-Kapitelname unbekannt-

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Der Graf von Monte Christo. Vierter Band.






Wie man einen Gärtner von den Murmeltieren befreit, die seine Pfirsiche fressen.

 

Wie man einen Gärtner von den Murmeltieren befreit, die seine Pfirsiche fressen.

Nicht an demselben Abend, wie er gesagt hatte, aber am andern Morgen verließ der Graf von Monte Christo Paris und zwar durch das Höllentor, schlug den Weg nach Orléans ein, fuhr durch das Dorf Linas, ohne bei der Telegraphenstation anzuhalten, und erreichte den Turm von Monthléry.

 

Am Fuße des Hügels sprang er aus dem Wagen und erstieg dann auf einem ringsherum führenden, achtzehn Zoll breiten Fußpfade die Anhöhe, sah sich aber auf dem Gipfel durch eine Hecke aufgehalten.

 

Monte Christo suchte die Tür des kleinen Geheges und fand sie auch sogleich. Es war ein hölzernes Gatter, das statt durch Angeln mit Weidenruten befestigt war und mittelst eines Nagels und eines Bindfadens geschlossen wurde. Der Graf begriff im Nu den Mechanismus, und die Tür öffnete sich.

 

Der Eindringling befand sich nun in einem kleinen, zwanzig Fuß langen und zwölf Fuß breiten Garten, der auf der einen Seite durch den alten, ganz mit Efeu umgürteten und von Mauernelken übersäten Turm begrenzt war. Man ging durch diesen Garten, indem man einem vielfach geschlängelten, mit rotem Sande bestreuten Wege folgte, an dem sich eine mehrere Jahre alte Buchsbaumeinfassung hinzog. Nie ist Flora durch einen so sorglichen und reinen Kultus geehrt worden, wie man ihr ihn in diesem kleinen Gehege angedeihen ließ.

 

In der Tat, keiner von den zwanzig Rosenstöcken, die auf dem Blumenbeet standen, zeigte auf einem seiner Blätter die Spur von Käfern oder Blattläusen, welche sonst die auf feuchtem Boden wachsenden Pflanzen zernagen. Und dennoch fehlte es dem Garten nicht an Feuchtigkeit; die rußschwarze Erde, das undurchsichtige Laubwerk der Bäume ließen daran nicht zweifeln. Aus den Wegen war sorgsam jedes Gräslein entfernt und jedes Unkraut von den Beeten.

 

Monte Christo blieb stehen, nachdem er die Tür, den Bindfaden am Nagel befestigend, wieder geschlossen hatte. Es scheint, der Telegraphist hält sich einen eigenen Gärtner, sagte der Graf, oder er widmet sich selbst leidenschaftlich der Gärtnerei. Plötzlich stieß er an einen Gegenstand, der hinter einem mit Blätterwerk beladenen Schubkarren kauerte; dieser Gegenstand erhob sich, es entschlüpfte ihm ein Ausruf des Erstaunens, und Monte Christo stand einem Manne von etwa fünfzig Jahren gegenüber, der Erdbeeren pflückte und diese auf Weinblätter legte.

 

Er hatte zwölf Weinblätter und beinahe ebensoviele Erdbeeren.

 

Sie halten Ihre Ernte, mein Herr? sagte Monte Christo lächelnd.

 

Verzeihen Sie, mein Herr, erwiderte der gute Mann, mit der Hand nach seiner Mütze greifend, ich bin allerdings nicht oben an meinem Posten, komme aber in diesem Augenblicke erst herab.

 

Ich will Sie durchaus nicht in Ihrer Beschäftigung stören, erwiderte der Graf, pflücken Sie ruhig Ihre Erdbeeren.

 

Ich bitte noch einmal um Vergebung, mein Herr; ich lasse vielleicht einen Vorgesetzten warten? sagte der Mann und betrachtete mit ängstlichem Blicke den Grafen und seinen blauen Frack.

 

Seien Sie unbesorgt, mein Freund, entgegnete Monte Christo mit jenem Lächeln, das einen so wohlwollenden, aber, wenn er wollte, auch einen so furchtbaren Eindruck machte, und das diesmal nur Wohlwollen ausdrückte, ich bin kein Vorgesetzter, der hier erscheint, um Sie zu inspizieren, sondern ein einfacher Reisender, der, von der Neugierde zu Ihnen geführt, es sich zum Vorwurfe macht, daß er Ihnen Ihre kostbare Zeit raubt.

 

Oh! meine Zeit ist nicht kostbar, versetzte der gute Mann mit schwermütigem Lächeln. Doch gehört meine Zeit der Regierung, und ich sollte sie nicht verlieren; doch kann ich, bis ein Signal ertönt, ruhig im Garten bleiben … Würden Sie übrigens glauben, mein Herr, daß die Murmeltiere mir meine Erdbeeren wegfressen? fügte er mit sonderbarem Gedankensprunge hinzu.

 

Meiner Treu, nein, das hätte ich nicht geglaubt, erwiderte mit ernstem Ton Monte Christo; diese Murmeltiere sind schlimme Nachbarn für uns, die wir sie nicht essen, wie dies die Römer taten.

 

Ah! die Römer aßen sie, rief der Gärtner, sie aßen Murmeltiere?

 

Das erzählen uns die alten Schriftsteller, sagte der Graf.

 

Wirklich? Das kann nichts Gutes sein, obgleich man sagt: Fett wie ein Murmeltier. Und man darf sich nicht wundern, daß die Murmeltiere fett sind, denn sie schlafen den lieben langen Tag und wachen nur auf, um die ganze Nacht hindurch zu nagen. Sehen Sie, im letzten Jahre hatte ich vier Aprikosen; sie stahlen mir eine von den vieren. Ich hatte einen Blutpfirsich, einen einzigen, es ist gewiß eine seltene Frucht; nun, mein Herr, sie fraßen mir die Hälfte weg, auf der Mauerseite; es war ein herrlicher vortrefflicher Blutpfirsich; ich habe nie einen besseren gegessen.

 

Sie haben ihn gegessen? fragte der Graf.

 

Das heißt, Sie verstehen, die übrig gebliebene Hälfte. Ah! verdammt, diese Spitzbuben wählen sich nicht die schlechtesten Stücke. Doch in diesem Jahr, fuhr der Gartenfreund fort, wird mir das nicht wieder begegnen, und sollte ich die Früchte, bis sie vollends reif sind, die ganze Nacht hindurch hüten müssen.

 

Monte Christo hatte genug gesehen. Jeder Mensch hat seine Leidenschaft, die sich in seinem Herzen festsetzt, wie der Wurm in der Frucht; die des Telegraphisten war die Gärtnerei.

 

Er fing an, die Weinblätter abzupflücken, welche die Trauben vor der Sonne verbargen, und gewann sich dadurch das Herz des Gärtners.

 

Der Herr ist wohl gekommen, um den Telegraphen zu sehen? fragte dieser.

 

Ja, mein Herr, wenn es nicht durch die Vorschriften verboten ist?

 

Oh! nicht im geringsten, da ja keine Gefahr dabei ist und auch niemand weiß oder wissen kann, was wir telegraphieren. Ist es Ihnen gefällig, mit mir hinaufzugehen?

 

Ich folge Ihnen.

 

Monte Christo trat in den in drei Stockwerke abgeteilten Turm; der unterste enthielt einiges Gartengerät, wie Spaten, Rechen, Gießkannen. Der zweite diente dem Angestellten als Wohn- und Schlafraum; er enthielt einen armseligen Hausrat, ein Bett, einen Tisch, zwei Stühle, ein steinernes Waschbecken und an der Decke getrocknete Kräuter, in denen der Graf spanische Bohnen und wohlriechende Erbsen erkannte. Es war alles so sorgfältig mit Etiketten versehen, wie im Pariser Botanischen Garten.

 

Braucht man viel Zeit, um telegraphieren zu lernen? fragte Monte Christo.

 

Das Studium dauert nicht lange, wohl aber die Zeit, die man als überzählig zu dienen hat.

 

Und wieviel erhält man Gehalt?

 

Tausend Franken, mein Herr.

 

Das ist nicht viel.

 

Nein, aber man hat freie Wohnung, wie Sie sehen.

 

Monte Christo betrachtete sich das Zimmer.

 

Wenn er nur nicht zu große Stücke auf seine Wohnung hält, murmelte er.

 

Sie gingen in den dritten Stock, wo sich das Telegraphenzimmer befand. Monte Christo schaute den zierlichen Apparat an. Das ist sehr interessant, sagte er, aber in der Länge der Zeit muß Ihnen ein solches Leben etwas einförmig erscheinen.

 

Ja, am Anfang, doch nach Verlauf von ein paar Jahren ist man daran gewöhnt, und während meiner freien Zeit gehe ich meiner Lieblingsbeschäftigung, der Gärtnerei, nach, pflanze, schneide, raupe, und so bleibe ich vor Langeweile bewahrt.

 

Seit wie lange sind Sie hier?

 

Seit zehn Jahren, und fünf Jahre als Überzähliger, das macht fünfzehn.

 

Wie lange müssen Sie dienen, um Ruhegehalt zu bekommen?

 

Oh! Herr, fünfundzwanzig Jahre.

 

Und wieviel beträgt dieser Ruhegehalt?

 

Hundert Taler.

 

Arme Menschheit! murmelte Monte Christo.

 

Was sagen Sie, mein Herr? fragte der Mann.

 

Ich sage, es sei alles sehr interessant, was Sie mir zeigen … setzt sich nicht soeben die Mechanik Ihres Apparates in Bewegung?

 

Ah! es ist wahr, mein Herr.

 

Und was sagt Ihnen Ihr Korrespondent?

 

Er fragt mich, ob ich bereit sei, und wird sogleich eine Nachricht telegraphieren, die ich an die nächste Station weiterzubefördern habe.

 

Mein lieber Herr, sagte Monte Christo, Sie lieben die Gärtnerei?

 

Leidenschaftlich.

 

Und Sie wären glücklich, wenn Sie statt einer Terrasse von zwanzig Fuß ein Grundstück von zwei Morgen hätten?

 

Mein Herr, ich würde ein irdisches Paradies daraus machen.

 

Mit Ihren tausend Franken leben Sie schlecht?

 

Ziemlich schlecht; doch ich lebe.

 

Ja; aber Sie haben einen elenden Garten.

 

Es ist wahr, der Garten ist nicht groß.

 

Und dabei noch voll von Murmeltieren, die alles auffressen. – Sagen Sie mir, wenn Sie das Unglück hätten, ein Telegramm zu übersehen, was geschähe dann?

 

Ich würde wegen Nachlässigkeit um Geld gestraft.

 

Um wieviel?

 

Um hundert Franken, den zehnten Teil meines Einkommens.

 

Ist Ihnen das schon begegnet? fragte Monte Christo.

 

Einmal, mein Herr, während ich einen Rosenstock pfropfte.

 

Gut. Wenn es Ihnen nun einfiele, etwas an dem Texte zu ändern oder ein anderes Telegramm dafür einzusetzen?

 

Dann würde ich entlassen und verlöre mein Ruhegehalt. Sie begreifen daher, mein Herr, daß ich nie etwas dergleichen tun würde.

 

Nicht einmal für fünfzehn Jahre Ihres Gehaltes?

 

Für 15 000 Franken? Mein Herr, Sie erschrecken mich.

 

Bah!

 

Mein Herr, Sie wollen mich in Versuchung führen?

 

Ganz richtig! Für 15 000 Franken, begreifen Sie?

 

Mein Herr, lassen Sie mich nach meinem Apparat schauen!

 

Im Gegenteil schauen Sie nicht nach ihm, sondern schauen Sie dies an. Kennen Sie diese Papierchen nicht?

 

Banknoten!

 

Ja, Tausender; es sind fünfzehn.

 

Wem gehören sie?

 

Ihnen, wenn Sie wollen.

 

Mir! rief der Telegraphist zitternd.

 

Mein Gott! ja, Ihnen, als freies Eigentum.

 

Mein Herr, sehen Sie, mein Apparat arbeitet.

 

Lassen Sie ihn arbeiten.

 

Mein Herr, Sie haben mich aufgehalten, und ich werde gestraft.

 

Das kostet Sie hundert Franken; Sie begreifen, Sie haben alles Interesse daran, meine fünfzehn Banknoten zu nehmen. Der Graf legte das Päckchen in die Hand des Angestellten. Doch das ist noch nicht alles, sagte er; mit Ihren 15 000 Franken können Sie nicht leben.

 

Ich werde immerhin noch meinen Platz haben.

 

Nein, Sie werden ihn verlieren; denn Sie befördern ein anderes Telegramm, als das Ihres Korrespondenten.

 

Oh! mein Herr, was verlangen Sie von mir?

 

Monte Christo zog aus seiner Tasche ein zweites Päckchen und sagte: Hier sind noch weitere 10 000 Franken; mit denen, die Sie in der Tasche haben, macht das 25 000 Franken; mit 5000 Franken kaufen Sie ein hübsches Häuschen und zwei Morgen Land, aus den weiteren 20 000 Franken ziehen Sie eine Rente von 1000 Franken.

 

Einen Garten von zwei Morgen?

 

Und tausend Franken Rente.

 

Mein Gott! mein Gott!

 

So nehmen Sie doch! Und Monte Christo steckte mit Gewalt die zehntausend Franken in die Hand des Angestellten.

 

Was soll ich tun?

 

Dieses Telegramm weiter befördern. Monte Christo zog aus seiner Tasche ein Papier, auf dem sich in deutlicher Schrift der Text befand. Das ist schnell getan, wie Sie sehen.

 

Ja, aber …

 

Dafür haben Sie sodann Blutpfirsiche und Gott weiß was.

 

Dieser Streich wirkte. Rot vor fieberhafter Aufregung und dicke Tropfen schwitzend, beförderte der gute Mann das Telegramm, das für das Ministerium des Innern bestimmt war.

 

Nun sind Sie reich, sagte Monte Christo.

 

Ja, erwiderte der Gartenfreund, aber um welchen Preis?

 

Hören Sie, mein Freund, Sie sollen keine Gewissensbisse haben; glauben Sie mir, ich schwöre Ihnen, Sie haben niemand geschadet.

 

Der Angestellte betrachtete die Banknoten, befühlte und zählte sie; er wurde bleich, er wurde rot; endlich stürzte er halb ohnmächtig in sein Zimmer, um ein Glas Wasser zu trinken.

 

Fünf Minuten, nachdem die telegraphische Nachricht im Ministerium des Innern angelangt war, ließ Debray anspannen und eilte zu Danglars. Ihr Gatte hat spanische Anleihwerte? sagte er zur Baronin.

 

Ich glaube wohl! Er hat für sechs Millionen.

 

Er soll sie um jeden Preis verkaufen; Don Carlos ist aus Bourges entflohen und nach Spanien zurückgekehrt.

 

Woher wissen Sie dies?

 

Bei Gott! Wie man Nachrichten erfährt, erwiderte Debray, die Achseln zuckend.

 

Die Baronin ließ sich das nicht zweimal sagen; sie lief zu ihrem Manne, der seinerseits zu seinem Wechselagenten eilte und ihm den Auftrag gab, um jeden Preis zu verkaufen.

 

Als man sah, daß Danglars verkaufte, fielen die spanischen Papiere sogleich. Danglars verlor dabei 500 000 Franken, doch er entäußerte sich aller seiner spanischen Papiere.

 

Am Abend las man im Messager:

 

Telegraphische Depesche.

 

Don Carlos ist der Überwachung, unter der er stand, in Bourges entgangen und über die katalonische Grenze nach Spanien zurückgekehrt. Barcelona hat sich für ihn erhoben.

 

Den ganzen Abend hindurch war nur von der Vorsicht Danglars‘, der seine Spanier verkauft hatte, und von seinem Glücke als Börsenhändler die Rede, weil er bei einem solchen Schlage nur fünfmalhunderttausend Franken verlor.

 

Diejenigen, die ihre Papiere behalten oder die Danglars‘ gekauft hatten, wähnten sich ruiniert und brachten eine sehr schlimme Nacht zu.

 

Am andern Morgen las man im Moniteur:

 

Ohne allen Grund hat der Messager gestern die Flucht des Don Carlos und den Ausstand in Barcelona gemeldet. Eine falsche telegraphische Depesche veranlaßte die irrtümliche Nachricht.

 

Die Fonds stiegen wieder um das Doppelte.

 

Dies machte an Verlust und entgangenem Gewinn für Danglars eine Ziffer von einer Million.

 

Gut! sagte Monte Christo zu Morel, der sich in dem Augenblick bei ihm befand, wo man ihm den seltsamen Börsenumschlag meldete, dessen Opfer Danglars geworden war, ich habe für fünfundzwanzigtausend Franken eine Entdeckung gemacht, für die ich hunderttausend bezahlt hätte.

 

Was haben Sie denn entdeckt? fragte Morel.

 

Das Mittel, wie man einen Gärtner von den Murmeltieren befreit, die seine Pfirsiche fressen.

 

Der Ball.

 

Der Ball.

 

Es waren die heißesten Julitage angebrochen, als der Sonnabend erschien, an dem der Ball des Herrn von Morcerf stattfinden sollte. Es schlug zehn Uhr abends. In den unteren Sälen des Hotels hörte man die Musik rauschen, während blendende, scharfe Lichtstreifen durch die Öffnungen der Läden drangen.

 

Der Garten war in diesem Augenblick einem Dutzend Bedienten überlassen, denen die Gebieterin des Hauses den Befehl gegeben hatte, hier das Abendessen herzurichten. Man beleuchtete die Alleen des Gartens mit farbigen Lampen und stellte mit feinem Verständnis Kerzen und Blumen in großer Zahl auf die Tafel.

 

In dem Augenblick, als die Gräfin von Morcerf, nachdem sie ihre letzten Befehle gegeben hatte, zurückkehrte, begannen sich ihre Salons, mit Gästen zu füllen, die sowohl die bezaubernde Gastfreundschaft der Gräfin, als die ausgezeichnete Stellung des Grafen anlockte; denn man war zum voraus gewiß, dieses Fest würde bei Mercedes‘ gutem Geschmacke manches Neue und Schöne bringen.

 

Frau Danglars, die infolge der bekannten Ereignisse eine tiefe Unruhe empfand, wollte nicht zu Frau von Morcerf gehen, doch am Morgen begegnete sie bei ihrer Ausfahrt Herrn von Villefort, der ihr zurief: Nicht wahr, Sie gehen zu Frau von Morcerf?

 

Nein, antwortete Frau Danglars, ich bin zu leidend.

 

Sie haben unrecht, entgegnete Villefort mit einem bezeichnenden Blicke. Es wäre gut, man sähe sie dort.

 

Ah! Sie glauben? fragte die Baronin. Dann gehe ich.

 

Und ihr Wagen fuhr in entgegengesetzter Richtung weiter. Frau Danglars strahlte, als sie erschien, nicht nur durch ihre eigene Schönheit, sondern blendete auch durch Luxus. Sie trat durch eine Tür in dem Augenblick ein, wo Mercedes durch die andere eintrat.

 

Die Gräfin schickte Albert der Dame entgegen. Albert ging auf die Baronin zu, machte ihr die wohlverdienten Komplimente über ihre Toilette und bot ihr den Arm, um sie nach dem Platze zu führen, den sie nach ihrem Belieben wählen sollte. Albert schaute umher. Sie suchen meine Tochter? sagte lächelnd die Baronin.

 

Ich gestehe es, sprach Albert, sollten Sie die Grausamkeit gehabt haben, Sie nicht mitzubringen?

 

Beruhigen Sie sich, sie hat Fräulein von Villefort getroffen und ihren Arm genommen; sehen Sie, sie folgen uns beide in weißen Kleidern, die eine mit einem Strauße von Kamelien, die andere mit einem Strauße von Vergißmeinnicht. Aber sagen Sie mir doch, werden Sie heute abend den Grafen von Monte Christo nicht hier haben?

