Das Haus in den Allées de Meillan.

 

Das Haus in den Allées de Meillan.

 

Sie legten zehn Stunden zurück, ohne ein Wort zu sprechen, Morel träumte, Monte Christo schaute den Träumer an.

 

Morel, sagte der Graf endlich zu ihm, sollten Sie bereuen, daß Sie mir gefolgt sind?

 

Nein, Herr Graf, doch Paris verlassen …

 

Hätte ich geglaubt, das Glück erwarte Sie in Paris, so würde ich Sie dort gelassen haben.

 

In Paris ruht Valentine, und von Paris scheiden heißt sie zum zweiten Male verlieren.

 

Maximilian, sagte der Graf, Freunde, welche wir verloren haben, ruhen nicht in der Erde; sie sind in unserem Herzen begraben, und Gott hat es so gewollt, damit wir sie stets bei uns haben können. Ich habe zwei Freunde, die mich auf diese Art beständig begleiten: der eine ist der, welcher mir das Leben, der andere der, welcher mir den Verstand gegeben hat. Der Geist beider lebt in mir. Ich befrage sie im Zweifel, und wenn ich etwas Gutes tat, so habe ich es ihren Ratschlägen zu verdanken. Beraten Sie sich mit der Stimme Ihres Herzens, Morel, und fragen Sie, ob Sie mir fortwährend dieses böse Gesicht machen sollen.

 

Mein Freund, sagte Morel, die Stimme meines Herzens ist sehr traurig und verheißt mir nur Unglück.

 

Es ist das Eigentümliche geschwächter Geister, daß sie alle Dinge nur durch einen schwarzen Flor sehen. Die Seele bildet sich selbst ihren Horizont; Ihre Seele ist düster, und sie läßt Ihnen den Himmel stürmisch erscheinen.

 

Das mag wahr sein, sagte Maximilian und verfiel wieder in seine Träumerei.

 

Die Reise ging mit wunderbarer Schnelligkeit vor sich, die Städte zogen wie Schatten auf ihrem Wege vorüber. Am andern Morgen kamen sie in Chalons an, wo sie das Dampfboot des Grafen erwartete. Ohne einen Augenblick zu verlieren, wurde der Wagen an Bord gebracht, nachdem die beiden Reisenden selbst eingeschifft waren.

 

Was den Grafen betrifft, so schien ihn, je mehr er sich von Paris entfernte, eine um so größere Heiterkeit wie eine Glorie zu umgeben; es war, als kehre ein Verbannter in sein Vaterland zurück.

 

Marseille, das weiße, warme, lebendige Marseille, die jüngere Schwester von Tyrus und Karthago, die ihnen in der Herrschaft auf dem mittelländischen Meere folgte, Marseille, das immer jünger wird, je mehr es altert, erschien bald vor ihren Augen. Dieser runde Turm, dieses Fort Saint-Nicolas, das Stadthaus, der Hafen mit den Kais von Backsteinen, wo beide als Kinder gespielt hatten, boten den Reisenden einen erinnerungsreichen Anblick.

 

Auf der Cannébière blieben sie stehen.

 

Ein Schiff ging nach Algier ab. Das geschäftige Handhaben der Warenballen, die auf dem Verdecke sich drängenden Passagiere, die Menge der Verwandten, der Freunde, die hier Abschied nahmen, weinten und schrieen; alle diese lärmenden Szenen vermochten Maximilian einem Gedanken nicht zu entreißen, der ihn ergriff, sobald er den Fuß auf die breiten Platten des Kais setzte. Sehen Sie, sagte er, Monte Christo am Arme fassend, dies ist der Ort, wo mein Vater stand, als der Pharao in den Hafen einlief. Hier warf sich der brave Mann, den Sie vom Tode und von der Schande erretteten, in meine Arme; ich fühle noch seine Tränen auf meinem Antlitz, und er weinte nicht allein, sondern es weinten noch viele Leute, die uns sahen.

 

Monte Christo lächelte und sagte, auf eine Straßenecke deutend: Ich war dort.

 

Als er dies sagte, hörte man in der von ihm angegebenen Richtung ein schmerzliches Seufzen, und man sah eine Frau, die einem Passagier des abgehenden Schiffes Zeichen machte. Der Anblick dieser Frau, die verschleiert war, brachte bei Monte Christo eine Erschütterung hervor, die Morel leicht wahrgenommen hätte, wären seine Augen nicht ans das Schiff geheftet gewesen.

 

Oh mein Gott! rief Morel, ich täusche mich nicht! jener junge Mann mit den Epauletten des Unterleutnants ist Albert von Morcerf!

 

Ja, sagte Monte Christo, ich habe ihn erkannt.

 

Wie kann dies sein? Sie schauten auf die entgegengesetzte Seite.

 

Der Graf lächelte, wie er es machte, wenn er nicht antworten wollte, wobei seine Augen zu der verschleierten Frau zurückkehrten, die an der Straßenecke verschwand. Dann wandte er sich um und sagte zu Maximilian: Lieber Freund, haben Sie nichts in dieser Gegend zu tun?

 

Ich habe auf dem Grabe meines Vaters zu weinen, antwortete Morel mit dumpfem Tone.

 

Es ist gut, gehen Sie, und erwarten Sie mich dort, ich werde Sie abholen.

 

Sie verlassen mich?

 

Ja … ich habe auch eine Pflicht zu erfüllen.

 

Monte Christo ließ Maximilian weggehen und blieb auf derselben Stelle, bis er verschwunden war; dann erst wanderte er nach den Allées de Meillan, um das kleine Haus auszusuchen, das unsere Leser am Anfange dieser Geschichte kennen gelernt haben.

 

Es erhob sich noch im Schatten der großen Lindenallee, die den müßigen Marseillern als Spaziergang dient, und im Schmucke der großen Vorhänge von Weinreben, die auf dem von der glühenden Sonne des Südens vergilbten Gesteine ihre geschwärzten und gezackten Arme kreuzten.

 

In dieses trotz seines Alters reizende, trotz seiner Ärmlichkeit heitere Haus, das einst Dantes‘ Vater bewohnte, trat die Frau mit dem langen Schleier, die Monte Christo von dem abgehenden Schiffe sich entfernen sah.

 

Für den Grafen waren die ausgetretenen Stufen vor der Tür alte Bekannte; er verstand es besser als irgend jemand, diese Tür zu öffnen, deren innere Klinke ein Nagel mit breitem Kopfe hob.

 

Er trat auch ein, ohne zu klopfen, ohne sich melden zu lassen, wie ein Freund, wie ein Gast.

 

Am Ende eines mit Backsteinen gepflasterten Ganges öffnete sich, reich an Wärme, an Sonne und an Licht, ein kleiner Garten, derselbe, wo an dem bezeichneten Orte Mercedes die Summe gefunden hatte, deren Verwahrung der Graf aus Zartgefühl um vierundzwanzig Jahre zurückdatierte. Von der Schwelle der Haustür erblickte man die ersten Bäume des Gartens.

 

Schon auf der Schwelle hörte Monte Christo ein Seufzen, das einem Schluchzen glich. Dieses Seufzen leitete seinen Blick, und unter einer Laube von dichtem Blätterwerk sah er Mercedes mit gesenktem Kopfe und weinend auf einer Bank sitzen.

 

Monte Christo machte einige Schritte, der Sand knisterte unter seinen Füßen.

 

Mercedes hob das Haupt und stieß einen Schrei des Schreckens aus, als sie einen Mann vor sich sah.

 

Gnädige Frau, sagte der Graf, es liegt nicht mehr in meiner Gewalt, Ihnen das Glück zu bringen; doch ich biete Ihnen den Trost; wollen Sie ihn als von einem Freunde kommend annehmen?

 

Ich bin in der Tat sehr unglücklich, erwiderte Mercedes; allein auf der Welt … Ich besaß nur meinen Sohn, und er hat mich verlassen.

 

Und er hat wohl daran getan, gnädige Frau, Ihr Sohn ist ein edles Herz, versetzte der Graf. Er hat begriffen, daß jeder Mensch dem Vaterlande einen Tribut schuldig ist, die einen ihre Talente, die andern ihren Gewerbefleiß; diese ihren Schweiß, jene ihr Blut. Wäre er bei Ihnen geblieben, so würde er ein unnützes Leben in Schwermut hingebracht haben. Im Kampfe gegen sein Mißgeschick, das er sicherlich in Glück verwandelt, wird er groß und stark werden. Lassen Sie ihn für Sie beide eine neue Zukunft schaffen; ich wage Ihnen zu versprechen, daß sie in sicheren Händen ist.

 

Oh! dieses Glück, sagte die arme Frau, traurig den Kopf schüttelnd, dieses Glück, das ich Gott aus dem Grunde meines Herzens bitte ihm zu gewähren, werde ich nicht genießen. Es ist so vieles in mir und um mich her in Trümmer gegangen, daß ich mich meinem Grabe nahe fühle. Sie haben wohl daran getan, Herr Graf, mich an einen Ort zu versetzen, wo ich so glücklich gewesen bin. Da, wo man glücklich gewesen ist, muß man sterben.

 

Ach! Alle Ihre Worte, gnädige Frau, fallen bitter und brennend auf mein Herz, um so bitterer und um so brennender, als Sie recht haben, wenn Sie mich hassen; ich habe Ihr ganzes Unglück verursacht. Warum werfen Sie mir meine Schuld nicht vor, warum klagen Sie mich nicht an?

 

Sie hassen, Sie anschuldigen! Sie, Edmond … den Mann, der meinem Sohne das Leben gerettet hat, hassen, anschuldigen! Denn nicht wahr, es ist Ihre unselige, blutige Absicht gewesen, Herrn von Morcerf den Sohn zu töten, auf den er so stolz war? Oh! Schauen Sie mich an, und Sie werden sehen, ob an mir auch nur ein Schein von Vorwurf wahrzunehmen ist.

 

Der Graf schlug seine Augen auf und betrachtete Mercedes, die, sich halb aufrichtend, ihre Hände gegen ihn ausstreckte.

 

Oh! Schauen Sie mich an, fuhr sie mit einem Gefühle tiefer Schwermut fort; man kann den Glanz meiner Augen heute ertragen, die Zeit ist vorüber, wo ich Edmond Dantes zulächelte, der mich dort an dem Fenster jener von seinem alten Vater bewohnten Mansarde erwartete … Seit damals sind viele schmerzliche Tage vergangen und haben einen Abgrund zwischen mir und jener Zeit gegraben. Sie anklagen, Edmond, Sie hassen, mein Freund, nein! Mich klage ich an, mich hasse ich! Oh! Ich Elende! rief sie, die Hände faltend und die Augen zum Himmel aufschlagend. Wie bin ich bestraft worden! … Ich hatte die Religion, die Unschuld, die Liebe, dieses dreifache Glück, das die Engel bildet, und ich Elende zweifelte an Gott.

 

Monte Christo ging einen Schritt auf sie zu und reichte ihr schweigend die Hand.

 

Nein, sagte sie, sacht die ihrige zurückziehend, nein, mein Freund, berühren Sie mich nicht. Sie haben mich verschont, und dennoch war ich von allen, die Sie geschlagen haben, die Schuldigste. Alle haben aus Haß, aus Habgier, aus Selbstsucht gehandelt, ich handelte aus Feigheit; sie wurden von Begierden getrieben, und mich trieb die Furcht. Nein, drücken Sie meine Hand nicht, Edmond. Sie sinnen auf ein liebevolles Wort, ich fühle dies; sagen Sie es nicht, behalten Sie es für eine andere, ich bin dessen nicht würdig. Sehen Sie … das Unglück hat meine Haare grau gemacht; meine Augen haben so viele Tränen vergossen, daß sie von blauen Adern umzogen sind; meine Stirn runzelt sich. Sie, Edmond, sind im Gegenteil immer jung, immer schön, immer stolz. Das kommt davon her, daß Sie den Glauben, daß Sie die Kraft gehabt haben, daß Sie auf Gott bauten, daß Gott Sie unterstützte. Ich bin feig gewesen, ich habe Gott verleugnet, Gott hat mich verlassen, und so bin ich nur noch eine Ruine.

 

Mercedes zerfloß in Tränen; das Herz der Frau brach unter dem gewaltigen Stoße der Erinnerungen.

 

Monte Christo nahm ihre Hand und küßte sie ehrfurchtsvoll; aber sie fühlte selbst, daß dieser Kuß ohne Glut war, wie der, den der Graf auf die marmorne Hand der Bildsäule einer Heiligen gedrückt hätte.

 

Es gibt von vornherein verdammte Wesen, fuhr sie fort, Wesen, deren ganze Zukunft ein erster Fehler zertrümmert. Ich hielt Sie für tot und hätte sterben sollen; denn wozu nutzte es, die Trauer um Sie ewig im Herzen zu tragen? Nur dazu, aus einer Frau von neununddreißig Jahren eine Frau von fünfzig zu machen. Wozu hat es genutzt, daß ich Sie allein unter allen erkannte und so meinen Sohn retten konnte? Mußte ich nicht den Mann, den ich als Gatten angenommen, so schuldig er auch war, ebenfalls retten? Doch ich ließ ihn sterben; mein Gott! Was sage ich, ich trug durch meine feige Unempfindlichkeit, durch meine Verachtung zu seinem Tode bei, indem ich mich nicht erinnerte, nicht erinnern wollte, daß er sich meinetwegen zum Verräter und Meineidigen gemacht hatte! Wozu nutzt es endlich, daß ich meinen Sohn bis hierher begleitet habe, da ich mich hier von ihm trenne, da ich ihn allein abreisen lasse, da ich ihn dem verzehrenden Boden Afrikas preisgebe! Oh! Ich bin feig gewesen, sage ich Ihnen, ich habe meine Liebe verleugnet und bringe allem, was mich umgibt, Unglück.

 

Nein, Mercedes, sagte Monte Christo, nein! Fassen Sie eine bessere Meinung von sich selbst. Nein, Sie sind eine edle, fromme Frau und haben mich durch Ihren Schmerz entwaffnet; doch unsichtbar war hinter mir ein Gott, in dessen Auftrag ich handelte, und der den Blitz, den ich geschleudert hatte, nicht zurückhalten wollte. Oh! Ich beschwöre diesen Gott, zu dessen Füßen ich mich seit zehn Jahren jeden Tag niederwerfe, ich rufe diesen Gott zum Zeugen an, daß ich Ihnen dieses Leben und mit diesem Leben die Pläne, die damit verbunden waren, zum Opfer gebracht hatte. Doch ich sage es mit Stolz, Mercedes, Gott bedurfte meiner, und ich starb nicht. Prüfen Sie die Vergangenheit, prüfen Sie die Gegenwart, suchen Sie die Zukunft zu erraten, und sehen Sie, ob ich nicht das Werkzeug des Herrn bin. Das gräßlichste Unglück, die grausamsten Leiden, der Abfall aller derer, die mich liebten, die Verfolgung der Menschen, die mich nicht kannten, das war der Inhalt des ersten Abschnittes meines Lebens. Dann plötzlich, nach der Gefangenschaft, nach der Einsamkeit, nach dem Elend die Luft, die Freiheit, ein so glänzendes, so wunderbares, so maßloses Glück, daß ich, ohne blind zu sein, denken mußte, Gott habe es mir mit großen Absichten geschickt. Von da an erschien mir dieses Glück als ein Priestertum; von da an hatte kein Gedanke mehr für dieses Leben, dessen Süßigkeit Sie, arme Frau, zuweilen genossen haben, in mir Raum; keine Stunde der Ruhe, nicht eine einzige, gab es mehr für mich. Ich fühlte mich fortgetrieben, wie die feurige Wolke, die am Himmel hinzieht, um die verfluchten Städte in Asche zu legen. Früher gut, vertrauensvoll, nachsichtig, machte ich mich rachsüchtig, heuchlerisch, böse, oder vielmehr unempfindlich, wie das taube und blinde Verhängnis. Dann betrat und durchschritt ich den Pfad, der sich vor mir geöffnet hatte, ich berührte das Ziel; wehe denen, die ich auf meinem Wege traf!

 

Genug! sagte Mercedes, genug, Edmond! Glauben Sie mir, daß die, welche Sie allein zu erkennen vermochte, auch allein Sie verstehen konnte. Edmond, hätten Sie die, welche Sie zu erkennen, zu begreifen vermochte, auf Ihrem Wege getroffen, und wie ein Glas zerbrochen, sie hätte Sie bewundern müssen, Edmond! Wie eine Kluft zwischen mir und der Vergangenheit befestigt ist, so besteht auch eine Kluft zwischen Ihnen und den andern Menschen, und meine schmerzlichste Qual, ich sage es Ihnen, ist es zu vergleichen; denn es gibt nichts auf der Welt, was Ihnen an Wert gleichkommt, nichts, was Ihnen ähnlich ist. Nun, sagen Sie mir Lebewohl, Edmond, und trennen wir uns!

 

Ehe ich Sie verlasse, was wünschen Sie, Mercedes?

 

Ich wünsche nur eines, Edmond, daß mein Sohn glücklich werde.

 

Bitten Sie den Herrn, der allein das Dasein der Menschen in seinen Händen hält, er möge den Tod von ihm fernhalten, das übrige sei meine Sorge.

 

Ich danke, Edmond.

 

Doch Sie, Mercedes?

 

Ich brauche nichts, ich lebe zwischen zwei Gräbern; das eine ist das von Edmond Dantes, der vor langer Zeit gestorben; ich liebte ihn! Dieses Wort paßt nicht mehr zu meiner verwelkten Lippe, doch mein Herz erinnert sich noch dessen, und um keinen Preis der Welt möchte ich dieses Andenken meines Herzens verlieren. Das andere ist das eines Menschen, den Edmond Dantes getötet hat; ich billige die Tat, aber ich muß für den Toten beten.

 

Ihr Sohn wird glücklich werden, wiederholte der Graf.

 

Dann werde ich so glücklich sein, wie ich sein kann.

 

Doch was gedenken Sie … am Ende … zu tun?

 

Mercedes lächelte traurig.

 

Wollte ich Ihnen sagen, ich werde in dieser Gegend leben, wie die Mercedes von ehemals, das heißt arbeiten, so würden Sie mir nicht glauben; ich vermag nur noch zu beten, doch ich bedarf der Arbeit nicht. Der von Ihnen vergrabene kleine Schatz hat sich an dem bezeichneten Orte gefunden; man wird forschen, wer ich bin, man wird fragen, was ich mache, man wird nicht wissen, wovon ich lebe; was liegt daran? Das ist eine Angelegenheit zwischen Gott, Ihnen und mir.

 

Mercedes, sagte der Graf, ich mache Ihnen keinen Vorwurf, doch Sie haben das Opfer übertrieben, indem Sie das ganze von Herrn von Morcerf angehäufte Vermögen Fremden überließen, während die Hälfte von Rechtswegen Ihrer Sparsamkeit und Wachsamkeit zukam.

 

Ich sehe, was Sie mir vorschlagen wollen, doch ich kann es nicht annehmen, mein Sohn würde es mir verbieten.

 

Ich werde mich auch wohl hüten, etwas für Sie zu tun, was nicht die Billigung des Herrn Albert von Morcerf hätte. Ich werde seine Ansichten erforschen und mich denselben unterwerfen. Doch wollen Sie, wenn er das, was ich tun will, annimmt, selbst nicht widerstreben?

 

Sie wissen, Edmond, daß ich kein denkendes Geschöpf mehr bin; ich habe keine Entschließung, wenn nicht die, mich nie mehr zu entschließen. Gott schüttelte mich so in seinen Stürmen, daß ich den Willen verloren habe. Ich bin wie ein Sperling in den Klauen des Adlers. Gott will nicht, daß ich sterbe, da ich lebe. Schickt er mir Hilfe, so wird er dies wollen, und ich werde sie annehmen.

 

Seien Sie auf Ihrer Hut, gnädige Frau, sagte Monte Christo, so betet man Gott nicht an! Gott will, daß man ihn verstehe und sich seine Macht klar mache; deshalb hat er uns den freien Willen gegeben.

 

Unglücklicher! rief Mercedes, sprechen Sie nicht so zu mir. Wenn ich glaubte, Gott habe mir den freien Willen gegeben, was bliebe mir, um mich vor Verzweiflung zu retten?

 

Monte Christo erbleichte leicht und neigte das Haupt, niedergebeugt durch die Heftigkeit dieses Schmerzes.

 

Wollen Sie mir nicht sagen: Auf Wiedersehen? sprach er, ihr die Hand reichend.

 

Oh ja, ich sage Ihnen Lebewohl auf Wiedersehen und beweise damit, daß ich noch hoffe, antwortete Mercedes, feierlich auf den Himmel deutend, und nachdem sie die Hand berührt, stürzte sie nach der Treppe und verschwand aus seinen Augen.

 

Monte Christo verließ langsam das Haus und schlug den Weg nach dem Hafen ein.

 

Doch Mercedes sah nicht, wie er sich entfernte, obgleich sie in dein kleinen Zimmer von Dantes‘ Vater am Fenster stand. Ihre Augen suchten in der Ferne das Schiff, das ihren Sohn nach dem weiten Meere forttrug, wenn auch ihre Stimme gleichsam unwillkürlich murmelte: Edmond! Edmond! Edmond!

 

Die Vergangenheit.

 

Die Vergangenheit.

 

Der Graf ging mit wundem Herzen aus dem Hause, wo er Mercedes zurückließ, um sie aller Wahrscheinlichkeit nach nie mehr zu sehen.

 

Seit dem Tode des kleinen Eduard war eine gewaltige Veränderung in Monte Christo vorgegangen. Auf dem Gipfel seiner Rache angelangt, zu dem er auf einem steilen und gekrümmten Pfade aufgestiegen war, hatte er auf der anderen Seite des Berges den Abgrund des Zweifels erblickt, und das Gespräch, das soeben zwischen ihm und Mercedes stattgefunden, hatte sein Herz übermäßig erschüttert.

 

Ein Mann von dem mächtigen Geiste des Grafen konnte aber nicht lange in dieser Schwermut schweben, die erhabene Seelen tötet. Ich betrachte die Vergangenheit in einem falschen Lichte, sagte er bei sich, ich kann mich nicht so sehr getäuscht haben. Wie! der Zweck, den ich mir vorgesetzt hatte, wäre ein unsinniger Zweck gewesen! Wie! Ich hätte seit zehn Jahren einen falschen Weg verfolgt! Wie! Eine Stunde hätte genügt, um dem Architekten zu beweisen, das Werk aller seiner Hoffnungen sei ein, wenn nicht unmögliches, doch gotteslästerliches Werk!

 

Ich will mich an diesen Gedanken nicht gewöhnen, er würde mich verrückt machen. Was meinem Urteile von heute fehlt, ist die rechte Würdigung der Vergangenheit, weil ich diese Vergangenheit vom andern Ende des Horizonts ansehe. In der Tat, je mehr man fortschreitet, desto mehr verschwindet die Vergangenheit nach dem Maßstabe der Entfernung, der Landschaft ähnlich, die man durchwandert. Es begegnet mir, was den Leuten begegnet, die sich im Traume verwundet haben; sie sehen und fühlen ihre Wunde und erinnern sich nicht, sie erhalten zu haben.

 

Vorwärts, du Wiedergeborener! Vorwärts, du unermeßlich Reicher! Vorwärts, du allmächtiger Seher! Fasse noch einmal die traurige Perspektive deines elenden, hungrigen Lebens ins Auge, durchwandere wieder die Wege, auf die dich das Verhängnis gestoßen und das Unglück geführt, wo die Verzweiflung dich gepackt hat! Es strahlen heute zu viel Diamanten, zu viel Gold, zu viel Glück auf den Gläsern des Spiegels, worin Monte Christo Dantes betrachtet; verbirg diese Diamanten, vertilge diese Strahlen! Reicher, suche den Armen auf; Freier, suche den Gefangenen auf; Wiedererweckter, suche den Leichnam auf!

 

Während Monte Christo so mit sich sprach, folgte er der Rue de la Caisserie. Es war die Straße, durch die ihn vierundzwanzig Jahre vorher eine schweigsame, nächtliche Wache geführt hatte.

 

Er ging ans dem Kai hinab durch die Rue Saint-Laurent und wanderte nach der Consigne; das war der Punkt des Hafens, wo man ihn damals eingeschifft hatte. Ein zu Lustfahrten dienendes Schiff kam vorüber; Monte Christo rief dem Patron, der sogleich mit Eifer auf ihn zufuhr.

