig einen jungen Mann zu sich, der mit einem der Legationssekretäre sprach.

 

»Steel, Slick Smith ist hier«, flüsterte er ihm zu. »Und er behauptet, daß man versuchen würde, den Schmuck der Königin zu rauben. Sie dürfen sie keine Sekunde aus den Augen lassen. Und sagen Sie irgendeinem Beamten, daß er die Liste der Gäste nachkontrollieren soll. Wenn sich ein Unbefugter findet, bringen Sie ihn zu mir.«

 

Dann kehrte er zu Slick zurück.

 

»Warum sind Sie eigentlich gekommen, wenn Sie von diesem Plan wissen?« fragte er. »Auch wenn Sie nichts damit zu tun haben, werden Sie doch verdächtigt.«

 

»Das dachte ich mir auch schon. Daher kommt ja auch die Unruhe, die mich seit einer Woche plagt.«

 

Die Tür nach der Halle stand offen, und die beiden konnten die Nachzügler beobachten, die verspätet eintrafen. Eben kam ein stattlicher Herr von mittleren Jahren vorüber, der von einer auffallend schönen Frau begleitet wurde. Sie waren schon außer Sicht, bevor Dick sie näher betrachten konnte.

 

»Sieht ganz gut aus«, meinte Slick. »Martin Elton ist übrigens nicht hier. Seine Frau läuft viel mit diesem Lacy herum.«

 

»Lacy?«

 

»Ja, der Honourable Lacy Marshalt. Er ist Millionär und ein gerissener, zäher Kerl. Kennen Sie die Dame, Captain?«

 

Dick nickte. Dora Elton war eine bekannte Persönlichkeit, die bei keiner Veranstaltung der ultramondänen Welt fehlte. Lacy Marshalt kannte er nur dem Namen nach. Er brachte Slick Smith zur Haustür und wartete, bis dieser mit einem Mietauto davongefahren war. Dann kehrte er in den Ballsaal zurück.

 

Um ein Uhr brach zu seiner größten Erleichterung die Königin auf und fuhr zu ihrem Hotel am Buckingham Gate zurück, wo sie inkognito abgestiegen war. Neben dem Chauffeur saß ein bewaffneter Detektiv, und Dick zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie ungefährdet ihr Ziel erreichen würde.

 

Nachdem er sich von dem dankbaren Botschafter verabschiedet hatte, kehrte er nach Scotland Yard zurück. Aber der überaus dichte Nebel ließ nur ein Schneckentempo zu. Als er seinen Wagen nach allerhand Zwischenfällen schließlich in den Hof gesteuert hatte, gab er Auftrag, ihn in die Garage zu bringen.

 

»Ich gehe lieber zu Fuß nach Hause«, sagte er zu dem diensttuenden Beamten. »Das ist sicherer.«

 

»Der Inspektor hat nach Ihnen gefragt«, erwiderte der Mann. »Er ist zum Embankment hinuntergegangen. Sie suchen dort nach der Leiche eines Mannes, der heute abend in den Fluß geworfen wurde.«

 

»Geworfen?« wiederholte Dick bestürzt. »Sie meinen wohl, er ist hineingesprungen?«

 

»Nein. Eine Patrouille der Strompolizei ruderte an der Embankmentmauer entlang, als der Nebel noch nicht so dicht war wie jetzt, und dabei sahen die Leute, wie der Mann aufgehoben und übers Geländer geworfen wurde. Der Sergeant pfiff sofort, aber es war gerade keiner von uns in der Nähe, und so ist der Kerl, der es getan hat, entkommen. Sie suchen jetzt nach der Leiche. Ich sollte es Ihnen mitteilen, wenn Sie kämen, meinte der Inspektor.«

 

Shannon zögerte keinen Augenblick und machte sich sofort wieder auf den Weg. Mühsam tastete er sich durch den Nebel, bis er mit dem Inspektor zusammenstieß.

 

»Ein Mord«, sagte der Beamte. »Eben haben sie die Leiche gefunden. Der Mann ist totgeschlagen und dann ins Wasser geworfen worden. Wenn Sie die Stufen herunterkommen, können Sie ihn sehen.«

 

»Wann ist es denn geschehen?«

 

»Heute – oder vielmehr gestern abend gegen neun. Jetzt haben wir gleich zwei.«

 

Shannon ging hinunter und beugte sich über die dunkle Gestalt, die ein Polizist mit seiner Taschenlampe beleuchtete.

 

»Er hat nichts bei sich«, meldete der Sergeant, »aber seine Persönlichkeit wird sich leicht feststellen lassen. Er hat eine große Narbe im Gesicht.«

 

Als Dick mit dem Inspektor nach Scotland Yard zurückkam, herrschte dort fieberhafte Tätigkeit, denn während ihrer Abwesenheit war eine Nachricht eingelaufen, die auch den letzten Reservedetektiv aus dem Bett jagte.

 

Das Auto der Königin war an der dunkelsten Stelle der Mall überfallen, der Detektiv erschossen und die Diamantkette geraubt worden.

 

Kapitel 11

 

11

 

 

Dick Shannon klopfte heftig an die Glasscheibe seiner Autodroschke, riß das Fenster auf und beugte sich vor.

 

»Wenden Sie und fahren Sie an der anderen Seite entlang«, sagte er. »Ich möchte mit der Dame dort sprechen.«

 

Wenige Augenblicke später stand er Audrey gegenüber und zog lachend den Hut.

 

»Miß Bedford! Das ist aber eine großartige Überraschung!«

 

Und es war wirklich eine Überraschung, und zwar in mehr als einer Beziehung. Audrey war keine Bettelprinzessin mehr, sie war tadellos gekleidet und sah so jung und schön aus, daß sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog.