 

Siebenzehn; antwortete Albert.

 

Was wollen Sie damit sagen?

 

Ich will sagen, versetzte der Vicomte lachend, daß Sie die siebenzehnte Person sind, welche diese Frage an mich richtet; der Graf hat Glück … ich mache ihm mein Kompliment.

 

Und antworten Sie jedem wie mir?

 

Ah! es ist wahr, ich habe Ihnen noch nicht geantwortet; beruhigen Sie sich, gnädige Frau, wir werden den Mann der Mode haben, wir gehören zu seinen Bevorzugten.

 

Lassen Sie mich hier, und begrüßen Sie Frau von Villefort, sagte die Baronin, ich sehe, sie stirbt vor Verlangen, Sie zu sprechen. Albert verbeugte sich vor Frau Danglars und ging auf Frau von Villefort zu, die den Mund öffnete, während er sich ihr näherte.

 

Ich wette, sagte Albert, sie unterbrechend, ich wette, ich weiß, was Sie sagen wollen.

 

Ah! lassen Sie doch hören! rief Frau von Villefort.

 

Sie wollen mich fragen, ob der Graf von Monte Christo gekommen sei oder kommen werde?

 

Ich beschäftige mich in diesem Augenblick nicht mit ihm. Ich wollte Sie fragen, ob Sie Nachricht von Herrn Franz erhalten hätten?

 

Ja, gestern; er schrieb mir, er werde zu gleicher Zeit mit seinem Briefe abreisen.

 

Gut … Nun der Graf? …

 

Seien Sie unbesorgt, der Graf wird kommen.

 

Sie wissen, daß er einen andern Namen hat, als Monte Christo?

 

Nein, ich wußte es nicht.

 

Monte Christo ist der Name einer Insel; er ist Malteser.

 

Das ist möglich.

 

Er ist der Sohn eines Reeders.

 

In der Tat, Sie sollten dies laut erzählen, Sie würden das größte Aufsehen damit machen.

 

Er hat in Indien gedient, beutet ein Silberbergwerk in Thessalien aus und kommt nach Paris, um in Auteuil eine Anstalt für Mineralbäder zu gründen.

 

Ah! das lasse ich mir gefallen, das sind Neuigkeiten! Erlauben Sie mir, sie zu wiederholen?

 

Ja, doch allmählich, eine nach der andern, und ohne zu sagen, daß sie von mir kommen.

 

Warum?

 

Weil es ein der Polizei abgelauschtes Geheimnis ist.

 

Also kommen diese Neuigkeiten? …

 

Vom Präfekten. Paris ist, wie Sie leicht begreifen können, durch den Anblick dieses Luxus in Aufregung geraten, und die Polizei hat Erkundigungen eingezogen.

 

Es fehlte nur noch, daß man den Grafen wie einen Vagabunden unter dem Vorwande, er sei zu reich, verhaftete.

 

Meiner Treu, das hätte ihm wohl begegnen können, wenn die Nachrichten nicht so günstig gewesen wären.

 

Armer Graf! Und er vermutet die Gefahr nicht, der er preisgegeben ist!

 

Ich glaube nicht.

 

Dann ist es Pflicht der Nächstenliebe, ihn darauf aufmerksam zu machen. Ich werde bei seiner Ankunft nicht verfehlen, dies zu tun.

 

In dieser Sekunde verbeugte sich ein schöner junger Mann mit lebhaften Augen, schwarzen Haaren und glänzendem Schnurrbart vor Frau von Villefort. Albert reichte ihm die Hand und sagte: Gnädige Frau, ich habe die Ehre, Ihnen Herrn Maximilian Morel, Kapitän bei den Spahis, einen unserer guten und besonders unserer braven Offiziere, vorzustellen.

 

Ich habe bereits das Vergnügen gehabt, den Herrn in Auteuil bei dem Herrn Grafen von Monte Christo zu treffen, antwortete Frau von Villefort, sich mit auffallender Kälte abwendend. Diese Antwort und besonders der Ton, in dem sie gegeben wurde, schnürten dem armen Morel das Herz zusammen; doch es war ihm eine Entschädigung vorbehalten. Als er sich umdrehte, sah er unweit der Tür ein schönes, ernstes Gesicht, dessen blaue, große und scheinbar ausdruckslose Augen sich auf ihn hefteten, während der Vergißmeinnichtstrauß, den die Person hielt, langsam an die Lippen emporstieg.

 

Dieser Gruß wurde so gut verstanden, daß Morel mit derselben Miene sein Taschentuch seinem Mund näherte; und, durch die ganze Breite des Saales voneinander getrennt, vergaßen sich diese zu lebendigen Bildsäulen gewordenen beiden Menschen, deren Herz so rasch unter dem scheinbaren Marmor ihres Gesichtes schlug, einen Augenblick, oder sie vergaßen vielmehr die Welt in dieser stummen Betrachtung.

 

Sie hätten lange so ineinander verloren bleiben können, ohne daß es jemand bemerkt hätte; doch der Graf von Monte Christo trat eben ein.

 

Der Graf zog, wie gesagt, überall, wo er sich zeigte, die Aufmerksamkeit auf sich. Es war nicht sein allerdings dem Schnitte nach tadelloser, aber einfacher schwarzer Frack; es war nicht seine weiße Weste, nicht sein Beinkleid, das einen Fuß von der zartesten Form umhüllte, was die Aufmerksamkeit rege machte, nein, es waren seine schwarzen, wellenförmigen Haare, seine matte Gesichtsfarbe, sein ruhiges, reines Antlitz, sein tiefes, schwermütiges Auge, endlich sein mit wunderbarer Feinheit gezeichneter Mund, der so leicht den Ausdruck stolzer Verachtung annahm, was aller Blicke auf ihn zog.

 

Es mochten schönere Männer da sein, aber es war kein eigenartigerer da. Alles an dem Grafen wollte etwas sagen und hatte seinen Wert, denn die Gewohnheit guter Gedanken hatte seinen Zügen, dem Ausdrucke seines Gesichtes und seiner unbedeutendsten Gebärde eine unvergleichliche Feinheit und Festigkeit verliehen.

 

Die Zielscheibe aller Blicke und Grüße, schritt er auf Frau von Morcerf zu, die, vor dem mit Blumen geschmückten Kamine stehend, ihn in einem der Tür gegenüber angebrachten Spiegel erscheinen sah und sich zu seinem Empfang vorbereitete. Sie wandte sich mit einem bereit gehaltenen Lächeln in dem Augenblick gegen ihn um, wo er sich vor ihr verbeugte. Ohne Zweifel glaubte sie, der Graf würde mit ihr sprechen; ohne Zweifel glaubte er, sie würde das Wort an ihn richten. Doch sie blieben auf beiden Seiten stumm, so sehr kam beiden wahrscheinlich eine alltägliche Redensart unwürdig vor, und nach einer gegenseitigen Begrüßung wandte sich Monte Christo zu Albert, der mit offener Hand auf ihn zukam.

 

Sie haben meine Mutter gesehen? fragte Albert.

 

Soeben hatte ich die Ehre, sie zu begrüßen, sagte der Graf, doch Ihren Vater habe ich noch nicht wahrgenommen.

 

Er steht dort in jener kleinen Gruppe von großen Politikern.

 

In der Tat, sagte Monte Christo, die Herren, die ich dort sehe, sind große Politiker? Ich hätte es nicht vermutet.

 

In diesem Augenblick fühlte Morcerf, daß man eine Hand auf seinen Arm legte.

 

Ah, Sie sind es, Baron! sagte er.

 

Warum nennen Sie mich Baron? entgegnete Danglars; Sie wissen wohl, daß ich nichts auf meinen Titel halte. Es ist nicht wie bei Ihnen, Vicomte, nicht wahr, Sie halten darauf?

 

Allerdings, antwortete Albert, da ich, wenn ich nicht Vicomte wäre, gar nichts wäre, indes Sie Ihren Baronentitel opfern können und immer noch Millionär bleiben.

 

Was mir der schönste Titel unter dem Julikönigtum zu sein scheint, versetzte Danglars.

 

Leider, sagte Monte Christo, leider ist man nicht Millionär auf Lebenszeit, wie man Baron, Pair von Frankreich oder Akademiker ist? als Beweis hierfür dienen die Millionäre Frank und Pullmann in Frankfurt, die soeben Bankerott gemacht haben.

 

Wirklich? fragte Danglars erbleichend.

 

Meiner Treu, die Nachricht ist mir heute durch einen Kurier zugekommen; ich hatte so etwa eine Million bei ihnen; zu rechter Zeit benachrichtigt, forderte ich vor einem Monat Rückzahlung.

 

Mein Gott! versetzte Danglars, sie haben für 200 000 Franken auf mich gezogen.

 

Nun wissen Sie’s, ihre Unterschrift ist nicht mehr als fünf Prozent wert.

 

Ja, aber ich erfahre es zu spät, denn ich habe ihre Unterschrift honoriert.

 

Gut, sagte Monte Christo, das sind 200 000 Franken, die den anderen nach …

 

Still! flüsterte Danglars. Sprechen Sie davon nicht, am wenigsten in Gegenwart von Herrn Cavalcanti Sohn, fügte der Bankier hinzu, der bei diesen Worten sich lächelnd gegen den jungen Mann umwandte.

 

Morcerf hatte den Grafen verlassen, um mit seiner Mutter zu sprechen. Danglars verließ ihn, um Cavalcanti Sohn zu begrüßen. Monte Christo fand sich einen Augenblick allein.

 

Die Hitze sing indessen an, fürchterlich zu werden. Die Bedienten gingen in den Salons mit Platten umher, die mit Früchten und verschiedenem Eis bedeckt waren. Monte Christo trocknete sich mit dem Taschentuch sein von Schweiß übergossenes Gesicht; doch er wich zurück, als die Platten an ihm vorübergetragen wurden, und nahm nichts von den Erfrischungen.

 

Frau von Morcerf ließ mit ihren Blicken nicht von Monte Christo ab. Sie sah die Platte an ihm vorübergehen, ohne daß er sie berührte; sie faßte sogar die Bewegung auf, mit der er sich entfernte.

 

Albert, sagte sie, hast du bemerkt, daß der Graf nie etwas bei Herrn von Morcerf genießen wollte?

 

Ja, doch er hat an einem Frühstück bei mir teilgenommen.

 

Bei dir ist nicht bei dem Grafen, versetzte Mercedes, und ich beobachte ihn, seitdem er hier ist. – Nun? – Er hat noch nichts angenommen. – Der Graf ist sehr nüchtern. – Mercedes lächelte traurig. – Nähere dich ihm, sagte sie, und bei der ersten Platte, die herumgereicht wird, dringe in ihn. – Warum das, meine Mutter? – Mache mir das Vergnügen, Albert.

 

Albert küßte seiner Mutter die Hand und stellte sich zu dein Grafen. Es kam eine neue Platte mit den gleichen Erfrischungen wie die vorhergehende; sie sah Albert in den Grafen dringen, selbst Eis nehmen und es ihm anbieten; doch er weigerte sich hartnäckig. Albert kehrte zu seiner Mutter zurück; die Gräfin war sehr bleich.

 

Nun, du siehst es, er hat sich geweigert, sagte sie.

 

Ja, doch wie kann Sie dies beunruhigen?

 

Du weißt, Albert, die Frauen sind sonderbar. Ich hätte den Grafen mit Vergnügen irgend etwas bei mir nehmen sehen und wäre es nur ein Granatkern gewesen. Übrigens ist er vielleicht die französische Kost nicht gewöhnt und hat eine Vorliebe für irgend etwas?

 

Mein Gott, nein! ich sah ihn in Italien von allem nehmen; ohne Zweifel ist ihm heute abend nicht recht wohl.

 

Da er stets in heißen Klimaten gewohnt hat, ist er vielleicht auch minder empfindlich für die Hitze, als ein anderer, sagte die Gräfin.

 

Ich glaube nicht, denn er beklagte sich, daß es zum Ersticken heiß sei, und fragte mich, warum man, da man bereits die Fenster geöffnet, nicht auch die Läden öffne.

 

In der Tat, das ist ein Mittel, um mir Gewißheit zu verschaffen, ob diese Enthaltsamkeit auf einem bestimmten Entschlüsse beruht, sagte Mercedes und verließ den Salon.

 

Einen Augenblick nachher öffneten sich die Läden, man sah den ganzen Garten mit Lampen beleuchtet und das Abendessen unter dem Zelte aufgetragen.

 

Tänzer und Tänzerinnen, Spieler und Plaudernde, stießen einen Freudenschrei aus, die gepreßten Lungen atmeten mit Wollust die Luft ein, die in Wellen in die Säle strömte. In diesem Augenblick erschien Mercedes wieder, bleicher als sie weggegangen war, aber mit jener, bei ihr unter gewissen Umständen merkwürdigen Energie des Gesichtsausdrucks. Sie ging gerade auf die Gruppe zu, deren Mittelpunkt ihr Gatte bildete, und sagte: Herr Graf, fesseln Sie diese Herren nicht hier! Wenn sie nicht spielen, werden sie lieber die Lust im Garten einatmen, als hier ersticken.

 

Ah! gnädige Fran, sagte ein alter, sehr artiger General, der im Jahre 1809 »Partant pour la Syrie« (Auf nach Syrien) gesungen hatte, wir gehen nicht allein in den Garten.

 

Gut, ich werde das Beispiel geben, versetzte Mercedes.

 

Und sich zu Monte Christo wendend, sagte sie: Herr Graf, haben Sie die Güte, mir Ihren Arm zu bieten. Der Graf wankte bei diesen einfachen Worten; dann schaute er Mercedes einen Moment an. Dieser Moment hatte die Geschwindigkeit eines Blitzes, und dennoch kam es der Gräfin vor, als hätte er ein Jahrhundert gedauert, so viele Gedanken hatte Monte Christo in diesen einzigen Blick gelegt.

 

Er bot der Gräfin seinen Arm; sie stützte sich darauf, oder sie berührte ihn vielmehr nur mit ihrer kleinen Hand, und beide stiegen die Stufen der mit Kamelien und Rhododendren eingefaßten Freitreppe hinab.

 

Brot und Salz.

 

Brot und Salz.

 

Frau von Morcerf trat mit ihrem Begleiter unter eine Lindenallee, die nach einem Treibhause führte. Nicht wahr, es war heiß im Salon, Herr Graf? sagte sie.

 

Ja, gnädige Frau, und Ihr Gedanke, die Türen und Läden öffnen zu lassen, war vortrefflich.

 

Als der Gras diese Worte sprach, bemerkte er, daß Mercedes‘ Hand zitterte.

 

Doch Sie, sagte er, mit diesem leichten Kleide und ohne ein anderes Schutzmittel um den Hals, als diesen Schal von Gaze, Ihnen ist wohl kalt?

 

Wissen Sie, wohin ich sie führe? sagte die Gräfin, ohne auf Monte Christos Frage zu antworten.

 

Nein, gnädige Frau, antwortete dieser, doch Sie sehen, ich leiste keinen Widerstand.

 

In das Treibhaus, das Sie dort am Ende der Allee erblicken. Der Graf schaute Mercedes an, als wollte er sie befragen; doch sie setzte ihren Weg fort, ohne etwas zu sagen, und Monte Christo blieb stumm.

 

Sie traten in das Gebäude, das ganz mit herrlichen Früchten geschmückt war, die schon Anfang Juli in dieser künstlichen Temperatur reiften.

 

Mercedes verließ den Arm des Grafen und pflückte an einem Weinstock eine Muskattraube.

 

Nehmen Sie, Herr Graf, sagte sie mit einem so traurigen Lächeln, daß man die Tränen am Rande ihrer Augen hätte können hervorbrechen sehen, ich weiß wohl, unsere französischen Trauben sind nicht mit denen von Sizilien und Cypern zu vergleichen, doch Sie werden gegen unsere nördliche Sonne nachsichtig sein.

 

Der Graf verbeugte sich und machte einen Schritt rückwärts.

 

Sie schlagen es mir ab? fragte Mercedes mit zitternder Stimme.

 

Gnädige Frau, antwortete Monte Christo, ich bitte Sie demütigst um Entschuldigung, aber ich esse nie Trauben.

 

Ein herrlicher Pfirsich hing, wie die Weinrebe, an einem durch die künstliche Hitze des Treibhauses erwärmten Spaliere. Mercedes näherte sich der samtartigen Frucht und pflückte sie.

 

Nehmen Sie diesen Pfirsich, sagte sie.

 

Doch der Graf machte dieselbe Gebärde der Weigerung.

 

Abermals! sagte sie mit einem schmerzlichen Tone, daß man fühlen konnte, wie dieser Ton ein Schluchzen unterdrückte, in der Tat, ich habe Unglück.

 

Ein banges Schweigen folgte auf diese Szene, der Pfirsich war wie die Traube auf den Sand gefallen.

 

Herr Graf, sagte Mercedes, Monte Christo mit flehendem Auge anschauend, es gibt eine rührende arabische Sitte, die auf ewig die zu Freunden macht, die Brot und Salz unter demselben Dache geteilt haben.

 

Ich kenne sie, gnädige Frau, antwortete der Graf, doch wir sind in Frankreich und nicht in Arabien, und in Frankreich gibt es ebensowenig ewige Freundschaften, wie eine Teilung von Salz und Brot.

 

Doch sprechen Sie, sagte die Gräfin, stammelnd und ihre Augen auf Monte Christos Augen heftend, den sie mit ihren beiden Händen am Arme faßte, nicht wahr, wir sind Freunde?

 

Das Blut floß zu dem Herzen des Grafen zurück, und er wurde bleich wie der Tod, dann stieg es vom Herzen aufwärts, überströmte seine Wangen, und seine Augen schwammen ein paar Sekunden lang im weiten Raume, wie die eines von einem Blendwerk getroffenen Menschen.

 

Gewiß sind wir Freunde, gnädige Frau, erwiderte er, warum sollten wir es auch nicht sein?

 

Dieser Ton war so weit von dem entfernt, den Frau von Morcerf zu hören wünschte, daß sie sich umwandte, um einen Seufzer entschlüpfen zu lassen, der einem Stöhnen glich.

 

Ich danke, sagte sie und schritt vorwärts.

 

So machten sie einen Gang durch den Garten, ohne ein einziges Wort zu sprechen.

 

Mein Herr, sagte plötzlich die Gräfin nach zehn Minuten einer schweigsamen Wanderung, ist es wahr, daß Sie so viel gesehen, so viele Reisen gemacht, so viel gelitten haben?

 

Ja, gnädige Frau, ich habe viel gelitten, antwortete er.

 

Aber nun sind Sie glücklich?

 

Allerdings, denn niemand hört mich klagen.

 

Und Ihr gegenwärtiges Glück hat Ihre Seele besänftigt?

 

Mein gegenwärtiges Glück kommt meinem vergangenen Unglück gleich.

 

Sind Sie nicht verheiratet? fragte die Gräfin.

 

Ich verheiratet? entgegnete Monte Christo bebend, wer konnte Ihnen dies sagen?

 

Man hat es mir nicht gesagt, aber man hat Sie wiederholt eine junge hübsche Person in die Oper führen sehen.

 

Es ist eine Sklavin, die ich in Konstantinopel gekauft habe; es ist die Tochter eines Fürsten, aus der ich meine Tochter mache, da ich keine andere Zuneigung auf Erden habe.

 

Sie leben also allein?

 

Ich lebe allein.

 

Sie haben keine Schwester … keinen Sohn … keinen Vater?

 

Ich habe niemand.

 

Wie können Sie so leben, ohne daß Sie etwas an das Dasein bindet?

