Kapitel 27

 

27

 

Elton war nicht lange bei Stanford geblieben und hatte gerade begonnen, einen Brief zu schreiben, als seine Frau erschien. Er legte die Feder aus der Hand. »Dora, was hast du eigentlich getrieben, ehe wir uns kennenlernten?« fragte er unvermittelt.

 

»Ach, anfangs ging ich als Statistin mit Marsh und Bignall auf Reisen. Marsh machte Bankerott, und ich war dann in einer Schießbude und so weiter. Ich bin alles gewesen von der ersten Liebhaberin bis zur Garderobiere. – Von elektrischen Leitungen verstehe ich mehr als mancher Mechaniker. Aber warum fragst du danach?«

 

»Wo lerntest du Marshalt kennen?«

 

»Hier in London«, entgegnete sie nach kurzem Zögern. Ihre Hand, in der sie eine Zeitung hielt, zitterte leicht. »Ach, ich wollte, ich wäre vorher gestorben!«

 

»Dora – hast du ihn lieb?«

 

»Ich hasse ihn!« rief sie leidenschaftlich. »Ich habe ihn einmal geliebt – ja. Ich habe sogar an Scheidung gedacht. Aber ich war nicht schlecht genug. Ich fing an, ihn zu langweilen. In gewisser Weise bin ich vielleicht auch altmodisch.«

 

Er hatte sich in den Sessel zurückgelehnt und beobachtete sie unter gesenkten Lidern.

 

»Glaubst du, daß er tot ist?«

 

Sie machte eine ungeduldige Bewegung.

 

»Ich empfinde ihn nicht als tot – aber es ist mir gleichgültig.«

 

Sie sprach aufrichtig, davon war er überzeugt.

 

»Hat er jemals Malpas erwähnt?«

 

»Ja, oft! Und dabei wurde er immer nervös. Malpas haßte ihn. Der Polizei gegenüber behauptete Lacy, nichts von ihm zu wissen, aber er wußte sehr viel. Er sagte, Malpas und er wären früher Partner gewesen, und er wäre mit Malpas‘ Frau durchgegangen.«

 

Er stand auf und legte die Hände auf ihre Schultern.

 

»Ich danke dir – für alles, was du gesagt hast. Ich glaube, wir beide werden jetzt fest zusammenhalten. Wie stehst du denn jetzt zu Audrey?«

 

»Ich weiß es selbst nicht. Meine Abneigung gegen sie ist sehr groß. Ich wurde ja dazu erzogen, sie zu hassen.«

 

»Das tut mir leid.« Martin klopfte sie sanft auf die Schulter und ging.

 

Als er nachmittags nach Hause kam, traf er Dora in der Halle. Sie war zum Ausgehen angekleidet, aber er bat sie, ins Wohnzimmer hinaufzukommen.

 

»Als Audrey das letztemal hier war, sagtest du ihr, sie hieße gar nicht Bedford, und ihr Vater säße wegen Diamantendiebstahls in einer Strafanstalt in Südafrika«, sagte er hastig. »War das wahr?«

 

»Ja«, erwiderte sie verwundert. »Weshalb – ?«

 

»Abends sagtest du mir, er wäre lahm – hätte bei der Verhaftung einen Schuß ins Bein bekommen. Wie hieß Audreys Vater?«

 

»Daniel Torrington.«

 

Martin pfiff leise durch die Zähne.

 

»Ich habe – jemand getroffen, der behauptet, Torrington wäre hier in London. Man hat ihn begnadigt, und es scheint, daß er sich schon längere Zeit hier aufhält. Wußte Marshalt wohl davon?« »Nein, wenn er das gewußt hätte, wäre er wohl nicht so vergnügt gewesen. Ach!« Sie preßte die Hand einen Augenblick auf den Mund. »Malpas!« flüsterte sie.

 

Er starrte sie an, denn ihm war derselbe Gedanke gekommen.

 

»Marshalt muß es gewußt oder geahnt haben«, fuhr sie leise fort. »Er hat die ganze Zeit nebenan gewohnt! Bunny, Malpas ist Torrington!«

 

»Das glaube ich nicht.« Martin schüttelte den Kopf. »Es klingt zu romanhaft! So rachsüchtig ist kein Mensch. Und nun gar Torrington, der nach seiner Tochter sucht!«

 

»Er hält Audrey sicher für tot. Er hing sehr an dem Kind, und auf Marshalts Rat hin hat ihm Mutter geschrieben, daß Audrey an Scharlach gestorben wäre. Torrington hat ihr sogar unten bei Kapstadt einen Gedenkstein errichten lassen. Das weiß ich von Marshalt. Ist Torrington sehr reich?«

 

»Er soll zwei Millionen Pfund wert sein. Was er wohl – für die Wahrheit zahlen würde?«

 

»Nie im Leben soll er sie von uns erfahren! Mag er sie selbst herausbringen!«

 

»Wie ist sie getauft?« fragte er langsam und nachdenklich.

 

»Dorothy Audrey Torrington. Aber er weiß nicht, daß wir sie Audrey nannten. In seinem Brief schrieb er von Dorothy.«

 

»Schreibe an Audrey und lade sie zum Tee ein«, sagte Martin langsam. Sie schaute ihn empört an.

 

»Ja, schreibe ihr, es täte dir leid, daß du so unfreundlich zu ihr gewesen wärst und ihr allerlei vorgelogen hättest – über ihren Vater. Und wenn sie kommt, sagst du ihr, Torrington wäre dein Vater. Wo kann ich mir Audreys Geburtsschein verschaffen?«

 

»Ich habe oben noch allerlei Papiere von Mutter. Es kann sein, daß er darunter ist. Hole sie doch herunter, Bunny! Sie liegen in meinem Schrank – in einem Blechkasten.«

 

Er brachte ihn und öffnete ihn geschickt, als kein Schlüssel zu finden war. Auf dem Boden des Kastens lag ein blauer Briefumschlag mit zwei Geburtsscheinen. Martin breitete sie auf dem Tisch aus, und seine Augen glänzten.

 

»Dorothy Audrey Torrington«, las er, »und du heißt Nina Dorothy Bedford. Aus dem Namen Audrey läßt sich etwas anderes machen. Dora, du mußt Audrey schreiben und ihr – mit oder ohne Tränen – sagen, sie wäre deine ältere Schwester –«

 

Es klopfte.

 

»Mr. Smith aus Chicago«, meldete das Mädchen.

 

Martin zögerte einen Augenblick.

 

»Du kennst den Menschen ja wohl, Dora«, sagte er schließlich. »Ich lasse bitten.«

 

Slick Smith war wie immer tadellos gekleidet und legte seinen glänzenden Zylinder fast zärtlich auf einen Stuhl.

 

»Ich störe doch nicht?« begann er mit strahlender Miene. »Ich dachte, es würde Sie interessieren, daß 147 Ihre verehrte Schwägerin in den Polizeidienst eingetreten ist. Streng genommen kann man es vielleicht nicht als Polizeidienst bezeichnen, aber jedenfalls ist sie bei Stormers Agentur angestellt.«

 

»Soll das Scherz oder Ernst sein?« fragte Martin schroff.

 

»Voller Ernst. Ich sah zufällig, daß sie mit Willitt in einen Juwelierladen ging, wo er ihr das Stormersche Abzeichen kaufte: einen kleinen silbernen Stern mit Stormers Namen auf der Rückseite. Ich kenne es, und die junge Dame schien sich sehr darüber zu freuen. Und wissen Sie, was Willitt tat, nachdem er sich von ihr getrennt hatte?«

 

Martin zuckte ungeduldig die Schultern.

 

»Er ging zu dem nächsten Telephon und rief das Ritz-Carlton-Hotel an, um dort eine Zimmerflucht für die junge Dame zu bestellen.« Smith zog sein Taschentuch heraus, betupfte die Lippen und fuhr dann lächelnd fort: »Mr. Brown – oder Torrington – wohnt im Ritz-Carlton.«

 

Martin und Dora waren fassungslos.

 

»Ich dachte, ich müßte es Ihnen mitteilen«, meinte Smith. »Für Leute, die heute ein gewisser Wilfred auf die Spur von Torringtons Millionen gebracht hat, kann die Nachricht ja von Wert sein. – Ein reizendes Mädchen, Ihre jüngere Schwester, Mrs. Elton!«

 

Martin zuckte zusammen, aber Dora hatte ihre Fassung wiedergewonnen.

 

»Sie meinen Audrey?« erwiderte sie lachend. »Ich bin ein volles Jahr jünger als sie!«

 

Slick sah sie prüfend an.

 

»Man scheint sich allseitig sehr für Ihre Schwester zu interessieren«, bemerkte er nachdenklich. »Jetzt hat schon der dritte Mann versucht, sie im Palace-Hotel zu fangen, und auch diesem dritten ist es mißlungen. Ich habe eine Ahnung, als ob ich noch zur Beerdigung des vierten gehen würde!«

 

Kapitel 26

 

26

 

Willitt war höchst verwundert, als er morgens ins Büro kam und es heftig klingeln hörte. Er fand seinen Chef in jämmerlichem Zustand auf einem Sofa.

 

»Ich sterbe –« murmelte Stormer – »bringen Sie mir starken Kaffee und eine Kiste voll Phenacetin. O, mein Kopf! Ich habe eine Beule, so groß wie ein Hühnerei! Und bei Hühnern fällt mir ein: schaffen Sie mir die kleine Bedford her …«

 

»Ist Ihnen über Nacht etwas zugestoßen?«

 

»Sehen Sie mir das nicht an? Aber niemand außer Ihnen darf es wissen. Wenn jemand nach mir fragt, bin ich in Amerika …«

 

Willitt beeilte sich, alles Gewünschte herbeizuschaffen.

 

»Und nun telephonieren Sie nach einem Barbier, und holen Sie mir aus dem nächsten Laden einen Kragen!« Sein Gesicht verzog sich schmerzlich, als er sich aufrichtete und nach der Kaffeetasse griff.

 

»Sie brennen natürlich darauf, mich auszufragen«, fuhr er dann fort. »Nun, ich hatte einen Kampf mit einem Gespenst und zog den kürzeren.«

 

»Wer war es denn?«

 

»Das weiß ich nicht. Ich wachte von einem Schrei auf, ging hinaus, um zu sehen, was los wäre, und entdeckte zwei, drei oder auch sechs Leute, die den Flur entlangliefen. Von ebenso vielen wurde ich über den Kopf gehauen und kam erst wieder zu mir, als mir der Hoteldetektiv den Kragen aufmachte. Vergessen Sie ja nicht die kleine Bedford. Sie hat eine Anstellung bei dem Hühnerblatt, und ich glaube nicht, daß es ihr dort gefallen wird. Gehen Sie zu ihr und bieten Sie ihr einen guten Posten mit beliebig hohem Gehalt an. Verstehen Sie?«

 

»Jawohl.«

 

»Fassen Sie das Mädel ab, wenn sie zum Essen geht. Sie soll dann Torrington alias Brown beobachten. Und kommen Sie mir nicht unverrichteter Sache zurück, Willitt! Ich bin derartig kaputt, daß ich sehr grob werden würde.« –

 

Audrey begann ihre Arbeit in der Redaktion mit einer gewissen Befriedigung, die aber nicht lange vorhielt. Sie entzweite sich bald mit Mr. Hepps, als er darauf bestand, daß sie schriftlich ein Futtermittel für Hühner empfehlen sollte, das sie für absolut schädlich hielt. Und etwas später am Tag geriet er in Wut über einen von ihr verfaßten Artikel.

 

»Viel zu lang!« schrie er. »Und Ihre Handschrift mißfällt mir auch! Können Sie denn nicht mit Maschine schreiben? Sie werden sich ordentlich zusammennehmen müssen, wenn Sie hier – wo wollen Sie hin?« fragte er verblüfft, als sie aufstand und Hut und Mantel vom Haken nahm.

 

»Nach Hause, Mr. Hepps«, erwiderte sie gelassen. Die Grundsätze, die hier herrschen, gefallen mir nicht.«

 

»Dann scheren Sie sich zum Teufel!« brüllte er.

 

Gegen vier Uhr ging sie fort und trat ausgehungert in ein benachbartes, kleines Restaurant.

