Kapitel 28

 

28

 

Dick Shannon saß in seiner Wohnung am Haymarket und blätterte in einem Briefordner. Er las einen der mit Maschine beschriebenen Bogen durch, um sein Gedächtnis aufzufrischen.

 

 

»Tonger trug einen grauen Anzug, schwarze Schuhe, blaugestreiftes Hemd und weißen Kragen. Taschen enthielten 27 £ und 200 Franken. (Notiz: Tonger fuhr am Morgen seines Todestages nach Paris, gab einen Brief an unbekannte Adresse auf und kehrte am selben Tag zurück); alte, goldene Uhr Nr. 984371, goldene Kette, zwei Schlüssel, eine Brieftasche mit einem Rezept für Bromkalium (Notiz: verschrieben von Dr. Walters, Park Lane, bei dem sich Tonger über Schlaflosigkeit beklagte) drei Fünfpfundnoten und ein dreikantiger Pfriemen …«

 

 

Dick schloß einen kleinen Safe auf, nahm eine Schachtel heraus und versenkte sich mit Hilfe einer Lupe in die Betrachtung dieses Pfriemens, der bereits von erfahrenen Technikern geprüft und gemessen worden war und viel Kopfzerbrechen verursacht hatte.

 

Das Instrument war etwa vier Zoll lang, hatte eine stumpfe Spitze und endete in einem Korkziehergriff. Kurz vor dem Holzteil wurde es stärker, und an dieser Stelle verriet sich selbst dem ungeübten Auge Dilettantenarbeit. Dick erinnerte sich der Schrauben und der Feilen im Vorratsraum und war davon überzeugt, daß dieses sonderbare Werkzeug dort verfertigt worden war. Aber zu welchem Zweck?

 

Mißmutig lehnte er sich zurück und grübelte, bis ihm wirr im Kopf wurde. Plötzlich schrak er zusammen. Wer warf denn Steinchen gegen sein Fenster? Er schaute hinaus, sah aber nur ein paar Leute mit aufgespannten Schirmen vorübereilen. Als er sich umwandte, klirrte es wieder gegen die Scheibe. Er rief seinen Diener, befahl ihm, sich zwischen das Fenster und die Lampe zu setzen, und ging leise zur Haustür hinunter. Behutsam öffnete er sie einen Zentimeter weit und lauschte angestrengt. Gleich darauf rasselte es wieder. Er stürzte hinaus und packte ein junges Mädchen im Regenmantel am Arm.

 

»Was soll denn das bedeuten?« fragte er streng, hielt aber ein, als er in Audreys lachende Augen schaute. »Was in aller Welt –?«

 

»Ich wollte Sie sprechen, und da Detektive niemals klingeln –«

 

»Was soll das heißen? Kommen Sie herein! Womit warfen Sie denn – mit Hühnerfutter?«

 

»Nein, die Hühnersache habe ich jetzt vollständig aufgegeben. Zum Glück kann ich ja ohne Ehrendame zu Ihnen kommen, da wir nun Kollegen sind.«

 

Sie traten in sein Zimmer ein, und als der Diener entlassen worden war, zog Audrey feierlich einen silbernen Stern aus der Tasche und legte ihn mit einer theatralischen Geste auf den Tisch.

 

»Stormer?« murmelte er, als ob er seinen Augen nicht trauen dürfte. »Aber Sie sagten doch, daß –«

 

»Mit Hühnern habe ich ein für allemal Schluß gemacht«, erklärte sie, während sie ihren triefenden Mantel auszog. »Die bringen mich nur in Schwierigkeiten. Aber wie ich sehe, sind Sie nicht an Damenbesuch gewöhnt, Captain. Das spricht entschieden zu Ihren Gunsten.« Sie klingelte. »Sehr heißen Tee und sehr heißen Toast, bitte!« befahl sie dem höchst erstaunten Chauffeurdiener. Als der Mann gegangen war, wandte sie sich wieder an Dick. »Wenn eine Dame zu Ihnen kommt, müssen Sie zuerst fragen, ob sie Tee haben möchte, zweitens, ob sie hungrig ist. Dann schiebt man den behaglichsten Lehnstuhl ans Feuer und erkundigt sich teilnehmend, ob vielleicht ihre Füße naß geworden sind. Ich möchte aber gleich bemerken, daß das bei mir nicht zutrifft. Sie mögen ja ein guter Detektiv sein, aber Sie sind ein schlechter Gastgeber.«

 

»Nun erzählen Sie mir aber, welche Abenteuer Sie inzwischen wieder erlebt haben«, bat er, nachdem er ihre Belehrung hingenommen und ihr so gut als möglich entsprochen hatte.

 

Sie berichtete ihm auch bereitwillig von ihren Erlebnissen.

 

»Ich habe also weiter nichts zu tun«, sagte sie zum Schluß, »als in einem netten Hotel zu wohnen und ein väterliches Auge auf einen sechzigjährigen Herrn zu werfen, der mich nicht einmal kennt. Er würde sonst wohl auch diese Bevormundung furchtbar übelnehmen. Aber es ist eine anständige Beschäftigung, und Mr. Stormer ist mir jedenfalls sympathischer als Mr. Malpas. Er ist auch bedeutend menschlicher.«

 

Sie unterbrach sich, als der Diener den Tee brachte und sich anschickte, den Tisch zu decken, was Dick jedoch für überflüssig erklärte.

 

»Ein Beruf ist es ja«, meinte Dick, »wenn auch kein angenehmer für ein junges Mädchen. Jedenfalls bin ich froh, daß Sie bei Stormer sind. Ich weiß nicht recht, was ich Ihnen nun raten soll. Einen Plan für Ihre Zukunft habe ich allerdings, und ich wollte, Sie fänden eine mehr erheiternde und ungefährliche Tätigkeit, bis ich mit diesem Portman Square-Rätsel fertig bin und Malpas hinter Schloß und Riegel habe. Dann –«

 

»Nun – dann?« fragte sie, als er verstummte.

 

»Dann werden Sie mir hoffentlich gestatten, mich um – Ihre Angelegenheiten zu kümmern«, entgegnete er ruhig.

 

Der Blick, mit dem er sie betrachtete, veranlaßte sie, rasch aufzustehen.

 

»Ich muß nach Hause – der Tee war köstlich.«

 

Er klingelte nach ihrem Mantel, der in der Küche trocknete.

 

»Was werden Sie sagen, wenn ich Ihre Zukunft in die Hand nehme?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich – ich weiß nicht … ich bin Ihnen ja sehr dankbar – für alles, was Sie getan haben –«

 

In diesem Augenblick brachte der Diener den Mantel, und Dick half ihr gerade hinein, als es schellte, und Steel eintrat.

 

Er verbeugte sich leicht vor Audrey und wandte sich dann an Dick.

 

»Was sind das für Dinge?« fragte er und nahm eine Handvoll gelber Kiesel von verschiedener Größe aus der Tasche. Einzeln legte er sie auf den Tisch.

 

»Das sind Diamanten – im Wert von etwa zweihundertfünfzigtausend Pfund«, erwiderte Dick langsam.

 

»Noch dreimal soviel liegen in Malpas‘ Zimmer«, fuhr Steel fort. »Der ganze Götze ist damit gefüllt! Ich entdeckte das Versteck zufällig, als ich mich ein bißchen langweilte und an den beiden Bronzekatzen herumtastete. Ich überlegte, ob sie wohl nur zum Schmuck dienten oder irgendwelchen Nutzen hätten. Und plötzlich drehte sich das eine Tier halb um sich selbst, und als ich mein Heil mit dem anderen versuchte, wiederholte sich die Geschichte. Ich muß wohl unbewußt eine Feder berührt haben. Mit einemmal öffnete sich die Brust des Götzen in der Mitte – ganz wie eine Flügeltür. Ich kletterte auf den Sockel und leuchtete mit meiner Taschenlampe hinein, und – ich schwöre Ihnen, der Körper ist bis zur Hälfte voll von solchen und teilweise noch größeren Steinen!«

 

Dick betrachtete die Diamanten. Jeder war mit einem kleinen roten Siegel versehen, der seinen Fundort bezeugte.

 

»Er wird sie nicht verkauft haben, weil die Diamantenpreise in den letzten Jahren wegen Überproduktion gesunken sind«, sagte er. »Sie haben die Tür in dem Götzen natürlich wieder geschlossen?«

 

»Selbstverständlich! Und glücklicherweise war ich auch allein im Zimmer, als ich die Entdeckung machte.«

 

Shannon schüttete die Steine in eine Zuckerschale und verwahrte sie in seinem Geldschrank.

 

»Die anderen müssen noch heute nach Scotland Yard geschafft werden«, ordnete er an. Dann forderte er Audrey auf, mitzukommen, nahm eine Ledertasche mit und machte sich auf den Weg.

 

Steel hatte zwei Leute in Malpas‘ Zimmer als Wachen zurückgelassen. Ein dritter befand sich in der Halle, und der Inspektor kam von oben herunter. Auf Dicks Wunsch wurde im Hinblick auf etwaige neue Zwischenfälle noch der Mann aus der Halle heraufgerufen. Dann ging Dick auf die Nische zu und zog den Vorhang beiseite. Sobald er das eine Katzentier drehte, setzte sich die Maschinerie in Bewegung. Dick stieg hinauf und nahm eine Handvoll Steine aus dem Versteck.

 

»Die Sache stimmt«, meinte er, als er wieder hinuntersprang und die Diamanten in die Ledertasche schüttete.

 

Im selben Augenblick hörte er ein Knacken und fuhr herum. Beide Katzen begannen sich langsam zurückzudrehen, und gleichzeitig gingen alle Lichter aus.

 

»Stellen Sie sich vor die Tür!« befahl Shannon rasch. »Einer von den Leuten soll sich zum Büfett hintasten und den Gummiknüppel dabei gegen die Täfelung drücken. Sobald sie sich bewegt, muß er zuschlagen. Wo sind die Taschenlampen?«

 

»Draußen auf dem Flur«, sagte der Inspektor.

 

»Holen Sie sie! Der Mann an der Tür läßt den Inspektor durch und gibt scharf acht, daß es auch wirklich der Inspektor ist, der zurückkommt.«

 

Audreys Herz schlug heftig, und ihre Hand tastete instinktiv nach Dicks Arm.

 

»Was wird geschehen?« flüsterte sie ängstlich.

 

»Ich weiß es nicht«, gab er leise zurück. »Bleiben Sie dicht hinter mir, und halten Sie meinen linken Arm fest!«

 

»Die Tür ist zu!« rief der Inspektor plötzlich.

 

Steel kroch am Boden entlang auf den Götzen zu.

 

»Hat nicht jemand ein Streichholz? Captain, haben Sie etwas gehört?«

 

»Es kam mir vor, als ob ich ein leises Wimmern hörte. Können Sie den Götzen fühlen?«

 

»Ich bin – o, mein Gott!«

 

Audreys Blut erstarrte bei dem Schmerzensschrei.

 

»Was ist los?« rief Dick.

 

»Ich berühre etwas Glühendes!« Steel stöhnte.

 

»Hier brennt etwas«, flüsterte Audrey. »Riechen Sie es nicht?«

 

Dick machte sich sanft von ihr frei.

 

»Ich muß einmal sehen, was geschehen ist.«

 

Im gleichen Augenblick flammte das Licht wieder auf. Allem Anschein nach hatte sich nichts bewegt. Steel befühlte seine Hand, deren innere Fläche einen roten Striemen aufwies.

 

»Eine scheußliche Brandwunde«, sagte er und biß die Zähne zusammen.

 

Dick rannte zu dem Sockel des Götzen und betastete ihn. Er war eiskalt.

 

»Ich glaube, es kam etwas aus dem Fußboden heraus«, meinte Steel, »eine glühende Schranke oder so etwas Ähnliches…«

 

»Erst wollen wir uns jetzt einmal die Steine holen!« erklärte Dick und drehte die Katzen. Die kleine Tür öffnete sich, und er stieg hinauf.

 

Aber als er die Hand hineinstreckte, fand er die Höhlung leer.

 

Kapitel 29

 

29

 

Alle Nachforschungen blieben ergebnislos. Eine Falltür war nicht vorhanden, und die Stahltrossen des Aufzugs hatte Dick durchschneiden lassen.

 

»Holen Sie die Lampen!« befahl er. »Und von jetzt ab trägt jeder eine bei sich.«

 

Als ob diese Worte als Signal gewirkt hätten, erlosch das Licht von neuem, und die Tür schloß sich, bevor jemand sie erreichen konnte. Aber diesmal dauerte die Dunkelheit nur einen Augenblick.

 

»Die Geschichte fängt an, unheimlich…« begann Dick und verstummte plötzlich.

 

Vor dem Götzen lag ein Lederbeutel. Er war neu und groß.

 

Dick sprang hin, hob ihn auf und legte ihn auf den Tisch.

 

»Seien Sie vorsichtig!« warnte Steel.

 

Rasch betastete Dick den Beutel.

 

Fast wäre er in Ohnmacht gefallen, als er den Beutel bis zum Rand mit den gelben Steinen gefüllt sah, die er in der Brust des Götzen entdeckt hatte. Er holte tief Atem und winkte Steel zu sich.

 

»Das sind wohl ungefähr alle, die darin lagen?« fragte er.

 

Steel war sprachlos vor Erstaunen und konnte nur nicken.

 

»Inspektor, sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen ihre Sachen zusammensuchen«, befahl Dick. »Ich hebe die Bewachung dieses Hauses auf.«

 

Kurz darauf verließen sie alle das rätselhafte Gebäude. Dick streckte gerade die Hand aus, um die Tür zu schließen, als sie von selbst ins Schloß fiel. Zugleich wurde es drinnen hell. Am Fenster schob jemand die Gardine beiseite und schaute hinaus.