 

Das ist nicht mein Fehler, gnädige Frau. In Malta hatte ich eine Geliebte, ich wollte sie heiraten, als der Krieg kam und mich wie ein Sturmwind von ihr fortführte. Ich hatte geglaubt, sie liebe mich hinreichend, um mich zu erwarten und sogar meinem Grabe treu zu bleiben. Bei meiner Rückkehr war sie verheiratet. Das ist die traurige Geschichte des damals zwanzigjährigen Mannes. Ich hatte vielleicht ein schwächeres Herz als die andern und litt mehr, als andere an meiner Stelle gelitten haben würden.

 

Die Gräfin blieb einen Augenblick stehen, als bedürfe sie eines Haltes, um Atem zu schöpfen.

 

 

Ja, sagte sie, und diese Liebe ist Ihnen im Herzen geblieben … Man liebt nur einmal wirklich … Und Sie haben diese Frau nie wiedergesehen?

 

Nie, ich bin nicht nach Malta, wo sie war, zurückgekehrt. – Sie ist also in Malta? – Ich glaube. – Und haben Sie ihr die Leiden vergeben, die sie Ihnen bereitete? – Ihr, ja, – Doch nur ihr; Sie hassen immer noch die, welche Sie von ihr getrennt haben? – Ich, keineswegs; warum sollte ich sie hassen?

 

Die Gräfin stellte sich Monte Christo gegenüber; sie hielt noch ein Stück von der duftenden Traube in der Hand.

 

Nehmen Sie, sagte Mercedes.

 

Ich esse nie Trauben, erwiderte Monte Christo noch einmal.

 

Die Gräfin schleuderte die Traube mit einer Gebärde der Verzweiflung in das nächste Gebüsch.

 

Unbeugsam! murmelte sie.

 

Monte Christo blieb so unempfindlich, als gälte der Vorwurf gar nicht ihm.

 

Albert lief in diesem Augenblick herbei und rief: Oh! meine Mutter, ein großes Unglück!

 

Was ist geschehen? fragte die Gräfin, und richtete sich, wie nach einem Traume zur Wirklichkeit erwachend, hoch auf; ein Unglück sagst du? In der Tat, es muß Unglück geschehen!

 

Herr von Villefort ist hier. – Nun? – Er kommt, um seine Frau und seine Tochter zu holen. – Warum?

 

Die Frau Marquise von Saint-Meran ist mit der Nachricht in Paris angelangt, Herr von Saint-Meran sei bei seiner Abreise von Marseille auf der ersten Station gestorben. Frau von Villefort, die sehr heiter war, wollte dieses Unglück weder begreifen, noch glauben, doch Fräulein von Villefort erriet, so vorsichtig ihr Vater auch zu Werke ging, bei den ersten Worten alles. Der Schlag traf sie wie der Donner, und sie sank ohnmächtig nieder.

 

Was ist denn Herr von Saint-Meran für Fräulein von Villefort? fragte der Graf.

 

Ihr Großvater mütterlicherseits. Er wollte hierherkommen, um die Heirat seiner Enkelin mit Franz zu beschleunigen.

 

Ah! wirklich?

 

Franz hat nun Aufschub, fiel Albert ein. Warum ist Herr von Saint-Meran nicht ebenso auch Fräulein Danglars‘ Großvater?

 

Albert! Albert! versetzte Frau von Morcerf im Tone zarten Vorwurfs, was sagst du da? Ah! Herr Graf, Sie, für den er so große Achtung hegt, sagen Sie ihm, daß er übel gesprochen habe!

 

Und sie machte einige Schritte vorwärts.

 

Monte Christo schaute sie so seltsam und mit einem zugleich so träumerischen und von liebevoller Bewunderung erfüllten Ausdruck an, daß sie zurückkehrte.

 

Dann nahm sie seine Hand, drückte zugleich die ihres Sohnes und sagte, beide aneinander pressend: Nicht wahr, wir sind Freunde?

 

Oh! Ihr Freund, gnädige Frau? erwiderte Monte Christo, ich habe nicht diese Anmaßung, doch jedenfalls bin ich Ihr ehrerbietiger Diener.

 

Die Gräfin entfernte sich mit unaussprechlich gepreßtem Herzen, und ehe sie zehn Schritte gemacht hatte, sah sie der Graf ihr Taschentuch an die Augen drücken.

 

Sind Sie uneins, meine Mutter und Sie? fragte Albert erstaunt.

 

Im Gegenteil, da sie mir in Ihrer Gegenwart gesagt hat, wir seien Freunde, antwortete der Graf. Und sie kehrten in den Salon zurück, den Valentine und Herr und Frau von Villefort soeben verlassen hatten.

 

Es versteht sich von selbst, daß Morel gleich nach ihnen weggegangen war.

 

Der fünfte Oktober.

 

Der fünfte Oktober.

 

Es war ungefähr sechs Uhr abends; ein opalfarbiges Licht, in das eine schöne Herbstsonne ihre goldenen Strahlen einwob, fiel auf das bläuliche Meer. Aus diesem ungeheuren Gewässer, das sich von Gibraltar bis zu den Dardanellen, und von Tunis bis nach Venedig ausdehnt, glitt eine leichte Jacht von reiner, zierlicher Form in dem ersten Dunste des Abends hin.

 

Nach und nach verschwanden am westlichen Horizont die letzten Strahlen der Sonne. Die Jacht rückte rasch vor, obgleich scheinbar der Wind kaum stark genug war, um das Lockenhaar eines Mädchens flattern zu lassen.

 

Auf dem Vorderteile stehend, sah ein Mann von hoher Gestalt, brauner Gesichtsfarbe und mit großem Auge das Land als düstere, kegelförmige Masse auf sich zukommen, die gleich einem ungeheuren katalanischen Hut sich aus den Wellen erhob.

 

Ist das Monte Christo? fragte mit ernster, von tiefer Traurigkeit zeugender Stimme der Reisende, dessen Befehlen die Jacht für den Augenblick unterstand.

 

Ja, Exzellenz, antwortete der Patron, wir kommen sogleich dahin.

 

Wir kommen dahin! murmelte der Reisende mit einem Ausdrucke unsäglicher Schwermut. Dann fügte er mit leiser Stimme hinzu: Ja, dort wird der Hafen sein.

 

Und er versenkte sich wieder in seine Gedanken, die sich durch ein unsäglich trauriges Lächeln kundgaben.

 

Zehn Minuten nachher geite man die Segel auf und warf den Anker fünfhundert Schritte von einem kleinen Hafen.

 

Das Boot war bereits mit den Ruderern und dem Lotsen im Meere. Der Reisende stieg hinab und blieb, statt sich auf das für ihn mit einem blauen Teppich geschmückte Vorderteil zu setzen, mit gekreuzten Armen stehen.

 

Die Ruderer warteten, ihre Ruder halb in die Höhe gehoben, wie Vögel, die ihre Flügel trocknen lassen.

 

Vorwärts! sprach der Reisende.

 

Die acht Ruderer setzten mit einem Schlage ein; dann glitt die Barke, dem Antriebe gehorchend, rasch dem Ufer zu.

 

In einem Augenblick befand man sich in der kleinen Bucht, die hier durch einen natürlichen Ausschnitt gebildet wurde. Die Barke berührte einen Grund von feinem Sand. Der junge Mann stieg aus und suchte mit seinen Augen um sich her den Weg, denn es war bereits völlig Nacht.

 

In dem Augenblick, wo er den Kopf umwandte, ruhte eine Hand auf seiner Schulter, und eine Stimme ließ ihn erbeben.

 

Guten Abend, Maximilian, sagte diese Stimme, Sie sind sehr pünktlich, und ich danke Ihnen.

 

Sie sind es, Graf! rief der junge Mann mit einer freudigen Bewegung und mit seinen beiden Händen die Hand Monte Christos drückend.

 

Ja, wie Sie sehen, nicht minder pünktlich; doch Sie triefen, lieber Freund. Sie müssen die Kleider wechseln, es findet sich hier eine für Sie bereitstehende Wohnung, in der Sie Müdigkeit und Kälte vergessen werden, sagte Monte Christo lächelnd.

 

Maximilian schaute den Grafen voll Erstaunen an.

 

Wie, sagte er, Sie sind hier nicht mehr derselbe, der Sie in Paris waren?

 

Warum dies?

 

Ja, hier lächeln Sie.

 

Monte Christos Stirn verdüsterte sich plötzlich, und er sagte: Sie haben recht, daß Sie mich an mich selbst erinnern, Maximilian; Sie wiederzusehen war ein Glück für mich, und ich vergaß, daß jedes Glück vorübergehend ist.

 

Oh! nein, nein, Graf, rief Morel, abermals die beiden Hände seines Freundes ergreifend; lachen Sie im Gegenteil, seien Sie glücklich, und beweisen Sie mir, daß das Leben nur für die Leidenden schlecht ist. Oh! Sie sind menschenfreundlich, Sie sind gut, Sie sind groß, mein Freund, und um mir Mut zu verleihen, heucheln Sie diese Heiterkeit.

 

Sie täuschen sich, Morel, erwiderte Monte Christo, ich war in der Tat glücklich.

 

Dann ist es um so besser, Sie vergessen mich.

 

Wieso?

 

Ja, denn Sie wissen, Freund, wie der Gladiator, der in den Zirkus trat, den erhabenen Kaiser begrüßte, so sage ich zu Ihnen: Der den Tod erleiden wird, grüßt dich.

 

Sie sind nicht getröstet? fragte Monte Christo mit einem seltsamen Blicke.

 

Haben Sie wirklich geglaubt, ich könnte es sein? rief Morel mit einem Tone voll Bitterkeit. Graf, hören Sie mich: Ich bin zu Ihnen gekommen, um in den Armen eines Freundes zu sterben. Allerdings gibt es noch Menschen, die ich liebe; ich liebe meine Schwester Julie, ich liebe ihren Gatten Emanuel; aber für mich ist es Bedürfnis, daß man mir starke Arme öffnet, daß man mir in meinen letzten Augenblicken zulächelt. Meine Schwester würde in Tränen zerfließen und ohnmächtig werden; ich würde sie leiden sehen und habe selbst genug gelitten. Emanuel würde mir die Waffe aus den Händen reißen und das Haus mit seinem Geschrei erfüllen. Sie, Graf, dessen Wort ich habe, Sie, der Sie mehr als ein Mensch sind, Sie werden mich sanft und zärtlich bis zu den Pforten des Todes geleiten? Oh! Graf, wie sanft und wollüstig werde ich im Tode ruhen!

 

Morel sprach diese letzten Worte mit einem Ausdrucke von Energie, der den Grafen beben ließ.

 

Mein Freund, fuhr Morel fort, als er sah, daß der Graf schwieg, Sie haben mir den fünften Oktober als das Ende der Frist bezeichnet, die Sie von mir verlangen … Mein Freund, heute ist der fünfte Oktober …

 

Morel zog seine Uhr.

 

Es ist neun Uhr, ich habe noch drei Stunden zu leben.

 

Es sei! sagte Monte Christo, kommen Sie!

 

Morel folgte mechanisch dem Grafen, und sie waren bereits in der Grotte, ehe es Maximilian bemerkte.

 

Er fand Teppiche unter seinen Füßen, eine Tür öffnete sich, Wohlgerüche umhüllten ihn, ein lebhaftes Licht traf seine Augen. Morel zögerte, weiterzugehen, und blieb stehen; er mißtraute den entnervenden Sinnenreizen, die ihn umgaben.

 

Monte Christo zog ihn sanft vorwärts und sagte: Geziemt es sich nicht, daß wir die drei Stunden, die uns noch bleiben, wie die alten Römer verwenden, die, von Nero, ihrem Kaiser und Erben, zum Tode verurteilt, sich mit Blumen bekränzt zu Tische setzten und den Tod mit dem Wohlgeruch von Heliotropen und Rosen einatmeten?

 

Morel lächelte.

 

Wie Sie wollen, sagte er; der Tod bleibt immer der Tod, das heißt die Ruhe, das heißt die Abwesenheit des Lebens nd folglich des Schmerzes. Er setzte sich, Monte Christo nahm seinen Platz ihm gegenüber.

 

Man befand sich in dem wundervollen, bereits von uns beschriebenen Speisesaal, wo Marmorstatuen auf ihren Häuptern stets mit Blumen und Früchten gefüllte Körbchen trugen.

 

Morel hatte alles flüchtig angeschaut und ohne Zweifel nichts gesehen. Reden wir als Männer! sagte er mit einem Blicke auf den Grafen.

 

Sprechen Sie!

 

Graf, Sie sind der Inbegriff aller menschlichen Kenntnisse, und Ihr Wesen macht den Eindruck auf mich, als kämen Sie aus einer Welt, die weiter vorgerückt und reicher ist, als die unsrige.

 

Es ist etwas Wahres daran. Morel, sagte der Graf mit jenem schwermütigen Lächeln, das ihn so schön erscheinen ließ; ich bin von einem Planeten herabgestiegen, den man den Schmerz nennt.

 

Ich glaube alles, was Sie mir sagen, ohne daß ich den Sinn davon zu ergründen suche. Zum Beweise hierfür mag dienen: Sie hießen mich leben, und ich lebte; Sie hießen mich hoffen, und ich hoffte beinahe. Ich wage es daher, Graf, sie zu fragen, als ob Sie schon einmal tot gewesen wären: Graf, tut das wehe?

 

Monte Christo schaute Morel mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit an und erwiderte: Ja, allerdings, es tut sehr wehe. Wenn Sie auf eine rohe Weise die sterbliche Hülle zerreißen, die hartnäckig zu leben verlangt; wenn Sie Ihr Fleisch unter den unmerklichen Zähnen eines Dolches aufschreien lassen; wenn Sie mit einer unverständigen Kugel Ihr Hirn durchbohren, das bei dem geringsten Stoße von Schmerzen befallen wird, – so werden Sie sicher leiden und mit Widerwillen das Leben verlassen, das Sie mitten unter Ihrem verzweiflungsvollen Todeskampfe immer noch schöner finden, als eine so teuer erkaufte Ruhe.

 

Ja, ich begreife, sagte Morel; der Tod hat wie das Leben seine Geheimnisse des Schmerzes und der Wollust, und es kommt nur darauf an, sie kennen zu lernen.

 

Ganz richtig, Maximilian, Sie haben das große Wort ausgesprochen. Der Tod ist, je nachdem wir uns gut oder schlimm mit ihm stellen, entweder ein Freund, der uns ebenso sanft wiegt, wie eine Amme, oder ein Feind, der uns mit Gewalt die Seele aus dem Leibe reißt. Eines Tags, wenn unsere Welt noch tausend Jahre gelebt, wenn man sich aller zerstörenden Kräfte der Natur bemächtigt haben wird, um sie der allgemeinen Wohlfahrt der Menschheit dienstbar zu machen; wenn der Mensch einmal die Geheimnisse des Todes kennt, – wird dieser ebenso sanft, ebenso wollüstig sein, wie der Schlummer in den Armen unserer Geliebten.

 

Und wenn Sie sterben wollten, wüßten Sie so zu sterben? – Ja.

 

Morel reichte ihm die Hand und sagte: Ich begreife nun, warum Sie mich hierher beschieden haben, auf diese einsame Insel, mitten in den Ozean, in diesen unterirdischen Palast … ein Grab, das den Neid eines Pharao erregt haben würde; es geschah dies, weil Sie mich liebten, nicht wahr, Graf? Weil Sie mich hinreichend lieben, um mir einen Tod ohne Kampf zu gönnen, einen Tod, der mir gestattet, zu sterben, während ich den Namen Valentine ausspreche und Ihnen die Hand drücke?

 

Ja, Sie haben richtig erraten, Morel, sagte der Graf einfach, dies war meine Absicht.

 

Ich danke; die Hoffnung, daß ich morgen nicht mehr leben werde, ist so süß für mein armes Herz.

 

Bedauern Sie keinen Verlust? fragte Monte Christo.

 

Nein! antwortete Morel.

 

Bedauern Sie nicht, von mir scheiden zu müssen? fragte der Graf mit tiefer Rührung.

 

Morel hielt inne. Sein so reines Auge trübte sich plötzlich und glänzte dann wieder in ungewöhnlichem Feuer, eine große Träne strömte hervor und rollte an seiner Wange herab.

 

Wie! rief der Graf, Sie beklagen den Verlust von irgend etwas auf Erden und wollen sterben?

 

Oh! Ich flehe Sie an! rief Morel mit mattem Tone, kein Wort mehr, verlängern Sie meine Qualen nicht, Graf.

 

Hören Sie, Morel, sagte der Graf, im innersten Herzen bewegt, Ihr Schmerz ist ungeheuer, das sehe ich; aber dennoch glauben Sie an Gott und setzen das Heil Ihrer Seele nicht aufs Spiel!

 

Morel lächelte traurig und erwiderte: Graf, ich schwöre Ihnen, meine Seele gehört nicht mehr mir.

 

Hören Sie, Morel, ich habe keine Verwandten auf der Welt, ich habe mich daran gewöhnt, Sie als meinen Sohn zu betrachten; um meinen Sohn zu retten, würde ich mein Leben und noch viel mehr mein Vermögen opfern.

 

Was wollen Sie damit sagen?

 

Ich will damit sagen, Morel, daß Sie das Leben verlassen, weil Sie nicht alle Genüsse kennen, die es einem großen Vermögen verheißt. Morel, ich besitze hundert Millionen: mit einem solchen Vermögen können Sie jedes Ziel erreichen, das Sie sich vorsetzen. Sind Sie ehrgeizig? Jede Laufbahn ist Ihnen geöffnet. Setzen Sie die Welt in Aufruhr, vollführen Sie wahnsinnige Streiche, seien Sie ein Verbrecher, wenn es sein muß, aber leben Sie.

 

Graf, ich habe Ihr Wort, erwiderte Morel kalt, und, fügte er, seine Uhr ziehend, hinzu, es ist halb zwölf Uhr.

 

Morel! Bedenken Sie auch, unter meinen Augen, in meinem Hause?

 

Dann lassen Sie mich gehen, sprach Morel düster, oder ich fange an zu glauben, Sie lieben mich nicht meinetwegen, sondern Ihretwegen! Und er stand auf.

 

Es ist gut, sagte Monte Christo, dessen Gesicht sich bei diesen Worten aufklärte; Sie wollen es, Morel, und sind unbeugsam. Ja! Sie sind tief unglücklich, und es könnte Sie, wie Sie gesagt haben, nur ein Wunder heilen; setzen Sie sich, Morel, und warten Sie!

 

Morel gehorchte. Monte Christo stand ebenfalls auf und holte aus einem sorgfältig verschlossenen Schranke, dessen Schlüssel er an einer goldenen Kette an sich hängen hatte, ein kleines silbernes, wunderbar gearbeitetes Kästchen, dessen Ecken vier Figuren darstellten, Figuren von Frauen, Symbole von Engeln, die zum Himmel aufstreben.

 

Er stellte dieses Kästchen auf den Tisch, öffnete es und zog eine kleine goldene Kapsel daraus hervor, deren Deckel sich durch den Druck einer Feder hob.

 

Diese Kapsel enthielt eine salbenartige, halbfeste Substanz. Der Graf schöpfte eine kleine Menge davon mit einem goldenen Löffel und bot sie Morel mit einem langen Blicke.

 

Man konnte nun sehen, daß diese Substanz grünlich war.

 

Das ist es, was Sie von mir verlangten, sagte er, das ist es, was ich Ihnen versprochen habe.

 

Noch lebend, erwiderte der junge Mann, den Löffel aus den Händen Monte Christos nehmend, noch lebend danke ich Ihnen aus dem Grunde meines Herzens.

 

Der Graf nahm einen zweiten Löffel und schöpfte abermals aus der goldenen Kapsel.

 

Was wollen Sie machen, Freund? fragte Morel, seine Hand zurückhaltend.

 

Meiner Treu, Morel, erwiderte er lächelnd, Gott vergebe mir! Ich glaube, ich bin des Lebens so müde wie Sie, und da sich eine Gelegenheit bietet …

 

Halten Sie ein! rief der junge Mann. Oh! Sie, der Sie lieben, den man liebt, der Sie den Glauben und die Hoffnung haben, tun Sie nicht, was ich zu tun im Begriffe bin!