 

»Ich habe Sie schon wie eine Stecknadel gesucht! Als Sie Holloway verließen, kam ich drei Minuten zu spät, und nachher bildete ich mir unbegreiflicherweise ein, daß Sie sich bei der Polizei melden müßten.«

 

»Nein, das blieb mir erspart. Aber ich sah Sie ein paarmal in Holloway, als Sie dort zu tun hatten.«

 

Sie wußte nicht, daß er nur um ihretwillen hingekommen war, und daß sie ihm die Versetzung aus der Waschküche in die Bibliothek verdankte.

 

»Ich werde jetzt einmal ganz offen und ehrlich mit Ihnen sprechen«, sagte er, als sie zum Hannover Square kamen. »Dora Elton ist doch Ihre Schwester?«

 

»Eigentlich nicht – wenn ich es auch annahm. Wir haben nichts mehr miteinander zu tun. Ein Mädchen mit meiner Vergangenheit ist kein Umgang für Dora. So, nun aber genug von diesem Thema!«

 

»Was machen Sie denn jetzt?«

 

»Ich kopiere Briefe für einen garstig aussehenden alten Herrn und werde ungebührlich gut dafür bezahlt«, erwiderte sie etwas verlegen.

 

»Wir wollen ein wenig in den Park fahren«, meinte er und winkte einen Chauffeur heran. »Dort können wir uns ungestört unterhalten.«

 

In dem menschenleeren Park fanden sie zwei abseits stehende Stühle und ließen sich nieder.

 

»Nun erzählen Sie mir einmal etwas Näheres über diesen garstig aussehenden alten Herrn«, begann Dick.

 

Sie berichtete ihm über ihre Erfahrungen mit Mr. Malpas.

 

»Sie werden es gewiß verächtlich von mir finden, daß ich das Geld überhaupt angenommen habe. Aber wenn man sehr hungrig ist und friert, hat man keine Zeit, über moralische Grundsätze nachzudenken. Als ich mich aber gemütlich im Palace-Hotel eingerichtet hatte, stiegen doch Bedenken in mir auf, und ich wollte gerade in ablehnendem Sinn an Mr. Malpas schreiben, als er mir etwa zehn bis zwölf flüchtig mit Bleistift gekritzelte Briefe sandte und mich ersuchte, sie abzuschreiben und wieder an ihn zurückzuschicken.«

 

»Was für Briefe waren es denn?« fragte er neugierig.

 

»Meistens Ablehnungen von allerlei Einladungen. Er machte zur Bedingung, daß ich sie auf dem Briefpapier des Hotels und nicht mit Maschine schreiben müßte.«

 

»Die Sache gefällt mir nicht«, meinte Dick nachdenklich.

 

»Kennen Sie den Mann?«

 

»Ich weiß allerhand von ihm. Wieviel Gehalt beziehen Sie?«

 

»Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Er gab mir eine runde Summe und ersuchte mich, nach acht Tagen wiederzukommen. Seitdem habe ich alle Tage abgeschrieben, was mir mit der Morgenpost zuging. Es war ein Briefwechsel zwischen dem Gouverneur von Bermuda und dem Britischen Kolonialamt dabei, der gedruckt und wohl aus einem Blaubuch herausgerissen war. Was soll ich nun tun, Mr. Shannon?«

 

»Ja, wenn ich das wüßte! Eins dürfen Sie jedenfalls nicht tun: nächsten Sonnabend wieder allein in dieses sonderbare Haus gehen. Ich werde Sie auf dem Portman Square erwarten und mit Ihnen hineinschlüpfen.« Er sah, daß sie erschrak, und lächelte. »Sie brauchen keine Bedenken wegen etwaiger hinterlistiger Polizeiabsichten meinerseits zu haben. Wir haben nichts weiter gegen Mr. Malpas, als daß er ›geheimnisvoll‹ ist. Ich bleibe nur unten in der Halle in Rufweite. Waren übrigens auch Briefe an Mr. Lacy Marshalt unter den Papieren?«

 

»Nein. Das ist doch der afrikanische Millionär, der neben Malpas wohnt?« Sie erzählte ihm von dem kleinen Zwischenfall, der sich vor Marshalts Haus abgespielt hatte.

 

»Hm! Das ist vielleicht eine kleine nachbarliche Bosheit des Alten. Ich muß einmal mit Marshalt sprechen und ihn fragen, was es eigentlich mit dieser Feindschaft auf sich hat. Aber hier ist es kalt. Kommen Sie mit, wir wollen eine Tasse Kaffee trinken.«

 

 

Tonger schien anfangs nicht geneigt, Shannon zu melden, als er dem Beamten öffnete.

 

»Sie können Mr. Marshalt nur auf Verabredung hin sehen, wenigstens solange ich in der Nähe bin. Hat er Sie für diese Zeit bestellt?«

 

Shannon hatte den Eindruck, daß Tonger hier im Haus noch eine andere Stellung als die eines Kammerdieners einnahm.

 

»Vielleicht bringen Sie ihm meine Karte?« fragte er lächelnd.

 

»Vielleicht – aber wahrscheinlich nicht. Alle möglichen sonderbaren Menschen kommen hierher und wollen Mr. Lacy Marshalt sprechen, weil er freigebig und großzügig ist.« Er griff nach Dicks Karte und las sie. »Ach, Sie sind ein Detektiv? Na, dann kommen Sie herein, Captain. Wollen Sie denn jemand verhaften?«

 

»Wo denken Sie hin! In diesem wunderschön geordneten Haushalt, wo selbst die Bedienten so höflich sind, daß man sie kaum belästigen mag!«

 

Tonger kicherte.