 

Das Wetter war herrlich und die Fahrt ein Fest. Am Horizont stieg die Sonne rot und flammend in die Wellen hinab. In der Ferne sah man, weiß und anmutig wie tauchende Möwen, die Fischerbarken, die sich nach den Martigues begaben, und die nach Korsika oder Spanien segelnden Schiffe hinziehen.

 

Trotz dieses schönen Himmels, trotz dieser Barken, trotz des goldenen Lichtes, das die Landschaft übergoß, erinnerte sich der Graf, in seinen Mantel gehüllt, hintereinander all der einzelnen Umstände dieser furchtbaren Fahrt. Das einzige Licht, das bei den Kataloniern brannte, der Anblick des Kastells If, der ihn belehrte, wohin er geführt wurde; der Kampf mit den Gendarmen, als er sich ins Meer stürzen wollte; seine Verzweiflung, da er sich besiegt sah, und die kalte Empfindung des Karabinerlaufes, der sich wie ein eiserner Ring an seine Schläfe drückte: dies alles trat lebhaft vor sein Gedächtnis.

 

Da fühlte er allmählich wieder die alte Galle sich regen, die einst Edmond Dantes‘ Herz überströmt hatte. Für ihn gab es von nun an keinen schönen Himmel, keine anmutigen Barken, kein glühendes Licht mehr; der Himmel umzog sich mit einem Trauerflor, und die Erscheinung des schwarzen Riesen, den man das Kastell If nennt, ließ ihn beben, als ob plötzlich das Gespenst eines Todfeindes vor ihn getreten wäre.

 

Man kam an Ort und Stelle. Unwillkürlich wich der Graf bis an das Ende der Barke zurück. Der Patron mochte immerhin mit seinem freundlichsten Tone sagen: Wir landen, mein Herr.

 

Monte Christo erinnerte sich, daß er auf derselben Stelle, auf demselben Felsen von den Wachen fortgeschleppt worden war, daß man ihn, mit der Spitze eines Bajonettes in seine Seite stechend, diese jähe Treppe hinaufzusteigen genötigt hatte.

 

Der Weg war Dantes sehr lang vorgekommen; Monte Christo hatte ihn sehr kurz gefunden; jeder Ruderschlag ließ mit dem feuchten Meeresstaube eine Million Gedanken und Erinnerungen emporspringen.

 

Seit der Julirevolution gab es keine Gefangenen mehr im Kastell If, Obgleich er dies wußte, überzog die Stirn des Grafen, als er unter das Gewölbe trat und die schwarze Treppe hinabstieg, doch eine kalte Blässe und eisiger Schweiß. Er erkundigte sich, ob noch irgend ein Gefangenwärter aus der Zeit der Restauration vorhanden sei. Alle waren entlassen oder hatten andere Ämter erhalten. Der Hausmeister, der ihm das Kastell zeigte, war erst seit 1830 da.

 

Man führte ihn in seinen eigenen Kerker. Er sah wieder das bleiche Licht durch das enge Luftloch dringen, er sah den Platz, wo einst sein Bett stand, und erkannte hinter dem Bette an den neueren Steinen noch die vom Abbé Faria gemachte Öffnung.

 

Monte Christo fühlte, wie seine Beine wankten; er nahm einen hölzernen Schemel und setzte sich darauf.

 

Erzählt man auch noch andere Geschichten von dem Kastell, außer der von Mirabeaus Einkerkerung? fragte der Graf; gibt es irgend eine besondere Überlieferung über diese finsteren Kerker?

 

Ja, mein Herr, antwortete der Hausmeister, und gerade von diesem Kerker hat mir der Gefangenwärter Antoine eine Geschichte mitgeteilt.

 

 

Monte Christo bebte. Der Gefangenwärter Antoine war sein Gefangenwärter gewesen. Er hatte seinen Namen und sein Gesicht beinahe vergessen; doch jetzt sah er ihn wieder vor sich mit seinem dicken Barte, seinem braunen Wams und seinem Schlüsselbund, dessen Klirren er noch zu hören wähnte. Soll ich dem Herrn die Geschichte erzählen?

 

Ja, sprechen Sie! Und erschrocken darüber, daß er seine eigene Geschichte erzählen hören sollte legte er die Hand auf seine Brust, um ein heftiges Schlagen des Herzens zurückzudrängen.

 

Dieser Kerker, sagte der Hausmeister, war vor langer Zeit von einem sehr gefährlichen Menschen bewohnt, der um so gefährlicher war, weil er große Gewandtheit und Schlauheit besaß. Gleichzeitig mit ihm bewohnte ein anderer Mensch das Kastell; dieser war nicht bösartig, sondern nur ein armer, närrischer Priester.

 

Ah! Worin bestand seine Narrheit?

 

Er bot Millionen, wenn man ihn frei ließe.

 

Monte Christo schlug die Augen zum Himmel auf, doch er sah den Himmel nicht; es war ein steinerner Schleier zwischen ihm und dem Firmament. Er bedachte, daß ein nicht minder dichter Schleier zwischen den Augen derer, denen der Abbé seine Schätze bot und diesen Schätzen selbst gewesen war.

 

Konnten sich die Gefangenen sehen?

 

Oh nein, mein Herr, das war ausdrücklich verboten; doch sie vereitelten das Verbot, indem sie eine Galerie von einem Kerker zum andern aushöhlten.

 

Wer von beiden machte die Galerie?

 

Sicher der junge Mann, denn er war erfinderisch und stark, der alte Abbé aber alt und schwach; überdies war sein Geist zu sehr zerrüttet, als daß er einen Gedanken hätte verfolgen können.

 

Die Blinden! murmelte Monte Christo.

 

So viel ist gewiß, fuhr der Hausmeister fort, der junge Mann höhlte eine Galerie aus; womit? Das weiß man nicht; aber er höhlte sie aus, und zum Beweise dient, daß man noch die Spur davon sieht. Sehen Sie!

 

Und er hielt die Fackel an die Wand.

 

Ah! ja, in der Tat, sagte Monte Christo mit erschütterter Stimme.

 

Daraus ging hervor, daß die Gefangenen miteinander in Verbindung standen. Wie lange diese Verbindung dauerte, weiß man nicht. Eines Tages wurde nun der alte Gefangene krank und starb. Können Sie sich denken, was der junge tat? fragte der Hausmeister, sich unterbrechend.

 

Nun?

 

Er trug den Gestorbenen fort, legte ihn mit der Nase gegen die Wand in sein eigenes Bett, kehrte in den leeren Kerker zurück, verstopfte das Loch und schlüpfte in den Sack des Toten. Haben Sie je dergleichen gehört?

 

Monte Christo schloß die Augen und empfand wieder alle Eindrücke, die er gehabt, als ihm die grobe Leinwand, die noch die Kälte des Leichnams an sich hatte, das Gesicht streifte.

 

Der Hausmeister fuhrt fort: Hören Sie, was sein Plan war: Er glaubte, man begrabe die Toten im Kastell If, und so dachte er, die Erde mit seinen Schultern aufzuheben; doch zu seinem Unglück herrschte im Kastell If ein anderer Gebrauch; man band dem Toten eine Kugel an die Füße, um sie ins Meer zu schleudern, was auch diesmal geschah. Der tollkühne Mensch wurde oben von der Galerie ins Wasser geworfen. Am andern Tage fand man den wahren Toten in seinem Bett, und man erriet alles, denn die Totengräber sagten nun, was sie bis dahin nicht zu sagen gewagt hatten, sie hätten in dem Augenblick, wo sie den Körper in die Luft geschlendert, einen furchtbaren Schrei gehört, der auf der Stelle vom Wasser, in dem der Sack verschwand, erstickt worden sei.

 

Der Graf atmete schmerzlich, der Schweiß lies ihm von der Stirn, die Bangigkeit schnürte ihm das Herz zusammen.

 

Nein! murmelte er, nein! Der Zweifel, der sich in mir regte, war ein Anfang des Vergessens; doch hier höhlt sich das Herz abermals aus und wird wieder hungrig nach Rache. Und der Gefangene? fragte er, er war verschwunden, man hat nie etwas von ihm gehört?

 

Nie, gar nie; Sie begreifen, es sind nur zwei Fälle möglich; entweder ist er platt gefallen, und da er fünfzig Fuß hinabstürzte, so wird er auf der Stelle tot gewesen sein.

 

Sie sagten, man habe ihm eine Kugel an die Füße gebunden, folglich wird er senkrecht gefallen sein.

 

Oder er ist senkrecht gefallen, fuhr der Hausmeister fort, dann hat ihn die Kugel auf den Grund hinabgezogen, wo der arme Mensch geblieben ist.

 

Sie beklagen ihn?

 

Meiner Treu, ja! Obgleich er in seinem Elemente war.

 

Was wollen Sie damit sagen?

 

Es ging das Gerücht, dieser Unglückliche sei seiner Zeit Marineoffizier gewesen und als eifriger Bonapartist gefangen gehalten worden. – Will der Herr seinen Besuch fortsetzen? fragte der Hausmeister.

 

Ja, besonders wenn Sie mir das Zimmer des armen Abbés zeigen wollen.

 

Ah! der Nummer 27? Ja, der Nummer 27, wiederholte Monte Christo.

 

Und es kam ihm vor, als höre er noch die Stimme Farias, wie dieser ihm die Nummer durch die Mauer zurief.

 

Folgen Sie mir!

 

Warten Sie, sagte Monte Christo, lassen Sie mich einen letzten Blick auf alle Teile dieses Kerkers werfen.

 

Das ist mir lieb, versetzte der Führer, ich habe den Schlüssel des andern vergessen. – Holen Sie ihn. – Ich lasse die Fackel hier zurück. – Nein, nehmen Sie die Fackel mit.

 

Doch Sie haben dann kein Licht. – Ich sehe in der Nacht. – Gerade wie er. – Welcher er?

 

Der Nummer 34, der hier gehaust hat. Man sagte, er habe sich so an die Dunkelheit gewöhnt, daß er eine Nadel im finsteren Winkel seines Kerkers hätte sehen können.

 

Der Führer entfernte sich mit der Fackel.

 

Der Graf hatte wahr gesprochen; kaum war er ein paar Minuten in der Finsternis, als er alles wie am hellen Tage unterschied.

 

Ja, sagte er, dies ist der Stein, auf dem ich saß! Dies ist die Spur meiner Schultern, die ihren Eindruck in der Mauer zurückließen! Dies ist die Spur des Blutes, das von meiner Stirn floß, als ich mir eines Tages den Schädel an der Wand zerschmettern wollte! … Oh! diese Zahlen … ich erinnere mich ihrer … ich machte sie eines Tages, als ich das Alter meines Vaters berechnete, um zu wissen, ob ich ihn lebendig wiederfinden würde, und Mercedes‘ Alter, um zu wissen, ob ich sie frei wiedersehen würde. Ich hatte einen Augenblick Hoffnung, nachdem ich die Berechnung gemacht … Ich rechnete ohne den Hunger und ohne die Untreue!

 

Und ein bitteres Lachen entströmte dem Munde des Grafen.

 

Auf der andern Wand traf seinen Blick eine Inschrift, die sich noch weiß auf der grünlichen Wand hervorhob: Mein Gott, erhalte mir das Gedächtnis. Oh! ja, rief der Graf, das war das einzige Gebet meiner letzten Zeit; ich verlangte nicht die Freiheit, ich verlangte das Gedächtnis, ich befürchtete, ein Narr zu werden und zu vergessen; mein Gott, du hast mir das Gedächtnis erhalten, und ich habe mich erinnert. Dank, Dank, mein Gott!

 

In diesem Augenblick spiegelte sich das Licht der Fackel auf den Wänden. Der Führer stieg herab, und ohne daß man nötig hatte, wieder an den Tag hinaufzusteigen, ließ er Monte Christo durch ein unterirdisches Gewölbe wandern, das zu einem andern Eingang führte.

 

Auch hier wurde Monte Christo von einer Welt voll Gedanken ergriffen. Vor allem fiel ihm der an der Wand gezogene Meridian in die Augen, mit dessen Hilfe der Abbé Faria die Stunden zählte; dann sah er die Überreste des Bettes, auf dem der arme Gefangene gestorben war.

 

Statt der Beklemmung, die der Graf in seinem Kerker empfunden hatte, erfüllte sein Herz bei diesem Anblick ein zärtliches Gefühl, ein Gefühl der Dankbarkeit, und zwei Tränen rollten aus seinen Augen hervor.

 

Hier, sagte der Führer, war der verrückte Abbé; durch dieses Loch kam der junge Mensch zu ihm, und er zeigte Monte Christo die Öffnung der Galerie, die man auf dieser Seite nicht verstopft hatte. An der Farbe des Steines, fuhr er fort, erkannte ein Gelehrter, daß die zwei Gefangenen ungefähr zehn Jahre miteinander in Verbindung gestanden haben. Die armen Leute müssen sich während dieser zehn Jahre viel gelangweilt haben.

 

Dantes nahm ein paar Louisd’or aus seiner Tasche und reichte sie dem Manne, der ihn zum zweiten Male beklagte, ohne ihn zu kennen.

 

Der Hausmeister nahm sie, im Glauben, er erhalte Silbermünzen, doch beim Scheine der Fackel erkannte er den Wert der Summe, die ihm der Fremde gab.

 

Mein Herr, sagte er zu ihm, Sie haben sich getäuscht.

 

Wieso? – Sie haben mir Gold gegeben. – Ich weiß es wohl. – Und ich kann es mit gutem Gewissen behalten? – Ja.

 

Der Hausmeister schaute Monte Christo mit Erstaunen an.

 

Ehrlichkeit! murmelte der Graf wie Hamlet.

 

Mein Herr, sagte der Hausmeister, der nicht an sein Glück zu glauben wagte, mein Herr, ich begreife Ihre Großmut nicht.

 

Sie ist doch leicht zu begreifen, mein Freund, versetzte der Graf. Ich bin Seemann gewesen, und Eure Geschichte mußte mich mehr rühren, als Euch.

 

Mein Herr, sagte der Führer, da Sie so großmütig sind, so erlauben Sie mir, Ihnen auch etwas anzubieten.

 

Was habt Ihr mir anzubieten, mein Freund? Muscheln, Stroharbeiten? Ich danke.

 

Nein, mein Herr, nein; einen Gegenstand, der sich auf die soeben erzählte Geschichte bezieht.

 

In der Tat! rief der Graf, was ist denn das?

 

Hören Sie, sagte der Hausmeister, wie das gekommenen ist. Ich sagte mir, man findet immer etwas in einem Zimmer, in dem ein Gefangener fünfzehn Jahre geblieben ist, und ich fing an, die Wände zu untersuchen.

 

Ah! rief Monte Christo, sich des doppelten Verstecks des Abbés erinnernd.

 

Nach langem Nachsuchen, fuhr der Hausmeister fort, entdeckte ich, daß es oben am Bette und unter dem Herde des Kamins hohl klang.

 

Ja, sagte Monte Christo, ja.

 

Ich nahm die Steine weg und fand …

 

Eine Strickleiter, Werkzeug! rief der Graf.

 

Woher wissen Sie das? fragte der Hausmeister voll Erstaunen.

 

Ich weiß es nicht, ich errate es nur; man findet gewöhnlich dergleichen in den Verstecken der Gefangenen.

 

Ja, mein Herr; eine Strickleiter, Werkzeug.

 

Und Ihr habt diese Gegenstände noch?

 

Nein, mein Herr, ich verkaufte sie an Besucher, denn sie waren sehr seltsam; doch es blieb mir noch etwas anderes.

 

Was denn? fragte der Graf ungeduldig.

 

Es blieb mir eine Art von Buch, auf Leinwandstreifen geschrieben.

 

Oh! rief Monte Christo, Ihr habt dieses Buch?

 

Ich weiß nicht, ob es ein Buch ist, aber ich habe das Ding noch.

 

Holt es mir, mein Freund, geht, sagte der Graf, und der Führer ging hinaus.

 

Der Graf neigte das Haupt in Erinnerung an die erhabene Seele seines väterlichen Freundes und faltete die Hände, in Sinnen verloren.

 

Sehen Sie, mein Herr, sprach eine Stimme hinter ihm, und der zurückkehrende Hausmeister reichte ihm die Leinwandstreifen, auf denen der Abbé Faria alle Schätze seines Geistes zum Ausdruck gebracht hatte. Es war das große Werk über das Königtum in Italien.

 

Der Graf nahm es ungestüm an sich, dann zog er aus seiner Tasche ein kleines Portefeuille, das zehn Banknoten über je tausend Franken enthielt.

 

Nehmt dieses Portefeuille! sagte er.

 

Sie schenken es mir?

 

Ja, doch unter der Bedingung, daß Ihr erst hineinschaut, wenn ich weggegangen bin.

 

Und an seiner Brust die wiedergefundene Reliquie bewahrend, die für ihn den Wert des reichsten Schatzes hatte, eilte er aus dem unterirdischen Gewölbe fort, bestieg wieder seine Barke und rief: Nach Marseille!

 

Während sich das Fahrzeug von dem Kastell If entfernte, sagte er, die Augen aus das düstere Gefängnis geheftet: Wehe denen, die mich in diesen finsteren Kerker einsperren ließen, und denen, die vergaßen, daß ich darin eingesperrt war!

 

Als der Graf wieder bei den Kataloniern vorüberkam, wandte er sich ab und murmelte, sein Haupt in den Mantel hüllend, den Namen einer Frau.

 

Der Sieg war vollständig, der Graf hatte zweimal den Zweifel niedergeschlagen.

 

Der Name, den er mit einem Ausdrucke der Zärtlichkeit, beinahe der Liebe aussprach, war der Haydees.

 

*

 

Als Monte Christo den Fuß wieder auf die Erde setzte, wanderte er nach dem Kirchhofe, wo er Morel fand.

 

Auch er hatte zehn Jahre vorher ein Grab auf dem Friedhofe gesucht, aber vergebens. Er, der nach Frankreich mit Millionen zurückkam, hatte das Grab seines vor Hunger gestorbenen Vaters nicht finden können. Morel hatte ein Kreuz darauf setzen lassen, doch dieses Kreuz war umgefallen, und der Totengräber hatte es in seinen Ofen gesteckt.

 

Der würdige Handelsmann war glücklicher gewesen als der alte Dantes. In den Armen seiner Kinder gestorben, wurde er, von diesen zu Grabe geleitet und neben seiner Frau, die ihm um zwei Jahre in die Ewigkeit vorangegangen war, beigesetzt. Zwei große Marmorplatten, ans denen ihre Namen geschrieben standen, lagen nebeneinander innerhalb eines kleinen Geheges, das durch ein eisernes Geländer geschlossen und von vier Zypressen überschattet wurde.

 

Maximilian lehnte an einem von diesen Bäumen und heftete seine matten Augen auf die beiden Gräber. Sein Schmerz war bodenlos tief, fast wie der Schmerz eines Unzurechnungsfähigen.

 

Maximilian, Sie drückten auf der Reise das Verlangen aus, sich einige Tage in Marseille aufzuhalten; ist dies noch Ihr Wunsch?

 

Ich habe keinen Wunsch mehr, Graf; nur kommt es mir vor, es wird mir weniger peinlich sein, in Marseille als anderswo zu warten.

 

Desto besser, Maximilian, denn ich verlasse Sie und nehme Ihr Wort mit, nicht wahr?

 

Ah! Ich werde es vergessen, Graf, ich werde es vergessen!

 

Nein, Morel, Sie werden es nicht vergessen, weil Sie vor allem ein Mann von Ehre sind, weil Sie geschworen haben, weil Sie noch einmal schwören werden.

 

Oh! Graf, haben Sie Mitleid mit mir! Graf, ich bin so unglücklich!

 

Ich habe einen Menschen gekannt, der unglücklicher war, als Sie, Morel.

 

Unmöglich! Was gibt es Unglücklicheres, als einen Menschen, der das einzige Gut, das er auf der Welt begehrte und liebte, verloren hat?

 

Hören Sie, Morel, und lassen Sie einen Augenblick Ihren Geist das festhalten, was ich Ihnen sagen werde. Ich habe einen Menschen gekannt, bei dem alle seine Hoffnungen aus Glück, wie bei Ihnen, auf einer Frau beruhten. Dieser Mensch war jung, er hatte einen alten Vater, den er liebte, eine Braut, die er anbetete; er war eben im Begriff, sie zu heiraten, als plötzlich das launenhafte Schicksal ihm seine Freiheit, seine Geliebte und alle Hoffnung auf eine bessere Zukunft raubte, um ihn in die Tiefe eines Kerkers zu stürzen.

 

Ah! entgegnete Morel, man verläßt einen Kerker wieder nach acht Tagen, nach einem Monat, nach einem Jahr.

 

Er blieb vierzehn Jahre dort, Morel, sagte der Graf, seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes legend.

 

Maximilian bebte und murmelte: Vierzehn Jahre!

 

Vierzehn Jahre, wiederholte der Graf. Auch er hatte während dieser vierzehn Jahre viele Augenblicke der Verzweiflung, auch er hielt sich, wie Sie, Morel, für den Unglücklichsten der Menschen und wollte sich töten.

 

Nun?

 

Nun! Im äußersten Augenblick enthüllte sich ihm Gott durch ein irdisches Mittel, denn Gott tut keine Wunder mehr. Am Anfang begriff er vielleicht nicht die unendliche Barmherzigkeit des Herrn; endlich aber faßte er Geduld und wartete.

 

Eines Tages kam er wie durch ein Wunder aus seinem Grabe, ein anderer, reich, mächtig; sein erster Schrei galt seinem Vater – sein Vater war tot.

 

Mein Vater ist auch tot, sagte Morel.

 

Ja, aber Ihr Vater starb in Ihren Armen, unter Freunden, glücklich, geehrt, reich; sein Vater starb arm, hoffnungslos, an Gott verzweifelnd. Und als zehn Jahre nach seinem Tode der Sohn sein Grab suchte, da war sogar sein Grab verschwunden, und niemand konnte ihm sagen: Hier ruht im Herrn das Herz, das dich so sehr geliebt.

 

Oh! seufzte Morel.

 

Dies war also ein unglücklicherer Sohn, als Sie, Morel, denn er wußte nicht einmal, wo er das Grab seines Vaters wiederfinden sollte.

 

Aber es blieb ihm doch wenigstens die Frau, die er so sehr geliebt hatte.

 

Sie täuschen sich, Morel, diese Frau …

 

Sie war tot? rief Morel.

 

Noch schlimmer als dies; sie war untreu geworden, sie hatte einen von den Verfolgern ihres Bräutigams geheiratet. Sie sehen also, daß dieser Mensch in seiner Liebe unglücklicher war, als Sie.

 

Und ihm hat Gott dennoch Trost verliehen?

 

Er hat ihm wenigstens Ruhe verliehen.

 

Und dieser Mensch kann noch glücklich sein?

 

Ich hoffe es, Maximilian.

 

Der junge Mann ließ sein Haupt auf seine Brust sinken.

 

Sie haben mein Versprechen, sagte er nach kurzem Stillschweigen, Monte Christo die Hand reichend; nur erinnern Sie sich …

 

Am fünften Oktober, Morel, erwarte ich Sie auf der Insel Monte Christo. Am vierten holt Sie eine Jacht im Hafen von Bastia ab; diese Jacht heißt der Eurus, Sie nennen sich dem Patron, und er führt Sie zu mir. Nicht wahr, das ist abgemacht, Maximilian?

 

Es ist abgemacht, und ich werde tun, was gesagt ist? nur erinnern Sie sich des fünften Oktobers. Wann reisen Sie?

 

Auf der Stelle, das Dampfboot erwartet mich. In einer Stunde bin ich fern von Ihnen.

 

Morel begleitete Monte Christo bis zum Hafen; schon wirbelte der Rauch aus der schwarzen Röhre des Dampfers hervor. Bald lief das Schiff aus, und eine Stunde nachher durchstreifte derselbe Strich von weißlichem Rauch, kaum noch sichtbar, den von den ersten Nebeln verdüsterten östlichen Horizont.

 

-Kapitelname unbekannt-

-Kapitelname unbekannt-


Der Graf von Monte Christo. Sechster Band.





Der Vertrag.

 

Der Vertrag.