 

Von Ihrer Seite wäre es ein Verbrechen. Gott befohlen, mein edler und hochherziger Freund! Gott befohlen! Ich werde Valentine alles sagen, was Sie für mich getan haben.

 

Und ohne weiter zu zögern, schlürfte Morel die geheimnisvolle Substanz.

 

Dann schwiegen beide. Ali brachte still und aufmerksam den Tabak und die persischen Pfeifen, trug den Kaffee auf und verschwand. Allmählich erbleichten die Lampen in den Händen der Marmorstatuen, und der Geruch der Räucherflammen kam Morel minder durchdringend vor.

 

Ihm gegenübersitzend, schaute Monte Christo Maximilian aus der Tiefe des Schattens an, während Morel nur die Augen des Grafen glänzen sah.

 

Ein ungeheurer Schmerz bemächtigte sich des jungen Mannes; er fühlte die Pfeife seinen Händen entschlüpfen, die Gegenstände verloren unmerklich ihre Farbe, seinen getrübten Augen kam es vor, als öffneten sich die Türen und Vorhänge in der Wand.

 

Freund, sagte er, ich fühle, daß ich sterbe – Dank!

 

Er machte eine Anstrengung, um dem Grafen zum letzten Male die Hand zu reichen; aber die Hand fiel kraftlos an seiner Seite nieder.

 

Dann kam es ihm vor, als lächele Monte Christo, nicht mit seinem seltsamen, furchtbaren Lächeln, bei dem er wiederholt die Geheimnisse dieser tiefen Seele im Halbdunkel zu erkennen geglaubt hatte, sondern mit einem barmherzigen Wohlwollen, wie es Väter ihren kleinen Kindern zeigen, wenn diese unvernünftige Dinge reden.

 

Zu gleicher Zeit wuchs der Graf in seinen Augen; seine fast verdoppelte Gestalt trat auf den roten Tapeten hervor; er hatte seine schwarzen Haare zurückgeworfen und erschien aufrecht und stolz, wie einer von jenen Engeln, mit denen man die Bösen am Tage des jüngsten Gerichtes bedroht.

 

Gelähmt, gebändigt, warf sich Morel in seinen Stuhl zurück; eine sanfte Erstarrung durchdrang alle seine Adern.

 

 

Liegend, entkräftet, fühlte er nichts Lebendes mehr in sich als diesen Traum; es kam ihm vor, als liefe er mit vollen Segeln in den schwankenden Zustand ein, der dem unbekannten Dunkel vorhergeht, das man Tod nennt. Noch einmal versuchte er, dem Grafen seine Hand zu geben; diesmal aber rührte sich seine Hand nicht mehr. Er wollte ein letztes Lebewohl aussprechen; doch seine Zunge wälzte sich schwerfällig im Munde umher, wie ein Stein, der ein Grab verstopfen soll.

 

Seine mit betäubender Schlafsucht belasteten Augen schlossen sich unwillkürlich; hinter seinen Augenlidern aber bewegte sich ein Bild, das er erkannte, trotz der Dunkelheit, mit der er sich umhüllt glaubte. Es war der Graf, der eine Tür öffnete.

 

Sogleich übergoß eine unermeßliche, aus einem anstoßenden mit unendlicher Pracht geschmückten Gemache hervorstrahlende Klarheit den Saal, in dem sich Morel seinem süßen Todeskampfe hingab.

 

Da sah er auf der Schwelle dieses Saales zwischen beiden Gemächern eine Frau von wunderbarer Schönheit stehen, Bleich und sanft lächelnd, schien sie der Engel der Barmherzigkeit, der den Engel der Rache beschwört.

 

Öffnet sich schon der Himmel für mich? dachte der Sterbende; dieser Engel gleicht dem, welchen ich verloren habe.

 

Monte Christo bezeichnete der jungen Frau mit dem Finger das Sofa, auf dem Morel ruhte.

 

Sie ging auf ihn zu, die Hände gefaltet und ein Lächeln auf den Lippen.

 

Valentine! Valentine! rief Morel aus dem Grunde seiner Seele.

 

Aber sein Mund brachte keinen Ton hervor, und er stieß, als wären alle seine Kräfte in dieser inneren Bewegung vereinigt, einen Seufzer aus und schloß die Augen.

 

Valentine stürzte auf ihn zu.

 

Morels Lippen machten abermals eine Bewegung.

 

Er ruft Sie, sprach der Graf, er ruft Sie aus der Tiefe seines Schlummers, er, dem Sie Ihr Schicksal anvertraut hatten, und von dem Sie der Tod trennen wollte! Aber zum Glück war ich da; und ich habe den Tod besiegt! Valentine, fortan sollt ihr euch auf Erden nicht mehr trennen; denn damit ihr einander wiederfändet, stürzte er sich in das Grab. Ohne mich wäret ihr beide gestorben; ich gebe euch einander zurück: möge Gott mir das doppelte Dasein, das ich rettete, in Rechnung stellen!

 

Valentine ergriff die Hand Monte Christos und drückte sie in einem Ergusse unwiderstehlicher Freude an ihre Lippen.

 

Oh! Danken Sie mir sehr, sagte der Graf, oh! Wiederholen Sie mir, ohne des Wiederholens müde zu werden, daß ich Sie glücklich gemacht habe; Sie ahnen nicht, wie sehr ich dieser Gewißheit bedarf.

 

Oh! Ja, ja, ich danke Ihnen von ganzer Seele, sagte Valentine, und wenn Sie an der Aufrichtigkeit meines Dankes zweifeln, so fragen Sie Haydee, die mich seit unserer Abreise von Frankreich bewog, mit Gesprächen über Sie den glücklichen Tag, der heute für mich erglänzt, geduldig zu erwarten.

 

Sie lieben also Haydee? fragte Monte Christo mit einer Rührung, die er vergebens zu verbergen bemüht war.

 

Oh! Von ganzer Seele!

 

Nun wohl, so hören Sie, sagte der Graf, ich habe mir eine Gunst von Ihnen zu erbitten.

 

Von mir? Großer Gott! Bin ich so glücklich? …

 

Ja. Sie haben Haydee Ihre Schwester genannt, möge sie in der Tat Ihre Schwester sein, Valentine; geben Sie ihr alles zurück, was Sie mir schuldig zu sein glauben, beschützen Sie mit Morel die arme Haydee, denn sie wird fortan allein auf der Welt sein …

 

Allein auf der Welt! wiederholte eine Stimme hinter dem Grafen; und warum?

 

Monte Christo wandte sich um.

 

Haydee stand da, bleich und in Eis verwandelt, und schaute den Grafen mit einer Gebärde tödlicher Starrheit an.

 

Weil du morgen frei sein wirst, meine Tochter, antwortete der Graf; weil du in der Welt den dir gebührenden Platz einnehmen wirst; weil mein Verhängnis das deinige nicht verdunkeln soll. Fürstentochter! Ich gebe dir die Reichtümer und den Namen deines Vaters zurück!

 

Haydee erbleichte, öffnete ihre durchsichtigen Hände, wie es die Jungfrau tut, die sich Gott befiehlt, und sprach mit einer von Tränen heiseren Stimme: Also du verläßt mich, Herr?

 

Haydee! Du bist jung, du bist schön; vergiß mich bis auf meinen Namen und sei glücklich!

 

Es ist gut, sprach Haydee, deine Befehle sollen vollzogen werden, mein Herr, ich werde dich bis auf deinen Namen vergessen und glücklich sein. Und sie machte einen Schritt rückwärts, um sich zu entfernen.

 

Oh, mein Gott! rief Valentine, während sie den erstarrten Kopf Morels auf ihre Schulter hob, sehen Sie nicht, wie bleich sie ist? Begreifen Sie nicht, was sie leidet?

 

Haydee entgegnete mit einem herzzerreißenden Ausdrucke: Warum soll er mich begreifen? Er ist mein Herr, und ich bin seine Sklavin; er hat das Recht, nichts zu sehen.

 

Der Graf bebte bei den Tönen dieser Stimme, die selbst die geheimsten Fibern seines Herzens erweckte; seine Augen begegneten denen des jungen Mädchens und konnten ihren Glanz nicht ertragen.

 

Mein Gott! Mein Gott! rief Monte Christo, was ich ahnen durfte, wäre also wahr, Haydee, du wärest glücklich, wenn ich dich nicht verlassen würde?

 

Ich bin jung, antwortete sie mit sanftem Tone; ich liebe das Leben, das du mir stets so süß gemacht hast, und würde es beklagen, wenn ich sterben müßte.

 

Damit willst du mir sagen, wenn ich dich verließe, Haydee …

 

So würde ich sterben, Herr, ja!

 

Du liebst mich also?

 

Oh! Valentine, er fragt, ob ich ihn liebe! Valentine, sage ihm doch, ob du Maximilian liebst!

 

Der Graf fühlte, wie seine Brust sich erweiterte und sein Herz sich ausdehnte; er öffnete seine Arme, und Haydee fiel ihm, einen Schrei ausstoßend, um den Hals.

 

Oh! Ja, ich liebe dich! sprach sie, ich liebe dich, wie man seinen Vater, seinen Bruder, seinen Gatten liebt, ich liebe dich, wie man sein Leben, seinen Gott liebt, denn du bist für mich das Schönste, das Beste und das Größte der geschaffenen Wesen.

 

Also geschehe, wie du willst, mein geliebter Engel, sagte der Graf. Gott, der mich gegen meine Feinde angetrieben und mich zu ihrem Sieger gemacht hat, Gott will nicht diese Reue an das Ende meines Sieges setzen, das sehe ich nun. Ich wollte mich bestrafen; Gott will mir verzeihen. Liebe mich also, Haydee! Wer weiß? Deine Liebe wird mich vielleicht vergessen lassen, was ich vergessen muß.

 

Aber was sprichst du denn da, Herr? fragte das junge Mädchen.

 

Ich sage, daß ein Wort von dir, Haydee, mich mehr erleichtert hat, als zwanzig Jahre meiner lahmen Weisheit. Ich habe nur dich aus dieser Welt; durch dich kann ich leiden, durch dich kann ich glücklich sein.

 

Hörst du, Valentine? rief Haydee, er sagt, durch mich könne er leiden, durch mich, die ich mein Leben für ihn geben würde!

 

Der Graf sammelte sich einen Augenblick und sprach: Habe ich die Wahrheit erschaut? Oh, mein Gott, gleichviel, Belohnung oder Strafe, ich nehme diese Bestimmung an. Komm, Haydee, komm …

 

Seinen Arm um den Hals des Mädchens schlingend, drückte er Valentine die Hand und verschwand.

 

Es verging ungefähr eine Stunde, während deren Valentine, stöhnend, ohne Stimme und mit starren Augen bei Morel verharrte. Allmählich fühlte sie sein Herz schlagen, ein unmerklicher Atem öffnete seine Lippen, und dieses leichte, die Rückkehr des Lebens verkündende Beben durchlief den ganzen Leib des jungen Mannes.

 

Endlich öffneten sich seine Augen, aber starr und wie im Irrwahn; dann kehrte das Gesicht zurück, und mit dem Gesicht das Gefühl, mit dem Gefühl der Schmerz.

 

Oh! rief er im Tone der Verzweiflung, ich lebe noch, der Graf hat mich getäuscht! Und er streckte die Hand nach dem Tische aus und griff nach einem Messer.

 

Freund, sagte Valentine mit ihrem wunderbaren Lächeln, erwache und schaue mich an!

 

Morel stieß einen gewaltigen Schrei aus und fiel mit irrem Geiste, voll Zweifel, wie von einer himmlischen Erscheinung geblendet, auf seine Knie nieder …

 

Am andern Morgen, bei den ersten Strahlen des Tages, gingen Morel und Valentine Arm in Arm am Gestade hin. Valentine erzählte Morel, wie Monte Christo in ihrem Zimmer erschienen sei, wie er ihr alles entschleiert habe, wie er sie das Verbrechen mit dem Finger habe berühren lassen, und sie endlich auf eine wunderbare Weise, indem er die Leute in dem Glauben ließ, sie sei wirklich gestorben, vom Tode errettete.

 

Sie hatten die Tür der Grotte offen gefunden und waren hinausgetreten; der Himmel ließ in seinem Morgenazur die letzten Gestirne der Nacht erglänzen.

 

Da erblickte Morel in dem Halbschatten einer Gruppe von Felsen einen Menschen, der auf ein Zeichen wartete, um herbeizukommen; es war Jacopo, der Kapitän der Jacht.

 

Mit einer Gebärde rief Valentine ihn zu sich, und Maximilian fragte ihn: Ihr habt uns etwas zu sagen?

 

Ich habe Ihnen einen Brief vom Grafen zu übergeben. Vom Grafen! murmelten gleichzeitig die jungen Leute.

 

Ja, lesen Sie.

 

Morel öffnete den Brief und las:

 

Mein lieber Maximilian!

 

Eine Feluke liegt für Sie vor Anker. Jacopo wird Sie nach Livorno fahren, wo Herr Noirtier seine Enkelin erwartet, die er segnen will, ehe sie Ihnen zum Altare folgt. Alles, was sich in dieser Grotte findet, mein Freund, mein Haus in den Champs-Elysées und mein kleines Schloß in Treport sind Hochzeitsgeschenke von Edmond Dantes für den Sohn seines Patrons Morel. Fräulein von Villefort wird die Güte haben, die Hälfte davon zu nehmen, denn ich bitte sie, den Armen von Paris das ganze Vermögen zu schenken, das ihr von ihrem Vater, der wahnsinnig geworden, und von ihrem Bruder, der im vorigen September mit ihrer Stiefmutter verschieden ist, zukommt.

 

Sagen Sie dem Engel, der über Ihrem Leben wachen wird, Morel, er möge zuweilen für einen Menschen beten, der sich wie Satan einen Augenblick für Gottes gleichen gehalten, aber mit aller Demut eines Christen erkannt hat, daß in den Händen Gottes allein die oberste Macht und die unbegrenzte Weisheit liegen. Diese Gebete werden vielleicht die Gewissensbisse mildern, die er im Grunde seines Herzens mit sich trägt.

 

Was Sie betrifft, Morel, hören Sie das ganze Geheimnis meines Benehmens gegen Sie. Es gibt weder Glück noch Unglück auf dieser Welt, es gibt nur eine Vergleichung eines Zustandes mit einem anderen und mehr nicht. Der allein, der das äußerste Unglück erfahren hat, ist geeignet, die höchste Glückseligkeit zu empfinden. Man muß die Nähe des Todes empfunden haben, Maximilian, um zu wissen, wie schön das Leben ist.

 

Lebt also und seid glücklich, geliebte Kinder meines Herzens, und vergeßt nie: bis zu dem Tage, wo es Gott gefallen wird, den Menschen die Zukunft zu enthüllen, besteht die ganze menschliche Weisheit in den zwei Worten:

 

Warten und Hoffen!

 

Euer Freund

 

Edmond Dantes,

Graf von Monte Christo.

 

Während Maximilian diesen Brief las, der Valentine von dem Wahnsinn ihres Vaters und dem Tode ihres Bruders in Kenntnis setzte, erbleichte sie; ein schmerzlicher Seufzer entschlüpfte ihrer Brust, und stille, aber darum nicht minder brennende Zähren rollten an ihren Wangen herab. Ihr Glück war teuer erkauft.

 

Morel schaute unruhig umher und sprach: In der Tat, der Graf übertreibt seine Großmut, Valentine würde sich mit meinem bescheidenen Vermögen begnügt haben. Wo ist der Graf, mein Freund? Führt mich zu ihm!

 

Jacopo streckte die Hand nach dem Horizont aus. Die Augen der jungen Leute folgten der vom Seemann angegebenen Richtung, und auf einer dunkelblauen Linie, die am Horizont den Himmel vom Meere trennte, erblickten sie ein kleines weißes Segel.

 

Abgereist! rief Morel; abgereist! Gott befohlen, mein Freund! Fahre wohl, mein Vater!

 

Abgereist! rief Valentine: Gott befohlen, meine Freundin! Fahre wohl, meine Schwester! Wer weiß, ob wir sie je wiedersehen werden! sagte Morel, eine Träne trocknend.

 

Mein Freund! versetzte Valentine, hat uns der Graf nicht gesagt, die ganze menschliche Weisheit bestehe in den zwei Worten:

 

 

Das Wirtshaus zur Glocke.

 

Das Wirtshaus zur Glocke.

 

Jetzt lassen wir Fräulein Danglars und ihre Freundin auf der Straße nach Brüssel dahinfahren und kehren zu dem armen Andrea Cavalcanti zurück, der auf eine so unselige Weise mitten im Aufschwünge seines Glückes ausgehalten wurde. Er war trotz seines noch sehr wenig vorgerückten Alters ein äußerst gewandter und gescheiter Junge. Wir sahen ihn bei dem ersten Geräusche im Salon sich der Tür nähern, zwei Zimmer durchschreiten und endlich verschwinden. In einem von diesen Zimmern war der Brautschatz der Verlobten ausgestellt, Schmuckkästchen mit Diamanten, Kaschmirschale, Brüsseler Spitzen, englische Schleier, kurz alle jene lockenden Dinge, deren Name schon das Herz der jungen Mädchen hüpfen läßt.

 

Beim Durchschreiten dieses Zimmers raffte Andrea die wertvollsten Schmuckstücke an sich und fühlte sich nun, mit diesem Reisegeld versehen, um so leichter im stande, durch das Fenster zu springen und den Händen der Gendarmen zu entschlüpfen. Groß und schlank, dabei muskulös wie ein Spartaner, lief er eine Viertelstunde lang, ohne auf die Richtung zu achten, einzig und allein in der Absicht, sich von dem gefährlichen Orte zu entfernen, wo man ihn hatte festnehmen wollen.

 

Bin ich verloren? fragte er sich. Nein, wenn ich mehr hinter mich zu bringen vermag als meine Feinde. Meine Rettung ist folglich eine einfache Meilenfrage geworden.

 

In diesem Augenblick sah er einen Mietswagen vor sich, dessen schweigsamer Kutscher eine Pfeife rauchte.

 

He! Freund, rief Benedetto, ist Ihr Pferd müde?

 

Müde! Jawohl! es hat den ganzen lieben langen Tag nichts getan. Vier elende Fahrten machen mit Trinkgeld sieben Franken, und ich muß dem Besitzer zehn geben!

 

Wollen Sie zu den sieben Franken noch zwanzig verdienen?

 

Mit Vergnügen. Was muß ich tun?

 

Etwas sehr Leichtes, wenn Ihr Pferd nicht zu müde ist.

 

Ich sage Ihnen, es wird gehen, wie ein Zephir, ich brauche nur zu wissen, in welcher Richtung.

 

In der Richtung von Louvres. Es handelt sich einfach darum, einen von meinen Freunden wieder einzuholen, mit dem ich morgen bei Chapelle-en-Serval jagen soll. Wollen Sie es versuchen?

 

Mit größtem Vergnügen.

 

Wenn wir ihn nicht von hier bis Bourget einholen, so bekommen Sie zwanzig Franken, wenn wir ihn bis Louvres nicht einholen, dreißig.

 

Und wenn wir ihn einholen?

 

Vierzig! sagte Andrea, der einen Augenblick gezögert hatte, dann aber bedachte, daß er dabei nichts wage.

 

Gut! rief der Kutscher. Also vorwärts!

 

Andrea stieg ein, und der Kutscher fuhr schnell darauf los. Bald wurde sein Wagen von einer Kalesche überholt, die zwei Postpferde im Galopp fortzogen.

 

Ah! sagte Cavalcanti seufzend zu sich selbst, wenn ich diese Kalesche, diese guten Pferde und besonders den Paß hätte, dessen man bedurfte, um sie zu bekommen!

