Die Erscheinung.

 

Die Erscheinung.

 

Valentine war noch nicht völlig wiederhergestellt; von unwiderstehlicher Müdigkeit bezwungen, hütete sie das Bett. Den Tag hindurch wurde sie noch etwas frisch erhalten durch Noirtiers Gegenwart, der sich zu seiner Enkelin tragen ließ und, sie mit seinem väterlichen Blicke bewachend, bei ihr blieb; wenn sodann Villefort aus dem Justizpalaste zurückkam, verweilte er ebenfalls ein paar Stunden bei ihr. Um sechs Uhr zog sich Villefort in sein Kabinett zurück; um 8 Uhr erschien Herr d’Avrigny, der selbst den für die Kranke bereiteten Trank brachte; dann trug man Noirtier weg. Eine vom Arzt bestellte Wärterin blieb zurück und entfernte sich erst gegen elf Uhr, wenn Valentine entschlummert war. Sie übergab hierauf die Schlüssel von Valentines Zimmer Herrn von Villefort, so daß man nur durch Frau von Villeforts Wohnung oder durch das Zimmer des kleinen Eduard zu der Kranken gelangen konnte.

 

Jeden Morgen kam Morel zu Noirtier, um Erkundigungen einzuziehen; doch erschien er sonderbarerweise von Tag zu Tag weniger unruhig zu sein. Einmal ging es von Tag zu Tag bei Valentine besser, obgleich sie noch einer heftigen Aufregung preisgegeben war; sodann hatte ihm auch Monte Christo damals gesagt, wenn Valentine in zwei Stunden nicht tot wäre, so würde sie gerettet werden. Valentine lebte aber noch, und es waren bereits vier Tage vorüber. Die nervöse Aufregung verfolgte Valentine bis in ihren Schlaf oder vielmehr bis in den schlafsüchtigen Zustand, der auf ihr Wachsein folgte. Dann geschah es, daß sie in der Stille der Nacht und in dem Halbdunkel, das im Räume um sie her herrschte, jene Schatten erblickte, die das Zimmer der Kranken bevölkern, und die auf den Schwingen des Fiebers schweben. Dann kam es ihr bald vor, als ob sie das drohende Antlitz ihrer Stiefmutter erblickte, bald als ob Morel seine Arme nach ihr ausstreckte, bald als ob sie ihr sonst fernstehende Wesen, wie den Grafen von Monte Christo, gewahrte! Alles schien ihr in diesen fieberhaften Augenblicken beweglich und schwankend, und dies dauerte bis um drei oder vier Uhr morgens, wo ein bleierner Schlaf sich ihrer bemächtigte und sie bis zum Tage gefesselt hielt.

 

Am Abend des Tages, als Valentine Eugenies Flucht und die Verhaftung Benedettos erfahren hatte, ereignete sich eine seltsame Szene in dem so sorgfältig geschlossenen Gemach. Die Wärterin hatte sich ungefähr seit zehn Minuten entfernt. Seit einer Stunde etwa von dem jede Nacht wiederkehrenden Fieber heimgesucht, ließ Valentine den gegen ihren Willen unbotmäßigen Kopf die rastlose Arbeit des Gehirnes fortsetzen, das sich in unablässiger Wiederholung derselben Gedanken oder in Erzeugung derselben Bilder erschöpfte. Von dem Dochte der Nachtlampe gingen tausend und abertausend Strahlen mit seltsamen Zeichen aus, als es Valentine plötzlich. schien, als schiebe sich ihre Bibliothek, die neben dem Kamine in einer Mauervertiefung stand, beiseite, ohne daß die Angeln, auf denen sich eine Tür zu drehen schien, das geringste Geräusch hervorbrachten.

 

In jedem andern Augenblick hätte Valentine die Glocke genommen und um Hilfe gerufen; doch in der Lage, in der sie sich befand, erschreckte sie nichts mehr. Sie hatte das Bewußtsein, alles, was ihren Sinnen sich vorstellte, sei eine Ausgeburt ihres Deliriums.

 

Hinter der Tür erschien eine menschliche Gestalt.

 

Valentine war infolge ihres Fiebers zu sehr vertraut mit solchen Erscheinungen, um darüber zu erschrecken; sie riß nur die Augen weit auf, in der Hoffnung, Morel zu erkennen.

 

Die Gestalt schritt auf ihr Bett zu, dann blieb sie stehen und schien mit tiefer Aufmerksamkeit zu horchen.

 

In diesem Augenblick fiel ein Strahl der Lampe auf das Gesicht des nächtlichen Besuchers.

 

Valentine wartete regungslos, überzeugt, es sei nur ein Traum, und dieser Mensch werde, wie es in den Träumen geschieht, verschwinden oder sich in irgend eine andere Person verwandeln.

 

Sie berührte nur ihren Puls, und als sie ihn heftig schlagen fühlte, erinnerte sie sich, das beste Mittel, diese lästigen Erscheinungen verschwinden zu lassen, sei, zu trinken. Die Frische des Getränkes, das in der Absicht bereitet war, die Aufregung, über die sich Valentine bei dem Doktor beklagte, zu beseitigen, linderte das Fieber und schärfte die Geisteskräfte.

 

Valentine streckte also die Hand aus, um ihr Glas von der kristallenen Trinkschale zu nehmen; doch während sie ihren zitternden Arm ausstreckte, machte die Erscheinung abermals, und noch lebhafter als zuvor zwei Schritte auf das Bett zu und gelangte so nahe zu Valentine, daß sie ihren Hauch hörte und den Druck ihrer Hand zu fühlen glaubte. Diesmal überstieg der Anschein der Wirklichkeit alles, was Valentine bis dahin erfahren hatte; sie fing an, sich für völlig wach zu halten; sie hatte das Bewußtsein, bei voller Vernunft zu sein, und bebte.

 

Der Druck, den Valentine gefühlt, hatte ihren Arm zurückhalten wollen.

 

Dann nahm diese Gestalt, von der sich ihr Blick nicht losmachen konnte, und die übrigens mehr einen beschützenden als bedrohlichen Eindruck machte, das Glas, hielt es an die Nachtlampe und beschaute prüfend den Trank. Offenbar genügte die Augenprüfung nicht, denn dieser Mensch, oder vielmehr dieses Gespenst, schöpfte einen Löffelvoll aus dem Glase und verschluckte ihn.

 

Valentine schaute das, was vor ihren Augen vorging, mit größtem Erstaunen an. Sie glaubte wohl, alles werde bald verschwinden, um einem andern Gemälde Platz zu machen; doch, statt wie ein Schatten zu entweichen, trat der Mensch näher zu ihr und sagte, Valentine das Glas reichend, mit erschütterter Stimme: Nun, trinken Sie!

 

Valentine bebte. Es war das erstemal, daß eine von ihren Erscheinungen in so lebendigen Tönen zu ihr sprach. Sie öffnete den Mund, um einen Schrei auszustoßen.

 

Der Mensch legte einen Finger auf seine Lippen.

 

Der Graf von Monte Christo! murmelte sie.

 

An dem Schrecken, der sich in Valentines Augen ausprägte, an dem Zittern ihrer Hände, an der raschen Gebärde, mit der sie sich unter ihre Tücher steckte, konnte man den letzten Kampf des Zweifels gegen die Überzeugung erkennen; doch die Gegenwart Monte Christos zu einer solchen Stunde, sein phantastischer, geheimnisvoller, unerklärlicher Eintritt durch eine Wand erschienen Valentines erschüttertem Gehirn als etwas Unmögliches.

 

Rufen Sie nicht, erschrecken Sie nicht, sagte der Graf; hegen Sie keinen Schimmer von Verdacht, keine Spur von Unruhe; der, den Sie vor sich sehen, ist der ehrfurchtsvollste Freund, von dem Sie nur immer träumen konnten.

 

Valentine fand keine Antwort; sie hatte eine solche Furcht vor dieser Stimme, die ihr die wirkliche Gegenwart des Sprechenden bewies, daß sie ihre Stimme nicht damit zu verbinden wagte; doch ihr erschrockener Blick sagte: Wenn Ihre Absichten rein sind, warum befinden Sie sich hier?

 

Hören Sie mich, sagte der Graf, der ihre Herzensregung verstand, oder vielmehr schauen Sie mich an! Sie sehen meine geröteten Augen und mein ungewöhnlich bleiches Gesicht; seit vier Nächten wache ich über Sie, beschütze Sie, erhalte ich Sie für unseren Freund Maximilian.

 

Eine Blutwoge der Freude stieg rasch in die Wangen der Kranken; denn der von dem Grafen ausgesprochene Name erstickte den Rest des Mißtrauens, den er ihr eingeflößt.

 

Maximilian! … wiederholte Valentine, so süß kam es ihr vor, diesen Namen auszusprechen; Maximilian! er hat Ihnen also alles gestanden?

 

Alles. Er hat mir gesagt, Ihr Leben sei das seinige, und ich versprach ihm, Sie würden leben.

 

Sie versprachen ihm, ich würde leben? – Ja.

 

In der Tat, mein Herr, Sie sagten vorhin etwas von Wachen und Schutz. Sind Sie denn Arzt?

 

Ja, der beste, den Ihnen der Himmel in diesem Augenblick schicken kann, das mögen Sie mir glauben.

 

 

Sie sagten, Sie hätten gewacht? fragte Valentine unruhig; wo denn? Ich habe Sie nicht gesehen. Der Graf streckte die Hand in der Richtung der Bibliothek aus.

 

Ich war hinter jener Tür verborgen, sagte er; jene Tür führt in das anstoßende Haus, das ich gemietet habe.

 

Valentine wandte mit einer Bewegung schamhaften Stolzes die Augen ab und sagte voll Schrecken: Mein Herr, was Sie getan haben, ist beispiellos wahnsinnig, und der Schutz, den Sie mir gewähren, sieht einer Beleidigung sehr ähnlich.

 

Valentine, sagte der Graf, während der langen Nachtwachen sah ich nur, welche Leute zu Ihnen kamen, welche Nahrungsmittel man Ihnen bereitete, welche Getränke man Ihnen vorsetzte. Erschienen mir diese Getränke gefährlich, so trat ich ein, wie ich soeben eingetreten bin, leerte Ihr Glas und setzte an die Stelle des Giftes ein wohltätiges Getränk, das statt des Todes, den man Ihnen bereitet hatte, das Leben in Ihren Adern kreisen ließ.

 

Gift! Tod! rief Valentine, die abermals unter der Herrschaft einer fieberhaften Sinnestäuschung zu stehen glaubte; was sagen Sie da, mein Herr?

 

Still, mein Kind, erwiderte Monte Christo, einen Finger auf seine Lippen legend, ich habe gesagt Gift und Tod; doch trinken Sie zuerst hiervon – der Graf zog aus seiner Tasche ein Fläschchen, das einen roten Saft enthielt, und goß ein paar Tropfen davon in ein Glas – und wenn Sie getrunken haben werden, nehmen Sie diese Nacht nichts mehr.

 

Valentine streckte die Hand aus; doch kaum hatte diese das Glas berührt, als sie sie voll Schrecken wieder zurückzog.

 

Monte Christo nahm das Glas, trank die Hälfte davon, reichte es Valentine, und diese verschluckte lächelnd den Rest.

 

Oh! ja, sagte sie, ich erkenne den Geschmack meiner nächtlichen Getränke, den Geschmack dieses Wassers, das meiner Brust ein wenig Frische, meinem Gehirn ein wenig Ruhe verlieh. Ich danke, mein Herr, ich danke.

 

So haben Sie seit vier Nächten gelebt, Valentine, sagte der Graf. Doch wie lebte ich? Oh, welche grausamen Stunden ließen Sic mich durchmachen? Oh! welche furchtbaren Qualen ließen Sie mich ausstehen, wenn ich in Ihr Glas das tödliche Gift gießen sah, wenn ich fürchtete, Sie hätten Zeit, es zu trinken, ehe ich Zeit gehabt hätte, es in den Kamin zu schütten!

 

Sie sagen, mein Herr, sprach Valentine, im höchsten Maße erschrocken, Sie sagen, Sie haben tausend Qualen ausgestanden, als man in mein Glas das tödliche Gift gegossen? Doch wenn Sie Gift in mein Glas gießen sahen, so mußten Sie auch die Person sehen, die es hineingoß?

 

Ja.

 

Valentine richtete sich auf, zog über ihre schneeweiße Brust den gestickten Battist, noch feucht von dem kalten Schweiße des Fiebers, mit dem sich der noch eisigere Schweiß des Schreckens zu vermischen anfing, und wiederholte: Sie haben sie gesehen?

 

Ja, sagte zum zweiten Male der Graf.

 

Was Sie mir da sagen, ist gräßlich, mein Herr, denn Sie wollen mich irgend etwas Höllisches glauben lassen. Wie! Im Hause meines Vaters, in meinem Zimmer, auf meinem Schmerzenslager fährt man fort, mich zu ermorden? Oh! Entfernen Sie sich, mein Herr, Sie führen mein Gewissen in Versuchung, Sie schmähen die Güte Gottes! Es ist unmöglich, es kann nicht sein.

 

Sind Sie denn die erste, welche diese Hand schlägt? Haben Sie nicht in Ihrer Umgebung Herrn von Saint-Meran, Frau von Saint-Meran, Barrois fallen sehen? Hätten Sie nicht Herrn Noirtier fallen sehen, wäre sein Körper nicht durch die beständige Aufnahme von Gift gegen die tödliche Wirkung gefeit?

 

Oh! mein Gott! Deshalb also verlangt der gute Papa seit einem Monat von mir, daß ich alle seine Getränke mit ihm teile?

 

Und diese Getränke, rief Monte Christo, nicht wahr, sie haben einen bitteren Geschmack, wie getrocknete Orangenschalen?

 

Ja, mein Gott, ja!

 

Oh! das erklärt mir alles, sagte Monte Christo; er weiß auch, daß man hier vergiftet, und vielleicht, wer hier vergiftet. Er hat Sie, sein vielgeliebtes Kind, gegen die tödliche Substanz schützen wollen. Deshalb leben Sie noch, was ich mir nicht erklären konnte, nachdem man Ihnen vor vier Tagen ein Gift beigebracht, das sonst immer tödlich ist.

 

Aber wer ist denn der Meuchler, der Mörder?

 

Ich frage Sie ebenfalls: Haben Sie nie jemand in der Nacht in Ihr Zimmer eintreten sehen?

 

Doch wohl. Oft kam es mir vor, als sähe ich Schatten erscheinen, sich nähern, sich entfernen, verschwinden; doch ich hielt sie für Ausgeburten meines Fiebers, und soeben, als Sie selbst eintraten, glaubte ich lange, ich hätte entweder das Fieber oder ich träumte.

 

Also kennen Sie die Person nicht, die Ihnen das Leben nehmen will?

 

Nein. Warum sollte jemand meines Tod wünschen?

 

Sie werden sie kennen lernen, versetzte Monte Christo horchend.

