Kapitel 26

 

26

 

Willitt war höchst verwundert, als er morgens ins Büro kam und es heftig klingeln hörte. Er fand seinen Chef in jämmerlichem Zustand auf einem Sofa.

 

»Ich sterbe –« murmelte Stormer – »bringen Sie mir starken Kaffee und eine Kiste voll Phenacetin. O, mein Kopf! Ich habe eine Beule, so groß wie ein Hühnerei! Und bei Hühnern fällt mir ein: schaffen Sie mir die kleine Bedford her …«

 

»Ist Ihnen über Nacht etwas zugestoßen?«

 

»Sehen Sie mir das nicht an? Aber niemand außer Ihnen darf es wissen. Wenn jemand nach mir fragt, bin ich in Amerika …«

 

Willitt beeilte sich, alles Gewünschte herbeizuschaffen.

 

»Und nun telephonieren Sie nach einem Barbier, und holen Sie mir aus dem nächsten Laden einen Kragen!« Sein Gesicht verzog sich schmerzlich, als er sich aufrichtete und nach der Kaffeetasse griff.

 

»Sie brennen natürlich darauf, mich auszufragen«, fuhr er dann fort. »Nun, ich hatte einen Kampf mit einem Gespenst und zog den kürzeren.«

 

»Wer war es denn?«

 

»Das weiß ich nicht. Ich wachte von einem Schrei auf, ging hinaus, um zu sehen, was los wäre, und entdeckte zwei, drei oder auch sechs Leute, die den Flur entlangliefen. Von ebenso vielen wurde ich über den Kopf gehauen und kam erst wieder zu mir, als mir der Hoteldetektiv den Kragen aufmachte. Vergessen Sie ja nicht die kleine Bedford. Sie hat eine Anstellung bei dem Hühnerblatt, und ich glaube nicht, daß es ihr dort gefallen wird. Gehen Sie zu ihr und bieten Sie ihr einen guten Posten mit beliebig hohem Gehalt an. Verstehen Sie?«

 

»Jawohl.«

 

»Fassen Sie das Mädel ab, wenn sie zum Essen geht. Sie soll dann Torrington alias Brown beobachten. Und kommen Sie mir nicht unverrichteter Sache zurück, Willitt! Ich bin derartig kaputt, daß ich sehr grob werden würde.« –

 

Audrey begann ihre Arbeit in der Redaktion mit einer gewissen Befriedigung, die aber nicht lange vorhielt. Sie entzweite sich bald mit Mr. Hepps, als er darauf bestand, daß sie schriftlich ein Futtermittel für Hühner empfehlen sollte, das sie für absolut schädlich hielt. Und etwas später am Tag geriet er in Wut über einen von ihr verfaßten Artikel.

 

»Viel zu lang!« schrie er. »Und Ihre Handschrift mißfällt mir auch! Können Sie denn nicht mit Maschine schreiben? Sie werden sich ordentlich zusammennehmen müssen, wenn Sie hier – wo wollen Sie hin?« fragte er verblüfft, als sie aufstand und Hut und Mantel vom Haken nahm.

 

»Nach Hause, Mr. Hepps«, erwiderte sie gelassen. Die Grundsätze, die hier herrschen, gefallen mir nicht.«

 

»Dann scheren Sie sich zum Teufel!« brüllte er.

 

Gegen vier Uhr ging sie fort und trat ausgehungert in ein benachbartes, kleines Restaurant.

 

Gleich nach ihr kam ein Herr herein und nahm mit einer Verbeugung an demselben Marmortisch Platz. Als sie ihn flüchtig ansah, kam er ihr irgendwie bekannt vor; aber sie dachte nicht weiter darüber nach, sondern vertiefte sich in einen Zeitungsbericht über »Sonderbare Vorfälle im Palace-Hotel«.

 

»Verzeihen Sie, Miß Bedford!«

 

Bestürzt blickte sie auf.