 

»Ich versuche es!« rief Dick und hob den Revolver.

 

Drei Schüsse knallten, Scheiben klirrten, der Lichtstreifen erlosch.

 

»Jetzt kann ich in ernste Schwierigkeiten kommen«, sagte Dick, »aber ich hoffe, daß ich ihn getötet habe!«

 

»Wen?« fragte Audrey ängstlich.

 

Aber er gab keine Antwort, denn schon ertönten Polizeipfeifen, und von allen Seiten strömten Polizisten und Neugierige herbei. Trotz seiner hohen Stellung in Scotland Yard mußte Dick seinen Namen, seine Adresse und die Nummer seines Revolvers angeben, bevor er in ein Auto steigen konnte. Den Lederbeutel stemmte er fest auf die Knie.

 

»Wir fahren erst zu meiner Wohnung und legen die übrigen Steine dazu«, sagte er zu Audrey. »Dann bringe ich sie nach Scotland Yard. Ich habe keine Ruhe, bis ich sie hinter bombensicheren Stahltüren weiß.«

 

»Ich glaube, ich bin ein schlechter Detektiv«, murmelte sie. »Beinahe hätte ich geschrien!«

 

»Ich auch, Miß Bedford«, meinte Steel. »Können Sie wohl einen Umweg machen und mich beim Middlesex- Hospital absetzen? Ich möchte meine Hand verbinden lassen.«

 

Sie kamen seinem Wunsch nach.

 

»Eigentlich hätten Sie einen Polizisten mitnehmen sollen, Captain Shannon«, sagte Audrey, als Steel ausgestiegen war.

 

Er lachte.

 

»Ach, zwischen der Wardour Street und Scotland Yard kann uns doch nichts passieren.«

 

Aber schon wenige Minuten später ereilte sie das Schicksal. Ein großes Auto kam hinter ihnen her, machte plötzlich eine Wendung und fuhr in die kleinere Droschke hinein, so daß sie krachend auf den Gehsteig geschleudert wurde.

 

Dicks erster Gedanke galt Audrey. Im Nu hatte er sie mit einem Arm umfaßt und zog sie an sich, um ihr Gesicht zu schützen, als die Scheiben in tausend Stücke zersprangen. Gleichzeitig wurde die Tür aufgerissen, und eine Hand tastete hinein. Dick sah, wie die Finger nach dem Lederbeutel griffen, und seine Faust stieß zu. Der Schlag traf den Mann gegen die Schulter, so daß er eine Sekunde lang den Beutel losließ. Dann führte dieser einen Stoß durch die Tür. Dick sah Stahl aufblitzen. Er wand und drehte sich, um auszuweichen und seinen Revolver herauszuziehen, und wehrte sich durch einen gewaltsamen Fußtritt, der glücklicherweise traf. Ein Schrei ertönte, und ein Messer fiel klirrend auf die Scherben.

 

»Haltet den Mann!« schrie Dick. Er hatte den herbeieilenden Polizisten gesehen, aber das Knattern der Maschine übertönte seine Stimme. Im Bogen glitt der große Wagen um den Beamten herum und verschwand in der Shaftesbury Avenue.

 

Mühsam kletterte Dick aus dem Taxi und half Audrey auf die Füße.

 

»Haben Sie sich die Nummer gemerkt?« fragte er.

 

»Ja«, erwiderte der Chauffeur. »X.G. 97435.«

 

Dick lachte.

 

»Meine eigene! Unser Freund hat jedenfalls Humor.«

 

Jetzt fand sich auch ein Polizeiinspektor ein, der nach einer kurzen Unterhaltung mit Dick ein Auto besorgte und mit ihm zum Haymarket fuhr.

 

»Hallo!« rief der Captain, als sie vor der Wohnung vorfuhren, und er zu den Fenstern hinaufschaute. Er hatte seinem Diener befohlen, das Wohnzimmer nicht zu verlassen, bis er selbst zurückkehrte, und nun war oben alles dunkel.

 

»Kommen Sie herein in den Flur und halten Sie den Beutel«, sagte er zu dem Beamten. »Audrey, Sie bleiben hinter dem Inspektor stehen.«

 

Er schaltete die Treppenbeleuchtung ein und öffnete die Vorsaaltür. Aber in dem Raum war die Birne entfernt worden, so daß er vergebens auf den Lichtknopf drückte. Mit vorgehaltenem Revolver trat er die verschlossene Wohnzimmertür ein, drehte das Licht an und sah seinen Diener William blutend vor dem Sofa liegen. Der Safe stand offen, wie er erwartet hatte. Die gesprengte Tür hing in den Angeln, und die Zuckerschale mit ihrem kostbaren Inhalt war verschwunden.

 

Glücklicherweise erwies sich Williams Wunde als ungefährlich, und als der Mann wieder zum Bewußtsein kam, ging Dick in das nebenan liegende Schlafzimmer, wo ein Fenster offenstand. Er schloß es und ließ das Rouleau herab. Die Schubladen seines Toilettentisches waren geöffnet und das Bett durchwühlt worden.

 

Er verließ die Wohnung wieder und bemerkte, daß es im Treppenhaus dunkel war.

 

»Wer hat das Licht ausgedreht?« rief er hinab.

 

»Ich dachte, Sie hätten es getan!« erwiderte der Inspektor.

 

»Kommen Sie herauf und bringen Sie den Beutel mit.«

 

»Den Beutel? Aber den haben Sie doch genommen!«

 

»Was?« schrie Dick.

 

»Als Sie eben herunterkamen, sagten Sie doch: ›Geben Sie den Beutel her und bleiben Sie hier stehen‹«, entgegnete der Beamte erschrocken.

 

»Ach, Sie Quadratesel!« tobte Dick. »Haben Sie denn nicht Ihre Augen aufmachen können?«

 

»Es war doch dunkel –«

 

»Audrey, haben Sie den Mann gesehen?«

 

Keine Antwort.

 

»Wo ist die junge Dame?« rief Dick wild.

 

»Hier unten, neben der Tür.«

 

Dick fuhr herum und drehte das Licht an.

 

Audrey war verschwunden.

 

Der Chauffeur wartete noch. Er hatte einen Herrn mit einem Beutel in der Hand herauskommen sehen, nachher war die Dame gefolgt. Aber in welcher Richtung sie sich entfernt hatten, oder ob sie zusammen weggegangen waren, konnte er nicht angeben.

 

In kürzester Zeit hatten alle Polizeiwachen Londons von dem Raub erfahren. Motorfahrer waren unterwegs, um die Schutzleute zu veranlassen, auf einen Mann mit einem Lederbeutel zu achten, ebenso auf eine genau beschriebene junge Dame im Regenmantel.

 

Der Diener William wußte nur anzugeben, daß er die Zeitung gelesen und dann plötzlich das Bewußtsein verloren hatte.

 

Als Dick hastig herauskam, um nach Scotland Yard zu fahren, begegnete er einem Polizisten in Zivil, den er kannte, und fragte ihn, ob er vielleicht Audrey gesehen hätte. Aber der Mann verneinte.

 

»Ich stand oben am Eingang zur Untergrundbahn«, sagte er. »Wie immer war ein großes Gedränge dort. Aber es ist mir niemand aufgefallen. Nur Slick Smith kam in einem ganz durchweichten, dunkelblauen Mantel vorbei.«

 

»Wann?«

 

»Vor ungefähr fünf Minuten.«

 

In Scotland Yard waren noch keine Nachrichten eingelaufen, als Dick dort eintraf, und er machte sich daher sofort auf den Weg, um Slick Smith aufzusuchen.

 

Dieser war nicht in seiner Wohnung, aber der Hauswirt hatte nichts dagegen, daß Dick nach oben ging, um ihn dort zu erwarten. Die Tür war zu, ließ sich jedoch leicht öffnen. Dick trat in das Zimmer ein, hatte aber keine Gelegenheit, sich genauer umzusehen, weil der Inhaber der Wohnung ihm fast auf dem Fuß folgte.

 

Slick lächelte und hatte eine große Zigarre im Mundwinkel.

 

»Guten Abend, Captain!« sagte er vergnügt. »Wie nett von Ihnen, daß Sie mich besuchen!«

 

»Erzählen Sie mir bitte genau, was Sie von fünf Uhr an getrieben haben«, erwiderte Dick schroff.

 

»Das ist nicht so einfach. Ich weiß nur, daß ich mich um Viertel nach neun auf dem Haymarket befand. Einer Ihrer Spürhunde sah mich. Es wäre albern, es abzuleugnen. Während der übrigen Zeit bin ich herumgebummelt. Das Bequemste für Sie ist, wenn Sie sich bei der Stormerschen Agentur erkundigen. Die Firma läßt mich nämlich beobachten. Sie brauchen nur dort anzufragen. Aber ich will Ihnen etwas sagen, Captain: lassen Sie uns die Karten aufdecken. In Ihrer Wohnung ist heute eingebrochen worden – wollen Sie mich deshalb holen?«

 

»Ich will Sie gar nicht holen. Aber Sie sind als verdächtig bekannt und wurden in der Nähe des Haymarket gesehen, als der Einbruch stattfand. Was ist denn eigentlich mit Ihrem Gesicht los?« Er drehte ihn nach der Lampe hin. Von der Backe bis über das linke Ohr hinauf zog sich eine lange Schramme, die sogar einige Haare entfernt hatte. »Das ist ja die Spur einer Kugel! Und hier am Kinn – rührt die Wunde etwa von Glasscherben her? Hören Sie zu, Smith: Sie standen hinter einem Fenster, die Kugel fuhr durchs Glas, streifte Ihre Stirn, prallte dann an Ihrem Kopf ab, und ein Glassplitter – ach, was ist denn das?« Er zupfte einen winzigen Glassplitter von dem nassen Mantelärmel des Mannes und hielt ihn Slick vor die Augen.

 

Eine Weile schwiegen beide und sahen einander an.

 

»Alle Achtung, Shannon!« sagte Slick Smith dann. »Sie haben das Zeug zu einem tüchtigen Detektiv. Ja, man hat auf mich geschossen – durch das Fenster einer Autodroschke. Einer von diesen schäbigen Halunken in Soho hat einen heimlichen Groll gegen mich. Hier ist die Nummer des Wagens – falls Sie Nachforschungen anstellen wollen.« Er holte eine Karte mit einer darauf gekritzelten Nummer aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Sein Alibi war gut vorbereitet.

 

Diese Kaltblütigkeit reizte Dick aufs äußerste. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, und er wußte im Grund seines Herzens, daß er sich weniger um den Verlust der Diamanten als um Audreys Sicherheit sorgte.

 

»Smith«, sagte er eindringlich, »wollen Sie mir den Gefallen tun, wenigstens bis zu einem gewissen Grad offen gegen mich zu sein? Als ich nach Hause fuhr, befand sich Miß Bedford in meiner Begleitung – kennen Sie die Dame?«

 

»Ich habe sie einmal getroffen.«

 

»Schön. Es ist mir jetzt vollkommen gleichgültig, ob Sie mit dem Einbruch zu tun hatten oder nicht, aber sagen Sie mir, ob Sie Miß Bedford heute abend gesehen haben.«

 

Smith lächelte strahlend.

 

»Natürlich hab‘ ich sie gesehen! Vor zwei Minuten stand sie noch vor diesem Haus.«

 

Er hatte kaum gesprochen, als Dick auch schon die Treppe hinabstürmte. Auf dem Gehsteig ging jemand im Regenmantel auf und ab.

 

»Audrey!« rief er, und bevor er selbst wußte, was er tat, hielt er sie schon in den Armen. »Ach, Kind, Sie wissen nicht, was diese Minute für mich bedeutet«, sagte er mit zitternder Stimme.

 

Sie machte sich sanft von ihm frei.

 

»Hat Mr. Smith Ihnen nicht gesagt, daß ich hier warte?«

 

»Nahm er denn an, daß ich hier sein würde?« entgegnete er erstaunt.

 

Er führte sie nach oben, und sie erzählte.

 

»Ich dachte auch, daß Sie es wären, als jemand herunterkam und dem Inspektor etwas zuflüsterte. Aber als er die Tür aufriß, sah ich, daß Sie es nicht waren. Dick – es war Malpas! Ich hätte beinahe laut aufgeschrien, aber meine Hand berührte zufällig das silberne Abzeichen in meiner Tasche, und ich wurde mir wieder meiner Verantwortung als Detektivin bewußt. Ich eilte hinter ihm her und verfolgte ihn durch die Panton Street zum Leicester Square und zur Coventry Street. Dort bog er in eine Nebengasse ab, ging am Pavilion-Theater vorüber und die Great Windmill Street hinauf. Dort wartete ein Wagen auf ihn, aber als er einstieg, beging ich eine Dummheit. Ich schrie ›Halt!‹ und rannte darauf zu. Zu meiner größten Überraschung fuhr er nicht davon, sondern schaute aus der geschlossenen Limousine heraus und sagte: ›Sind Sie es, Miß Bedford? Steigen Sie doch bitte ein. Ich möchte mit Ihnen sprechen.‹ Und als er dann blitzschnell aus dem Auto sprang, ergriff ich die Flucht. Wie ich ihm entkommen bin, weiß ich selbst nicht. Es war kein Mensch in der Nähe, und ich war in einer entsetzlichen Todesangst! Ich rannte um mehrere Straßenecken und konnte kaum noch laufen, als plötzlich Mr. Smith in Sicht kam. Ich erschrak zuerst furchtbar, denn ich dachte, es wäre Malpas. Das ist alles. Mr. Smith brachte mich dann zu Ihrer Wohnung, und dort hörten wir von einem Polizisten, daß Sie sich nach ihm erkundigt hätten.«

 

Dick holte tief Atem.