 

Wie dies? fragte Valentine, voll Schrecken umherschauend.

 

Weil Sie heute abend weder das Fieber, noch das Delirium haben, weil Sie vollkommen wach sind, weil es soeben Mitternacht schlägt und dies die Stunde der Mörder ist.

 

Mein Gott! mein Gott! sagte Valentine, mit der Hand den Schweiß abtrocknend, der auf ihrer Stirn perlte.

 

Es schlug in der Tat langsam und schaurig zwölf Uhr; es war, als ob jeder Schlag des eisernen Hammers das Herz des Mädchens träfe.

 

Valentine, fuhr der Gras fort, rufen Sie alle Ihre Kräfte zu Hilfe, drängen Sie Ihr Herz in Ihre Brust zurück, halten Sie Ihre Stimme in Ihrer Kehle seit, stellen Sie sich schlafend, und Sie werden sehen. Valentine faßte den Grafen bei der Hand und sagte: Es scheint mir, ich höre Geräusch, entfernen Sie sich!

 

Leben Sie wohl, oder vielmehr auf Wiedersehen, sagte der Graf. Dann kehrte er mit einem so traurigen und so väterlichen Lächeln, daß das Herz des Mädchens davon durchdrungen wurde, zur Tür der Bibliothek zurück. Doch wandte er sich noch einmal um und flüsterte: Keine Gebärde, kein Wort; man muß Sie für eingeschlafen halten, sonst tötet man Sie vielleicht, ehe ich Zeit hätte herbeizukommen.

 

Lorusta.

 

Lorusta.

 

Valentine blieb allein; zwei Pendeluhren schlugen kurz nacheinander Mitternacht. Dann herrschte wieder, von ein paar Wagen abgesehen, die man in der Entfernung rollen hörte, völlige Todesstille.

 

Sie fing an, die Sekunden zu zählen, und bemerkte, daß sie um das Doppelte langsamer waren, als die Schläge ihres Herzens. Dennoch zweifelte sie. Die harmlose Valentine konnte sich nicht vorstellen, es wünsche irgend jemand ihren Tod. Warum? In welcher Absicht? Was hatte sie Böses getan, um jemandes Feindschaft auf sich zu ziehen?

 

Ein Gedanke, ein einziger, furchtbarer Gedanke hielt ihren Geist gespannt, der Gedanke, es sei eine Person auf der Welt, die sie zu ermorden versucht habe und es abermals versuchen würde. Wenn diese Person diesmal, wie es der Graf von Monte Christo gesagt, ihre Zuflucht zum Eisen nahm! Wenn der Graf nicht mehr Zeit hatte, herbeizueilen! Wenn sie ihrem letzten Augenblicke nahe stände, wenn sie Morel nicht mehr wiedersehen sollte!

 

Bei diesem Gedanken, der sie zugleich mit Leichenblässe und mit eisigem Schweiße bedeckte, war Valentine nahe daran, nach der Glockenschnur zu greifen und um Hilfe zu rufen. Zwanzig Minuten, zwanzig Ewigkeiten verliefen so, dann noch zehn weitere Minuten; endlich schlug die Pendeluhr einmal auf das hellklingende Glöckchen.

 

In demselben Augenblicke sagte der Kranken ein unmerkliches Kratzen des Nagels an der Wand der Bibliothek, daß der Graf wachte und ihr zu wachen empfahl.

 

Auf der entgegengesetzten Seite, nämlich in der Richtung von Eduards Zimmer, glaubte Valentine wirklich den Boden knacken zu hören; sie horchte, ihren beinahe erstickten Atem zurückhaltend; die Türklinke knirschte, und die Tür drehte sich auf ihren Angeln.

 

Valentine hatte sich auf ihren Ellenbogen erhoben; es blieb ihr kaum Zeit, sich auf ihr Bett zurückfallen zu lassen und ihre Augen unter ihrem Arm zu verbergen. Dann wartete sie, zitternd, erschüttert, mit einem von unsäglicher Angst zusammengeschnürten Herzen.

 

Es näherte sich jemand dem Bette und streifte die Vorhänge. Valentine raffte alle ihre Kräfte zusammen und ließ das regelmäßige Gemurmel des Atems vernehmen, das einen ruhigen Schlaf andeutet.

 

Valentine! sprach ganz leise eine Stimme.

 

Dasselbe Schweigen: Valentine hatte versprochen, nicht zu erwachen und nicht zu sprechen.

 

Dann blieb alles still; Valentine hörte nur das beinahe unmerkliche Geräusch, wie eine Flüssigkeit in das Glas gegossen wurde, das sie geleert hatte.

 

Nun wagte sie es, unter dem Schirm ihres ausgestreckten Armes halb ihr Augenlid zu öffnen. Sie sah eine Frau in weißem Nachtkleide, die aus einer Phiole eine Flüssigkeit in ihr Glas leerte.

 

Während dieses kurzen Augenblicks hielt Valentine vielleicht ihren Atem zurück, oder sie machte irgend eine Bewegung, denn die Frau schaute unruhig auf und neigte sich über ihr Bett, um zu sehen, ob sie wirklich, schlafe: es war Frau von Villefort. Als Valentine ihre Stiefmutter erkannte, wurde sie von einem so jähen Schauer ergriffen, daß sich ihr Bett bewegte.

 

Frau von Villefort drückte sich sogleich an die Wand und beobachtete hier, vom Bettvorhang gedeckt, ihr Opfer stumm und aufmerksam.

 

Valentine erinnerte sich der furchtbaren Worte Monte Christos; es war ihr vorgekommen, als hätte sie in der Hand, welche die Phiole nicht hielt, ein langes, scharfes Messer glänzen sehen, und sie rief ihre ganze Willenskraft zu Hilfe, um die Augen zu schließen.

 

Durch die Stille, in der sich das gleichmäßige Geräusch des Atemholens der Kranken wieder hören ließ, sicher gemacht, streckte Frau von Villefort abermals den Arm aus und goß, halb verborgen hinter dem oben am Bette zusammengezogenen Vorhang, den Inhalt der Phiole vollends in Valentines Glas.

 

Dann entfernte sie sich, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Es läßt sich nicht ausdrücken, was Valentine während der letzten anderthalb Minuten empfunden hatte. Ein leichtes Kratzen an der Bibliothek entzog sie ihrer Betäubung. Sie hob den Kopf mit großer Anstrengung in die Höhe. Die stille Tür drehte sich abermals auf ihren Angeln, und der Graf von Monte Christo erschien wieder.

 

Nun! fragte er, zweifeln Sie immer noch?

 

Oh, mein Gott! murmelte das Mädchen.

 

Sie haben sie erkannt?

 

Valentine stieß einen Seufzer aus und erwiderte: Ja, doch ich kann nicht daran glauben.

 

Sie wollen also lieber sterben und Maximilian sterben lassen?

 

Mein Gott! mein Gott! rief das Mädchen, fast von Sinnen, kann ich denn nicht das Haus verlassen und fliehen?

 

Valentine, die Hand, die Sie verfolgt, wird Sie überall treffen; mit Gold verführt man Ihre Diener, und der Tod bietet sich Ihnen unter allen Gestalten verkleidet: im Wasser, das Sie an der Quelle trinken, in der Frucht, die Sie vom Baume pflücken.

 

Wer sagten Sie denn nicht, die Vorsicht des guten Papas habe mich gegen das Gift beschützt?

 

Gegen ein Gift, das nicht einmal in starker Dose angewendet wurde; man wird das Gift verändern oder die Dosis vermehren.

 

Er nahm das Glas und benutzte seine Lippen.

 

Ah! sehen Sie, sagte er, es ist bereits geschehen. Man vergiftet Sie nicht mehr mit Brucin, sondern mit einem andern Mittel. Ich erkenne den Geschmack des Alkohols, in dem man es sich hat auflösen lassen. Hätten Sie getrunken, was Ihnen Frau von Villefort in dieses Glas gegossen, Valentine, Sie wären bereits verloren.

 

Mein Gott! warum verfolgt sie mich denn? Ich habe ihr nie Schlimmes zugefügt.

 

Doch Sie sind reich, Valentine, Sie haben 200 000 Franken Rente, und diese 200 000 Franken entziehen Sie ihrem Sohne.

 

Wieso? Mein Vermögen ist nicht das seinige; es kommt mir von meinen Großeltern zu.

 

Allerdings, und deshalb sind Herr und Frau von Saint-Meran gestorben, die Sie beerben sollten; deshalb war Herr Noirtier verurteilt, sobald er Sie zu seiner Erbin eingesetzt hatte; deshalb endlich sollen Sie sterben, damit Ihr Vater von Ihnen erbt und Ihr Bruder als einziges Kind dann von Ihrem Vater.

 

Eduard! Armes Kind, für ihn begeht man alle diese Verbrechen?

 

Ah! Sie begreifen endlich.

 

Mein Gott! Wenn er nur nicht einmal hierfür leiden muß!

 

Sie sind ein Engel, Valentine!

 

Und in dem Geiste einer Frau ist eine solche Kombination geboren worden! Mein Gott! Mein Gott! Denken Sie an Perugua, an die Laube im Gasthause zur Post, an den Mann mit dem braunen Mantel, den Ihre Mutter über die Aqua Tosana befragte! Nun, seit jener Zeit reifte der ganze höllische Plan in ihrem Gehirn.

 

Oh! mein Herr, rief das sanfte Mädchen, in Tränen zerfließend, ich sehe wohl, daß ich zum Sterben verurteilt bin, wenn es so ist.

 

Nein, Valentine, nein, denn ich habe dies alles vorhergesehen; nein, denn unsere Feindin ist besiegt, weil sie entdeckt ist: nein, Sie werden leben, Valentine, um zu lieben und geliebt zu werden, Sie werden leben, um glücklich zu sein und ein edles Herz glücklich zu machen; doch um zu leben, Valentine, müssen Sie Vertrauen zu mir haben.

 

Befehlen Sie, mein Herr, was soll ich tun?

 

Sie müssen blindlings nehmen, was ich Ihnen geben werde.

 

Oh! Gott ist mein Zeuge, rief Valentine, wenn ich allein wäre, so würde ich lieber sterben.

 

Sie werden niemand vertrauen, selbst nicht einmal Ihrem Vater?

 

Nicht wahr, mein Vater hat keinen Anteil an diesem furchtbaren Komplott?

 

Nein, und dennoch muß Ihr Vater vermuten, daß alle diese Todesfälle, die Ihr Haus treffen, nicht natürlich sind. Ihr Vater hätte über Ihnen wachen sollen, er sollte zu dieser Stunde an dem Platze sein, den ich einnehme; er sollte bereits dieses Glas ausgeleert haben; er müßte sich gegen den Mörder erhoben haben. Gespenst gegen Gespenst, murmelte er, ganz leise seinen Satz vollendend.

 

Gut, sagte Valentine, ich werde alles tun, um zu leben, denn es gibt zwei Wesen auf der Welt, die mich so lieben, daß sie sterben würden, wenn mich der Tod träfe: mein Großvater und Maximilian.

 

Ich werde auch sie beschützen.

 

Wohl, mein Herr, verfügen Sie über mich, sprach Valentine. Dann sagte sie mit leisem Stimme: Oh, mein Gott! mein Gott! Was wird mir widerfahren?

 

Valentine, was Ihnen auch geschehen mag, erschrecken Sie nicht! Wenn Sie leiden, wenn Sie das Gesicht, das Gehör, das Gefühl verlieren, fürchten Sie nichts! Wenn Sie erwachen, ohne zu wissen, wo Sie sind, hegen Sie keine Furcht, und sollten Sie sich in einem Grabgewölbe oder in einem Sarge finden! Sammeln Sie sogleich Ihren Geist und sagen Sie sich: In diesem Augenblick wacht ein Freund, ein Vater, ein Mann, der mein und Maximilians Glück will, über mir.

 

Ach! ach! welch eine gräßliche Notwendigkeit!

 

Valentine, wollen Sie lieber Ihre Stiefmutter anklagen?

 

Ich wollte lieber hundertmal sterben! ah! ja, sterben!

 

Nein, Sie werden nicht sterben, und was Ihnen auch geschehen mag, Sie werden nicht klagen, sondern hoffen, das versprechen Sie mir.

 

Ich werde an Maximilian denken.

 

Sie sind meine vielgeliebte Tochter; ich allein kann Sie retten und werde Sie retten.

 

Valentine faltete im höchsten Schrecken die Hände, denn sie fühlte, daß der Augenblick gekommen war, Gott um Mut anzuflehen; sie richtete sich auf, um zu beten, murmelte Worte ohne Folge und vergaß dabei, daß ihre weißen Schultern keinen andern Schleier hatten, als ihr weiches Haar, und daß man ihr Herz unter der seinen Spitze ihres Nachtgewandes schlagen sah.

 

Der Graf legte sacht die Hand auf Valentines Arm, zog ihre Samtdecke bis zum Halse herauf und sprach mit väterlichem Lächeln: Meine Tochter, glauben Sie an meine Zuneigung, wie Sie an die Güte Gottes und an die Liebe Maximilians glauben.

 

Valentine heftete einen Blick voll Dankbarkeit auf ihn und blieb gelehrig wie ein Kind. Da zog der Graf aus seiner Westentasche die kleine Büchse von Smaragd, nahm ihren goldenen Deckel ab und schüttelte in Valentines Hände eine runde Pastille von der Größe einer Erbse. Valentine schob die Pastille in den Mund und verschluckte sie.

 

Und nun auf Wiedersehen, mein Kind, sagte der Graf, ich will versuchen, zu schlafen, denn Sie sind gerettet.

 

Gehen Sie, sagte Valentine, was mir auch begegnen mag, ich verspreche Ihnen, keine Furcht zu haben.

 

Monte Christo hielt lange seine Augen auf das Mädchen geheftet, das, von der Macht des narkotischen Mittels besiegt, allmählich entschlummerte.

 

Nun nahm er das Glas, leerte drei Viertel in den Kamin, damit man glaube, Valentine habe das Fehlende getrunken, und stellte es wieder auf den Nachttisch; dann kehrte er zur Tür der Bibliothek zurück und verschwand, nachdem er einen letzten Blick auf Valentine geworfen hatte, die mit dem Vertrauen und der Reinheit eines zu den Füßen des Herrn liegenden Engels einschlief.

 

Valentine.

 

Valentine.

 

Die Nachtlampe brannte immer noch auf dem Kamine und verzehrte die letzten Tropfen Öl; ein trauriges Licht färbte mit mattem Widerschein die weißen Vorhänge und die Bettücher. Alles Geräusch der Straße war jetzt erloschen, und im Innern herrschte eine furchtbare Stille.

 

Die Tür von Eduards Zimmer öffnete sich jetzt, und ein Kopf erschien in dem der Tür gegenüber angebrachten Spiegel; es war Frau von Villefort, die zurückkehrte, um die Wirkung des Trankes zu beobachten.

 

Sie blieb auf der Schwelle stehen und ging dann sacht auf den Nachttisch zu, um zu sehen, ob das Glas leer sei.