 

»Mein Name ist Willitt. Vielleicht entsinnen Sie sich – ich kam einmal nach Fontwell, um Erkundigungen einzuziehen –«

 

»Ach ja – gerade als ich nach London abreiste.«

 

»Ganz recht. Ich bin ein Vertreter der Stormerschen Detektiv-Agentur –«

 

Audrey nickte. Von dieser bekannten Firma hatte sie schon öfter gelesen.

 

»Mr. Stormer hat mich beauftragt, mit – mit einem Vorschlag an Sie heranzutreten, Miß Bedford. Wir sind nämlich in Verlegenheit. Eine Dame, die für uns arbeitete, hat sich verheiratet, und wir haben bis jetzt noch keinen Ersatz für sie gefunden. Nun meinte Mr. Stormer, ich sollte einmal anfragen, ob Sie vielleicht Lust hätten, in unsere Agentur einzutreten?«

 

»Ich?! Sie meinen – als Detektivin?«

 

»Wir würden Ihnen keine unangenehme Arbeit übergeben. Sie kämen nur für Fälle aus der guten Gesellschaft in Frage.«

 

»Aber kennt Mr. Stormer denn – meine Vorgeschichte?«

 

»Sie meinen den Juwelenraub? Ach, darüber weiß er selbstverständlich Bescheid. Das macht ihm nichts aus. Er möchte Sie damit beauftragen, einen Herrn zu beobachten, einen gewissen Mr. Torrington.«

 

»Torrington? Wer ist das?«

 

»Ein steinreicher Südafrikaner. Interessieren Sie sich für Südafrika?«

 

Sie zuckte zusammen.

 

»Jawohl – wenn alle Geschichten, die ich gehört habe – wahr sind –« erwiderte sie langsam.

 

»Wir verlangen nicht, daß Sie hinter Torrington herlaufen«, fuhr Willitt fort. »Es wäre uns aber lieb, wenn Sie mit ihm bekannt würden.«

 

»Ist er – ein Verbrecher?«

 

»Gott behüte! Ein durchaus redlicher Mann. Wir möchten nur gern wissen, mit wem er verkehrt –«

 

»Kann ich Mr. Stormer vielleicht selbst sprechen?«

 

»Er ist schon wieder in Amerika«, flunkerte Willitt, »und vor seiner Abreise hat er mir ausdrücklich aufgetragen, Sie um jeden Preis als Mitarbeiterin zu gewinnen.«

 

Audrey lachte.

 

»Nun, versuchen kann ich es ja«, meinte sie vergnügt.

 

Willitt atmete erleichtert auf.

 

Als er ins Büro zurückkam, fand er John Stormer in milderer Stimmung und berichtete mit Genugtuung über den Erfolg seiner Sendung. Er hatte kaum das Zimmer verlassen, als Stormer sich ans Telephon begab.

 

»Hier Stormer. Sind Sie es selbst, Hepps? Besten Dank für Ihre Hilfe.«

 

»Es ging mir sehr gegen den Strich«, erwiderte der Redakteur in bedauerndem Ton. »Sie scheint ein nettes und begabtes Mädchen zu sein. Was wird sie nur von mir denken! Ich werde nicht so leicht wieder einem netten Mädel ins Gesicht sehen können – ich schäme mich wirklich!«

 

»Ach was, das ist vielleicht nur zu Ihrem Besten!« lachte Stormer und hängte an.

 

 

Torrington bewohnte eines der teuersten Appartements im Ritz-Carlton-Hotel. Er empfing nur sehr selten Besuch, und als ein schäbiger, kleiner Mann sich bei ihm melden lassen wollte und eine Verabredung vorschützte, dauerte es eine ganze Weile, bis er vorgelassen wurde.

 

»Mr. Brown« saß an seinem Schreibtisch und schob das Blatt, an dem er geschrieben hatte, zur Seite, um sich den Besucher genau anzusehen.

 

»Sie kommen aus Kimberley?« fragte er. »Ich erinnere mich nicht, Sie jemals gesehen zu haben. Sie wissen natürlich, welchen Namen ich damals führte?«

 

»Ich weiß«, erwiderte der kleine Mann, »aber ich werde ihn nicht aussprechen. Wenn ein Mann sich Brown nennt – so ist er für mich eben Mr. Brown. Offen gesagt – ich verbüßte zur selben Zeit wie Sie eine Strafe.«

 

Torrington fuhr mit der Hand in die Tasche.