 

Diese Kalesche war aber die, welche Fräulein Danglars und Fräulein d’Armilly fortführte.

 

Als sie endlich in Louvres ankamen, sagte Andrea: Ich sehe jetzt offenbar, daß ich meinen Freund nicht einhole. Hier sind dreißig Franken, ich bleibe im Roten Rosse über Nacht und nehme in dem ersten Wagen, den ich finde, einen Platz.

 

Andrea legte dem Kutscher sechs Fünffrankenstücke in die Hand und sprang leicht auf das Straßenpflaster.

 

Der Kutscher steckte freudig die Summe in die Tasche und fuhr im Schritt wieder nach Paris zurück. Andrea stellte sich, als ob er nach dem Gasthofe zum Roten Rosse ginge, nachdem er aber einen Augenblick an der Tür stehen geblieben war und das Geräusch des Wagens in der Ferne sich hatte verlieren hören, setzte er seinen Weg fort, und machte mit gymnastischen Schritten einen Lauf von zwei Meilen. Hier – er mußte ganz nahe bei Chapelle-en-Serval sein – ruhte er aus, um einen Entschluß zu fassen und einen Plan zu entwerfen.

 

Ohne Paß die Eilpost oder die gewöhnliche Post zu nehmen, war unmöglich. Daß er in dem Departement der Oise, einem der bestbewachten Frankreichs, nicht bleiben konnte, war einem in Kriminalsachen so erfahrenen Menschen wie Andrea ebenfalls klar. Er setzte sich daher an den Rand eines Grabens, ließ seinen Kopf in die Hände fallen und dachte nach. Zehn Minuten nachher hob er den Kopf wieder empor; sein Entschluß war gefaßt.

 

Er bedeckte eine ganze Seite des Paletots, den er im Vorzimmer vom Haken zu nehmen und über seinen Ballstaat zu knöpfen Zeit gehabt hatte, mit Staub, ging nach Chapelle-en-Serval und klopfte kühn an die Tür des einzigen Wirtshauses der Gegend. Der Wirt öffnete.

 

Mein Freund, sagte Andrea, ich wollte von Mortefontaine nach Senlis reiten, als mein Pferd einen Seitensprung machte und mich abschleuderte. Ich muß notwendig noch heute nacht nach Compiegne, wenn ich nicht meiner Familie die größte Unruhe verursachen soll. Können Sie mir nicht ein Pferd leihen?

 

Wohl oder übel hat ein Wirt immer ein Pferd. Der Wirt rief den Hausknecht, befahl, den Schimmel zu satteln, und weckte seinen siebenjährigen Sohn, der hinter dem Herrn aufsitzen sollte.

 

Andrea gab dem Wirt 20 Franken und ließ, während er sie aus der Tasche zog, absichtlich eine Visitenkarte mit dem Namen eines vornehmen Bekannten auf den Boden fallen, um den Wirt zu dem Glauben zu bringen, er habe sein Pferd an diesen Herrn vermietet.

 

Der Schimmel ging nicht schnell, doch einen gleichmäßigen Schritt; in drei und einer halben Stunde war Andrea in Compiegne, es schlug vier, als er auf den Marktplatz kam. Hier entließ er das Kind und wandte sich zu dem Wirtshaus zur Glocke, wo er schon früher bei Jagdausflügen eingekehrt war; denn er bedachte ganz richtig, daß er drei bis vier Stunden vor sich habe, und daß es das beste sei, sich durch einen guten Schlaf und ein gutes Mahl gegen die künftigen Anstrengungen zu wappnen.

 

Mein Freund, sagte Andrea zu dem Kellner, der öffnete, ich komme von Saint-Jean-au-Bois, wo ich zu Mittag gespeist habe, ich wollte den Wagen nehmen, der um Mitternacht durchfährt, verirrte mich aber und laufe seit vier Stunden im Walde umher. Geben Sie mir eines von den hübschen Zimmern, die nach dem Hofe gehen, und bringen Sie mir ein kaltes Huhn nebst einer Flasche Bordeaux.

 

Andrea sprach mit der vollkommensten Ruhe; er hatte die Zigarre im Mund und die Hände in den Taschen seines Paletots, seine Kleider waren elegant, sein Bart frisch rasiert; er sah in der Tat aus wie ein verspäteter Edelmann aus der Nachbarschaft.

 

Während der ahnungslose Kellner sein Zimmer bereitete, stand die Wirtin auf. Andrea empfing sie mit dem reizendsten Lächeln; er fragte sie, ob er nicht Nr. 3 haben könnte, das er bei seinem letzten Aufenthalte in Compiegne gehabt habe. Leider war Nr. 3 von einem jungen Manne besetzt, der mit seiner Schwester reiste.

 

Andrea schien in Verzweiflung, er tröstete sich nur, als ihm die Wirtin versicherte, Nr. 7 habe ganz dieselbe Lage, wie Nr. 3. In seinem inzwischen vorbereiteten Zimmer fand Andrea ein zartes Huhn, eine Flasche alten Wein und ein helles knisterndes Feuer. Er speiste mit so gutem Appetit, als ob nichts vorgefallen wäre. Dann legte er sich nieder und versank bald in einen vortrefflichen Schlaf.

 

Andreas Plan war folgender: Mit Tagesanbruch stand er auf, verließ das Wirtshaus, erreichte den Wald, erkaufte, unter dem Vorwand, Malerstudien zu machen, die Gastfreundschaft eines Bauern und verschaffte sich den Anzug eines Holzhauers und eine Axt. Mit künstlich gebräunten Händen und Gesichtszügen wollte er, nur bei Nacht marschierend und tagsüber sich verbergend, von Wald zu Wald zur nächsten Grenze gelangen und sich dabei bewohnten Orten nur nähern, um von Zeit zu Zeit ein Stück Brot zu kaufen.

 

War die Grenze überschritten, so machte Andrea seine Diamanten zu Geld und war mit Einschluß von zehn Banknoten, die er für den Fall der Not immer bei sich trug, abermals im Besitze von 50 000 Franken. Dabei rechnete er darauf, die Familie Danglars werde alles aufbieten, den Lärm über die ihr peinliche Geschichte zu ersticken.

 

Um früher aufzuwachen hatte Andrea die Läden nicht geschlossen; er begnügte sich, den Riegel an der Tür vorzuschieben und auf seinem Nachttische ein gewisses sehr scharfes und spitziges Messer von vortrefflich gehärtetem Stahl bereit zu legen.

 

Als er nach langem, erquickendem Schlafe erwachte, war sein erster Gedanke, er habe zu lange geruht. Er sprang aus dem Bette, lief ans Fenster und sah einen Gendarm durch den Hof gehen.

 

Ein Gendarm ist schon für einen harmlosen Menschen eine bemerkenswerte Erscheinung, für jedes furchtsame Gewissen ist seine Uniform aber ein entsetzliches Schreckbild.

 

Warum ein Gendarm? fragte sich Andrea.

 

Dann sagte er sich plötzlich: Ein Gendarm in einem Gasthof ist nichts Auffälliges; ich will mich also nicht wundern, sondern rasch ankleiden; ich warte, bis er weggegangen ist, und mache mich sodann aus dem Staube. Bald darauf trat er abermals ans Fenster und hob zum zweiten Male den Musselinvorhang auf.

 

Der erste Gendarm war nicht nur nicht weggegangen, sondern der junge Mann erblickte eine zweite Uniform, unten an der Treppe, der einzigen, auf der er hinabgehen konnte, während ein dritter Gendarm, zu Pferde und den Karabiner in der Faust, als Schildwache am Hoftore hielt.

 

Teufel! Man sucht mich, war Andreas erster Gedanke.

 

Blässe überströmte seine Stirn, und er schaute ängstlich umher. Sein Zimmer hatte nur einen Ausgang nach der allen Blicken ausgesetzten äußeren Galerie.

 

Ich bin verloren! war sein zweiter Gedanke.

 

Für einen Menschen in Andreas Lage bedeutete Verhaftung: Schwurgericht, Verurteilung, Tod, ohne Barmherzigkeit.

 

Einen Augenblick preßte er krampfhaft seinen Kopf zwischen seine Hände. Während dieses Augenblicks wäre er vor Angst beinahe verrückt geworden. Doch bald sprang aus der Welt der seinen Kopf durchkreuzenden Gedanken ein Hoffnungsstrahl hervor; ein bleiches Lächeln trat auf seine entfärbten Lippen und auf seine zusammengezogenen Wangen. Er schaute umher: die Gegenstände, die er suchte, fanden sich auf dem Marmor eines Sekretärs, nämlich Feder, Tinte und Papier. Er tauchte die Feder in die Tinte und schrieb mit fester Hand folgende Zeilen aus ein Blatt Papier:

 

Ich habe kein Geld, um zu bezahlen, bin aber kein unehrlicher Mensch; ich lasse als Unterpfand diese Nadel zurück, die zehnmal mehr wert ist, als meine Zeche. Aus Scham habe ich mich schon mit Tagesanbruch davongemacht.

 

Er nahm seine Nadel aus seiner Halsbinde und legte sie auf das Papier. Hernach zog er den Riegel zurück, öffnete die Tür ein wenig, als ob er sie beim Weggehen offen gelassen hätte, schlüpfte in den Kamin wie ein Mensch, der an solche gymnastische Übungen gewöhnt ist, verwischte mit seinen Füßen die Spur seiner Tritte in der Asche und fing an, in der gebogenen Röhre, die ihm noch den einzigen Weg der Rettung bot, hinaufzuklettern.

 

In diesem Augenblick kam der erste Gendarm, der Andrea aufgefallen war, die Treppe herauf; der Polizeikommissar ging ihm voran, und unten an der Treppe blieb der zweite Gendarm stehen.

 

Welchem Umstände hatte Andrea diesen frühen Polizeibesuch zu verdanken? Mit Tagesanbruch spielten die Telegraphen in allen Richtungen und mahnten die Polizei, eifrig nach Caderousses Mörder zu forschen.

 

Compiegne ist eine königliche Residenz, eine Jagdstadt, eine Garnisonstadt und im Überfluß mit Behörden, Gendarmen und Polizeikommissaren versehen; die Nachsuchungen begannen also sogleich nach Ankunft des telegraphischen Befehls, und da das Gasthaus zur Glocke das erste Gasthaus der Stadt ist, so machte man natürlich hier den Anfang. Die Schildwache, die dem Gasthofe gegenüber vor dem Rathause stand, erinnerte sich, einige Minuten nach vier Uhr einen jungen Mann auf einem Schimmel mit einem Bauernknaben gesehen zu haben, der Mann sei auf dem Platze abgestiegen, habe den Bauernknaben und das Pferd entlassen, an den Gasthof geklopft und dort Einlaß gefunden.

 

Auf Grund dieser Angaben gingen der Polizeikommissar, der Gendarm und ein Brigadier auf Andreas Tür zu.

 

Oh! oh! rief der Brigadier, ein in Gaunerstreichen wohl erfahrener alter Fuchs, eine offene Tür ist ein schlechtes Zeichen! Ich wollte lieber, sie wäre dreifach verriegelt. Der Vogel ist ausgeflogen.

 

Der Zettel auf dem Tische und die wertvolle Nadel schienen die Annahme der Flucht zu bestätigen.

 

Der Brigadier schaute umher, senkte seinen Blick unter das Bett, öffnete die Vorhänge, die Schränke und stand endlich vor dem Kamin still.

 

Hier war die Möglichkeit eines Ausgangs gegeben und darum, obwohl Andreas Vorsicht jede Spur verwischt hatte, doch sorgfältige Nachforschung geboten.

 

Der Brigadier ließ sich ein Reisbündel und Stroh bringen und legte Feuer daran.

 

Das Feuer ließ die Backsteine krachen; eine undurchsichtige Rauchsäule drängte sich durch die Röhren und stieg zum Himmel empor, aber einen Erfolg hatte das Manöver nicht.

 

Seit seiner Jugend im Kampfe mit der Gesellschaft, stand Andrea einem Gendarmen an List nicht nach. Er hatte den Brand vorhergesehen, war auf das Dach geklettert und kauerte sich hinter den Schornstein.

 

Einen Augenblick hoffte er, gerettet zu sein, denn er hörte den Brigadier den Gendarmen zurufen: Er ist nicht mehr da! Doch als er behutsam den Hals ausstreckte, sah er, daß die Gendarmen, statt sich zurückzuziehen, wie es bei einer solchen Ankündigung natürlich gewesen wäre, im Gegenteil ihre Aufmerksamkeit verdoppelten.

 

Er schaute sich nun ebenfalls um: das Rathaus, ein kolossales Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert, erhob sich wie ein düsterer Wall zu seiner Rechten, und durch die Öffnungen des Baudenkmals konnte man in alle Winkel und Ecken des Daches schauen, wie man von einem Berge herab ins Tal schaut.

 

Andrea sagte sich, er werde auf der Stelle den Kopf des Brigadiers an einer von den Öffnungen erscheinen sehen. War er einmal entdeckt, so war er auch verloren – eine Jagd auf den Dächern bot ihm keine Hoffnung auf Entkommen. Er beschloß also, nicht durch denselben Kamin, sondern durch einen ähnlichen hinabzusteigen.

 

Er suchte mit den Augen einen Kamin, aus dem er keinen Rauch hervorkommen sah, erreichte ihn, über das Dach hinkriechend, und verschwand durch seine Öffnung, ohne wahrgenommen worden zu sein.

 

In derselben Sekunde öffnete sich ein kleines Fenster des Rathauses und ließ den Kopf des Gendarmerie-Brigadiers erscheinen. Einen Augenblick blieb dieser Kopf unbeweglich, wie eines von den steinernen Reliefs, welche das Gebäude zieren; dann verschwand er wieder.

 

Kalt und ruhig wie das Gesetz, dessen Vertreter er war, ging der Brigadier, ohne auf die tausend Fragen der versammelten Menge zu antworten, über den Platz und kehrte in den Gasthof zurück.

 

Nun, wie steht es? fragten die Gendarmen.

 

Meine Söhne, antwortete der Brigadier, der Räuber muß sich wirklich sehr frühzeitig heute morgen aus dem Staube gemacht haben; doch wir schicken Leute auf die Straße von Villers-Cotterets und Noyon und durchstreifen den Wald, wo wir ihn zweifellos finden werden.

 

Der ehrenwerte Mann hatte kaum dieses Wort gesprochen, als ein langer Schreckensruf, begleitet von einem heftigen Klingeln einer Glocke, durch das Haus erscholl.

 

Oh! oh! was ist das? rief der Brigadier. Das ist ein Reisender, der große Eile zu haben scheint, sprach der Wirt. Wo läutet man? – In Nummer 3.

 

Laufe dahin, Kellner!

 

In diesem Augenblick verdoppelten sich das Geschrei und der Lärm der Glocke. Der Kellner wollte hinlaufen.

 

Nein, nein! sagte der Brigadier, den dienstbaren Geist zurückhaltend; es kommt mir vor, als wollte der, welcher läutet, etwas anderes, als einen Kellner; wir wollen ihm einen Gendarmen schicken. Wer wohnt in Nummer 3?

 

Der kleine junge Mann, der gestern abend mit seiner Schwester angekommen ist und ein Zimmer mit zwei Betten verlangt hat.

 

Die Glocke erscholl zum dritten Male mit angstvollen Tönen.

 

Herbei! Herr Kommissar! rief der Brigadier, folgen Sie mir und beschleunigen Sie Ihre Schritte.

 

Warten Sie einen Augenblick, sagte der Wirt; zu Nr. 3 führen zwei Treppen, eine äußere und eine innere.

 

Gut! sagte der Brigadier, ich wähle die innere, das ist mein Departement. Sind die Karabiner geladen?

 

Ja, Brigadier.

 

Gut! so wachen Sie an der äußern Treppe, und, wenn er fliehen will, geben Sie Feuer auf ihn! Es ist ein großer Verbrecher, wie der Telegraph sagt.

 

Mit dem Polizeikommissar verschwand der Brigadier auf der innern Treppe.

 

Andrea war sehr geschickt bis auf zwei Drittel des Kamines hinabgestiegen; doch hier war sein Fuß ausgeglitten, und er war mit größerer Schnelligkeit und besonders mit mehr Geräusch, als ihm lieb war, hinabgerutscht. Wäre das Zimmer verlassen gewesen, so hätte dies nichts zu bedeuten gehabt, doch zum Unglück war es bewohnt.

 

 

Zwei Frauen, die in einem Bett schliefen, wurden bei dem Geräusch wach. Ihre Blicke richteten sich nach dem Punkte, von wo der Lärm kam, und sie sahen durch die Öffnung des Kamins einen Menschen erscheinen.

 

Eine von den beiden Frauen, eine Blonde, war es gewesen, die den furchtbaren Schrei ausstieß, von dem das ganze Haus widerhallte, während die andere nach der Klingelschnur stürzte und mit aller Gewalt daran zog.

 

Andrea hatte, wie man sieht, Unglück.

 

Barmherzigkeit! rief er, bleich, verwirrt, ohne die Personen anzuschauen, an die er sich wandte, rufen Sie nicht, retten Sie mich! Ich will Ihnen nichts Böses tun.

 

Andrea, der Mörder! rief eine von den jungen Frauen.

 

Eugenie, Fräulein Danglars! murmelte Cavalcanti, vom Schrecken zum höchsten Erstaunen übergehend.

 

Zu Hilfe! zu Hilfe! schrie Fräulein d’Armilly, die Glocke aus Eugenies Händen nehmend und noch kräftiger läutend, als ihre Gefährtin.

 

Retten Sie mich, man verfolgt mich! sagte Andrea, die Hände faltend; Barmherzigkeit, Gnade, liefern Sie mich nicht aus!

 

Es ist zu spät, man kommt herauf, erwiderte Eugenie.

 

So verbergen Sie mich irgendwo! Sie sagen, Sie haben ohne Grund Furcht gehabt; Sie wenden den Verdacht ab und retten mir das Leben.

 

Gut! es sei, sagte Eugenie; kehren Sie in den Kamin zurück, durch den Sie gekommen sind, Unglücklicher; gehen Sie und wir werden nichts sagen.

 

Da ist er! Da ist er! rief eine Stimme auf dem Vorplatz, ich sehe ihn!

 

Der Brigadier hatte wirklich sein Auge an das Schlüsselloch gedrückt und gesehen, wie Andrea flehend vor den Frauen stand.

 

Ein heftiger Kolbenschlag sprengte das Schloß, zwei weitere Schläge sprengten die Riegel; die Tür fiel zerschmettert nach innen.

 

Andrea lief an die andere Tür, die nach der Galerie des Hofes ging, und öffnete sie, um hinauszustürzen.

 

Die beiden Gendarmen standen mit ihren Karabinern da und schlugen auf ihn an.

 

Andrea blieb stehen; bleich, mit etwas zurückgeneigtem Körper hielt er sein unnützes Messer in der krampfhaft zusammengepreßten Hand.

 

Fliehen Sie doch! rief Fräulein d’Armilly, in deren Herzen das Mitleid in demselben Maße zunahm, in dem der Schreck daraus verschwand, fliehen Sie doch!

 

Oder töten Sie sich! sagte Eugenie mit dem Tone und der Gebärde einer jener Vestalinnen, die im Zirkus dem siegreichen Gladiator mit dem Daumen befahlen, seinem niedergeworfenen Gegner das Lebenslicht vollends auszublasen.

 

Andrea bebte und schaute das Mädchen mit einem verächtlichen Lächeln an, welches bewies, daß sein verdorbenes Wesen diesen Appell an die Ehre nicht verstand.

 

Der Brigadier trat mit dem Säbel in der Faust auf ihn zu.

 

Vorwärts, sagte Cavalcanti, stecken Sie wieder ein, mein braver Mann! Es ist nicht der Mühe wert, so viel Lärm zu machen, da ich mich selbst ergebe.