 

Es war, wie gesagt, noch zum vierten Teile voll.

 

Frau von Villefort nahm es und leerte es in die Asche, dir sie mit dem Fuße umrührte, um die Einsaugung der Flüssigkeit zu erleichtern; dann spülte sie sorgfältig den Kristall aus, wischte ihn mit ihrem eigenen Taschentuch ab und stellte ihn wieder auf den Nachttisch.

 

Wer in das Innere dieses Zimmers hätte schauen können, würde gesehen haben, wie Frau von Villefort zögerte, ihre Augen auf Valentine zu heften und sich ihrem Bett zu nähern! die Giftmischerin fürchtete sich offenbar vor ihrem Werke.

 

Endlich faßte sie Mut, schob den Vorhang beiseite, stützte sich auf das Kopfkissen und neigte sich über Valentine.

 

Valentine atmete nicht mehr, ihre halbgeöffneten Zähne ließen kein Atom von dem Hauche durch, der das Leben verrät. Ihre weißen Lippen hatten zu zittern aufgehört; in einen violetten Dunst getaucht, der sich unter die Haut gezogen zu haben schien, bildeten ihre Augen dort, wo der Augapfel das Augenlid wölbte, einen weißen Vorsprung, und ihre langen, schwarzen Wimpern schienen dunkle Furchen über eine bereits wachsartig matte Haut zu ziehen.

 

Frau von Villefort beschaute dieses Gesicht mit einem sonderbar starren Ausdruck; sie hob dann rasch die Decke auf und legte ihre Hand auf das Herz des Mädchens. Es war stumm und eisig.

 

Was unter ihrer Hand schlug, das war die Arterie ihrer Finger; sie zog ihre Hand mit einem Schauer zurück. Valentines Arm hing über das Bett herab, und die Nägel waren an der Wurzel blau.

 

Für Frau von Villefort gab es keinen Zweifel mehr, alles war vorbei; das furchtbare Werk, das letzte, das sie zu vollbringen hatte, war vollbracht. Die Giftmischerin hatte nichts mehr in diesem Zimmer zu tun; sie wich langsam, den Vorhang noch immer haltend und wie gebannt durch den Anblick des Opfers, so behutsam zurück, daß sie das Geräusch ihrer Füße auf dem Teppiche zu fürchten schien.

 

In diesem Augenblick verdoppelte sich das Geknister der Nachtlampe. Frau von Villefort bebte bei diesem Geräusch und ließ den Vorhang fallen. Dann erlosch die Lampe, und das Zimmer versank in eine furchtbare Dunkelheit.

 

In dieser Dunkelheit erwachte die Pendeluhr und schlug halb vier. Erschrocken über diese aufeinander folgenden Geräusche, erreichte die Giftmischerin tappend die Tür, und kehrte, den Angstschweiß auf der Stirn, in ihr Zimmer zurück. Die Dunkelheit dauerte noch zwei Stunden.

 

Allmählich drang ein bleicher Tag durch die Zwischenräume der Läden, und das Licht wurde nach und nach stärker und gab den Gegenständen und Körpern Farbe und Form zurück. Jetzt hörte man das Husten der Krankenwärterin auf der Treppe, und diese Frau trat, eine Tasse in der Hand, ein. Sie hielt Valentine noch für schlafend und sagte: Gut! sie hat getrunken, das Glas ist zu zwei Dritteln leer. Dann ging sie an den Kamin, zündete Feuer an, setzte sich in ihren Lehnstuhl und benutzte, obgleich sie erst aus ihrem Bette kam, Valentines Schlaf, um selbst noch einige Augenblicke zu schlummern. Die Pendeluhr erweckte, die Wärterin, als sie acht Uhr schlug. Erstaunt über den hartnäckigen Schlaf, in dem Valentine verharrte, erschrocken über den aus dem Bette hängenden Arm, ging sie näher und bemerkte jetzt erst die kalten Lippen und die eisige Brust. Sie wollte den Arm zum Körper heraufziehen; doch mit jener furchtbaren Steifheit, die für eine Wärterin keinen Zweifel übrig ließ, widerstand der Arm.

 

Sie stieß einen furchtbaren Schrei aus, lief an die Tür und rief: Zu Hilfe! zu Hilfe!

 

Wie! zu Hilfe? entgegnete unten an der Treppe Herrn d’Avrignys Stimme.

 

Es war die Stunde, zu der der Doktor gewöhnlich kam.

 

Wie! zu Hilfe! rief Herr von Villefort, aus seinem Kabinett stürzend, Doktor, haben Sie nicht um Hilfe rufen hören?

 

Ja, ja, gehen Sie rasch hinauf, es ist bei Valentine, antwortete d’Avrigny.

 

Doch ehe der Arzt und der Vater hinaufkamen, waren die Diener, welche sich in den Zimmern und Gängen befanden, bei Valentine eingetreten, und als sie diese bleich und unbeweglich auf ihrem Bette sahen, hoben sie die Hände zum Himmel empor und wankten, wie vom Schwindel erfaßt.

 

Ruft Frau von Villefort! Weckt Frau von Villefort! schrie der Staatsanwalt vor der Tür des Zimmers, in das er, wie es schien, nicht einzutreten wagte.

 

Doch statt zu antworten, schauten die Diener Herrn d’Avrigny an, der auf Valentine zugelaufen war und sie in seinen Armen aufhob.

 

Auch diese … murmelte er und ließ sie zurückfallen. Oh! mein Gott! mein Gott! wann wirst du müde werden?

 

Villefort stürzte in das Zimmer.

 

Was sagen Sie? rief er, die Hände zum Himmel emporstreckend, Doktor! … Doktor! …

 

Ich sage, daß Valentine tot ist, antwortete d’Avrigny mit feierlichem und in seiner Feierlichkeit schrecklichem Tone.

 

Herr von Villefort sank zusammen, wie wenn seine Beine gebrochen wären, und fiel mit dem Kopf auf das Bett seiner Tochter.

 

Bei den Worten des Doktors, bei dem Geschrei des Vaters entflohen die Diener voll Schrecken und unter dumpfen Verwünschungen. Man hörte auf den Treppen und in den Gängen hastige Tritte – dann war alles vorbei, der Lärm verklang; von dem ersten bis zum letzten hatten sie das verfluchte Haus verlassen.

 

In diesem Augenblick hob Frau von Villefort, den Arm halb in ihr Morgengewand gehüllt, den Türvorhang auf; einen Augenblick blieb sie auf der Schwelle, scheinbar die Anwesenden befragend und ein paar widerwillige Tränen zu Hilfe rufend.

 

Plötzlich machte sie, die Arme gegen den Nachttisch ausstreckend, einen Schritt oder vielmehr einen Sprung vorwärts.

 

Sie hatte gesehen, wie sich d’Avrigny neugierig über diesen Tisch beugte und das Glas nahm, von dem sie gewiß wußte, daß sie den Inhalt in die Asche geschüttet hatte.

 

Hätte sich das Gespenst des Opfers vor der Giftmischerin erhoben, es hätte keine solche Wirkung auf sie hervorbringen können. Hat sie nicht den Rest des Trankes vorsichtig ausgeschüttet? Es muß ein Wunder sein, das Gott ohne Zweifel getan, damit eine Spur des Verbrechens zurückbleibe.

 

Während Frau von Villefort unbeweglich wie eine Bildsäule des Schreckens dastand, während Villefort, den Kopf in den Tüchern des Sterbebettes bergend, nichts von dem sah, was um ihn her vorging, näherte sich d’Avrigny dem Fenster, um den Inhalt des Glases zu prüfen, und kostete einen Tropfen, den er mit dem Ende des Fingers nahm.

 

Ah! murmelte er, das ist nicht mehr Brucin; wir wollen sehen, was es ist.

 

Dann lief er nach einem Schranke im Zimmer, den man in eine Apotheke verwandelt hatte, zog ein Fläschchen mit Salpetersäure hervor und ließ ein paar Tropfen in das Milchweiß der Flüssigkeit fallen, die sich alsbald blutrot färbte.

 

Ah! machte d’Avrigny, indem sich mit dem Schrecken des die entsetzliche Wahrheit erkennenden Richters die Genugtuung des Gelehrten, dem sich ein Problem entschleiert, mischte.

 

Frau von Villefort drehte sich einen Augenblick um sich selbst, ihre Augen schleuderten Flammen, dann wurden sie trübe; wankend suchte sie mit der Hand die Tür und verschwand.

 

Einen Augenblick nachher hörte man das Geräusch eines auf den Boden fallenden Körpers. Doch niemand achtete darauf außer Herrn d’Avrigny, der Frau von Villefort mit den Augen folgte und ihre rasche Entfernung bemerkte.

 

Er hob den Türvorhang des Zimmers von Valentine auf, worauf sein Blick durch Eduards Zimmer in das Gemach der Frau von Villefort dringen konnte, die er ohne Bewegung auf dem Boden ausgestreckt sah.

 

Stehen Sie Frau von Villefort bei, sagte er zu der Wärterin: Frau von Villefort ist unwohl!

 

Doch Fräulein Valentine? stammelte die Wärterin.

 

Fräulein Valentine bedarf keiner Hilfe mehr, denn sie ist tot, sprach d’Avrigny.

 

Tot! Tot! seufzte Villefort im Paroxysmus eines um so gräßlicheren Schmerzes, als er für dieses eherne Herz neu, unbekannt, unerhört war.

 

Tot sagen Sie, rief eine dritte Stimme, wer sagt, Valentine sei tot?

 

Die beiden Männer wandten sich um und erblickten an der Tür Morel, bleich, verstört, furchtbar.

 

Morel hatte sich zur gewöhnlichen Stunde durch die kleine Tür, die zu Noirtier führte, eingefunden. Gegen die Gewohnheit fand er die Tür offen; er hatte also nicht nötig zu läuten und trat ein. Im Vorhause wartete er einen Augenblick und rief einen Bedienten, der ihn bei dem alten Noirtier einführen sollte. Doch niemand antwortete auf sein Rufen. Nachdem er noch eine Weile vergeblich gewartet hatte, entschloß er sich, hinaufzugehen.

 

Noirtiers Tür war offen, wie die andern Türen.

 

Das erste, was er sah, war der Greis in seinem Lehnstuhle und an seinem gewöhnlichen Platze; doch seine weitgeöffneten Augen schienen einen inneren Schrecken auszudrücken, den auch die über seine Züge ausgebreitete seltsame Blässe verriet.

 

Wie geht es Ihnen, mein Herr? fragte der junge Mann mit gepreßtem Herzen.

 

Gut! machte der Greis mit den Augen blinzelnd, gut!

 

Doch seine Unruhe schien noch zuzunehmen.

 

Sie sind unruhig, fuhr Morel fort, Sie brauchen etwas, soll ich jemand von Ihren Leuten rufen?

 

Ja, machte Noirtier.

 

Aber Morel mochte an der Klingelschnur ziehen, soviel er wollte, es kam niemand.

 

Mein Gott! mein Gott! sagte er, warum kommt man denn nicht? Ist jemand krank im Hause?

 

Noirtiers Augen schienen bei diesen Worten nahe daran, aus ihrer Höhle hervorzuspringen.

 

Aber was haben Sie denn? fuhr Morel fort, Sie erschrecken mich. Valentine! Valentine! …

 

Ja, ja, machte der Greis.

 

Maximilian öffnete den Mund, um zu sprechen, doch er vermochte keinen Ton hervorzubringen; er wankte und hielt sich am Gesimse. Dann streckte er die Hand nach der Tür aus.

 

Ja! ja! ja! fuhr der Greis fort.

 

Maximilian stürzte nach der kleinen Treppe, über die er in zwei Sprüngen setzte, während Noirtier ihm mit den Augen zuzurufen schien: Schneller! schneller!

 

Eine Minute genügte für den jungen Mann, um durch mehrere Zimmer zu eilen, die wie das übrige Haus verlassen waren, und bis an das Krankenzimmer zu gelangen, dessen Tür weit offen stand.

 

Ein Schluchzen war das erste Geräusch, das er hörte. Er sah wie durch eine Wolke eine knieende und in einem verworrenen Haufen von weißen Tüchern verlorene schwarze Gestalt. Die Angst, die gräßliche Angst fesselte ihn an die Schwelle.

 

Da hörte er eine Stimme sagen: Valentine ist tot.

 

Maximilian.

 

Maximilian.

 

Villefort stand auf, wie es schien, beschämt darüber, daß er sich bei dem Anfalle dieses Schmerzes hatte überraschen lassen. Sein anfangs irres Auge heftete sich auf Morel, und er sagte: Wer sind Sie, mein Herr, der Sie vergessen, daß man nicht so in ein Haus eintritt, das der Tod bewohnt? Entfernen Sie sich!

 

Doch Morel blieb unbeweglich; er konnte seine Augen nicht von dem furchtbaren Schauspiel des in Unordnung gebrachten Bettes und des darauf liegenden bleichen Gesichtes losmachen.

 

Entfernen Sie sich, hören Sie! rief Villefort, während d’Avrigny vorschritt, um Morel weggehen zu heißen.

 

Morel aber schaute mit verstörter Miene den Leichnam an, schien einen Augenblick zu zögern, öffnete den Mund, fand jedoch, trotz der zahllosen unseligen Gedanken, die sein Gehirn bestürmten, keine Worte, fuhr mit den Händen in die Haare, kehrte auf der Stelle um und eilte hinaus, so daß Villefort und d’Avrigny, nachdem sie ihm nachgeschaut hatten, einen Blick austauschten, der sagen wollte: Er ist ein Narr!

 

Doch ehe fünf Minuten abgelaufen waren, hörte man die Treppe unter einer schweren Last seufzen und sah Morel, der, mit übermenschlicher Kraft Noirtiers Lehnstuhl in seinen Armen haltend, den Greis in den ersten Stock des Hauses trug. Oben auf der Treppe setzte Morel den Stuhl zu Boden und rollte ihn rasch in Valentines Zimmer. Dieses ganze Manöver wurde mit einer durch die wahnsinnige Aufregung des jungen Mannes verzehnfachten Kraft ausgeführt.

 

Eines aber war besonders gräßlich, das Antlitz Noirtiers, als dieser, von Morel fortgeschoben, sich Valentines Bett näherte, das Antlitz, worin der Verstand alle seine Mittel entwickelte und die Augen ihre ganze Kraft anstrengten, um die anderen Sinne zu ersetzen.

 

Dieses bleiche Gesicht mit dem flammenden Blicke war auch für Villefort eine furchtbare Erscheinung. So oft er mit seinem Vater in Berührung gekommen war, hatte sich etwas Schreckliches ereignet.

 

Sehen Sie, was sie getan haben! rief Morel, eine Hand noch auf die Lehne des Stuhles gestützt, den er bis zum Bette fortschob, und die andere gegen Valentine ausstreckend, sehen Sie! mein Vater, sehen Sie!