 

»Ich bin kein Bedienter.«

 

»Der Sohn des Hauses?« scherzte Dick. »Oder gar am Ende Mr. Marshalt selbst?«

 

»Gott behüte! Ich möchte sein Geld und seine Verantwortung nicht haben. Bitte, diesen Weg!«

 

Er führte Dick zu einem Salon und folgte ihm.

 

»Es ist doch nichts Ernsthaftes?« fragte er besorgt.

 

»Nicht daß ich wüßte. Dies ist ein freundschaftlicher Besuch.«

 

»Nun gut, ich werde Mr. Marshalt Bescheid sagen.«

 

Er verschwand und kehrte nach kurzer Zeit mit Lacy Marshalt zurück. Als er Miene machte, zu bleiben, deutete der Millionär stumm auf die Tür.

 

»Hoffentlich hat sich Tonger keine Freiheiten herausgenommen«, sagte er, als er mit Dick allein war. »Er ist mit mir zusammen aufgewachsen und stellt meine Geduld manchmal auf harte Proben. Sie kommen von Scotland Yard, Captain Shannon? Was kann ich für Sie tun?«

 

»Vor allem möchte ich wissen, ob Sie Ihren Nachbar, Mr. Malpas, kennen?«

 

»Nein. Ich habe mich nur über das ewige Geklopfe nebenan beschwert –«

 

»Das habe ich gehört. Die Sache ist wohl durch die Distriktspolizei erledigt worden. Sie kennen ihn also nicht?«

 

»Ich habe ihn noch nie gesehen und kann Ihnen deshalb auch nichts Näheres über ihn sagen.«

 

»Wissen Sie auch nicht vom Hörensagen, wie er aussieht, so daß Sie ihn vielleicht als einen Bekannten aus Südafrika identifizieren könnten?«

 

»Nein, ich habe ihn auch nie beschreiben hören. Feinde hat man ja natürlich immer, wenn man es in der Welt zu etwas bringt.«

 

»Ja, man könnte den Eindruck haben, daß Malpas Sie schikanieren will. Und zwar benützt er dazu immer andere Leute. Ich möchte zum Beispiel glauben, daß die betrunkene Frau, die neulich herkam –«

 

»Eine betrunkene Frau?« Marshalts Stirne verdüsterte sich. Er stand auf und klingelte, worauf Tonger eilfertig erschien.

 

Aber auf die ärgerliche Frage seines Herrn hatte er nur eine gleichmütige Antwort.

 

»Ja, die war ordentlich eingeseift! Fiel ins Haus und auch gleich wieder hinaus. Sie sagte, sie wäre Mrs. Lidderley von Fourteen Streams –«

 

Dick Shannon sah den Hausherrn an, während der Diener sprach und bemerkte, daß Marshalts Gesicht leichenblaß wurde.

 

»Mrs. Lidderley?« wiederholte der Millionär langsam. »Wie sah sie denn aus?«

 

»Ach, ein kleines Ding – aber Kräfte hatte sie!«

 

»Klein? Dann hat sie geschwindelt!« Marshalts Stimme klang merklich erleichtert. »Vielleicht kennt sie die Lidderleys. Vor kurzem hörte ich aus Südafrika, daß Mrs. Lidderley schwer krank läge. Hast du sie nach ihrer Adresse gefragt?«

 

»Ich sollte nach der Adresse eines betrunkenen Frauenzimmers fragen? Aber, Lacy –«

 

»Zum Teufel, ich bin Mr. Marshalt für dich!« schrie ihn der Hausherr an. »Wie oft soll ich dir das noch sagen?«

 

»Ach, es fuhr mir eben so heraus!«

 

»Mach, daß du hinauskommst!« Marshalt schlug die Tür hinter seinem respektlosen Diener zu.

 

»Der Mensch macht mich manchmal wirklich nervös«, entschuldigte er sich dann bei Dick. »Als Jungens haben wir uns natürlich Lacy und Jim genannt, und es wird mir jetzt schwer, auf einer passenderen Anrede zu bestehen, aber man muß die äußere Form doch wenigstens bis zu einem gewissen Grade wahren. – Verzeihen Sie die Störung. Um auf Malpas zurückzukommen, so weiß ich tatsächlich nichts über ihn. Es mag allerdings jemand sein, dem ich vor Zeiten einmal auf den Fuß getreten habe … wissen Sie eigentlich, wie er aussieht?«

 

»Alt und furchtbar häßlich, wie ich gehört habe. Außerdem hat er eine Kabarettsängerin beauftragt, Sie zu belästigen, was ja an sich nicht viel auf sich gehabt hätte. Aber Sie haben zufällig eine Abneigung gegen solche Damen.«

 

»Könnten Sie nicht einmal den Mann besuchen?« fragte Marshalt nach einer kurzen Überlegung. »Das klingt natürlich wie eine Zumutung. Aber mir liegt wirklich daran, die Persönlichkeit von Malpas festzustellen.«

 

Dick hatte ohnehin schon beschlossen, sich den geheimnisvollen Mann anzusehen, so daß dieser Vorschlag überflüssig war. Als Tonger die Haustür hinter Shannon geschlossen hatte, schlenderte der Detektiv zu dem Nachbargebäude und blickte zu den öden Fenstern hinauf. Er war schon oft hier gewesen, aber um eine Unterredung hatte er Mr. Malpas noch nicht gebeten. Er suchte nach einer Klingel, fand keine und klopfte schließlich an die Tür. Als alles still blieb, pochte er kräftiger, schrak aber gleich darauf zusammen.

 

»Wer ist da?« fragte eine Stimme, scheinbar dicht an seinem Ohr.

 

Bestürzt sah er sich um, entdeckte aber sofort die Lösung des Rätsels, als er in dem steinernen Türpfeiler ein kleines Gitter bemerkte. Dahinter befand sich ein lautsprechendes Telephon.