 

Dabei streckte er seine Hände aus, um Schellen daran legen zu lassen.

 

Die jungen Mädchen schauten voll Schrecken die häßliche Metamorphose an, die vor ihren Augen vorging: der Mann aus der vornehmen Welt legte seine Hülle ab und wurde wieder der Bagnoflüchtling.

 

Andrea wandte sich gegen sie um und fragte mit unverschämtem Lächeln: Haben Sie keinen Auftrag an Ihren Herrn Vater, Fräulein Eugenie, denn aller Wahrscheinlichkeit kehre ich nach Paris zurück.

 

Eugenie verbarg ihren Kopf in ihren beiden Händen.

 

Oh! oh! sagte Andrea, Sic brauchen sich nicht zu schämen; ich bin Ihnen nicht böse, daß Sie mir mit der Post nachgeeilt sind; war ich nicht so gut wie Ihr Gatte?

 

Hierauf ging Andrea hinaus und ließ die Flüchtlinge der Scham und dem Spott der Menge preisgegeben zurück.

 

Eine Stunde nachher stiegen beide in ihren Frauenkleidern in die Reisekalesche. Man hatte das Tor des Gasthofes geschlossen, um sie den Blicken der Leute möglichst zu entziehen; doch sie mußten nichtsdestoweniger durch eine doppelte Hecke von Neugierigen mit flammenden Augen und murmelnden Lippen fahren. Eugenie ließ die Vorhänge herab, aber wenn sie nichts sah, so hörte sie doch, und das laute Hohngelächter drang bis zu ihr.

 

Oh! warum ist die Welt nicht eine Wüste? rief sie, sich an die Brust des Fräuleins d’Armilly werfend, während ihre Augen von Wut funkelten.

 

Am andern Tage stiegen sie im Hotel de Flandres in Brüssel ab. – Andrea war am Abend vorher in die Liste der Gefangenen der Conciergerie eingetragen worden.

 

Das Gesetz.

 

Das Gesetz.

 

Während Danglars mit schweißbedeckter Stirn beim Anschauen der vor ihm liegenden ungeheuren Kolonnen seiner Passiva dem Gespenste des Bankerotts entgegenstarrte, wollte die Baronin, nachdem sie sich von der ersten heftigsten Erschütterung des niederschmetternden Schlages, der sie getroffen, erholt hatte, bei Lucien Debray Rat holen, fand ihn aber nicht daheim.

 

Wieder in ihrem Zimmer angelangt, pochte sie an Eugenies Tür. Als sie keine Antwort erhielt, versuchte sie hineinzugehen; aber die Riegel waren vorgeschoben. Frau Danglars glaubte, von der furchtbaren Aufregung des Abends ermüdet, habe sich Eugenie zu Bette gelegt und sei eingeschlafen.

 

Fräulein Eugenie, antwortete die Kammerfrau auf ihre Frage, ist mit Fräulein d’Armilly in ihr Zimmer zurückgekehrt; dann tranken sie miteinander Tee, und hierauf verabschiedeten sie mich mit der Bemerkung, sie bedürften meiner nicht mehr.

 

Frau Danglars legte sich hierauf ohne einen Schatten von Verdacht nieder, konnte aber in Erinnerung an die Vorgänge des Tages nicht einschlafen. Der Vorfall erschien ihr in immer trüberem Lichte, je mehr sie darüber nachdachte. Eugenie, sagte sie sich, ist verloren, und wir sind es ebenfalls. Die Geschichte, so wie sie dargestellt werden wird, bedeckt uns mit Schmach, denn in einer Gesellschaft, wie die unsere, sind gewisse Lächerlichkeiten einfach unerträglich und nicht wieder gutzumachen. Welch ein Glück, murmelte sie, daß Gott Eugenie den seltsamen Charakter gegeben hat, der mir oft solche Sorge bereitete.

 

Dann dachte sie wieder an Cavalcanti. Dieser Andrea war ein Elender, ein Dieb, ein Mörder, und dennoch besaß er Manieren, die auf eine gute Erziehung hindeuteten. Er besaß anscheinend ein großes Vermögen; ehrenhafte Leute liehen ihm ihre Unterstützung.

 

Wie soll man klar in diesem Irrsale sehen? An wen sich wenden, um aus dieser grausamen Lage zu kommen? Da fiel ihr Herr von Villefort ein. An diesen beschloß sie sich zu wenden. Er würde ihr, in Erinnerung an die Vergangenheit, sicher beistehen, und er würde dann die Sache allmählich sich im Sande verlaufen oder wenigstens Cavalcanti fliehen lassen. Erst bei diesem Gedanken schlief sie ruhig ein.

 

Am andern Morgen um 9 Uhr stand sie auf und kleidete sich an, verließ heimlich das Hotel, stieg in einen Fiaker und ließ sich nach dem Hause des Herrn von Villefort fahren.

 

Seit einem Monat bot dieses Haus den finstern Anblick eines Lazaretts, in dem die Pest ausgebrochen ist. Ein Teil der Zimmer war von außen und von innen geschlossen, die Läden öffneten sich nur von Zeit zu Zeit einen Augenblick, um etwas Luft einzulassen; dann sah man am Fenster den verstörten Kopf eines Bedienten erscheinen; das Fenster schloß sich wieder, und die Nachbarn fragten sich ganz leise: Werden wir heute abermals einen Sarg aus dem Hause des Staatsanwalts kommen sehen?

 

Frau Danglars wurde bei dem Anblicke dieses verödeten Hauses von einem Schauer befallen; sie stieg aus, näherte sich mit zitternden Knien der geschlossenen Tür und läutete. Erst als zum dritten Male die Glocke ertönte, kam ein Portier und öffnete die Tür nur einen Zoll weit.

 

Öffnen Sie doch! sprach die Baronin.

 

Sagen Sie mir zuerst, gnädige Frau, wer sind Sie? fragte der Portier.

 

Wer ich bin? Sie kennen mich ja.

 

Wir kennen niemand mehr, gnädige Frau.

 

Sie sind ein Narr, rief die Baronin.

 

Gnädige Frau, es ist Befehl. Entschuldigen Sie mich! Sagen Sie Ihren Namen und was Sie wollen.

 

Oh, was soll das heißen? Ich werde mich bei Herrn von Villefort über die Unverschämtheit seiner Leute beklagen.

 

Gnädige Frau, das ist keine Unverschämtheit, es ist Vorsicht; niemand darf hier herein ohne Erlaubnis des Herrn Doktor d’Avrigny, oder ohne mit dem Herrn Staatsanwalt gesprochen zu haben.

 

Wohl! Gerade mit dem Herrn Staatsanwalt habe ich zu tun. Vorwärts! Hier ist meine Karte, bringen Sie sie Ihrem Herrn.

 

Der Portier schloß die Tür und ließ Frau Danglars auf der Straße. Einen Augenblick nachher öffnete sich die Tür abermals, diesmal hinreichend, um der Baronin Durchgang zu gewähren; sie ging hinein, und die Tür schloß sich hinter ihr.

 

So sehr Frau Danglars von ihrem eigenen Ungemach, das sie hergeführt hatte, beunruhigt war, so kam ihr doch der Empfang, der ihr hier zuteil geworden war, so unwürdig vor, daß sie sich vor allem hierüber beklagte.

 

Doch Villefort hob sein vom Schmerz gebeugtes Haupt empor und schaute sie mit einem so traurigen Lächeln an, daß die Klagen auf ihren Lippen erstarben.

 

Entschuldigen Sie meine Diener wegen eines Schreckens, aus dem ich ihnen keinen Vorwurf machen kann.

 

Sie sind also auch unglücklich? sagte die Baronin.

 

Ja, gnädige Frau. Und Sie begreifen, was mich hierher führt?

 

Sie wollen von dem sprechen, was vorgefallen ist, nicht wahr?

 

Ja, mein Herr, ein furchtbares Unglück.

 

Das heißt ein Unfall.

 

Ein Unfall!

 

Ach! gnädige Frau, entgegnete der Staatsanwalt mit unzerstörbarer Ruhe, ich bin dahin gekommen, daß ich nur unwiederbringliche Dinge ein Unglück nenne.

 

Glauben Sie, daß man es vergessen wird?

 

Alles vergißt sich. Ihre Tochter wird sich morgen verheiraten, wo nicht heute; in acht Tagen, wenn nicht morgen. Was aber den Verlust des Bräutigams betrifft, so glaube ich nicht, daß Sie diesen sehr zu beklagen haben.

 

Frau Danglars schaute Villefort an, denn sie war über diese beinahe spöttische Ruhe ganz, erstaunt.

 

Bin ich zu einem Freunde gekommen? fragte sie mit einem Tone voll schmerzlicher Würde.

 

Sie wissen, daß dies der Fall ist, antwortete Villefort, dessen bleiche Wangen sich bei dieser Versicherung mit einer leichten Röte bedeckten.

 

So seien Sie liebevoller, mein teurer Villefort, sagte die Baronin, sprechen Sie mit mir als Freund und nicht als Staatsbeamter, und wenn ich unendlich unglücklich bin, so sagen Sie mir nicht, ich solle heiter sein.

 

Villefort verbeugte sich und erwiderte: Gnädige Frau, ich habe seit drei Monaten, wenn ich von Unglück sprechen höre, die ärgerliche Gewohnheit, an das meinige zu denken, und unwillkürlich nimmt mein Geist eine selbstsüchtige Vergleichung vor. Darum kam mir Ihr Unglück gegen das meinige nur wie ein Unfall vor; darum erschien mir neben meiner traurigen Lage die Ihrige als beneidenswert; doch das verdrießt Sie, und wir wollen darüber weggehen. Sie sagten, gnädige Frau? Ich wollte von Ihnen erfahren, mein Freund, wie es mit dem Betrüger jetzt steht?

 

Betrüger! wiederholte Villefort; Sie wollen offenbar gewisse Dinge mildern und andere übertreiben; Herr Andrea Cavalcanti oder vielmehr Herr Benedetto ein Betrüger! Sie täuschen sich, gnädige Frau, Benedetto ist ein Mörder.

 

Mein Herr, ich leugne die Richtigkeit Ihrer Bemerkung nicht, doch je mehr Sie sich mit Strenge gegen diesen Unglücklichen waffnen, desto härter treffen Sie unsere Familie. Vergessen Sie ihn einen Augenblick, statt ihn zu verfolgen; lassen Sie ihn fliehen!

 

Sie kommen zu spät, die Befehle sind bereits gegeben.

 

Nun! wenn man ihn verhaftet … Glauben Sie, man werde ihn verhaften? – Ich hoffe es.

 

Wenn man ihn verhaftet; nun so lassen Sie ihn im Gefängnis!

 

Der Staatsanwalt machte ein verneinendes Zeichen.

 

Wenigstens bis meine Tochter verheiratet ist.

 

Unmöglich, gnädige Frau, die Justiz hat ihre strengen Formen.

 

Selbst für mich? versetzte die Baronin, halb ernst, halb lächelnd.

 

Für alle, und für mich, wie für die andern.

 

Ah! rief die Baronin, ohne in Worte umzusetzen, was sie bei diesem Ausruf dachte.

 

Ja, ich weiß, was Sie sagen wollen, versetzte Villefort, Sie spielen auf die in der Welt verbreiteten furchtbaren Gerüchte an, alle die Todesfälle, die mich seit drei Monaten in Trauer kleiden, auch Valentines schwere Erkrankung seien nicht natürlich?

 

Ich dachte nicht daran, erwiderte lebhaft Frau Danglars.

 

Doch, gnädige Frau, Sie dachten daran, und das war kein Unrecht, denn Sie mußten notwendig daran denken, und Sie sagten sich ganz leise: Du, der du das Verbrechen verfolgst, verantworte dich. Warum gibt es au deiner Seite Verbrechen, die unbestraft bleiben?

 

Die Baronin erbleichte.

 

Nicht wahr, Sie sagten sich das? – Ich gestehe es.

 

Ich will Ihnen antworten, und Villefort näherte seinen Stuhl dem der Frau Danglars; dann stützte er seine beiden Hände auf seinen Schreibtisch und sprach mit einem dumpferen Tone als gewöhnlich: Es gibt Verbrechen, die unbestraft bleiben, weil man die Verbrecher nicht kennt und ein unschuldiges Haupt statt eines schuldigen zu treffen befürchtet; doch wenn die Verbrecher bekannt sind, so sollen sie, bei dem lebendigen Gott, sterben, gnädige Frau, wer sie auch sein mögen. Nachdem Sie meinen Eid, den ich halten werde, gehört haben, wagen Sie es noch, mich um Gnade für den Elenden zu bitten?

 

Ei! mein Herr, sind Sie sicher, daß er so schuldig ist, wie man behauptet?

 

Hören Sie, hier liegen die ihn betreffenden Akten: Benedetto wurde zuerst im Alter von sechzehn Jahren zu fünf Jahren Galeeren wegen Fälschung verurteilt; Sie sehen, der junge Mensch versprach etwas; dann ist er entwichen, dann Mörder geworden.

 

Und wer ist dieser Unglückliche?

 

Weiß man das? Ein Vagabund, ein Korse.

 

Er ist also von niemand reklamiert worden?

 

Von niemand; man kennt seine Verwandten nicht.

 

Doch der andere war aus Lucca?

 

Auch ein Gauner, wie er, vielleicht sein Genosse.

 

Die Baronin faltete die Hände und flüsterte mit ihrem süßesten und einschmeichelndsten Tone: Villefort!

 

Um Gotteswillen, gnädige Frau, entgegnete der Staatsanwalt mit einer trockenen Festigkeit, um Gotteswillen, verlangen Sie doch von mir nicht die Begnadigung eines Schuldigen. Wer bin ich denn? Das Gesetz, das Gesetz. Hat das Gesetz Augen, Ihre Traurigkeit zu sehen? Hat das Gesetz Ohren, Ihre weiche Stimme zu hören? Hat das Gesetz ein Gedächtnis für Ihre zarten Gedanken? Nein, gnädige Frau, das Gesetz befiehlt, und wenn es befohlen hat, schlägt es! Sie werden mir sagen, ich sei ein lebendiges Wesen und kein Kodex, ein Mensch und kein Buch. Schauen Sie mich an, gnädige Frau, schauen Sie um mich her! Haben die Menschen mich als Bruder behandelt, haben sie mich geliebt? Haben sie mich geschont? Hat jemand Gnade für Herrn von Villefort verlangt? Nein! Nein! Nein! Geschlagen, stets geschlagen! Als Frau, das heißt als Sirene, schauen Sie mich beharrlich mit dem bezaubernden, ausdrucksvollen Auge an, das mich daran erinnert, daß ich erröten muß. Wohl! es sei, ja, erröten über das, was Sie wissen, und vielleicht noch über etwas anderes! Doch, seitdem ich gefehlt habe und vielleicht ärger als die andern gefehlt habe, habe ich die Kleider der andern geschüttelt, um das Geschwür darunter zu finden, und ich habe es immer gefunden; ich sage noch mehr, ich habe es mit Glück, mit Freude gefunden, dieses Siegel der Schwäche oder der menschlichen Verkehrtheit! Denn jeder Mensch, den ich als schuldig erkannte, und jeder Schuldige, den ich schlug, erschien mir als ein neuer Beweis dafür, daß ich selbst keine häßliche Ausnahme war! Ah! die ganze Welt ist böse, beweisen wir dies, und schlagen wir den Bösen!

 

Villefort sprach diese Worte mit einer fieberhaften Wut, die ihm eine wilde Beredsamkeit verlieh.

 

Oh, mein Herr! rief die Baronin, Sie sind unbarmherzig gegen die andern! Wohl, so sage ich Ihnen, man wird unbarmherzig gegen Sie sein!

 

Es sei! sagte Villefort, seine Arme mit drohender Gebärde zum Himmel emporstreckend.

 

Verschieben Sie wenigstens den Prozeß des Unglücklichen, wenn er verhaftet wird, bis zur nächsten Schwurgerichtstagung; das gibt doch sechs Monate zum Vergessen.

 

Nein, ich habe noch fünf Tage, und die Voruntersuchung ist fertig. Bedenken Sie auch, daß ich ebenfalls vergessen muß! Wenn ich arbeite, wie ich es Tag und Nacht tue, dann gibt es Augenblicke, wo ich mich nicht mehr erinnere, und dann bin ich glücklich nach Art der Toten, und das ist immer noch besser als leiden.

 

Er ist entflohen; so lassen Sie ihn entfliehen! Die Saumseligkeit ist eine geringe Nachsicht.

 

Aber ich sagte Ihnen bereits, daß es zu spät ist; mit Tagesanbruch hat der Telegraph gespielt, und zu dieser Stunde …

 

Herr Staatsanwalt, sagte der eintretende Kammerdiener, hier eine Depesche aus dem Ministerium.

 

Villefort nahm den Brief und entsiegelte ihn rasch.

 

Frau Danglars bebte vor Schrecken, Villefort vor Freude.

 

Verhaftet! rief Villefort; man hat ihn in Compiegne verhaftet, es ist vorbei.

 

Frau Danglars erhob sich kalt und bleich.

 

Leben Sie wohl, mein Herr! sagte sie.

 

Leben Sie wohl, gnädige Frau! erwiderte der Staatsanwalt fast freudig und führte sie bis zur Tür zurück.

 

Dann trat er an einen Schreibtisch, schlug mit dem Rücken seiner rechten Hand auf den Brief und sagte: Gut, ich hatte eine Fälschung, drei Diebstähle und zwei Brandstiftungen, es fehlte mir nur ein Mord – hier ist er; die Tagung wird hübsch sein.

 

Die Erscheinung.

 

Die Erscheinung.

 

Valentine war noch nicht völlig wiederhergestellt; von unwiderstehlicher Müdigkeit bezwungen, hütete sie das Bett. Den Tag hindurch wurde sie noch etwas frisch erhalten durch Noirtiers Gegenwart, der sich zu seiner Enkelin tragen ließ und, sie mit seinem väterlichen Blicke bewachend, bei ihr blieb; wenn sodann Villefort aus dem Justizpalaste zurückkam, verweilte er ebenfalls ein paar Stunden bei ihr. Um sechs Uhr zog sich Villefort in sein Kabinett zurück; um 8 Uhr erschien Herr d’Avrigny, der selbst den für die Kranke bereiteten Trank brachte; dann trug man Noirtier weg. Eine vom Arzt bestellte Wärterin blieb zurück und entfernte sich erst gegen elf Uhr, wenn Valentine entschlummert war. Sie übergab hierauf die Schlüssel von Valentines Zimmer Herrn von Villefort, so daß man nur durch Frau von Villeforts Wohnung oder durch das Zimmer des kleinen Eduard zu der Kranken gelangen konnte.

 

Jeden Morgen kam Morel zu Noirtier, um Erkundigungen einzuziehen; doch erschien er sonderbarerweise von Tag zu Tag weniger unruhig zu sein. Einmal ging es von Tag zu Tag bei Valentine besser, obgleich sie noch einer heftigen Aufregung preisgegeben war; sodann hatte ihm auch Monte Christo damals gesagt, wenn Valentine in zwei Stunden nicht tot wäre, so würde sie gerettet werden. Valentine lebte aber noch, und es waren bereits vier Tage vorüber. Die nervöse Aufregung verfolgte Valentine bis in ihren Schlaf oder vielmehr bis in den schlafsüchtigen Zustand, der auf ihr Wachsein folgte. Dann geschah es, daß sie in der Stille der Nacht und in dem Halbdunkel, das im Räume um sie her herrschte, jene Schatten erblickte, die das Zimmer der Kranken bevölkern, und die auf den Schwingen des Fiebers schweben. Dann kam es ihr bald vor, als ob sie das drohende Antlitz ihrer Stiefmutter erblickte, bald als ob Morel seine Arme nach ihr ausstreckte, bald als ob sie ihr sonst fernstehende Wesen, wie den Grafen von Monte Christo, gewahrte! Alles schien ihr in diesen fieberhaften Augenblicken beweglich und schwankend, und dies dauerte bis um drei oder vier Uhr morgens, wo ein bleierner Schlaf sich ihrer bemächtigte und sie bis zum Tage gefesselt hielt.