 

Villefort wich einen Schritt zurück und schaute mit Erstaunen den ihm kaum bekannten jungen Mann an, der Noirtier seinen Vater nannte.

 

In dieser Sekunde schien die ganze Seele des Greises in seine Augen überzugehen, die sich zuerst mit Blut unterliefen; dann schwollen die Halsadern an, eine bläuliche Farbe, wie sie die Haut des Epileptischen überzieht, bedeckte seinen Hals, seine Wangen und seine Schläfe; diesem inneren Ausbruche seines ganzen Wesens fehlte nur ein Schrei.

 

D’Avrigny eilte auf den Greis zu und ließ ihn an einem Fläschchen riechen, das ein kräftiges Ableitungsmittel enthielt.

 

Mein Herr, rief nun Morel, die träge Hand des Gelähmten ergreifend, man fragt mich, wer ich sei, und welches Recht ich habe, hier zu sein. Oh! Sie, der Sie es wissen, sagen Sie es!

 

Und die Stimme des jungen Mannes erlosch in Schluchzen. Ein keuchender Atem schüttelte die Brust des Greises. Man hätte glauben sollen, er sei einer von den heftigen Bewegungen preisgegeben, die dem Todeskampfe vorhergehen.

 

Endlich entstürzten Tränen den Augen Noirtiers, der glücklicher war, als der junge Mann, denn dieser schluchzte, ohne zu weinen.

 

Sagen Sie, fuhr Morel mit gepreßter Stimme fort, sagen Sie, daß es meine Verlobte war! Sagen Sie, daß es meine edle Freundin, meine einzige Liebe auf Erden war! Sagen Sie, sagen Sie, daß dieser Leichnam mir gehört!

 

Und der junge Mann bot das furchtbare Schauspiel einer brechenden Kraft und stürzte schwerfällig vor das Bett, das seine krampfhaften Finger mit aller Heftigkeit preßten.

 

Dieser Schmerz war so einschneidend, daß d’Avrigny sich abwandte, um seine Rührung zu verbergen, und daß Villefort, ohne eine andere Erklärung zu fordern, durch den Magnetismus angezogen, der uns zu den Menschen hintreibt, welche diejenigen geliebt haben, die wir beweinen, dem jungen Manne die Hand reichte.

 

Doch Morel sah nichts; er hatte Valentines eisige Hand ergriffen, und da er nicht weinen konnte, biß er brüllend in die Bettücher.

 

Eine Zeit lang hörte man in diesem Zimmer nur Schluchzen, Verwünschungen und Gebete.

 

Endlich nahm Villefort, der noch am meisten seiner Herr war, nachdem er eine Zeit lang Maximilian gleichsam den Platz abgetreten hatte, das Wort und sagte zu diesem: Mein Herr, Sie liebten Valentine, sagten Sie; Sie waren ihr Verlobter, ich wußte nichts von dieser Verbindung; aber dennoch vergebe ich Ihnen, ich, ihr Vater, denn ich sehe, Ihr Schmerz ist groß und wahr. Überdies ist bei mir der Schmerz auch zu groß, als daß in meinem Herzen Raum für den Zorn bleiben könnte. Doch Sie sehen, der Engel, auf den Sie hofften, hat die Erde verlassen. Valentine kann von den Menschen nur noch angebetet werden, sie, die zu dieser Stunde den Herrn anbetet; nehmen Sie Abschied von der traurigen Hülle, die sie unter uns gelassen hat, ergreifen Sie zum letzten Male ihre Hand, die Sie für sich haben wollten, und trennen Sie sich auf immer von ihr; Valentine bedarf jetzt nur noch des Priesters, der sie segnen soll.

 

Sie täuschen sich, mein Herr, rief Morel, sich auf ein Knie erhebend, das Herz durchbohrt von einem Schmerze, der schärfer war als alle Schmerzen, die er bis jetzt empfunden; Sie täuschen sich; gestorben, wie sie gestorben ist, bedarf Valentine nicht nur eines Priesters, sondern auch eines Rächers. Herr von Villefort, schicken Sie nach dem Priester, ich werde der Rächer sein.

 

Was wollen Sie damit sagen, mein Herr? murmelte Villefort.

 

Ich will damit sagen, antwortete Morel, daß in Ihnen zwei Menschen sind; der Vater hat genug geweint, der Staatsanwalt beginne sein Amt!

 

Noirtiers Augen funkelten, d’Avrigny trat näher.

 

Mein Herr, fuhr der junge Mann fort, ich weiß, was ich sage, und Sie wissen ebensogut, wie ich, was ich sagen will: Valentine ist ermordet worden!

 

Villefort neigte das Haupt; d’Avrigny trat noch einen Schritt näher; Noirtier machte mit den Augen ja.

 

Mein Herr, fuhr Morel fort, ein Geschöpf, und wäre es auch nicht jung, wäre es auch nicht schön, wäre es auch nicht anbetungswürdig, wie Valentine, ein Geschöpf wird in unserer Zeit nicht gewaltsam aus der Welt gebracht, ohne daß man Rechenschaft über sein Verschwinden verlangt. Auf! Herr Staatsanwalt, fügte Morel mit wachsender Heftigkeit hinzu, kein Mitleid! Ich zeige Ihnen das Verbrechen an, suchen Sie den Mörder!

 

Und sein unversöhnliches Auge fragte Villefort, der mit dem Blicke bald Noirtier, bald d’Avrigny anflehte.

 

Doch statt Hilfe bei seinem Vater und bei dem Doktor zu finden, fand er in ihren Gesichtern nur einen ebenso unbeugsamen Ausdruck, wie in dem Morels.

 

Ja! machte der Greis.

 

Gewiß! sagte d’Avrigny.

 

Mein Herr, versetzte Villefort, der noch gegen diesen dreifachen Willen und gegen seine eigene Erschütterung anzukämpfen suchte, mein Herr, Sie täuschen sich, es werden keine Verbrechen in meinem Hause begangen. Das Unglück trifft mich, Gott prüft mich; das ist ein furchtbarer Gedanke – aber man ermordet niemand!

 

Noirtiers Augen flammten, d’Avrigny öffnete den Mund, um zu sprechen, Morel streckte, Schweigen befehlend, den Arm aus und rief mit einer Stimme, die sich senkte, ohne etwas von ihrem furchtbaren Klange zu verlieren: Und ich sage Ihnen, daß man hier tötet. Ich sage Ihnen, daß dies das vierte Opfer ist, das seit vier Monaten getroffen wird! Ich sage Ihnen, daß man vor vier Tagen bereits einmal Valentine zu vergiften versucht hat, was nur infolge der Vorsichtsmaßregeln des Herrn Noirtier scheiterte. Ich sage Ihnen, daß man die Dose verdoppelt oder die Natur des Giftes verändert hat, und daß es diesmal gelungen ist! Ich sage Ihnen endlich, daß Sie dies alles so gut, wie ich, wissen, denn dieser Herr hat Sie als Arzt und als Freund davon in Kenntnis gesetzt.

 

Oh! Sie sprechen im Fieberwahn, mein Herr! sagte Villefort, der sich vergebens in dem Kreise, in dem er sich gefangen fühlte, zu sträuben suchte.

 

Ich im Fieberwahn! rief Morel; wohl, ich berufe mich auf Herrn d’Avrigny. Fragen Sie ihn, mein Herr, ob er sich noch der Worte erinnere, die er im Garten dieses Hauses gesprochen, an dem Abend, wo Frau von Saint-Meran starb; als Sie im Glauben, Sie seien allein, über den eigentümlichen plötzlichen Todesfall sprachen.

 

Villefort und d’Avrigny schauten sich an.

 

Ja, ja! erinnern Sie sich, rief Morel. Allerdings hätte ich bei der frevelhaften Nachsicht des Herrn von Villefort für die Seinigen schon an jenem Abende der Behörde alles entdecken sollen, und dann wäre ich in diesem Augenblick nicht mitschuldig an deinem Tode, Valentine! Meine vielgeliebte Valentine! Doch der Mitschuldige wird dein Rächer werden; dieser vierte Mord ist offenkundig und aller Augen sichtbar, und wenn dein Vater dich verläßt, Valentine, so werde ich den Mörder verfolgen, das schwöre ich dir.

 

Nun endlich schien die Natur Mitleid mit diesem starken Geist zu empfinden; die letzten Worte Morels verklangen in einem mächtigen Schluchzen, und Tränen entstürzten seinen Augen, er wankte, fiel auf seine Knie und weinte an Valentines Bett.

 

Nun war die Reihe an d’Avrigny, der mit fester Stimme erklärte:

 

Auch ich verbinde mich mit Herrn Morel, um Gerechtigkeit für das Verbrechen zu verlangen, denn mein Herz empört sich bei dem Gedanken, daß meine feige Nachgiebigkeit den Mörder ermutigt hat!

 

Oh! mein Gott! murmelte Villefort vernichtet.

 

Morel hob das Haupt empor und sagte, in den Augen des Greises lesend, welche übernatürliche Flammen schleuderten:

 

Seht! seht! Herr Noirtier will sprechen.

 

Ja, machte Noirtier mit einem um so furchtbareren Ausdrucke, als alle Fähigkeiten des ohnmächtigen Greises in seinem Blicke konzentriert waren.

 

Sie kennen den Mörder? fragte Morel.

 

Ja, erwiderte Noirtier.

 

Und Sie wollen uns leiten? rief der junge Mann. Hören Sie, Herr d’Avrigny, hören Sie!

 

Noirtier wandte sich hierauf an den unglücklichen Morel mit jenem sanften Lächeln, welches Valentine so oft glücklich gemacht hatte, und fesselte dadurch seine Aufmerksamkeit. Als er Maximilians Augen gleichsam an den seinigen befestigt hatte, wandte er diese der Tür zu.

 

Ich soll mich entfernen, mein Herr? rief Morel mit schmerzlichem Tone. – Ja, machte Noirtier.

 

Ach! ach! mein Herr, haben Sie Mitleid mit mir.

 

Die Augen des Greises blieben unbarmherzig auf die Tür geheftet.

 

Darf ich wenigstens zurückkommen? fragte Morel.

 

Ja. – Soll ich allein gehen? – Nein.

 

Wen soll ich mitnehmen, den Herrn Staatsanwalt?

 

Nein. – Den Doktor? – Ja.

 

Sie wollen mit Herrn von Villefort allein bleiben?

 

Ja. Oh! rief Villefort, beinahe freudig, daß die erste Untersuchung unter vier Augen vor sich gehen sollte.

 

D’Avrigny nahm Morel beim Arm und führte ihn in das anstoßende Zimmer.

 

Es herrschte sodann im ganzen Hause eine Todesstille.

 

Nach Verlauf einer Viertelstunde hörte man wankende Schritte, und Villefort erschien auf der Schwelle des Zimmers, in dem sich Morel und d’Avrigny befanden.

 

Kommen Sie, sagte er und führte sie zurück.

 

Morel schaute nun Villefort aufmerksam an. Das Gesicht des Staatsanwaltes war leichenblaß, und breite, rostfarbige Flecken bedeckten seine Stirn.

 

Meine Herren, sagte er mit gepreßter Stimme, Ihr Ehrenwort, daß das furchtbare Geheimnis unter uns begraben bleibt?

 

Die beiden Männer machten eine Bewegung.

 

Ich beschwöre Sie! fuhr Villefort fort.

 

Doch der Schuldige! … rief Morel … der Mörder … der Meuchler! …

 

Seien Sie unbesorgt, mein Herr, es soll Gerechtigkeit geübt werden, sprach Villefort. Mein Vater hat mir den Namen des Schuldigen genannt, es dürstet ihn nach Rache, wie Sie, und dennoch beschwört Sie mein Vater, wie ich, das Geheimnis des Verbrechens zu bewahren. Nicht wahr, Vater?

 

Ja, antwortete Noirtier energisch.

 

Morel machte eine Bewegung des Abscheus und des Unglaubens.

 

Oh! rief Villefort, Maximilian am Arm zurückhaltend, oh! mein Herr, wenn mein Vater, dessen unbeugsame Natur Sie kennen, diese Bitte an Sie richtet, so tut er dies nur, im Bewußtsein, daß Valentine furchtbar gerächt werden wird. Nicht wahr, mein Vater?

 

Der Greis machte ein bejahendes Zeichen.

 

Villefort fuhr fort: Er kennt mich, und ich habe ihm mein Wort verpfändet. Beruhigen Sie sich also, meine Herren; drei Tage, nur drei Tage verlange ich von Ihnen, das ist weniger, als das Gericht von Ihnen verlangen würde, und in drei Tagen wird die Rache, die ich für die Ermordung meines Kindes nehme, die gleichgültigsten Menschen bis in die tiefste Tiefe des Herzens erzittern lassen. Nicht wahr, mein Vater?

 

Und während er diese Worte sprach, knirschte er mit den Zähnen und schüttelte die gelähmten Hände des Greises.

 

Wird alles, was versprochen ist, gehalten werden? fragte Morel.

 

Ja, machte Noirtier mit einem Blicke finsterer Freude.

 

Schwören Sie also, meine Herren, sagte Villefort, d’Avrignys und Morels Hände fassend, schwören Sie, daß Sie Mitleid mit der Ehre meines Hauses haben und mir die Sorge der Rache überlassen werden!

 

D’Avrigny wandte sich ab und murmelte ein sehr schwaches Ja. Morel aber riß seine Hände weg, stürzte nach dem Bette, drückte seine Lippen auf Valentines eisige Lippen und entfloh mit dem langen Seufzer einer Seele, die sich in Verzweiflung versenkt.

 

Da die Diener sämtlich verschwunden waren, sah sich Herr von Villefort genötigt, Herrn d’Avrigny zu bitten, die Schritte zu übernehmen, die ein Todesfall und besonders unter so verdächtigen Umständen nach sich zieht.

 

Nach einer Viertelstunde kehrte Herr d’Avrigny mit dem Totenbeschauer zurück; man hatte die Tür nach der Straße geschlossen, und da der Portier mit den andern Dienern geflohen war, mußte Villefort selbst öffnen.

 

Doch er blieb auf dem Vorplatze stehen, da ihm der Mut fehlte, wieder in das Sterbezimmer zu treten.

 

Die beiden Ärzte gingen allein zu Valentine.

 

Noirtier saß noch immer am Bette, bleich wie der Tod, unbeweglich und stumm wie er.

 

Der Totenarzt näherte sich mit der Gleichgültigkeit eines Menschen, der die Hälfte seines Lebens mit Leichnamen zu tun hat, hob das Tuch auf, mit dem das Mädchen bedeckt war, und öffnete nur ein wenig die Lippen.

 

Oh! sagte d’Avrigny seufzend, die Arme ist tot.

 

Ja, antwortete lakonisch der Arzt und ließ das Tuch wieder fallen; dann schrieb er die Todeserklärung nieder und entfernte sich, von d’Avrigny zur Tür geleitet.