 

»Wie kam es denn, daß Sie in der Nähe waren, Smith?«

 

»Ich war der jungen Dame gefolgt – was ich vielleicht unterlassen hätte, wenn ich gewußt hätte, daß sie zur Firma Stormer gehört«, entgegnete Slick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Aber jetzt werden Sie gehen wollen. Gute Nacht!«

 

Kapitel 30

 

30

 

Als Audrey am nächsten Morgen in ihrem luxuriös ausgestatteten Zimmer frühstückte, wurde ihr zu ihrer größten Verwunderung ein Brief von Dora gebracht. Ihr Erstaunen wuchs noch, als sie die Zeilen las, die ihre Schwester geschrieben hatte:

 

 

»Mein liebes Kind,

kannst Du mir wohl jemals verzeihen, daß ich Dich so entsetzlich behandelt habe? Der Gedanke, daß Du unseretwegen unschuldig ins Gefängnis gingst, läßt mir und Martin keine Ruhe, und wenn ich an meinen fürchterlichen Angriff auf Dich denke, kann ich mich vor mir selbst nur dadurch rechtfertigen, daß ich mir sage, ich war nicht mehr bei Sinnen. Willst Du vergeben und vergessen? Ich habe Dir viel zu sagen. Bitte rufe mich an.

 

Deine Dich liebende Schwester

Dorothy.«

 

 

»Dorothy?« murmelte Audrey überrascht. Aber sie fühlte doch etwas wie Freude und eilte ans Telephon.

 

Doras Stimme klang matt, als sie antwortete.

 

»Wie lieb, daß du kommen willst. Du bist jetzt ja wohl für Stormer tätig?«

 

»Woher weißt du das?«

 

»Es wurde uns von jemand erzählt. Aber das ist ja gleichgültig, wenn du nur kommst.«

 

Audrey ließ sich das Bad richten und erkundigte sich bei der Gelegenheit bei dem Zimmermädchen nach dem geheimnisvollen Mr. Torrington.

 

»Sie sagen ja, daß er Millionär ist«, erwiderte das Mädchen achselzuckend, »aber ich kann nicht finden, daß er viel von seinem Geld hat. Den ganzen Tag sitzt er in seinen Zimmern herum und raucht oder liest, und abends geht er aus – aber nicht ins Theater oder ins Kino! Nein, er bummelt nur in den Straßen herum. Na, das Geld sollte ich mal haben! Ich wüßte, was ich damit täte!«

 

»Ist er jetzt auch in seinen Zimmern?«

 

»Ja, eben habe ich ihm das Frühstück gebracht. Höflich ist er immer, das muß ich sagen. Und er lebt auch sehr regelmäßig. Um fünf Uhr steht er schon auf, da muß ihm der Nachtportier Kaffee und heiße Brötchen bringen.«

 

»Hat er eigentlich einen Sekretär?«

 

»Nein – gar nichts! Nicht mal einen Papagei!«

 

Audrey telephonierte mittags mit der Stormerschen Agentur. Man schien dort über ihren mageren Bericht sehr befriedigt zu sein. Sie wunderte sich noch darüber, als sie zur Curzon Street fuhr.

 

Dora empfing sie sehr freundlich und umarmte sie.

 

»Du hast uns also wirklich vergeben? Und wie frisch und blühend du aussiehst! Kein Mensch würde glauben, daß du ein Jahr älter bist als ich!«

 

»Älter als du?« fragte Audrey erstaunt.

 

»Ja, Kind! Für die Konfusion ist Mutter verantwortlich. Sie war ja nun einmal wunderlich – besonders in ihrer Abneigung gegen dich.«

 

»Aber ich bin doch am 1.Februar 1904 geboren?«

 

»Am 3. Februar 1903«, verbesserte Dora lächelnd.

 

»Siehst du, hier ist dein Geburtsschein: Audrey Dorothy Bedford. Das war Mutters erster Mann.« Verwirrt starrte Audrey das Papier an.

 

»Aber sie sagte doch immer, du wärst älter, und in der Schule warst du doch auch immer eine Klasse höher als ich! Wenn das wahr ist, dann ist mein Vater -«

 

»Ganz recht, Liebling, dein Vater sitzt nicht im Gefängnis«, erwiderte Dora leise und schlug die Augen nieder. »Ich wollte es nicht wahrhaben, aber es ist mein Vater! Er war ein Amerikaner, der nach Südafrika kam und Mutter heiratete, als du kaum vier Wochen alt warst.«

 

»Wie sonderbar!« murmelte Audrey. »Ich soll plötzlich nicht mehr Audrey sein? Und wir heißen beide Dorothy –?« Sie zuckte plötzlich zusammen und sprang auf. »Aber ich kann beweisen, daß ich die jüngere bin!« rief sie triumphierend. »Mutter hat mir ja selbst gesagt, wo ich getauft worden bin – in einer Kapelle in Rosebank, in Südafrika!«

 

Als Dora ihre Schwester wieder zur Haustür gebracht hatte und ins Wohnzimmer zurückkehrte, kam ihr Mann mit bleichem Gesicht aus dem Nebenraum herein.

 

Sie sah seine entstellten Züge und fuhr entsetzt zurück.

 

»Martin – du willst doch nicht etwa – ?«

 

Er nickte. Ein Leben stand zwischen ihm und traumhaftem Reichtum. Sein Entschluß war gefaßt.

 

 

Mr. Willitt fühlte sich in Dan Torringtons Gegenwart immer befangen. Auch jetzt verursachte ihm der forschende Blick des alten Mannes wieder Unbehagen. Torrington lehnte mit einer Zigarette im Mund am Kamin.

 

»Ich habe volles Vertrauen zu Stornier«, sagte er lebhaft, »aber ein junges Mädchen als Sekretärin ist nichts für mich. Sie würde mir auf die Nerven fallen! Wer ist sie denn überhaupt?«

 

»Es handelt sich um die junge Dame, die bei Malpas angestellt war.«

 

»Doch nicht die Freundin von Captain Shannon?«

 

»Jawohl.«

 

Torrington rieb sein Kinn.

 

»Und Shannon wünscht es?«

 

»Er weiß gar nichts davon. Der Gedanke stammt von Mr. Stormer. Um die Wahrheit zu sagen –«

 

»Aha!« bemerkte der alte Herr trocken. »Also endlich die Wahrheit! Na, lassen Sie hören.«

 

»Sie ist bei uns angestellt, und wir möchten jemand in Ihrer Nähe haben – für alle Fälle.«

 

»Ist sie eine so tüchtige Dame?« lachte Torrington. »Nun gut, schicken Sie mir sie heute nachmittag einmal her. Ansehen kann ich sie mir ja. Wie heißt sie denn?«

 

»Audrey Bedford.«

 

Der Name sagte Torrington nichts.

 

»Also um drei«, erwiderte er.

 

»Sie ist hier im Hotel. Würden Sie –«

 

»Was, Sie haben sie gleich mitgebracht?«

 

»Sie wohnt hier. Wir – wir hatten sie nämlich beauftragt, Ihnen ihre Aufmerksamkeit zu widmen – «

 

Torrington lächelte belustigt.

 

»Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, möchte ich fast glauben, daß ich alle Hände voll zu tun haben werde, um sie zu beschützen«, sagte er. »Aber mag sie kommen!«

 

Willitt ging hinaus und kehrte gleich darauf mit Audrey zurück.

 

Torrington umfaßte sie mit einem raschen Blick.

 

»Etwas weniger Detektivhaftes habe ich noch nie gesehen«, meinte er trocken.

 

»Ich komme mir auch nicht im geringsten wie ein Detektiv vor«, entgegnete sie lachend, als er ihre Hand nahm. »Mr. Willitt sagte mir, daß Sie mich als Sekretärin anzustellen wünschten?«

 

»Mr. Willitt übertreibt«, erwiderte er gutmütig. »Ich wünsche durchaus nicht, Sie als Sekretärin zu haben, aber ich fürchte, daß ich Sie wider Willen bitten muß, diese Stellung anzunehmen. Sind Sie eine gewandte Sekretärin?«

 

»Nein, leider nicht«, gestand sie bedrückt.

 

»Um so besser!« Sein Lächeln wirkte ansteckend. »Das Zusammensein mit einer gewandten Sekretärin könnte ich wohl kaum ertragen – befähigte Menschen wirken entsetzlich bedrückend. Jedenfalls werden Sie nicht heimlich an meine Briefe gehen und sie lesen und photographieren. Und ich kann mein Geld sicher auch herumliegen lassen, ohne etwas davon zu verlieren. Es ist gut, Mr. Willitt, ich werde alles Nähere mit dieser Dame besprechen.«

 

Er fühlte sich seltsam zu ihr hingezogen.

 

»Pflichten werden Sie kaum haben«, erklärte er scherzend, »und Ihr Dienst beginnt erst, wenn ich wirklich Ihrer Hilfe bedarf. Ich glaube aber, dieser Augenblick wird wohl nie kommen. Ich erinnere mich Ihrer jetzt. Sie sind im vergangenen Jahr in Schwierigkeiten gekommen.«

 

Dieser grauenvolle Diamantenraub! Würde er niemals in Vergessenheit geraten?

 

»Ihre Schwester ist eine wenig erfreuliche Erscheinung – ach, verzeihen Sie, wenn ich Sie verletzt habe!«

 

»Sie ist nicht so schlimm, wie man allgemein annimmt.«

 

»Die Heirat mit Martin Elton war ihr Verderben. Den Herrn kenne ich besser, als Sie ahnen. Sie haben doch für Malpas gearbeitet? Ein sonderbarer Kauz!«

 

»Ja, sehr sonderbar!« bestätigte sie mit Nachdruck.

 

»Wissen Sie, daß er steckbrieflich verfolgt wird?«

 

»Ich dachte es mir. Er ist ein Ungeheuer in Menschengestalt!«

 

Ein leises Lächeln glitt über Torringtons Gesicht.

 

»Das mag wohl sein. Gestern abend haben Sie wohl einen tüchtigen Schrecken gehabt? Sie waren doch dabei, als Shannon die Diamanten gestohlen wurden?«

 

Sie schaute ihn verblüfft an.

 

»Steht das denn in den Zeitungen?«

 

»Nein, nur in meiner Privatzeitung. Haben Sie die Steine gesehen? Wunderhübsche, kleine, gelbe Dinger. Sie gehören mir.«

 

Audrey war sprachlos, als er in gleichgültigem Ton diese Feststellung machte.

 

»Ja, sie gehören – oder vielmehr, sie gehörten mir. Jeder Stein trägt das Siegel der Hallam & Coold Mine. Sie können es Shannon mitteilen, wenn Sie ihn sehen. Aber vermutlich weiß er es schon.«

 

Sein Blick fiel plötzlich auf ihre Füße, die er solange betrachtete, daß sie sich unbehaglich zu fühlen begann.

 

»Bei nassem Wetter tut es etwas weh?« fragte er schließlich.

 

»Ja, ein wenig«, entfuhr es ihr, aber dann hielt sie ein. »Was meinen Sie damit – wie konnten Sie wissen?« erwiderte sie aufs höchste überrascht.

 

Er lachte, bis ihm die Tränen in die Augen traten.

 

»Verzeihen Sie mir«, bat er. »Ich bin nur ein neugieriger, alter Mann.« Er schob ihr ein Paket Briefe hin und deutete auf den Schreibtisch. »Bitte, beantworten Sie die Sachen.«

 

»Würden Sie mir bitte sagen, in welcher Art –«

 

»Das ist überflüssig. An Leute, die Geld haben wollen, schreiben Sie ›Nein‹. Leuten, die mich sprechen wollen, erklären Sie bedauernd, daß ich mich in Paris aufhielte. Und für Journalisten bin ich ein für allemal soeben gestorben.«

 

Er nahm ein zerknülltes Schreiben aus der Tasche.

 

»Hier ist allerdings einer, der besonders beantwortet werden muß«, fuhr er fort, ohne ihr den Bogen zu geben. »Bitte, schreiben Sie: ›Am nächsten Mittwoch geht ein Schiff nach Südamerika ab. Ich biete Ihnen fünfhundert Pfund und freie Überfahrt. Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, gehen Sie auf mein Angebot ein.‹

 

Audrey stenographierte hastig.

 

»Und die Adresse?« fragte sie.

 

»Mr. William Stanford, Portman Square 552«, erwiderte Torrington und warf einen zerstreuten Blick zur Decke.

 

Kapitel 4

 

4

 

Lacy Marshalt hatte einst als Senator dem Gesetzgebenden Rat von Südafrika angehört und führte seitdem zur größten Belustigung seines Kammerdieners Tonger den Titel Honourable, »der Ehrenwerte«.

 

An einem trüben Morgen stand er am Fenster und starrte verdrießlich in den Regen hinaus, als Tonger die Post hereinbrachte. Er griff nach einem blauen Umschlag, riß ihn auf und las:

 

»Alles in Ordnung. Es geht zu Ende mit ihm.«

 

»Schick ihm zwanzig Pfund!« sagte er und warf Tonger den Brief zu.

 

»Ob der wirklich aus Matjesfontein kommt?« meinte der Diener nachdenklich, nachdem er die Mitteilung auch gelesen hatte.