 

»Ich besinne mich nicht auf Sie, aber ich habe mir auch große Mühe gegeben, alle Leute zu vergessen, mit denen ich am Wellenbrecher arbeitete.«

 

Auf dem Schreibtisch lag der Brief, den der alte Herr gerade beendigt hatte. Der Fremde sah die schwungvolle Unterschrift, aber der Bogen war zu weit entfernt, als daß er ihn hätte lesen können. Er suchte nach einem Vorwand, um hinter den Tisch zu kommen.

 

Torrington schob ihm eine Banknote zu.

 

»Ich hoffe, daß es Ihnen in Zukunft besser gehen wird.«

 

Der kleine Mann nahm den Geldschein, ballte ihn zusammen und schleuderte ihn zum Erstaunen seines Wohltäters an ihm vorüber in den leeren Kamin. Verwundert sah sich »Mr. Brown« um, und in dieser Sekunde wurde die Unterschrift gelesen.

 

»Behalten Sie Ihr Geld!« sagte der Fremde. »Denken Sie, daß ich deshalb hergekommen bin – Torrington?«

 

Daniel Torrington stand auf.

 

»Nehmen Sie das Geld, und machen Sie sich nicht lächerlich!«

 

Der Mann holte sich den zerknitterten Schein und ging. Torrington machte die Tür leise hinter ihm zu. Woher wußte dieser Mensch –?

 

Da fiel sein Blick auf den Brief, und er begriff.

 

Kapitel 17

 

17

 

An dem Nachmittag desselben Tages machte Audrey einen Spaziergang im Green Park, wo es um diese Zeit immer sehr still und leer war. Es wehte jedoch ein so eisiger Nordwind, daß sie mitten auf der Brücke plötzlich umkehrte. Als sie an dem See entlangging, kam sie auch an einer Bank vorbei, auf der eine Frau weit zurückgelehnt saß und mit hintenübergebogenem Kopf zum Himmel starrte. Ihre Stellung war so unnatürlich und sonderbar, daß Audrey unwillkürlich anhielt, als auch ein anderer Spaziergänger stehenblieb.

 

»Was mag mit der Frau sein?« fragte sie ängstlich.

 

Der Mann trat rasch auf die Bank zu, und Audrey folgte ihm.

 

Die Frau schien zwischen dreißig und vierzig Jahren alt zu sein. Ihre Augen waren halb geschlossen, Gesicht und Hände blau vor Kälte. Neben ihr lag eine kleine, silberne Reiseflasche ohne Stöpsel, aus der eine Flüssigkeit auf die Bank tropfte. Sonderbarerweise kam Audrey das Gesicht bekannt vor, aber sie konnte sich nicht darauf besinnen, wo sie die Frau schon gesehen hatte.

 

Der Mann hatte seine Zigarre weggeworfen und hob den Kopf der Unglücklichen behutsam empor. Im selben Augenblick kam auch ein Schutzmann herbei.

 

»Ist sie krank?« fragte er.

 

»Sehr krank, fürchte ich«, erwiderte der Mann ruhig. »Miß Bedford, gehen Sie lieber fort.«

 

Sie sah ihn verwundert an. Woher kannte er ihren Namen?

 

»Gegenüber von der Horseguard-Wache steht noch ein Polizist«, sagte der Beamte zu Audrey. »Würden Sie so gut sein und ihm sagen, daß er die Unfallstation anrufen und dann herkommen soll?«

 

Sie eilte davon, und erst als sie verschwunden war, erinnerte sich der Polizist an seine Vorschriften.

 

»Ich habe ganz vergessen, nach ihrem Namen zu fragen! Kennen Sie die Dame vielleicht?«

 

»Ja, es ist Miß Bedford«, erwiderte Slick Smith. »Ich kenne sie dem Aussehen nach. Wir haben eine Zeitlang im selben Büro gearbeitet.« Er griff nach dem silbernen Fläschchen, hob den Stöpsel vom Boden auf und schloß es sorgfältig. Dann überreichte er es dem Beamten.