 

Drei Tage nachher, gegen fünf Uhr abends, in dem Augenblick, wo Monte Christo eben ausfahren wollte, besuchte ihn Herr Andrea Cavalcanti, so vor Glück strahlend, als sei er im Begriff, eine Prinzessin zu heiraten.

 

Ei! guten Morgen, lieber Herr von Monte Christo! sagte er zu dem Grafen, den er auf der obersten Stufe traf.

 

Ah! Herr Andrea! erwiderte der Angeredete mit halb spöttischem Tone, wie befinden Sie sich?

 

Vortrefflich, wie Sie sehen. Ich habe über tausenderlei Dinge mit Ihnen zu sprechen.

 

Nachdem Andrea aus die Aufforderung des Grafen im Salon des ersten Stockwerks Platz genommen hatte, sagte er mit lachender Miene: Sie wissen, daß die Zeremonie heute abend stattfindet?

 

Allerdings; ich bekam gestern einen Brief von Herrn Danglars. Sie sind nun also glücklich, Herr Cavalcanti? Sie schließen eine sehr wünschenswerte Verbindung; auch ist Fräulein Danglars sehr hübsch.

 

Jawohl, sagte Cavalcanti etwas kleinlaut.

 

Sie ist besonders sehr reich, wie ich glaube?

 

Sehr reich, glauben Sie? wiederholte der junge Mann.

 

Allerdings; man sagt, Herr Danglars verhehle wenigstens die Hälfte seines Vermögens.

 

Und er bekennt sich zu fünfzehn bis zwanzig Millionen! rief Andrea mit einem vor Freude funkelnden Blicke.

 

Abgesehen davon, daß dieses ganze Vermögen Ihnen zufließen wird, da Fräulein Danglars die einzige Tochter ist. Überdies kommt Ihr eigenes Vermögen – Ihr Vater hat mir dies wenigstens gesagt – dem Ihrer Braut beinahe gleich. Doch lassen wir die Geldsache beiseite. Wissen Sie, Herr Andrea, daß Sie die Sache geschickt durchgeführt haben?

 

Nicht schlecht, sagte der junge Mann; ich war für die Diplomatie geboren.

 

Wohl, die diplomatische Laufbahn wird Ihnen offen stehen … Also das Herz ist auch gefangen?

 

In der Tat, ich befürchte es.

 

Liebt man Sie ein wenig?

 

Es muß wohl sein, da man mich heiratet, erwiderte Andrea mit siegreichem Lächeln. Doch vergessen wir eines nicht. Es ist mir beständig eine merkwürdige Unterstützung zuteil geworden.

 

Bah! Durch Zufall.

 

Nein, durch Sie.

 

Durch mich? Lassen Sie das, Prinz, sagte Monte Christo mit absichtlicher Betonung des Titels. Was konnte ich für Sie tun? Genügten nicht Ihr Name, Ihre gesellschaftliche Stellung und Ihr Verdienst?

 

Nein, nein; Sie mögen sagen, was Sie wollen, ich behaupte, Herr Graf, daß die Stellung eines Mannes, wie Sie, mehr getan hat, als mein Name, meine gesellschaftliche Stellung und mein Verdienst.

 

Sie täuschen sich ganz und gar, mein Herr, sagte Monte Christo, der die Absicht des jungen Mannes durchschaute. Sie haben meine Protektion erst erlangt, nachdem ich von dem Einfluß und dem Vermögen Ihres Herrn Vaters Kenntnis genommen; denn wer hat im ganzen mir, der Sie nie gesehen hat und ebensowenig den erhabenen Urheber Ihrer Tage, das Glück verschafft, Sie kennen zu lernen? Zwei von meinen Freunden, Lord Wilmore und der Abbé Busoni. Wer hat mich ermutigt, nicht Ihnen als Bürgschaft zu dienen, sondern Sie zu patronisieren? Der in Italien so bekannte und geehrte Name Ihres Vaters; persönlich kenne ich Sie nicht.

 

Diese unerschütterliche Ruhe und Leichtigkeit ließen Andrea begreifen, daß er für den Augenblick unter dem Drucke einer stärkeren Hand als die seine war, stand und daß sich dieser Druck nicht so leicht brechen ließ.

 

Sagen Sie, Herr Graf, fuhr er fort, ist das Vermögen meines Vaters wirklich groß?

 

Es scheint so.

 

Wissen Sie nicht, ob die Mitgift, die er mir versprochen hat, angekommen ist?

 

Ich habe die schriftliche Ankündigung erhalten, und die drei Millionen sind aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Wege.

 

Ich werde sie also wirklich erhalten?

 

Verdammt! rief der Graf, es scheint mir, es hat Ihnen bis jetzt nicht an Geld gefehlt.

 

Andrea war so erstaunt, daß er einen Augenblick in Sinnen versank.

 

Mein Herr, sagte er, aus seiner Träumerei erwachend, ich habe nur noch eine Bitte an Sie zu richten, die Sie verstehen werden, selbst wenn sie Ihnen unangenehm sein sollte.

 

Sprechen Sie.

 

Ich kam durch mein Vermögen mit vielen ausgezeichneten Leuten in Verbindung und habe, wenigstens für den Augenblick, eine Menge Freunde. Doch wenn ich mich jetzt sozusagen im Angesicht der ganzen Pariser Gesellschaft verheirate, so muß ich mich in Ermangelung der väterlichen Hand durch einen Mann mit erhabenem Namen und zweifellosem Ansehn an den Altar führen lassen; mein Vater kommt aber nicht nach Paris, nicht wahr?

 

Er ist alt, mit Wunden bedeckt und leidet, wie er sagt, so sehr, daß ihn jede Reise an den Rand des Grabes bringt.

 

Ich begreife und komme daher, die Bitte an Sie zu wagen, ihn zu ersetzen.

 

Ah! mein lieber Herr, nachdem ich so lange mit Ihnen zu verkehren das Glück gehabt habe, kennen Sie mich so wenig, daß Sie eine solche Bitte an mich richten? Verlangen Sie eine halbe Million von mir, und Sie werden mich, ans mein Ehrenwort, eher dazu geneigt finden. Ich, der ein Serail in Kairo, in Smyrna und in Konstantinopel hat, soll den Vorsitz bei einer Hochzeit führen? Niemals!

 

Sie schlagen es also ab?

 

Ja; ich würde es abschlagen, selbst wenn Sie mein Sohn wären.

 

Ah! rief Andrea verblüfft, wie soll ich es machen?

 

Sie haben hundert Freunde, wie Sie soeben selbst sagten.

 

Gewiß; doch Sie stellten mich Herrn Danglars vor.

 

Keineswegs! In Wahrheit war es so: Ich habe Sie mit ihm in Auteuil speisen lassen, und Sie haben sich ihm selbst vorgestellt. Teufel! das ist ein Unterschied.

 

Ja, doch Sie trugen zu meiner Verheiratung bei.

 

Ich? Ganz und gar nicht, ich bitte Sie, mir dies zu glauben. Erinnern Sie sich doch, was ich Ihnen geantwortet habe, als Sie zu mir kamen und mich baten, Fräulein Danglars‘ Hand für Sie zu verlangen. Oh! ich vermittle nie Heiraten, mein Prinz, das ist bei mir ein fester Grundsatz.

 

Andrea biß sich auf die Lippen.

 

Doch Sie werden wenigstens anwesend sein?

 

Wird ganz Paris erscheinen? – Oh! gewiß.

 

Gut! ich werde es machen, wie ganz Paris.

 

Sie werden den Vertrag unterzeichnen?

 

Oh! ich sehe darin nichts Unangemessenes, und meine Bedenklichkeiten gehen nicht so weit.

 

Nun, da Sie mir nicht mehr gewähren wollen, so muß ich mich mit dem begnügen, was Sie mir geben. Doch ein letztes Wort, Herr Graf.

 

Was denn? Sprechen Sie.

 

Die Mitgift meiner Frau beträgt 500 000 Franken?

 

Diese Zahl hat mir Herr Danglars selbst genannt.

 

Soll ich sie in Empfang nehmen, oder in den Händen des Notars lassen?

 

Anständigerweise verfährt man so: Ihre beiden Notare verabreden bei Abschluß des Vertrages eine Zusammenkunft für den nächsten, oder den zweiten Tag. Dann tauschen sie die Mitgiften aus, worüber sie sich gegenseitig Scheine geben. Ist dann die Hochzeit gefeiert, so stellen sie die Millionen zu Ihrer Verfügung, da Sie das Haupt der Gemeinschaft sind.

 

Ich glaube, sagte Andrea mit schlecht verhehlter Unruhe, eine Äußerung meines Schwiegervaters gehört zu haben, er wolle unsere Fonds in Eisenbahnaktien anlegen.

 

Ah! das ist doch nach allgemeiner Ansicht ein Mittel, Ihre Kapitalien in einem Jahre wenigstens zu verdreifachen. Der Herr Baron Danglars versteht zu rechnen.

 

Somit geht alles vortrefflich, abgesehen von Ihrer Weigerung, die mich im höchsten Grade schmerzt.

 

Schreiben Sie diese einzig und allein einem unter solchen Umständen natürlichen Bedenken zu.

 

Gut, sagte Andrea, es sei, wie Sie wollen, heute abend um neun Uhr.

 

Auf Wiedersehen.

 

Und trotz eines leichten Widerstrebens Monte Christos, der aber ein zeremoniöses Lächeln beibehielt, ergriff Andrea die Hand des Grafen, drückte sie, sprang in seinen Wagen und verschwand.

 

Die vier Stunden, die ihm bis neun Uhr blieben, wandte Andrea zu Besuchen an, um die von ihm erwähnten Freunde zu veranlassen, mit allem Luxus ihrer Equipagen bei dem Bankier zu erscheinen.

 

Um halb neun Uhr abends waren der große Salon im Danglarsschen Hause, die an diesen Salon anstoßende Galerie, und die drei andern Salons des Stockes, die tausend Kerzen bestrahlten, von einer parfümierten Menge erfüllt, die viel weniger die Sympathie anzog, als das unwiderstehliche Bedürfnis, da zu sein, wo man etwas Neues zu sehen hoffen durfte.

 

Fräulein Eugenie war mit der zierlichsten Einfachheit angetan; ein Kleid von weißer Seide, eine halb in ihren rabenschwarzen Haaren verlorene weiße Rose bildeten ihren ganzen Schmuck.

 

Dreißig Schritte von ihr plauderte Frau Danglars mit Debray, Beauchamp und Chateau-Renaud. Andrea, der am Arme eines der bekanntesten Pariser Stutzer einherschritt, entwickelte diesem seine maßlosen Pläne für sein zukünftiges Leben, und wie er durch seinen Luxus selbst die verwöhnten Pariser in Erstaunen setzen wollte.

 

Die Menge wanderte durch diese Salons, wie ein Strom von Türkisen, Rubinen, Smaragden und Diamanten. Wie überall konnte man auch hier bemerken, daß die ältesten Frauen am meisten geschmückt waren, und daß sich die Häßlichsten am hartnäckigsten vordrängten. Wollte man sich einer schönen weißen Lilie, einer süßen, duftenden Rose erfreuen, so mußte man sie verborgen in irgend einem Winkel hinter einer turbangeschmückten Mutter oder einer mit einem Paradiesvogel koiffierten Tante suchen.

 

In dem Augenblicke, wo der Zeiger der massiven Pendeluhr auf ihrem goldenen Zifferblatt neun Uhr anzeigte, erklang nach anderen berühmten Namen aus Finanz-, Offizier- oder Gelehrtenkreisen, welche der Saaldiener beim Eintreffen der betreffenden Personen in das allgemeine Gesumme und Gelächter hineinrief, auch der Name des Grafen von Monte Christo, und wie von einem elektrischen Schlage getroffen, wandte sich die ganze Versammlung der Tür zu.

 

Der Graf war schwarz und mit seiner gewöhnlichen Einfachheit gekleidet, statt jedes Schmuckes trug er nur auf seiner weißen Weste eine ganz feine, goldene Kette.

 

Der Graf gewahrte mit einem einzigen Umblicke Frau Danglars an einem Ende des Salons, Herrn Danglars am andern, und Eugenie vor sich.

 

Er näherte sich zuerst der Baronin, die mit Frau von Villefort plauderte, und ging dann geradeswegs, so sehr lichtete sich vor ihm das Gedränge, auf Eugenie zu, die er mit so ausgesuchten Worten begrüßte, daß die stolze Künstlerin davon betroffen war. Neben ihr stand Fräulein Luise d’Armilly; sie dankte dem Grafen für die Empfehlungsbriefe, die er ihr so zuvorkommend für Italien gegeben habe, und von denen sie, wie sie sagte, ungesäumt Gebrauch machen werde. Als er diese Damen verließ, wandte er sich um und befand sich Danglars gegenüber, der sich ihm genähert hatte, um ihm die Hand zu drücken.

 

Sobald diese drei gesellschaftlichen Pflichten erfüllt waren, blieb Monte Christo stehen und schaute gleichgültig umher.

 

Die Notare traten in diesem Augenblick ein und legten ihre bekritzelten Papiere auf die goldgestickte Samtdecke eines bereitstehenden Tisches. Der Vertrag wurde unter tiefem Schweigen vorgelesen. Doch gleich darauf erhob sich der Lärm in den Salons doppelt so stark wie zuvor. Diese glänzenden Summen, der berauschende Klang der Millionen vervollständigten mit ihrem Blendwerk den Eindruck, den die in einem besonderen Zimmer ausgestellte Aussteuer nebst den Diamanten der jungen Frau auf die neidischen Gäste gemacht hatte.

 

Von seinen Freunden umringt, beglückwünscht, umschmeichelt, begann Andrea an die Wirklichkeit seines Traumes zu glauben und war im Begriff, den Kopf zu verlieren.

 

Der Notar nahm feierlich die Feder und sagte: Meine Herren, man unterzeichne den Vertrag.

 

Der Baron sollte zuerst unterzeichnen, dann der Bevollmächtigte von Herrn Cavalcanti Vater, dann die Baronin, dann die zukünftigen Ehegatten.

 

Der Baron nahm die Feder und unterzeichnete, dann kam der Bevollmächtigte. Die Baronin näherte sich am Arme der Frau von Villefort. Mein Freund, sagte sie, die Feder ergreifend, ist es nicht zum Verzweifeln? Ein unerwarteter Zwischenfall bei der Mord- und Diebstahlsgeschichte, deren Opfer beinahe der Herr Graf von Monte Christo gewesen wäre, beraubt uns des Glückes, Herrn von Villefort hier zu sehen.

 

Oh, mein Gott! sagte Danglars und dachte bei sich, das ist mir ganz gleichgültig!

 

Mein Gott! sprach Monte Christo hinzutretend, ich befürchte, die unwillkürliche Ursache dieser Abwesenheit zu sein.

 

Wie! Sie, Graf? sagte Frau Danglars, indem sie unterzeichnete; wenn dem so ist, so nehmen Sie sich in acht, ich werde es Ihnen nie mehr verzeihen.

 

Andrea spitzte die Ohren.

 

Sie erinnern sich, sagte der Graf, mitten unter dem tiefsten Stillschweigen, daß bei mir der Unglückliche gestorben ist, der mich berauben wollte, dann aber anscheinend von seinem Genossen ermordet wurde?

 

Ja, sagte Danglars.

 

Nun, um ihm zu helfen, hatte man ihn entkleidet und seine Kleider in eine Ecke geworfen, worauf sie im Auftrage des Gerichtes in Verwahrung genommen wurden, wobei man aber die Weste vergaß.

 

Andrea erbleichte sichtbar und zog sich ganz sacht nach der Tür; er sah am Horizont eine Wolke heraufziehen, die ihm einen Sturm zu verkünden schien.

 

Diese Weste hat man nun heute, ganz mit Blut bedeckt und in der Herzgegend durchlöchert, gefunden.

 

Die Damen stießen einen Schrei aus, und zwei oder drei machten sich bereit, in Ohnmacht zu fallen.

 

Man brachte sie mir, niemand konnte erraten, wem dieser traurige Fetzen gehöre; ich allein dachte, es sei wahrscheinlich die Weste des Opfers. Plötzlich fühlte mein Kammerdiener, der die traurige Reliquie untersuchte, ein Papier in der Tasche und zog es heraus; es war ein Brief, an wen? An Sie, Baron.

 

An mich? rief Danglars.

 

Oh! mein Gott, ja, an Sie; es gelang mir, Ihren Namen unter dem Blute zu lesen, mit dem das Billett befleckt war, antwortete Monte Christo, unter allgemeinen Ausrufen der Verwunderung.

 

Aber … fragte Frau Danglars, ihren Gatten unruhig anschauend, was hindert dies Herrn von Villefort …

 

Das ist ganz einfach, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo, diese Weste und dieser Brief sind Beweisstücke; ich habe darum auch Brief und Weste zu dem Herrn Staatsanwalt geschickt. Sie begreifen, Herr Baron, der gesetzliche Weg ist der sicherste in Kriminalsachen; vielleicht war es ein hinterlistiger Streich gegen Sie.

 

Andrea schaute Monte Christo starr an und verschwand in den zweiten Salon.

 

Das ist möglich, sagte Danglars, war der Ermordete nicht ein ehemaliger Galeerensklave?

 

Ja, antwortete der Graf, ein ehemaliger Galeerensklave, namens Caderousse.

 

Danglars erbleichte leicht, Andrea verließ den zweiten Salon und erreichte das Vorzimmer.

 

Unterzeichnen Sie doch, sagte Monte Christo, ich sehe, daß meine Erzählung einige Aufregung verursacht hat, und bitte Sie, Frau Baronin, und Fräulein Danglars um Verzeihung.

 

Die Baronin übergab die Feder dem Notar.

 

Herr Prinz Cavalcanti, sagte der Notar, Herr Prinz Cavaleanti, wo sind Sie?

 

 

Andrea! Andrea! wiederholten mehrere Stimmen von jungen Leuten, die bereits mit dem edlen Italiener zu einem solchen Grade von Vertraulichkeit gelangt waren, daß sie ihn mit seinem Taufnamen riefen.

 

Rufen Sie doch den Prinzen, sagen Sie ihm, es sei die Reihe an ihm, zu unterzeichnen! rief Danglars einem Diener zu.

 

Doch in demselben Augenblick strömte die Menge der Anwesenden in den Hauptsalon zurück, als ob ein furchtbarer Schreck über sie hereingebrochen wäre.

 

Es war allerdings Grund vorhanden, zurückzuweichen, denn ein Gendarmerieoffizier stellte zwei Gendarmen vor die Tür des Salons und ging in Begleitung eines mit seiner Schärpe umgürteten Polizeikommissars auf Danglars zu.

 

Frau Danglars stieß einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht. Danglars, der sich selbst bedroht glaubte, zeigte seinen Gästen ein von Schrecken entstelltes Gesicht.

 

Was gibt es denn, mein Herr? fragte Monte Christo, dem Kommissar entgegengehend.

 

Wer von Ihnen, meine Herren, fragte der Beamte, heißt Andrea Cavalcanti?

 

Ein Schrei des Erstaunens brach aus allen Ecken des Saales hervor. Man suchte; man fragte.

 

Aber was ist es denn mit diesem Andrea Cavalcanti? fragte Danglars ganz verwirrt.

 

Er ist ein aus dem Bagno in Toulon entsprungener Galeerensklave.

 

Und welches Verbrechen hat er begangen?

 

Er ist angeklagt, sagte der Kommissar mit seiner unerschütterlichen Stimme, einen Menschen, namens Caderousse, seinen ehemaligen Kettengenossen, im Augenblick, wo dieser aus dem Hause des Herrn Grafen von Monte Christo kam, ermordet zu haben.

 

Monte Christo schaute rasch umher.

 

Andrea war verschwunden.

 

Der Kirchhof Père la Chaise.

 

Der Kirchhof Père la Chaise.

 

Herr von Villefort, ein Vollblut-Pariser, betrachtete den Friedhof Père la Chaise als allein würdig, die sterblichen Hüllen einer Pariser Familie aufzunehmen. Nur auf dem Père la Chaise konnte ein Hingeschiedener der guten Gesellschaft anständig ruhen. Er hatte hier für ewige Zeiten einen Raum erkauft, auf dem sich das so schnell gefüllte Mausoleum erhob. Man las am Giebel: die Familien Saint-Meran und Villefort; denn dies war der letzte Wunsch der armen Renée, Valentines Mutter, gewesen.

 

Der prunkhafte Leichenzug fuhr durch ganz Paris, sodann durch den Faubourg du Temple und über die äußeren Boulevards bis zum Friedhofe. Mehr als fünfzig Herrenwagen folgten den zwanzig Trauerwagen, und hinter diesen fünfzig Wagen gingen noch mehr als fünfhundert Personen zu Fuß.

 

Als der Zug die Grenze des Stadtgebietes erreicht hatte, sah man ein Gespann von vier Pferden erscheinen; es war das des Herrn von Monte Christo. Der Graf stieg aus und mischte sich unter die Menge, die zu Fuß dem Leichenwagen folgte. Chateau-Renaud erblickte ihn; er stieg sogleich aus seinem Coupé und ging auf ihn zu. Beauchamp verließ ebenfalls sein Kabriolett. Der Graf schaute aufmerksam durch die Reihen der Leidtragenden. Er suchte offenbar irgend jemand. Endlich fragte er: Wo ist Morel? Weiß einer von Ihnen, meine Herren, wo er ist?

 

Wir haben uns schon gegenseitig dieselbe Frage vorgelegt, sagte Chateau-Renaud, denn niemand von uns hat ihn bemerkt.

 

Endlich gelangte man auf den Friedhof. Des Grafen durchdringendes Auge durchforschte die Eiben- und Fichtengebüsche; ein Schatten schlüpfte durch das dunkle Gesträuch, und Monte Christo erkannte ohne Zweifel den, welchen er suchte. Er beobachtete, wie dieser Schatten sich rasch über den Platz hinter dem Grabe von Heloise und Abälard fortbewegte und zu dem für das Begräbnis gewählten Ort gelangte.

 

In dem Schatten erkannten, als der Zug anhielt, auch die andern Morel, der mit seinem schwarzen, bis oben zugeknöpften Rocke, mit seiner leichenbleichen Stirn, seinen hohlen Wangen und seinem krampfhaft zerknitterten Hute sich an einen Baum angelehnt und auf einem das Mausoleum überragenden Hügel so aufgestellt hatte, daß er nicht das geringste von der Zeremonie verlieren konnte.

 

Alles ging wie gewöhnlich vor sich. Einige Herren hielten Reden. Die einen beklagten den frühzeitigen Tod; die andern verbreiteten sich über den Schmerz des Vaters; einige waren geistreich genug, zu behaupten, Valentine habe mehr als einmal bei Herrn von Villefort Bitten für die Schuldigen eingelegt, über deren Haupt er das Schwert der Gerechtigkeit gehalten; kurz man erschöpfte sich in blumenreichen Wendungen.

 

Monte Christo hörte nichts, sah nichts, oder er sah vielmehr nur Morel, dessen Ruhe und Unbeweglichkeit ein furchtbares Schauspiel für den waren, der allein zu lesen vermochte, was im Innersten des jungen Mannes vorging.

 

Sieh da, sagte plötzlich Beauchamp zu Debray, dort ist Morel! Wo zum Teufel mag er gesteckt haben?

 

Und sie zeigten ihn Chateau-Renaud.

 

Wie bleich er aussieht! sagte dieser erschrocken.

 

Es wird ihn frieren, versetzte Debray.

 

Nein, entgegnete langsam Chateau-Renaud, ich glaube, er ist erschüttert. Maximilian ist ein für Eindrücke sehr empfänglicher Mensch.

 

Bah! rief Debray; er kannte Fräulein von Villefort kaum. Sie haben es selbst gesagt.

 

Es ist wahr. Doch ich erinnere mich, daß er auf dem Balle der Frau von Morcerf dreimal mit ihr getanzt hat; Sie wissen, Graf, auf dem Balle, wo Sie eine so große Wirkung hervorbrachten?

 

Nein, es ist nur nicht bekannt, antwortete Monte Christo, ohne eigentlich zu wissen, worauf und wem er antwortete, so sehr war er damit beschäftigt, Morel zu überwachen, dessen Wangen sich jetzt belebten.