 

Villefort hörte sie hinabgehen und erschien wieder an der Tür seines Kabinetts. Mit einigen Worten dankte er dem Arzte und sagte sodann, sich an d’Avrigny wendend: Und nun der Priester; gehen Sie zum nächsten!

 

Der nächste, sagte der Arzt, ist ein italienischer Abbé, der seit kurzem im anstoßenden Hause wohnt. Soll ich ihn im Vorbeigehen benachrichtigen?

 

D’Avrigny, sagte Villefort, ich bitte Sie, begleiten Sie diesen Herrn. Hier ist der Schlüssel, damit Sie nach Belieben aus- und eingehen können. Sie bringen den Priester her und führen ihn in das Zimmer meines armen Kindes.

 

Wünschen Sie ihn zu sprechen, mein Freund?

 

Ich wünsche, allein zu sein. Nicht wahr, Sie werden mich entschuldigen? Ein Priester muß alle Schmerzen begreifen, selbst den väterlichen Schmerz.

 

Hierauf gab Herr von Villefort Herrn d’Avrigny einen Schlüssel und kehrte in sein Kabinett zurück, wo er zu arbeiten anfing.

 

Als die Ärzte auf die Straße kamen, sahen sie einen Mann in einer Soutane auf der Schwelle des nächsten Hauses stehen.

 

D’Avrigny ging auf den Geistlichen zu und sagte: Mein Herr, wären Sie geneigt, einem unglücklichen Vater, der soeben seine Tochter verloren, dem Herrn Staatsanwalt von Villefort, einen großen Dienst zu leisten?

 

Ah! mein Herr, antwortete der Priester mit stark italienischem Akzent, ja, ich weiß, der Tod ist in seinem Hause.

 

 

Dann brauche ich Ihnen nicht zu sagen, welchen Dienst er von Ihnen wünscht. Ich wollte mich soeben hierzu anbieten; es ist unsere Aufgabe, unsern Pflichten entgegenzukommen.

 

Es handelt sich um ein junges Mädchen.

 

Ja, ich weiß. Die Bedienten, die aus dem Hause fortliefen, haben es mir gesagt. Ich hörte, daß sie Valentine hieß, und betete für sie.

 

Ich danke, mein Herr, und da Sie schon Ihr heiliges Amt zu versehen angefangen, so haben Sie die Güte, es fortzusetzen. Nehmen Sie den Platz bei der Toten ein, und eine in Trauer versunkene Familie wird Ihnen dankbar sein.

 

Ich gehe, mein Herr, und glaube, daß nie ein Gebet glühender gewesen ist, als das meinige sein wird. D’Avrigny nahm den Abbé bei der Hand und führte ihn in Valentines Zimmer. Als sie eintraten, traf Noirtiers Blick den des Abbés, und ohne Zweifel glaubte der Greis etwas Seltsames darin zu lesen, denn er ließ ihn nicht mehr aus den Augen.

 

D’Avrigny empfahl dem Priester nicht nur die Tote, sondern auch den Lebenden, und der Priester versprach, seine Gebete Valentine und seine Sorge Noirtier zu weihen, und schloß, ohne Zweifel, damit er in seinen Gebeten und Noirtier in seinem Schmerze nicht gestört würde, sobald Herr d’Avrigny das Zimmer verlassen hatte, nicht nur den Riegel der Tür, durch die der Doktor weggegangen war, sondern auch den Riegel der zu Frau von Villefort führenden.

 

Danglars‘ Unterschrift.

 

Danglars‘ Unterschrift.

 

Der Morgen des nächsten Tages brach traurig und wolkig an. Man hatte während der Nacht den auf dem Bette liegenden Körper in das Schweißtuch genäht.

 

Im Verlaufe des Abends hatten zu diesem Behufe herbeigerufene Männer Noirtier aus Valentines Zimmer in das seinige getragen, und der Greis machte, gegen alle Erwartung, keine Schwierigkeiten, sich von dem Leichname seines Kindes zu trennen.

 

Der Abbé Busoni hatte bis zum Morgen gewacht und sich bei Tagesanbruch zurückgezogen.

 

Gegen acht Uhr morgens kam d’Avrigny wieder. Er begegnete Villefort, der zu Noirtier ging, und begleitete ihn, um zu erfahren, wie der Greis die Nacht zugebracht habe. Sie fanden ihn in seinem großen Lehnstuhle, der ihm als Bett diente, in sanftem Schlummer ruhend und mit beinahe lächelnder Miene. Beide blieben erstaunt auf der Schwelle stehen.

 

Sehen Sie, sagte d’Avrigny zu Villefort, der seinen entschlummerten Vater betrachtete, sehen Sie, die Natur weiß die heftigsten Schmerzen zu stillen; gewiß wird niemand sagen, Herr Noirtier habe seine Enkelin nicht geliebt, und dennoch schläft er.

 

Ja, Sie haben recht, sagte Villefort, er schläft, und das ist seltsam, denn der geringste Verdruß hält ihn sonst die ganze Nacht hindurch wach. Der Schmerz hat ihn niedergeschmettert, versetzte d’Avrigny, worauf beide nachdenklich in das Kabinett des Staatsanwalts zurückkehrten.

 

Sehen Sie, ich habe nicht geschlafen, sagte Villefort, auf sein unberührtes Bett deutend; der Schmerz schmettert mich nicht nieder; ich habe zwei Nächte nicht geschlafen; dagegen schauen Sie mein Büro an; mein Gott! Wie habe ich diese zwei Tage und diese zwei Nächte hindurch geschrieben! Wie habe ich diese Papiere durchwühlt und die Anklageschrift des Mörders Benedetto mit Noten versehen! … Oh, Arbeit, Arbeit! meine Leidenschaft, meine Freude, meine Wut, du mußt mir alle meine Schmerzen niederschlagen!

 

Und er drückte d’Avrigny krampfhaft die Hand.

 

Bedürfen Sie meiner? fragte der Doktor.

 

Nein, sagte Villefort, ich bitte Sie nur, um elf Uhr zurückzukommen; zur Mittagsstunde findet die Abfahrt statt. Mein Gott! mein armes Kind, mein armes Kind!

 

Und wieder Mensch werdend, schlug der Staatsanwalt die Augen zum Himmel auf und stieß einen Seufzer aus.

 

Sie werden dann also im Empfangszimmer sein?

 

Nein, ich habe einen Vetter, der diese traurige Ehre übernimmt. Ich gedenke zu arbeiten, Doktor; wenn ich arbeite, verschwindet alles.

 

Der Doktor war in der Tat noch nicht vor der Tür, als sich der Staatsanwalt bereits wieder zur Arbeit gesetzt hatte.

 

Um elf Uhr rollten die Wagen über das Pflaster des Hofes, und die Rue du Faubourg Saint-Honoré ertönte von dem Gemurmel der auf die Freude wie auf die Trauer der Reichen gleich begierigen Menge.

 

Allmählich füllte sich der Trauersaal, und man sah zuerst einige von unseren Freunden, nämlich Debray, Chateau-Renaud, Beauchamp, sodann hervorragende Vertreter der Gesellschaft, der Anwaltschaft, der Literatur und der Armee. Die, welche sich kannten, winkten sich mit dem Blicke und versammelten sich in Gruppen. Eine von diesen Gruppen bestand aus Debray, Chateau-Renaud und Beauchamp.

 

Armes Mädchen! sagte Debray. So reich, so schön! Hätten Sie das gedacht, Chateau-Renaud, als wir vor drei Wochen meine ich, zusammenkamen, um jenen Vertrag zu unterzeichnen, der nicht unterzeichnet wurde?

 

Meiner Treu! nein, erwiderte Chateau-Renaud.

 

Kannten Sie Fräulein von Villefort?

 

Ich habe einige Male mit ihr gesprochen, sie kam mir reizend vor, obgleich etwas schwermütig. Wo ist die Stiefmutter?

 

Haben Sie über diesen Tod in Ihrer Zeitung geschrieben?

 

Der Artikel ist nicht von mir, erwiderte Beauchamp; ich zweifle auch, ob er Herrn von Villefort angenehm sein wird. Es ist, glaube ich, darin gesagt, wenn vier aufeinander folgende Todesfälle anderswo als im Hause des Staatsanwalts stattgefunden hätten, so würde der Staatsanwalt sicherlich mehr dadurch in Bewegung gesetzt worden sein.

 

Der Doktor d’Avrigny, der Arzt meiner Mutter, behauptet übrigens, er sei sehr in Verzweiflung, sagte Chateau-Renaud. Doch was suchen Sie, Debray?

 

Ich suche Herrn von Monte Christo.

 

Ich habe ihn unterwegs auf dem Boulevard getroffen; ich glaube, er will abreisen, denn er ging zu seinem Bankier.

 

Zu seinem Bankier? Ist sein Bankier nicht Danglars? fragte Chateau-Renaud.

 

Ich glaube, ja, erwiderte der Geheimsekretär mit einer leichten Unruhe. Doch Monte Christo ist nicht der einzige, der hier fehlt, ich sehe auch Morel nicht.

 

Morel! Kannte er sie? fragte Chateau-Renaud.

 

Ich glaube, er ist ihr einmal vorgestellt worden.

 

Gleichviel, er hätte kommen müssen, sagte Debray; diese Beerdigung ist das Ereignis des Tages.

 

Beauchamp hatte wahr gesprochen; als er sich zu der Trauerfeierlichkeit begab, begegnete er Monte Christo, der auf dem Wege zu Danglars war.

 

Der Bankier sah von seinem Fenster aus den Grafen im Hofe erscheinen und ging ihm rasch entgegen.

 

Nun, Graf, sagte er, Monte Christo mit einem halb trübseligen, halb höflichen Gesichte die Hand reichend, Sie kommen, mir Ihr Beileid zu bezeigen. In der Tat, das Unglück ist in meinem Hause. Es scheint überhaupt ein unglückliches Jahr zu sein. Nehmen Sie unsern Puritaner von einem Staatsanwalt, den heiligen Villefort, der nun auch seine Tochter verloren hat, nachdem auf seltsam plötzliche Weise drei andere Todesfälle in seinem Hause vorgekommen sind; Morcerf ist entehrt und getötet, und ich bin lächerlich gemacht durch die Verworfenheit dieses Benedetto, und dann …

 

Was dann? … fragte der Graf.

 

Ach! Sie wissen nicht, daß uns Eugenie verlassen hat?

 

Mein Gott, was Sie mir da sagen!

 

Sie konnte die Schmach nicht ertragen, die ihr dieser Elende angetan, und bat mich, abreisen zu dürfen.

 

Und sie ist mit Frau Danglars abgereist?

 

Nein, mit einer Verwandten … Doch wir werden nichtsdestoweniger die liebe Eugenie verlieren; denn ich zweifle, ob sie bei ihrem Charakter je wieder einwilligt, nach Frankreich zurückzukehren!

 

Was wollen Sie, lieber Baron? versetzte Monte Christo, Familienkummer ist niederschmetternd für einen armen Teufel, dessen Kind sein einziges Vermögen darstellt, er ist aber erträglich für einen Millionär. Die Philosophen haben gut reden, die praktischen Menschen werden sie hierin immer Lügen strafen; das Geld tröstet über vielerlei, und Sie müssen schneller getröstet sein, als irgend jemand, Sie, der König der Finanzen.

 

Danglars warf einen schiefen Blick auf den Grafen, um zu sehen, ob er spotte oder im Ernste spreche. Ja, sagte er, es ist wahr, wenn das Vermögen tröstet, so bin ich getröstet; ich bin reich.

 

So reich, mein lieber Baron, daß Ihr Vermögen den Pyramiden gleicht; wollte man sie zerstören, man würde es doch nicht wagen; und wagte man es, so vermöchte man es nicht.

 

Danglars lächelte über dieses gutmütige Zutrauen des Grafen und erwiderte: Dies erinnert mich, daß ich bei Ihrem Eintritt damit beschäftigt war, fünf kleine Anweisungen fertigzustellen. Zwei hatte ich bereits unterzeichnet; wollen Sie mir erlauben, auch die andern drei vollends auszufertigen?

 

Tun Sie das, lieber Baron.

 

Es trat ein kurzes Schweigen ein, während dessen man die Feder des Bankiers kritzeln hörte.

 

Spanische Bons, haytische Bons, Bons auf Neapel? fragte Monte Christo.

 

Nein, antwortete Danglars mit seinem anmaßenden Lachen, Anweisungen auf den Inhaber an die Bank von Frankreich. Hören Sie, fügte er hinzu, Herr Graf, Sie, der Sie Finanzkaiser sind, wie ich nur König, haben Sie viele Papierfetzen von dieser Größe, jeden im Wert von einer Million, gesehen?

 

Monte Christo nahm die fünf Papierstücke, die ihm Danglars stolz darreichte, in die Hand, als wollte er sie abwägen, und las:

 

Der Direktor der Bank beliebe bezahlen zu lassen an meine Ordre und auf die von mir hinterlegten Fonds die Summe von einer Million, Wert in Rechnung.

 

Eins, zwei, drei, vier, fünf, sagte Monte Christo, fünf Millionen! Teufel! wie Sie zu Werke gehen, Herr Krösus.

 

So treibe ich die Geschäfte, sprach Danglars.

 

Das ist wunderbar, besonders wenn diese Summe, woran ich nicht zweifle, bar bezahlt wird.

 

Sie wird es, versetzte Danglars.

 

Es ist schön, einen solchen Kredit zu haben; in der Tat, dergleichen sieht man nur in Frankreich, fünf Papierfetzen im Werte von fünf Millionen, und man muß es wohl glauben.

 

Sie sagen das mit einem Tone … Hören Sie, machen Sie sich das Vergnügen, begleiten Sie meinen Kommis zur Bank, und Sie werden ihn mit Anweisungen auf den Staatsschatz für dieselbe Summe herauskommen sehen.

 

Nein, erwiderte Monte Christo, die fünf Zettel zusammenlegend, die Sache ist zu interessant, und ich will selbst den Versuch machen. Mein Kredit bei Ihnen betrug sechs Millionen, ich habe 900 000 gezogen, und Sie sind mir folglich noch fünf Millionen und 100 000 Franken schuldig. Ich nehme Ihre fünf Papierstreifen, die mir schon durch Ihre Unterschrift gut sind und gebe Ihnen hier einen allgemeinen Schein für sechs Millionen, wodurch sich unsere Rechnung begleicht. Ich habe den Schein schon vorher geschrieben, denn ich muß Ihnen sagen, daß ich heute durchaus Geld brauche.

 

Mit einer Hand steckte Monte Christo die fünf Papiere in seine Tasche, während er mit der andern dem Bankier den Empfangschein reichte.

 

Hätte der Blitz zu Danglars‘ Füßen eingeschlagen, sein Schrecken konnte nicht größer sein.

 

Wie? stammelte er, wie, Herr Graf, Sie nehmen dieses Geld? Verzeihen Sie, es ist Geld, das ich den Hospitälern schuldig bin, ein Depositum, das ich heute morgen zu bezahlen versprochen habe.