 

Gleich nach ihr kam ein Herr herein und nahm mit einer Verbeugung an demselben Marmortisch Platz. Als sie ihn flüchtig ansah, kam er ihr irgendwie bekannt vor; aber sie dachte nicht weiter darüber nach, sondern vertiefte sich in einen Zeitungsbericht über »Sonderbare Vorfälle im Palace-Hotel«.

 

»Verzeihen Sie, Miß Bedford!«

 

Bestürzt blickte sie auf.

 

»Mein Name ist Willitt. Vielleicht entsinnen Sie sich – ich kam einmal nach Fontwell, um Erkundigungen einzuziehen –«

 

»Ach ja – gerade als ich nach London abreiste.«

 

»Ganz recht. Ich bin ein Vertreter der Stormerschen Detektiv-Agentur –«

 

Audrey nickte. Von dieser bekannten Firma hatte sie schon öfter gelesen.

 

»Mr. Stormer hat mich beauftragt, mit – mit einem Vorschlag an Sie heranzutreten, Miß Bedford. Wir sind nämlich in Verlegenheit. Eine Dame, die für uns arbeitete, hat sich verheiratet, und wir haben bis jetzt noch keinen Ersatz für sie gefunden. Nun meinte Mr. Stormer, ich sollte einmal anfragen, ob Sie vielleicht Lust hätten, in unsere Agentur einzutreten?«

 

»Ich?! Sie meinen – als Detektivin?«

 

»Wir würden Ihnen keine unangenehme Arbeit übergeben. Sie kämen nur für Fälle aus der guten Gesellschaft in Frage.«

 

»Aber kennt Mr. Stormer denn – meine Vorgeschichte?«

 

»Sie meinen den Juwelenraub? Ach, darüber weiß er selbstverständlich Bescheid. Das macht ihm nichts aus. Er möchte Sie damit beauftragen, einen Herrn zu beobachten, einen gewissen Mr. Torrington.«

 

»Torrington? Wer ist das?«

 

»Ein steinreicher Südafrikaner. Interessieren Sie sich für Südafrika?«

 

Sie zuckte zusammen.

 

»Jawohl – wenn alle Geschichten, die ich gehört habe – wahr sind –« erwiderte sie langsam.

 

»Wir verlangen nicht, daß Sie hinter Torrington herlaufen«, fuhr Willitt fort. »Es wäre uns aber lieb, wenn Sie mit ihm bekannt würden.«

 

»Ist er – ein Verbrecher?«

 

»Gott behüte! Ein durchaus redlicher Mann. Wir möchten nur gern wissen, mit wem er verkehrt –«

 

»Kann ich Mr. Stormer vielleicht selbst sprechen?«

 

»Er ist schon wieder in Amerika«, flunkerte Willitt, »und vor seiner Abreise hat er mir ausdrücklich aufgetragen, Sie um jeden Preis als Mitarbeiterin zu gewinnen.«

 

Audrey lachte.

 

»Nun, versuchen kann ich es ja«, meinte sie vergnügt.

 

Willitt atmete erleichtert auf.

 

Als er ins Büro zurückkam, fand er John Stormer in milderer Stimmung und berichtete mit Genugtuung über den Erfolg seiner Sendung. Er hatte kaum das Zimmer verlassen, als Stormer sich ans Telephon begab.

 

»Hier Stormer. Sind Sie es selbst, Hepps? Besten Dank für Ihre Hilfe.«

 

»Es ging mir sehr gegen den Strich«, erwiderte der Redakteur in bedauerndem Ton. »Sie scheint ein nettes und begabtes Mädchen zu sein. Was wird sie nur von mir denken! Ich werde nicht so leicht wieder einem netten Mädel ins Gesicht sehen können – ich schäme mich wirklich!«

 

»Ach was, das ist vielleicht nur zu Ihrem Besten!« lachte Stormer und hängte an.

 

 

Torrington bewohnte eines der teuersten Appartements im Ritz-Carlton-Hotel. Er empfing nur sehr selten Besuch, und als ein schäbiger, kleiner Mann sich bei ihm melden lassen wollte und eine Verabredung vorschützte, dauerte es eine ganze Weile, bis er vorgelassen wurde.

 

»Mr. Brown« saß an seinem Schreibtisch und schob das Blatt, an dem er geschrieben hatte, zur Seite, um sich den Besucher genau anzusehen.

 

»Sie kommen aus Kimberley?« fragte er. »Ich erinnere mich nicht, Sie jemals gesehen zu haben. Sie wissen natürlich, welchen Namen ich damals führte?«

 

»Ich weiß«, erwiderte der kleine Mann, »aber ich werde ihn nicht aussprechen. Wenn ein Mann sich Brown nennt – so ist er für mich eben Mr. Brown. Offen gesagt – ich verbüßte zur selben Zeit wie Sie eine Strafe.«

 

Torrington fuhr mit der Hand in die Tasche.

 

»Ich besinne mich nicht auf Sie, aber ich habe mir auch große Mühe gegeben, alle Leute zu vergessen, mit denen ich am Wellenbrecher arbeitete.«

 

Auf dem Schreibtisch lag der Brief, den der alte Herr gerade beendigt hatte. Der Fremde sah die schwungvolle Unterschrift, aber der Bogen war zu weit entfernt, als daß er ihn hätte lesen können. Er suchte nach einem Vorwand, um hinter den Tisch zu kommen.

 

Torrington schob ihm eine Banknote zu.

 

»Ich hoffe, daß es Ihnen in Zukunft besser gehen wird.«

 

Der kleine Mann nahm den Geldschein, ballte ihn zusammen und schleuderte ihn zum Erstaunen seines Wohltäters an ihm vorüber in den leeren Kamin. Verwundert sah sich »Mr. Brown« um, und in dieser Sekunde wurde die Unterschrift gelesen.

 

»Behalten Sie Ihr Geld!« sagte der Fremde. »Denken Sie, daß ich deshalb hergekommen bin – Torrington?«

 

Daniel Torrington stand auf.

 

»Nehmen Sie das Geld, und machen Sie sich nicht lächerlich!«

 

Der Mann holte sich den zerknitterten Schein und ging. Torrington machte die Tür leise hinter ihm zu. Woher wußte dieser Mensch –?

 

Da fiel sein Blick auf den Brief, und er begriff.

 

Kapitel 22

 

22

 

Die Zeitungen berichteten eingehend und wahrheitsgetreu über das Ereignis der vergangenen Nacht, und der ›Globe Herald‹ fügte hinzu:

 

 

»Die Polizei steht vor einem fast unlösbaren Rätsel oder vielmehr vor einer Reihe von Rätseln, die wir hier aufzählen wollen:

 

1. Wie gelangte Marshalt in das sorgsam behütete Haus dieses Sonderlings? Da er seinen Nachbar so sehr fürchtete, daß er Privatdetektive mit seinem Schutz betraut hatte, muß er starke Beweggründe gehabt haben, um sich zum Betreten des geheimnisvollen Hauses zu entschließen.

 

2. Auf welche Weise wurde Marshalts Leiche aus Nr. 551 entfernt?

 

3. Wer tötete den Bedienten Tonger, und warum wurde er überhaupt getötet?

 

4. Wo ist Malpas? Ist er etwa auch in die Hände der gespenstischen Verbrecher gefallen?«

 

 

Dick nickte anerkennend, als er diesen Artikel las. Daß bei aller Genauigkeit mehrere wichtige Punkte übersehen worden waren, konnte ihm nur lieb sein. Gleich morgens um zehn Uhr hatte er die Köchin Marshalts verhört. Die Frau wußte jedoch nur auszusagen, daß ihr Herr um halb acht abends das Haus verlassen hätte, und daß Tonger gut mit ihm gestanden hätte und ein nüchterner Mann gewesen wäre. Nur in der letzten Zeit hätte er angefangen zu trinken und zu seinen Mahlzeiten statt der Zitronenlimonade alkoholhaltige Getränke verlangt.

 

All dies sagte Dick nicht viel, und er beschloß, Audrey aufzusuchen, um zu sehen, ob sie vielleicht eine der Lücken ausfüllen könnte. Er fand sie in dem leeren Speisesaal, wo sie ein spätes Frühstück einnahm.

 

»Ich habe die Zeitungen schon gelesen«, sagte sie. »Sie sind recht gut unterrichtet.«

 

»Ja«, bestätigte er und holte den auf dem Schreibtisch gefundenen Bogen hervor. »Ist das vielleicht einer von den Briefen, die Sie für Mr. Malpas geschrieben haben?«

 

»Es ist meine Handschrift. Besinnen kann ich mich nicht darauf. Ich schrieb die Sachen immer ganz mechanisch ab, weil sie mir teils sinnlos, teils wunderlich vorkamen. Übrigens – was soll ich mit dem Geld machen, das er mir gegeben hat?«

 

»Heben Sie es für seine Erben auf«, erwiderte er finster.

 

»Er ist doch nicht etwa tot?«

 

»Genau sieben Wochen nach dem Tag, an dem ich ihn fasse, wird der alte Teufel tot sein!«

 

Er fragte sie noch einmal, wie Malpas aussähe, und notierte sich ihre Beschreibung. Es war der Mann, dessen Gesicht er durch das Oberlichtfenster gesehen hatte!

 

Als Dick gegangen war, legte sich Audrey wieder zu Bett, denn die Ereignisse des vergangenen Tages hatten sie sehr angegriffen und erschüttert. Sie mußte wohl eingeschlummert sein, denn plötzlich fuhr sie erschrocken in die Höhe.

 

Ihre Tür war nur angelehnt, und sie wußte genau, daß sie sie vorher geschlossen hatte. Wer hatte sie geöffnet? Sie trat auf den Korridor hinaus, aber es war niemand zu sehen. Sollte sie sich doch getäuscht haben?

 

Im nächsten Augenblick sah sie einen Brief am Boden liegen, bei dessen Anblick ihr fast der Atem verging. Er kam von Malpas. Mit zitternden Fingern riß sie den Umschlag auf und schaute auf das unordentliche Gekritzel:

 

 

»Lacy und sein Untergebener sind tot. Sie werden denselben Weg gehen, wenn Sie mich verraten. Erwarten Sie mich heute abend um neun am Eingang von St. Dunstan, Outer Circle. Wenn Sie zu Shannon darüber sprechen, soll es Ihnen schlecht bekommen.«

 

 

Sie durchflog die Zeilen noch einmal. St. Dunstan, das Heim für blinde Soldaten, lag weit draußen in einer einsamen Gegend. Sollte sie Dick zu Rate ziehen? Ihr erster Gedanke war, ihm von dieser Nachricht Mitteilung zu machen, aber ihr zweiter galt seiner Sicherheit. Sie durfte ihn nicht einweihen, denn er suchte nach Malpas, und dies konnte seinen sicheren Tod bedeuten.

 

Den ganzen Tag über beschäftigte sie sich mit dem Problem, und dabei hatte sie ständig das dunkle, quälende Gefühl, daß sie bewacht und beobachtet wurde. Wer war nur dieser rätselhafte Mann – dieser graue Schatten, der ungesehen kam und ging?

 

Sie hoffte immer noch, daß Dick nachmittags oder zu Tisch erscheinen würde, aber der Captain hatte keine Zeit. So zog sie sich denn nach dem Essen auf ihr Zimmer zurück, um einen Plan zu entwerfen.

 

Erstens wollte sie all ihr Geld im Safe des Hotels zurücklassen, zweitens einen recht kräftig aussehenden Chauffeur wählen und sich keinen Schritt von der Autodroschke entfernen. Sie hätte gern einen Revolver mitgenommen, aber sie besaß keinen und verstand auch kaum, damit umzugehen.

 

Sie mußte lange warten, bis endlich ein passender Chauffeur von der nötigen Größe und Stärke des Weges kam.

 

»Ich habe eine Verabredung mit einem Herrn im Outer Circle«, sagte sie hastig. »Und ich – ich möchte nicht mit ihm allein gelassen werden – verstehen Sie?«

 

Er verstand durchaus nicht. Sonst pflegten solche junge Damen ganz entgegengesetzte Wünsche zu haben.

 

Es schneite und stürmte, und die Straßen wurden leerer und dunkler. Es war eine lange Fahrt, aber endlich hielt das Auto am Bordstein.