 

»Hast du den Poststempel nicht gesehen?«

 

»Hm, ja! Hören Sie mal, Lacy, wer ist eigentlich der Kerl, der nebenan wohnt? Malpas heißt er. Gestern sprach ich mit einem Polizisten, und der sagte, der Kerl müßte nicht richtig im Kopf sein. Wohnt ganz allein und macht alle Hausarbeit selbst. Wer kann das nur sein?«

 

»Du scheinst ja schon alles zu wissen – was fragst du mich noch?«

 

»Wenn er es nun wäre?«

 

»Mach, daß du hinauskommst, du Esel!« fuhr ihn Marshalt an.

 

»Der Privatdetektiv, den Sie bestellt haben, wartet draußen«, erwiderte Tonger gleichgültig.

 

Lacy stieß einen Fluch aus.

 

»Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? Jeden Tag wirst du dümmer. Laß das blöde Grinsen und bring den Mann herein!«

 

Der schäbig aussehende Detektiv, der hereintrat, überreichte Lacy ein Photo.

 

»Ich habe sie gefunden und rasch diese Aufnahme von ihr gemacht. Das ist sie – sie heißt Audrey Bedford. Ihre Mutter ist tot – seit fünf Jahren. Aber auch von der habe ich ein Bild – auf einer Gruppenaufnahme.« Er wickelte ein größeres Blatt aus, das ihm Lacy schnell aus der Hand nahm.

 

»Mein Gott! Ja, gleich als ich das Mädchen sah, hatte ich ein Gefühl –«

 

»Sie kennen sie also, Mr. Marshalt?«

 

»Nein! Was treibt sie? Lebt sie allein?«

 

»Ja, bis jetzt. Aber vor kurzem hat sie ihr Haus verkaufen müssen. Sie soll mittellos sein und ist gestern nach London abgereist.«

 

»Bildhübsch, nicht wahr?«

 

»Ja, ungewöhnlich schön. Leider hatte ich das Pech, daß Captain Shannon im Gasthof von Fontwell abstieg, um einen Reifen auszuwechseln.«

 

»Wer ist Shannon?«

 

»Ein hohes Tier von Scotland Yard. Aber was ich in Fontwell vorhatte, hab ich ihm nicht verraten. Er hat mich aber fürchterlich ausgeschimpft, weil ich mich für einen Kriminalbeamten ausgegeben hatte.«

 

Lacy schien kaum zuzuhören.

 

»Verschaffen Sie mir vor allem Miß Bedfords Adresse, und versuchen Sie, mit ihr bekannt zu werden. Geben Sie sich für einen Geschäftsmann aus – borgen Sie ihr Geld – aber hüten Sie sich, sie ängstlich zu machen!« Er nahm ein paar Banknoten aus seiner Brieftasche und drückte sie dem Mann in die ausgestreckte Hand. »Bringen Sie das Mädel einmal zum Abendessen her«, fügte er leise hinzu.

 

Der Detektiv machte große Augen und schüttelte den Kopf.

 

»So was liegt mir nicht«, murmelte er.

 

»Ich will nur mit ihr sprechen. Sie bekommen fünfhundert.«

 

»Fünfhundert? Na, ich will sehen …«

 

Als der Mann gegangen war, trat Lacy ans Fenster.

 

Er rühmte sich, keine Furcht zu kennen. Rücksichts- und reuelos hatte er Menschenherzen zertreten, um an sein Ziel zu kommen. In drei Erdteilen fluchten Frauen seinem Andenken, brüteten Männer Rache. Er aber fürchtete nichts. Er haßte Dan Torrington und wußte nicht, daß Haß nur aus Furcht entsteht.

 

Kapitel 31

 

31

 

Torringtons Wohnung im Ritz-Carlton wies bei näherer Betrachtung allerlei Eigentümlichkeiten auf, die Audrey erst bemerkte, als ihr neuer Chef nachmittags ausging und sie in seinen Zimmern allein ließ. Alle Türen waren zum Beispiel mit Riegeln versehen, und als sie ein Fenster öffnete, um einen Gardinenbrand in einem gegenüberliegenden Haus zu beobachten, erschrak sie heftig, denn plötzlich stürzten drei Männer im Laufschritt herein. Der eine war ein Agent von Stormer, den sie kannte, die beiden anderen waren ihr fremd.

 

»Tut mir leid, Sie erschreckt zu haben«, sagte der Agent. »Wir hätten Ihnen mitteilen sollen, daß Sie keine Fenster öffnen dürfen.« Er schickte seine Begleiter hinaus und schloß das Fenster sorgfältig. »Sie haben den Alarmapparat berührt. Sehen konnten Sie ihn nicht, weil er durch das Drehen des Griffs in Gang gesetzt wird. Es ist nicht nötig, hier die Fenster aufzumachen, denn die Zimmer werden durch eine besondere Vorrichtung ventiliert. Wenn Sie mitkommen wollen, werde ich Ihnen noch etwas zeigen.«

 

Er führte sie in Torringtons merkwürdig einfach eingerichtetes Schlafzimmer, in dem sonderbarerweise ein zweischläfriges Bett stand.

 

»Auf dieser Seite schläft er, und wenn er den Kopf einmal zufällig auf dieses Kissen legt –« er hob es behutsam auf, und sie sah den fadendünnen Draht, der unter dem Bett verschwand. »Der geringste Druck bringt sofort die Nachtwachleute herbei.«

 

»Aber ist Mr. Torrington denn wirklich in so großer Gefahr?«

 

»Man kann nie wissen«, wich der Mann aus. –

 

Im Lauf des Nachmittags fand Audrey Zeit, einige Zeilen an ihre Schwester zu schreiben:

 

 

Liebe Dora,

wir waren wohl beide etwas kindisch. Nenne mich meinetwegen ruhig Dorothy, oder wie Du sonst willst, und auch älter als Du will ich gern sein – als Oberhaupt der Familie fühle ich bereits ganz mütterliche Regungen Dir gegenüber! Auf Wiedersehen.

 

Dorothy.«

 

 

Dora gab den Brief an Martin weiter, nachdem sie ihn gelesen hatte.

 

»Die Sache läßt sich nicht durchführen. Ein Kabeltelegramm würde ja hinreichen, um Audreys Behauptung zu bestätigen.«

 

»Aber wir müssen es doch versuchen«, entgegnete er. »Die Bank drängt schon, weil ich mein Konto weit überzogen habe. Ich sitze fürchterlich in der Patsche. Audrey muß verschwinden – irgendwohin nach dem Kontinent.«

 

»Und Shannon?«

 

»Ach, Shannon! Wie ich mit Slick fertig werde, macht mir mehr Sorgen. Er weiß zuviel! Nicht nur in bezug auf Audrey. Erinnerst du dich noch an den Abend, an dem ich Marshalt erschießen wollte? Ich war gerade auf sein Dach geklettert, als unten der Spektakel losging. Am anderen Ende des Daches stand ein Detektiv. Er sah weder mich noch den Mann, der an dem Strick nach oben kam, das Oberlichtfenster bei Malpas öffnete und hineinstieg. Aber ich sah ihn, und ich machte, daß ich fortkam!«

 

»Dann hast du also den Mörder gesehen?« flüsterte sie atemlos.

 

»Ich sah noch mehr. Als er in die kleine Vorratskammer geklettert war, steckte er eine Kerze an und holte eine Perücke mit falscher Nase und falschem Kinn aus der Tasche und legte sie an. Seine eigene Mutter hätte ihn nicht von Malpas unterscheiden können, nachdem er das Ding befestigt hatte!«

 

»Malpas!« stieß sie entsetzt hervor. »Wer war es denn?«

 

»Slick Smith«, erwiderte Martin.

 

 

Shannon hatte beschlossen, das Götzenbild aus Portman Square Nr. 551 entfernen und nach Scotland Yard überführen zu lassen.

 

»Nehmen Sie einen Mann in Zivil mit und lassen Sie die Leute von der Transportgesellschaft ein«, sagte er zu Steel. »Wenn wir das Ding hier haben, kann ich es von erfahrenen Mechanikern eingehend untersuchen lassen. Übrigens habe ich heute mit einem der Dienstmädchen bei Marshalt gesprochen. Sie erzählte mir, daß sich Marshalt wirklich sehr vor seinem Nachbar gefürchtet hat. Einmal war sie gerade im Zimmer, als es dreimal an die Wand klopfte. Marshalt soll halbtot vor Angst gewesen sein.«

 

»Die Aussage kann uns wohl auch nicht viel helfen«, meinte sein Assistent.

 

»O doch! Ich kann mir jetzt denken, wer der Schurke mit den zwei Gesichtern gewesen ist. Also, machen Sie sich an die Arbeit.«

 

Steel beeilte sich, den Auftrag auszuführen, aber er und sein Begleiter warteten vergeblich auf die zum Abtransport bestellten Leute, und als er die Firma anrufen wollte, stellte sich heraus, daß der Fernsprecher nicht in Ordnung war. Er schickte den Mann, der bei ihm war, zur nächsten Telephonzelle und ging inzwischen vor der offenen Haustür auf dem Gehsteig auf und ab. Seine Hand lag auf dem Revolver, den er in der Tasche trug, und er entfernte sich nur wenige Schritte von der mit einem Holzklotz aufgekeilten Tür.

 

Als er wieder einmal umkehrte, sah er eine wachsgelbe Hand hinter der Tür hervorkommen, die nach dem Holzklotz griff. Sofort riß er den Revolver heraus und rannte die Stufen hinauf. Der Klotz wurde zurückgezogen, und die Tür begann sich zu schließen. Als sie nur noch einen Zollbreit offenstand, warf er sich dagegen, aber von innen verstärkte jemand den Druck der Angeln durch sein Gewicht, und sie schnappte ein.

 

Einen Moment später kam Steels Begleiter zurück und meldete, daß Shannon am Nachmittag seinen Auftrag selbst widerrufen hätte.

 

»Das dachte ich mir doch«, brummte Steel grimmig. »Wir wollen mal sehen, was der Captain dazu sagt.«

 

Glücklicherweise meldete sich Shannon selbst auf den Anruf und nahm den Bericht entgegen.

 

»Ich habe natürlich keinen Gegenbefehl erteilt«, sagte er dann. »Wir wollen die Sache bis morgen aufschieben. Gehen Sie jetzt einmal nach hinten und sehen Sie zu, was dort vorgeht.«

 

Die beiden kamen der Aufforderung nach und näherten sich bereits dem Hoftor, als ein elegant gekleideter Herr herauskam.

 

»Slick Smith!« stieß Steel fast tonlos hervor. »Und er trägt gelbe Handschuhe!«

 

Slick Smith wirbelte ahnungslos seinen Spazierstock in der Luft herum und schlenderte gelassen davon. Als er Maida Vale erreicht hatte, blieb er vor einem der imposanten, prunkvollen Grevilleschen Mietshäuser stehen und trat durch einen der beiden vornehmen Eingänge in die behagliche Portierloge.

 

»Ich möchte Mr. Hill sprechen«, erklärte er mit strahlender Miene.

 

»Mr. Hill ist verreist. Kommen Sie wegen einer Wohnung?«

 

»Ja. Lady Kilferns Wohnung interessiert mich. Sie soll ja möbliert vermietet werden. Hier, bitte!« Er zog einen blauen Bogen aus der Tasche, den der Portier aufmerksam prüfte.

 

»Schön, da Lady Kilfern die Besichtigung gestattet, werde ich Sie hinauffahren.«

 

Beim Anblick der verhängten Fenster und zugedeckten Möbel schüttelte Smith den Kopf.

 

»Ach, die Wohnung liegt nach vorne? Schade, bei dem Straßenlärm kann ich nicht schlafen.«

 

»Nach hinten ist leider nichts frei.«

 

»Wer wohnt denn da?«

 

Sie waren an die Treppe zurückgegangen, und Smith deutete auf eine Tür hinter dem Aufzug. Während der Portier erklärte, daß ein Rechtsanwalt hier sein Zimmer hatte, schlenderte Slick den Gang entlang und blickte durch ein großes, nach hinten gelegenes Fenster hinaus.

 

»Dies würde mir passen«, meinte er. »Aha, auch eine Rettungsleiter. Ich bin sehr ängstlich wegen Feuersgefahr.«

 

Er lehnte sich hinaus und schaute auf den Hof hinunter. Dabei bemerkte er auch, daß die Eingangstür Nr.9 mit Patentschlössern versehen war, und daß ein furchtloser Mann von der Rettungsleiter aus das Flurfenster von Nr.9 erreichen konnte.

 

»Ich möchte mir so gern eine von diesen nach hinten gelegenen Wohnungen ansehen, aber das geht wohl nicht?« fragte er bekümmert.

 

»Nein. Ich habe zwar einen Hauptschlüssel, aber den darf ich nur bei Feuer oder Unfällen benützen.«

 

»Einen Hauptschlüssel?« wiederholte Mr. Smith verwundert. »Was ist denn das?«

 

Mit sichtlicher Genugtuung griff der Mann in die Tasche.

 

»Hier sehen Sie einen«, sagte er stolz.

 

Slick nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn interessiert.

 

»Wie merkwürdig!« rief er. »Sieht doch genau aus wie jeder andere Schlüssel? Wie funktioniert er denn?«

 

»Das kann ich Ihnen nicht erklären«, erwiderte der Portier ernst und steckte den Schlüssel wieder ein. Im selben Augenblick klingelte es am Aufzug.

 

»Entschuldigen Sie –« begann er, aber Slick hielt ihn am Arm fest.

 

»Können Sie nochmal zurückkommen?« fragte er drängend. »Ich möchte Ihre Ansicht über diese Wohnungen hören.«

 

»Ich bin gleich wieder hier.«

 

Als er zurückkehrte, stand Slick mit nachdenklicher Miene an derselben Stelle, wo er ihn verlassen hatte.