 

Am Abend des Tages, als Valentine Eugenies Flucht und die Verhaftung Benedettos erfahren hatte, ereignete sich eine seltsame Szene in dem so sorgfältig geschlossenen Gemach. Die Wärterin hatte sich ungefähr seit zehn Minuten entfernt. Seit einer Stunde etwa von dem jede Nacht wiederkehrenden Fieber heimgesucht, ließ Valentine den gegen ihren Willen unbotmäßigen Kopf die rastlose Arbeit des Gehirnes fortsetzen, das sich in unablässiger Wiederholung derselben Gedanken oder in Erzeugung derselben Bilder erschöpfte. Von dem Dochte der Nachtlampe gingen tausend und abertausend Strahlen mit seltsamen Zeichen aus, als es Valentine plötzlich. schien, als schiebe sich ihre Bibliothek, die neben dem Kamine in einer Mauervertiefung stand, beiseite, ohne daß die Angeln, auf denen sich eine Tür zu drehen schien, das geringste Geräusch hervorbrachten.

 

In jedem andern Augenblick hätte Valentine die Glocke genommen und um Hilfe gerufen; doch in der Lage, in der sie sich befand, erschreckte sie nichts mehr. Sie hatte das Bewußtsein, alles, was ihren Sinnen sich vorstellte, sei eine Ausgeburt ihres Deliriums.

 

Hinter der Tür erschien eine menschliche Gestalt.

 

Valentine war infolge ihres Fiebers zu sehr vertraut mit solchen Erscheinungen, um darüber zu erschrecken; sie riß nur die Augen weit auf, in der Hoffnung, Morel zu erkennen.

 

Die Gestalt schritt auf ihr Bett zu, dann blieb sie stehen und schien mit tiefer Aufmerksamkeit zu horchen.

 

In diesem Augenblick fiel ein Strahl der Lampe auf das Gesicht des nächtlichen Besuchers.

 

Valentine wartete regungslos, überzeugt, es sei nur ein Traum, und dieser Mensch werde, wie es in den Träumen geschieht, verschwinden oder sich in irgend eine andere Person verwandeln.

 

Sie berührte nur ihren Puls, und als sie ihn heftig schlagen fühlte, erinnerte sie sich, das beste Mittel, diese lästigen Erscheinungen verschwinden zu lassen, sei, zu trinken. Die Frische des Getränkes, das in der Absicht bereitet war, die Aufregung, über die sich Valentine bei dem Doktor beklagte, zu beseitigen, linderte das Fieber und schärfte die Geisteskräfte.

 

Valentine streckte also die Hand aus, um ihr Glas von der kristallenen Trinkschale zu nehmen; doch während sie ihren zitternden Arm ausstreckte, machte die Erscheinung abermals, und noch lebhafter als zuvor zwei Schritte auf das Bett zu und gelangte so nahe zu Valentine, daß sie ihren Hauch hörte und den Druck ihrer Hand zu fühlen glaubte. Diesmal überstieg der Anschein der Wirklichkeit alles, was Valentine bis dahin erfahren hatte; sie fing an, sich für völlig wach zu halten; sie hatte das Bewußtsein, bei voller Vernunft zu sein, und bebte.

 

Der Druck, den Valentine gefühlt, hatte ihren Arm zurückhalten wollen.

 

Dann nahm diese Gestalt, von der sich ihr Blick nicht losmachen konnte, und die übrigens mehr einen beschützenden als bedrohlichen Eindruck machte, das Glas, hielt es an die Nachtlampe und beschaute prüfend den Trank. Offenbar genügte die Augenprüfung nicht, denn dieser Mensch, oder vielmehr dieses Gespenst, schöpfte einen Löffelvoll aus dem Glase und verschluckte ihn.

 

Valentine schaute das, was vor ihren Augen vorging, mit größtem Erstaunen an. Sie glaubte wohl, alles werde bald verschwinden, um einem andern Gemälde Platz zu machen; doch, statt wie ein Schatten zu entweichen, trat der Mensch näher zu ihr und sagte, Valentine das Glas reichend, mit erschütterter Stimme: Nun, trinken Sie!

 

Valentine bebte. Es war das erstemal, daß eine von ihren Erscheinungen in so lebendigen Tönen zu ihr sprach. Sie öffnete den Mund, um einen Schrei auszustoßen.

 

Der Mensch legte einen Finger auf seine Lippen.

 

Der Graf von Monte Christo! murmelte sie.

 

An dem Schrecken, der sich in Valentines Augen ausprägte, an dem Zittern ihrer Hände, an der raschen Gebärde, mit der sie sich unter ihre Tücher steckte, konnte man den letzten Kampf des Zweifels gegen die Überzeugung erkennen; doch die Gegenwart Monte Christos zu einer solchen Stunde, sein phantastischer, geheimnisvoller, unerklärlicher Eintritt durch eine Wand erschienen Valentines erschüttertem Gehirn als etwas Unmögliches.

 

Rufen Sie nicht, erschrecken Sie nicht, sagte der Graf; hegen Sie keinen Schimmer von Verdacht, keine Spur von Unruhe; der, den Sie vor sich sehen, ist der ehrfurchtsvollste Freund, von dem Sie nur immer träumen konnten.

 

Valentine fand keine Antwort; sie hatte eine solche Furcht vor dieser Stimme, die ihr die wirkliche Gegenwart des Sprechenden bewies, daß sie ihre Stimme nicht damit zu verbinden wagte; doch ihr erschrockener Blick sagte: Wenn Ihre Absichten rein sind, warum befinden Sie sich hier?

 

Hören Sie mich, sagte der Graf, der ihre Herzensregung verstand, oder vielmehr schauen Sie mich an! Sie sehen meine geröteten Augen und mein ungewöhnlich bleiches Gesicht; seit vier Nächten wache ich über Sie, beschütze Sie, erhalte ich Sie für unseren Freund Maximilian.

 

Eine Blutwoge der Freude stieg rasch in die Wangen der Kranken; denn der von dem Grafen ausgesprochene Name erstickte den Rest des Mißtrauens, den er ihr eingeflößt.

 

Maximilian! … wiederholte Valentine, so süß kam es ihr vor, diesen Namen auszusprechen; Maximilian! er hat Ihnen also alles gestanden?

 

Alles. Er hat mir gesagt, Ihr Leben sei das seinige, und ich versprach ihm, Sie würden leben.

 

Sie versprachen ihm, ich würde leben? – Ja.

 

In der Tat, mein Herr, Sie sagten vorhin etwas von Wachen und Schutz. Sind Sie denn Arzt?

 

Ja, der beste, den Ihnen der Himmel in diesem Augenblick schicken kann, das mögen Sie mir glauben.

 

 

Sie sagten, Sie hätten gewacht? fragte Valentine unruhig; wo denn? Ich habe Sie nicht gesehen. Der Graf streckte die Hand in der Richtung der Bibliothek aus.

 

Ich war hinter jener Tür verborgen, sagte er; jene Tür führt in das anstoßende Haus, das ich gemietet habe.

 

Valentine wandte mit einer Bewegung schamhaften Stolzes die Augen ab und sagte voll Schrecken: Mein Herr, was Sie getan haben, ist beispiellos wahnsinnig, und der Schutz, den Sie mir gewähren, sieht einer Beleidigung sehr ähnlich.

 

Valentine, sagte der Graf, während der langen Nachtwachen sah ich nur, welche Leute zu Ihnen kamen, welche Nahrungsmittel man Ihnen bereitete, welche Getränke man Ihnen vorsetzte. Erschienen mir diese Getränke gefährlich, so trat ich ein, wie ich soeben eingetreten bin, leerte Ihr Glas und setzte an die Stelle des Giftes ein wohltätiges Getränk, das statt des Todes, den man Ihnen bereitet hatte, das Leben in Ihren Adern kreisen ließ.

 

Gift! Tod! rief Valentine, die abermals unter der Herrschaft einer fieberhaften Sinnestäuschung zu stehen glaubte; was sagen Sie da, mein Herr?

 

Still, mein Kind, erwiderte Monte Christo, einen Finger auf seine Lippen legend, ich habe gesagt Gift und Tod; doch trinken Sie zuerst hiervon – der Graf zog aus seiner Tasche ein Fläschchen, das einen roten Saft enthielt, und goß ein paar Tropfen davon in ein Glas – und wenn Sie getrunken haben werden, nehmen Sie diese Nacht nichts mehr.

 

Valentine streckte die Hand aus; doch kaum hatte diese das Glas berührt, als sie sie voll Schrecken wieder zurückzog.

 

Monte Christo nahm das Glas, trank die Hälfte davon, reichte es Valentine, und diese verschluckte lächelnd den Rest.

 

Oh! ja, sagte sie, ich erkenne den Geschmack meiner nächtlichen Getränke, den Geschmack dieses Wassers, das meiner Brust ein wenig Frische, meinem Gehirn ein wenig Ruhe verlieh. Ich danke, mein Herr, ich danke.

 

So haben Sie seit vier Nächten gelebt, Valentine, sagte der Graf. Doch wie lebte ich? Oh, welche grausamen Stunden ließen Sic mich durchmachen? Oh! welche furchtbaren Qualen ließen Sie mich ausstehen, wenn ich in Ihr Glas das tödliche Gift gießen sah, wenn ich fürchtete, Sie hätten Zeit, es zu trinken, ehe ich Zeit gehabt hätte, es in den Kamin zu schütten!

 

Sie sagen, mein Herr, sprach Valentine, im höchsten Maße erschrocken, Sie sagen, Sie haben tausend Qualen ausgestanden, als man in mein Glas das tödliche Gift gegossen? Doch wenn Sie Gift in mein Glas gießen sahen, so mußten Sie auch die Person sehen, die es hineingoß?

 

Ja.

 

Valentine richtete sich auf, zog über ihre schneeweiße Brust den gestickten Battist, noch feucht von dem kalten Schweiße des Fiebers, mit dem sich der noch eisigere Schweiß des Schreckens zu vermischen anfing, und wiederholte: Sie haben sie gesehen?

 

Ja, sagte zum zweiten Male der Graf.

 

Was Sie mir da sagen, ist gräßlich, mein Herr, denn Sie wollen mich irgend etwas Höllisches glauben lassen. Wie! Im Hause meines Vaters, in meinem Zimmer, auf meinem Schmerzenslager fährt man fort, mich zu ermorden? Oh! Entfernen Sie sich, mein Herr, Sie führen mein Gewissen in Versuchung, Sie schmähen die Güte Gottes! Es ist unmöglich, es kann nicht sein.

 

Sind Sie denn die erste, welche diese Hand schlägt? Haben Sie nicht in Ihrer Umgebung Herrn von Saint-Meran, Frau von Saint-Meran, Barrois fallen sehen? Hätten Sie nicht Herrn Noirtier fallen sehen, wäre sein Körper nicht durch die beständige Aufnahme von Gift gegen die tödliche Wirkung gefeit?

 

Oh! mein Gott! Deshalb also verlangt der gute Papa seit einem Monat von mir, daß ich alle seine Getränke mit ihm teile?

 

Und diese Getränke, rief Monte Christo, nicht wahr, sie haben einen bitteren Geschmack, wie getrocknete Orangenschalen?

 

Ja, mein Gott, ja!

 

Oh! das erklärt mir alles, sagte Monte Christo; er weiß auch, daß man hier vergiftet, und vielleicht, wer hier vergiftet. Er hat Sie, sein vielgeliebtes Kind, gegen die tödliche Substanz schützen wollen. Deshalb leben Sie noch, was ich mir nicht erklären konnte, nachdem man Ihnen vor vier Tagen ein Gift beigebracht, das sonst immer tödlich ist.

 

Aber wer ist denn der Meuchler, der Mörder?

 

Ich frage Sie ebenfalls: Haben Sie nie jemand in der Nacht in Ihr Zimmer eintreten sehen?

 

Doch wohl. Oft kam es mir vor, als sähe ich Schatten erscheinen, sich nähern, sich entfernen, verschwinden; doch ich hielt sie für Ausgeburten meines Fiebers, und soeben, als Sie selbst eintraten, glaubte ich lange, ich hätte entweder das Fieber oder ich träumte.

 

Also kennen Sie die Person nicht, die Ihnen das Leben nehmen will?

 

Nein. Warum sollte jemand meines Tod wünschen?

 

Sie werden sie kennen lernen, versetzte Monte Christo horchend.

 

Wie dies? fragte Valentine, voll Schrecken umherschauend.

 

Weil Sie heute abend weder das Fieber, noch das Delirium haben, weil Sie vollkommen wach sind, weil es soeben Mitternacht schlägt und dies die Stunde der Mörder ist.

 

Mein Gott! mein Gott! sagte Valentine, mit der Hand den Schweiß abtrocknend, der auf ihrer Stirn perlte.

 

Es schlug in der Tat langsam und schaurig zwölf Uhr; es war, als ob jeder Schlag des eisernen Hammers das Herz des Mädchens träfe.

 

Valentine, fuhr der Gras fort, rufen Sie alle Ihre Kräfte zu Hilfe, drängen Sie Ihr Herz in Ihre Brust zurück, halten Sie Ihre Stimme in Ihrer Kehle seit, stellen Sie sich schlafend, und Sie werden sehen. Valentine faßte den Grafen bei der Hand und sagte: Es scheint mir, ich höre Geräusch, entfernen Sie sich!

 

Leben Sie wohl, oder vielmehr auf Wiedersehen, sagte der Graf. Dann kehrte er mit einem so traurigen und so väterlichen Lächeln, daß das Herz des Mädchens davon durchdrungen wurde, zur Tür der Bibliothek zurück. Doch wandte er sich noch einmal um und flüsterte: Keine Gebärde, kein Wort; man muß Sie für eingeschlafen halten, sonst tötet man Sie vielleicht, ehe ich Zeit hätte herbeizukommen.

 

Lorusta.

 

Lorusta.

 

Valentine blieb allein; zwei Pendeluhren schlugen kurz nacheinander Mitternacht. Dann herrschte wieder, von ein paar Wagen abgesehen, die man in der Entfernung rollen hörte, völlige Todesstille.

 

Sie fing an, die Sekunden zu zählen, und bemerkte, daß sie um das Doppelte langsamer waren, als die Schläge ihres Herzens. Dennoch zweifelte sie. Die harmlose Valentine konnte sich nicht vorstellen, es wünsche irgend jemand ihren Tod. Warum? In welcher Absicht? Was hatte sie Böses getan, um jemandes Feindschaft auf sich zu ziehen?

 

Ein Gedanke, ein einziger, furchtbarer Gedanke hielt ihren Geist gespannt, der Gedanke, es sei eine Person auf der Welt, die sie zu ermorden versucht habe und es abermals versuchen würde. Wenn diese Person diesmal, wie es der Graf von Monte Christo gesagt, ihre Zuflucht zum Eisen nahm! Wenn der Graf nicht mehr Zeit hatte, herbeizueilen! Wenn sie ihrem letzten Augenblicke nahe stände, wenn sie Morel nicht mehr wiedersehen sollte!

 

Bei diesem Gedanken, der sie zugleich mit Leichenblässe und mit eisigem Schweiße bedeckte, war Valentine nahe daran, nach der Glockenschnur zu greifen und um Hilfe zu rufen. Zwanzig Minuten, zwanzig Ewigkeiten verliefen so, dann noch zehn weitere Minuten; endlich schlug die Pendeluhr einmal auf das hellklingende Glöckchen.

 

In demselben Augenblicke sagte der Kranken ein unmerkliches Kratzen des Nagels an der Wand der Bibliothek, daß der Graf wachte und ihr zu wachen empfahl.

 

Auf der entgegengesetzten Seite, nämlich in der Richtung von Eduards Zimmer, glaubte Valentine wirklich den Boden knacken zu hören; sie horchte, ihren beinahe erstickten Atem zurückhaltend; die Türklinke knirschte, und die Tür drehte sich auf ihren Angeln.

 

Valentine hatte sich auf ihren Ellenbogen erhoben; es blieb ihr kaum Zeit, sich auf ihr Bett zurückfallen zu lassen und ihre Augen unter ihrem Arm zu verbergen. Dann wartete sie, zitternd, erschüttert, mit einem von unsäglicher Angst zusammengeschnürten Herzen.

 

Es näherte sich jemand dem Bette und streifte die Vorhänge. Valentine raffte alle ihre Kräfte zusammen und ließ das regelmäßige Gemurmel des Atems vernehmen, das einen ruhigen Schlaf andeutet.

 

Valentine! sprach ganz leise eine Stimme.

 

Dasselbe Schweigen: Valentine hatte versprochen, nicht zu erwachen und nicht zu sprechen.

 

Dann blieb alles still; Valentine hörte nur das beinahe unmerkliche Geräusch, wie eine Flüssigkeit in das Glas gegossen wurde, das sie geleert hatte.

 

Nun wagte sie es, unter dem Schirm ihres ausgestreckten Armes halb ihr Augenlid zu öffnen. Sie sah eine Frau in weißem Nachtkleide, die aus einer Phiole eine Flüssigkeit in ihr Glas leerte.

 

Während dieses kurzen Augenblicks hielt Valentine vielleicht ihren Atem zurück, oder sie machte irgend eine Bewegung, denn die Frau schaute unruhig auf und neigte sich über ihr Bett, um zu sehen, ob sie wirklich, schlafe: es war Frau von Villefort. Als Valentine ihre Stiefmutter erkannte, wurde sie von einem so jähen Schauer ergriffen, daß sich ihr Bett bewegte.

 

Frau von Villefort drückte sich sogleich an die Wand und beobachtete hier, vom Bettvorhang gedeckt, ihr Opfer stumm und aufmerksam.

 

Valentine erinnerte sich der furchtbaren Worte Monte Christos; es war ihr vorgekommen, als hätte sie in der Hand, welche die Phiole nicht hielt, ein langes, scharfes Messer glänzen sehen, und sie rief ihre ganze Willenskraft zu Hilfe, um die Augen zu schließen.

 

Durch die Stille, in der sich das gleichmäßige Geräusch des Atemholens der Kranken wieder hören ließ, sicher gemacht, streckte Frau von Villefort abermals den Arm aus und goß, halb verborgen hinter dem oben am Bette zusammengezogenen Vorhang, den Inhalt der Phiole vollends in Valentines Glas.

 

Dann entfernte sie sich, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Es läßt sich nicht ausdrücken, was Valentine während der letzten anderthalb Minuten empfunden hatte. Ein leichtes Kratzen an der Bibliothek entzog sie ihrer Betäubung. Sie hob den Kopf mit großer Anstrengung in die Höhe. Die stille Tür drehte sich abermals auf ihren Angeln, und der Graf von Monte Christo erschien wieder.

 

Nun! fragte er, zweifeln Sie immer noch?

 

Oh, mein Gott! murmelte das Mädchen.

 

Sie haben sie erkannt?

 

Valentine stieß einen Seufzer aus und erwiderte: Ja, doch ich kann nicht daran glauben.

 

Sie wollen also lieber sterben und Maximilian sterben lassen?

 

Mein Gott! mein Gott! rief das Mädchen, fast von Sinnen, kann ich denn nicht das Haus verlassen und fliehen?

 

Valentine, die Hand, die Sie verfolgt, wird Sie überall treffen; mit Gold verführt man Ihre Diener, und der Tod bietet sich Ihnen unter allen Gestalten verkleidet: im Wasser, das Sie an der Quelle trinken, in der Frucht, die Sie vom Baume pflücken.

 

Wer sagten Sie denn nicht, die Vorsicht des guten Papas habe mich gegen das Gift beschützt?

 

Gegen ein Gift, das nicht einmal in starker Dose angewendet wurde; man wird das Gift verändern oder die Dosis vermehren.