 

»Hier sind wir bei St. Dunstan«, sagte der Chauffeur und blieb neben der Tür stehen. »Es ist aber niemand hier.«

 

Aber im nächsten Augenblick glitt ein langes Auto heran und hielt dicht hinter ihnen. Audrey sah, daß eine gebeugte Gestalt mühsam ausstieg, und wartete gespannt, was folgen sollte.

 

»Audrey!«

 

Die Stimme war unverkennbar.

 

»Bitte, kommen Sie hierher«, sagte sie.

 

Er kam langsam auf sie zu – sie erkannte das lange Kinn über dem weißen Schal und die große Nase.

 

»Kommen Sie her, und schicken Sie Ihre Droschke fort!« rief er ungeduldig.

 

»Nein, der Chauffeur bleibt hier«, erklärte sie fest. »Ich habe nicht viel Zeit. Wissen Sie, daß die Polizei nach Ihnen sucht?«

 

»Schicken Sie das Auto fort!« wiederholte er heftig. »Sie haben jemand drin – der Teufel soll Sie holen! Ich schrieb Ihnen doch –«

 

Sie sah glitzernden Stahl in seiner Hand und wich zurück.

 

»Ich schwöre Ihnen, daß niemand anders als der Chauffeur bei mir ist.«

 

»Kommen Sie her!« befahl er. »Steigen Sie in mein Auto.«

 

Sie wollte sich umdrehen, glitt aber in dem nassen Schnee aus. Rasch packte er sie an beiden Armen und stand nun hinter ihr.

 

»Nanu – was soll denn das?« brüllte der Chauffeur ihn an und näherte sich in drohender Haltung.

 

»Halt!« Eine Revolvermündung brachte ihn zum Stehen.

 

»Fahren Sie fort! Hier!«

 

Eine Handvoll Geld flog ihm vor die Füße, und als er sich bückte, es aufzuheben, sauste der Revolverkolben auf seinen Hinterkopf nieder. Er fiel um wie ein schwerer Klotz.

 

Das geschah, bevor sich Audrey der großen Gefahr bewußt wurde, in der sie schwebte. Sie fühlte, daß der Mann sie aufhob.

 

»Wenn Sie schreien, schneide ich Ihnen die Kehle durch!« zischte er ihr ins Ohr. »Sie sollen denselben Weg gehen wie Marshalt und Tonger – den Weg, den auch Shannon gehen wird, wenn Sie nicht tun, was ich will –«

 

Er preßte eine Hand auf ihren Mund und zerrte sie auf sein Auto zu. Aber dann ließ er sie plötzlich los, und sie stürzte halb ohnmächtig zu Boden. Bevor sie wieder ganz zu sich kam, schossen die Lampen von Malpas Auto an ihr vorüber. Sie sah drei Leute laufen, hörte Schüsse knallen und wurde auf die Füße gestellt. Der Arm, der sie umfaßt hielt, gab ihr ein sonderbar beruhigendes Gefühl, und sie schaute in Dick Shannons Gesicht.

 

»Sie unartiges Kind!« sagte er streng. »War das ein Schreck!«

 

»Haben Sie – haben Sie ihn gesehen?«

 

»Malpas? Nein, nur seine Scheinwerfer, aber es ist ja immerhin entfernt möglich, daß sie ihn an irgendeinem Tor anhalten. Mein Mann hatte Sie aus den Augen verloren, und es war ein reiner Glücksfall, daß er Sie bei Clarence Gate wiedersah. Er rief mich in Marylebone an – nun, wir wollen froh sein, daß alles so gut abgelaufen ist.« Er schauderte. »Hat der Kerl etwas von Belang gesagt?«

 

»Nein, er stieß nur eine Menge ungemütlicher Drohungen aus, die hoffentlich nicht in Erfüllung gehen. Dick, ich kehre zu meinen Hühnern zurück.«

 

Shannon lachte leise.

 

»Selbst das grimmigste Ihrer Hühner würde nicht imstande sein, Sie jetzt zu beschützen. Malpas hält es aus irgendeinem Grund für notwendig, Sie zu beseitigen. Übrigens habe ich Sie Tag und Nacht von zwei eifrigen Leuten bewachen lassen. Haben Sie das nicht bemerkt?«

 

Nachdem er sie ins Hotel zurückgebracht hatte, fuhr er nach Hause und stieß vor seiner Tür auf Mr. Brown.

 

»Warten Sie hier auf mich?« fragte er.

 

»Ja, seit einigen Minuten. Haben Sie ihn gefaßt?«

 

Dick fuhr herum.

 

»Wen?«

 

»Nun, natürlich Malpas! Sie vergessen, daß Ihre Kanonade die friedlichen Bewohner von Regent’s Park in fürchterliche Angst versetzt und lebhafte Reklame für Ihren Kampf mit dem Teufelskerl gemacht hat.«

 

»Teufelskerl? Kennen Sie Malpas?«

 

»Sehr genau, und Lacy Marshalt auch – noch besser als den verstorbenen Laker.«

 

»Kommen Sie mit mir hinauf«, erwiderte Dick, und Mr. Brown folgte ihm so lautlos, daß er sich umdrehte, um sich zu vergewissern, ob er auch hinter ihm wäre.

 

»Sie sprachen eben von Laker: wer ist das?«

 

»Ein Dieb und Trunkenbold. Obwohl er Malpas kannte, war er unvorsichtig genug, ihn in berauschtem Zustand zu besuchen – infolgedessen wurde seine Leiche kürzlich aus der Themse gefischt.«

 

»Meinen Sie den Mann, der am Embankment ins Wasser geworfen wurde?«

 

»Ja, das war Laker. Wundern Sie sich, daß es sogenannte Teufel in Menschengestalt gibt, die sich durch Mord einen Ausweg aus ihren Verlegenheiten suchen? Warum auch nicht? Begeht man einen Mord, ohne ihn zu bereuen, so sind alle weiteren nur eine natürliche Folge davon. Ich habe viele Mörder gekannt –«

 

»Gekannt!« wiederholte Dick bestürzt.

 

»Ja, ich habe lange Sträflingsjahre hinter mir. Mein eigentlicher Name ist Torrington, und ich war zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt, wurde aber begnadigt, als ich zwei Kindern das Leben rettete, und zwar den Kindern des höchsten Verwaltungsbeamten von Kapstadt. Aus diesem Grund hat man mir auch die Führung eines Passes unter falschem Namen gestattet.« Er lächelte flüchtig. »Ich gehöre sozusagen den privilegierten Klassen an. Und ich interessiere mich für Malpas, noch mehr allerdings für den verstorbenen Marshalt. Aber darüber brauche ich wohl keine weiteren Worte zu verlieren. Malpas ist gefährlich, Captain Shannon. Auf einen Mord mehr oder weniger kommt es ihm nicht an. An Ihrer Stelle würde ich ihn in Ruhe lassen.«

 

»Ein netter Ratschlag für einen Polizeibeamten!« meinte Dick lachend.

 

»Es ist ein guter Rat«, erwiderte Brown. »Wo mögen sie nur Marshalts Leiche hingebracht haben?« fragte er dann.

 

Dick zuckte die Schultern.

 

»Sie muß noch irgendwie im Haus versteckt sein«, entgegnete er ausweichend.

 

»Das glaube ich nicht. Ich habe einen Gedanken – aber ich habe schon zuviel gesagt. Kommen Sie mit und trinken Sie bei mir im Hotel noch einen Nachttrunk, Captain Shannon!«

 

Dick lehnte lächelnd ab.

 

»Aber dann bringen Sie mich doch wenigstens nach Hause?« fragte Brown. »Ich bin ein schwacher, alter Mann und bedarf des polizeilichen Schutzes.«

 

Dazu war Dick bereit. Unterwegs sah er, daß Mr. Torrington manchmal weniger hinkte. Es war, als ob er zuweilen vergäße, den Fuß nachzuschleppen. Schließlich machte Dick eine Bemerkung darüber.

 

»Ich glaube, das beruht auf Gewohnheit«, entgegnete Torrington unbefangen. »Ich hatte mir das Nachschleppen des Fußes so angewöhnt, daß es mir zur zweiten Natur geworden ist.«

 

Er spähte scharf um sich.

 

»Erwarten Sie, jemand zu sehen?« fragte Dick.

 

»Ja, ich sehe mich nach dem Schatten um. Er hat sich heute noch gar nicht blicken lassen.«

 

Shannon lächelte.

 

»Sie lieben es wohl nicht, beobachtet zu werden? Alle Achtung, daß Sie es bemerkt haben!«

 

Torrington schaute ihn groß an.

 

»Ach, Sie meinen den Polizisten, der mir folgt? Dort an der Ecke steht er. Nein, ich sprach von dem Mann, der auf Ihrer Spur ist.«

 

»Auf meiner Spur?«

 

»Wußten Sie das denn nicht? Du lieber Himmel, und ich dachte, Sie wüßten alles.«

 

Kapitel 20

 

20

 

»Alle Zimmer durchsuchen!« befahl Shannon. »Der Mann muß noch im Haus sein. Er ist hier gewesen.« Er deutete auf die Papiere, die wirr und teilweise blutbefleckt auf dem Schreibtisch umherlagen. Dann begann er hinter den Samtvorhängen nach einem zweiten Ausgang zu suchen. »Großer Gott!« stieß er plötzlich hervor.

 

Hinter einer der Portieren thronte auf einem breiten Sockel ein großer, bronzener Götze, und hinter diesem war eine ungeheure goldene Sonne inkrustiert, deren tanzende Flammen mit Tausenden von kleinen Rubinen besetzt waren und wie Feuer zu lodern schienen. Rechts und links von dem Götzen standen zwei katzenartige Bronzetiere mit funkelnden, grünen Augen.

 

»Smaragde – echte Smaragde«, sagte Dick. »Sind wir denn in Ali Babas Höhle geraten? Den Götzen kann ich nicht unterbringen – ein Mittelding zwischen Pluto und den Medusen – sehen Sie doch nur die Schlangenhaare!«

 

Es war eine scheußliche Gestalt mit greulichem Mund und zackigen Elefantenzähnen, die sich zu bewegen schienen.

 

»Der alte Herr scheint ein Teufelsanbeter zu sein«, erklärte Dick und zeigte auf zwei rauchgeschwärzte Schalen.

 

»Das ist Blut«, murmelte Steel und beleuchtete einen schmierigen roten Fleck mit seiner Taschenlampe. »Und wonach riecht es hier so eigentümlich?«

 

»Der Teppich sengt«, bemerkte einer der Leute und nahm mit seiner behandschuhten Hand eine halbverglühte Kohle auf.

 

Schließlich wurde in einer Ecke eine kleine Tür entdeckt, die der Feuerwehraxt nicht widerstand. Eine Steintreppe führte von dort zu einem Vorderzimmer hinab. Hier waren allerlei seltsame Sachen aufgestapelt: Felle und Zulu-Assegais und eine große Sammlung greulicher Götzenbilder. Dazwischen ein in leuchtenden Farben bemalter ägyptischer Sarg, dessen Deckel aus einer geschnitzten Menschengestalt bestand. Shannon lüftete den Deckel – der Sarg war leer.

 

»Marshalts Leiche befindet sich noch im Haus«, erklärte Dick mit Bestimmtheit, als sie wieder nach oben zurückkehrten. »Ob es wohl eine Verbindung zwischen den beiden Häusern gibt?«

 

»Nein«, erwiderte Steel. »Die Wände sind massiv. Ich habe sie in allen Stockwerken geprüft.«

 

Ein Polizeiinspektor hatte sich am Schreibtisch niedergelassen und überreichte Dick jetzt einen halben Briefbogen, bei dessen Anblick Dick ein kalter Schauer über den Rücken lief. Das Blatt trug den Briefkopf des Palace-Hotels und war offenbar von Audreys Hand beschrieben.

 

 

»Wollen Sie mich heute abend um acht besuchen? Mr. M. wird Sie einlassen, wenn Sie klopfen.

 

A.«

 

 

Audrey! Aber er faßte sich gleich wieder, denn die Sache war ihm klar. Er nahm Steel beiseite und zeigte ihm den Brief.