 

Ah! sagte Monte Christo, das ist etwas anderes; es liegt mir nicht gerade an diesen Papieren. Bezahlen Sie mich in anderen Werten! Ich nahm diese Zettel nur, um überall sagen zu können, ohne fünf Minuten Frist von mir zu verlangen, habe mir das Haus Danglars fünf Millionen bar bezahlt! Das wäre merkwürdig gewesen!

 

Dabei reichte er die fünf Papiere Danglars, der zuerst seine Hand ausstreckte, wie ein Geier die Klauen durch die Stangen seines Käfigs ausstreckt, um das Fleisch zu packen, das man ihm hinhält.

 

Plötzlich besann er sich eines andern und bezwang sich mit einer mächtigen Anstrengung. Dann sah man allmählich ein Lächeln seine verstörten Gesichtszüge runden, und er sprach: Im ganzen ist Ihr Empfangschein Geld.

 

Oh, mein Gott ja! Und wenn Sie in Rom wären, würde das Haus Thomson und French bei der Auszahlung keine Schwierigkeit machen.

 

Verzeihen Sie, Herr Graf, verzeihen Sie!

 

Ich kann also dieses Geld behalten?

 

Ja, erwiderte Danglars, den Schweiß abtrocknend, der an der Wurzel seiner Haare perlte, behalten Sie es.

 

Monte Christo steckte die fünf Zettel ein, mit einer Miene, als wollte er sagen: Denken Sie, bei Gott, nach; wenn Sie es bereuen, es ist noch Zeit.

 

Nein, nein, behalten Sie meine Unterschriften, sagte Danglars. Sie wissen, nichts ist förmlicher, als ein Geldmensch. Ich bestimmte diese Summe für die Hospitäler und hätte sie zu bestehlen geglaubt; wenn ich ihnen nicht gerade dieses Geld gegeben haben würde, als ob nicht ein Taler so viel wert wäre, wie der andere.

 

Und er brach in ein lautes, aber unverkennbar gekünsteltes Lachen aus.

 

Ich entschuldige und stecke ein, erwiderte Monte Christo auf das freundlichste und legte die Anweisungen in sein Portefeuille.

 

Doch, es bleibt noch eine Summe von 100 000 Franken, sagte Danglars.

 

Oh! Bagatelle! Das Agio muß sich auf diesen Betrag belaufen, behalten Sie ihn, und wir sind quitt.

 

Graf, rief Danglars, sprechen Sie im Ernste?

 

Ich scherze nie mit Bankiers, antwortete Monte Christo ernst. Und er ging auf die Tür zu, als eben der Diener meldete: Herr von Boville, Generaleinnehmer der Hospitäler. Wahrhaftig, sagte Monte Christo, es scheint, ich bin zu rechter Zeit gekommen, mich Ihrer Unterschriften zu erfreuen, denn man macht sie mir streitig.

 

Danglars erbleichte zum zweitenmal und nahm schleunigst von dem Grafen Abschied.

 

Dem im Vorzimmer wartenden Generaleinnehmer trat Danglars anscheinend völlig ruhig entgegen.

 

Guten Morgen, mein lieber Gläubiger, sagte er, denn ich wollte wetten, der Gläubiger kommt zu mir.

 

Sie haben richtig erraten, Herr Baron, sagte Herr von Boville, die Hospitäler erscheinen in meiner Person; die Witwen und Waisen verlangen durch meine Hände ein Almosen von fünf Millionen von Ihnen.

 

Und man sagt, die Waisen seien zu beklagen! versetzte Danglars, den Scherz ausspinnend, arme Kinder!

 

Ich komme also in ihrem Namen; Sie müssen meinen Brief gestern erhalten haben? – Ja.

 

Hier ist mein Empfangschein.

 

Mein lieber Herr von Boville, Ihre Witwen und Waisen werden wohl die Güte haben, vierundzwanzig Stunden zu warten, in Betracht, daß Herr von Monte Christo, den Sie wohl weggehen sahen, Ihre fünf Millionen fortgenommen hat.

 

Wieso?

 

Der Graf hatte einen unbeschränkten Kredit auf mich durch das Haus Thomson und French in Rom; er kam zu mir und verlangte eine Summe von fünf Millionen auf einmal; ich gab ihm eine Anweisung auf die Bank, und Sie begreifen, wenn ich an einem Tage aus der Bank zehn Millionen zurückzöge, so möchte dies seltsam erscheinen. In zwei Tagen ist das etwas anderes, fügte Danglars lächelnd hinzu.

 

Gehen Sie doch, rief Herr von Boville mit dem Tone des vollkommensten Unglaubens; fünf Millionen an den Herrn, der soeben wegging und mich grüßte, als ob ich ihn kennte. Vielleicht kennt er Sie, ohne daß Sie ihn kennen; Herr von Monte Christo kennt jedermann.

 

Fünf Millionen?

 

Hier ist sein Empfangschein, machen Sie es wie der heilige Thomas; sehen Sie und berühren Sie.

 

Herr von Boville nahm das Papier, das ihm Danglars reichte, und las:

 

Empfangen von Herrn Baron von Danglars die Summe von fünf Millionen einmalhunderttausend Franken, die er sich nach Belieben in Anweisungen auf das Haus Thomson und French in Rom zurückzahlen lassen wird.

 

Es ist meiner Treu wahr! rief Herr von Boville, doch kennen Sie das Haus Thomson und French?

 

Eines der besten Häuser Europas, versetzte Danglars und warf den Empfangschein, den er wieder an sich genommen hatte, nachlässig auf seinen Schreibtisch.

 

Und er hatte auf Sie allein fünf Millionen? Ah, dieser Graf von Monte Christo muß ein wahrer Nabob sein.

 

Meiner Treu! Ich weiß nicht, wie das ist; doch er hatte drei unbeschränkte Kredite, einen auf Rothschild, einen auf mich und einen auf Laffitte, und er gab, wie Sie sehen, mir den Vorzug, wobei er mir hunderttausend Franken für das Agio ließ.

 

Mit dem Ausdruck der höchsten Verwunderung erwiderte Herr von Boville: Das gefällt mir; ich muß ihn besuchen und eine fromme Stiftung für uns erlangen.

 

Oh! es ist, als ob Sie sie bereits hätten, seine Almosen allein belaufen sich monatlich auf 20 000 Franken.

 

Das ist herrlich! Übrigens werde ich ihm das Beispiel der Frau von Morcerf und ihres Sohnes anführen, die ihr ganzes Vermögen den Hospitälern geschenkt haben.

 

Welches Vermögen?

 

Ihr Vermögen, das Vermögen des verstorbenen Generals von Morcerf, weil sie nichts von einem so schmählich erworbenen Gute besitzen wollten.

 

Wovon werden sie leben?

 

Die Mutter zieht sich in die Provinz zurück, und der Sohn nimmt Dienste.

 

Ah! das nenne ich Skrupel! Wieviel besaßen sie?

 

Oh! nicht sehr viel, etwa eine und eine Viertelmillion.

 

Also Sie haben große Eile mit Ihrem Geld?

 

Allerdings, die Kontrolle unserer Kassen findet morgen statt.

 

Morgen! Warum sagten Sie mir das nicht sogleich! Morgen, ist ein Jahrhundert! Um welche Stunde?

 

Um zwei Uhr.

 

Schicken Sie um zwölf Uhr zu mir, versetzte Danglars lächelnd.

 

Herr von Boville antwortete nicht viel, er machte Ja mit dem Kopfe und schüttelte sein Portefeuille.

 

Doch wenn ich bedenke, sagte Danglars, Sie können noch etwas Besseres tun.

 

Was soll ich tun?

 

Der Empfangschein des Herrn von Monte Christo ist Geld wert! Zeigen Sie diesen Schein bei Rothschild oder bei Laffitte, sie nehmen Ihnen denselben auf der Stelle ab.

 

Obgleich rückzahlbar auf Rom?

 

Gewiß; es kostet Sie nur einen Diskont von fünf- bis sechstausend Franken.

 

Der Einnehmer machte einen Sprung rückwärts und rief:

 

Meiner Treu! nein, ich will lieber bis morgen warten. Wie schnell Sie zu Werke gehen!

 

Ich glaubte einen Augenblick, verzeihen Sie mir, sagte Danglars mit der größten Unverschämtheit, ich glaubte, Sie hätten ein kleines Defizit zu decken.

 

Ah! machte der Einnehmer.

 

Es ist alles schon dagewesen, und in einem solchen Falle bringt man ein Opfer.

 

Gott sei Dank, nein.

 

 

Morgen also, nicht wahr, mein lieber Einnehmer?

 

Morgen? ich werde selbst kommen.

 

Sie drückten sich die Hand.

 

Doch sagen Sie, bemerkte Herr von Boville, gehen Sie nicht zu dem Leichenbegängnis des Fräulein von Villefort?

 

Nein, ich halte mich seit der lächerlichen Geschichte mit Benedetto zurück.

 

Bah! Sie haben unrecht; sind Sie an der ganzen Sache schuld?

 

Hören Sie, mein lieber Einnehmer, wenn man einen fleckenlosen Namen trägt, wie ich, so ist man etwas empfindlich.

 

Jeder beklagt Sie, davon dürfen Sie überzeugt sein, und besonders beklagt man Fräulein Danglars.

 

Arme Eugenie! rief Danglars mit einem tiefen Seufzer. Sie wissen, daß sie in ein Kloster tritt? – Nein.

 

Ach! es ist leider nur zu wahr. Am Morgen nach dem Ereignis entschloß sie sich, mit einer ihr befreundeten Nonne abzureisen; sie tritt in ein sehr strenges Kloster in Italien oder Spanien.

 

Oh! das ist furchtbar.

 

Nach diesem Ausrufe entfernte sich Herr von Boville unter tausend Beileidsbezeugungen.

 

Doch er war nicht so bald außen, als Tanglars mit einer energischen Gebärde ausrief: Dummkopf!!

 

Und die Quittung von Monte Christo in sein kleines Portefeuille schiebend, fügte er hinzu: Komm morgen um Mittag, komm nur, und ich werde sonstwo sein.

 

Dann schloß er sich doppelt ein, leerte alle Behälter seiner Kasse, brachte etwa 50 000 Franken in Banknoten zusammen, verbrannte verschiedene Papiere, legte andere so, daß sie in die Augen fielen, und fing an, einen Brief zu schreiben; sobald er ihn geschrieben hatte, versiegelte er ihn und setzte darauf die Adresse: An Frau Baronin Danglars.

 

Dann zog er einen Paß aus seiner Schublade und sagte: Gut! er ist noch für zwei Monate gültig.

 

-Kapitelname unbekannt-

-Kapitelname unbekannt-


Der Graf von Monte Christo. Vierter Band.






Wie man einen Gärtner von den Murmeltieren befreit, die seine Pfirsiche fressen.

 

Wie man einen Gärtner von den Murmeltieren befreit, die seine Pfirsiche fressen.

Nicht an demselben Abend, wie er gesagt hatte, aber am andern Morgen verließ der Graf von Monte Christo Paris und zwar durch das Höllentor, schlug den Weg nach Orléans ein, fuhr durch das Dorf Linas, ohne bei der Telegraphenstation anzuhalten, und erreichte den Turm von Monthléry.

 

Am Fuße des Hügels sprang er aus dem Wagen und erstieg dann auf einem ringsherum führenden, achtzehn Zoll breiten Fußpfade die Anhöhe, sah sich aber auf dem Gipfel durch eine Hecke aufgehalten.

 

Monte Christo suchte die Tür des kleinen Geheges und fand sie auch sogleich. Es war ein hölzernes Gatter, das statt durch Angeln mit Weidenruten befestigt war und mittelst eines Nagels und eines Bindfadens geschlossen wurde. Der Graf begriff im Nu den Mechanismus, und die Tür öffnete sich.

 

Der Eindringling befand sich nun in einem kleinen, zwanzig Fuß langen und zwölf Fuß breiten Garten, der auf der einen Seite durch den alten, ganz mit Efeu umgürteten und von Mauernelken übersäten Turm begrenzt war. Man ging durch diesen Garten, indem man einem vielfach geschlängelten, mit rotem Sande bestreuten Wege folgte, an dem sich eine mehrere Jahre alte Buchsbaumeinfassung hinzog. Nie ist Flora durch einen so sorglichen und reinen Kultus geehrt worden, wie man ihr ihn in diesem kleinen Gehege angedeihen ließ.

 

In der Tat, keiner von den zwanzig Rosenstöcken, die auf dem Blumenbeet standen, zeigte auf einem seiner Blätter die Spur von Käfern oder Blattläusen, welche sonst die auf feuchtem Boden wachsenden Pflanzen zernagen. Und dennoch fehlte es dem Garten nicht an Feuchtigkeit; die rußschwarze Erde, das undurchsichtige Laubwerk der Bäume ließen daran nicht zweifeln. Aus den Wegen war sorgsam jedes Gräslein entfernt und jedes Unkraut von den Beeten.

 

Monte Christo blieb stehen, nachdem er die Tür, den Bindfaden am Nagel befestigend, wieder geschlossen hatte. Es scheint, der Telegraphist hält sich einen eigenen Gärtner, sagte der Graf, oder er widmet sich selbst leidenschaftlich der Gärtnerei. Plötzlich stieß er an einen Gegenstand, der hinter einem mit Blätterwerk beladenen Schubkarren kauerte; dieser Gegenstand erhob sich, es entschlüpfte ihm ein Ausruf des Erstaunens, und Monte Christo stand einem Manne von etwa fünfzig Jahren gegenüber, der Erdbeeren pflückte und diese auf Weinblätter legte.

 

Er hatte zwölf Weinblätter und beinahe ebensoviele Erdbeeren.

 

Sie halten Ihre Ernte, mein Herr? sagte Monte Christo lächelnd.

 

Verzeihen Sie, mein Herr, erwiderte der gute Mann, mit der Hand nach seiner Mütze greifend, ich bin allerdings nicht oben an meinem Posten, komme aber in diesem Augenblicke erst herab.

 

Ich will Sie durchaus nicht in Ihrer Beschäftigung stören, erwiderte der Graf, pflücken Sie ruhig Ihre Erdbeeren.

 

Ich bitte noch einmal um Vergebung, mein Herr; ich lasse vielleicht einen Vorgesetzten warten? sagte der Mann und betrachtete mit ängstlichem Blicke den Grafen und seinen blauen Frack.

 

Seien Sie unbesorgt, mein Freund, entgegnete Monte Christo mit jenem Lächeln, das einen so wohlwollenden, aber, wenn er wollte, auch einen so furchtbaren Eindruck machte, und das diesmal nur Wohlwollen ausdrückte, ich bin kein Vorgesetzter, der hier erscheint, um Sie zu inspizieren, sondern ein einfacher Reisender, der, von der Neugierde zu Ihnen geführt, es sich zum Vorwurfe macht, daß er Ihnen Ihre kostbare Zeit raubt.