 

Die Reden sind zu Ende, Gott befohlen, meine Herren, sagte plötzlich der Graf. Damit gab er das Zeichen zum Aufbruch und verschwand sofort. Die Leichenfeierlichkeit war vorüber, und die Anwesenden schlugen den Weg nach Paris ein.

 

Nur Chateau-Renaud suchte einen Augenblick Morel mit den Augen; doch während sein Blick dem wegeilenden Grafen gefolgt war, hatte Morel seinen Platz verlassen, und Chateau-Renaud ging, nachdem er ihn vergebens gesucht, Debray und Beauchamp nach.

 

Monte Christo war in ein Gebüsch getreten und beobachtete, hinter einem großen Grabmale verborgen, jede Bewegung Morels, der sich allmählich dem Mausoleum näherte. Morel schaute irre umher; Monte Christo konnte sich abermals zehn Schritte nähern, ohne gesehen zu werden.

 

Der junge Mann kniete nieder, er beugte seine Stirn bis auf den Stein, umfaßte das Gitter mit seinen Händen und murmelte: Oh! Valentine!

 

Dem Grafen wollte bei dem Ausdruck, mit dem diese Worte gesprochen wurden, das Herz brechen; er machte noch einen Schritt, klopfte Morel auf die Schulter und sagte: Sie, mein lieber Freund, Sie suchte ich.

 

Monte Christo erwartete ein Aufbrausen, Vorwürfe, Beschuldigungen; er täuschte sich. Morel wandte sich um und sagte mit scheinbarer Ruhe: Sie sehen, ich betete!

 

Der forschende Blick des Graben betrachtete den jungen Mann von oben bis unten. Nach dieser Prüfung schien er ruhiger. Soll ich Sie nach Paris zurückfahren? sagte er.

 

Nein, ich danke.

 

Wünschen Sie irgend etwas? – Lassen Sie mich beten.

 

Der Graf entfernte sich ohne Erwiderung, doch nur um auf einer andern Stelle stehen zu bleiben, von wo aus er jede Bewegung Morels beobachten konnte. Dieser erhob sich endlich und schlug wieder den Weg nach Paris ein, ohne ein einziges Mal den Kopf umzuwenden. Er ging langsam die Rue de la Roquette hinab. Der Graf folgte ihm auf hundert Schritte.

 

Maximilian ging über den Kanal und kehrte auf den Boulevards nach der Rue Meslai zurück. Fünf Minuten nachdem sich die Tür hinter ihn geschlossen hatte, öffnete sie sich wieder für Monte Christo.

 

Julie befand sich am Eingang des Gartens und schaute Penelon zu, der im Garten arbeitete.

 

Ah! Herr Graf von Monte Christo, rief sie mit jener Freude, die jedes Mitglied der Familie Morel zeigte, wenn Monte Christo einen Besuch in der Rue Meslai machte.

 

Nicht wahr, gnädige Frau, Maximilian ist soeben nach Hause gekommen? fragte der Graf.

 

Ja, ich glaube, ich habe ihn vorübergehen sehen, erwiderte die junge Frau, doch ich bitte, rufen Sie Emanuel.

 

Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich muß sogleich zu Maximilian hinaufgehen, ich habe ihm eine Sache von der größten Wichtigkeit mitzuteilen.

 

Gehen Sie, sagte sie, den Grafen mit ihrem reizenden Lächeln nachschauend, bis er an der Treppe verschwunden war.

 

Monte Christo hatte bald die Stufen der zwei Stockwerke hinter sich, die das Erdgeschoß von Maximilians Wohnung trennten. Auf dem Vorplatze horchte er, es ließ sich kein Geräusch vernehmen. An dieser Glastür fand sich kein Schlüssel; Maximilian hatte sich von innen eingeschlossen, aber man konnte unmöglich durch die Tür sehen, da hinter den Scheibe ein Vorhang von roter Seide angebracht war.

 

Die Angst des Grafen verriet sich durch eine lebhafte Röte.

 

Was ist zu tun? murmelte er. Und er dachte einen Augenblick nach. Läuten? fuhr der Graf fort; oh, nein! Oft beschleunigt der Schall einer Glocke den Entschluß dessen, der sich in Morels augenblicklicher Lage befindet.

 

Monte Christo schauerte vom Scheitel bis zu den Zehen, und da bei ihm der Entschluß die Raschheit des Blitzes hatte, so stieß er mit dem Ellenbogen eine Scheibe der Glastür ein, hob den Vorhang auf und sah Morel, wie er, au seinem Schreibtisch sitzend, beim Geräusch der zerbrochenen Scheibe vom Stuhle aufsprang.

 

Es ist nichts, sagte der Graf, ich bitte tausendmal um Vergebung, mein lieber Freund, ich bin ausgeglitten und habe dabei an das Fenster gestoßen. Da es nun einmal zerbrochen ist, so will ich dies benutzen, um bei Ihnen einzutreten; bemühen Sie sich nicht!

 

Der Graf streckte den Arm durch die zerbrochene Scheibe und öffnete die Tür. Morel erhob sich offenbar ärgerlich und ging dem Grafen entgegen, doch weniger um ihn zu empfangen, als um ihm den Weg zu versperren.

 

Sind Sie verwundet, mein Herr? fragte er.

 

Ich weiß es nicht. Doch was machten Sie denn da? Sie schrieben?

 

Es ist wahr, antwortete Morel, ich schrieb; das kommt bei mir manchmal vor, obgleich ich Soldat bin.

 

Monte Christo machte einige Schritte im Zimmer, Morel mußte den Grafen vorüberlassen, folgte ihm jedoch.

 

Sie schrieben? versetzte Monte Christo mit einem unheimlich scharfen Blicke, dann schaute er umher.

 

Ihre Pistolen neben dem Schreibzeug? sagte er, auf die Waffen deutend, die auf dem Schreibtisch lagen.

 

Ich mache eine Reise, antwortete Maximilian trotzig.

 

Mein Freund! sagte Monte Christo mit unendlich weicher Stimme, mein lieber Maximilian, keine heftigen Entschlüsse, ich bitte Sie!

 

Ich, heftige Entschlüsse, versetzte Morel, die Achseln zuckend; ich frage Sie, wieso ist eine Reise ein heftiger Entschluß?

 

Maximilian, sagte Monte Christo, legen wir die Maske beiseite, die wir gegenseitig tragen. Maximilian, Sie täuschen mich ebensowenig durch diese erheuchelte Ruhe, wie ich Sie mit dem Anschein oberflächlicher Teilnahme täusche. Morel, meine herzliche Empfindung für Sie sagt es mir, Sie wollen sich töten.

 

Gut! versetzte Morel schauernd. Woher kommen Sie auf diesen Gedanken, Herr Graf?

 

Ich sage Ihnen, daß Sie sich töten wollen, fuhr der Graf mit demselben Tone fort, hier ist der Beweis.

 

Und er trat zu dem Schreibtisch, hob das weiße Blatt auf, das der junge Mann auf einen angefangenen Brief geworfen hatte, und nahm den Brief.

 

Morel stürzte auf ihn zu, um das Papier seinen Händen zu entreißen. Doch Monte Christo sah diese Bewegung voraus und kam ihm zuvor, indem er ihn beim Faustgelenk faßte und zurückhielt.

 

Sie sehen, daß Sie sich töten wollten, Morel, sagte der Graf, Sie haben es hier selbst geschrieben!

 

Nun wohl! rief Morel mit einmal von scheinbarer Ruhe zur größten Heftigkeit übergehend; nun wohl, wenn dem so wäre, wenn ich beschlossen hätte, den Pistolenlauf gegen mich zu richten, wer wollte mich hindern, wer hätte den Mut, mich zu hindern? Wenn ich sage: Alle meine Hoffnungen sind zertrümmert, mein Herz ist gebrochen, mein Leben ist erloschen, es gibt nur noch Trauer und Ekel um mich her! Wenn ich sage: Es ist Mitleid, mich sterben zu lassen, denn wenn man mich nicht sterben läßt, so verliere ich den Verstand und werde wahnsinnig. Sprechen Sie, mein Herr, wenn ich dies sage, und man sieht, daß ich es mit der Angst und den Tränen meines Herzens sage, wird man mir antworten: Du hast unrecht? Wird man mich verhindern, nicht mehr der Unglücklichste zu sein? Sprechen Sie, mein Herr, haben Sie den Mut hierzu?

 

Ja, Morel, erwiderte Monte Christo mit einer Stimme, deren Ruhe seltsam mit der Ausregung des jungen Mannes im Widerspruche stand; ja, ich habe den Mut.

 

Sie! rief Morel mit einem wachsenden Ausdrucke von Zorn und Vorwurf; Sie, der mich mit einer törichten Hoffnung kirrte; Sie, der mich mit leeren Versprechungen zurückhielt und einschläferte, während ich durch einen äußersten Entschluß sie vielleicht hätte retten oder wenigstens in meinen Armen sterben sehen können; Sie, der alle Mittel des Geistes, alle Kräfte der Materie zu besitzen vorgibt; Sie, der aus der Erde die Rolle der Vorsehung spielt oder zu spielen sich den Anschein verleiht, und der nicht einmal die Macht besitzt, einem vergifteten Mädchen ein Gegengift zu reichen! Ah! In der Tat, mein Herr, Sie würden mir Mitleid einflößen, flößten Sie mir nicht Abscheu ein!

 

Morel …

 

Ja, Sie haben mir gesagt, wir wollen die Masken ablegen: wohl, Sie sollen befriedigt werden, ich lege sie ab. Ja, als Sie mir nach dem Kirchhofe folgten, antwortete ich Ihnen noch, denn ich bin gutmütig; als Sie hier eintraten, ließ ich Sie bis zu dieser Stelle kommen … Doch da Sie meine Güte mißbrauchen, da Sie mir sogar in meinem Zimmer trotzen, in das ich mich als in mein Grab zurückgezogen habe, da Sie mir eine neue Qual bringen, mir, der alle erschöpft zu haben glaubte, Graf von Monte Christo, mein angeblicher Wohltäter; Graf von Monte Christo, allgemeiner Retter, seien Sie zufrieden, Sie werden Ihren Freund sterben sehen.

 

Und das Lächeln des Wahnsinns auf den Lippen, stürzte Morel zum zweiten Male nach den Pistolen.

 

Bleich wie ein Gespenst, aber mit blitzenden Augen streckte Monte Christo die Hand nach den Waffen aus und sagte: Und ich wiederhole Ihnen, Sie werden sich nicht töten!

 

Hindern Sie mich doch! versetzte Morel mit einem letzten Sprunge, der sich, wie der erste, an dem stählernen Arme des Grafen brach.

 

Ich werde Sie hindern.

 

Doch wer sind Sie denn, daß Sie sich dieses Recht über freie und denkende Geschöpfe anmaßen? rief Maximilian.

 

Wer ich bin? wiederholte Monte Christo. Hören Sie: Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der berechtigt ist, Ihnen zu sagen: Morel, ich will nicht, daß der Sohn deines Vaters heute stirbt!

 

Und majestätisch, erhaben, ging Monte Christo mit gekreuzten Armen auf den zitternden jungen Mann zu, der, unwillkürlich durch das erhabene Wesen dieses Menschen besiegt, einen Schritt zurückwich.

 

Warum sprechen Sie von meinem Vater? stammelte er, warum mischen Sie die Erinnerung an meinen Vater in das, was mir heute begegnet?

 

Weil ich der bin, der deinem Vater eines Tages das Leben gerettet hat, als er sich töten wollte, wie du dich heute töten willst; weil ich der Mann bin, der deiner jungen Schwester die Börse und dem alten Morel den Pharao geschickt hat; weil ich Edmond Dantes bin, der dich als Kind auf seinem Schoße spielen ließ!

 

Morel machte wankend, keuchend noch einen Schritt rückwärts, dann verließen ihn seine Kräfte, und er stürzte mit einem gewaltigen Schrei zu den Füßen Monte Christos nieder.

 

Plötzlich trat in Morels starkem Geiste eine rasche, vollständige Wiedergeburt ein; er stand auf, sprang aus dem Zimmer, eilte auf die Treppe und rief mit der ganzen Macht seiner Stimme: Julie! Julie! Emanuel!

 

Monte Christo wollte ebenfalls hinauseilen; doch Maximilian hätte sich lieber töten lassen, als daß er von den Angeln der Tür gewichen wäre, die er gegen den Grafen zurückdrückte.

 

Auf Maximilians Geschrei liefen Julie, Emanuel, Penelon und einige Diener erschrocken herbei.

 

Morel faßte sie bei den Händen, öffnete die Tür wieder und rief mit einer fast erstickten Stimme: Auf die Knie! Auf die Knie! Es ist der Wohltäter, es ist der Retter unseres Vaters! Es ist …

 

Er wollte sagen: Es ist Edmond Dantes! Doch der Graf hielt ihn zurück.

 

Julie stürzte auf die Hand des Grafen, Emanuel umfaßte ihn wie einen Schutzgott, Morel fiel zum zweiten Male auf die Knie und schlug mit der Stirn aus den Boden.

 

Da fühlte der eherne Mann, wie sein Herz sich in seiner Brust erweiterte; die verzehrende Flamme stieg von seiner Kehle in seine Augen, er neigte das Haupt und weinte!

 

Einige Augenblicke erfüllte das Zimmer ein Zusammenklang edler Herzensergüsse, der den Bewohnern des Himmels harmonisch geklungen haben müßte.

 

Julie hatte sich kaum von ihrer tiefen Erschütterung erholt, als sie hinausstürzte, die Treppe hinabeilte, mit einer kindischen Freude in den Salon lief und die kristallene Kugel aufhob, welche die ihr von dem Unbekannten der Allées de Meillan geschenkte Börse beschützte.

 

Während dieser Zeit sprach Emanuel mit erschütterter Stimme zum Grafen: Oh! Herr Graf, wie konnten Sie, der uns so oft von unserem unbekannten Wohltäter sprechen hörte, wie konnten Sie bis heute warten, ohne sich uns zu offenbaren? Oh! das ist eine Grausamkeit gegen uns, und ich möchte beinahe sagen, Herr Graf, gegen Sie selbst.

 

 

Hören Sie, mein Freund, erwiderte der Graf, so kann ich Sie nennen, denn ohne es zu vermuten, sind Sie mein Freund seit elf Jahren, die Entdeckung dieses Geheimnisses ist durch ein großes Ereignis herbeigeführt worden, das Sie nicht kennen sollen. Gott ist mein Zeuge, ich wollte es mein ganzes Leben hindurch im Grunde meiner Seele begraben halten; Ihr Schwager Maximilian hat es mir durch seine Heftigkeit entrissen, die er, ich bin fest überzeugt, bereut.

 

Dann schaute er Maximilian an, der sich, obgleich auf den Knien verharrend, gegen einen Lehnstuhl gewendet hatte, und fügte ganz leise, Emanuel auf eine bezeichnende Weise die Hände drückend, hinzu: Wachen Sie über ihn.

 

Warum? fragte der junge Mann erstaunt.

 

Ich kann es Ihnen nicht sagen; doch wachen Sie über ihn.

 

Jetzt kam Julie wieder herauf; sie hielt die seidene Börse in der Hand, und zwei glänzende, freudige Tränen rollten wie zwei Tropfen Morgentau über ihre Wangen. Das ist die Reliquie, sagte sie; glauben Sie nicht, daß sie mir minder teuer ist, seitdem wir den Retter kennen.

 

Mein Kind, antwortete Monte Christo errötend, erlauben Sie mir, diese Börse zurückzunehmen; nun da Sie die Züge meines Gesichtes kennen, will ich in Ihrer Erinnerung nur durch die Zuneigung leben, die Sie mir auf meine Bitte gewähren werden.

 

Oh! nein, nein, ich flehe Sie an, sagte Julie, die Börse an ihr Herz drückend, denn eines Tages könnten Sie uns verlassen, ja Sie werden uns leider verlassen; nicht wahr?

 

Sie haben richtig erraten, erwiderte Monte Christo lächelnd; in acht Tagen bin ich von diesem Lande entfernt, wo so viele Leute, die des Himmels Rache verdient hätten, glücklich lebten, während mein Vater vor Hunger und Schmerz starb.

 

Als er seine nahe Abreise ankündigte, heftete Monte Christo seine Augen auf Morel, und er bemerkte, daß diese Worte ihn keinen Augenblick seinem Tiefsinn zu entziehen vermochten. Er sah ein, daß er einen letzten Kampf mit dem Schmerze seines Freundes bestehen mußte; er nahm daher Julies und Emanuels Hände in die seinigen und sprach mit der sanften Würde eines Vaters: Meine lieben Freunde, ich bitte Euch, laßt mich mit Maximilian allein.

 

Der Graf blieb allein mit Morel, der unbeweglich wie eine Bildsäule verharrte.

 

Laß hören, sagte der Graf, Maximilians Schulter mit seinem glühenden Finger berührend, wirst du endlich wieder ein Mensch, Maximilian?

 

Ja, denn ich fange an zu leiden.

 

Maximilian! Maximilian! sagte der Graf düster, die Gedanken, in welche du dich versenkst, sind eines Christen unwürdig.

 

Oh! Beruhigen Sie sich, Freund, sagte Morel, das Haupt erhebend und dem Grafen ein Lächeln voll unaussprechlicher Traurigkeit zeigend, ich werde den Tod nicht mehr suchen.

 

Also keine Waffen, keine Verzweiflung mehr?

 

Nein, denn ich habe etwas Besseres, um mich von meinem Schmerze zu heilen, als den Lauf einer Pistole oder die Spitze eines Messers.

 

Armer Narr! … Was hast du denn?

 

Ich habe meinen Schmerz, der mich töten wird.

 

Freund, sagte Monte Christo mit derselben Schwermut, wie Maximilian, höre mich! Eines Tages wollte ich im Augenblick einer Verzweiflung, die der deinigen gleichkam, mich töten wie du, und in eben solcher Verzweiflung wollte sich eines Tages auch dein Vater töten. Wenn man deinem Vater in dem Augenblick, wo er den Pistolenlauf gegen seine Stirn richtete, wenn man mir in dem Augenblick, wo ich von meinem Bette das Brot des Gefangenen wegschob, das ich seit drei Tagen nicht berührt hatte, gesagt hätte: Lebt, es kommt ein Tag, wo ihr glücklich sein und das Leben segnen werdet, wir würden diese Stimme mit der Angst des Zweifels oder mit dem Bangen des Unglaubens aufgenommen haben, und wie oft hat doch dein Vater, dich umarmend, das Leben gesegnet, wie oft habe ich selbst …

 

Ah! rief Morel, den Grafen unterbrechend, Sie hatten nichts verloren, als Ihre Freiheit; mein Vater hatte nichts verloren, als sein Vermögen, und ich, ich habe Valentine verloren.

 

Schau mich an, Morel, sagte Monte Christo, ich habe weder Tränen in den Augen, noch Fieber in den Adern; ich sehe dich jedoch leiden, Maximilian, dich, den ich liebe, wie ich meinen Sohn lieben würde. Nun, sagt dir das nicht, Morel, daß der Schmerz ist wie das Leben, und daß es stets etwas Unbekanntes jenseits gibt? Wenn ich dich zu leben bitte, wenn ich dir zu leben befehle, so geschieht es in der Überzeugung, du werdest mir eines Tages dafür danken, daß ich dir das Leben erhalten habe.

 

Mein Gott! rief der junge Mann, mein Gott! was sagen Sie mir da, Graf? Nehmen Sie sich in acht! Sie haben vielleicht nie geliebt?

 

Kind! rief der Graf.

 

Mit der Liebe, die ich meine, versetzte Morel. Sehen Sie, seitdem ich ein Mensch bin, bin ich Soldat, ich habe das neunundzwanzigste Jahr erreicht, ohne zu lieben, denn keines von den Gefühlen, die sich bis dahin in mir regten, verdiente den Namen Liebe. Mit neunundzwanzig Jahren sah ich Valentine; ich liebe sie folglich seit beinahe zwei Jahren; seit zwei Jahren konnte ich alle Tugenden des Mädchens und der Frau mit meinen Augen in ihrem Herzen wie in einem offenen Buche lesen. Graf, in Valentine lag für mich ein unendliches, unermeßliches, unbekanntes Glück, ein Glück, zu groß, zu vollständig, zu göttlich für diese Welt, da es mir auf Erden nicht vergönnt ist. Graf, damit sage ich Ihnen, daß es ohne Valentine für mich auf der Welt nur Trostlosigkeit und Verzweiflung gibt.

 

Ich hieß Sie hoffen, Morel, wiederholte der Graf.

 

Nehmen Sie sich in acht, sage ich Ihnen noch einmal, Sie suchen mich zu überzeugen, und wenn Sie mich überzeugen, machen Sie, daß ich den Verstand verliere, denn Sie lassen mich glauben, ich könne Valentine wiedersehen.

 

Der Graf lächelte.

 

Mein Freund, mein Vater! rief Morel in höchster Begeisterung! Nehmen Sie sich in acht! sage ich Ihnen zum dritten Male, denn die Herrschaft, die Sie über mich gewinnen, erschreckt mich; wägen Sie den Sinn Ihrer Worte ab, denn meine Augen beleben sich, mein Herz entzündet sich wieder, es wird neugeboren; nehmen Sie sich in acht, denn Sie lassen mich an übernatürliche Dinge glauben. Ich würde gehorchen, wenn Sie mich den Stein von dem Grabe, das die Tochter Jairi bedeckt, aufheben hießen; ich würde auf den Wellen gehen, wenn Sie mich mit einem Zeichen der Hand auf den Wellen gehen hießen.

 

Hoffe, mein Freund, wiederholte der Graf.

 

Ah! rief Morel, von der ganzen Höhe seiner Begeisterung in den Abgrund seiner Traurigkeit zurückfallend; ah! Sie spotten meiner. Sie machen es wie die guten Mütter, oder vielmehr wie die selbstsüchtigen Mütter, die mit honigsüßen Worten den Schmerz ihres Kindes stillen, dessen Geschrei sie plagt. Nein, mein Freund, nein, ich hatte unrecht, Ihnen zu sagen, Sic mögen sich in acht nehmen; nein, befürchten Sie nichts, ich werde meinen Schmerz so sorgfältig in der Tiefe meiner Brust bewahren, ich werde ihn so geheim halten, daß Sie nicht einmal mehr Mitleid zu haben brauchen. Gott befohlen, mein Freund, Gott befohlen.

 

Im Gegenteil, sagte der Graf, von dieser Stunde an, Maximilian, wirst du bei mir und mit mir leben, du wirst mich nicht mehr verlassen, und in acht Tagen haben wir Frankreich hinter uns.

 

Und Sie heißen mich immer noch hoffen?

 

Ich heiße dich hoffen, weil ich ein Mittel kenne, das dich heilen wird.

 

Graf, Sie machen mich, wenn es möglich ist, noch trauriger. Sie glauben, der Schlag, der mich trifft, hat nur einen alltäglichen Schmerz bewirkt, und wollen mich durch ein alltägliches Mittel, durch Reisen, heilen.

 

Was soll ich dir sagen? versetzte der Graf. Habe Zutrauen zu meinen Versprechungen, mach‘ den Versuch!

 

Graf, Sie verlängern nur meinen Todeskampf.

 

Schwaches Herz, du hast also nicht die Kraft, deinem Freunde einige Tage zur Probe zu geben! Weißt du, was der Graf von Monte Christo zu vollführen fähig ist? Weißt du, daß er genug Glauben an Gott hat, um Wunder von dem zu verlangen, der gesagt hat, mit dem Glauben könne der Mensch Berge versetzen? Nun, dieses Wunder, auf das ich hoffe, erwarte es, oder …

 

Oder? … erwiderte Morel.

 

Oder nimm dich in acht, Morel, ich werde dich einen Undankbaren nennen.

 

Haben Sie Mitleid mit mir, Graf!

 

Ich habe so sehr Mitleid mit dir, Maximilian, höre mich wohl, daß ich dich, wenn ich dich nicht in einem Monat, auf den Tag, auf die Stunde, heile, selbst vor die geladene Pistole und vor einen Becher des sichersten italienischen Giftes stelle, das rascher wirkt, als das, welches Valentine getrunken hat.

 

Sie versprechen mir bei Ihrer Ehre, wenn ich in einem Monat nicht getröstet bin, lassen Sie mich frei über mein Leben schalten, und was ich auch tun mag, Sie werden mich keinen Undankbaren nennen?