 

»Dies ist einer von den Briefen, die Miß Bedford für den alten Herrn abzuschreiben pflegte«, sagte er. »Ich werde jetzt hinübergehen und Tonger benachrichtigen.«

 

Draußen hatten sich trotz der späten Stunde viele Neugierige angesammelt. Auch im Marshaltschen Haus brannte noch Licht, als Dick klingelte. Aber es meldete sich niemand.

 

Steel rief nach Shannon, und dieser kehrte zurück, um zu sehen, was sein Assistent wollte. Sein Fuß berührte schon den Gehsteig, als in dem Haus hinter ihm ein Schuß knallte, dem rasch zwei weitere folgten. Gleichzeitig ertönte unten im Keller gellendes Geschrei, und die Tür des Kellereingangs wurde aufgerissen.

 

»Mord!« kreischte eine Frauenstimme.

 

Sofort stürzte Dick hinunter, schob eine ohnmächtig umsinkende Frau beiseite und lief in die Halle hinauf, wo er drei vor Angst halb wahnsinnige Dienstmädchen und eine etwas gefaßtere Köchin vorfand.

 

»Oben, oben!« riefen sie. »Mr. Marshalts Arbeitszimmer!«

 

Shannon eilte in langen Sätzen die Treppe hinauf und bemerkte rechts eine offenstehende Tür. Quer über die Schwelle ausgestreckt lag Tonger.

 

Er war tot – aus nächster Nähe erschossen.

 

Nachdem die Leiche fortgeschafft worden war, fragte Dick die Mädchen, wer die Kellertür geöffnet hätte, aber sie wußten es nicht. Er kehrte dann nach Nr. 551 zurück, wo man inzwischen alle Zimmer bis auf eins im obersten Stock durchsucht hatte. Dieses eine ließ sich nicht öffnen.

 

»Holen Sie Brecheisen!« befahl Dick. »Ich gehe nicht aus dem Haus, bevor wir nicht jeden Winkel genau durchforscht haben.«

 

Gleich darauf stand er allein in dem schwarz drapierten Zimmer, als ein Mann hereinkam, in dem er zu seiner Verwunderung den lahmen »Mr. Brown« erkannte.

 

»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte er. »Steht denn kein Polizist vor der Tür?«

 

»Wenn einer da war, habe ich ihn nicht gesehen«, erwiderte Brown gelassen. »Ich bin doch nicht etwa überflüssig hier?«

 

»Ich fürchte, ja«, entgegnete Dick kurz. »Aber ich werde Sie nicht wieder gehen lassen, bis ich weiß, wie Sie hereingekommen sind.«

 

Er begleitete ihn nach unten. Der Beamte an der Tür hatte ihn nicht hineingehen sehen.

 

»Was bedeutet das?« fragte Dick jetzt in offiziellem, amtlichem Ton.

 

»Der Polizist hat offenbar vergessen, daß er auf den Gehsteig hinunterging, um die Menge zurückzudrängen«, bemerkte Brown lächelnd.

 

Der Beamte gab das zu.

 

»Wo wohnen Sie?« fragte Dick unmutig.

 

»Immer noch im Ritz-Carlton.«

 

Da Dick festgestellt hatte, daß er tatsächlich in dem eleganten Hotel logierte, ließ er ihn gehen, obwohl ihm die Sache nicht gefiel. Er begab sich wieder nach oben, wo zwei Schutzleute die verschlossene Tür bewachten, an der weder ein Griff noch ein Schloß zu entdecken war.

 

»Sie muß von innen verschlossen sein«, meinte der eine Polizist. »Es ist jemand drinnen. Es klingt, als ob ein Tisch über den Fußboden gezogen würde.«

 

Dick lauschte und hörte nach einer Weile ein kaum vernehmliches Geräusch.

 

»Wir haben es mit einer Axt versucht, hatten aber nicht genügend Spielraum«, sagte Steel. »Jetzt kommen sie mit einer Brechstange.«

 

»Hören Sie?« sagte einer der Leute plötzlich.

 

Man hätte taub sein müssen, wenn man es nicht gehört hätte: erst klang es, als ob ein Stuhl umfiele, dann folgte ein dumpfer Ton.

 

Endlich begannen die Leute, mit der Brechstange zu arbeiten, und nach zwei Minuten gab die Tür nach.

 

Das Zimmer war bis auf einen Tisch und einen am Boden liegenden Stuhl völlig leer. Dick sprang rasch auf den Tisch und rüttelte an dem Oberlichtfenster, aber es war geschlossen. Er richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe nach oben und erblickte durch das schmutzige Fenster die Umrisse eines herabstarrenden Gesichts – aber nur eine Sekunde lang. Dann verschwand es.

 

Ein langes, spitzes Kinn, eine hohe, stark vorspringende Stirne, eine scheußliche, große Nase …

 

»Die Brechstange – schnell!« rief Dick und stieß mit der Faust gegen den schweren Fensterrahmen. Nach wenigen Minuten schwang er sich auf das flache, bleigedeckte Dach und ging vorsichtig um einen Schornstein herum, als eine Stimme »Hände hoch!« rief, und Dick sich daran erinnerte, daß Willitt einen Mann auf dem Dach postiert hatte.

 

»Gehören Sie zu Willitts Leuten?« fragte er.

 

»Ja.«

 

Ich bin Captain Shannon von Scotland Yard. Haben Sie hier jemand vorbeigehen sehen?«

 

»Nein.«

 

»Bestimmt nicht?« fragte Dick betreten.

 

»Ganz bestimmt nicht. Einmal klang es, als ob hier jemand ginge, aber das war am anderen Ende des Daches.«

 

Dick ließ den Schein seiner Lampe spielen und entdeckte schließlich einen mit Knoten versehenen Strick, der an einem Schornstein festgebunden war und über den Dachrand hinabhing.

 

Mit Steels Hilfe wurden dann nach langem Suchen noch zwei Gegenstände auf dem Dach gefunden: eine Messinghülse aus einer automatischen Pistole und ein kleines, goldenes Zigarettenetui mit drei Zigaretten. Dick bemerkte mit Befriedigung ein Monogramm an einer Ecke des Etuis.

 

»Ich glaube, jetzt haben wir den Mann«, sagte er ernst.

 

Kapitel 3

 

3

 

»Von den Hühnern hat jedes vier Schillinge gebracht«, berichtete die alte Mrs. Graffit und zählte das Geld auf den Tisch.

 

Audrey Bedford rechnete rasch nach.

 

»Mit den Möbeln macht das siebenunddreißig Pfund und zehn Schillinge. Reicht also gerade für den Hühnerfuttermann, Ihren Lohn und meine Reise.«

 

»Eine Kleinigkeit könnten Sie doch noch für mich zulegen«, bat die Frau weinerlich. »Seit Ihre liebe Mutter starb, habe ich Sie betreut und alles für Sie besorgt –«

 

»Seien Sie ruhig!« unterbrach sie das junge Mädchen. »Sie haben Ihr Schäfchen bei der Geschichte wirklich ins trockene gebracht. Hühnerzucht lohnt sich nicht und wird sich niemals lohnen, wenn der Generalstabschef einen heimlichen Eierhandel betreibt.«

 

»Wohin wollen Sie denn?« fragte Mrs. Graffit, um das Gespräch auf ein weniger gefährliches Thema zu bringen.

 

»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht nach London.«

 

»Eine fürchterliche Stadt! Nichts als Morde und Diebstähle –«

 

»Weil Sie gerade von Diebstählen sprechen – was ist denn aus den letzten vier Hühnern geworden?« erkundigte sich Audrey freundlich.

 

»Ach – habe ich Ihnen das Geld dafür nicht gegeben? Ich muß es tatsächlich verloren haben.«

 

»Nun, dann brauchen wir ja nur den Gendarm zu holen, der versteht sich aufs Suchen.«

 

Mrs. Graffit fand plötzlich das Geld sofort, legte es auf den Tisch und ging dann mürrisch hinaus.

 

Audrey sah sich in dem Zimmer um. Sie hatte den Sessel verbrannt, in dem ihre Mutter immer mit düsteren Blicken in den schwarzen Kamin gestarrt hatte. Ihren Vater hatte sie nie gesehen. Er mußte wohl ein schlechter Mensch gewesen sein. Wenn Audrey als Kind fragte: »Ist er tot, Mutter?«, so antwortete Mrs. Bedford stets: »Hoffentlich!«

 

Audreys Schwester Dora hatte niemals so unwillkommene Fragen gestellt; aber sie war auch älter und teilte die unbarmherzigen Anschauungen ihrer Mutter.

 

Nein, dieses Haus barg keine freundlichen Erinnerungen für Audrey, und der Abschied fiel ihr nicht schwer.

 

Sie war nicht betrübt und auch nicht besonders froh. Vor der Zukunft hatte sie keine Angst, denn sie hatte eine gute Erziehung genossen, viel gelesen, viel nachgedacht und sich an langen Winterabenden mit Stenographie beschäftigt.

 

»Noch viel Zeit!« brummte der Omnibuskutscher, als er ihren Koffer in den dunklen, muffigen Wagen warf. »Wenn die blödsinnigen Autos nicht wären, würde ich erst später losfahren. Aber so muß man vorsichtig sein.«

 

In diesem Augenblick erschien ein Fremder und zog den Hut vor Audrey.

 

»Verzeihung, Miß Bedford. Mein Name ist Willitt. Könnte ich Sie heute abend nach Ihrer Rückkehr einmal sprechen?«

 

»Ich komme nicht mehr zurück.«

 

»Nicht? Darf ich dann um Ihre Adresse bitten? Es handelt sich um eine sehr wichtige Angelegenheit.«

 

»Eine Adresse kann ich Ihnen noch nicht geben. Aber wenn Sie mir die Ihre mitteilen, schreibe ich Ihnen.«

 

Er kritzelte sie auf einen Zettel. Sie nahm ihn, stieg ein und schlug die Wagentür zu. Gleich darauf setzte sich der Omnibus in Bewegung.

 

An der Ecke von Ledbury Lane ereignete sich ein Unfall. Dick Shannon nahm die Kurve zu knapp und schnitt das eine Omnibusrad glatt ab.

 

Audrey stand bereits auf der schmutzigen Landstraße, als Dick auf sie zueilte. Auf seinem hübschen Gesicht lag ein reumütiger Ausdruck.

 

»Es tut mir furchtbar leid! Sie sind doch nicht verletzt?«

 

Er schätzte sie auf siebzehn Jahre, obwohl sie schon neunzehn zählte. Sie trug billige Konfektionskleidung, war aber sehr schön. Dick fürchtete sich fast davor, ihre Stimme zu hören, denn vermutlich wurden seine Illusionen über dieses schöne Mädchen dann zerstört.

 

»Nein, ich bin nur etwas erschrocken. Aber nun werde ich meinen Zug nicht mehr erreichen.« Bekümmert schaute sie auf das abgefahrene Rad.

 

Mit Entzücken hatte er ihrer klaren, reinen Stimme gelauscht. Er hatte sich nicht getäuscht – diese Bettelprinzessin war wirklich eine Dame!

 

»Sie wollen zum Bahnhof von Barnham?« fragte er eifrig. »Ich komme durch den Ort – und ich muß dem armen Kutscher doch auch Hilfe schicken.«

 

»Warum passen Sie nicht auf?« schimpfte der Mann wütend. »Haben Sie vielleicht die Landstraße gepachtet?«

 

Dick knöpfte seinen Mantel auf und nahm eine Visitenkarte und eine Banknote aus seiner Brieftasche.

 

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte er und reichte ihm beides. »Ich schicke Ihnen sofort Leute aus Barnham.« Er wandte sich wieder an Audrey. »Wollen Sie sich mir anvertrauen?«

 

Lächelnd stieg sie ein. Der Kutscher reichte den Koffer in den Wagen, und Dick nahm seinen Platz am Steuer ein.

 

»Darf ich Sie nicht ganz nach London bringen?« fragte er, als sich das Auto in Bewegung setzte.

 

»Danke, ich möchte lieber mit der Bahn fahren. Es ist möglich, daß mich meine Schwester abholt.«

 

»Sie wohnen hier in der Gegend?«

 

»Ich hatte eine Geflügelfarm in Fontwell. Aber von Hühnern kann man nicht leben, und ich habe das alte Haus verkauft – oder vielmehr, es hat sich alles in Hypotheken aufgelöst.«

 

»Wie schön, daß Sie dann eine Schwester haben, die Sie erwartet«, erwiderte er in fast väterlichem Ton, denn sie erschien ihm so jung und schutzbedürftig.