 

»Sie werden dies brauchen«, sagte er und setzte bedeutungsvoll hinzu: »An Ihrer Stelle würde ich niemand einen Schluck daraus tun lassen, mit dem Sie es gut meinen.«

 

»Sie glauben, daß es Gift ist?« fragte der Mann erschrocken.

 

»Riechen Sie es denn nicht? Wie bittere Mandeln – die Frau ist tot.«

 

»Selbstmord?«

 

»Wer weiß! Schreiben Sie sich lieber auch meinen Namen auf: Richard James Smith, der Polizei als Slick Smith bekannt. Ich stehe in den Registern von Scotland Yard. «

 

Der andere Schutzmann erschien, und gleich darauf kam auch der Krankenwagen mit einem Arzt. Der Doktor erklärte sofort, daß die Frau durch Zyankali vergiftet und tot sei …

 

Dick Shannon hörte durch Zufall von diesem Ereignis, interessierte sich aber weiter nicht dafür, bis der mit dem Fall betraute Beamte zu ihm kam, um sich nach Slick Smith zu erkundigen.

 

»Ja, ich kenne ihn: ein amerikanischer Schwindler und Dieb«, sagte er. »Hier hat er sich aber noch nichts zuschulden kommen lassen. Wer war die Frau?«

 

»Unbekannt. Es scheint Selbstmord vorzuliegen.«

 

Abends warf Audrey einen Blick in die Zeitung und bemerkte eine kurze Notiz:

 

 

»Die Leiche einer unbekannten Frau wurde heute im Green Park gefunden. Man nimmt an, daß Selbstmord durch Gift vorliegt.«

 

 

Sie war also tot! Audrey überlief ein Schauder. Wer konnte es nur sein? Sie wußte doch genau, daß sie die Frau schon gesehen hatte …

 

Plötzlich fiel es ihr ein. Es war die Betrunkene, die neulich vor Marshalts Haustür solchen Lärm gemacht hatte …

 

Audrey stand auf, ging ans Telephon und rief Shannon an. Der freudige Ton seiner Stimme weckte ein warmes Glücksgefühl in ihrem Herzen.

 

»Wo sind Sie gewesen? Ich wartete schon dauernd auf einen Anruf von Ihnen … es ist doch nichts geschehen?«

 

»Nein, aber ich las eben von der toten Frau im Green Park. Ich war dabei, als sie gefunden wurde, und ich glaube, daß ich sie kenne.«

 

»Ich komme sofort zu Ihnen«, erwiderte Dick.

 

Kurze Zeit später saß er bei ihr, und sie berichtete ihm, was sie wußte.

 

»Sie erinnern sich doch, daß ich Ihnen von einer Frau erzählte, die an Mr. Marshalts Tür klopfte?«

 

Dick pfiff leise durch die Zähne.

 

»Ich möchte nicht haben, daß Sie bei dieser Affäre als Zeugin auftreten«, meinte er nach kurzem Nachdenken. »Das kann Smith tun – und mit Tonger werde ich heute abend sprechen. Übrigens – wann besuchen Sie Malpas?«

 

»Morgen.«

 

»Sie flunkern, meine Liebe. Sie wollen heute abend hingehen.«

 

Audrey lachte.

 

»Ja, allerdings. Ich dachte nur, Sie würden Umstände machen –«

 

»Das stimmt vermutlich. Zu wann hat er Sie bestellt?«

 

»Um acht soll ich kommen.«

 

Er sah nach der Uhr.

 

»Ich werde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen«, entgegnete er. »Jetzt gehe ich zu Marshalt, und drei Minuten vor acht erwarte ich Sie an der Nordseite des Portman Square. Bitte, keine Einwendungen. Und geben Sie mir Ihr Wort, das Haus nicht zu betreten, bevor Sie mich gesprochen haben.«

 

Sie zögerte eine Sekunde, gab ihm aber dann das Versprechen und fühlte sich wesentlich erleichtert.