 

»Ich bin Captain Shannon von Scotland Yard und möchte Mr. Malpas sprechen«, sagte er.

 

»Sie können Mr. Malpas nicht sprechen«, knurrte die Stimme, und Dick vernahm ein leises Knacken. Obwohl er noch mehrmals klopfte, erhielt er keine Antwort mehr.

 

Kapitel 12

 

12

 

Nur wenige Dienstboten genossen so viel Freiheit und Behaglichkeit wie Tonger, der das ganze oberste Stockwerk des Hauses bewohnte. Marshalt hatte ihm dort ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und ein Bad eingerichtet, und Tonger verbrachte den größten Teil seiner Abende in seinen eigenen Räumen, wo er mit Hilfe eines kleinen Roulettespiels endlose mathematische Berechnungen anstellte. Es war sein Ehrgeiz, die Kasinodirektion von Monte Carlo durch ein von ihm erfundenes unfehlbares System in Schrecken und Verzweiflung zu bringen.

 

An diesem Abend war er jedoch anderweitig beschäftigt, als die Klingel über seiner Tür ertönte, und er machte sie sorgsam hinter sich zu, bevor er zu Lacy hinunterging, der bereits ungeduldig wurde.

 

»Erwarte Mrs. Elton um sieben Uhr fünfundvierzig an der Hintertür«, befahl er ihm, »und laß sie herein. Dann bringst du das Auto zur Albert Hall und parkst bei den anderen, bis das Konzert vorbei ist. Nachher kommst du wieder an die Hintertür zurück.«

 

»Ist das nicht ein bißchen gefährlich nach dem Brief, den Sie von Elton erhalten haben?«

 

»Was weißt du denn von dem Brief? Ich hatte ihn doch eingeschlossen!«

 

»Ach, das ist doch gleichgültig. Ich habe ihn jedenfalls gelesen, und ich sage Ihnen, daß es gefährlich ist. In einem Scheidungsprozeß möchten Sie doch wohl nicht auftreten?«

 

»Mit dir als Zeuge!« höhnte Marshalt.

 

»Sie wissen sehr gut, daß ich nie gegen Sie aussagen würde«, erwiderte Tonger gelassen. »Das liegt mir nicht. Aber wenn ein Kerl wie Elton mir schriebe, er würde mich niederschießen, wenn er mich noch einmal mit seiner Frau zusammensähe, würde ich mir die Sache doch sehr überlegen.«

 

»Mrs. Elton hat geschäftliche Angelegenheiten mit mir zu besprechen«, sagte Marshalt kalt. »Tu das, was ich dir sage.«

 

»Das Auto vor der Albert Hall soll beweisen, daß Mrs. Elton das Konzert mit angehört hat!« kicherte Tonger. »Was wollte denn der Detektiv? Kam der auch wegen Mrs. Elton?«

 

»Unsinn! Er wollte sich nur nach dem verrückten Kerl nebenan erkundigen. So, das ist alles. Morgen abend esse ich zu Hause, und wenn ich Glück habe, mit einem sehr interessanten Gast.«

 

»Haben Sie das Mädchen gefunden, hinter dem der Privatdetektiv her war?« fragte Tonger lebhaft.

 

»Woher weißt du denn nun das schon wieder?! Ja, ich hoffe, daß sie kommt. Übrigens brauchst du dabei nicht in Erscheinung zu treten. Das Hausmädchen kann bei Tisch aufwarten.«

 

»Um törichten Jungfrauen Vertrauen einzuflößen«, bemerkte Tonger und verließ das Zimmer …

 

Gegen halb zwölf hielt er wieder mit dem Auto an der Hintertür von Nr.551, nachdem er Marshalts Anweisungen genau befolgt hatte. Dora kam heraus und nahm seinen Platz am Steuer ein.

 

»Haben Sie jemand gesehen?« fragte sie leise.

 

Er dachte an den Mann, der an der Ecke des Portman Square gestanden und so geduldig gewartet hatte.

 

»Nein«, sagte er aber. »An Ihrer Stelle würde ich jedoch ein solches Abenteuer nicht nochmal riskieren.«

 

»Machen Sie den Schlag zu«, erwiderte sie schroff, und gleich darauf fuhr sie ab.

 

Als sie nach Hause kam, fand sie Martin schon im Wohnzimmer vor.

 

»Na, ist die Unterredung befriedigend verlaufen?« fragte sie vergnügt.

 

Er hatte sich auf dem Diwan ausgestreckt und schüttelte mißmutig den Kopf.

 

»Nein, wir werden das Etablissement wohl schließen müssen. Klein verlangt zuviel Prozente und droht mit der Polizei, um sie durchzudrücken. Das macht mir nun zwar keine Sorge, aber die Säle in der Pont Street bringen viel und regelmäßig Geld ein, so daß ich sie ungern schließen würde. Jetzt erwarte ich Stanford. – Übrigens habe ich Audrey heute abend gesehen.«

 

»Wo denn?« fragte sie verwundert.

 

»Im Carlton Grill. Sie aß mit Shannon.«

 

Dora, die sich eben eine Zigarette anstecken wollte, hielt inne.