 

In Barnham stieg er mit ihr aus, brachte ihren kleinen Koffer auf den Bahnsteig und bestand darauf, die Ankunft des Zuges abzuwarten.

 

»Ihre Schwester wohnt natürlich in London?«

 

»Ja, in der Curzon Street.«

 

»Ist sie – ich meine – ist sie dort angestellt?«

 

»O nein. Sie ist verheiratet. Mrs. Martin Elton.«

 

Er sah sie bestürzt an. Aber in diesem Augenblick lief der Zug ein, und Dick eilte zu dem Zeitungsstand, um noch ein paar Magazine für sie zu kaufen.

 

»Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, Mr. –? Ich heiße Audrey Bedford.«

 

»Ich werde es nicht vergessen!« rief er ihr nach, als sich der Zug schon in Bewegung setzte.

 

Nachdenklich kehrte er zu seinem Wagen zurück. Mrs. Elton war ihre Schwester, die berüchtigte Verbrecherin, die er seit langem zu fassen suchte!

 

Kapitel 19

 

19

 

Inzwischen war Shannon zum Portman Square gefahren. Tonger machte ihm auf.

 

»Marshalt ist nicht zu Hause«, sagte er schroff.

 

Dick trat ohne weiteres in die Halle ein und machte die Tür zu.

 

»Ich komme nicht nur seinetwegen«, erklärte er ruhig. »Erinnern Sie sich an die Frau, die vor acht Tagen hierherkam, und die Sie hinauswarfen?«

 

Tonger nickte und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.

 

»Kommen Sie herein, Captain«, erwiderte er und machte Licht. »Ich bin eben erst von einer Reise im Flugzeug zurückgekehrt, und ich fühle mich infolgedessen etwas angegriffen. Was soll denn mit der Frau sein?«

 

»Heute nachmittag wurde im Green Park eine Tote aufgefunden, und ich habe Grund zu der Annahme, daß es dieselbe Person ist, die hier den Spektakel machte.«

 

Tonger starrte ihn mit offenem Mund an.

 

»Das kann ich mir nicht denken. Im Park? Ich weiß nichts von ihr.«

 

»Sie sagten doch, es wäre eine Mrs. Sowieso aus Fourteen Streams.«

 

»Ja, den Namen gab sie an. Wünschen Sie, daß ich sie mir ansehe?«

 

»Da Sie sich nicht wohlfühlen, hat es ja Zeit bis morgen.«

 

»In ein Flugzeug kriegt mich Lacy nicht wieder«, bemerkte Tonger, als er Shannon wieder hinausbegleitete. »Übrigens – wie ist sie denn umgekommen?«

 

»Vermutlich durch Gift. Eine silberne Flasche lag neben ihr.«

 

Er stand schon auf der Schwelle, und während er noch sprach, schloß sich die Tür bereits leise.

 

»Unmanierlicher Bursche!« dachte Shannon.

 

Als er den Gehsteig erreichte, blieb er plötzlich stehen.

 

»Mrs. Elton?« rief er halblaut.

 

Sie wandte sich entsetzt um.

 

»Wer –« begann sie mit zitternder Stimme – »ach, Sie sind es, Captain Shannon! Haben Sie Mr. Marshalt gesehen?«

 

»Nein.«

 

»Ich wollte zu ihm, aber das Schloß an der Hintertür muß geändert worden sein … o Gott, was soll nur werden!«

 

»Wieso? Was haben Sie denn?« fragte er erstaunt.

 

»Martin ist doch nicht da? – Nein? – Ach, wie ich sie hasse, diese Heuchlerin! Sicher ist er wieder mit ihr zusammen – was Martin tut oder weiß, macht mir nichts aus, aber wenn mich Lacy betrügt –« sie schluchzte wild auf.

 

»Von wem sprechen Sie denn nur?«

 

»Ich meine Lacy und Audrey –«

 

Plötzlich eilte sie wie gehetzt davon.

 

Einen Augenblick starrte er ihr sprachlos nach, dann ging er weiter und traf Audrey an der verabredeten Stelle.

 

»Kommen Sie bitte nicht mit nach innen«, bat sie, als sie vor Nr.551 standen.

 

»Auf keinen Fall lasse ich Sie allein hineingehen!« erklärte er entschieden.

 

»Lieber ist es mir natürlich, wenn Sie mich begleiten, aber es kommt mir wie ein Unrecht gegen den alten Mann vor.«

 

Leise klopfte sie an die Tür.

 

»Wer ist da?« fragte die harte Stimme durch das Gitter.

 

»Miß Bedford.«

 

Sofort öffnete sich die Tür, und sie schlüpften hinein. In der Halle brannte ein schwaches Licht.

 

»Warten Sie hier«, flüsterte Audrey und schloß die Tür.

 

Er nickte, aber als sie oben stand und die Hand hob, um anzuklopfen, sah sie ihn lautlos die Treppe heraufkommen und schüttelte abwehrend den Kopf. Zweimal klopfte sie an und hob die Hand eben wieder, als im Zimmer in rascher Folge zwei Schüsse fielen.

 

Im Nu stand Dick neben ihr und stemmte die Schulter gegen die Tür, die sofort aufging. Er starrte in den dunklen Raum.

 

»Ist jemand da?« rief er laut und vernahm eine schwache Bewegung.

 

»Wer ist da?« rief er wieder.

 

Im gleichen Augenblick flammten zwei Lichter auf: die Schreibtischlampe und eine verhängte Birne über dem kleinen Tisch und Stuhl zu seiner Linken.

 

Und mitten im Zimmer, mit dem Gesicht nach unten, lag ein Mann.

 

Shannon stürzte hin. Mit Hilfe seiner Taschenlampe war es ihm möglich, die Drahthindernisse zu umgehen. In der nächsten Sekunde kniete er neben der reglosen Gestalt und drehte sie um.

 

Es war Lacy Marshalt. Über seinem Herzen war das Hemd von den Gasen einer aus nächster Nähe abgefeuerten Waffe geschwärzt.

 

»Tot!« sagte Dick atemlos.

 

»Was ist denn geschehen?« flüsterte Audrey, die von einer entsetzlichen Angst gepackt worden war.

 

»Bleiben Sie dort stehen!« befahl Dick leise. »Verlassen Sie das Zimmer nicht!«

 

Er ging um den Schreibtisch herum und entdeckte dahinter das kleine Schaltbrett für die Türen. Nacheinander legte er die Hebel um und kam dann zu Audrey zurück.

 

»Ich denke, daß sie jetzt offen sein werden«, sagte er, nahm ihren Arm und eilte mit ihr nach unten.

 

»Sagen Sie doch, was geschehen ist«, fragte sie wieder. »Wer war der – der Mann?«

 

»Später sage ich Ihnen alles.«

 

Die Haustür stand weit offen, und er lief auf die Straße hinaus. In der Ferne glühten die Lichter einer Autodroschke, die auf den schrillen Ton seiner Pfeife hin rasch herankam und vor dem Haus anhielt.

 

»Fahren Sie ins Hotel zurück«, sagte er, »und erwarten Sie mich dort.«

 

»Sie dürfen aber nicht wieder hineingehen!« bat sie entsetzt und packte seinen Arm mit beiden Händen. »Es stößt Ihnen etwas zu – ich fühle es!«

 

Er löste sich behutsam aus ihrem Griff.

 

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, beruhigte er sie. »Ich habe in den nächsten Sekunden eine Schar von Polizisten bei mir, und –«

 

Krach!

 

Er drehte sich um – die Haustür war zugeschlagen.

 

»Es ist noch jemand im Haus!« flüsterte sie. »Gehen Sie um Himmelswillen nicht wieder hinein! Captain Shannon – Dick, hören Sie auf mich!«

 

Er rannte die Stufen hinauf und warf sich gegen die Tür, aber sie gab nicht nach.

 

»Es sieht beinahe so aus, als ob man es mir unmöglich gemacht hätte«, entgegnete er resigniert. »Aber fahren Sie jetzt bitte nach Hause.«

 

Das Auto hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, als er schon wieder mit beiden Fäusten gegen das Holz hämmerte.

 

Eine Antwort erwartete er nicht, und es überlief ihn eiskalt, als plötzlich dicht an seinem Ohr irrsinniges Gelächter ertönte.

 

»Ich hab ihn – hab ihn – hab ihn!« kreischte eine Stimme. Dann trat Totenstille ein.

 

»Machen Sie auf!« schrie Shannon heiser. »Öffnen Sie! Ich muß Sie sprechen!«

 

Keine Antwort.

 

Jetzt kam ein Polizist herbei, gleich darauf ein anderer Mann, in dem Dick sofort den Privatdetektiv Willitt erkannte.

 

»Stimmt etwas nicht, Captain?« fragte er.

 

»Was machen Sie denn hier?« entgegnete Dick.

 

»Ich beobachte das Haus im Auftrag von Mr. Marshalt.«

 

Shannon horchte auf.

 

»So? Haben Sie auch jemand hinter dem Haus?«

 

»Ja, und ein dritter Mann ist oben auf dem Dach des Marshaltschen Hauses placiert.«

 

»Dann gehen Sie nach hinten zu Ihrem Kollegen. Sind Sie bewaffnet?«

 

Der Detektiv zögerte mit der Antwort.

 

»Ach so, Sie haben eine Pistole und keinen Erlaubnisschein! Nun, lassen wir das! Gehen Sie nach hinten und bedenken Sie, daß wir es mit einem Mörder zu tun haben, der nicht davor zurückscheuen wird, Sie niederzuschießen, wie er Marshalt erschossen hat!«

 

»Marshalt!« stammelte Willitt. »Erschossen?«

 

»Er ist tot«, erwiderte Dick kurz.

 

Dann schickte er den Polizisten weg, um mehr Leute und einen Krankenwagen herbeizurufen, und ging in die Hinterstraße, wo die beiden Detektive Wache hielten. Dort war nichts zu sehen als eine hohe Mauer mit einer verschlossenen Tür. Mit Willitts Hilfe kletterte er hinauf und erblickte im Schein seiner Taschenlampe einen kleinen Hof und eine Tür, die sicher ebenso fest verwahrt war wie die vordere.

 

Als er nach dem Portman Square zurückkehrte, fand er eine Reihe von Beamten dort und sah auch Steel darunter. Einer trug eine schwere Feuerwehraxt und begann, die Tür damit zu bearbeiten.

 

»Sie ist mit Stahl verkleidet, wir müssen sie sprengen«, sagte Dick, nachdem der Mann den ersten Schlag geführt hatte.

 

Aber im selben Augenblick knackte es leise, und die Tür öffnete sich von selbst.

 

»Einen Keil dazwischen!« rief Dick und stürmte nach oben.

 

Das Zimmer war jezt hell erleuchtet, aber Dick blieb wie gebannt auf der Schwelle stehen und sah sich verwirrt um. Marshalts Leiche war verschwunden!

 

Kapitel 18

 

18

 

Martin Elton legte die Zeitung beiseite und schaute auf die Uhr. Dabei fiel sein Blick wohl zum zwanzigstenmal auf seine Frau, die reglos mit aufgestützten Ellbogen vor dem Kamin saß und düster ins Feuer starrte.

 

»Was hast du, Dora?«

 

»Ich fühle mich nicht wohl. Du wolltest doch noch ausgehen?«

 

»Ja, und ich komme spät zurück – erst gegen Mitternacht.«

 

»Stanford war hier – hat er das Geld gebracht?« fragte sie, ohne aufzusehen.

 

»Ja, drei Millionen Franken. Das Zeug ist gut gemacht und ungefährlich. Klein wird es absetzen.«

 

»Wo hast du es?«

 

»Unter der Matratze in meinem Bett. Mache dir deshalb keine Sorgen. Morgen lasse ich es fortschaffen. Gehst du noch aus?«

 

»Ich weiß noch nicht – es kann sein.«

 

Er nickte ihr zu und verließ das Zimmer. Sie hörte, wie er die Haustür zuschlug, und versank wieder in ihre Grübeleien. Martin war ihr unheimlich. Er beobachtete sie – er mißtraute ihr. Sie hatte Angst vor ihm, nicht für sich selbst, aber für den Mann, den sie liebte. Ja, allmählich hatte sie begonnen, Martin zu hassen! Sie vergaß, was er für sie getan hatte, aus welcher

 

Laufbahn er sie gerettet hatte, und wie gut und freigebig er stets gegen sie gewesen war.