 

»Ja, wie ich Ihnen schon sagte, dieser Hauptschlüssel–« Er hielt plötzlich erschrocken inne. »Ich habe ihn verloren!« rief er. »Haben Sie nicht gesehen, daß ich ihn einsteckte?«

 

»Doch Sie haben ihn genommen… aber da liegt er ja!«

 

Slick deutete auf den Teppich.

 

»Gott sei Dank!« Der Portier atmete erleichtert auf. »Sie sollten mal oben aufs Dach gehen, da hat man eine wunderschöne Aussicht. Soll ich Sie hinauffahren?«

 

»Nein, ich gehe jetzt lieber«, meinte Slick Smith, als der Mann wieder durch die Fahrstuhlglocke nach unten gerufen wurde.

 

Sobald der Lift verschwunden war, eilte Slick auf die jetzt nur angelehnte Tür zu. Ein leiser Stoß genügte, um sie zu öffnen, denn während der kurzen Abwesenheit des Portiers hatte er sie aufgeschlossen, den Griff zurückgebunden und sie wieder zugezogen. Nun schob er den Sicherheitsriegel vor und eilte von einem Raum in den anderen. Im Schlafzimmer raffte er allerlei Gegenstände zusammen und ließ sie in seinen geräumigen Taschen verschwinden. Dann schlüpfte er in die Küche, untersuchte die Vorräte in der Speisekammer, roch an der Butter, prüfte den Inhalt einer Dose Kondensmilch und fühlte an das Brot, um festzustellen, wie alt es wäre. Nachdem er sich orientiert hatte, schlich er auf den Vorplatz zurück und lauschte. Eben ertönte wieder das Summen des Fahrstuhls. Slick bückte sich, hob den Deckel des Briefkastens und sah den Lift nach oben gleiten. Im nächsten Moment war er draußen und stand unten in der Halle, als der Portier wieder mit dem Fahrstuhl herunterkam.

 

»Vielleicht miete ich die Wohnung doch«, sagte er. »Aber zu diesem Zweck muß ich mich ja wohl an jemand anders wenden als an Sie?«

 

»Ja. Vielen Dank.« Der Mann steckte das fürstliche Trinkgeld ein, während Slick das Gebäude verließ und ein Mietauto heranwinkte.

 

Kapitel 21

 

21

 

Dora Elton hörte, wie Martin nach Hause kam, und riß sich zusammen. Sie fror, obwohl sie noch in ihren Pelzmantel gehüllt war und in einem behaglich warmen Raum saß.

 

Lacy Marshalt war tot. Auch wenn sie nicht hinter jener Menge auf dem Portman Square gestanden und es gehört hätte, wäre es ihr zum Bewußtsein gekommen, denn die wilde Besessenheit, die sie gepackt hatte, war plötzlich von ihr gewichen. Und nun war ihr zumute wie einem Mörder am Morgen des Hinrichtungstages.

 

Der Türgriff drehte sich, und Martin Elton trat ein. Bei seinem Anblick zuckte ihre Hand zum Mund empor, um einen Schrei zu unterdrücken. Sein Gesicht und seine Hände waren schmutzig, sein Frackhemd mit Staub und Flecken bedeckt. Von dem Beinkleid hing ein Tuchfetzen herab und enthüllte ein zerschrammtes Knie. Die blutlosen Lippen machten sein Gesicht plötzlich alt, und die Augen lagen tief in den Höhlen.

 

Eine Sekunde lang blieb er in der Tür stehen und starrte sie an. Es lag weder Vorwurf noch Zorn in seinem Blick.

 

»Hallo, die Polizei ist also doch gekommen?« fragte er.

 

»Die Polizei?«

 

»Du schicktest sie doch her, um nach dem Geld zu suchen. Ich sprach mit Gavon: er hatte offenbar Lust, eine Haussuchung vorzunehmen. Du hast das doch wohl nicht vergessen?«

 

Sie hatte es wirklich vergessen. Es war inzwischen so viel geschehen!

 

»Ich habe es verhindert. Gavon glaubt, daß ich hysterisch bin.«

 

Er spreizte die schmutzigen Finger über dem Feuer aus.

 

»Der Ansicht bin ich auch. Aber jetzt will ich baden und mich umkleiden.«

 

Plötzlich fuhr sie mit der Hand in seine Tasche, holte einen großen Browning heraus und untersuchte ihn. Die Pistole war erst kürzlich abgefeuert worden und roch noch nach Pulver.

 

»Haben sie dich gesehen?« fragte sie leise.

 

»Ich weiß es nicht – es kann sein. Was willst du tun?«

 

»Zieh dich nur um. Ich habe noch einen Gang zu machen – in einer Viertelstunde bin ich wieder hier.«

 

»Schön«, erwiderte er dumpf.

 

Sie kannte eine Terrasse am Regent-Kanal und fuhr in einer Autodroschke hin. Nachdem sie den Chauffeur bezahlt und entlassen hatte, ging sie mitten auf die Brücke und ließ die Pistole hinabfallen. Sie hörte deutlich, wie die Waffe das dünne Eis durchschlug. Dann ging sie zu dem anderen Kanalufer und fand sehr bald wieder ein Auto.

 

Martin saß in seinem Ankleidezimmer und trank heißen Kaffee, als sie zurückkehrte. Er erriet, wo sie gewesen war.

 

»Es tut mir leid, daß du dich so dumm benommen hast – wegen des Geldes«, sagte er. »Ich hatte es mir anders überlegt und es Stanford zurückgegeben. Gavon war hier, während wir aus waren.«

 

»Ja, Lucy sagte so etwas. Was hast du mit deinen Kleidern gemacht?«

 

»Im Zentralofen«, erwiderte er kurz.

 

»Ich gehe jetzt zu Bett«, murmelte sie und bot ihm die Lippen zum Kuß.

 

»Frauen sind doch wunderlich«, sagte er vor sich hin, als sie das Zimmer verlassen hatte.

 

Er selbst ging nicht zur Ruhe. Sein Anzug lag für die erwartete plötzliche Vorladung bereit. Die ganze Nacht hindurch saß er grübelnd am Kaminfeuer – aber er bereute nichts. Er war eingeschlafen, als er um sieben von dem Hausmädchen geweckt wurde.

 

»Ein Herr möchte Sie sprechen – Captain Shannon.«

 

Martin erhob sich fröstelnd.

 

»Ich lasse bitten«, entgegnete er.

 

Dick Shannon kam sofort herein.

 

»Morgen, Elton! Gehört das Ihnen?« Er hielt ihm das goldene Zigarettenetui hin.

 

»Ja.«

 

Dick steckte es wieder ein.

 

»Wollen Sie mir bitte erklären, wie es kommt, daß wir es dort fanden, wo Marshalt ermordet wurde?«

 

»Um welche Zeit wurde der Mord begangen?« erwiderte Elton höflich.

 

»Um acht.«

 

Martin nickte.

 

»Um acht befand ich mich auf der Polizeiwache in der Vine Street und setzte Inspektor Gavon auseinander, daß meine Frau zeitweise an Geistesverwirrung leidet. Wußten Sie das nicht?«

 

In diesem Augenblick trat Dora bleich und hohläugig ins Zimmer.

 

»Was ist geschehen?« fragte sie.

 

»Shannon sagte mir eben, daß Lacy Marshalt tot ist. Das war mir ganz neu. Wußtest du es schon?«

 

»Ja – und warum ist Captain Shannon hier?«

 

»Weil mein Zigarettenetui wie durch Zauber sich auf das Dach des Malpas’schen Hauses verirrt hat«, entgegnete Martin lächelnd.

 

»Ich habe nicht gesagt, daß es dort gefunden wurde!« warf Dick ein.

 

»Dann muß ich es wohl geträumt haben«, antwortete Martin gelassen.

 

»Hören Sie, Elton, ich rate Ihnen, mir gegenüber so offen zu sein, als es mit Ihrer Sicherheit vereinbar ist«, warnte ihn Dick. »Wie kommt es, daß das Etui auf dem Dach von Portman Square 551 gefunden wurde?«

 

»Ich habe es dort verloren, als ich früher am Abend versuchte, in Marshalts Haus einzudringen, um – um eine kleine Abrechnung mit ihm zu halten. Aber es ist nicht möglich, das Dach zu erreichen. Auf das Haus nebenan kommt man ziemlich leicht hinauf, aber als ich von dort aus bei Marshalt eindringen wollte, stieß ich auf Schwierigkeiten. Und gestern abend wurde es noch schwieriger, weil sich ein Mann auf dem Dach befand – vermutlich ein Detektiv.«

 

»Wie kamen Sie denn wieder hinunter?«

 

»Das war das Erstaunliche. Jemand hatte glücklicherweise für einen Strick gesorgt, der am Schornstein angebunden und in regelmäßigen Abständen geknotet war – er war so bequem wie eine Leiter.«

 

Shannon überlegte einen Augenblick und ersuchte Martin dann, mit ihm nach der Vine Street zu kommen.

 

»Wir müssen Ihre Geschichte genau nachprüfen«, sagte er.

 

Zu seiner Verwunderung wurden Martins Aussagen auf der Polizeiwache vollauf bestätigt.

 

»Ja, Mr. Elton war um acht Uhr hier und sah aus, als ob er von einem Maskenball käme«, erwiderte der Beamte auf Dicks Frage. »Ganz zerlumpt und beschmutzt.«

 

»Und diese Uhr hier geht richtig?« erkundigte sich Dick.

 

»Ja, jetzt geht sie wieder«, entgegnete der Inspektor. »Nur gestern abend blieb sie einmal stehen – gerade um die Zeit, als Sie hier waren, Mr. Elton. Es muß wohl an der Kälte gelegen haben, denn wir brauchten sie fast gar nicht aufzuziehen, um sie wieder in Gang zu bringen.«

 

»Die dumme Uhr wird Sie wahrscheinlich vor dem Galgen bewahren«, sagte Dick, als sie wieder draußen waren. »Ich habe mir eine Vollmacht für eine Haussuchung bei Ihnen verschafft und werde jetzt damit beginnen.«

 

»Wenn Sie etwas finden, was für Sie von Wert ist, werde ich der erste sein, der Sie beglückwünscht«, erwiderte Elton kühl.

 

Kapitel 22

 

22

 

Die Zeitungen berichteten eingehend und wahrheitsgetreu über das Ereignis der vergangenen Nacht, und der ›Globe Herald‹ fügte hinzu:

 

 

»Die Polizei steht vor einem fast unlösbaren Rätsel oder vielmehr vor einer Reihe von Rätseln, die wir hier aufzählen wollen:

 

1. Wie gelangte Marshalt in das sorgsam behütete Haus dieses Sonderlings? Da er seinen Nachbar so sehr fürchtete, daß er Privatdetektive mit seinem Schutz betraut hatte, muß er starke Beweggründe gehabt haben, um sich zum Betreten des geheimnisvollen Hauses zu entschließen.

 

2. Auf welche Weise wurde Marshalts Leiche aus Nr. 551 entfernt?

 

3. Wer tötete den Bedienten Tonger, und warum wurde er überhaupt getötet?

 

4. Wo ist Malpas? Ist er etwa auch in die Hände der gespenstischen Verbrecher gefallen?«

 

 

Dick nickte anerkennend, als er diesen Artikel las. Daß bei aller Genauigkeit mehrere wichtige Punkte übersehen worden waren, konnte ihm nur lieb sein. Gleich morgens um zehn Uhr hatte er die Köchin Marshalts verhört. Die Frau wußte jedoch nur auszusagen, daß ihr Herr um halb acht abends das Haus verlassen hätte, und daß Tonger gut mit ihm gestanden hätte und ein nüchterner Mann gewesen wäre. Nur in der letzten Zeit hätte er angefangen zu trinken und zu seinen Mahlzeiten statt der Zitronenlimonade alkoholhaltige Getränke verlangt.

 

All dies sagte Dick nicht viel, und er beschloß, Audrey aufzusuchen, um zu sehen, ob sie vielleicht eine der Lücken ausfüllen könnte. Er fand sie in dem leeren Speisesaal, wo sie ein spätes Frühstück einnahm.

 

»Ich habe die Zeitungen schon gelesen«, sagte sie. »Sie sind recht gut unterrichtet.«

 

»Ja«, bestätigte er und holte den auf dem Schreibtisch gefundenen Bogen hervor. »Ist das vielleicht einer von den Briefen, die Sie für Mr. Malpas geschrieben haben?«

 

»Es ist meine Handschrift. Besinnen kann ich mich nicht darauf. Ich schrieb die Sachen immer ganz mechanisch ab, weil sie mir teils sinnlos, teils wunderlich vorkamen. Übrigens – was soll ich mit dem Geld machen, das er mir gegeben hat?«

 

»Heben Sie es für seine Erben auf«, erwiderte er finster.

 

»Er ist doch nicht etwa tot?«

 

»Genau sieben Wochen nach dem Tag, an dem ich ihn fasse, wird der alte Teufel tot sein!«

 

Er fragte sie noch einmal, wie Malpas aussähe, und notierte sich ihre Beschreibung. Es war der Mann, dessen Gesicht er durch das Oberlichtfenster gesehen hatte!

 

Als Dick gegangen war, legte sich Audrey wieder zu Bett, denn die Ereignisse des vergangenen Tages hatten sie sehr angegriffen und erschüttert. Sie mußte wohl eingeschlummert sein, denn plötzlich fuhr sie erschrocken in die Höhe.