 

»Mit Shannon?«

 

»Ja. Sie schienen höchst fidel zu sein. Du brauchst aber keine Angst zu haben. Zur Angeberin eignet sich Audrey nicht. Es war mir noch nie klar geworden, wie schön sie eigentlich ist. Und dabei tadellos angezogen. Shannon hat sie ordentlich verliebt betrachtet.«

 

»Na, du scheinst ja auch in sie verschossen zu sein! Das Konzert war übrigens ein großer Genuß für mich, Bunny! Kessler war hervorragend. Eigentlich mache ich mir ja nicht viel aus Geigenspiel, aber –«

 

»Kessler trat doch gar nicht auf«, erwiderte er und blies eine Rauchwolke in die Luft. »Er war indisponiert und ließ absagen. Hast du es denn nicht in der Zeitung gelesen?«

 

»Ach, ich kann diese Leute nicht voneinander unterscheiden«, erklärte sie nach einer kaum merklichen Pause gleichmütig. »Jedenfalls spielte der Mann, der ihn vertrat, glänzend.«

 

»Wahrscheinlich war es Manz.« Er nickte.

 

Zu ihrer Erleichterung klingelte es an der Haustür, und gleich darauf erschien Big Bill Stanford, todmüde von der langen Rückfahrt von Rom. Ohne große Vorrede begann er zu berichten.

 

»Die Contessa trifft am Dienstagabend ein. Ich habe Photos von der Tiara und der Perlenkette. Die Imitation wird sich in fünf bis sechs Tagen herstellen lassen, und das weitere ist dann ja Kinderspiel. Stigman hat sich mit der Zofe angefreundet –«

 

»Ich dachte, mit solchen Geschichten würden wir uns nicht wieder abgeben?« unterbrach ihn Dora unwillig.

 

»Geschieht auch nicht«, murmelte Martin. »Daß du mir nichts von dem Kram ins Haus bringst, Bill!«

 

»Hältst du mich für verrückt? Ich habe von der letzten Affäre noch genug!«

 

»Können wir denn das nicht ganz aufstecken, Bunny?« wandte sich Dora an Elton.

 

»Gewiß, warum nicht? Was bedeuten denn auch zehntausend Pfund für uns? Wir können ja auch ohne sie leben!«

 

»Ich kann es jedenfalls«, entgegnete sie.

 

»Willst du uns vielleicht mit Nähen ernähren oder Klavierstunden geben? Oder wieder zur Bühne gehen? Drei bis vier Pfund die Woche hast du ja wohl verdient, bis ich dich kennenlernte. Rede keinen Unsinn, Dora! Ich habe dich erst zu einer wohlhabenden Frau gemacht. Sogar dein Trauring stammt von einem Diebstahl her. Überlege dir das gefälligst!«

 

Sie stand wortlos auf und verließ das Zimmer.

 

Kapitel 1O

 

1O

 

 

Martin Elton war mit seiner Frau im Theater und schlenderte während einer Pause im Foyer umher. Er stammte aus gutem Haus, war aber durch Spiel, Wetten und manche andere Dinge allmählich immer mehr heruntergekommen. Nur ab und zu nickte ihm noch jemand aus der Ferne zu, und der einzige, der ihn anredete, war ihm unwillkommen.

 

»Abend, Elton! Na, wie geht’s? Stanford soll ja in Italien sein, wie ich höre? Haben Sie was vor?« fragte Slick Smith.

 

»Nein.«

 

»Kürzlich von Marshalt gehört?«

 

»Ich weiß nicht viel von ihm.«

 

»Aber ich. Er ist auch ein Dieb, und wenn er etwas stiehlt, bleibt gewissermaßen eine Lücke zurück. Aber da klingelt es schon – auf Wiedersehen!«

 

Als Martin und Dora nach Hause kamen, wandte sie sich im Wohnzimmer ungeduldig an ihn.

 

»Was hast du denn, Bunny? Diese Launen sind wirklich unausstehlich!«

 

»Hast du etwas von deiner Schwester gehört?« entgegnete er und warf ein Scheit in den Kamin, bevor er sich niederließ.

 

»Nein, und hoffentlich höre ich auch nie wieder von ihr! Die winselnde Gefängnisratte!«

 

»Ich habe sie nicht winseln hören. Und ins Gefängnis haben wir sie gebracht.«

 

Sie schaute ihn verwundert an.

 

»Du hast sie doch selbst geradezu aus dem Haus gejagt, als sie das letztemal hier war!«

 

»Ja, das weiß ich. Aber London ist ein verteufelter Platz für alleinstehende junge Mädchen ohne Geld und Freunde. Ich wollte, ich wüßte, wo sie ist.«

 

»Überlassen wir sie dem Schutz Gottes«, erwiderte Dora spöttisch.

 

Aber Martins Augen wurden klein und lauernd.

 

»Wenn du dich so gegen deine Schwester benimmst, wie würde es dann wohl mir ergehen, wenn du einmal in aller Eile zwischen mir und deiner eigenen Sicherheit wählen müßtest?« fragte er langsam.

 

»Sauve qui peut – das ist mein Wahlspruch«, erklärte sie lachend.

 

Er warf seine Zigarre ins Feuer und stand auf.

 

»Dora«, sagte er dann mit eisiger Stimme, »Lacy Marshalt ist kein wünschenswerter Bekannter.«

 

Sie musterte ihn erstaunt.

 

»Ist er unehrlich?« entgegnete sie harmlos.

 

»Es gibt viele unehrliche Männer, mit denen eine Dame nicht in einem reservierten Zimmer bei Shavarri dinieren darf.«

 

»Ach, du hast spioniert? Marshalt kann unter Umständen sehr nützlich für uns sein.«

 

»Für mich nicht – am allerwenigsten, wenn er heimlich mit meiner Frau diniert.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Wenn es noch einmal vorkommt, suche ich ihn auf und jage ihm drei Kugeln durch die Brusttasche, in der er seine vorzüglichen Zigarren bei sich trägt. – Was ich mit dir machen würde, weiß ich noch nicht. Das hängt ganz von meiner Stimmung und von – deiner Nähe ab.«

 

Sie war totenbleich geworden, suchte vergeblich nach Worten und lag ihm plötzlich schluchzend zu Füßen.