 

Wenn Martin aus dem Weg wäre … sie mußte ihn abschütteln, sonst würde er Lacy noch umbringen! Es gab nur einen Ausweg, und seit vierundzwanzig Stunden bemühte sie sich, mit dem Gedanken an diese Schandtat sich auszusöhnen …

 

Eine halbe Stunde später plauderte der diensttuende Sergeant mit Inspektor Gavon auf der Polizeiwache in der Vine Street, als eine bleiche Frau hastig in das kahle Büro kam. Gavon kannte sie.

 

»Guten Abend, Mrs. Elton. Wollen Sie mich sprechen?«

 

Sie nickte. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, und ihre Zunge schien den Dienst versagen zu wollen.

 

»Ja«, brachte sie schließlich hervor, aber ihre Stimme klang schrill und gequält. »In Italien lebt ein Mann – der französische Banknoten fälscht – es sind schon viele in Umlauf –«

 

»Das ist richtig. Kennen Sie vielleicht jemand, der solches Geld hat?«

 

»In unserem Haus finden Sie eine Menge. Mein Mann brachte es hin. Er hat es unter der Matratze in seinem Bett versteckt – Sie werden es finden –«

 

Gavon verlor beinahe die Fassung.

 

»Ihr Mann?« fragte er ungläubig. »Gehört es ihm denn?«

 

»Ja!« Sie packte ihn am Arm. »Was steht darauf? Nicht wahr, sieben Jahre bekommt er mindestens?«

 

Angewidert entzog sich der Inspektor ihrem Griff. Angebereien waren ihm nichts Neues – aber Dora Elton!

 

»Sie wissen es ganz bestimmt? Warten Sie hier!«

 

»Nein, nein, ich muß fort – das Mädchen wird Sie einlassen …«

 

In der nächsten Sekunde floh sie die Straße entlang, aber ein anderer war noch schneller als sie, und als sie in eine Seitenstraße einbog, war er neben ihr.

 

»Martin!« schrie sie auf.

 

Er sah sie mit wütenden Blicken an, und sie hob abwehrend die Hände.

 

»Du warst in der Vine Street?« flüsterte er.

 

»Ich – ich mußte –« stammelte sie, bleich wie der Tod.

 

Er nickte.

 

»Ich sah dich. Ich war darauf gefaßt, wenn ich es auch kaum für möglich hielt. Du kannst der Polizei viel Mühe sparen, wenn du wieder hingehst und sagst, daß kein Geld da ist. Seit acht Tagen trägst du dich mit dem Gedanken, mich festnehmen zu lassen.«

 

»Martin!« stöhnte sie.

 

»Du dachtest, du könntest dich besser mit Marshalt amüsieren, wenn ich aus dem Weg wäre«, fuhr er unerbittlich fort. »Aber darin irrst du dich, mein Kind! Mit Lacy rechne ich heute abend noch ab. Geh nur wieder hin und erzähle das auch deinen Freunden bei der Polizei!«

 

»Wohin willst du?« Sie klammerte sich an ihn, aber er stieß sie beiseite und ging rasch davon.

 

Als sie halb von Sinnen zur nächsten Telephonzelle wankte und Marshalts Nummer anrief, erhielt sie keine Antwort.

 

Kapitel 21

 

21

 

Dora Elton hörte, wie Martin nach Hause kam, und riß sich zusammen. Sie fror, obwohl sie noch in ihren Pelzmantel gehüllt war und in einem behaglich warmen Raum saß.

 

Lacy Marshalt war tot. Auch wenn sie nicht hinter jener Menge auf dem Portman Square gestanden und es gehört hätte, wäre es ihr zum Bewußtsein gekommen, denn die wilde Besessenheit, die sie gepackt hatte, war plötzlich von ihr gewichen. Und nun war ihr zumute wie einem Mörder am Morgen des Hinrichtungstages.

 

Der Türgriff drehte sich, und Martin Elton trat ein. Bei seinem Anblick zuckte ihre Hand zum Mund empor, um einen Schrei zu unterdrücken. Sein Gesicht und seine Hände waren schmutzig, sein Frackhemd mit Staub und Flecken bedeckt. Von dem Beinkleid hing ein Tuchfetzen herab und enthüllte ein zerschrammtes Knie. Die blutlosen Lippen machten sein Gesicht plötzlich alt, und die Augen lagen tief in den Höhlen.

 

Eine Sekunde lang blieb er in der Tür stehen und starrte sie an. Es lag weder Vorwurf noch Zorn in seinem Blick.

 

»Hallo, die Polizei ist also doch gekommen?« fragte er.

 

»Die Polizei?«

 

»Du schicktest sie doch her, um nach dem Geld zu suchen. Ich sprach mit Gavon: er hatte offenbar Lust, eine Haussuchung vorzunehmen. Du hast das doch wohl nicht vergessen?«

 

Sie hatte es wirklich vergessen. Es war inzwischen so viel geschehen!

 

»Ich habe es verhindert. Gavon glaubt, daß ich hysterisch bin.«

 

Er spreizte die schmutzigen Finger über dem Feuer aus.

 

»Der Ansicht bin ich auch. Aber jetzt will ich baden und mich umkleiden.«

 

Plötzlich fuhr sie mit der Hand in seine Tasche, holte einen großen Browning heraus und untersuchte ihn. Die Pistole war erst kürzlich abgefeuert worden und roch noch nach Pulver.

 

»Haben sie dich gesehen?« fragte sie leise.

 

»Ich weiß es nicht – es kann sein. Was willst du tun?«

 

»Zieh dich nur um. Ich habe noch einen Gang zu machen – in einer Viertelstunde bin ich wieder hier.«

 

»Schön«, erwiderte er dumpf.

 

Sie kannte eine Terrasse am Regent-Kanal und fuhr in einer Autodroschke hin. Nachdem sie den Chauffeur bezahlt und entlassen hatte, ging sie mitten auf die Brücke und ließ die Pistole hinabfallen. Sie hörte deutlich, wie die Waffe das dünne Eis durchschlug. Dann ging sie zu dem anderen Kanalufer und fand sehr bald wieder ein Auto.

 

Martin saß in seinem Ankleidezimmer und trank heißen Kaffee, als sie zurückkehrte. Er erriet, wo sie gewesen war.

 

»Es tut mir leid, daß du dich so dumm benommen hast – wegen des Geldes«, sagte er. »Ich hatte es mir anders überlegt und es Stanford zurückgegeben. Gavon war hier, während wir aus waren.«

 

»Ja, Lucy sagte so etwas. Was hast du mit deinen Kleidern gemacht?«

 

»Im Zentralofen«, erwiderte er kurz.

 

»Ich gehe jetzt zu Bett«, murmelte sie und bot ihm die Lippen zum Kuß.

 

»Frauen sind doch wunderlich«, sagte er vor sich hin, als sie das Zimmer verlassen hatte.

 

Er selbst ging nicht zur Ruhe. Sein Anzug lag für die erwartete plötzliche Vorladung bereit. Die ganze Nacht hindurch saß er grübelnd am Kaminfeuer – aber er bereute nichts. Er war eingeschlafen, als er um sieben von dem Hausmädchen geweckt wurde.

 

»Ein Herr möchte Sie sprechen – Captain Shannon.«

 

Martin erhob sich fröstelnd.

 

»Ich lasse bitten«, entgegnete er.

 

Dick Shannon kam sofort herein.

 

»Morgen, Elton! Gehört das Ihnen?« Er hielt ihm das goldene Zigarettenetui hin.

 

»Ja.«

 

Dick steckte es wieder ein.

 

»Wollen Sie mir bitte erklären, wie es kommt, daß wir es dort fanden, wo Marshalt ermordet wurde?«

 

»Um welche Zeit wurde der Mord begangen?« erwiderte Elton höflich.

 

»Um acht.«

 

Martin nickte.

 

»Um acht befand ich mich auf der Polizeiwache in der Vine Street und setzte Inspektor Gavon auseinander, daß meine Frau zeitweise an Geistesverwirrung leidet. Wußten Sie das nicht?«

 

In diesem Augenblick trat Dora bleich und hohläugig ins Zimmer.

 

»Was ist geschehen?« fragte sie.

 

»Shannon sagte mir eben, daß Lacy Marshalt tot ist. Das war mir ganz neu. Wußtest du es schon?«

 

»Ja – und warum ist Captain Shannon hier?«

 

»Weil mein Zigarettenetui wie durch Zauber sich auf das Dach des Malpas’schen Hauses verirrt hat«, entgegnete Martin lächelnd.

 

»Ich habe nicht gesagt, daß es dort gefunden wurde!« warf Dick ein.

 

»Dann muß ich es wohl geträumt haben«, antwortete Martin gelassen.

 

»Hören Sie, Elton, ich rate Ihnen, mir gegenüber so offen zu sein, als es mit Ihrer Sicherheit vereinbar ist«, warnte ihn Dick. »Wie kommt es, daß das Etui auf dem Dach von Portman Square 551 gefunden wurde?«

 

»Ich habe es dort verloren, als ich früher am Abend versuchte, in Marshalts Haus einzudringen, um – um eine kleine Abrechnung mit ihm zu halten. Aber es ist nicht möglich, das Dach zu erreichen. Auf das Haus nebenan kommt man ziemlich leicht hinauf, aber als ich von dort aus bei Marshalt eindringen wollte, stieß ich auf Schwierigkeiten. Und gestern abend wurde es noch schwieriger, weil sich ein Mann auf dem Dach befand – vermutlich ein Detektiv.«

 

»Wie kamen Sie denn wieder hinunter?«

 

»Das war das Erstaunliche. Jemand hatte glücklicherweise für einen Strick gesorgt, der am Schornstein angebunden und in regelmäßigen Abständen geknotet war – er war so bequem wie eine Leiter.«

 

Shannon überlegte einen Augenblick und ersuchte Martin dann, mit ihm nach der Vine Street zu kommen.

 

»Wir müssen Ihre Geschichte genau nachprüfen«, sagte er.

 

Zu seiner Verwunderung wurden Martins Aussagen auf der Polizeiwache vollauf bestätigt.

 

»Ja, Mr. Elton war um acht Uhr hier und sah aus, als ob er von einem Maskenball käme«, erwiderte der Beamte auf Dicks Frage. »Ganz zerlumpt und beschmutzt.«

 

»Und diese Uhr hier geht richtig?« erkundigte sich Dick.

 

»Ja, jetzt geht sie wieder«, entgegnete der Inspektor. »Nur gestern abend blieb sie einmal stehen – gerade um die Zeit, als Sie hier waren, Mr. Elton. Es muß wohl an der Kälte gelegen haben, denn wir brauchten sie fast gar nicht aufzuziehen, um sie wieder in Gang zu bringen.«

 

»Die dumme Uhr wird Sie wahrscheinlich vor dem Galgen bewahren«, sagte Dick, als sie wieder draußen waren. »Ich habe mir eine Vollmacht für eine Haussuchung bei Ihnen verschafft und werde jetzt damit beginnen.«

 

»Wenn Sie etwas finden, was für Sie von Wert ist, werde ich der erste sein, der Sie beglückwünscht«, erwiderte Elton kühl.

 

Kapitel 13

 

13

 

Audrey Bedford hatte von unbekannter Hand einen Brief erhalten, der folgenden Inhalt hatte:

 

 

»Sehr geehrte Miß Bedford,

angesichts des ungeheuerlichen Fehlurteils, dem Sie zum Opfer fielen, würde es mir eine Freude sein, Ihnen behilflich zu sein. Ich bitte Sie, mich deshalb morgen abend um halb acht aufzusuchen. Meine Adresse finden Sie oben. Ich glaube, daß ich Ihnen eine zusagende Beschäftigung verschaffen könnte.

 

Ihr sehr ergebener

Lacy Marshalt.