 

In einem Monat findest du auf dem Tische, an dem wir beide sitzen werden, gute Waffen und, wenn du dann noch willst, einen sanften Tod. Doch dagegen versprichst du mir, bis dahin zu warten und zu leben?

 

Oh! ich schwöre Ihnen! rief Morel.

 

Monte Christo zog den jungen Mann an sein Herz und hielt ihn lange umfangen.

 

Und nun, sagte er, wohnst du von heute an bei mir; du nimmst Haydees Zimmer, und meine Tochter wird durch meinen Sohn ersetzt.

 

Haydee! Was ist aus Haydee geworden?

 

Sie ist gestern nacht abgereist. – Um Sie zu verlassen?

 

Um mich zu erwarten … Halte dich bereit, in der Rue des Champs-Elysees zu mir zu kommen, und laß mich von hier weggehen, ohne daß man mich sieht.

 

Maximilian neigte das Haupt und gehorchte wie ein Kind.

 

Die Teilung.

 

Die Teilung.

 

In dem Hause der Rue Saint-Germain-des-Prés, das Albert von Morcerf für seine Mutter und sich gewählt hatte, war der erste Stock, bestehend ans einer kleinen Wohnung, an eine sehr geheimnisvolle Person vermietet.

 

Diese Person war ein Mann, dessen Gesicht der Portier selbst nie hatte sehen können; denn stets steckte sein Kinn, wenn er kam oder ging, in einer hohen Halsbinde. Gegen alles Herkommen wurde dieser Hausbewohner von niemand bespäht, und das Gerücht, sein Inkognito verberge eine sehr hochgestellte Person, welche »gar lange Arme« habe, verschaffte seiner geheimnisvollen Erscheinung großen Respekt. Er traf fast immer gegen vier Uhr in seiner Wohnung ein, in der er nie eine Nacht zubrachte.

 

Zwanzig Minuten später hielt ein Wagen vor dem Hotel; eine schwarz gekleidete, stets aber in einen großen Schleier gehüllte Frau stieg aus, schwebte wie ein Schatten vor der Loge vorüber und ging rasch die Treppe hinauf. Im ersten Stocke kratzte sie auf eine besondere Weise an einer Tür; diese öffnete sich und verschloß sich dann wieder hermetisch.

 

Beim Verlassen des Hauses wurde ebenso verfahren. Die Unbekannte ging, stets verschleiert, zuerst hinaus und stieg wieder in ihren Wagen, der bald an dem einen Ende der Straße, bald an dem andern verschwand; zwanzig Minuten nachher entfernte sich auch der Unbekannte.

 

An dem Tage nach dem, wo der Graf von Monte Christo Danglars einen Besuch gemacht hatte, und Valentine beerdigt worden war, erschien der geheimnisvolle Bewohner bereits gegen zehn Uhr vormittags.

 

Kurz darauf fuhr ein Fiaker vor, und die verschleierte Dame stieg rasch die Treppe hinauf. Die Tür öffnete sich und schloß sich. Doch ehe sie ganz geschlossen war, rief die Dame: Oh, Lucien! oh, mein Freund!

 

Und so erfuhr der Portier, der diesen Ausruf gehört hatte, zum ersten Male, daß sein Mietsmann Lucien hieß.

 

Nun! Was gibt es denn, teure Freundin? fragte Lucien, sprechen Sie geschwind.

 

Mein Freund, kann ich auf Sie zählen?

 

Gewiß, das ist Ihnen bekannt, doch was gibt es? Ich war ganz bestürzt über Ihr Billett von heute morgen. Diese Hast, diese unordentliche Schrift … beruhigen Sie mich, oder erschrecken Sie mich ganz und gar!

 

Lucien, ein großes Ereignis! sagte die Dame, einen fragenden Blick auf Lucien heftend; Herr Danglars ist heute nacht abgereist.

 

Herr Danglars abgereist! Und wohin?

 

Ich weiß es nicht.

 

Wie! Sie wissen es nicht? Er ist also abgereist, um nicht mehr zurückzukommen?

 

Allerdings! Um zehn Uhr abends brachten ihn seine Pferde an die Barrière von Charenton; hier sagte er zu seinem Kutscher, er fahre nach Fontainebleau.

 

Nun! Was sagten Sie dazu?

 

Warten Sie, mein Freund. Er ließ mir einen Brief zurück. Da lesen Sie.

 

Die Baronin zog aus ihrer Tasche einen Brief und bot ihn Debray, der einen Augenblick zögerte, ehe er ihn las.

 

Das Schreiben lautete:

 

Madame und sehr teure Gemahlin!

 

Wenn Sie diesen Brief empfangen, haben Sie keinen Gatten mehr! Oh! erschrecken Sie darüber nicht zu sehr; Sie haben keinen Gatten mehr, wie Sie keine Tochter mehr haben; ich werde nämlich auf einer von den dreißig Straßen sein, die aus Frankreich führen.

 

Ich bin Ihnen eine Erläuterung schuldig: Eine Zahlung von fünf Millionen kam mir heute früh unversehens, ich habe sie ausgeführt; eine andere von derselben Summe sollte fast unmittelbar daraus erfolgen; ich vertage sie auf morgen und reise heute ab, um dieses Morgen zu vermeiden, das mir unerträglich wäre.

 

Nicht wahr, Sie begreifen das, Madame und sehr kostbare Gemahlin? Ich sage: Sie begreifen das, weil Sie ebensogut wie ich meine Angelegenheiten kennen, Sie kennen sie sogar noch besser als ich, denn wenn es sich darum handelte, anzugeben, wohin eine gute Hälfte meines jüngst noch so schönen Vermögens gekommen ist, so vermöchte ich dies nicht, während Sie im Gegenteil, davon bin ich fest überzeugt, vollständig zu antworten wüßten.

 

Haben Sie sich über die Schnelligkeit meines Sturzes gewundert, Madame? Waren Sie geblendet durch das weißglühende Schmelzen meiner Goldstangen? Ich meinerseits gestehe, daß ich nur das Feuer dabei gesehen habe; wir wollen hoffen, daß Sie etwas Gold in der Asche fanden.

 

Mit dieser tröstlichen Hoffnung entferne ich mich, Madame und sehr kluge Gemahlin, ohne daß mir mein Gewissen den geringsten Vorwurf darüber macht, daß ich Sie verlasse; es bleiben Ihnen Freunde, die fragliche Asche und, um Ihr Glück vollzumachen, die Freiheit, die ich Ihnen wiederzugeben mich beeile.

 

Es ist indessen der Augenblick gekommenen, Madame, hier ein Wort vertraulicher Erklärung einfließen zu lassen. Solange ich hoffte, Sie arbeiteten für die Wohlfahrt unseres Hauses, für das Vermögen Ihrer Tochter, machte ich philosophisch die Augen zu; da Sie aber aus diesem Hause eine große Ruine gemacht haben, so will ich nicht als Grundlage für das Vermögen eines andern dienen. Ich habe Sie reich, aber wenig geehrt zu mir genommen. Verzeihen Sie mir, daß ich so offenherzig mit Ihnen spreche, da ich aber ohne Zweifel nur für uns beide spreche, sehe ich nicht ein, warum ich die Worte unter einer Schminke verbergen sollte … Ich habe unser Vermögen vermehrt, und es nahm fünfzehn Jahre lang zu, bis zu dem Augenblick, wo unbekannte und für mich noch unbegreifliche Katastrophen es packten und erdrosselten, ohne daß ich, das darf ich wohl sagen, die geringste Schuld daran habe. Sie, Madame, haben nur für Vermehrung des Ihrigen gearbeitet, was Ihnen gelungen ist, davon bin ich überzeugt. Ich lasse Sie also, wie ich Sie genommen habe, reich, aber wenig ehrenwert, zurück.

 

Leben Sie wohl. Von heute an gedenke ich auch für meine Rechnung zu arbeiten. Glauben Sie mir, daß ich Ihnen sehr dankbar für das Beispiel bin, das Sie mir gegeben haben, und das ich befolgen werde.

 

Ihr

 

sehr ergebener Gatte

Baron Danglars.

 

Die Baronin folgte während des Lesens Debray mit den Augen; sie sah den jungen Mann, trotz seiner großen Selbstbeherrschung, wiederholt die Farbe wechseln.

 

Als er geendet hatte, faltete er das Papier langsam zusammen und nahm eine nachdenkliche Haltung an.

 

Nun? fragte Madame Danglars mit einer leicht begreiflichen Angst, welchen Gedanken flößt Ihnen dieser Brief ein?

 

Das ist ganz einfach; er flößt mir den Gedanken ein, daß Herr Danglars mit einem Verdacht abgereist ist. Sicher; doch ist das alles, was Sie mir zu sagen haben? Ich begreife nicht.

 

Er ist abgereist, um nie wiederzukommen!

 

Oh! Glauben Sie das nicht! rief Debray.

 

Nein, sage ich Ihnen, er wird nicht wiederkommen; ich kenne ihn, er ist ein unerschütterlicher Mann in allen Entschließungen, die sein Interesse erheischt. Hätte er mich zu etwas nütze geglaubt, so würde er mich mitgenommen haben; er läßt mich hier, weil unsere Trennung seinen Plänen dienlich sein kann. Sie ist also unwiderruflich, und ich bin für immer frei, fügte Madame Danglars mit demselben fragenden Ausdrucke hinzu.

 

Doch statt zu antworten, ließ sie Debray in diesem angstvollen, erwartungsvollen Zustand verharren.

 

Wie! sagte sie endlich, Sie antworten mir nicht?

 

Ich habe Sie nur eins zu fragen: Was gedenken Sie zu tun?

 

Das wollte ich Sie fragen, erwiderte die Baronin mit pochendem Herzen, ich verlange einen Rat von Ihnen.

 

Wenn Sie einen Rat wollen, entgegnete der junge Mann kalt, so rate ich Ihnen, zu reisen. – Sie sind, wie Herr Danglars gesagt hat, reich und frei. Eine Abwesenheit von Paris wird, scheint mir, nach dem doppelten Lärm über die vereitelte Heirat Fräulein Eugenies und das Verschwinden Herrn Danglars‘, durchaus notwendig sein. Es ist wichtig, daß man Sie allgemein für verlassen und arm hält; denn man würde der Frau des Bankerottierers ihren Reichtum nicht verzeihen. Darum entfernen Sie sich von Ihrem Hotel, nehmen Sie Ihre Juwelen nicht mit und leisten auf Ihr Wittum Verzicht, und alle Welt wird Ihre Uneigennützigkeit rühmen und Ihr Lob singen. Man weiß dann, daß Sie verlassen sind, und hält Sie für arm, denn ich allein kenne Ihre finanzielle Lage und bin bereit, Ihnen als redlicher Partner Rechenschaft abzulegen.

 

Die Baronin hatte, bleich und niedergeschmettert, diese Rede mit um so mehr Schrecken und Verzweiflung angehört, als Debray sich bemühte, völlig ruhig und gleichgültig zu erscheinen..

 

Verlassen? wiederholte sie, oh! sehr verlassen … Ja, Sie haben recht, mein Herr; niemand wird meine Verlassenheit bezweifeln. Das waren die einzigen Worte, welche die stolze und so heftig verliebte Frau hervorbrachte.

 

Aber reich, sehr reich sogar, fuhr Debray fort, indem er einige Papiere aus seinem Portefeuille zog und auf dem Tische ausbreitete.

 

Nur bemüht, die Schläge ihres Herzens zu ersticken und die Tränen zurückzuhalten, die am Rande ihrer Augenlider hervorbrechen wollten, ließ ihn Frau Danglars gewähren.

 

Endlich aber gewann das Gefühl der Würde bei ihr die Oberhand; wenn es ihr nicht gelang, ihr Herz zu bewältigen, so gelang es ihr wenigstens, die Tränen zurückzuhalten.

 

Gnädige Frau, sagte Debray, wir sind ungefähr seit sechs Monaten assoziiert. Sie haben eine Einlage von 100 000 Franken gemacht. Im Monat April dieses Jahres hat unsere Assoziation stattgefunden. Im Mai begannen unsere Operationen, und wir gewannen sofort 450 000 Franken. Im Juni belief sich der Nutzen auf 900 000 Franken. Im Juli kamen 1 700 000 Franken dazu; Sie wissen, das ist der Monat der spanischen Bons. Am Anfang des Monats August verloren wir 300 000 Franken; doch am 15. erholten wir uns wieder, und am Ende des Monats waren wir entschädigt, denn unsere Rechnungen sind gestern von mir abgeschlossen worden und geben ein Aktivum von 2 400 000 Franken, das heißt, von 1 200 000 Franken für jedes von uns. Ich bin nun vorgestern so vorsichtig gewesen, Ihr Geld flüssig zu machen; Sie sehen, es ist noch nicht lange her, und es sieht aus, als hätte ich vermutet, ich würde bald Rechenschaft abzulegen haben. Ihr Geld ist hier, halb in Banknoten, halb in Anweisungen.

 

Frau Danglars nahm mechanisch die Anweisungen und die zusammengebundenen Banknoten mit trockenen Augen, aber mit einer von verhaltenem Schluchzen schwellenden Brust und erwartete bleich und stumm ein Wort von Debray, das sie trösten sollte. Doch sie wartete vergebens.

 

Nun haben Sie ein herrliches Dasein, gnädige Fran, sagte Debray, 60 000 Livres Renten, was für eine Frau, die wenigstens ein Jahr lang keinen Haushalt führen wird, ungeheuer ist. Sie können nun allen Ihren Phantasien ungescheut nachgeben.

 

Debray sagte dies alles mit der gleichgültigsten Miene von der Welt, machte dann eine tiefe Verbeugung und verfiel hierauf in ein bezeichnendes Schweigen. Dieses Benehmen erzürnte und enttäuschte seine Geliebte so, daß sie sich hoch aufrichtete, die Tür öffnete und, ohne ihren Partner eines letzten Grußes zu würdigen, zur Treppe eilte.

 

Bah! sagte Debray, als sie fort war, was wird sie nun tun? Sie wird ruhig in ihrem Hause bleiben, Romane lesen und Lanzknecht spielen, da sie nicht mehr an der Börse spielen kann.

 

Er nahm sein Notizbuch, strich die Summen aus, die er bezahlt hatte, und sagte: Es bleiben mir 1 060 000 Franken. Wie schade, daß Fräulein von Villefort gestorben ist! Sie hätte in jeder Beziehung meinen Wünschen entsprochen, und ich würde sie geheiratet haben.

 

Seiner Gewohnheit gemäß wartete er phlegmatisch, bis Frau Danglars zwanzig Minuten weggegangen war, und entfernte sich dann ebenfalls.

 

Unter dem Zimmer, wo Debray mit Frau Danglars zwei Millionen geteilt hatte, war ein anderes Zimmer durch einen merkwürdigen Zufall ebenfalls von Personen unserer Bekanntschaft bewohnt; es waren dies Mercedes und Albert.

 

Mercedes hatte sich seit ein paar Tagen sehr verändert … nicht als ob sie die Armut bedrückt hätte, sie hatte sich verändert, weil ihr Auge nicht mehr glänzte, weil ihr Mund nicht mehr lächelte, weil eine beständige Verlegenheit das rasche Wort, das einst ihr stets bereiter Geist ihr eingab, auf ihren Lippen zurückhielt.

 

Albert aber fühlte sich beunruhigt, unbehaglich und beengt durch den ihm noch anklebenden Luxus, der ihn verhinderte, seiner gegenwärtigen Lage zu entsprechen; er wollte ohne Handschuhe ausgehen und fand seine Hände zu weiß dazu; er wollte zu Fuß gehen und fand seine Stiefel zu fein.

 

Diese beiden so edeln und verständigen, durch das Band der mütterlichen und kindlichen Liebe unauflöslich verbundenen Seelen verstanden sich, ohne viele Worte zu machen, und scheuten sich nicht, ohne Umschweife miteinander von den materiellen Lebensbedürfnissen zu sprechen.

 

Albert konnte am Ende zu Mercedes, ohne daß sie erbleichte, sagen: Meine Mutter, wir haben kein Geld mehr.

 

Der Winter nahte heran; Mercedes hatte in dem kahlen und nun auch kühlen Zimmer kein Feuer, sie, für die einst ein Ofen mit tausend Röhren das ganze Haus von den Vorzimmern bis zu den Boudoirs erwärmte; sie hatte nicht einmal ein armseliges Blümchen, sie, deren Zimmer mit den kostbarsten Pflanzen gefüllt gewesen war.

 

Aber sie hatte ihren Sohn.

 

Meine Mutter, sagte Albert in demselben Augenblick, wo Frau Danglars die Treppe hinabging, wir wollen, wenn es Ihnen recht ist, einmal alle unsere Reichtümer zählen; ich muß die ganze Summe wissen, um meine Pläne aufzubauen.

 

Die Summe ist Null, erwiderte Mercedes mit schmerzlichem Lächeln.

 

Oh nein! Einmal haben wir 3000 Franken, und ich behaupte, daß ich uns mit diesen 3000 Franken ein anbetungswürdiges Leben verschaffen werde.

 

Kind! seufzte Mercedes.

 

Ach! gute Mutter, sagte der junge Mann, ich habe Sie leider Geld genug gekostet, um dessen Wert zu kennen; hören Sie, 3000 Franken, das ist ungeheuer, und ich baue auf diese Summe eine wunderbare, dauerhafte Zukunft.

 

Du sagst das, mein Freund, entgegnete die arme Mutter; doch vor allem, nehmen wir diese 3000 Franken an?

 

Mir scheint, das ist abgemacht, erwiderte Albert mit festem Tone; wir nehmen sie um so mehr an, als wir sie noch nicht haben, denn sie sind, wie Sie wissen, im Garten des kleinen Häuschens in den Allées de Meillan in Marseille vergraben.

 

Mit 200 Franken, sagte Albert, kommen wir beide nach Marseille. Diese 200 Franken sind hier und noch weitere 200. Ich habe meine Uhr und meine Kette verkauft.

 

Doch sind wir hier im Hause etwas schuldig?

 

Dreißig Franken, ich bezahle sie von dem Geld. Doch das ist noch nicht alles, was sagen Sie hierzu, meine Mutter? Albert zog aus einem kleinen Notizbuch mit goldenem Schlosse eine Tausendfrankennote.

 

Was ist das? fragte Mercedes.

 

1000 Franken, meine Mutter.

 

Woher hast du diese tausend Franken?

 

Hören Sie und beunruhigen Sie sich nicht, gute Mutter!

 

Albert stand auf, küßte seine Mutter wiederholt und hielt nur inne, um ihr ins Gesicht zu schauen.

 

Sie können sich gar nicht denken, meine Mutter, wie schön ich Sie finde! sagte der junge Mann mit dem tiefen Gefühle kindlicher Liebe; Sie sind in der Tat die schönste, wie Sie die edelste aller Frauen sind, die ich je gesehen habe.

 

Teures Kind! sagte Mercedes, vergebens bemüht, eine Träne zurückzuhalten.

 

In der Tat, Sie mußten nur noch unglücklich werden, damit sich meine Liebe in Anbetung verwandle.

 

Ich bin nicht unglücklich, solange ich meinen Sohn habe.

 

Ganz richtig; doch hier fängt die Prüfung an, meine Mutter! Sie wissen, was verabredet ist?

 

Ist denn etwas zwischen uns verabredet?

 

Ja, daß Sie in Marseille wohnen, und daß ich nach Afrika abreise, wo ich mir einen neuen Namen verdienen will.

 

Mercedes stieß einen Seufzer aus.

 

Nun, meine Mutter, seit gestern bin ich bei den Spahis eingereiht, fügte der junge Mann mit niedergeschlagenen Augen hinzu. Ich glaubte, mein Körper gehöre mir und ich könnte ihn verkaufen; seit gestern bin ich Stellvertreter von irgend jemand. Ich habe mich verkauft, wie man sagt, und um eine größere Summe, als ich wert zu sein glaubte, nämlich um 2000 Franken.

 

Also diese 1000 Franken? fragte Mercedes bebend.

 

Sind die Hälfte der Summe, meine Mutter, die andere Hälfte kommt in einem Jahre.

 

Mercedes schlug die Augen mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke zum Himmel auf, und Tränen strömten unter der inneren Aufregung über ihre Wangen.

 

Der Preis seines Blutes! murmelte sie.

 

Ja, wenn ich getötet werde, erwiderte Albert. Aber ich versichere Ihnen, gute Mutter, daß ich im Gegenteil die Absicht habe, meine Haut grausam zu verteidigen; ich habe nie so viel Lust zu leben in mir gefühlt, wie gegenwärtig.

 

Mein Gott! mein Gott! rief Mercedes.

 

Überdies, warum soll ich getötet werden, meine Mutter? Ist Morel getötet worden? Bedenken Sie doch, welche Freude, wenn Sie mich mit einer gestickten Uniform zurückkommen sehen! Ich erkläre Ihnen, daß ich herrlich darin auszusehen hoffe und dieses Regiment aus Eitelkeit gewählt habe.

 

Mercedes seufzte, während sie zu lächeln versuchte; die Mutter begriff, daß sie ihr Kind nicht dürfe die ganze Last des Opfers tragen lassen.

 

Sie sehen also, meine Mutter, fuhr Albert fort, es sind bereits mehr als 4000 Franken für Sie gesichert; mit dieser Summe werden Sie zwei volle Jahre leben.

 

Glaubst du? versetzte Mercedes.

 

Diese Worte entschlüpften der Gräfin mit dem Ausdruck so tiefen Schmerzes, daß ihr wahrer Sinn Albert nicht entging; er fühlte, wie sein Herz sich zusammenschnürte, nahm die Hand der Mutter, drückte sie zärtlich und sagte: Ja, Sie werden leben.

 

Ich werde leben, rief Mercedes, aber nicht wahr, du wirst nicht abreisen?

 

Meine Mutter, ich werde reisen, sagte Albert mit ruhiger, fester Stimme; Sie lieben mich zu sehr, um mich müßig und unnütz bei sich zu lassen; überdies habe ich unterzeichnet.

 

So tu‘ nach deinem Willen, mein Sohn.

 

Nicht nach meinem Willen, meine Mutter, sondern nach den Geboten der Vernunft und der Notwendigkeit. Nicht wahr, wir sind zwei verzweifelte Geschöpfe? Was ist heute das Leben für Sie? Nichts. Was ist das Leben für mich? Oh! sehr wenig ohne Sie, meine Mutter, das glauben Sie mir; denn ohne Sie, das schwöre ich Ihnen, hätte dieses Leben an dem Tage aufgehört, wo ich an meinem Vater zweifelte und seinen Namen verleugnete! Ich lebe, wenn Sie mir versprechen, noch Hoffnung zu hegen; überlassen Sie mir die Sorge für Ihr zukünftiges Glück, so verdoppeln Sie meine Kräfte. Ich werde dort den Gouverneur von Algerien aufsuchen, der ein redliches Soldatenherz ist, ich erzähle ihm meine traurige Geschichte, ich bitte ihn, von Zeit zu Zeit die Augen dahin zu wenden, wo ich sein werde, und wenn er mir Wort hält, wenn er mich handeln sieht, so bin ich vor sechs Monaten Offizier oder tot. Bin ich Offizier, so ist Ihr Schicksal gesichert, meine Mutter, denn ich habe Geld für Sie und für mich und überdies einen neuen Namen, auf den wir beide stolz sein können, denn es wird Ihr Name sein. Werde ich getötet … nun wohl! Werde ich getötet, liebe Mutter, so sterben Sie, wenn Sie so wollen, und dann hat unser Unglück sein Ziel gerade in seinem Übermaße gefunden.

 

Es ist gut, sagte Mercedes mit ihrem edlen, beredten Blicke; du hast recht, mein Sohn; beweisen wir gewissen Leuten, die uns beobachten, daß wir wenigstens des Beklagens würdig sind!

 

Keine traurigen Gedanken, teure Mutter, rief der junge Mann; ich schwöre Ihnen, daß wir glücklich sind, oder wenigstens glücklich werden können. Einmal im Dienste, bin ich reich; einmal in dem Marseiller Hause, sind Sie ruhig. Versuchen wir es, ich bitte Sie, meine Mutter.

 

Ja, versuchen wir es, mein Sohn, denn du sollst leben, du sollst glücklich sein.

 

Unsere Teilung ist also gemacht, fügte der junge Mann hinzu, indem er sich den Anschein gab, als fühle er sich ganz leicht. Ich denke, wir können noch heute reisen.