 

»Ach, Bunny, sprich doch nicht so – schau mich nicht so entsetzlich an! Ich will ja alles tun, was du willst … ich schwöre dir, daß nichts vorgefallen ist … es war eine Laune von mir, daß ich hinging …«

 

Er strich über ihr goldenes Haar.

 

»Du bedeutest mir sehr viel, Dora«, sagte er freundlich. »Ich habe dich nicht gut beeinflußt … ich habe selbst die meisten guten Grundsätze über Bord geworfen, nach denen sich andere Leute richten. Aber an einem werde ich immer festhalten: ich verlange ehrliches Spiel unter Dieben, weil ich selbst ehrlich spiele!«

 

Kapitel 6

 

6

 

Big Bill war nicht sentimental, aber dieser Vorschlag ging selbst ihm zu weit.

 

»Das ist unmöglich. Bedenke doch, wenn sie gefaßt wird und uns verrät?«

 

»Das ist auch mein einziges Bedenken, und es ist nur gering«, entgegnete Dora.

 

Der große Mann starrte einen Augenblick vor sich hin.

 

»Das Ding muß unbedingt aus dem Haus«, sagte er dann. »Schließe die Tür zu, Dora!«

 

Sie gehorchte. Auf dem Kaminsims stand eine wunderschön emaillierte Uhr, die mit einer kleinen Faungestalt geschmückt war. Stanford hob den Faun und damit einen Teil der Uhr ab, die ruhig weitertickte. Ein leiser Druck auf eine Feder genügte, um eine Seite des Bronzekastens zu öffnen und ein genau hineinpassendes Stanniolpaket zu zeigen. Er legte es auf den Tisch, und als er es auspackte, flammten blaue, grüne und weiße Blitze blendend auf. Voll Bewunderung sah Dora auf die Steine.

 

»Hier liegen nun siebzigtausend Pfund«, meinte Stanford nachdenklich, »und daneben liegen zehn Jahre für irgendjemand – sieben für Diebstahl und drei für Majestätsbeleidigung.«

 

Der elegante Martin Elton schauderte.

 

»Schenke dir doch solche Bemerkungen. Es handelt sich jetzt nur darum, wer das Ding fortbringt.«

 

»Audrey natürlich«, erklärte Dora gelassen. »Kein Mensch kennt sie, und niemand verdächtigt sie. Und Pierre ist leicht zu erkennen. Aber dann ist auch Schluß mit diesen Geschichten, Martin. Du weißt, der Krug geht solange zu Wasser, bis –«

 

»Vielleicht macht Lacy Marshalt ihn zu einem Direktor«, höhnte Stanford.

 

»Ich kenne den Mann ja kaum«, entgegnete sie. »Ich erzählte dir, daß ich ihn auf dem Ball bei Denshores getroffen habe, Bunny. Er ist Südafrikaner und steinreich, aber unerhört geizig.«

 

Martin sah sie mißtrauisch an.

 

»Ich wußte nicht, daß du ihn kennst –«

 

»Zur Sache!« rief Stanford ungeduldig. »Was soll werden – wenn sie gefaßt wird? Elton, nach der Geschichte in Leyland Hall hast du den Kram doch durch einen Mann aus Bognor außer Landes schaffen lassen. Erinnerst du dich? Nun, mit diesem Freund aus Bognor hat sich Dick Shannon heute stundenlang unterhalten.«

 

Martins hübsches, blasses Gesicht wurde noch einen Schein bleicher.

 

»Er wird nichts verraten«, murmelte er.

 

»Wer weiß! Wenn einer ihn dazu bringt, ist es Shannon.«

 

»Der Schmuck muß weg«, sagte Dora. »Packe ihn wieder ein, Martin.«

 

Er machte sich an die Arbeit, wickelte die Kette in Watte und legte sie in eine kleine, flache Zigarrenschachtel, die er mit braunem Papier umhüllte und verschnürte. Dann steckte er das Päckchen unter ein Sofakissen und brachte die Uhr wieder in Ordnung.

 

»Plaudert deine Schwester aus, wenn sie gefaßt wird?« fragte Stanford.

 

Dora überlegte einen Augenblick.

 

»Nein, bestimmt nicht!« sagte sie dann und ging hinauf, um Audrey zu holen.

 

Als das junge Mädchen ins Zimmer trat, fiel ihr Blick zuerst auf einen großen, breitschulterigen Mann mit kurzgeschorenem Haar, der sie mit ernsten, strengen Augen ansah.

 

»Mr. Stanford«, stellte Dora vor. »Und dies ist mein Mann.«

 

Verwundert betrachtete Audrey den zierlichen, stutzerhaften Mr. Elton, dessen bleiche Gesichtsfarbe durch das dunkle Schnurrbärtchen und die kohlschwarzen Augenbrauen noch mehr hervorgehoben wurde. Das war also der vielgepriesene Martin!

 

»Sehr erfreut, dich kennenzulernen, Audrey!« sagte er und schaute sie begeistert an. »Du hast ja eine entzückende Schwester, Dora!«

 

»Ja, sie ist jetzt hübscher als früher«, erwiderte seine Frau kühl, »aber fürchterlich angezogen.«

 

Audrey wurde nicht leicht verlegen, aber der unverwandte Blick des großen Mannes, der sie geradezu durchbohrte und abschätzte, war ihr unbehaglich. Sie atmete erleichtert auf, als er sich verabschiedete. Martin begleitete ihn hinaus, um Dora Gelegenheit zu geben, ihre Geschichte vorzubringen.

 

Sie erzählte von einer mißhandelten Frau, die sich genötigt gesehen hätte, aus Angst vor ihrem brutalen Gatten das Land zu verlassen, und nicht einmal Zeit gehabt hätte, das Miniaturbild ihres Kindes mitzunehmen.