 

P.S. Ich bitte um freundliche Drahtantwort.«

 

 

Sie grübelte den ganzen Morgen über diesen Brief nach. Marshalts Name war ihr bekannt, und nachdem sie mit Hilfe eines Nachschlagebuches festgestellt hatte, daß es eine Mrs. Marshalt gab, sandte sie mittags ein zustimmendes Telegramm ab. Sie konnte ja unmöglich wissen, daß die erwähnte Mrs. Marshalt nur eine Finte war, die dem lebenslustigen Millionär seit fünfundzwanzig Jahren gute Dienste leistete. Da er nie von seiner Frau sprach, nahm man allgemein an, daß eine Entfremdung vorläge, und bedauerte ihn.

 

Bei ihrer Ankunft in Portman Square wurde Audrey von einem korrekt gekleideten Hausmädchen empfangen. Sie sah in ihrem einfachen, schwarzen Abendkleid so entzückend aus, daß Marshalt sie überrascht anstarrte, während sie sich vergeblich nach Mrs. Marshalt umsah.

 

»Ich hoffe, daß Ihnen ein Diner zu zweien nicht unangenehm ist«, sagte er und hielt ihre kleine Hand nicht länger als üblich in der seinen. »Vor zwanzig Jahren liebte ich große Gesellschaften, aber jetzt hasse ich sie.«

 

Diese zarte Betonung seines Alters wirkte beruhigend auf sie.

 

»Es war sehr freundlich von Ihnen, mich einzuladen, Mr. Marshalt, trotzdem Sie meine Vorgeschichte kennen«, erwiderte sie lächelnd.

 

»Sie waren doch vollkommen unschuldig«, erklärte er mit einem Achselzucken. »Ich hatte sogar den Eindruck, daß Sie sich für andere aufopferten, und bewunderte Sie deshalb. Ich glaube, daß ich Ihnen helfen kann –«

 

»Eine Anstellung habe ich ja bereits, aber ich bin nicht sehr begeistert davon. Ihr Nachbar, Mr. Malpas, beschäftigt mich mit Schreibarbeiten.«

 

Es wurde gemeldet, daß angerichtet sei, und sie gingen zu dem elegant ausgestatteten Speisezimmer. Als sie eintraten, blieb Lacy etwas zurück und sprach leise mit dem Mädchen, worüber Audrey sich etwas wunderte.

 

Plötzlich fiel ihr ein, daß nur diese Wand sie von dem Haus ihres geheimnisvollen Arbeitgebers trennte.

 

Tapp, tapp, tapp!

 

Im Malpas’schen Haus klopfte jemand an die Wand.

 

Tapp, tapp, tapp!

 

Es klang fast wie eine Warnung … aber wie konnte der alte Mann wissen …?

 

Nach dem Kaffee lehnte Audrey dankend eine Zigarette ab, warf einen Blick auf die Kaminuhr und erhob sich.

 

»Sie werden verzeihen, wenn ich so früh aufbreche, Mr. Marshalt, aber ich habe noch zu tun.«

 

»Das hat doch Zeit! Miß Bedford, ich möchte Sie vor Mr. Malpas warnen. Ich glaube, hinter seinem Entgegenkommen verbergen sich sehr häßliche Absichten.«

 

»Mr. Marshalt!« rief sie empört. »Wie können Sie so etwas sagen! Sie haben mir doch selbst erzählt, daß Sie den Herrn gar nicht kennen!«

 

»Ich habe meine Informationsquellen. Bitte, nehmen Sie doch wieder Platz. Es ist ja kaum neun Uhr!«

 

Mit innerem Widerstreben folgte sie seiner Aufforderung.

 

»Ich kenne Sie bereits länger, als Sie ahnen. Sie werden sich wohl kaum daran erinnern, mich in Fontwell gesehen zu haben? Aber ich versichere Ihnen, daß sich mir Ihr Bild seitdem unauslöschlich eingeprägt hat. Audrey, ich habe Sie sehr lieb.«

 

Sie stand wieder auf, und auch er erhob sich.

 

»Ich kann Ihnen den Lebensweg sehr angenehm machen, liebes Kind.«

 

»Ich ziehe aber einen rauheren Weg vor«, entgegnete sie gelassen und ging auf die Tür zu.

 

»Noch einen Augenblick!« bat er.

 

»Sie verschwenden nur Ihre Zeit, Mr. Marshalt. Ich verstehe dunkel, was Sie mir vorschlagen wollen, und ich hoffe, daß ich mich täusche. Törichterweise bin ich zu Ihnen gekommen, weil ich Sie für einen Gentleman hielt, der einer – ungerecht Verurteilten helfen wollte.«

 

Sein Ton änderte sich plötzlich.

 

»Als ob Ihnen das irgend jemand glauben würde!« rief er brutal und lachte laut. »Seien Sie doch vernünftig, und laufen Sie nicht davon. Dieser Teil des Hauses ist vollständig von dem übrigen Gebäude abgesperrt, und die Tür ist verschlossen.«

 

Sie eilte hin und rüttelte an dem Griff, aber sie fand seine Worte bestätigt. Im Nu hatte er sie eingeholt, hob sie auf und trug sie zurück. Mit fast übermenschlicher Anstrengung befreite sie sich, ergriff ein spitzes Tranchiermesser, das auf dem Tisch lag und wandte sich ihm zu.

 

»Wenn Sie mich anrühren, bringe ich Sie um! Öffnen Sie sofort die Tür!«

 

Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und schloß auf.

 

»Wollen Sie mir verzeihen?« flüsterte er.

 

Ohne zu antworten, ging sie an ihm vorüber und ließ das Messer fallen.

 

»Nach rechts!« rief er leise, und sie bog wirklich in den schmalen Gang ein, obwohl ihr ein Instinkt sagte, daß sie geradeaus gehen müßte. Bevor sie sich der Gefahr bewußt wurde, kam er hinter ihr her. Sie floh den Korridor entlang und mehrere Treppen nach oben, aber dann sah sie, daß es nicht weiterging. Über ihr befand sich nur ein unerreichbares Oberlichtfenster. Leise und behutsam schlich sie wieder nach unten. Plötzlich vernahm sie eine schluchzende Frauenstimme, wußte jedoch nicht, ob die Laute von oben, von unten oder von nebenan, aus Mr. Malpas‘ Haus, kamen. Sie horchte angestrengt, bis das Schluchzen leiser wurde und verstummte. Von Marshalt war nichts zu sehen, und sie erreichte schließlich den kleinen Vorplatz, hinter dem die Freiheit winkte.

 

Aber dort ergriffen sie plötzlich wieder zwei starke Arme, und sie wurde ins Eßzimmer zurückgeschleppt.

 

»So, mein Schatz!« rief Marshalt und schob sie in einen tiefen Lehnsessel. »Nun wirst du wohl Vernunft annehmen. Ich kann dir alles geben, was dein Herz begehrt. Für mich bist du die einzige Frau, die meiner Liebe wert ist …«

 

»Verschwenden Sie keine Worte mehr, Mr. Marshalt«, erwiderte sie und wandte den Blick nicht von ihm. »Ich werde ins Hotel zurückkehren, Captain Shannon anrufen und ihm mitteilen, was sich hier zugetragen hat.«

 

Er lachte laut auf.

 

»Ach, du willst mir mit der Polizei drohen, mein liebes Kind? Wie altmodisch! Übrigens ist Shannon ein Weltmann. Er weiß, daß ich mir keine Dame aus Holloway einladen würde, wenn … Na, nimm deinen Verstand zusammen, Liebling! Und er weiß auch, daß du die Einladung nicht angenommen hättest, wenn du nicht mit meiner Liebeserklärung gerechnet hättest.«

 

»Bei manchen Mädchen mag das stimmen, aber ich bin anders.«

 

»Bei Gott, das bist du! Und deshalb mag ich dich ja so gern!« Er riß sie empor und zog sie in seine Arme.

 

Sie fühlte sich entsetzlich hilflos und elend und glaubte, daß sie im nächsten Augenblick das Bewußtsein verlieren würde. Aber im selben Moment hörte sie ein leises Rasseln im Schloß. Er hatte es auch vernommen und ließ sie so jäh los, daß sie in die Knie sank. Als er sich hastig umwandte, ging die Tür auf, und eine schwarzgekleidete Frau stand auf der Schwelle. Drohend und düster starrte sie auf das Mädchen.

 

Es war Dora Elton, und Audrey sah den Haß in den Augen ihrer Schwester. Schaudernd fuhr sie zusammen.

 

»Ich störe wohl«, sagte Dora und begegnete Lacys zornigem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

 

Audrey erhob sich mühsam, ging mit zitternden Knien hinaus, griff nach ihrem Cape und trat in die kalte, reine Nachtluft hinaus.

 

Marshalt schenkte sich mit unsicherer Hand ein Glas Wein ein und goß es hinunter.

 

»Wenn du glaubst, daß ich in dieses Schaf Gottes verliebt bin, dann irrst du dich gewaltig«, sagte er. »Komm her, ich will dir etwas gestehen, und das mußt du mir glauben. Es gibt einen Mann, den ich mehr hasse als alle anderen Menschen auf der Welt. Und dieser Mann ist Audrey Bedfords Vater.«

 

»Sie heißt gar nicht Bedford!«

 

»Du hast recht. Sie heißt Torrington. Dan Torrington und ich sind alte Feinde. Ich habe eine lange Rechnung und bin noch durchaus nicht damit fertig.«

 

»Ihr Vater ist ein Sträfling«, erwiderte Dora finster.

 

»Ja, er sitzt in lebenslänglicher Haft in Kapstadt. Wenn ich eine bessere Büchse gehabt hätte, wäre er ein toter Mann gewesen. Aber er hatte Glück: ich traf ihn nur ins Bein und schoß ihn lahm. Wenn die Detektive ihn nicht in demselben Augenblick gefaßt hätten, wäre es wohl mit mir aus gewesen.«

 

»Du hast ihn verhaften lassen?« rief sie.

 

»Ja. Ich leitete den Geheimdienst für die Streams Diamond Corporation und entdeckte, daß Dan Torrington einen kleinen, unerlaubten Diamantenhandel betrieb. Ich stellte ihm eine Falle. Das ist die ganze Geschichte. Nur wurde er noch strenger bestraft, weil er auf mich geschossen hatte.«

 

Doras Zorn war verflogen.

 

»Ist das wirklich wahr, Lacy?« fragte sie. »Aber wie kannst du dich denn dadurch an Torrington rächen, daß du eine Liebschaft mit diesem Mädchen unterhältst?«

 

»Ich wollte sie heiraten.«

 

»Heiraten!« stieß sie atemlos hervor. »Du sagtest doch, daß du niemals heiraten würdest!«

 

Er zog sie neben sich auf das Sofa und versuchte sie zu beruhigen.

 

»Die Sache liegt so. Als Torrington damals Diamanten von den Eingeborenen kaufte, besaß er die Farm Graspan. Nun gibt es tausend Graspans in Südafrika, aber dieses Graspan lag an einem der Flüsse, nach denen Fourteen Streams genannt wurde. Er war kaum zur Zwangsarbeit weggeschickt worden, als auf seiner Farm Diamanten entdeckt wurden. Das habe ich erst kürzlich erfahren, weil die Mine unter dem Namen seiner Rechtsanwälte Hallam E Coold betrieben wurde und noch heute Hallam E Coold Mine heißt. Dan Torrington ist also Millionär, und zwar ein sterbender Millionär. Seit ich wieder in England bin, bekomme ich von einem der Gefängniswärter regelmäßig Berichte über den Mann, und das letztemal schrieb er, es ginge mit ihm zu Ende.«

 

»Und wenn du Audrey heiratest –«

 

Er lachte.

 

»Ganz recht! Dann bin ich ein steinreicher Mann!«

 

»Aber das bist du doch jetzt schon!«

 

Sein Gesicht verfinsterte sich.

 

»Ja, ich bin reich«, sagte er hart, »aber ich will noch reicher werden.«

 

Es klopfte.

 

»Wer ist da?« rief er gereizt.

 

»Ein Herr wünscht Sie zu sprechen. Er sagt, es wäre dringend.«

 

»Ich kann jetzt niemand empfangen. Wer ist es denn?«

 

»Captain Shannon.«

 

Dora sah ihn entsetzt an.