 

Ihre Tür war nur angelehnt, und sie wußte genau, daß sie sie vorher geschlossen hatte. Wer hatte sie geöffnet? Sie trat auf den Korridor hinaus, aber es war niemand zu sehen. Sollte sie sich doch getäuscht haben?

 

Im nächsten Augenblick sah sie einen Brief am Boden liegen, bei dessen Anblick ihr fast der Atem verging. Er kam von Malpas. Mit zitternden Fingern riß sie den Umschlag auf und schaute auf das unordentliche Gekritzel:

 

 

»Lacy und sein Untergebener sind tot. Sie werden denselben Weg gehen, wenn Sie mich verraten. Erwarten Sie mich heute abend um neun am Eingang von St. Dunstan, Outer Circle. Wenn Sie zu Shannon darüber sprechen, soll es Ihnen schlecht bekommen.«

 

 

Sie durchflog die Zeilen noch einmal. St. Dunstan, das Heim für blinde Soldaten, lag weit draußen in einer einsamen Gegend. Sollte sie Dick zu Rate ziehen? Ihr erster Gedanke war, ihm von dieser Nachricht Mitteilung zu machen, aber ihr zweiter galt seiner Sicherheit. Sie durfte ihn nicht einweihen, denn er suchte nach Malpas, und dies konnte seinen sicheren Tod bedeuten.

 

Den ganzen Tag über beschäftigte sie sich mit dem Problem, und dabei hatte sie ständig das dunkle, quälende Gefühl, daß sie bewacht und beobachtet wurde. Wer war nur dieser rätselhafte Mann – dieser graue Schatten, der ungesehen kam und ging?

 

Sie hoffte immer noch, daß Dick nachmittags oder zu Tisch erscheinen würde, aber der Captain hatte keine Zeit. So zog sie sich denn nach dem Essen auf ihr Zimmer zurück, um einen Plan zu entwerfen.

 

Erstens wollte sie all ihr Geld im Safe des Hotels zurücklassen, zweitens einen recht kräftig aussehenden Chauffeur wählen und sich keinen Schritt von der Autodroschke entfernen. Sie hätte gern einen Revolver mitgenommen, aber sie besaß keinen und verstand auch kaum, damit umzugehen.

 

Sie mußte lange warten, bis endlich ein passender Chauffeur von der nötigen Größe und Stärke des Weges kam.

 

»Ich habe eine Verabredung mit einem Herrn im Outer Circle«, sagte sie hastig. »Und ich – ich möchte nicht mit ihm allein gelassen werden – verstehen Sie?«

 

Er verstand durchaus nicht. Sonst pflegten solche junge Damen ganz entgegengesetzte Wünsche zu haben.

 

Es schneite und stürmte, und die Straßen wurden leerer und dunkler. Es war eine lange Fahrt, aber endlich hielt das Auto am Bordstein.

 

»Hier sind wir bei St. Dunstan«, sagte der Chauffeur und blieb neben der Tür stehen. »Es ist aber niemand hier.«

 

Aber im nächsten Augenblick glitt ein langes Auto heran und hielt dicht hinter ihnen. Audrey sah, daß eine gebeugte Gestalt mühsam ausstieg, und wartete gespannt, was folgen sollte.

 

»Audrey!«

 

Die Stimme war unverkennbar.

 

»Bitte, kommen Sie hierher«, sagte sie.

 

Er kam langsam auf sie zu – sie erkannte das lange Kinn über dem weißen Schal und die große Nase.

 

»Kommen Sie her, und schicken Sie Ihre Droschke fort!« rief er ungeduldig.

 

»Nein, der Chauffeur bleibt hier«, erklärte sie fest. »Ich habe nicht viel Zeit. Wissen Sie, daß die Polizei nach Ihnen sucht?«

 

»Schicken Sie das Auto fort!« wiederholte er heftig. »Sie haben jemand drin – der Teufel soll Sie holen! Ich schrieb Ihnen doch –«

 

Sie sah glitzernden Stahl in seiner Hand und wich zurück.

 

»Ich schwöre Ihnen, daß niemand anders als der Chauffeur bei mir ist.«

 

»Kommen Sie her!« befahl er. »Steigen Sie in mein Auto.«

 

Sie wollte sich umdrehen, glitt aber in dem nassen Schnee aus. Rasch packte er sie an beiden Armen und stand nun hinter ihr.

 

»Nanu – was soll denn das?« brüllte der Chauffeur ihn an und näherte sich in drohender Haltung.

 

»Halt!« Eine Revolvermündung brachte ihn zum Stehen.

 

»Fahren Sie fort! Hier!«

 

Eine Handvoll Geld flog ihm vor die Füße, und als er sich bückte, es aufzuheben, sauste der Revolverkolben auf seinen Hinterkopf nieder. Er fiel um wie ein schwerer Klotz.

 

Das geschah, bevor sich Audrey der großen Gefahr bewußt wurde, in der sie schwebte. Sie fühlte, daß der Mann sie aufhob.

 

»Wenn Sie schreien, schneide ich Ihnen die Kehle durch!« zischte er ihr ins Ohr. »Sie sollen denselben Weg gehen wie Marshalt und Tonger – den Weg, den auch Shannon gehen wird, wenn Sie nicht tun, was ich will –«

 

Er preßte eine Hand auf ihren Mund und zerrte sie auf sein Auto zu. Aber dann ließ er sie plötzlich los, und sie stürzte halb ohnmächtig zu Boden. Bevor sie wieder ganz zu sich kam, schossen die Lampen von Malpas Auto an ihr vorüber. Sie sah drei Leute laufen, hörte Schüsse knallen und wurde auf die Füße gestellt. Der Arm, der sie umfaßt hielt, gab ihr ein sonderbar beruhigendes Gefühl, und sie schaute in Dick Shannons Gesicht.

 

»Sie unartiges Kind!« sagte er streng. »War das ein Schreck!«

 

»Haben Sie – haben Sie ihn gesehen?«

 

»Malpas? Nein, nur seine Scheinwerfer, aber es ist ja immerhin entfernt möglich, daß sie ihn an irgendeinem Tor anhalten. Mein Mann hatte Sie aus den Augen verloren, und es war ein reiner Glücksfall, daß er Sie bei Clarence Gate wiedersah. Er rief mich in Marylebone an – nun, wir wollen froh sein, daß alles so gut abgelaufen ist.« Er schauderte. »Hat der Kerl etwas von Belang gesagt?«

 

»Nein, er stieß nur eine Menge ungemütlicher Drohungen aus, die hoffentlich nicht in Erfüllung gehen. Dick, ich kehre zu meinen Hühnern zurück.«

 

Shannon lachte leise.

 

»Selbst das grimmigste Ihrer Hühner würde nicht imstande sein, Sie jetzt zu beschützen. Malpas hält es aus irgendeinem Grund für notwendig, Sie zu beseitigen. Übrigens habe ich Sie Tag und Nacht von zwei eifrigen Leuten bewachen lassen. Haben Sie das nicht bemerkt?«

 

Nachdem er sie ins Hotel zurückgebracht hatte, fuhr er nach Hause und stieß vor seiner Tür auf Mr. Brown.

 

»Warten Sie hier auf mich?« fragte er.

 

»Ja, seit einigen Minuten. Haben Sie ihn gefaßt?«

 

Dick fuhr herum.

 

»Wen?«

 

»Nun, natürlich Malpas! Sie vergessen, daß Ihre Kanonade die friedlichen Bewohner von Regent’s Park in fürchterliche Angst versetzt und lebhafte Reklame für Ihren Kampf mit dem Teufelskerl gemacht hat.«

 

»Teufelskerl? Kennen Sie Malpas?«

 

»Sehr genau, und Lacy Marshalt auch – noch besser als den verstorbenen Laker.«

 

»Kommen Sie mit mir hinauf«, erwiderte Dick, und Mr. Brown folgte ihm so lautlos, daß er sich umdrehte, um sich zu vergewissern, ob er auch hinter ihm wäre.

 

»Sie sprachen eben von Laker: wer ist das?«

 

»Ein Dieb und Trunkenbold. Obwohl er Malpas kannte, war er unvorsichtig genug, ihn in berauschtem Zustand zu besuchen – infolgedessen wurde seine Leiche kürzlich aus der Themse gefischt.«

 

»Meinen Sie den Mann, der am Embankment ins Wasser geworfen wurde?«

 

»Ja, das war Laker. Wundern Sie sich, daß es sogenannte Teufel in Menschengestalt gibt, die sich durch Mord einen Ausweg aus ihren Verlegenheiten suchen? Warum auch nicht? Begeht man einen Mord, ohne ihn zu bereuen, so sind alle weiteren nur eine natürliche Folge davon. Ich habe viele Mörder gekannt –«

 

»Gekannt!« wiederholte Dick bestürzt.

 

»Ja, ich habe lange Sträflingsjahre hinter mir. Mein eigentlicher Name ist Torrington, und ich war zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt, wurde aber begnadigt, als ich zwei Kindern das Leben rettete, und zwar den Kindern des höchsten Verwaltungsbeamten von Kapstadt. Aus diesem Grund hat man mir auch die Führung eines Passes unter falschem Namen gestattet.« Er lächelte flüchtig. »Ich gehöre sozusagen den privilegierten Klassen an. Und ich interessiere mich für Malpas, noch mehr allerdings für den verstorbenen Marshalt. Aber darüber brauche ich wohl keine weiteren Worte zu verlieren. Malpas ist gefährlich, Captain Shannon. Auf einen Mord mehr oder weniger kommt es ihm nicht an. An Ihrer Stelle würde ich ihn in Ruhe lassen.«

 

»Ein netter Ratschlag für einen Polizeibeamten!« meinte Dick lachend.

 

»Es ist ein guter Rat«, erwiderte Brown. »Wo mögen sie nur Marshalts Leiche hingebracht haben?« fragte er dann.

 

Dick zuckte die Schultern.

 

»Sie muß noch irgendwie im Haus versteckt sein«, entgegnete er ausweichend.

 

»Das glaube ich nicht. Ich habe einen Gedanken – aber ich habe schon zuviel gesagt. Kommen Sie mit und trinken Sie bei mir im Hotel noch einen Nachttrunk, Captain Shannon!«

 

Dick lehnte lächelnd ab.

 

»Aber dann bringen Sie mich doch wenigstens nach Hause?« fragte Brown. »Ich bin ein schwacher, alter Mann und bedarf des polizeilichen Schutzes.«

 

Dazu war Dick bereit. Unterwegs sah er, daß Mr. Torrington manchmal weniger hinkte. Es war, als ob er zuweilen vergäße, den Fuß nachzuschleppen. Schließlich machte Dick eine Bemerkung darüber.

 

»Ich glaube, das beruht auf Gewohnheit«, entgegnete Torrington unbefangen. »Ich hatte mir das Nachschleppen des Fußes so angewöhnt, daß es mir zur zweiten Natur geworden ist.«

 

Er spähte scharf um sich.

 

»Erwarten Sie, jemand zu sehen?« fragte Dick.

 

»Ja, ich sehe mich nach dem Schatten um. Er hat sich heute noch gar nicht blicken lassen.«

 

Shannon lächelte.

 

»Sie lieben es wohl nicht, beobachtet zu werden? Alle Achtung, daß Sie es bemerkt haben!«

 

Torrington schaute ihn groß an.

 

»Ach, Sie meinen den Polizisten, der mir folgt? Dort an der Ecke steht er. Nein, ich sprach von dem Mann, der auf Ihrer Spur ist.«

 

»Auf meiner Spur?«

 

»Wußten Sie das denn nicht? Du lieber Himmel, und ich dachte, Sie wüßten alles.«

 

Kapitel 23

 

23

 

Slick Smith wohnte in einem altertümlichen Haus in Bloomsbury. Er hatte dort das erste Stockwerk gemietet und nahm an der unmodernen Einrichtung keinen Anstoß. Im Gegenteil, die ewig gurgelnde Zisterne unter seinem Schlafzimmerfenster hatte etwas Beruhigendes und war eine bequeme Stufe für ihn, um über die Hofmauer zu gelangen. Auf diese Weise konnte er die Nebenstraße leichter erreichen, als wenn er die Treppe hinunter und durch die Haustür gegangen wäre. Welches Geschäft er eigentlich betrieb, wußte niemand im Haus. Nachts war er meistens außerhalb, und den größten Teil des Tages schlief er hinter verschlossenen Türen. Wenn ein Besucher kam, klingelte er nicht, sondern pfiff leise auf der Straße, worauf Slick selbst herunterkam und öffnete. Abends ging er im Frack aus und sprach in einer Bar oder einem eleganten Nachtklub vor, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nacht für Nacht verfolgten ihn erfahrene Leute von Scotland Yard, aber stets verloren sie ihn an derselben Stelle aus den Augen, und zwar an der Ecke von Piccadilly Circus und der Shaftesbury Avenue, dem am strahlendsten beleuchteten Platz Londons.

 

An dem Abend, an dem Audrey nach St. Dunstan fuhr, saß Slick Smith in einem Nachtklub. Er lauschte der Musik des Tanzorchesters, als sich ihm ein kleiner Mann näherte und zaghaft einen Stuhl heranzog.

 

»Slick, im Astoria ist eine Dame mit enorm viel Ware abgestiegen –«

 

»Sie heißt Levellier und trägt das Zeug auf dem Leib, und jeder Mensch in London weiß es«, fiel ihm Smith ins Wort. »Interessiert mich nicht.«

 

»Aber im Hotel Imperial wohnt ein steinreicher Mann, der heute eine Diamanten-Tiara –«

 

»Tiara – ja, für seine Frau. Zwölfhundert Pfund. Er heißt Mollins, trägt einen Revolver und hat eine Bulldogge, die am Fußende seines Bettes schläft.«

 

Der Zuträger seufzte.