 

»Wir haben uns das Bild verschafft«, fuhr sie fort. »Nach dem Buchstaben des Gesetzes waren wir allerdings nicht dazu berechtigt, aber die arme Mutter tat uns so leid. Durch ein gutes Trinkgeld hat Martin einen Diener des Hauses bewogen, uns das Bild zu bringen. Nun scheint der Mann aber die Sache herausgebracht zu haben und läßt uns Tag und Nacht beobachten, so daß wir es nicht wagen, das Bild durch die bereits gewarnte Post oder durch einen Boten fortzuschicken. Heute kommt nun ein Freund der armen Lady Nilligan nach London, und wir haben verabredet, ihm das Bild auf den Bahnhof zu bringen. Nun fragt es sich – würdest du wohl so lieb sein, es hinzutragen, Audrey? Dich kennt hier niemand. Die Spione werden dich nicht belästigen, und du kannst einer bedauernswerten Frau einen großen Dienst erweisen.«

 

»Aber das ist doch eine sehr sonderbare Geschichte!« rief Audrey und runzelte die Stirne. »Könnt ihr denn nicht einen Dienstboten schicken? Oder kann der Mann nicht herkommen?«

 

»Ich sagte dir doch, daß unser Haus bewacht wird!« entgegnete Dora ungeduldig. »Aber natürlich, wenn du nicht willst –«

 

»Selbstverständlich werde ich es tun«, lachte Audrey.

 

»Wie nett von dir! Aber eins muß ich dir noch sagen: falls die Sache doch herauskommen sollte, darfst du unseren Namen nicht nennen. Ich bitte dich, mir bei dem Andenken an unsere tote Mutter zu schwören –«

 

»Das ist nicht nötig«, unterbrach sie Audrey kühl. »Ich verspreche es dir – das genügt.«

 

Aus dem kleinen Diner, von dem Dora gesprochen hatte, schien nichts geworden zu sein, denn um halb neun kam sie zu ihrer Schwester nach oben und übergab ihr ein längliches, fest verschnürtes und versiegeltes Päckchen.

 

Sie beschrieb ihr den geheimnisvollen Pierre genau.

 

»Vor allem aber kennst du mich nicht«, schärfte sie ihr noch einmal ein, »und du hast auch das Haus Curzon Street Nr.508 nie in deinem Leben betreten. Und zu dem Mann sagst du weiter nichts als: ›Dies ist für Madame.‹«

 

Audrey wiederholte die Worte.

 

»Welche Umstände für eine solche Kleinigkeit!« meinte sie dann. »Ich komme mir fast wie eine Verschworene vor.«

 

Nachdem sie das Päckchen in einer inneren Manteltasche verborgen hatte, verließ sie das Haus und entfernte sich in der Richtung nach Park Lane. Martin folgte ihr, behielt sie im Auge, bis sie in einen Omnibus stieg, und fuhr dann in einem Mietauto hinter ihr her.

 

Vor dem Charing Cross-Bahnhof stieg Audrey ab und eilte in die große Halle. Dort wimmelte es von Menschen, und es dauerte eine Weile, bis sie Pierre entdeckte, einen untersetzten, flachsbärtigen Mann mit einem kleinen Muttermal auf der linken Backe, das ihr als Erkennungszeichen dienen sollte. Ohne weiteres zog sie das Päckchen aus dem Mantel, ging auf ihn zu und sprach ihn mit den verabredeten Worten an.

 

Er schaute sie forschend an und ließ das Päckchen so schnell in seine Tasche gleiten, daß sie seiner Bewegung kaum zu folgen vermochte.

 

»Bien!« sagte er. »Wollen Sie Monsieur danken und –«

 

Er fuhr blitzschnell herum, aber der Mann, der ihn am Handgelenk gepackt hatte, ließ sich nicht abschütteln. Im selben Augenblick wurde auch Audrey am Arm gefaßt.

 

»Kommen Sie mit, meine Liebe«, sagte eine freundliche Stimme zu ihr. »Ich bin Captain Shannon von Scotland Yard.«

 

Plötzlich stockte er jedoch und starrte entsetzt in ihr Gesicht.

 

»Meine Bettelprinzessin!« sagte er leise.

 

»Bitte, lassen Sie mich los!« Schreckliche Angst packte Audrey, und sie versuchte sich freizumachen. »Ich muß zu –« Noch rechtzeitig verstummte sie.

 

»Sie wollen natürlich zu Mrs. Elton«, ergänzte er.

 

»Nein, ich kenne keine Mrs. Elton«, erwiderte sie atemlos.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich fürchte, darüber müssen wir noch genauer sprechen. Ich möchte Ihren Arm nicht festhalten. Wollen Sie mich so begleiten?«

 

»Sie – Sie verhaften mich?« keuchte sie.

 

Er nickte ernst.

 

»Ich muß Sie leider festnehmen, bis eine gewisse Angelegenheit aufgeklärt ist. Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie in Unwissenheit gehandelt haben. Aber Ihre Schwester ist keineswegs unschuldig.«

 

Sprach er von Dora? Das Herz wurde ihr schwer, aber sie nahm sich zusammen.

 

»Ich will gern mit Ihnen sprechen und keinen Fluchtversuch machen. Aber ich komme nicht von Mrs. Elton, und sie ist nicht meine Schwester. Ich habe heute nachmittag geflunkert, als ich das behauptete.«

 

Er winkte ein Auto heran, gab dem Chauffeur Anweisung, wohin er fahren sollte, und half ihr beim Einsteigen.

 

»Sie lügen, um Ihre Schwester und Bunny Elton zu schützen«, sagte er unterwegs.