 

»Er darf mich nicht sehen«, flüsterte sie. »Wo soll ich hin?«

 

»Durch den Wintergarten und über den Hof!« erwiderte Marshalt ärgerlich.

 

Er hatte sie kaum in die dunkle Bibliothek geschoben und die Tür hinter ihr geschlossen, als Dick Shannon eintrat. Er war im Frack, und sein Gesichtsausdruck verriet seine Stimmung.

 

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Marshalt.«

 

»Mr. Marshalt«, brummte der Millionär, der nichts Gutes ahnte.

 

»Sie hatten heute abend eine Dame eingeladen.«

 

»Vielleicht hat sie sich selbst eingeladen?«

 

»Sie luden sie ein und beleidigten sie in der gröblichsten Weise.«

 

»Mein Lieber, Sie sind doch ein Weltmann. Glauben Sie etwa, daß dieses Mädchen zu mir kam, ohne – nun, sagen wir einmal, ohne gewisse Möglichkeiten ins Auge zu fassen?«

 

Eine Sekunde lang starrte Dick Shannon den Mann drohend an, dann schlug er ihm mit dem Handrücken ins Gesicht, so daß er mit einem Aufschrei zurücktaumelte.

 

»Das ist eine Lüge, die Sie nicht wiederholen werden«, sagte Dick leise.

 

»Und Sie nennen sich einen Polizeibeamten – gehört ein solches Benehmen vielleicht auch zu Ihren Amtspflichten?« schrie ihn Marshalt an.

 

»Ich kenne meine Pflichten sehr gut«, erwiderte Shannon streng. »An der Außenwand von Old Bailey ist eingegraben: ›Schützt die Kinder der Armen und straft die Übeltäter.‹«

 

Kapitel 14

 

14

 

Dick Shannon war etwas ruhiger geworden, als er das Marshaltsche Haus verließ. Rein mechanisch warf er einen Blick auf das Nebengebäude, das er beobachtet hatte, als Audrey herausstürzte und ihm geradenwegs in die Arme lief. Die Fassade war vorhin dunkel gewesen, aber jetzt erblickte er Licht in einem der Fenster. Als er aber näherkam, erlosch es wieder. Er klopfte an die Tür und glaubte, eine leise Bewegung in der Halle zu vernehmen. Würde der geheimnisvolle Mann doch endlich herauskommen?

 

Fast zehn Minuten wartete er, bevor er seinen Wachtposten verließ. Er wollte Audrey noch sprechen und sich ihre Geschichte genauer erzählen lassen, die sie ihm vorhin nur abgerissen und zusammenhanglos mitgeteilt hatte. Vergeblich hielt er nach einem vorüberfahrenden Auto Ausschau und wandte sich schließlich um. Aber plötzlich blieb er wieder stehen. Bildete er es sich nur ein, daß eine dunkle Gestalt aus dem rätselhaften Haus herausschlüpfte und mit sonderbarem, etwas hinkendem Gang davoneilte? Sofort nahm er die Verfolgung auf und stellte den Mann an der Ecke der Orchard Street.

 

»Verzeihen Sie!«

 

Der Fremde kehrte ihm das schmale, strenge Gesicht zu. Durch die Gläser einer goldenen Brille musterten zwei forschende Augen den Detektiv, und unwillkürlich glitt seine Rechte in die Manteltasche.

 

»Sie sind ein Bekannter von Mr. Malpas, nicht wahr? Ich sah Sie aus seinem Haus herauskommen.«

 

»Nein, ich kenne Mr. Malpas nicht. Ich bin ganz fremd in London und wollte nach Oxford Circus.«

 

»Aber ich habe Sie vor zwei Minuten noch nicht auf dem Platz gesehen.«

 

Der Mann lächelte.

 

»Das liegt daran, daß ich von dieser Seite kam und umkehrte, als ich merkte, daß ich fehlgegangen war.«

 

»Wohnen Sie hier in London?«

 

»Ja, im Ritz-Carlton. Ich bin Präsident einer Südafrikanischen Minengesellschaft. Verzeihung, es ist wohl eigentlich töricht von mir, einem zufälligen Bekannten diese Auskunft zu geben, aber Sie sind doch Captain Richard Shannon?«

 

Dick war starr vor Staunen.

 

»Ich entsinne mich nicht, Mr. –«

 

»Mein Name kann Sie unmöglich interessieren. Mein Paß lautet auf den Namen Brown. Näheres können Sie im Kolonialamt erfahren. Nein, wir haben uns noch nicht getroffen, aber ich kenne Sie.«

 

Dick mußte trotz seiner Enttäuschung lachen.

 

»Gestatten Sie mir, Ihnen den Weg zu zeigen? Eine Autodroschke dürfte zu empfehlen sein. Ich will nach der Regent Street und werde mitfahren.«

 

Der Fremde neigte höflich den Kopf. Gleich darauf kam ein leeres Taxi vorüber und wurde angehalten.

 

Dick hatte ihn im Schein der Straßenlaterne genau betrachtet. Etwas Abschreckendes hatte der Mann nicht an sich. Sein dichtes Haar war weiß, die Schultern leicht gebeugt, und obwohl seine mageren, knorrigen Hände abgearbeitet waren, machte er doch entschieden den Eindruck eines Gentlemans.

 

An der Ecke des Circus hielt das Auto, und der alte Herr stieg mühsam aus.

 

»Ein armer Krüppel!« bemerkte er gutmütig. »Haben Sie vielen Dank; Captain Shannon.«

 

Dick beobachtete ihn noch, während der Mann auf die Untergrundbahn zuhinkte.

 

»Ich möchte nur wissen –!« murmelte er vor sich hin.

 

Audrey erwartete ihn in der Halle des Palace-Hotels, und alle Spuren von Kummer waren aus ihrem Gesicht verschwunden.

 

Sie wollte nicht auf ihr trauriges Erlebnis zurückkommen, aber er bestand darauf.

 

»Der Kerl ist ein Schuft!« sagte er dann. »Audrey, vom Portman Square müssen Sie sich fernhalten.«

 

»Audrey?« wiederholte sie lächelnd. »Nun, ich mache mir nichts daraus, obgleich ich fühle, daß ich etwas erwachsener sein müßte. In Holloway nannten sie mich ›83‹ oder einfach ›Bedford‹. Ich glaube, daß mir ›Audrey‹ besser gefällt – bei Leuten, die nicht dazu neigen, meine Hand festzuhalten und sentimental zu werden.«

 

Er gab sich große Mühe, ärgerlich zu werden, aber es gelang ihm nicht.

 

»Ich werde Sie Audrey nennen, und wenn ich sentimental werden sollte, so sagen Sie nur ›Geschäft‹, dann bin ich gleich wieder brav. Und Portman Square geben Sie auf.«

 

»Sie meinen Mr. Malpas?« fragte sie schnell.

 

Er nickte.

 

»Ich weiß nicht, wieviel Sie von seinem Geld ausgegeben haben –«

 

»Sechzig Pfund.«

 

»Die werde ich Ihnen geben, und dann können Sie ihm das Geld zurückschicken.«

 

Er spürte ihr Widerstreben.

 

»Nein, das geht nicht, Mr. Shannon«, erwiderte sie rasch. »Ich muß die Sache selbst ordnen. Wenn ich am Sonnabend hingehe, werde ich ihn bitten, mir die Höhe des Gehaltes zu nennen, und ihm dann ganz offen sagen, wieviel ich verbraucht habe. Das Übrige gebe ich zurück. Wenn ich die Unterredung hinter mir habe –«

 

»Sie darf nicht lang dauern«, warf er ein. »Sonst komme ich in sein gruseliges Wohnzimmer hineinspaziert –«

 

Als sie später in ihrem Zimmer war und sich auskleidete, entdeckte sie auf dem Toilettentisch ein Briefchen. Die kritzlige Handschrift war ihr wohlbekannt, und sie riß den Umschlag auf. Er enthielt nur einen Zettel mit wenigen Zeilen:

 

»Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Entkommen. Sie hätten sich des Messers bedienen sollen.«

 

Der Atem verging ihr fast. Wie konnte Malpas wissen, was hinter verschlossenen Türen in Marshalts Privatzimmer vorgegangen war? …

 

Dick Shannon kehrte zu Fuß nach seiner Wohnung zurück und wollte eben ins Haus gehen, als er seinen Begleiter von vorhin am Rand des Gehsteigs stehen sah. Er trat auf ihn zu.

 

»Haben Sie sich wieder verirrt, Mr. Brown?«

 

»O nein«, erwiderte der alte Herr gelassen. »Aber nachdem wir uns getrennt hatten, fiel mir ein, daß ich gern ein wenig mit Ihnen gesprochen hätte.«

 

»Bitte, treten Sie näher.«

 

Dick führte ihn in sein Arbeitszimmer und schob einen Lehnsessel für ihn zurecht.

 

»Stehen und Gehen ist etwas schmerzhaft für mich«, meinte Brown, als er sich mit einem Seufzer niederließ. »Danke sehr, Mr. Shannon. Was wissen Sie eigentlich über Malpas?«

 

Fast bestürzt schaute ihn der Detektiv an.

 

»Wahrscheinlich weniger als Sie«, entgegnete er zögernd.

 

»Ich weiß nur, daß er sehr zurückgezogen lebt, sich nicht in die Angelegenheiten seiner Nächsten mischt und auch keine Einmischung ihrerseits wünscht.«

 

War das eine Herausforderung? Dick war sich nicht klar darüber.

 

»Wir wissen nur, daß seltsame Leute ihn besuchen.«

 

»Wer bekommt keine solchen Besuche? Spricht das gegen ihn?«

 

»Durchaus nicht. Aber alleinlebende, ältere Herren geben uns immer zu denken. Es kann jeden Tag die Notwendigkeit an uns herantreten, uns Eintritt zu erzwingen und dann eine Leiche vorzufinden. Weshalb nehmen Sie denn an, daß ich etwas über Malpas weiß?«

 

»Weil Sie das Haus beobachteten, bevor die junge Dame aus Marshalts Haus herauskam und Ihre Aufmerksamkeit ablenkte. Um die Wahrheit zu sagen, ich beobachtete den Beobachter und dachte darüber nach, was Sie wohl gegen Malpas hätten. Übrigens – was ist denn dem Mädchen zugestoßen? Marshalt hatte früher einen schlechten Ruf, und man darf wohl annehmen, daß er sich nicht sonderlich gebessert hat. Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?« Er nahm einen Kiesel aus der Westentasche, an dem ein rotes Siegel klebte.

 

Dick betrachtete das Stück genau.

 

»Was ist das?«

 

»Ein roher Diamant mit dem Merkmal unserer Minengesellschaft. Wir versehen jeden größeren Stein mit einem solchen Kennzeichen und benützen dazu eine besondere Art von Siegellack, die nicht erhitzt zu werden braucht. Ich wüßte gern, ob jemand Ihnen einen Stein dieser Art gebracht hat. Die Polizei pflegt ja in den Besitz der seltsamsten Gegenstände zu kommen.«

 

»Nein, einen solchen Stein habe ich noch nicht gesehen. Haben Sie einen verloren?«

 

»Ja, wir vermissen einen. Haben Sie vielleicht einmal von einem gewissen Laker gehört? Nein? Den hätte ich Ihnen gern vorgestellt. Ein interessanter Mensch – leider trank er. Nüchtern war er ein Genie – betrunken ein kolossaler Dummkopf!« Mr. Brown erhob sich. »Der jungen Dame ist doch nichts Ernstliches passiert?«

 

»Nein – sie hat nur eine sehr unangenehme Erfahrung gemacht.«

 

»Wer könnte mit Lacy zusammenkommen, ohne unangenehme Erfahrungen zu machen?«

 

»Sie kennen ihn also?«

 

Brown nickte.

 

»Sehr genau?«

 

»Niemand kennt einen anderen genau«, erwiderte der alte Mann ruhig. »Gute Nacht, Captain! Verzeihen Sie die Störung. Meine Adresse kennen Sie ja. Sollten Sie mich einmal brauchen, so telephonieren Sie bitte vorher. Ich halte mich viel auf dem Lande auf.«

 

Dick schaute ihm nachdenklich nach. Wer war dieser Mann? Und warum herrschte Feindschaft zwischen ihm und Lacy Marshalt?