 

Er nahm das Glas und benutzte seine Lippen.

 

Ah! sehen Sie, sagte er, es ist bereits geschehen. Man vergiftet Sie nicht mehr mit Brucin, sondern mit einem andern Mittel. Ich erkenne den Geschmack des Alkohols, in dem man es sich hat auflösen lassen. Hätten Sie getrunken, was Ihnen Frau von Villefort in dieses Glas gegossen, Valentine, Sie wären bereits verloren.

 

Mein Gott! warum verfolgt sie mich denn? Ich habe ihr nie Schlimmes zugefügt.

 

Doch Sie sind reich, Valentine, Sie haben 200 000 Franken Rente, und diese 200 000 Franken entziehen Sie ihrem Sohne.

 

Wieso? Mein Vermögen ist nicht das seinige; es kommt mir von meinen Großeltern zu.

 

Allerdings, und deshalb sind Herr und Frau von Saint-Meran gestorben, die Sie beerben sollten; deshalb war Herr Noirtier verurteilt, sobald er Sie zu seiner Erbin eingesetzt hatte; deshalb endlich sollen Sie sterben, damit Ihr Vater von Ihnen erbt und Ihr Bruder als einziges Kind dann von Ihrem Vater.

 

Eduard! Armes Kind, für ihn begeht man alle diese Verbrechen?

 

Ah! Sie begreifen endlich.

 

Mein Gott! Wenn er nur nicht einmal hierfür leiden muß!

 

Sie sind ein Engel, Valentine!

 

Und in dem Geiste einer Frau ist eine solche Kombination geboren worden! Mein Gott! Mein Gott! Denken Sie an Perugua, an die Laube im Gasthause zur Post, an den Mann mit dem braunen Mantel, den Ihre Mutter über die Aqua Tosana befragte! Nun, seit jener Zeit reifte der ganze höllische Plan in ihrem Gehirn.

 

Oh! mein Herr, rief das sanfte Mädchen, in Tränen zerfließend, ich sehe wohl, daß ich zum Sterben verurteilt bin, wenn es so ist.

 

Nein, Valentine, nein, denn ich habe dies alles vorhergesehen; nein, denn unsere Feindin ist besiegt, weil sie entdeckt ist: nein, Sie werden leben, Valentine, um zu lieben und geliebt zu werden, Sie werden leben, um glücklich zu sein und ein edles Herz glücklich zu machen; doch um zu leben, Valentine, müssen Sie Vertrauen zu mir haben.

 

Befehlen Sie, mein Herr, was soll ich tun?

 

Sie müssen blindlings nehmen, was ich Ihnen geben werde.

 

Oh! Gott ist mein Zeuge, rief Valentine, wenn ich allein wäre, so würde ich lieber sterben.

 

Sie werden niemand vertrauen, selbst nicht einmal Ihrem Vater?

 

Nicht wahr, mein Vater hat keinen Anteil an diesem furchtbaren Komplott?

 

Nein, und dennoch muß Ihr Vater vermuten, daß alle diese Todesfälle, die Ihr Haus treffen, nicht natürlich sind. Ihr Vater hätte über Ihnen wachen sollen, er sollte zu dieser Stunde an dem Platze sein, den ich einnehme; er sollte bereits dieses Glas ausgeleert haben; er müßte sich gegen den Mörder erhoben haben. Gespenst gegen Gespenst, murmelte er, ganz leise seinen Satz vollendend.

 

Gut, sagte Valentine, ich werde alles tun, um zu leben, denn es gibt zwei Wesen auf der Welt, die mich so lieben, daß sie sterben würden, wenn mich der Tod träfe: mein Großvater und Maximilian.

 

Ich werde auch sie beschützen.

 

Wohl, mein Herr, verfügen Sie über mich, sprach Valentine. Dann sagte sie mit leisem Stimme: Oh, mein Gott! mein Gott! Was wird mir widerfahren?

 

Valentine, was Ihnen auch geschehen mag, erschrecken Sie nicht! Wenn Sie leiden, wenn Sie das Gesicht, das Gehör, das Gefühl verlieren, fürchten Sie nichts! Wenn Sie erwachen, ohne zu wissen, wo Sie sind, hegen Sie keine Furcht, und sollten Sie sich in einem Grabgewölbe oder in einem Sarge finden! Sammeln Sie sogleich Ihren Geist und sagen Sie sich: In diesem Augenblick wacht ein Freund, ein Vater, ein Mann, der mein und Maximilians Glück will, über mir.

 

Ach! ach! welch eine gräßliche Notwendigkeit!

 

Valentine, wollen Sie lieber Ihre Stiefmutter anklagen?

 

Ich wollte lieber hundertmal sterben! ah! ja, sterben!

 

Nein, Sie werden nicht sterben, und was Ihnen auch geschehen mag, Sie werden nicht klagen, sondern hoffen, das versprechen Sie mir.

 

Ich werde an Maximilian denken.

 

Sie sind meine vielgeliebte Tochter; ich allein kann Sie retten und werde Sie retten.

 

Valentine faltete im höchsten Schrecken die Hände, denn sie fühlte, daß der Augenblick gekommen war, Gott um Mut anzuflehen; sie richtete sich auf, um zu beten, murmelte Worte ohne Folge und vergaß dabei, daß ihre weißen Schultern keinen andern Schleier hatten, als ihr weiches Haar, und daß man ihr Herz unter der seinen Spitze ihres Nachtgewandes schlagen sah.

 

Der Graf legte sacht die Hand auf Valentines Arm, zog ihre Samtdecke bis zum Halse herauf und sprach mit väterlichem Lächeln: Meine Tochter, glauben Sie an meine Zuneigung, wie Sie an die Güte Gottes und an die Liebe Maximilians glauben.

 

Valentine heftete einen Blick voll Dankbarkeit auf ihn und blieb gelehrig wie ein Kind. Da zog der Graf aus seiner Westentasche die kleine Büchse von Smaragd, nahm ihren goldenen Deckel ab und schüttelte in Valentines Hände eine runde Pastille von der Größe einer Erbse. Valentine schob die Pastille in den Mund und verschluckte sie.

 

Und nun auf Wiedersehen, mein Kind, sagte der Graf, ich will versuchen, zu schlafen, denn Sie sind gerettet.

 

Gehen Sie, sagte Valentine, was mir auch begegnen mag, ich verspreche Ihnen, keine Furcht zu haben.

 

Monte Christo hielt lange seine Augen auf das Mädchen geheftet, das, von der Macht des narkotischen Mittels besiegt, allmählich entschlummerte.

 

Nun nahm er das Glas, leerte drei Viertel in den Kamin, damit man glaube, Valentine habe das Fehlende getrunken, und stellte es wieder auf den Nachttisch; dann kehrte er zur Tür der Bibliothek zurück und verschwand, nachdem er einen letzten Blick auf Valentine geworfen hatte, die mit dem Vertrauen und der Reinheit eines zu den Füßen des Herrn liegenden Engels einschlief.

 

Valentine.

 

Valentine.

 

Die Nachtlampe brannte immer noch auf dem Kamine und verzehrte die letzten Tropfen Öl; ein trauriges Licht färbte mit mattem Widerschein die weißen Vorhänge und die Bettücher. Alles Geräusch der Straße war jetzt erloschen, und im Innern herrschte eine furchtbare Stille.

 

Die Tür von Eduards Zimmer öffnete sich jetzt, und ein Kopf erschien in dem der Tür gegenüber angebrachten Spiegel; es war Frau von Villefort, die zurückkehrte, um die Wirkung des Trankes zu beobachten.

 

Sie blieb auf der Schwelle stehen und ging dann sacht auf den Nachttisch zu, um zu sehen, ob das Glas leer sei.

 

Es war, wie gesagt, noch zum vierten Teile voll.

 

Frau von Villefort nahm es und leerte es in die Asche, dir sie mit dem Fuße umrührte, um die Einsaugung der Flüssigkeit zu erleichtern; dann spülte sie sorgfältig den Kristall aus, wischte ihn mit ihrem eigenen Taschentuch ab und stellte ihn wieder auf den Nachttisch.

 

Wer in das Innere dieses Zimmers hätte schauen können, würde gesehen haben, wie Frau von Villefort zögerte, ihre Augen auf Valentine zu heften und sich ihrem Bett zu nähern! die Giftmischerin fürchtete sich offenbar vor ihrem Werke.

 

Endlich faßte sie Mut, schob den Vorhang beiseite, stützte sich auf das Kopfkissen und neigte sich über Valentine.

 

Valentine atmete nicht mehr, ihre halbgeöffneten Zähne ließen kein Atom von dem Hauche durch, der das Leben verrät. Ihre weißen Lippen hatten zu zittern aufgehört; in einen violetten Dunst getaucht, der sich unter die Haut gezogen zu haben schien, bildeten ihre Augen dort, wo der Augapfel das Augenlid wölbte, einen weißen Vorsprung, und ihre langen, schwarzen Wimpern schienen dunkle Furchen über eine bereits wachsartig matte Haut zu ziehen.

 

Frau von Villefort beschaute dieses Gesicht mit einem sonderbar starren Ausdruck; sie hob dann rasch die Decke auf und legte ihre Hand auf das Herz des Mädchens. Es war stumm und eisig.

 

Was unter ihrer Hand schlug, das war die Arterie ihrer Finger; sie zog ihre Hand mit einem Schauer zurück. Valentines Arm hing über das Bett herab, und die Nägel waren an der Wurzel blau.

 

Für Frau von Villefort gab es keinen Zweifel mehr, alles war vorbei; das furchtbare Werk, das letzte, das sie zu vollbringen hatte, war vollbracht. Die Giftmischerin hatte nichts mehr in diesem Zimmer zu tun; sie wich langsam, den Vorhang noch immer haltend und wie gebannt durch den Anblick des Opfers, so behutsam zurück, daß sie das Geräusch ihrer Füße auf dem Teppiche zu fürchten schien.

 

In diesem Augenblick verdoppelte sich das Geknister der Nachtlampe. Frau von Villefort bebte bei diesem Geräusch und ließ den Vorhang fallen. Dann erlosch die Lampe, und das Zimmer versank in eine furchtbare Dunkelheit.

 

In dieser Dunkelheit erwachte die Pendeluhr und schlug halb vier. Erschrocken über diese aufeinander folgenden Geräusche, erreichte die Giftmischerin tappend die Tür, und kehrte, den Angstschweiß auf der Stirn, in ihr Zimmer zurück. Die Dunkelheit dauerte noch zwei Stunden.

 

Allmählich drang ein bleicher Tag durch die Zwischenräume der Läden, und das Licht wurde nach und nach stärker und gab den Gegenständen und Körpern Farbe und Form zurück. Jetzt hörte man das Husten der Krankenwärterin auf der Treppe, und diese Frau trat, eine Tasse in der Hand, ein. Sie hielt Valentine noch für schlafend und sagte: Gut! sie hat getrunken, das Glas ist zu zwei Dritteln leer. Dann ging sie an den Kamin, zündete Feuer an, setzte sich in ihren Lehnstuhl und benutzte, obgleich sie erst aus ihrem Bette kam, Valentines Schlaf, um selbst noch einige Augenblicke zu schlummern. Die Pendeluhr erweckte, die Wärterin, als sie acht Uhr schlug. Erstaunt über den hartnäckigen Schlaf, in dem Valentine verharrte, erschrocken über den aus dem Bette hängenden Arm, ging sie näher und bemerkte jetzt erst die kalten Lippen und die eisige Brust. Sie wollte den Arm zum Körper heraufziehen; doch mit jener furchtbaren Steifheit, die für eine Wärterin keinen Zweifel übrig ließ, widerstand der Arm.

 

Sie stieß einen furchtbaren Schrei aus, lief an die Tür und rief: Zu Hilfe! zu Hilfe!

 

Wie! zu Hilfe? entgegnete unten an der Treppe Herrn d’Avrignys Stimme.

 

Es war die Stunde, zu der der Doktor gewöhnlich kam.

 

Wie! zu Hilfe! rief Herr von Villefort, aus seinem Kabinett stürzend, Doktor, haben Sie nicht um Hilfe rufen hören?

 

Ja, ja, gehen Sie rasch hinauf, es ist bei Valentine, antwortete d’Avrigny.

 

Doch ehe der Arzt und der Vater hinaufkamen, waren die Diener, welche sich in den Zimmern und Gängen befanden, bei Valentine eingetreten, und als sie diese bleich und unbeweglich auf ihrem Bette sahen, hoben sie die Hände zum Himmel empor und wankten, wie vom Schwindel erfaßt.

 

Ruft Frau von Villefort! Weckt Frau von Villefort! schrie der Staatsanwalt vor der Tür des Zimmers, in das er, wie es schien, nicht einzutreten wagte.

 

Doch statt zu antworten, schauten die Diener Herrn d’Avrigny an, der auf Valentine zugelaufen war und sie in seinen Armen aufhob.

 

Auch diese … murmelte er und ließ sie zurückfallen. Oh! mein Gott! mein Gott! wann wirst du müde werden?

 

Villefort stürzte in das Zimmer.

 

Was sagen Sie? rief er, die Hände zum Himmel emporstreckend, Doktor! … Doktor! …

 

Ich sage, daß Valentine tot ist, antwortete d’Avrigny mit feierlichem und in seiner Feierlichkeit schrecklichem Tone.

 

Herr von Villefort sank zusammen, wie wenn seine Beine gebrochen wären, und fiel mit dem Kopf auf das Bett seiner Tochter.

 

Bei den Worten des Doktors, bei dem Geschrei des Vaters entflohen die Diener voll Schrecken und unter dumpfen Verwünschungen. Man hörte auf den Treppen und in den Gängen hastige Tritte – dann war alles vorbei, der Lärm verklang; von dem ersten bis zum letzten hatten sie das verfluchte Haus verlassen.

 

In diesem Augenblick hob Frau von Villefort, den Arm halb in ihr Morgengewand gehüllt, den Türvorhang auf; einen Augenblick blieb sie auf der Schwelle, scheinbar die Anwesenden befragend und ein paar widerwillige Tränen zu Hilfe rufend.

 

Plötzlich machte sie, die Arme gegen den Nachttisch ausstreckend, einen Schritt oder vielmehr einen Sprung vorwärts.

 

Sie hatte gesehen, wie sich d’Avrigny neugierig über diesen Tisch beugte und das Glas nahm, von dem sie gewiß wußte, daß sie den Inhalt in die Asche geschüttet hatte.

 

Hätte sich das Gespenst des Opfers vor der Giftmischerin erhoben, es hätte keine solche Wirkung auf sie hervorbringen können. Hat sie nicht den Rest des Trankes vorsichtig ausgeschüttet? Es muß ein Wunder sein, das Gott ohne Zweifel getan, damit eine Spur des Verbrechens zurückbleibe.

 

Während Frau von Villefort unbeweglich wie eine Bildsäule des Schreckens dastand, während Villefort, den Kopf in den Tüchern des Sterbebettes bergend, nichts von dem sah, was um ihn her vorging, näherte sich d’Avrigny dem Fenster, um den Inhalt des Glases zu prüfen, und kostete einen Tropfen, den er mit dem Ende des Fingers nahm.

 

Ah! murmelte er, das ist nicht mehr Brucin; wir wollen sehen, was es ist.

 

Dann lief er nach einem Schranke im Zimmer, den man in eine Apotheke verwandelt hatte, zog ein Fläschchen mit Salpetersäure hervor und ließ ein paar Tropfen in das Milchweiß der Flüssigkeit fallen, die sich alsbald blutrot färbte.

 

Ah! machte d’Avrigny, indem sich mit dem Schrecken des die entsetzliche Wahrheit erkennenden Richters die Genugtuung des Gelehrten, dem sich ein Problem entschleiert, mischte.

 

Frau von Villefort drehte sich einen Augenblick um sich selbst, ihre Augen schleuderten Flammen, dann wurden sie trübe; wankend suchte sie mit der Hand die Tür und verschwand.

 

Einen Augenblick nachher hörte man das Geräusch eines auf den Boden fallenden Körpers. Doch niemand achtete darauf außer Herrn d’Avrigny, der Frau von Villefort mit den Augen folgte und ihre rasche Entfernung bemerkte.

 

Er hob den Türvorhang des Zimmers von Valentine auf, worauf sein Blick durch Eduards Zimmer in das Gemach der Frau von Villefort dringen konnte, die er ohne Bewegung auf dem Boden ausgestreckt sah.

 

Stehen Sie Frau von Villefort bei, sagte er zu der Wärterin: Frau von Villefort ist unwohl!

 

Doch Fräulein Valentine? stammelte die Wärterin.

 

Fräulein Valentine bedarf keiner Hilfe mehr, denn sie ist tot, sprach d’Avrigny.

 

Tot! Tot! seufzte Villefort im Paroxysmus eines um so gräßlicheren Schmerzes, als er für dieses eherne Herz neu, unbekannt, unerhört war.

 

Tot sagen Sie, rief eine dritte Stimme, wer sagt, Valentine sei tot?

 

Die beiden Männer wandten sich um und erblickten an der Tür Morel, bleich, verstört, furchtbar.

 

Morel hatte sich zur gewöhnlichen Stunde durch die kleine Tür, die zu Noirtier führte, eingefunden. Gegen die Gewohnheit fand er die Tür offen; er hatte also nicht nötig zu läuten und trat ein. Im Vorhause wartete er einen Augenblick und rief einen Bedienten, der ihn bei dem alten Noirtier einführen sollte. Doch niemand antwortete auf sein Rufen. Nachdem er noch eine Weile vergeblich gewartet hatte, entschloß er sich, hinaufzugehen.

 

Noirtiers Tür war offen, wie die andern Türen.

 

Das erste, was er sah, war der Greis in seinem Lehnstuhle und an seinem gewöhnlichen Platze; doch seine weitgeöffneten Augen schienen einen inneren Schrecken auszudrücken, den auch die über seine Züge ausgebreitete seltsame Blässe verriet.

 

Wie geht es Ihnen, mein Herr? fragte der junge Mann mit gepreßtem Herzen.

 

Gut! machte der Greis mit den Augen blinzelnd, gut!

 

Doch seine Unruhe schien noch zuzunehmen.

 

Sie sind unruhig, fuhr Morel fort, Sie brauchen etwas, soll ich jemand von Ihren Leuten rufen?

 

Ja, machte Noirtier.

 

Aber Morel mochte an der Klingelschnur ziehen, soviel er wollte, es kam niemand.

 

Mein Gott! mein Gott! sagte er, warum kommt man denn nicht? Ist jemand krank im Hause?

 

Noirtiers Augen schienen bei diesen Worten nahe daran, aus ihrer Höhle hervorzuspringen.

 

Aber was haben Sie denn? fuhr Morel fort, Sie erschrecken mich. Valentine! Valentine! …

 

Ja, ja, machte der Greis.

 

Maximilian öffnete den Mund, um zu sprechen, doch er vermochte keinen Ton hervorzubringen; er wankte und hielt sich am Gesimse. Dann streckte er die Hand nach der Tür aus.

 

Ja! ja! ja! fuhr der Greis fort.

 

Maximilian stürzte nach der kleinen Treppe, über die er in zwei Sprüngen setzte, während Noirtier ihm mit den Augen zuzurufen schien: Schneller! schneller!

 

Eine Minute genügte für den jungen Mann, um durch mehrere Zimmer zu eilen, die wie das übrige Haus verlassen waren, und bis an das Krankenzimmer zu gelangen, dessen Tür weit offen stand.

 

Ein Schluchzen war das erste Geräusch, das er hörte. Er sah wie durch eine Wolke eine knieende und in einem verworrenen Haufen von weißen Tüchern verlorene schwarze Gestalt. Die Angst, die gräßliche Angst fesselte ihn an die Schwelle.

 

Da hörte er eine Stimme sagen: Valentine ist tot.