 

Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, aber eins wußte sie jetzt klar: es war kein Miniaturbild gewesen, das sie Pierre übergeben hatte. Es war etwas ganz anderes – etwas Entsetzliches!

 

»Was war in dem Paket?« fragte sie tonlos.

 

»Die Diamantenkette der Königin von Griechenland, wenn ich nicht sehr irre. Man überfiel sie und riß ihr das Kollier vom Hals.«

 

Audrey richtete sich auf, und ein schmerzlicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. Dora!

 

»Sie wußten natürlich nicht, um was es sich handelte«, sagte er, als ob er zu sich selbst spräche. »Es ist in diesem Fall eine furchtbare Zumutung an Sie, aber Sie müssen die Wahrheit sagen – auch wenn es für Ihre Schwester ein Schicksal bedeutet, das sie längst erwartet.«

 

Das Auto schien sich im Kreise zu drehen. »Tu alles, was du kannst, für Dora…« Die beharrliche Mahnung ihrer Mutter dröhnte ihr in den Ohren. Sie zitterte heftig, und ihr Gehirn war plötzlich wie gelähmt.

 

Sie wußte nur, daß sie verhaftet war – sie, Audrey Bedford!

 

»Ich habe keine Schwester«, log sie, und atmete schwer. »Ich habe die Kette gestohlen.«

 

Als sie sein freundliches Lachen hörte, hätte sie ihn ermorden mögen.

 

»Sie armes, liebes Baby! Der Überfall wurde von drei erfahrenen Banditen ausgeführt. Nun hören Sie einmal zu. Ich gestatte Ihnen nicht, daß Sie diesen tollen Plan in die Tat umsetzen und sich einfach für diese Leute opfern. Wußten Sie denn nicht, daß Dora Elton und ihr Mann zu den gefährlichsten Verbrechern Londons gehören?«

 

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte.

 

»Nein, nein –« schluchzte sie. »Ich weiß nichts … sie ist nicht meine Schwester.«

 

Dick Shannon seufzte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie anzuklagen.

 

Pierre war schon vor ihnen auf der Polizeistation eingetroffen, und Audrey sah entsetzt zu, als man ihn durchsuchte, das Päckchen öffnete und seinen blitzenden Inhalt auf dem Schreibtisch niederlegte. Dann nahm sie Shannon freundlich an der Hand und führte sie hinter die Stahlschranke.

 

»Name: Audrey Bedford«, sagte er. »Adresse: Fontwell, West Sussex. Sie wird beschuldigt, im Besitz gestohlenen Gutes gewesen zu sein und gewußt zu haben, daß es sich um gestohlenes Gut handelte. – Nun sagen Sie die Wahrheit!« flüsterte er ihr zu.

 

Aber sie schüttelte den Kopf.

 

Kapitel 7

 

7

 

Lacy Marshalt saß in seinem Frühstückszimmer und verglich ein Foto mit der Momentaufnahme eines unternehmenden Pressefotografen, die in einer Zeitung wiedergegeben war: ein junges Mädchen, das in Begleitung eines Polizisten und einer Gefängniswärterin ein Auto verließ.

 

Tonger kam hereingeschlüpft.

 

»Haben Sie geklingelt, Lacy?«

 

»Ja, vor zehn Minuten. Und nun ein für allemal: ich verbitte mir diese Anrede!«

 

Der kleine Mann rieb sich vergnügt die Hände.

 

»Ich hab‘ einen Brief von meinem Mädel bekommen«, sagte er. »Sie ist in Amerika und gut bei Kasse – wohnt in den ersten Hotels. Ein schlaues Kind!«

 

Lacy faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite.

 

»Mrs. Elton wird gleich hier sein. Sie kommt durch die Hintertür. Erwarte sie dort und führe sie durch den Wintergarten in die Bibliothek. Wenn ich klingle, bringst du sie auf demselben Weg wieder zurück.«

 

Als Dora kaum fünf Minuten später in der Bibliothek erschien, stand Lacy vor dem Kaminfeuer.

 

»Ich habe meine liebe Not gehabt, um herzukommen«, sagte sie. »Konnte es denn nicht nachmittags sein? Ich mußte Martin allerlei vorlügen. Gibt es denn nicht wenigstens einen Kuß?«

 

Er neigte sich zu ihr und streifte ihre Wange mit den Lippen.

 

»Was für ein Kuß!« spottete sie. »Nun, und –?«

 

»Dieser Juwelenraub! Die Polizei scheint anzunehmen, daß das angeklagte junge Mädchen deine Schwester ist?«

 

Sie schwieg.

 

»Ich weiß natürlich, daß du eine Diebin bist. Ich kenne Stanford von Südafrika her, und er gehört zu deiner Bande. Aber dieses Mädchen – ist sie auch daran beteiligt?«

 

»Du weißt, wie weit sie beteiligt ist«, erwiderte sie unmutig. Sie war schließlich nicht unter soviel Gefahren hierhergekommen, um über Audrey zu sprechen. »Übrigens stand hinten ein Mann und beobachtete das Haus, als ich herkam. Er sah aus wie ein Gentleman, hager und vornehm, und er hinkte –«

 

»Was?« Lacy packte sie am Arm. Er war bleich geworden. »Du belügst mich!«

 

Sie riß sich erschrocken los.

 

»Was soll denn das heißen?«

 

»Ach, es sind die Nerven! Sie ist also deine Schwester?«

 

»Meine Stiefschwester«, murmelte sie.

 

»Ihr hattet verschiedene Väter?«

 

Sie nickte.

 

Er schwieg eine Weile und lachte dann unheimlich auf.

 

»Und sie geht ins Gefängnis – um dich zu retten? – Nun, mir kann es recht sein. Ich habe Zeit.«