 

»Das ist alles, was ich weiß. Aber in den nächsten Tagen kommt ein Kerl aus Südafrika mit einem großen Vermögen –«

 

»Erzählen Sie mir alles, was Sie über den Kunden wissen!« sagte Slick plötzlich in verändertem Ton, legte die Hand auf den Tisch und bewegte sie scheinbar zufällig zu dem Mann hin. Dieser nahm die Banknote, die darunter lag, dankbar an sich.

 

Bald darauf ging Slick fort. Überall, wohin er kam, wiederholte sich dasselbe Spiel. Als er sich schließlich den Bücken der Leute von Scotland Yard entzog, hatte er nicht viel erfahren. Erst später sollte er neue Nachrichten hören.

 

Um zwei Uhr nachts schlich sich ein Vagabund zu den Hintergebäuden des Portman Square, und eine halbe Stunde später wurde Dick Shannon durch die Telephonklingel aus dem Schlaf geweckt.

 

»Hier Steel, Captain … ich spreche von Nr. 551 aus, bitte, kommen Sie doch her. Hier ereignen sich die sonderbarsten Dinge.«

 

Eine Viertelstunde später stieg Dick vor Nr. 551 aus dem Auto. Steel und ein anderer Beamter erwarteten ihn in der offenen Haustür.

 

»Was ist denn geschehen?« fragte er, als sie in der Halle standen und die Tür geschlossen war.

 

»Um Mitternacht fing es an«, erwiderte Steel leise. »Es klang so, als ob jemand die Treppe hinaufginge. Wir saßen in Malpas‘ Zimmer und kamen heraus, konnten aber niemand entdecken. Beide können wir uns doch nicht getäuscht haben.«

 

»Sie haben es auch gehört?« fragte Dick den hünenhaften Polizisten.

 

»Ja – es lief mir ganz kalt über den Rücken –«

 

Er fuhr herum und starrte die Treppe hinauf. Auch Dick hörte es und schauderte leicht zusammen.

 

Es war ein Geräusch, als ob Pantoffeln über Steinfliesen schlürften. Gleich darauf ertönte unterdrücktes Gelächter.

 

Shannon schlich auf die Treppe zu. Oben brannte ein verdecktes Licht, und der Schatten eines ungeheuerlichen Kopfes glitt über die Wand hin. Im Nu stand Dick oben – aber es war nichts zu sehen!

 

»Sonderbar!« murmelte er. »Das würde Tante Gertrud bange machen.«

 

Steel fing die Worte »Tante Gertrud« auf. Das war das verabredete Stichwort. Vor dem Hause stand ein Polizist, der sofort herbeieilte, als er eine Taschenlampe aufblitzen sah.

 

»Telephonieren Sie, daß der Chef alle Abteilungsreserven braucht«, befahl Steel. »Und eine Schutzmannskette. Er wird es verstehen, wenn Sie ›Gertrud‹ sagen!« Als er zurückkehrte, fand er Shannon oben in Malpas‘ Zimmer, dessen Samtdraperien bis auf die Fenster und Alkovenvorhänge entfernt worden waren.

 

»Hier war jemand«, sagte er. »Ich spielte mit dem Polizisten Karten und wollte gerade geben, als wir Schritte hörten. Ich legte die Karten gehäufelt auf den Tisch – und jetzt liegen sie auf dem Boden …« Steel unterbrach sich, denn wieder ertönten die leise raschelnden Schritte, und diesmal wurden sie lauter, bis sie draußen auf dem Vorplatz anhielten. Die angelehnte Tür begann sich ganz langsam zu öffnen. Shannon griff in die Tasche und richtete den Revolver auf die Türritze. Aber es ereignete sich nichts weiter, und als er leise durch das Zimmer schlich und auf den Vorplatz hinaushuschte, war nichts zu sehen.

 

Der Polizist nahm den Helm ab und wischte sich die Stirne.

 

»Mit Menschen aus Fleisch und Blut nehme ich es jederzeit auf«, sagte er heiser, »aber das ist doch zu unheimlich!«

 

»Durchsuchen Sie die Zimmer da oben!« befahl Dick. »Und scheuen Sie sich nicht, Ihren Knüppel anzuwenden.«

 

Er hörte, wie der Mann langsam und schwerfällig die Treppe hinaufstieg, und als die Schritte verstummten, rief er nach oben, ob alles in Ordnung sei.

 

Ein dumpfes Geräusch war die Antwort, und im nächsten Augenblick rollte der Helm des Polizisten die Stufen herab und flog Dick vor die Füße. Shannon und Steel stürzten die Stufen hinauf und sahen den Schutzmann mit einer Schlinge um den Hals unter der Decke baumeln und mit den Armen und Beinen strampeln. Er war schon fast erstickt, als Steel den Strick durchschnitt und ihn mit Dicks Hilfe nach unten trug. In Malpas‘ Zimmer legten sie ihn auf dem Teppich nieder und gossen ihm etwas Kognak zwischen die krampfhaft zusammengebissenen Zähne.

 

»Da kommt der Inspektor!« rief Dick. »Stellen Sie die Türsperre ab und lassen Sie ihn herein.«

 

Steel tat, wie ihm geheißen war, zog aber die Hand mit einem Schrei zurück. Der lähmende Schlag von zweihundertfünfzig Volt war ihm durch und durch gegangen.

 

Unten wurde heftig an die Tür geklopft, und plötzlich erlosch das elektrische Licht.

 

»Stellen Sie sich an die Wand und hüten Sie sich, Ihre Lampe zu benützen«, sagte Shannon leise.

 

Aber Steel hatte sie schon angedreht. Sofort blitzte es neben ihm auf, und eine Kugel pfiff an seinem Kopf vorüber.

 

Dick warf sich zu Boden und riß seinen Untergebenen mit sich. Das donnernde Gehämmer gegen die Haustür dröhnte durch das ganze Gebäude. Shannon schob sich vorwärts, indem er in einer Hand seine Lampe, in der anderen den Revolver hielt. Steel folgte seinem Beispiel. Die Dunkelheit im Zimmer war undurchdringlich. Shannon hielt inne, um zu lauschen.

 

»Er ist in der Ecke neben dem Fenster«, flüsterte er.

 

»Ich glaube, er steht drüben an der Wand«, erwiderte Steel ebenso leise. »Großer Gott!« Ein unheimlich grüner Lichtkegel blitzte plötzlich auf der getäfelten Wand neben einem Büfett auf, und in diesem Schein sahen sie eine Gestalt liegen. Das Licht wurde immer greller, so daß jede schauerliche Einzelheit sichtbar wurde.

 

Es war ein Mann im Frackanzug mit einer pulvergeschwärzten Hemdbrust. Das Gesicht war wachsbleich, die Hände waren auf der Brust gekreuzt. Eine Sekunde lang packte selbst Shannon panische Furcht bei diesem grauenerregenden Anblick.

 

»Es ist ein Toter!« stöhnte Steel. »Großer Gott! Es ist Marshalt! Shannon – sehen Sie doch, Shannon – es ist Marshalts Leiche!«

 

Die Gestalt lag starr und steif, bis das grüne Licht trüber wurde und erlosch, während ein hohl rollendes Geräusch entstand.

 

Dick sprang auf und tastete an der Täfelung der Wand herum. Im gleichen Moment ertönten von unten hastige Rufe und Schritte wurden laut.

 

»Hier herauf! Lampen andrehen, das Licht ist aus!« schrie Dick.

 

Aber im selben Augenblick flammten wie auf Kommando die Glühbirnen wieder auf.

 

»Wer hat die Tür geöffnet?« fragte Shannon.

 

»Wir wissen es nicht. Mit einemmal ging sie auf.«

 

Shannon ließ sich eine Axt bringen und bearbeitete damit die Wandtäfelung. In wenigen Minuten hatte er sie an der Stelle zerschlagen, wo er Marshalts Leiche hatte liegen sehen. »Ein Speisenaufzug«, sagte er und atmete auf. »Das erklärt alles.«

 

Aber von der Leiche war nichts zu sehen. Shannon ging durch den Keller und durch die offenstehende Tür nach dem ebenfalls offenen Hoftor.

 

»Wo ist Ihre Schutzmannskette, Inspektor?« fragte er scharf, als er in die stille Hintergasse hinausblickte.

 

Die zweite Hälfte der Absperrungsmannschaften schien sich verspätet zu haben, denn sie erschien erst, als Shannon wieder oben in Malpas‘ Zimmer war. Er war der festen Überzeugung, daß es dort eine Treppe geben müsse, die zur Küche hinabführte, und nach längerem Suchen entdeckte er wirklich eine verborgene Drehtür an der Stelle, wo die große Treppe den Vorplatz erreichte.

 

»Hier ist der Kerl herumgeschlichen«, sagte er befriedigt und stieg ein paar Stufen hinunter, »und von oben hat er dann den Polizisten überfallen. Nun ist er natürlich über alle Berge. Verteufelt, daß die Leute nicht rechtzeitig da waren!«

 

Er stieg aufs Dach hinauf, wo er zu seiner Verwunderung noch einen von Willitts Posten fand. Erstaunt fragte er ihn, was er noch hier zu suchen hätte.

 

»Ich führe nur meinen Auftrag aus«, erwiderte der Mann.

 

»Haben Sie etwas gesehen?«

 

»Vor kurzem kam jemand auf den Hof heraus. Ich dachte, Sie wären es. Seit einer Stunde hielt auch ein großes Auto vor dem Tor. Der Mann schleppte etwas Schweres hinter sich her. Ich hörte ein Stöhnen, als er es ins Auto hob. Wer es war, konnte ich nicht sehen, nahm aber an, daß es einer von Ihren Leuten wäre.«

 

Als Shannon wieder nach unten kam, überreichte ihm Steel einen auf dem Hof gefundenen Gegenstand: eine flache Ledertasche mit einigen winzigen Phiolen, einer Spritze und zwei Nadeln. Die Spritze war offenbar rasch weggepackt worden, denn sie war noch bis zur Hälfte mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt, und das Samtfutter der Tasche war durchnäßt.

 

»Senden Sie den Inhalt der Spritze sofort zum Analysieren ein«, sagte Shannon ernst. »Ich fange allmählich an, klarzusehen.«

 

Kapitel 24

 

24

 

Eines Morgens stattete Mr. John Stormer seiner Detektiv-Agentur einen seiner nicht eben häufigen und stets überraschenden Besuche ab. Er warf sich in den Schreibtischsessel, klemmte einen Kneifer auf die breite Nase und fragte den ehrerbietig wartenden Willitt nach dem Stand des Geschäfts.

 

»Heute morgen kamen fünf neue Fälle: vier Ehegeschichten und eine Erpressungssache.«

 

»Und was gibt es Neues am Portman Square?«

 

Willitt berichtete eingehend, und nachdem Stormer ihn stumm bis zu Ende angehört hatte, erledigte er mit unglaublicher Geschwindigkeit alle laufenden Angelegenheiten, die aber so zahlreich waren, daß er erst gegen neun Uhr abends den letzten Brief unterschrieb. »Was den Fall Malpas betrifft«, sagte er dann, »so gelten die Anordnungen weiter, bis sie von Marshalts Anwälten aufgehoben werden. Das Haus wird weiter bewacht, ein Mann bleibt auf dem Dach, und einer von unseren besten Leuten bleibt immer – Slick Smith auf der Spur. Sie verstehen?«

 

»Jawohl.«

 

»Es ist fatal, daß wir ihm derart auf den Fersen bleiben müssen, aber ich muß sichergehen. Kabeln Sie sofort, wenn sich etwas ereignen sollte. – Was wollte übrigens Marshalt von diesem Mädchen – Bedford heißt sie wohl?«

 

»Ja. Bisher hat sie in Fontwell gewohnt.«

 

»Und Mrs. Elton – ist sie nicht auch eine geborene Bedford?«

 

»Ja, unter dem Namen hat sie geheiratet.«

 

»Hm – ob dieses Mädchen –? Sie wohnt jetzt im Palace-Hotel? Wir brauchten eigentlich notwendig einen weiblichen Detektiv, und sie war noch dazu Sekretärin von Malpas –«

 

»Ich glaube, Shannon ist in sie verliebt.«

 

»So?« erwiderte Stormer zerstreut. »Na, einem hübschen Mädchen macht jeder Mann den Hof. Das hat weiter nichts zu sagen. Aber Shannon möchte ich ganz gern mal sprechen.«

 

Er griff nach dem Telephonhörer.

 

Willitt schlug ein Notizbuch auf und nannte erst die Nummer von Dicks Privatwohnung. Stormer rief an und hatte Glück, denn Dick war eben nach Hause gekommen.

 

»Hören Sie, Shannon, ich habe Ihnen doch gelegentlich schon geholfen – wie Sie wissen, machte ich Sie auf Slick Smith aufmerksam, als der herüberkam.«

 

»Ganz recht, aber hier bei uns benimmt er sich geradezu musterhaft!« erklärte Dick lachend.