 

Oh! meine Zeit ist nicht kostbar, versetzte der gute Mann mit schwermütigem Lächeln. Doch gehört meine Zeit der Regierung, und ich sollte sie nicht verlieren; doch kann ich, bis ein Signal ertönt, ruhig im Garten bleiben … Würden Sie übrigens glauben, mein Herr, daß die Murmeltiere mir meine Erdbeeren wegfressen? fügte er mit sonderbarem Gedankensprunge hinzu.

 

Meiner Treu, nein, das hätte ich nicht geglaubt, erwiderte mit ernstem Ton Monte Christo; diese Murmeltiere sind schlimme Nachbarn für uns, die wir sie nicht essen, wie dies die Römer taten.

 

Ah! die Römer aßen sie, rief der Gärtner, sie aßen Murmeltiere?

 

Das erzählen uns die alten Schriftsteller, sagte der Graf.

 

Wirklich? Das kann nichts Gutes sein, obgleich man sagt: Fett wie ein Murmeltier. Und man darf sich nicht wundern, daß die Murmeltiere fett sind, denn sie schlafen den lieben langen Tag und wachen nur auf, um die ganze Nacht hindurch zu nagen. Sehen Sie, im letzten Jahre hatte ich vier Aprikosen; sie stahlen mir eine von den vieren. Ich hatte einen Blutpfirsich, einen einzigen, es ist gewiß eine seltene Frucht; nun, mein Herr, sie fraßen mir die Hälfte weg, auf der Mauerseite; es war ein herrlicher vortrefflicher Blutpfirsich; ich habe nie einen besseren gegessen.

 

Sie haben ihn gegessen? fragte der Graf.

 

Das heißt, Sie verstehen, die übrig gebliebene Hälfte. Ah! verdammt, diese Spitzbuben wählen sich nicht die schlechtesten Stücke. Doch in diesem Jahr, fuhr der Gartenfreund fort, wird mir das nicht wieder begegnen, und sollte ich die Früchte, bis sie vollends reif sind, die ganze Nacht hindurch hüten müssen.

 

Monte Christo hatte genug gesehen. Jeder Mensch hat seine Leidenschaft, die sich in seinem Herzen festsetzt, wie der Wurm in der Frucht; die des Telegraphisten war die Gärtnerei.

 

Er fing an, die Weinblätter abzupflücken, welche die Trauben vor der Sonne verbargen, und gewann sich dadurch das Herz des Gärtners.

 

Der Herr ist wohl gekommen, um den Telegraphen zu sehen? fragte dieser.

 

Ja, mein Herr, wenn es nicht durch die Vorschriften verboten ist?

 

Oh! nicht im geringsten, da ja keine Gefahr dabei ist und auch niemand weiß oder wissen kann, was wir telegraphieren. Ist es Ihnen gefällig, mit mir hinaufzugehen?

 

Ich folge Ihnen.

 

Monte Christo trat in den in drei Stockwerke abgeteilten Turm; der unterste enthielt einiges Gartengerät, wie Spaten, Rechen, Gießkannen. Der zweite diente dem Angestellten als Wohn- und Schlafraum; er enthielt einen armseligen Hausrat, ein Bett, einen Tisch, zwei Stühle, ein steinernes Waschbecken und an der Decke getrocknete Kräuter, in denen der Graf spanische Bohnen und wohlriechende Erbsen erkannte. Es war alles so sorgfältig mit Etiketten versehen, wie im Pariser Botanischen Garten.

 

Braucht man viel Zeit, um telegraphieren zu lernen? fragte Monte Christo.

 

Das Studium dauert nicht lange, wohl aber die Zeit, die man als überzählig zu dienen hat.

 

Und wieviel erhält man Gehalt?

 

Tausend Franken, mein Herr.

 

Das ist nicht viel.

 

Nein, aber man hat freie Wohnung, wie Sie sehen.

 

Monte Christo betrachtete sich das Zimmer.

 

Wenn er nur nicht zu große Stücke auf seine Wohnung hält, murmelte er.

 

Sie gingen in den dritten Stock, wo sich das Telegraphenzimmer befand. Monte Christo schaute den zierlichen Apparat an. Das ist sehr interessant, sagte er, aber in der Länge der Zeit muß Ihnen ein solches Leben etwas einförmig erscheinen.

 

Ja, am Anfang, doch nach Verlauf von ein paar Jahren ist man daran gewöhnt, und während meiner freien Zeit gehe ich meiner Lieblingsbeschäftigung, der Gärtnerei, nach, pflanze, schneide, raupe, und so bleibe ich vor Langeweile bewahrt.

 

Seit wie lange sind Sie hier?

 

Seit zehn Jahren, und fünf Jahre als Überzähliger, das macht fünfzehn.

 

Wie lange müssen Sie dienen, um Ruhegehalt zu bekommen?

 

Oh! Herr, fünfundzwanzig Jahre.

 

Und wieviel beträgt dieser Ruhegehalt?

 

Hundert Taler.

 

Arme Menschheit! murmelte Monte Christo.

 

Was sagen Sie, mein Herr? fragte der Mann.

 

Ich sage, es sei alles sehr interessant, was Sie mir zeigen … setzt sich nicht soeben die Mechanik Ihres Apparates in Bewegung?

 

Ah! es ist wahr, mein Herr.

 

Und was sagt Ihnen Ihr Korrespondent?

 

Er fragt mich, ob ich bereit sei, und wird sogleich eine Nachricht telegraphieren, die ich an die nächste Station weiterzubefördern habe.

 

Mein lieber Herr, sagte Monte Christo, Sie lieben die Gärtnerei?

 

Leidenschaftlich.

 

Und Sie wären glücklich, wenn Sie statt einer Terrasse von zwanzig Fuß ein Grundstück von zwei Morgen hätten?

 

Mein Herr, ich würde ein irdisches Paradies daraus machen.

 

Mit Ihren tausend Franken leben Sie schlecht?

 

Ziemlich schlecht; doch ich lebe.

 

Ja; aber Sie haben einen elenden Garten.

 

Es ist wahr, der Garten ist nicht groß.

 

Und dabei noch voll von Murmeltieren, die alles auffressen. – Sagen Sie mir, wenn Sie das Unglück hätten, ein Telegramm zu übersehen, was geschähe dann?

 

Ich würde wegen Nachlässigkeit um Geld gestraft.

 

Um wieviel?

 

Um hundert Franken, den zehnten Teil meines Einkommens.

 

Ist Ihnen das schon begegnet? fragte Monte Christo.

 

Einmal, mein Herr, während ich einen Rosenstock pfropfte.

 

Gut. Wenn es Ihnen nun einfiele, etwas an dem Texte zu ändern oder ein anderes Telegramm dafür einzusetzen?

 

Dann würde ich entlassen und verlöre mein Ruhegehalt. Sie begreifen daher, mein Herr, daß ich nie etwas dergleichen tun würde.

 

Nicht einmal für fünfzehn Jahre Ihres Gehaltes?

 

Für 15 000 Franken? Mein Herr, Sie erschrecken mich.

 

Bah!

 

Mein Herr, Sie wollen mich in Versuchung führen?

 

Ganz richtig! Für 15 000 Franken, begreifen Sie?

 

Mein Herr, lassen Sie mich nach meinem Apparat schauen!

 

Im Gegenteil schauen Sie nicht nach ihm, sondern schauen Sie dies an. Kennen Sie diese Papierchen nicht?

 

Banknoten!

 

Ja, Tausender; es sind fünfzehn.

 

Wem gehören sie?

 

Ihnen, wenn Sie wollen.

 

Mir! rief der Telegraphist zitternd.

 

Mein Gott! ja, Ihnen, als freies Eigentum.

 

Mein Herr, sehen Sie, mein Apparat arbeitet.

 

Lassen Sie ihn arbeiten.

 

Mein Herr, Sie haben mich aufgehalten, und ich werde gestraft.

 

Das kostet Sie hundert Franken; Sie begreifen, Sie haben alles Interesse daran, meine fünfzehn Banknoten zu nehmen. Der Graf legte das Päckchen in die Hand des Angestellten. Doch das ist noch nicht alles, sagte er; mit Ihren 15 000 Franken können Sie nicht leben.

 

Ich werde immerhin noch meinen Platz haben.

 

Nein, Sie werden ihn verlieren; denn Sie befördern ein anderes Telegramm, als das Ihres Korrespondenten.

 

Oh! mein Herr, was verlangen Sie von mir?

 

Monte Christo zog aus seiner Tasche ein zweites Päckchen und sagte: Hier sind noch weitere 10 000 Franken; mit denen, die Sie in der Tasche haben, macht das 25 000 Franken; mit 5000 Franken kaufen Sie ein hübsches Häuschen und zwei Morgen Land, aus den weiteren 20 000 Franken ziehen Sie eine Rente von 1000 Franken.

 

Einen Garten von zwei Morgen?

 

Und tausend Franken Rente.

 

Mein Gott! mein Gott!

 

So nehmen Sie doch! Und Monte Christo steckte mit Gewalt die zehntausend Franken in die Hand des Angestellten.

 

Was soll ich tun?

 

Dieses Telegramm weiter befördern. Monte Christo zog aus seiner Tasche ein Papier, auf dem sich in deutlicher Schrift der Text befand. Das ist schnell getan, wie Sie sehen.

 

Ja, aber …

 

Dafür haben Sie sodann Blutpfirsiche und Gott weiß was.

 

Dieser Streich wirkte. Rot vor fieberhafter Aufregung und dicke Tropfen schwitzend, beförderte der gute Mann das Telegramm, das für das Ministerium des Innern bestimmt war.

 

Nun sind Sie reich, sagte Monte Christo.

 

Ja, erwiderte der Gartenfreund, aber um welchen Preis?

 

Hören Sie, mein Freund, Sie sollen keine Gewissensbisse haben; glauben Sie mir, ich schwöre Ihnen, Sie haben niemand geschadet.

 

Der Angestellte betrachtete die Banknoten, befühlte und zählte sie; er wurde bleich, er wurde rot; endlich stürzte er halb ohnmächtig in sein Zimmer, um ein Glas Wasser zu trinken.

 

Fünf Minuten, nachdem die telegraphische Nachricht im Ministerium des Innern angelangt war, ließ Debray anspannen und eilte zu Danglars. Ihr Gatte hat spanische Anleihwerte? sagte er zur Baronin.

 

Ich glaube wohl! Er hat für sechs Millionen.

 

Er soll sie um jeden Preis verkaufen; Don Carlos ist aus Bourges entflohen und nach Spanien zurückgekehrt.

 

Woher wissen Sie dies?

 

Bei Gott! Wie man Nachrichten erfährt, erwiderte Debray, die Achseln zuckend.

 

Die Baronin ließ sich das nicht zweimal sagen; sie lief zu ihrem Manne, der seinerseits zu seinem Wechselagenten eilte und ihm den Auftrag gab, um jeden Preis zu verkaufen.

 

Als man sah, daß Danglars verkaufte, fielen die spanischen Papiere sogleich. Danglars verlor dabei 500 000 Franken, doch er entäußerte sich aller seiner spanischen Papiere.

 

Am Abend las man im Messager:

 

Telegraphische Depesche.

 

Don Carlos ist der Überwachung, unter der er stand, in Bourges entgangen und über die katalonische Grenze nach Spanien zurückgekehrt. Barcelona hat sich für ihn erhoben.

 

Den ganzen Abend hindurch war nur von der Vorsicht Danglars‘, der seine Spanier verkauft hatte, und von seinem Glücke als Börsenhändler die Rede, weil er bei einem solchen Schlage nur fünfmalhunderttausend Franken verlor.

 

Diejenigen, die ihre Papiere behalten oder die Danglars‘ gekauft hatten, wähnten sich ruiniert und brachten eine sehr schlimme Nacht zu.

 

Am andern Morgen las man im Moniteur:

 

Ohne allen Grund hat der Messager gestern die Flucht des Don Carlos und den Ausstand in Barcelona gemeldet. Eine falsche telegraphische Depesche veranlaßte die irrtümliche Nachricht.

 

Die Fonds stiegen wieder um das Doppelte.

 

Dies machte an Verlust und entgangenem Gewinn für Danglars eine Ziffer von einer Million.

 

Gut! sagte Monte Christo zu Morel, der sich in dem Augenblick bei ihm befand, wo man ihm den seltsamen Börsenumschlag meldete, dessen Opfer Danglars geworden war, ich habe für fünfundzwanzigtausend Franken eine Entdeckung gemacht, für die ich hunderttausend bezahlt hätte.

 

Was haben Sie denn entdeckt? fragte Morel.

 

Das Mittel, wie man einen Gärtner von den Murmeltieren befreit, die seine Pfirsiche fressen.

 

Der Ball.

 

Der Ball.

 

Es waren die heißesten Julitage angebrochen, als der Sonnabend erschien, an dem der Ball des Herrn von Morcerf stattfinden sollte. Es schlug zehn Uhr abends. In den unteren Sälen des Hotels hörte man die Musik rauschen, während blendende, scharfe Lichtstreifen durch die Öffnungen der Läden drangen.

 

Der Garten war in diesem Augenblick einem Dutzend Bedienten überlassen, denen die Gebieterin des Hauses den Befehl gegeben hatte, hier das Abendessen herzurichten. Man beleuchtete die Alleen des Gartens mit farbigen Lampen und stellte mit feinem Verständnis Kerzen und Blumen in großer Zahl auf die Tafel.

 

In dem Augenblick, als die Gräfin von Morcerf, nachdem sie ihre letzten Befehle gegeben hatte, zurückkehrte, begannen sich ihre Salons, mit Gästen zu füllen, die sowohl die bezaubernde Gastfreundschaft der Gräfin, als die ausgezeichnete Stellung des Grafen anlockte; denn man war zum voraus gewiß, dieses Fest würde bei Mercedes‘ gutem Geschmacke manches Neue und Schöne bringen.

 

Frau Danglars, die infolge der bekannten Ereignisse eine tiefe Unruhe empfand, wollte nicht zu Frau von Morcerf gehen, doch am Morgen begegnete sie bei ihrer Ausfahrt Herrn von Villefort, der ihr zurief: Nicht wahr, Sie gehen zu Frau von Morcerf?

 

Nein, antwortete Frau Danglars, ich bin zu leidend.

 

Sie haben unrecht, entgegnete Villefort mit einem bezeichnenden Blicke. Es wäre gut, man sähe sie dort.

 

Ah! Sie glauben? fragte die Baronin. Dann gehe ich.

 

Und ihr Wagen fuhr in entgegengesetzter Richtung weiter. Frau Danglars strahlte, als sie erschien, nicht nur durch ihre eigene Schönheit, sondern blendete auch durch Luxus. Sie trat durch eine Tür in dem Augenblick ein, wo Mercedes durch die andere eintrat.

 

Die Gräfin schickte Albert der Dame entgegen. Albert ging auf die Baronin zu, machte ihr die wohlverdienten Komplimente über ihre Toilette und bot ihr den Arm, um sie nach dem Platze zu führen, den sie nach ihrem Belieben wählen sollte. Albert schaute umher. Sie suchen meine Tochter? sagte lächelnd die Baronin.