 

Gut, es sei, reisen wir! sagte Mercedes, sich in ihren einzigen Schal hüllend.

 

Albert sammelte hastig seine Papiere, klingelte, um die dreißig Franken zu bezahlen, die er dem Hausmeister schuldig war, bot seiner Mutter den Arm und stieg die Treppe hinab.

 

Es ging ein Mann vor ihnen; als dieser das Streifen eines seidenen Kleides an dem Geländer hörte, wandte er sich um.

 

Debray! murmelte Albert.

 

Sie, Morcerf! erwiderte der Sekretär des Ministers.

 

Die Neugierde trug bei Debray den Sieg über das Verlangen, sein Inkognito zu bewahren, davon; überdies sah er sich erkannt. Es war doch interessant, in diesem unbekannten Hause den jungen Mann wiederzufinden, dessen unglückliches Abenteuer ein so großes Aufsehen in Paris erregt hatte.

 

Morcerf, wiederholte Debray. Als er dann im Halbdunkel die Gestalt und den schwarzen Schleier der Frau von Morcerf bemerkte, fügte er lächelnd hinzu: Ah! verzeihen Sie, ich entferne mich, Albert.

 

Albert begriff Debrays Gedanken und sagte, sich zu Mercedes wendend: Meine Mutter, dies ist Herr Debray, Sekretär des Ministers des Innern, ein ehemaliger Freund von mir.

 

Wie! ehemalig! stammelte Debray; was wollen Sie damit sagen?

 

Ich sage dies, Herr Debray, weil ich heute keine Freunde mehr habe und keine mehr haben soll. Ich danke Ihnen, daß Sie so gütig waren, mich zu erkennen.

 

Debray stieg zwei Stufen zurück, gab Albert einen kräftigen Händedruck und sagte mit aller Rührung, deren er fähig war: Glauben Sie, lieber Albert, daß ich innigen Anteil an Ihrem Unglück genommen habe, und daß Sie in jeder Beziehung über mich verfügen können.

 

Ich danke, mein Herr, erwiderte Albert lächelnd; doch mitten in unserem Unglück sind wir reich genug geblieben, um zu niemand unsere Zuflucht nehmen zu müssen; wir verlassen Paris, und es bleiben uns nach Bezahlung unserer Reise noch 5000 Franken.

 

Schamröte übergoß Debrays Stirn, der eine Million in seinem Portefeuille trug. Trotz seiner geringen poetischen Veranlagung konnte er nicht umhin, Vergleiche darüber anzustellen, daß dasselbe Haus noch vor wenigen Augenblicken zwei Frauen enthielt, von denen die eine mit 1 500 000 Franken doch arm wegging, während die andere, erhaben in ihrem Unglück, mit wenigen Pfennigen reich war.

 

Diese Betrachtung störte ihn in seinen Höflichkeitsphrasen; er stammelte ein paar allgemeine Worte und ging rasch die Treppe hinab.

 

An diesem Tage hatten die ihm untergeordneten Schreiber im Ministerium viel unter seiner verdrießlichen Laune zu leiden. Doch am Abend kaufte er sich ein schönes, auf dem Boulevard de l’a Madeleine liegendes Haus.

 

Am andern Tage, um fünf Uhr abends, stieg Frau von Morcerf, nachdem sie ihren Sohn zärtlich umarmt hatte und zärtlich von ihm umarmt worden war, in den Wagen der Schnellpost.

 

Ein Mann stand verborgen im Hofe der Messagerie Laffitte hinter einem von den gewölbten Fenstern, die jenes Büro überragten; er sah Mercedes in den Wagen steigen, er sah die Post wegfahren, er sah Albert sich entfernen.

 

Dann fuhr er mit der Hand über seine vom Zweifel durchfurchte Stirn und sagte: Ach! Wie vermag ich diesen beiden Unschuldigen das Glück zurückzugeben, das ich ihnen genommen habe?

 

Der Löwengraben.

 

Der Löwengraben.

 

Eine Abteilung der Force, welche die gefährlichsten Gefangenen enthielt, hieß die Cour de Saint-Bernand. Die Gefangenen nannten sie aber in ihrer kräftigen Sprache Löwengraben, ohne Zweifel, weil sie Zähne haben, die häufig in die Gitterstangen und zuweilen auch die Wächter beißen.

 

Es ist ein Gefängnis im Gefängnis, die Mauern haben die doppelte Dicke. Jeden Tag untersucht ein Kerkerknecht sorgfältig die massiven Gitter, und an den herkulischen Gestalten, an den kalten, scharfen Blicken der Wächter erkennt man, daß diese in Anbetracht der Gefährlichkeit der Insassen sorgfältig ausgewählt sind.

 

Der zu dieser Abteilung gehörige Grasplatz ist von ungeheuren Mauern umgeben, über welche die Sonne nur schräg hereinfällt. Hier irren von der Stunde des Aufstehens an sorgenvoll, abgemagert, bleich wie Schatten, die Menschen umher, welche die Gerechtigkeit unter dem Messer gebeugt hält, das sie für sie schärft. Man sieht sie an der Mauer lehnen, die am meisten Wärme einzieht und zurückhält. Hier verweilen sie, zwei und zwei plaudernd, öfter noch allein, das Auge unablässig auf die Tür geheftet, die sich öffnet, um einen von den Bewohnern dieses finsteren Aufenthaltes für immer abzurufen, oder um in den Schlund eine neue aus dem Schmelztigel der Gesellschaft ausgeworfene Schlacke zu speien.

 

Diese Abteilung hat ihr eigenes Sprechzimmer; es ist ein langes Viereck, durch zwei etwa drei Fuß voneinander parallel laufende Gitter in zwei Teile geteilt, so daß der Besuch dem Gefangenen nicht die Hand geben oder ihm etwas zuschieben kann. Dieses Sprechzimmer ist düster, feucht und in jeder Hinsicht fürchterlich.

 

So gräßlich aber auch der Ort ist, so ist er doch ein Paradies für diese Menschen, deren Tage gezählt sind; denn selten verläßt man den Löwengraben, um anderswohin zu gehen, als aufs Schafott, in das Bagno oder in das Zellengefängnis.

 

In dem beschriebenen feuchtkalten Hofe ging, die Hände in den Rocktaschen, ein junger Mensch auf und ab, der von den Bewohnern des Grabens mit großer Neugierde betrachtet wurde.

 

Nach dem Schnitte seiner Kleider hätte man ihn für einen feinen Herrn halten können, wären diese Kleider nicht zerfetzt gewesen. Sie sahen indessen auch nicht abgetragen aus; fein und weich an den unberührten Stellen, nahm das Tuch unter der streichelnden Hand des Gefangenen leicht wieder seinen Glanz an. Er wandte dieselbe Sorgfalt an, um sein Battisthemd in Ordnung zu bringen, und fuhr über seine lackierten Stiefel mit dein Zipfel seines Taschentuches, worauf Anfangsbuchstaben mit einer heraldischen Krone gestickt waren.

 

Einige Kostgänger des Löwengrabens sahen mit auffallendem Interesse der Toilette des Gefangenen zu.

 

Sieh da, der Prinz macht sich schön, sagte einer.

 

Er ist von Natur sehr schön, bemerkte ein anderer, und wenn er nur einen Kamm und Pomade hätte, so würde er alle die Herren mit den weißen Handschuhen verdunkeln.

 

Sein Kleid muß sehr neu gewesen sein, und seine Stiefel glänzen gar hübsch. Es ist schmeichelhaft für uns, daß wir so stattliche Kollegen haben; … und diese Spitzbuben von Gendarmen sind gemeine Burschen, daß sie einen solchen Putz zersetzt haben!

 

Es scheint, das ist ein Berühmter, sagte ein dritter, er hat alles getan … und zwar in der großen Art … er kommt noch so jung hier an! Oh, das lob‘ ich mir!

 

Der Gegenstand dieser gemeinen Bewunderung schien dieses Lob mit Behagen einzuschlürfen. Als seine Toilette beendigt war, näherte er sich einer Tür, an der ein Gefangenwärter lehnte.

 

Hören Sie, mein Herr, sagte er zu diesem, leihen Sie mir zwanzig Franken, Sie bekommen sie bald wieder; bei mir laufen Sie keine Gefahr. Bedenken Sie, daß ich Verwandte habe, die mehr Millionen besitzen, als Sie Franken. Geben Sie mir zwanzig Franken, ich bitte Sie, damit ich mir einen Schlafrock laufen kann. Ich leide furchtbar, daß ich immer in Frack und Stiefeln sein muß … Und welch ein Frack für einen Prinzen Cavalcanti!

 

Der Wächter drehte ihm den Rücken zu und zuckte die Achseln.

 

Gehen Sie, sagte Andrea, Sie sind ein Mensch, der kein Herz im Leibe hat, und ich werde Sie um Ihren Platz bringen.

 

Jetzt erst drehte sich der Gefangenwärter um und brach in ein schallendes Gelächter aus.

 

Nun näherten sich die Gefangenen und machten einen Kreis.

 

Ich sage Ihnen, fuhr Andrea fort, daß ich mir mit dieser elenden Summe einen Rock und ein Zimmer verschaffen kann, um auf anständige Weise den hohen Besuch zu empfangen, den ich jeden Tag erwarte.

 

Er hat recht! Er hat recht! riefen die Gefangenen; bei Gott, man sieht, daß er ein ganzer Mann ist.

 

Nun, so leiht ihr ihm die zwanzig Franken! sagte der Wärter, sich mit seiner kolossalen Schulter an die Wand stützend; seid ihr das nicht einem Kameraden schuldig?

 

Ich bin nicht der Kamerad dieser Leute, entgegnete stolz der junge Mann; beleidigen Sie mich nicht, Sie haben kein Recht dazu!

 

Hört ihr ihn? rief der Wärter mit argem Lächeln, er behandelt euch schön; leiht ihm doch zwanzig Franken!

 

Die Verbrecher schauten sich mit dumpfem Murren an, und ein Sturm fing an, sich über dem aristokratischen Gefangenen zu sammeln.

 

Bereits näherten sich die Verbrecher Andrea, und einige riefen: Die Schlappe! Die Schlappe!

 

Es ist dies eine grausame Operation, wobei ein in Ungnade gefallener Insasse mit Schuhen, die mit Eisen beschlagen sind, geprügelt wird. Andere schlugen die Anwendung des Aals vor, das heißt, ein mit Sand und Kieselsteinen gefülltes gedrehtes Tuch sollte wie ein Dreschflegel zur Bearbeitung von Schultern und Kopf des Missetäters dienen. Wieder andere riefen: Die Peitsche für den schönen Herrn, den ehrlichen Mann!

 

Doch Andrea wandte sich gegen sie um, blinzelte mit einem Auge, schwellte die Backe mit seiner Zunge aus und ließ ein eigentümliches Schnalzen der Lippen hören.

 

Es war ein Maurerzeichen, das ihm Caderousse mitgeteilt hatte. Sie erkannten einen der ihrigen, und der Aufruhr legte sich sofort, was dem Gefangenwärter ganz unbegreiflich vorkam, so daß er, den Wechsel irgend einer unerlaubten Beeinflussung zuschreibend, Andrea trotz dessen Protesten zu durchsuchen anfing.

 

Plötzlich erscholl eine Stimme an der Pforte, und ein Aufseher rief: Benedetto!

 

Man ruft mich! sagte Andrea.

 

In das Sprechzimmer! rief die Stimme.

 

Hören Sie, man will mir einen Besuch abstatten! … Ah! mein lieber Herr, Sie werden sehen, ob man einen Cavalcanti wie einen gewöhnlichen Menschen behandeln darf!

 

Und wie ein schwarzer Schatten in den Hof schlüpfend, eilte Andrea durch die halbgeöffnete Pforte und ließ seine Genossen und sogar den Gefangenwärter in Verwunderung zurück.

 

Man rief ihn in der Tat ins Sprechzimmer, und darüber durfte man sich nicht weniger wundern, als Andrea selbst; denn statt wie die andern von der erlaubten Wohltat des Schreibens Gebrauch zu machen, um sich reklamieren zu lassen, hatte der junge Mann seit seinem Eintritt in die Force ein stoisches Schweigen beobachtet.

 

Ich bin offenbar von irgend einem Mächtigen beschützt, sagte er, das ergibt sich aus allem: das plötzliche Vermögen, die Leichtigkeit, mit der ich alle Hindernisse beseitigt habe, eine neue Familie, ein mir verliehener berühmter Name, der Goldregen, die geplante Ehe. Eine Abwesenheit meines Beschützers hat mich zugrunde gerichtet, doch nicht gänzlich, nicht für immer! Die Hand hat sich für einen Augenblick zurückgezogen, sie muß sich wieder nach mir ausstrecken und mich in der Minute festhalten, wo ich in den Abgrund zu stürzen drohe. Warum sollte ich einen unklugen Schritt wagen? Ich würde mir vielleicht meinen Beschützer abhold machen. Es gibt für ihn zwei Wege, mich aus der Klemme zu ziehen, entweder eine geheimnisvolle Entweichung durch Gold zu erkaufen, oder den Richter zur Freisprechung zu nötigen. Warten wir mit dem Reden und Handeln, bis ich klar sehe, daß ich ganz verlassen bin, und dann erst …

 

Es war, wie sich Andrea sagte, offenbar zu früh am Tage, als daß der Untersuchungsrichter nach ihm senden konnte, und zu spät für einen etwaigen Ruf von seiten des Gefängnisdirektors oder des Arztes; es mußte also wirklich der erwartete Beschützer sein. Da erblickte er hinter dem Gitter des Sprechzimmers mit seinen vor Neugierde weit aufgesperrten Augen das düstere, verständige Gesicht Bertuccios, der ebenfalls mit schmerzlichem Erstaunen die Gitter, die verriegelten Türen und den Schatten betrachtete, der sich hinter den gekreuzten Stangen bewegte.

 

Ah! machte Andrea, im Herzen getroffen.

 

Guten Morgen, Benedetto, sagte Bertuccio mit seiner hohlen Stimme.

 

Sieh! sagte der junge Mann, voll Schrecken umherschauend.

 

Du erkennst mich nicht, unglückliches Kind! entgegnete Bertuccio.

 

Still! still doch! flüsterte Andrea, der das feine Gehör der Wände kannte; mein Gott, sprechen Sie nicht so laut!

 

Nicht wahr, du würdest gern mit mir allein reden?

 

Oh, ja.

 

Bertuccio griff in seine Tasche, machte einem Wärter, den man hinter der Scheibe der Pforte erblickte, ein Zeichen und sagte zu ihm: Lesen Sie.

 

Was ist das? fragte Andrea.

 

Der Befehl, dich in ein Zimmer zu führen und mich mit dir sprechen zu lassen.

 

Ah! Ah! machte Andrea, hüpfend vor Freude, dann sagte er zu sich: Abermals der unbekannte Beschützer! Man vergißt mich nicht! Man sucht die Heimlichkeit, da man in einem abgesonderten Zimmer mit mir sprechen will. Ich habe sie … Bertuccio ist vom Beschützer abgeschickt!

 

Der Wärter besprach sich einen Augenblick mit einem Oberen, öffnete sodann die zwei vergitterten Türen und führte Andrea, der vor Freude außer sich war, in ein Zimmer des ersten Stockes, das die Aussicht aus den Hof hatte.

 

Das Zimmer war getüncht und kam dem Gefangenen wunderbar schön vor; ein Ofen, ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch bildeten die kostbare Ausstattung.

 

Bertuccio setzte sich auf den Stuhl. Andrea warf sich auf das Bett. Der Wärter entfernte sich.

 

Laß hören, was hast du mir zu sagen? sprach der Intendant.

 

Und Sie? versetzte Andrea.

 

Sprich, du zuerst …

 

Oh! nein, Sie haben mir viel mitzuteilen, da Sie mich aufsuchten!

 

Wohl! es sei. Du hast deine Verworfenheit fortgesetzt; du hast gestohlen, du hast gemordet.

 

Wenn Sie mich in ein besonderes Zimmer führen, um mir nur dies zu sagen, mein Herr, so hätten Sie sich lieber gar keine Mühe machen sollen. Es gibt anderes, das ich nicht weiß, sprechen wir lieber davon! Wer hat Sie geschickt?

 

Oh, oh! Sie gehen sehr rasch, Herr Benedetto.

 

Nicht wahr? Und gerade aufs Ziel. Ersparen wir uns alle unnützen Worte. Wer schickt Sie?

 

Niemand.

 

 

Woher wissen Sie, daß ich im Gefängnis bin?

 

Ich habe dich längst in dem frechen Burschen erkannt, der so zierlich sein Pferd auf den Champs-Elysées tummelte.

 

Die Champs-Elysées … Ah! ah! … die Champs-Elysées! Sprechen wir von meinem Vater, wenn’s beliebt!

 

Wer bin denn ich?

 

Sie, mein braver Herr, sind mein Adoptivvater … Doch, ich denke, Sie haben nicht zu meinen Gunsten 100 000 Franken hergegeben, die ich in vier bis fünf Monaten verbrauchte; Sie haben mir nicht einen italienischen Vater und Edelmann verschafft; Sie haben mich nicht in die Gesellschaft eingeführt und zu einem gewissen Mittagsmahle, das ich noch zu genießen glaube, nach Auteul eingeladen … Vorwärts, reden Sie, ehrenwerter Korse …

 

Was soll ich dir sagen?

 

Auf den Champs-Elysées wohnt ein sehr reicher Herr.

 

Bei dem du gestohlen und gemordet hast, nicht wahr?

 

Ich glaube, ja.

 

Der Herr Graf von Monte Christo?

 

Sie haben ihn genannt. Soll ich mich in seine Arme werfen und ausrufen: Mein Vater! Mein Vater!

 

Scherzen wir nicht, erwiderte Bertuccio mit ernstem Tone, ein solcher Name soll nicht ausgesprochen werden, wie du ihn auszusprechen wagst.

 

Bah! rief Andrea, etwas verblüfft durch Bertuccios feierliche Haltung, warum nicht?

 

Weil der, der diesen Namen führt, zu sehr vom Himmel begünstigt ist, um der Vater eines Elenden deiner Art zu sein.

 

Oh! Große Worte …

 

Und große Wirkungen, wenn du dich nicht in acht nimmst!

 

Drohungen! Ich fürchte sie nicht … ich werde sagen …

 

Glaubst du es mit Pygmäen, wie du einer bist, zu tun zu haben? sagte Bertuccio mit so ruhigem Tone und mit so sicherem Blicke, daß Andrea im Innersten erschüttert wurde, glaubst du es mit Bagnohelden oder mit Toren, wie man sie gewöhnlich in der Welt trifft, zu tun zu haben? … Benedetto, du bist in einer furchtbaren Hand, diese Hand will sich dir öffnen; benutze es!

 

Mein Vater … ich will wissen, wer mein Vater ist, sagte er eigensinnig; ich will darüber sterben, wenn es sein muß, aber ich werde es erfahren. Was kümmere ich mich um den Skandal? Für mich ist er vorteilhaft, er bringt mir Ruhm, er verleiht mir Ansehen, er empfiehlt mich. Doch ihr Leute von der großen Welt habt trotz eurer Millionen und eurer Wappen beim Skandal immer etwas zu verlieren … Nun, wer ist mein Vater?

 

Ich bin gekommen, es dir zu sagen …

 

Ah! rief Benedetto mit freudefunkelnden Augen.

 

In dieser Sekunde öffnete sich die Tür, und der Gefangenwärter sagte, sich an Bertuccio wendend: Verzeihen Sie, der Untersuchungsrichter erwartet den Gefangenen.

 

Das ist der Schluß meines Verhörs, sagte Andrea zu dem würdigen Intendanten … zum Teufel mit dem Überlästigen!

 

Ich werde morgen wiederkommen, versetzte Bertuccio.

 

Gut! sagte Andrea. Meine Herren Gendarmen, ich bin ganz zu Ihren Diensten … Ah, lieber Herr, lassen Sie doch ein Dutzend Taler in der Kanzlei zurück, daß man mir hier gibt, was ich brauche.

 

Es soll geschehen, erwiderte Bertuccio.

 

Andrea reichte ihm die Hand; Bertuccio hielt die seinigen in der Tasche und ließ nur das Klimpern von ein paar Goldstücken hören.

 

Das wollte ich sagen, versetzte Andrea mit einer lächelnden Grimasse, aber innerlich von Bertuccios seltsamer Ruhe ganz überwältigt.

 

Sollte ich mich getäuscht haben? sagte er zu sich selbst, in den länglichen und vergitterten Wagen steigend, den man den Salatkorb nennt. Wir werden sehen! Morgen also! fügte er, sich zu Bertuccio umwendend, hinzu.

 

Morgen! antwortete der Intendant.

 

Der Richter.

 

Der Richter.

 

Man erinnert sich, daß der Abbé Busoni allein bei Noirtier im Sterbezimmer geblieben war, und daß sich der Greis und der Priester in das Wächteramt bei der Leiche des Mädchens geteilt hatten. Vielleicht waren es die christlichen Ermahnungen des Abbés, vielleicht war es das überzeugende Wort, das dem Greise den Mut zurückgab; denn seit dem Augenblick der Besprechung, die er mit dem Priester gehabt, trat bei Noirtier an Stelle der Verzweiflung, die sich anfangs seiner bemächtigt hatte, eine große Ruhe ein, die bei seiner tiefen Liebe und Zuneigung für Valentine besonders überraschend war.

 

Herr von Villefort hatte den Greis seit dem Morgen des Todes nicht wiedergesehen. Die ganze Dienerschaft war erneuert worden; man hatte einen anderen Kammerdiener für ihn, einen anderen Bedienten für Noirtier angeworben; zwei Kammerfrauen waren in den Dienst der Frau von Villefort getreten.

 

In ein paar Tagen sollten die Schwurgerichtssitzungen beginnen; darum verfolgte Villefort, in sein Kabinett eingeschlossen, mit fieberhafter Tätigkeit den gegen Caderousses Mörder eingeleiteten Prozeß. Der Fall machte großes Aufsehen in der Pariser Welt. Die Beweise waren nicht überzeugend, weil sie auf einigen Worten von der Hand eines sterbenden Galeerensklaven, eines ehemaligen Bagnogenossen des Angeklagten, beruhten, der seinen Gefährten aus Haß oder aus Rache anschuldigen konnte. Nur der Staatsanwalt hatte die feste Überzeugung gewonnen, Benedetto sei schuldig, und es sollte ihm aus dem schwierigen Siege dieser seiner Anschauung einer von jenen Genüssen der Eitelkeit erwachsen, die allein die Fibern seines vereisten Herzens einigermaßen erwärmten.

 

Der Prozeß nahm also infolge der rastlosen Arbeit Villeforts seinen raschen Gang. Mehr als je mußte er sich verborgen halten, um einer Erwiderung auf die ungeheure Menge von Bitten zu entgehen, die man an ihn richtete, um Audienzkarten zu erhalten.

 

Da überdies erst so kurze Zeit vorüber war, seitdem man die arme Valentine zu Grabe getragen hatte, so staunte niemand darüber, wenn man den Vater so ganz in seiner Pflichterfüllung, der einzigen Zerstreuung, die er für seinen Kummer finden konnte, versunken sah.

 

Ein einziges Mal, und zwar an dem Tage, nachdem Benedetto den zweiten Besuch Bertuccios empfangen hatte, bei dem dieser ihm den Namen seines Vaters hatte nennen sollen, war Villefort Herrn Noirtier zu Gesicht gekommen; es geschah dies in dem Augenblick, wo der Beamte, der Erholung bedürftig, in den Garten seines Hauses hinabging.

 

Wiederholt war er bis an den Hintergrund des Gartens, bis an das bekannte, nach dem verlassenen Gehege führende Gitter gegangen, als er zufällig nach dem Hause schaute, in dem er seinen Sohn lärmend spielen hörte, der aus seiner Pension zurückgekommen war, um den Sonntag und Montag bei seiner Mutter zuzubringen.

 

Bei dieser Gelegenheit sah er an einem der offenen Fenster Herrn Noirtier, der sich bis an das Fenster hatte rollen lassen, um sich der letzten Strahlen einer noch warmen Sonne zu erfreuen.