 

»Den Anschein gibt er sich gewöhnlich. Irgendwie muß er doch seinen Unterhalt erwerben. Aber ich habe Sie nicht seinetwegen angerufen. Es ist Ihnen doch bekannt, daß der verstorbene Marshalt uns mit der Bewachung seines Hauses beauftragt hatte. Wir setzen unsere Tätigkeit natürlich fort, bis seine Anwälte den Auftrag zurückziehen, und es wäre mir lieb, wenn Sie meine Leute inzwischen gewähren ließen. Ich habe ihnen befohlen, der Polizei nach Kräften beizustehen und ihr nichts in den Weg zu legen.«

 

»Sehr liebenswürdig. Ich begreife Ihre Verlegenheit.«

 

»Das bezweifle ich. Sagen Sie, haben Sie eigentlich den Herrn gesehen, den Marshalts Anwälte angestellt haben, um sein Haus zu bewachen?«

 

»Gesehen habe ich ihn.«

 

»Betrachten Sie ihn einmal genau!« Stormer lachte und hängte an.

 

Er kicherte noch vor sich hin, als er zu Tisch ging. An diesem Abend speiste er in Audreys Hotel, und nach dem Essen schlenderte er in die Halle hinaus.

 

»Haben Sie noch ein Zimmer frei?« erkundigte er sich bei dem Portier. »Ich sehe eben, daß ich heute nicht mehr nach Hause kommen kann.«

 

Der Angestellte schlug im Register nach.

 

»Sie können Nr. 461 haben.«

 

»Das ist mir zu hoch. Ich möchte ein Zimmer im zweiten Stock haben.«

 

Wieder blätterte der Portier in dem Heft.

 

»Nr. 250 und 270 sind frei.«

 

»Schön, dann geben Sie mir Nr. 270. Siebzig ist meine Glückszahl.«

 

Audrey wohnte in Nr. 269.

 

Kapitel 25

 

25

 

Audrey war den ganzen Tag unterwegs gewesen, um sich Arbeit zu verschaffen. Dick Shannon hatte sie nichts davon gesagt, denn sie hatte ihn so gern, daß sie davor zurückscheute, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Schließlich hatte sie sich an den Redakteur eines Blattes gewandt, für den sie früher ab und zu Artikel über Hühnerzucht geschrieben hatte, und dieser hatte sie auf ihre Anfrage hin kommen lassen und ihr eine Stellung in der Redaktion seines Fachblattes angeboten. Das Gehalt war nicht hoch, und Audrey verbrachte den letzten Teil des Tages damit, eine billige Wohnung zu suchen. Zu ihrer Freude fand sie in der Nähe der Redaktion ein behagliches Zimmer und teilte dem Portier bei ihrer Rückkehr mit, daß sie ausziehen würde.

 

Gegen Abend sprach Dick Shannon bei ihr vor, der durch einen seiner Leute von ihrem bevorstehenden Umzug benachrichtigt worden war. Sie war etwas betreten, als er ihr verriet, daß er über ihr Tun und Lassen genau unterrichtet sei.

 

»Es ist mir aber doch lieb, daß Sie gekommen sind«, meinte sie nach einer Weile. »Ich wollte Ihnen noch etwas zeigen.«

 

Sie öffnete ihre Handtasche, nahm den kleinen Kieselstein heraus und legte ihn in seine ausgestreckte Hand. Er starrte verwundert darauf, drehte ihn hin und her und prüfte das Siegel.

 

»Woher haben Sie das Ding nur?« fragte er sie bestürzt.

 

Sie erzählte ihm, wo sie es gefunden hatte.

 

»Was ist es denn?«

 

»Ein Diamant – noch ungeschliffen. Er wird ungefähr achthundert Pfund wert sein.«

 

»Ist das wirklich wahr?« fragte sie verblüfft.

 

»Ja, ganz gewiß. Das Siegel ist von der Minengesellschaft. Darf ich ihn behalten?«

 

»Ja, natürlich.«

 

»Weiß jemand etwas davon?«

 

»Nein«, erwiderte sie etwas zögernd. »Höchstens Mr. Malpas. Als ich mir neulich meinen Zimmerschlüssel ausbat, und er nicht da war, nahm ich alles, was ich in meiner Tasche hatte, heraus und legte es auf den Tisch, bis ich den Schlüssel in dem zerrissenen Futter fand.«

 

»Dabei wird er ihn gesehen haben – er oder einer seiner Agenten!« rief Dick erregt. »Und deshalb versuchte er wahrscheinlich gestern, Sie zu fassen.«

 

Audrey seufzte, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte. Es fehlte nicht viel daran, daß sie sich nach ihrem Hühnerhof in Fontwell zurücksehnte. Aber es war immerhin ein Trost, daß sie neue und nicht unangenehme Arbeit gefunden hatte, und so schlief sie denn bald ein und erwachte erst nach langen Stunden, als etwas Kaltes, Klebriges ihr Gesicht berührte.

 

»Audrey Bedford, ich komme, um dich zu holen«, sagte eine dumpfe Stimme.

 

Mit einem Schrei fuhr sie empor. Es war ganz dunkel – nur …

 

Kaum eine Elle von ihrem Kopf entfernt schwebte scheinbar in der Luft ein matt und sonderbar beleuchtetes Gesicht …

 

Wie versteinert starrte sie in die schmerzverzerrten Züge Lacy Marshalts …

 

 

»Die junge Dame hat einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten. Ich habe nach einem Arzt und einer Pflegerin telephoniert.«

 

»Wissen Sie, was ihr zugestoßen ist?« fragte Dick. Er stand im Schlafanzug neben seinem Bett und hielt den Hörer in der Hand.

 

»Nein, Captain. Der Nachtportier im ersten Stock hörte einen gellenden Schrei, und als er hinaufrannte, stand Miß Bedfords Tür auf. Er sah, daß sie ohnmächtig war, und ließ mich holen. Ich war unten in der Halle.«

 

»Keine Spur von Malpas?«

 

»Nicht die geringste. Jemand muß wohl versucht haben, sie zu überfallen, denn der Herr, der nebenan wohnt, wurde besinnungslos am anderen Ende des Ganges aufgefunden. Wahrscheinlich hat er mit einem Gummiknüppel einen Hieb über den Kopf erhalten. Er ist ins Krankenhaus gegangen, um sich verbinden zu lassen.«

 

Kurze Zeit später traf Dick im Hotel ein. Audrey hatte sich inzwischen ein wenig erholt. Sie saß in einem Morgenrock an dem Gasofen – sehr bleich, aber wie gewöhnlich ruhig und gefaßt.

 

»Ich kann weiter nichts erzählen, als daß ich Mr. Marshalt sah.«

 

»Sie auch!« Dick biß sich auf die Lippen. »Wir hatten gestern abend dieselbe Vision. Das bedeutet also, daß Marshalt noch lebt und in der Gewalt dieses Teufels ist. Gestern abend fanden wir eine Spritze in seinem Haus. Die Flüssigkeit wurde analysiert – es ist ein Gemisch von Hyoscin, Morphium und einem anderen noch nicht festgestellten Betäubungsmittel, mit dem man einen Menschen in vollkommene Bewußtlosigkeit versetzen kann. Heute erhielt ich auch einen Brief von Malpas.« Er nahm ein mit Maschine geschriebenes Blatt aus seiner Tasche. »Dies ist nur eine Abschrift. Das Original wird auf Fingerabdrücke geprüft.«

 

Audrey griff danach und las:

 

 

»Wenn Sie kein Dummkopf sind, müssen Sie gestern etwas entdeckt haben. Marshalt ist nicht tot, denn er trug eine kugelfeste Weste, wie Sie bemerkt haben würden, wenn Sie ihn untersucht hätten, statt sich nur um das Mädchen zu kümmern. Ich bin froh, daß er lebt – der Tod wäre zu gut für ihn gewesen. Er wird sterben, wenn ich die Zeit dazu für gekommen halte. Sollten Sie wünschen, daß er am Leben bleibt, so ziehen Sie Ihre Posten und Spione aus dem Haus zurück.«

 

 

»Alle Beobachtungen stimmen mit dieser Angabe überein«, sagte Dick. »Marshalt wird in andauernder Betäubung gehalten und überall hingeschleppt, wohin es Malpas beliebt.«

 

»Mir kam es aber nicht wie ein wirkliches Gesicht vor«, erwiderte Audrey mit einem leisen Schauder.

 

»Sie glauben, daß es eine Maske war? Ich weiß nicht recht. Jedenfalls ist es eine sehr merkwürdige Geschichte!«

 

Als Shannon das Hotel verließ, erkundigte er sich nach dem Herrn von Nr. 270, aber man wußte im Büro weiter nichts von ihm, als daß er sich als »Henry Johnson aus Südafrika« eingeschrieben hatte und noch nicht aus dem Krankenhaus zurückgekehrt war.

 

Am nächsten Morgen fiel ihm Stormers Bemerkung über den von den Anwälten eingesetzten Hausverwalter ein, und er machte sich sofort auf den Weg zu dem Marshaltschen Haus. Ein Mädchen, das er bereits kannte, öffnete ihm und führte ihn ins Wohnzimmer.

 

»Hier sind wohl große Veränderungen vorgegangen?« fragte Dick. »Wie ich höre, haben Sie jetzt einen Hausverwalter bekommen?«

 

»So kann man ihn wohl nicht nennen«, erwiderte sie zögernd. »Der Herr war ein Freund von Mr. Marshalt und heißt Stanford.«

 

»Was?! Doch nicht Bill Stanford?« rief Dick überrascht.

 

»Doch, Mr. William Stanford. Er ist oben im Arbeitszimmer.«

 

»Nun, dann werde ich einmal zu ihm hinaufgehen«, entgegnete Dick lachend. »Mr. Stanford und ich sind alte Bekannte.«

 

Bill saß mit einer riesigen Zigarre im Mund am Kamin und las in einer Sportzeitung.

 

»Guten Morgen«, sagte er gleichmütig. »Ich habe Sie schon erwartet, Captain. Sie glauben gar nicht, wie erstaunt ich war, als die Anwälte nach mir schickten!«

 

»Sie kannten ihn wohl von Südafrika her?«

 

»Ja. Aber hier bewegten wir uns doch in ganz verschiedenen Gesellschaftskreisen. Marshalt hat die Bestimmung aber selbst hinterlassen. ›Falls ich aus irgendeinem Grund verschwinden sollte‹, und so weiter, steht in dem Papier. Die Sache ist ja auch ganz einträglich, aber nicht sehr behaglich. Nachmittags darf ich ein paar Stunden ausgehen, aber nachts wird es hier derart ungemütlich, daß mir die Geschichte auf die Nerven geht. Und gestern abend war ja nebenan ein fürchterlicher Spektakel.«

 

Dick setzte sich.

 

»Ja, es ging allerlei drüben vor«, erwiderte er. »Hat sich die Tätigkeit der Gespenster auch bis hierher erstreckt?«

 

Stanford fröstelte leicht.

 

»Bitte, sprechen Sie nicht von Gespenstern, Captain! Ich sage Ihnen, gestern abend glaubte ich wahrhaftig, ich sähe – aber das ist zu albern!«

 

»Marshalt?«

 

»Nein, den anderen – Malpas.«

 

»Wo denn?«

 

»In der Tür der Vorratskammer. Nur eine Sekunde lang.«

 

»Und was taten Sie da?«

 

Bill lachte verlegen.

 

»Ich lief nach oben und schloß mich ein.«

 

Shannon stand auf.

 

»Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich mir die Vorratskammer einmal ansehen.«

 

»Aber gern!« Stanford öffnete ein Schubfach und nahm einen großen Schlüsselbund heraus. »Der alte Tonger verwahrte die Gewehre und Patronen seines Herrn und sonst allerlei Gerümpel dort.«

 

Der Raum lag am Ende des von der Halle abzweigenden Ganges und hatte ein stark vergittertes, kleines Fenster und einen verdeckten Herd. Außer Waffen, Sätteln, alten Kisten, einer Bank mit einem Gaskocher, einem verrosteten Schraubstock, einigen Werkzeugen und Putzlappen war nichts zu sehen als –

 

»Was ist in diesen Kisten?«

 

»Ich weiß es nicht – habe noch nicht nachgesehen«, sagte Stanford.

 

Shannon zog einen Schiebedeckel auf.

 

»Revolvermunition«, murmelte er, »und ein Paket ist kürzlich erst herausgenommen worden, denn das darunterliegende ist frei von Staub. Stanford, warum glauben Sie, daß es Malpas gewesen sein könnte?«

 

»Ich weiß es nicht – nach den Beschreibungen nehme ich das an. Gesehen habe ich ihn ja nie.«

 

Dick ging noch einmal mit ihm nach oben und untersuchte die Tür, die zu Marshalts Privaträumen führte.

 

»Sie funktioniert doch noch?« fragte er.

 

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Stanford mürrisch.

 

»Was machen denn Eltons?« erkundigte sich Dick, als er hinunterging, um das Haus zu verlassen.

 

»Keine Ahnung. Dicke Freunde sind wir nie gewesen.«

 

Stanford schloß die Haustür hinter ihm, kehrte dann ins Arbeitszimmer zurück, verschloß die Eingangstür und öffnete eine andere, die nach dem kleinen Eßzimmer führte.

 

»Du hast gute Ohren, Martin«, sagte er.

 

Elton ging aufs Fenster zu und folgte Shannon mit den Augen, bis er nicht mehr zu sehen war.

 

»Immer wieder kommt der mir in den Weg!« erwiderte er ohne Erregung. »Ja, ich erkannte seine Stimme sofort, als ich euch sprechen hörte. Wie lange bleibst du noch hier? Ich habe etwas vor –«

 

»Tut mir leid, Martin, aber ich muß jetzt hier ehrliches Spiel treiben. Ich war ein Freund Lacys.«

 

»Und Malpas – kennst du den auch?«

 

Stanfords Augen wurden klein.

 

»Ja, ich kenne ihn«, flüsterte er, »und wenn es zu mausen gibt, dann weiß ich, wo ich mausen werde!«