 

Das Auge des Greises war auf einen Punkt gerichtet, den Villefort nicht genau unterscheiden konnte. Dieser Blick Noirtiers war so haßerfüllt, so wild, er zeugte so sehr von heftiger Ungeduld, daß der Staatsanwalt, der alle Eindrücke dieses ihm so genau bekannten Gesichtes mit voller Schärfe auffaßte, ausdrücklich hinging, um zu sehen, worauf oder auf wen der Blick fiel.

 

Da bemerkte er unter einer Gruppe von Linden mit fast entblätterten Ästen Frau von Villefort, die, ein Buch in der Hand, aus einer Bank saß und sich von Zeit zu Zeit im Lesen unterbrach, um ihrem Sohne zuzulächeln oder ihm seinen elastischen Ball zuzuwerfen, den er hartnäckig vom Salon in den Garten schleuderte.

 

Villefort erbleichte, denn er verstand, was der Greis sagen wollte.

 

Noirtier schaute stets denselben Gegenstand an; doch plötzlich ging sein Blick von der Frau auf den Mann über, und Villefort hatte selbst den Angriff dieser blitzenden Augen auszuhalten, die nichts von ihrem drohenden Ausdruck verloren. Man las in der Tat in diesem Blicke zugleich einen blutigen Vorwurf und eine furchtbare Drohung. Dann schlug Noirtier die Augen zum Himmel auf, als ob er seinen Sohn an einen vergessenen Schwur erinnern wollte.

 

Es ist gut, sagte Villefort unten vom Hofe herauf, fassen Sie noch einen Tag Geduld; was ich gesagt habe, ist gesagt.

 

Noirtier schien durch diese Worte beruhigt, und seine Augen wandten sich einer andern Seite zu.

 

Villefort fuhr mit der bleichen Hand über seine Stirn und kehrte in sein Kabinett zurück.

 

Die Nacht ging kalt und ruhig vorüber; alle begaben sich zu Bette und schliefen wie gewöhnlich. Nur Villefort legte sich nicht nieder; er arbeitete bis fünf Uhr morgens, durchlas die am Abend vorher von dem Untersuchungsbeamten vorgenommenen Verhöre, verglich die Aussagen der Zeugen und brachte die Anklageschrift, eine der schärfsten und kräftigsten, die er je abgefaßt, vollends ins reine.

 

Am folgenden Tage sollte die erste Schwurgerichtssitzung stattfinden. Villefort sah diesen Tag, einen Montag, blaß und düster anbrechen, und der bläuliche Lichtschimmer ließ die auf dem Papiere mit roter Tinte geschriebenen Zeilen erglänzen.

 

Der Staatsanwalt öffnete sein Fenster; die feuchte Luft der Morgendämmerung übergoß Villeforts Haupt und erfrischte ihn.

 

Heute wird es geschehen, sagte er mit einer gewissen Anstrengung; heute muß der Mann, der das Schwert der Gerechtigkeit in der Hand hält, überallhin schlagen, wo sich die Schuldigen befinden.

 

Allmählich erwachte alles. Villefort hörte von seinem Kabinett aus die aufeinander folgenden Geräusche: die in Bewegung gesetzten Türen, das Klingeln der Glocke der Frau von Villefort, die ihre Kammerjungfer rief, das erste Geschrei des Kindes, das sich mit Lärm erhob.

 

Villefort läutete ebenfalls. Sein neuer Kammerdiener trat ein, brachte ihm die Zeitungen und eine Tasse Schokolade.

 

Ich habe das nicht verlangt. Wer gibt sich diese Mühe?

 

Die gnädige Frau sagt, der Herr Staatsanwalt würde ohne Zweifel bei dem Mordprozesse viel sprechen und müßte Kräfte sammeln.

 

Dabei stellte der Diener die Tasse auf den mit Papieren überladenen Tisch.

 

Villefort schaute die Tasse einen Augenblick mit düsterer Miene an, dann ergriff er sie plötzlich mit hastiger Bewegung und leerte ihren Inhalt mit einem Zuge. Man hätte glauben sollen, er hoffte, dieser Trank sei tödlich, und er sehne den Tod herbei, der ihn von einer Pflicht befreien sollte, die ihm etwas Schwierigeres, als das Sterben, zu tun befahl. Die Schokolade war aber harmlos, und Herr von Villefort mußte an sein schweres Tagewerk gehen.

 

Als die Frühstücksstunde gekommen war, erschien der Staatsanwalt nicht bei Tische.

 

Der Kammerdiener kehrte in sein Kabinett zurück und meldete: Die gnädige Frau läßt dem Herrn Staatsanwalt sagen, es habe elf geschlagen, und die Sitzung sei auf zwölf Uhr bestimmt.

 

Nun! Und? rief Villefort.

 

Die gnädige Frau hat ihre Toilette gemacht; sie ist bereit und läßt fragen, ob sie den Herrn Staatsanwalt in den Justizpalast begleiten werde, da sie sehr wünsche, dieser Sitzung beizuwohnen.

 

Ah! sie wünscht das! versetzte Villefort mit schrecklichem Tone.

 

Der Kammerdiener wich einen Schritt zurück und erwiderte: Will der Herr Staatsanwalt allein dahin fahren, so werde ich es der gnädigen Frau sagen.

 

Villefort blieb einen Augenblick stumm, er grub mit seinen Nägeln in seine bleiche Wange, von der sein ebenholzschwarzer Bart stark abstach, ehe er erwiderte: Sagen Sie der gnädigen Frau, ich wünsche sie zu sprechen und bitte sie, mich in ihrem Zimmer zu erwarten. Dann kommen Sie zurück, um mich zu rasieren und anzukleiden.

 

Auf der Stelle.

 

Der Kammerdiener verschwand und erschien sofort wieder, rasierte Villefort und kleidete ihn in feierliches Schwarz. Als er damit fertig war, sagte er: Die gnädige Frau läßt sagen, sie erwarte den Herrn Staatsanwalt, sobald er angekleidet sei.

 

Ich komme, versetzte Villefort, und wandte sich, die Akten unter dem Arme, den Hut in der Hand, zu den Zimmern seiner Frau.

 

Frau von Villefort saß auf einer Ottomane und blätterte mit Ungeduld in den Zeitungen und Broschüren, die der junge Eduard zu seiner Belustigung in Stücke zerriß, ehe seine Mutter Zeit gehabt hatte, ihre Lektüre zu vollenden.

 

Sie war völlig zum Ausgehen gekleidet; ihr Hut lag daneben, und sie hatte bereits die Handschuhe angezogen.

 

Ah! Hier sind Sie, mein Herr, sagte sie mit ihrer natürlichen, ruhigen Stimme. Mein Gott!! Wie bleich sehen Sie aus! Sie haben also abermals die ganze Nacht hindurch gearbeitet? Nun! Nehmen Sie mich mit, oder soll ich allein mit Eduard gehen?

 

Bei allen diesen Fragen blieb Herr von Villefort kalt und stumm, wie eine Bildsäule, und sagte nur, einen gebieterischen Blick auf das Kind heftend: Eduard, spiele im Garten, ich habe mit deiner Mutter zu reden.

 

Frau von Villefort bebte bei diesem kalten Wesen und dem entschiedenen Tone ihres Mannes. Eduard schaute seine Mutter an; als er sah, daß sie den Befehl des Herrn von Villefort nicht wiederholte, fing er an, seinen bleiernen Soldaten die Köpfe abzuschneiden.

 

Eduard, rief Herr von Villefort mit so hartem Ausdruck, daß das Kind auf den Boden sprang, verstehst du mich? Vorwärts!

 

An eine solche Behandlung nicht gewöhnt, richtete sich das Kind auf, erbleichte und entfernte sich.

 

Herr von Villefort folgte ihm bis zur Tür und schloß diese, als Eduard hinausgegangen war, mit dem Riegel.

 

Oh! mein Gott! rief die junge Frau, indem sie ihrem Gatten bis in die Tiefe der Seele schauen wollte und zu lächeln versuchte, was wollen Sie denn?

 

Wo verwahren Sie das Gift, dessen Sie sich gewöhnlich bedienen? sprach scharf und ohne Einleitung der Staatsanwalt.

 

Frau von Villefort empfand, was die Lerche empfinden muß, wenn sie den Hühnergeier seine mörderischen Kreise über ihrem Kopfe immer enger ziehen sieht.

 

Ein heiserer, gebrochener Ton, der weder ein Schrei, noch ein Seufzer war, kam aus der Brust der Frau von Villefort, und leichenblaß erwiderte sie: Mein Herr … ich verstehe Sie nicht.

 

Dann erhob sie sich in einem Anfall des Schreckens … doch in einem zweiten Anfall, der offenbar noch heftiger als der erste war, fiel sie wieder auf die Kissen ihrer Ottomane zurück.

 

Ich fragte sie, fuhr Herr von Villefort mit vollkommen ruhigem Tone fort, wo Sie das Gift verbergen, mit dessen Hilfe Sie meinen Schwiegervater, Herrn von Saint-Meran, meine Schwiegermutter, Barrois und meine Tochter Valentine umgebracht haben.

 

Oh! mein Herr, rief Frau von Villefort, die Hände faltend, was sagen Sie da?

 

Sie haben mich nicht zu fragen, sondern nur zu antworten.

 

Habe ich dem Richter oder dem Gatten zu antworten? stammelte Frau von Villefort.

 

Dem Richter.

 

Es war ein furchtbares Schauspiel: die Blässe dieser Frau, die Angst in ihren Blicken, das Zittern ihres ganzen Körpers. Ah! mein Herr! murmelte sie, ah! mein Herr!

 

Sie antworten nicht! rief der furchtbare Frager. Dann fügte er mit einem Lächeln hinzu, das noch schrecklicher war, als sein Zorn: Sie leugnen also nicht!

 

Frau von Villefort machte ein: Bewegung.

 

Und Sie könnten auch nicht leugnen, fuhr Herr von Villefort fort, indem er die Hand ausstreckte, als wollte er sie im Namen der Gerechtigkeit festnehmen. Sie haben diese verschiedenen Verbrechen mit einer unverschämten Geschicklichkeit verübt, die jedoch nur Leute täuschen konnte, die aus Liebe geneigt waren, Ihnen gegenüber blind zu sein. Seit dem Tode der Frau von Saint-Meran wußte ich, daß ein Giftmischer in meinem Hause war, Herr d’Avrigny hatte mich davon in Kenntnis gesetzt; nach dem Tode Barrois‘ fiel mein Verdacht, Gott verzeihe es mir! auf jemand, auf einen Engel. Doch nach Valentines Tode gab es keinen Zweifel mehr für mich, und nicht allein für mich, sondern auch für andere. So wird Ihr Verbrechen, nunmehr zwei Personen bekannt, öffentlich werden; und es ist, wie ich Ihnen soeben sagte, nicht mehr der Gatte, der zu Ihnen spricht, sondern ein Richter.

 

Ihr Gesicht in ihren Händen verbergend, stammelte die junge Frau: Oh! Herr, ich flehe Sie an, glauben Sie nicht dem Scheine!

 

Sollten Sie feig sein? rief Villefort mit verächtlichem Tone. In der Tat, ich habe stets wahrgenommen, daß die Giftmischer feig sind. Sollten Sie feig sein, Sie, die Sie den gräßlichen Mut gehabt haben, zwei Greise und ein junges Mädchen, von Ihnen ermordet, vor Ihren Augen verscheiden zu sehen?

 

Herr! Herr!

 

Sollten Sie feig sein, fuhr Villefort mit wachsender Heftigkeit fort, Sie, die Sie die Minuten von vier Todeskämpfen eine um die andere gezählt? Sie, die Sie mit einer so wunderbaren Geschicklichkeit und Sorgfalt Ihre höllischen Pläne entworfen und Ihre schändlichen Getränke eingerührt haben? Sie, die Sie alles so gut berechnet, sollten eins nicht berechnet haben, nämlich, wohin Sie die Enthüllung Ihrer Verbrechen führen konnte, führen mußte? Oh! das ist unmöglich, und Sie haben ein Gift, süßer, feiner, tödlicher als die anderen, aufbewahrt, um der Ihnen gebührenden Bestrafung zu entgehen … Sie haben dies getan, wenigstens hoffe ich es.

 

Frau von Villefort rang ihre Hände und fiel auf die Knie.

 

Ich weiß es wohl … ich weiß es wohl, sagte Herr von Villefort, Sie gestehen; doch ein Geständnis, den Richtern abgelegt, ein Geständnis im letzten Augenblick, ein Geständnis, wenn man nicht mehr leugnen kann, ein solches Geständnis mildert in keiner Beziehung die Strafe, die über den Schuldigen verhängt werden muß.

 

Die Strafe! rief Frau von Villefort, Strafe! Es ist schon das zweite Mal, daß Sie dieses Wort aussprechen!

 

Allerdings. Glaubten Sie zu entkommen, weil Sie viermal schuldig waren? Glaubten Sie, weil Sie die Frau dessen sind, der die Strafe fordert, würde diese Strafe ausbleiben? Nein, nein! Die Giftmischerin, wer sie auch sein mag, erwartet das Schafott, besonders Sie, wie ich Ihnen soeben sagte, die nicht dafür besorgt gewesen ist, einige Tropfen von ihrem sichersten Gifte aufzubewahren!

 

Frau von Villefort stieß einen wilden Schrei aus, und der häßliche, unbezähmbare Schrecken bemächtigte sich ihrer verstörten Gesichtszüge.

 

Oh! fürchten Sie das Schafott nicht, sagte der Staatsanwalt, ich will Sie nicht entehren, denn das hieße mich selbst entehren; nein, im Gegenteil, wenn Sie mich recht gehört haben, müssen Sie begreifen, daß Sie nicht auf dem Schafott sterben können.

 

Nein, ich habe nicht begriffen; was wollen Sie sagen? stammelte völlig niedergeschmettert die unglückliche Frau.

 

Ich will sagen, daß die Frau des ersten richterlichen Beamten der Hauptstadt einen fleckenlos gebliebenen Namen nicht mit ihrer Schande belasten und nicht mit demselben Schlage ihren Gatten und ihr Kind entehren wird.

 

Nein! oh, nein!

 

Wohl, das wird eine gute Handlung von Ihnen sein, und für diese gute Handlung danke ich Ihnen.

 

Sie danken mir und wofür?

 

Für das, was Sie gesagt haben.

 

Was habe ich gesagt? Mein Kopf ist verwirrt; mein Gott! Mein Gott! Ich begreife nichts mehr.

 

Und sie erhob sich mit aufgelösten Haaren und schäumenden Lippen.

 

Sie beantworteten die Frage noch nicht, die ich bei meinem Eintritt machte: Wo ist das Gift, dessen Sie sich gewöhnlich bedienen?

 

Frau von Villefort streckte die Arme zum Himmel empor und schlug krampfhaft die Hände aneinander.

 

Nein, nein, schrie sie, Sie wollen das nicht!

 

Ich will nicht, daß Sie auf dem Schafott sterben, hören Sie? antwortete Villefort.

 

Oh! Gnade, Herr!

 

Es ist mein Wille, daß Gerechtigkeit geschehe. Ich bin auf der Erde, um zu strafen, fügte er mit einem flammenden Blicke bei; jeder andern Frau, und wäre es eine Königin, würde ich den Henker schicken, gegen Sie werde ich barmherzig sein. Ihnen sage ich: Nicht wahr, gnädige Frau, Sie haben einige Tropfen von Ihrem süßesten, schnellsten und sichersten Gift aufbewahrt?

 

Oh! Verzeihen Sie mir, lassen Sie mich leben!

 

Sie ist feig, sagte Villefort.

 

Bedenken Sie, daß ich Ihre Frau bin!

 

Sie sind eine Giftmischerin.

 

Im Namen des Himmels!

 

Nein.

 

Im Namen der Liebe, die Sie für mich gehabt haben!

 

Nein! nein!

 

Im Namen unseres Kindes! Oh! Unserem Kinde zuliebe lassen Sie mich leben.

 

Nein! nein! sage ich Ihnen; ließe ich Sie leben, so würden Sie eines Tages das Kind so gut töten, wie die andern.

 

Ich! mein Kind töten! rief in höchster Leidenschaft diese Mutter, auf Villefort zustürzend; ich meinen Eduard töten? Und ein gräßliches Gelächter, das Lachen einer Wahnsinnigen, vollendete den Satz und verlor sich in einem blutigen Geröchel.

 

Frau von Villefort stürzte zu den Füßen ihres Gatten nieder.

 

Villefort näherte sich ihr und sagte: Bedenken Sie wohl! Ist bei meiner Rückkehr nicht Gerechtigkeit geschehen, so zeige ich Sie mit meinem eigenen Munde an, verhafte ich Sie mit meinen eigenen Händen.

 

Sie hörte keuchend, vernichtet; nur ihr Auge lebte in ihr und brannte in einem düsteren, furchtbaren Feuer.

 

Sie verstehen mich, sagte Villefort, ich gehe, um die Todesstrafe gegen einen Mörder zu fordern. Finde ich Sie noch lebend, so ist heute nacht der Kerker Ihre Wohnung.

 

Frau von Villefort stieß einen Seufzer aus, ihre Nerven wurden schlaff, sie wälzte sich gebrochen auf dem Boden.

 

Der Staatsanwalt schien eine Regung des Mitleids zu fühlen, er schaute sie minder streng an, verbeugte sich leicht vor ihr und sagte langsam: Gott befohlen, gnädige Frau!

 

Dieser Abschied fiel wie das Messer des Todes auf Frau von Villefort. Sie wurde ohnmächtig.

 

Der Staatsanwalt entfernte sich und schloß beim Hinausgehen die Tür doppelt zu.

 

Die Hand Gottes

 

Die Hand Gottes

 

Was gibt es? fragte Monte Christo.

 

Zu Hilfe! wiederholte Caderousse; man hat mich ermordet.

 

Hier sind wir, Mut gefaßt!

 

Ah! es ist vorbei. Sie kommen zu spät! Oh die Stöße! Oh das Blut! Und er fiel in Ohnmacht.

 

Ali und sein Herr nahmen den Verwundeten und trugen ihn in ein Zimmer. Hier ließ ihn der Graf von Ali auskleiden und bemerkte die drei furchtbaren Wunden, die man ihm beigebracht hatte.

 

Mein Gott! sagte er, deine Rache läßt zuweilen auf sich warten, aber ich glaube, sie trifft dann nur um so vollständiger.

 

Ali schaute seinen Herrn an, als wollte er ihn fragen, was zu tun sei. Suche den Herrn Staatsanwalt von Villefort auf, der im Faubourg Saint-Germain wohnt, und führe ihn hierher! Im Vorbeigehen bringst du einen Arzt mit!

 

Ali gehorchte und ließ seinen Herrn mit dem immer noch ohnmächtigen Caderousse allein.

 

Als der Unglückliche die Augen wieder öffnete, schaute ihn der Graf, der ein paar Schritte von ihm entfernt saß, mit einem düstern Ausdrucke des Mitleids an, und seine Lippen schienen ein Gebet zu murmeln.

 

Einen Wundarzt, Herr Abbé, einen Wundarzt! – Man ist bereits weggegangen, einen zu holen.

 

Ich weiß wohl, daß es mit dem Leben vorbei ist; aber er kann mir vielleicht so viel Kraft geben, daß ich meine Aussage machen kann.

 

Sie kennen den Mörder also?

 

Ob ich ihn kenne! Ja, es ist Benedetto.

 

Der junge Korse? Ihr Gefährte?

 

Ja. Nachdem er mir den Plan von dem Hause des Grafen gegeben … ohne Zweifel in der Hoffnung, ich würde ihn töten, und er würde somit sein Erbe, – oder der Graf würde mich töten, und er wäre dadurch von mir befreit, wartete er auf mich auf der Straße und ermordete mich.

 

Ich habe auch den Staatsanwalt holen lassen.

 

Er wird zu spät kommen, sagte Caderousse, ich fühle, wie all mein Blut entströmt.

 

Warten Sie, sagte Monte Christo, ging aus dem Zimmer und kehrte nach fünf Minuten mit einem Fläschchen zurück, aus dem er auf die blauen Lippen des Verwundeten drei bis vier Tropfen einer Flüssigkeit goß.

 

Caderousse stieß einen Seufzer aus.

 

Oh! stammelte er, Sie gießen mir das Leben ein, wenn doch jemand käme, bei dem ich den Elenden anzeigen könnte.

 

Soll ich Ihre Aussage aufschreiben? Sie unterzeichnen sie sodann.

 

Ja … ja … sagte Caderousse, dessen Augen bei der Hoffnung auf Rache funkelten.

 

Monte Christo schrieb: Ich sterbe, ermordet durch den Korsen Benedetto, meinen Kettengenossen in Toulon unter der Nummer 59.

 

Eilen Sie! Eilen Sie! sagte Caderousse, ich kann sonst nicht mehr unterzeichnen.

 

Monte Christo reichte Caderousse die Feder, dieser raffte seine Kräfte zusammen, unterzeichnete, fiel wieder auf sein Lager zurück und sagte: Sie werden das übrige erzählen, Herr Abbé; Sie sagen, er lasse sich Andrea Cavalcanti nennen, er wohne im Hotel des Princes, er … ah! mein Gott, ich sterbe!

 

Caderousse wurde zum zweitenmale ohnmächtig.

 

Der Abbé ließ ihn den Geruch des Fläschchens einatmen, der Verwundete öffnete die Augen wieder. Seine Rachgier hatte ihn während seiner Ohnmacht nicht verlassen.

 

Ah! Sie werden alles sagen, nicht wahr, Herr Abbé?

 

Alles werde ich sagen, er habe Ihnen ohne Zweifel den Plan dieses Hauses in der Hoffnung gegeben, der Graf würde Sie töten. Ich werde sagen, er habe den Grafen durch ein Billett benachrichtigt; ich werde sagen, in Abwesenheit des Grafen habe ich dieses Billett empfangen und gewacht, um Sie zu erwarten.

 

Und man wird ihn hinrichten, nicht wahr? versetzte Caderousse, Sie versprechen es mir? Ich sterbe mit dieser Hoffnung, sie wird mir den Tod erleichtern.

 

Ich werde sagen, er sei hinter Ihnen gekommen, er habe die ganze Zeit gelauert und sei, als er Sie habe weggehen sehen, an die Ecke gelaufen, wo er sich verborgen.

 

Sie haben also dies alles gesehen?

 

Erinnern Sie sich meiner Worte: Wenn du unversehrt nach Hause kommst, glaube ich, daß Gott dir verziehen hat, und verzeihe dir ebenfalls.

 

Und Sie haben mich nicht gewarnt? rief Caderousse, indem er versuchte, sich auf seinen Ellenbogen zu erheben; Sie wußten, daß ich beim Weggehen ermordet werden würde, und haben mich nicht gewarnt?

 

Nein, denn in der Hand Benedettos sah ich die Gerechtigkeit Gottes, und ich hätte einen fluchwürdigen Frevel zu begehen geglaubt, würde ich mich den Absichten der Vorsehung widersetzt haben.

 

Die Gerechtigkeit Gottes! Sprechen Sie mir nicht davon, Herr Abbé, wenn es eine Gerechtigkeit Gottes gäbe, so müßten, wie Sie besser wissen, als irgend jemand, gewisse Personen gestraft sein, die es nicht sind.

 

Geduld, sagte der Abbé mit einem Tone, der den Sterbenden beben ließ, Geduld!

 

Caderousse schaute ihn erstaunt an.

 

Und dann, sagte der Abbé, ist Gott voll Barmherzigkeit gegen alle, wie er es auch gegen dich gewesen ist; er ist Vater, ehe er Richter ist.

 

Ah! Sie glauben also an Gott?

 

Wenn ich das Unglück gehabt hätte, bis jetzt nicht an ihn zu glauben, so würde ich es bei deinem Anblick tun.

 

Caderousse hob die geballten Fäuste zum Himmel empor.

 

Höre, sagte der Abbé, die Hand über den Verwundeten ausstreckend, höre, was dieser Gott, den du in deinem letzten Augenblicke verleugnen willst, für dich getan hat. Er hat dir deine Gesundheit, deine Kraft, eine sichere Arbeit, sogar Freunde, kurz ein Leben gegeben, wie es den Menschen erscheinen muß, um süß zu sein. Statt diese Gaben des Herrn zu benutzen, hast du dich der Trägheit, der Trunkenheit hingegeben, und in der Trunkenheit einen deiner besten Freunde verraten.

 

Zu Hilfe! rief Caderousse, ich brauche keinen Priester, sondern einen Arzt; vielleicht bin ich noch nicht auf den Tod verwundet, vielleicht werde ich noch nicht sterben, vielleicht kann man mich noch retten.

 

Du bist so sicher auf den Tod verwundet, daß du ohne die drei Tropfen, die ich dir soeben gegeben, bereits verschieden wärest. Höre also!

 

Ah! murmelte Caderousse, was für ein seltsamer Priester sind Sie, der Sie die Sterbenden in Verzweiflung bringen, statt sie zu trösten.

 

Höre, fuhr der Abbé fort, als du deinen Freund verraten hattest, fing Gott an, nicht dich zu schlagen, sondern zu warnen. Du versankst in Armut und littest Hunger; du hattest die Hälfte deines Lebens statt mit Arbeit mit Neid hingebracht und dachtest bereits an Verbrechen, als Gott ein Wunder für dich tat und dir durch meine Hände mitten in deinem Elend ein für dich glänzendes Vermögen schickte. Doch dieses unverhoffte Vermögen genügte dir nicht mehr, sobald du es besaßest; du wolltest es verdoppeln, durch welches Mittel? Durch einen Mord. Da faßte dich Gott und führte dich vor die menschliche Gerechtigkeit.

 

Nicht ich wollte den Juden töten, sondern die Carconte.

 

Ja, auch gestattete der stets barmherzige Gott, daß deine Richter von deinen Worten gerührt wurden und dir das Leben ließen.

 

Ja, vortrefflich, um mich für mein ganzes Dasein in das Bagno zu schicken: eine schöne Gnade!

 

Diese Gnade, Elender, hast du doch als eine Gnade betrachtet, als man sie dir gewährte; dein feiges Herz, das vor dem Tode zitterte, hüpfte vor Freude bei der Ankündigung einer ewigen Schmach, denn du sagtest dir: Es gibt eine Tür am Bagno, das Grab aber hat keine. Und du hattest recht, denn diese Tür öffnete sich unerwartet für dich; ein Engländer besuchte Toulon, er hatte das Gelübde getan, zwei Menschen der Ehrlosigkeit zu entziehen, und seine Wahl fällt auf dich und deinen Gefährten. Ein zweites Glück kommt für dich vom Himmel herab, du findest zugleich Gold und Ruhe, du kannst wieder anfangen, das Leben aller redlichen Menschen zu führen. Da versuchst du Gott zum drittenmale. Ich habe nicht genug, sagst du, während du mehr hattest, als je, und du begehst ein drittes Verbrechen, ohne Grund, ohne Entschuldigung. Gott war müde, Gott bestrafte dich.

 

Caderousse wurde sichtbar immer schwächer.

 

Zu trinken! sagte er; ich habe Durst … ich brenne!

 

Monte Christo reichte ihm ein Glas Wasser.

 

Verfluchter Benedetto! sagte Caderousse, das Glas zurückgebend, er wird entkommen!

 

Niemand wird entkommen, das sage ich dir, Caderousse, … Benedetto wird bestraft werden.

 

Dann werden Sie auch bestraft, erwiderte Caderousse, denn Sie haben Ihre Priesterpflicht nicht getan … Sie hätten Benedetto verhindern sollen, mich zu töten.

 

Ich! sagte der Graf mit einem Lächeln, das den Sterbenden vor Schrecken in Eis verwandelte, ich, Benedetto verhindern, dich zu töten, in dem Augenblick, wo du dein Messer an meinem Panzerhemde zerbrochen hattest! … Ja, vielleicht; … würde ich dich demütig und voll Reue gefunden haben, so hätte ich Benedetto am Ende abgehalten, dich zu töten; aber ich fand dich hochmütig und blutgierig und ließ Gottes Willen sich erfüllen.

 

Ich glaube nicht an Gott! heulte Caderousse, du glaubst ebensowenig an ihn, du lügst!

 

Schweig! sagte der Abbé, Du glaubst nicht an Gott und stirbst, von Gott getroffen! … Und Gott, der doch nur ein Gebet, eine Träne, ein Wort verlangt, um zu verzeihen … Gott, der den Dolch des Mörders so lenken konnte, daß du auf der Stelle verschieden wärest, Gott hat dir eine Viertelstunde zur Reue gegeben … Gehe also in dich, Unglücklicher, und bereue!

 

Nein, sagte Caderousse, ich bereue nicht, es gibt keinen Gott, keine Vorsehung, es gibt nur einen Zufall.

 

Es gibt eine Vorsehung, es gibt einen Gott, sagte Monte Christo, und zum Beweise dient, daß du hier liegst, in Verzweiflung, Gott leugnend, während ich, aufrecht, reich, glücklich, gesund vor dir stehe und die Hände vor diesem Gotte falte, den du leugnen willst, während du im Grunde deines Herzens doch an ihn glaubst.

 

 

Aber wer sind Sie denn? fragte Caderousse, seine sterbenden Augen auf den Grafen heftend.

 

Schau mich wohl an, versetzte der Graf, sich die Kerze an das Gesicht haltend.

 

Nun! der Abbé … der Abbé Busoni … Monte Christo nahm die entstellende Perrücke ab und ließ die schönen, schwarzen Haare zurückfallen, die so harmonisch sein bleiches Gesicht umrahmten.

 

Oh! rief Caderousse erschrocken, wenn nicht diese schwarzen Haare wären, so würde ich sagen, Sie seien der Engländer, ich würde sagen, Sie seien Lord Wilmore.

 

Ich bin weder der Abbé Busoni, noch Lord Wilmore, sagte Monte Christo; schaue besser, schaue ferner, schaue in deine ersten Erinnerungen!

 

In diesen Worten des Grafen lag ein magnetischer Klang, von dem die erschöpften Sinne des Elenden zum letztenmale wiederbelebt wurden. Oh! in der Tat, sagte er, es kommt mir vor, als hätte ich Sie einst gesehen, als hätte ich Sie einst gekannt.

 

Ja, Caderousse, ja, du hast nach gekannt.

 

Aber wer sind Sie denn? Und warum lassen Sie mich sterben, wenn Sie mich gekannt haben?

 

Weil nichts dich retten kann, weil deine Wunden tödlich sind. Wenn du hättest gerettet werden können, so würde ich darin eine letzte Barmherzigkeit des Herrn gesehen haben, und hätte es versucht, das schwöre ich dir bei dem Grabe meines Vaters, dich dem Leben und der Reue zurückzugeben.

 

Bei dein Grabe deines Vaters! sagte Caderousse, wiederbelebt durch einen letzten Lebensfunken und sich aufrichtend, um den Mann näher anzuschauen, der ihm diesen allen Menschen heiligen Eid geleistet hatte? aber, wer bist du denn?

 

Der Graf hatte unablässig die Fortschritte des Todeskampfes verfolgt. Er begriff, daß dies das letzte Aufflackern war, näherte sich dem Sterbenden, betrachtete ihn mit einem ruhigen und zugleich traurigen Blicke und sagte ihm in das Ohr: Ich bin …

 

Und seine kaum geöffneten Lippen ließen einen Namen durchschlüpfen, der so leise gesprochen wurde, daß es schien, als hätte der Graf selbst Furcht, ihn zu hören.

 

Caderousse, der sich auf die Knie erhoben hatte, streckte die Arme aus, machte einen Versuch, zurückzuweichen, faltete sodann die Hände, hob sie mit einer äußersten Anstrengung zum Himmel empor und sprach: Oh! mein Gott! mein Gott! vergib mir, daß ich dich verleugnet habe; du bestehst, du bist der Vater der Menschen im Himmel und der Richter der Menschen auf Erden. Mein Gott und Herr, ich habe dich lange Zeit mißkannt! Mein Gott und Herr, vergib mir! Mein Gott und Herr, nimm mich auf!

 

Und die Augen schließend, fiel Caderousse mit einem letzten Schrei und einem letzten Seufzer zurück. – Er war tot.

 

Einer! sagte geheimnisvoll der Graf, die Augen auf den entstellten Leichnam geheftet.

 

Zehn Minuten nachher kamen der Arzt und der Staatsanwalt und wurden von dem Abbé Busoni, der bei dem Toten betete, empfangen.

 

Beauchamp.

 

Beauchamp.

 

Vierzehn Tage lang war in Paris nur von diesem verwegenen Diebstahlsversuche die Rede; der Sterbende hatte eine Erklärung unterschrieben, die Benedetto als Mörder bezeichnete.

 

Caderousses Messer, die Blendlaterne, der Schlüsselbund und die Kleider, ohne die Weste, die man nicht finden konnte, wurden in der Gerichtskanzlei niedergelegt, während man den Leichnam nach der Morgue brachte.

 

Der Graf antwortete auf alle Fragen, die Begebenheit sei vorgefallen, während er in seinem Hause in Auteuil gewesen, und er wisse nur, was ihm der Abbé Busoni gesagt, der ihn an diesem Abend ganz zufällig gebeten habe, die Nacht bei ihm zubringen zu dürfen, um in einigen Büchern seiner Bibliothek Studien zu machen.

 

Bertuccio allein erbleichte, so oft der Name Benedetto in seiner Gegenwart ausgesprochen wurde; aber seine Blässe blieb unbeachtet.

 

Auf den Schauplatz des Verbrechens gerufen, bemächtigte sich Villefort der Angelegenheit und führte die Untersuchung mit dem leidenschaftlichen Eifer, mit dem er in allen Kriminalfällen zu Werke ging. Doch es verliefen drei Wochen, ohne daß die tätigsten Nachforschungen irgend ein Resultat herbeiführten, und man fing an, den Diebstahlsversuch und die Ermordung des Diebes zu vergessen, um sich mit der nahe bevorstehenden Verheiratung des Grafen Andrea Cavalcanti mit Fräulein Danglars zu beschäftigen. Diese Heirat war angekündigt, und der junge Mann wurde im Hause des Bankiers als Bräutigam empfangen.

 

Man hatte an Herrn Cavalcanti Vater geschrieben, der die Heirat durchaus billigte und, während er sein ganzes Bedauern darüber ausdrückte, daß ihn sein Dienst verhindere, Parma zu verlassen, sich bereit erklärte, das Kapital von hundertundfünfzigtausend Franken Rente zu geben.

 

Es war verabredet, daß die drei Millionen bei Danglars angelegt werden sollten. Einige Personen versuchten zwar, dem jungen Manne Zweifel über die finanziellen Verhältnisse seines zukünftigen Schwiegervaters einzuflößen, der seit einiger Zeit wiederholte Verluste an der Börse erlitten habe; aber mit einer erhabenen Uneigennützigkeit und einem edlen Vertrauen wies der junge Mann diese Einflüsterungen zurück, von denen er aus Zartgefühl dem Baron kein Wort sagte.

 

Der Baron betete auch den Grafen Andrea Cavaleanti an. Von Fräulein Eugenie konnte man nicht das gleiche sagen. In ihrem instinktartigen Hasse gegen die Ehe hatte sie sich Andreas als eines Mittels, Morcerf zu entfernen, bedient; nun aber, da sich Andrea ihr zu sehr näherte, fing sie an, einen sichtbaren Widerwillen gegen ihn zu empfinden. Vielleicht hatte es der Baron bemerkt. Er stellte sich aber, als bemerkte er nichts.

 

Mittlerweile war die Beauchamp gewährte Frist abgelaufen. Morcerf hatte übrigens jetzt erkannt, daß Monte Christos Rat, die Sache auf sich beruhen zu lassen, gut gewesen war; denn niemand hatte die Mitteilung auf den General bezogen, kein Mensch hatte daran gedacht, in dem Offizier, der das Schloß von Janina ausgeliefert, den edlen in der Pairskammer sitzenden Grafen zu erkennen.

 

Aber Albert fühlte sich darum nicht minder beleidigt, denn die Absicht der Beleidigung lag offenbar vor. Überdies hatte die Art und Weise, wie Beauchamp bei ihrer Besprechung verfahren war, eine bittere Erinnerung in seinem Innern zurückgelassen. Beauchamp selbst hatte man seit dem Tage, an dem ihm Albert den Besuch gemacht, nicht wiedergesehen, und fragte man nach ihm, so hieß es, er sei auf kurze Zeit verreist.

 

Eines Morgens wurde Albert durch seinen Kammerdiener aufgeweckt, der ihm Beauchamp meldete.

 

Albert rieb sich die Augen, befahl, Beauchamp in seinem kleinen Rauchsalon im Erdgeschoß warten zu lassen, kleidete sich rasch an und ging hinab. Beauchamp schritt im Zimmer auf und ab, blieb aber, als er Morcerf erblickte, stehen.

 

Der Schritt, den Sie tun, indem Sie sich freiwillig und ohne den Besuch abzuwarten, den ich Ihnen heute zugedacht hatte, bei mir einfinden, scheint mir ein gutes Vorzeichen zu sein, sagte Albert; reden Sie geschwind, darf ich Ihnen die Hand reichen und sagen: Beauchamp, gestehen Sie ein Unrecht und bewahren Sie mir einen Freund? Oder muß ich ganz einfach fragen: Welche Waffen wählen Sie?

 

Albert, erwiderte Beauchamp traurig, wir wollen uns setzen und miteinander reden.

 

Es scheint mir im Gegenteil, mein Herr, daß Sie mir zu antworten haben, ehe wir uns setzen.

 

Albert, erwiderte der Journalist, es gibt Umstände, wo die Schwierigkeit gerade in der Antwort liegt.

 

Ich werde sie Ihnen leicht machen, mein Herr, indem ich Ihnen die Frage wiederhole: Wollen Sie zurücknehmen, ja oder nein?

 

Morcerf, man begnügt sich nicht, ja oder nein auf Fragen zu antworten, bei denen es sich um die Ehre, die gesellschaftliche Stellung, das Leben eines Mannes, wie des Herrn Generalleutnants Grafen von Morcerf, Pairs von Frankreich, handelt.

 

Was tut man denn?

 

Man tut, was ich getan habe, Albert; man sagt: Geld, Zeit und Anstrengung kommen nicht in Betracht, wenn Ruf und Interessen einer Familie auf dem Spiele stehen. Man sagt: Man braucht mehr als Wahrscheinlichkeit, man braucht Gewißheit, um ein Duell auf Leben und Tod mit einem Manne anzunehmen, dem man drei Jahre lang die Hand gereicht hat; man sagt: Kreuze ich den Degen, oder feure ich eine Pistole auf einen Freund ab, so muß ich mit dem ruhigen Herzen und dem lauteren Gewissen kommen, dessen ein Mann bedarf, wenn sein Arm ihm sein Leben retten soll.

 

Nun! fragte Morcerf ungeduldig, was soll das bedeuten?

 

Das soll bedeuten, daß ich von Jannia komme.

 

Von Janina? Unmöglich!

 

Mein lieber Albert, hier ist mein Paß; sehen Sie die Stempel: Genf, Mailand, Venedig, Triest, Delvino, Janina.

 

Albert schaute auf den Paß und sah dann wieder erstaunt zu Beauchamp auf.

 

Albert, wären Sie für mich ein Fremder, ein Unbekannter, so würde ich mir, wie Sie wohl begreifen, keine solche Mühe gegeben haben; aber ich dachte, ich sei Ihnen dieses Zeichen der Achtung schuldig. Ich brauchte acht Tage zur Reise nach Janina, acht Tage zur Rückkehr. Dazu kamen vier Tage Quarantäne und achtundvierzig Stunden Aufenthalt; das macht gerade drei Wochen. Ich bin in dieser Nacht angekommen und stehe nun vor Ihnen.

 

Mein Gott, wie viele Umschweife, Beauchamp, warum zögern Sie, mir zu sagen, was ich von Ihnen erwarte?

 

Es ist in der Tat …

 

Man sollte glauben, Sie hätten Furcht, zu gestehen, daß Ihr Korrespondent Sie getäuscht hat. – Nein.

 

Oh! keine Eitelkeit, Beauchamp, gestehen Sie immerhin, Ihr Mut kann nicht in Zweifel gezogen werden.

 

Oh! das ist es nicht, murmelte der Journalist; im Gegenteil …

 

Albert erbleichte furchtbar; er versuchte zu sprechen, aber das Wort erstarb auf seiner Zunge.

 

Mein Freund, sagte Beauchamp mit dem liebevollsten Tone, glauben Sie mir, ich wäre glücklich, Ihnen meine Entschuldigungen bieten zu können, und ich böte sie Ihnen von ganzem Herzen; aber ach! …

 

Was aber? – Die Meldung hatte recht, mein Freund.

 

Wie! der französische Offizier … dieser Fernand?

 

Ja.

 

Dieser Verräter, der die Schlösser des Mannes übergeben hat, in dessen Diensten er stand …

 

Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen sage, was ich Ihnen sagen muß, dieser Mann ist Ihr Vater!

 

Albert machte eine wütende Bewegung, um sich auf Beauchamp zu stürzen; doch dieser hielt ihn mehr noch durch einen sanften Blick, als durch seine ausgestreckte Hand zurück.

 

Hier, mein Freund, sagte er, ein Papier aus seiner Tasche ziehend, hier ist der Beweis.

 

Albert öffnete das Papier; es war eine Erklärung von vier angesehenen Bewohnern Janinas, die bestätigten, daß der Oberst Fernand Mondego, Instruktor im Dienste des Wesirs Ali Tependelini, das Schloß von Janina gegen zweitausend Beutel übergeben habe. – Die Unterschriften waren durch den Konsul beglaubigt.

 

Albert wankte und fiel wie vernichtet auf einen Stuhl.

 

Nach einem kurzen, schmerzlichen Stillschweigen schwoll ihm das Herz und ein Tränenstrom entstürzte seinen Augen.

 

Beauchamp schaute den jungen Mann, der sich dem Übermaß des Schmerzes hingab, mit tiefem Mitleid an, näherte sich ihm und sagte: Albert, nicht wahr, Sie begreifen mich nun? Ich wollte alles sehen, alles selbst beurteilen, in der Hoffnung, die Erklärung würde günstig für Ihren Vater ausfallen, und ich könnte ihm volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Doch die Erkundigungen, die ich einzog, bestätigten im Gegenteil, daß dieser von Ali Pascha zum Generalgouverneur erhobene Fernand Mondego kein anderer ist, als der Graf von Morcerf. Da kehrte ich zurück und erinnerte mich der Ehre, die Sie mir angetan, mich unter Ihre Freunde zu zählen, und eilte zu ihnen.

 

Auf seinem Lehnstuhle ausgestreckt, hielt Albert seine Hände vor die Augen.

 

Ich eilte zu Ihnen, fuhr Beauchamp fort, um Ihnen zu sagen: Albert, die Fehler unserer Väter in diesen wilden Zeiten können die Kinder nicht berühren. Sehr wenige haben die Revolutionen, in deren Mitte wir geboren sind, durchgemacht, ohne daß Kot oder Blut ihre Uniform oder ihr Richterkleid befleckt hätte. Albert, nun, da ich alle Beweise habe, nun, da ich Herr Ihres Geheimnisses bin, kann mich niemand in der Welt zu einem Zweikampfe zwingen, den Ihnen, ich bin davon fest überzeugt, Ihr Gewissen als ein Verbrechen vorwerfen würde; aber was Sie von mir verlangen können, biete ich Ihnen an. Sollen diese Beweise, diese Enthüllungen, diese Erklärungen verschwinden? Soll dieses furchtbare Geheimnis zwischen Ihnen und mir bleiben? Meinem Ehrenwort anvertraut, wird es nie über meine Lippen kommen; reden Sie, Freund, wollen Sie dies?

 

Albert warf sich ihm um den Hals und rief: Ah, edles Herz! – Nehmen Sie, sagte Beauchamp, indem er Albert die Papiere überreichte.

 

Albert ergriff die Papiere, preßte, zerknitterte sie mit krampfhafter Hand und wollte sie zerreißen; doch in der Furcht, es könnte das kleinste Teilchen, vom Winde fortgeweht, die Kunde weitertragen, verbrannte er sie bis auf das letzte Fetzchen an einer Kerze.

 

Teurer Freund! vortrefflicher Freund! murmelte Albert, während er die Papiere verbrannte.

 

Möge dies alles wie ein böser Traum vergessen werden, sagte Beauchamp, möge es erlöschen, wie diese Funken, möge alles verschwinden, wie der letzte Rauch, der aus der stummen Asche aufsteigt.

 

Ja, ja, sagte Albert, und es bleibe nur die ewige Freundschaft, die ich meinem Retter weihe; eine Freundschaft, die meine Kinder auf die Ihrigen übertragen werden; eine Freundschaft, die mich stets daran erinnern soll, daß ich das Blut meiner Adern, das Leben meines Körpers, die Ehre meines Namens Ihnen zu verdanken habe, denn wenn eine solche Sache bekannt geworden wäre, oh! Beauchamp, ich würde mir die Hirnschale zerschmettert haben, … oder, nein, arme Mutter, denn ich hätte dich nicht mit demselben Schlage töten wollen, mit dem ich mich von dieser Welt verbannte.

 

Doch bald verlor sich wieder diese plötzliche Aufwallung, und Albert verfiel abermals in Traurigkeit.

 

Nun? fragte Beauchamp, was gibt es denn noch?

 

Es ist mir, als sei mir etwas vom Herzen gebrochen, antwortete Albert. Hören Sie, Beauchamp, man kann sich nicht so im Nu von der Achtung, von dem Vertrauen, von dem Stolze trennen, den der fleckenlose Name eines Vaters seinem Sohne einflößt. Oh! Beauchamp, Beauchamp! wie werde ich nun meinem Vater ansehen? Werde ich meine Stirn zurückziehen, wenn er ihr seine Lippen, meine Hand, wenn er ihr seine Hand nähert? Oh, Beauchamp, ich bin der unglücklichste Mensch. Ah! meine Mutter, meine arme Mutter! rief Albert durch seine in Tränen gebadeten Augen das Portrait seiner Mutter anschauend; wenn du das gewußt, wieviel hättest du leiden müssen!

 

Auf, Mut gefaßt, mein Freund! sagte Beauchamp, ihn bei den Händen fassend.

 

Aber woher kam die Meldung in Ihrer Zeitung? Dahinter steckt ein unbekannter Haß, ein unsichtbarer Feind.

 

Wohl! ein Grund mehr. Mut gefaßt, Albert! keine Spuren von Aufregung auf Ihrem Gesichte! Bewahren Sie Ihre Kräfte, mein Freund, bis zu dem Augenblicke, wo der Ausbruch erfolgt!

 

Oh! Sie glauben also, wir seien noch nicht am Ziele? – Ich glaube nichts, mein Freund; doch es ist am Ende alles möglich; sagen Sie mir, heiraten Sie noch Fräulein Danglars?

 

Warum fragen Sie mich dies im Augenblick, Beauchamp?

 

Weil mir die Antwort darauf mit dem Gegenstande, der uns zu dieser Stunde beschäftigt, in Verbindung zu stehen scheint.

 

Wie? rief Albert, dessen Stirn sich entflammte, Sie glauben, Herr Danglars …

 

Ich frage Sie nur, wie es sich mit Ihrer Heirat verhält. Sehen Sie in meinen Worten nichts anderes, als das, was ich darein legen will, und geben Sie ihnen nicht mehr Gewicht, als sie haben.

 

Nein, erwiderte Albert, die Heirat ist abgebrochen.

 

Gut, sagte Beauchamp. Als er aber sah, daß der junge Mann wieder in seine Schwermut verfiel, fügte er hinzu: Glauben Sie mir, es wird das beste sein, wir gehen ins Freie. Eine Fahrt nach dem Walde oder ein Spazierritt wird Sie zerstreuen; wir frühstücken bei unserer Rückkehr irgendwo, Sie gehen an Ihre Geschäfte und ich an die meinigen.

 

Gern, erwiderte Albert, wir gehen zu Fuß aus, ich denke, etwas Anstrengung wird mir gut tun. – Es sei.

 

Die Freunde gingen auf den Boulevard. Als sie die Madeleine erreicht hatten, sagte Beauchamp: Hören Sie, da wir auf dem Wege sind, wollen wir doch Herrn von Monte Christo besuchen; er wird Sie zerstreuen, denn er versteht es bewunderungswürdig, die Geister zu beschwichtigen, indem er nie fragt. Meiner Ansicht nach sind die Leute, die nie fragen, die besten Tröster.

 

Gut, lassen Sie uns zu ihm gehen!