 

Ich gestehe es, sprach Albert, sollten Sie die Grausamkeit gehabt haben, Sie nicht mitzubringen?

 

Beruhigen Sie sich, sie hat Fräulein von Villefort getroffen und ihren Arm genommen; sehen Sie, sie folgen uns beide in weißen Kleidern, die eine mit einem Strauße von Kamelien, die andere mit einem Strauße von Vergißmeinnicht. Aber sagen Sie mir doch, werden Sie heute abend den Grafen von Monte Christo nicht hier haben?

 

Siebenzehn; antwortete Albert.

 

Was wollen Sie damit sagen?

 

Ich will sagen, versetzte der Vicomte lachend, daß Sie die siebenzehnte Person sind, welche diese Frage an mich richtet; der Graf hat Glück … ich mache ihm mein Kompliment.

 

Und antworten Sie jedem wie mir?

 

Ah! es ist wahr, ich habe Ihnen noch nicht geantwortet; beruhigen Sie sich, gnädige Frau, wir werden den Mann der Mode haben, wir gehören zu seinen Bevorzugten.

 

Lassen Sie mich hier, und begrüßen Sie Frau von Villefort, sagte die Baronin, ich sehe, sie stirbt vor Verlangen, Sie zu sprechen. Albert verbeugte sich vor Frau Danglars und ging auf Frau von Villefort zu, die den Mund öffnete, während er sich ihr näherte.

 

Ich wette, sagte Albert, sie unterbrechend, ich wette, ich weiß, was Sie sagen wollen.

 

Ah! lassen Sie doch hören! rief Frau von Villefort.

 

Sie wollen mich fragen, ob der Graf von Monte Christo gekommen sei oder kommen werde?

 

Ich beschäftige mich in diesem Augenblick nicht mit ihm. Ich wollte Sie fragen, ob Sie Nachricht von Herrn Franz erhalten hätten?

 

Ja, gestern; er schrieb mir, er werde zu gleicher Zeit mit seinem Briefe abreisen.

 

Gut … Nun der Graf? …

 

Seien Sie unbesorgt, der Graf wird kommen.

 

Sie wissen, daß er einen andern Namen hat, als Monte Christo?

 

Nein, ich wußte es nicht.

 

Monte Christo ist der Name einer Insel; er ist Malteser.

 

Das ist möglich.

 

Er ist der Sohn eines Reeders.

 

In der Tat, Sie sollten dies laut erzählen, Sie würden das größte Aufsehen damit machen.

 

Er hat in Indien gedient, beutet ein Silberbergwerk in Thessalien aus und kommt nach Paris, um in Auteuil eine Anstalt für Mineralbäder zu gründen.

 

Ah! das lasse ich mir gefallen, das sind Neuigkeiten! Erlauben Sie mir, sie zu wiederholen?

 

Ja, doch allmählich, eine nach der andern, und ohne zu sagen, daß sie von mir kommen.

 

Warum?

 

Weil es ein der Polizei abgelauschtes Geheimnis ist.

 

Also kommen diese Neuigkeiten? …

 

Vom Präfekten. Paris ist, wie Sie leicht begreifen können, durch den Anblick dieses Luxus in Aufregung geraten, und die Polizei hat Erkundigungen eingezogen.

 

Es fehlte nur noch, daß man den Grafen wie einen Vagabunden unter dem Vorwande, er sei zu reich, verhaftete.

 

Meiner Treu, das hätte ihm wohl begegnen können, wenn die Nachrichten nicht so günstig gewesen wären.

 

Armer Graf! Und er vermutet die Gefahr nicht, der er preisgegeben ist!

 

Ich glaube nicht.

 

Dann ist es Pflicht der Nächstenliebe, ihn darauf aufmerksam zu machen. Ich werde bei seiner Ankunft nicht verfehlen, dies zu tun.

 

In dieser Sekunde verbeugte sich ein schöner junger Mann mit lebhaften Augen, schwarzen Haaren und glänzendem Schnurrbart vor Frau von Villefort. Albert reichte ihm die Hand und sagte: Gnädige Frau, ich habe die Ehre, Ihnen Herrn Maximilian Morel, Kapitän bei den Spahis, einen unserer guten und besonders unserer braven Offiziere, vorzustellen.

 

Ich habe bereits das Vergnügen gehabt, den Herrn in Auteuil bei dem Herrn Grafen von Monte Christo zu treffen, antwortete Frau von Villefort, sich mit auffallender Kälte abwendend. Diese Antwort und besonders der Ton, in dem sie gegeben wurde, schnürten dem armen Morel das Herz zusammen; doch es war ihm eine Entschädigung vorbehalten. Als er sich umdrehte, sah er unweit der Tür ein schönes, ernstes Gesicht, dessen blaue, große und scheinbar ausdruckslose Augen sich auf ihn hefteten, während der Vergißmeinnichtstrauß, den die Person hielt, langsam an die Lippen emporstieg.

 

Dieser Gruß wurde so gut verstanden, daß Morel mit derselben Miene sein Taschentuch seinem Mund näherte; und, durch die ganze Breite des Saales voneinander getrennt, vergaßen sich diese zu lebendigen Bildsäulen gewordenen beiden Menschen, deren Herz so rasch unter dem scheinbaren Marmor ihres Gesichtes schlug, einen Augenblick, oder sie vergaßen vielmehr die Welt in dieser stummen Betrachtung.

 

Sie hätten lange so ineinander verloren bleiben können, ohne daß es jemand bemerkt hätte; doch der Graf von Monte Christo trat eben ein.

 

Der Graf zog, wie gesagt, überall, wo er sich zeigte, die Aufmerksamkeit auf sich. Es war nicht sein allerdings dem Schnitte nach tadelloser, aber einfacher schwarzer Frack; es war nicht seine weiße Weste, nicht sein Beinkleid, das einen Fuß von der zartesten Form umhüllte, was die Aufmerksamkeit rege machte, nein, es waren seine schwarzen, wellenförmigen Haare, seine matte Gesichtsfarbe, sein ruhiges, reines Antlitz, sein tiefes, schwermütiges Auge, endlich sein mit wunderbarer Feinheit gezeichneter Mund, der so leicht den Ausdruck stolzer Verachtung annahm, was aller Blicke auf ihn zog.

 

Es mochten schönere Männer da sein, aber es war kein eigenartigerer da. Alles an dem Grafen wollte etwas sagen und hatte seinen Wert, denn die Gewohnheit guter Gedanken hatte seinen Zügen, dem Ausdrucke seines Gesichtes und seiner unbedeutendsten Gebärde eine unvergleichliche Feinheit und Festigkeit verliehen.

 

Die Zielscheibe aller Blicke und Grüße, schritt er auf Frau von Morcerf zu, die, vor dem mit Blumen geschmückten Kamine stehend, ihn in einem der Tür gegenüber angebrachten Spiegel erscheinen sah und sich zu seinem Empfang vorbereitete. Sie wandte sich mit einem bereit gehaltenen Lächeln in dem Augenblick gegen ihn um, wo er sich vor ihr verbeugte. Ohne Zweifel glaubte sie, der Graf würde mit ihr sprechen; ohne Zweifel glaubte er, sie würde das Wort an ihn richten. Doch sie blieben auf beiden Seiten stumm, so sehr kam beiden wahrscheinlich eine alltägliche Redensart unwürdig vor, und nach einer gegenseitigen Begrüßung wandte sich Monte Christo zu Albert, der mit offener Hand auf ihn zukam.

 

Sie haben meine Mutter gesehen? fragte Albert.

 

Soeben hatte ich die Ehre, sie zu begrüßen, sagte der Graf, doch Ihren Vater habe ich noch nicht wahrgenommen.

 

Er steht dort in jener kleinen Gruppe von großen Politikern.

 

In der Tat, sagte Monte Christo, die Herren, die ich dort sehe, sind große Politiker? Ich hätte es nicht vermutet.

 

In diesem Augenblick fühlte Morcerf, daß man eine Hand auf seinen Arm legte.

 

Ah, Sie sind es, Baron! sagte er.

 

Warum nennen Sie mich Baron? entgegnete Danglars; Sie wissen wohl, daß ich nichts auf meinen Titel halte. Es ist nicht wie bei Ihnen, Vicomte, nicht wahr, Sie halten darauf?

 

Allerdings, antwortete Albert, da ich, wenn ich nicht Vicomte wäre, gar nichts wäre, indes Sie Ihren Baronentitel opfern können und immer noch Millionär bleiben.

 

Was mir der schönste Titel unter dem Julikönigtum zu sein scheint, versetzte Danglars.

 

Leider, sagte Monte Christo, leider ist man nicht Millionär auf Lebenszeit, wie man Baron, Pair von Frankreich oder Akademiker ist? als Beweis hierfür dienen die Millionäre Frank und Pullmann in Frankfurt, die soeben Bankerott gemacht haben.

 

Wirklich? fragte Danglars erbleichend.

 

Meiner Treu, die Nachricht ist mir heute durch einen Kurier zugekommen; ich hatte so etwa eine Million bei ihnen; zu rechter Zeit benachrichtigt, forderte ich vor einem Monat Rückzahlung.

 

Mein Gott! versetzte Danglars, sie haben für 200 000 Franken auf mich gezogen.

 

Nun wissen Sie’s, ihre Unterschrift ist nicht mehr als fünf Prozent wert.

 

Ja, aber ich erfahre es zu spät, denn ich habe ihre Unterschrift honoriert.

 

Gut, sagte Monte Christo, das sind 200 000 Franken, die den anderen nach …

 

Still! flüsterte Danglars. Sprechen Sie davon nicht, am wenigsten in Gegenwart von Herrn Cavalcanti Sohn, fügte der Bankier hinzu, der bei diesen Worten sich lächelnd gegen den jungen Mann umwandte.

 

Morcerf hatte den Grafen verlassen, um mit seiner Mutter zu sprechen. Danglars verließ ihn, um Cavalcanti Sohn zu begrüßen. Monte Christo fand sich einen Augenblick allein.

 

Die Hitze sing indessen an, fürchterlich zu werden. Die Bedienten gingen in den Salons mit Platten umher, die mit Früchten und verschiedenem Eis bedeckt waren. Monte Christo trocknete sich mit dem Taschentuch sein von Schweiß übergossenes Gesicht; doch er wich zurück, als die Platten an ihm vorübergetragen wurden, und nahm nichts von den Erfrischungen.

 

Frau von Morcerf ließ mit ihren Blicken nicht von Monte Christo ab. Sie sah die Platte an ihm vorübergehen, ohne daß er sie berührte; sie faßte sogar die Bewegung auf, mit der er sich entfernte.

 

Albert, sagte sie, hast du bemerkt, daß der Graf nie etwas bei Herrn von Morcerf genießen wollte?

 

Ja, doch er hat an einem Frühstück bei mir teilgenommen.

 

Bei dir ist nicht bei dem Grafen, versetzte Mercedes, und ich beobachte ihn, seitdem er hier ist. – Nun? – Er hat noch nichts angenommen. – Der Graf ist sehr nüchtern. – Mercedes lächelte traurig. – Nähere dich ihm, sagte sie, und bei der ersten Platte, die herumgereicht wird, dringe in ihn. – Warum das, meine Mutter? – Mache mir das Vergnügen, Albert.

 

Albert küßte seiner Mutter die Hand und stellte sich zu dein Grafen. Es kam eine neue Platte mit den gleichen Erfrischungen wie die vorhergehende; sie sah Albert in den Grafen dringen, selbst Eis nehmen und es ihm anbieten; doch er weigerte sich hartnäckig. Albert kehrte zu seiner Mutter zurück; die Gräfin war sehr bleich.

 

Nun, du siehst es, er hat sich geweigert, sagte sie.

 

Ja, doch wie kann Sie dies beunruhigen?

 

Du weißt, Albert, die Frauen sind sonderbar. Ich hätte den Grafen mit Vergnügen irgend etwas bei mir nehmen sehen und wäre es nur ein Granatkern gewesen. Übrigens ist er vielleicht die französische Kost nicht gewöhnt und hat eine Vorliebe für irgend etwas?

 

Mein Gott, nein! ich sah ihn in Italien von allem nehmen; ohne Zweifel ist ihm heute abend nicht recht wohl.

 

Da er stets in heißen Klimaten gewohnt hat, ist er vielleicht auch minder empfindlich für die Hitze, als ein anderer, sagte die Gräfin.

 

Ich glaube nicht, denn er beklagte sich, daß es zum Ersticken heiß sei, und fragte mich, warum man, da man bereits die Fenster geöffnet, nicht auch die Läden öffne.

 

In der Tat, das ist ein Mittel, um mir Gewißheit zu verschaffen, ob diese Enthaltsamkeit auf einem bestimmten Entschlüsse beruht, sagte Mercedes und verließ den Salon.

 

Einen Augenblick nachher öffneten sich die Läden, man sah den ganzen Garten mit Lampen beleuchtet und das Abendessen unter dem Zelte aufgetragen.

 

Tänzer und Tänzerinnen, Spieler und Plaudernde, stießen einen Freudenschrei aus, die gepreßten Lungen atmeten mit Wollust die Luft ein, die in Wellen in die Säle strömte. In diesem Augenblick erschien Mercedes wieder, bleicher als sie weggegangen war, aber mit jener, bei ihr unter gewissen Umständen merkwürdigen Energie des Gesichtsausdrucks. Sie ging gerade auf die Gruppe zu, deren Mittelpunkt ihr Gatte bildete, und sagte: Herr Graf, fesseln Sie diese Herren nicht hier! Wenn sie nicht spielen, werden sie lieber die Lust im Garten einatmen, als hier ersticken.

 

Ah! gnädige Fran, sagte ein alter, sehr artiger General, der im Jahre 1809 »Partant pour la Syrie« (Auf nach Syrien) gesungen hatte, wir gehen nicht allein in den Garten.

 

Gut, ich werde das Beispiel geben, versetzte Mercedes.

 

Und sich zu Monte Christo wendend, sagte sie: Herr Graf, haben Sie die Güte, mir Ihren Arm zu bieten. Der Graf wankte bei diesen einfachen Worten; dann schaute er Mercedes einen Moment an. Dieser Moment hatte die Geschwindigkeit eines Blitzes, und dennoch kam es der Gräfin vor, als hätte er ein Jahrhundert gedauert, so viele Gedanken hatte Monte Christo in diesen einzigen Blick gelegt.

 

Er bot der Gräfin seinen Arm; sie stützte sich darauf, oder sie berührte ihn vielmehr nur mit ihrer kleinen Hand, und beide stiegen die Stufen der mit Kamelien und Rhododendren eingefaßten Freitreppe hinab.

 

Brot und Salz.

 

Brot und Salz.

 

Frau von Morcerf trat mit ihrem Begleiter unter eine Lindenallee, die nach einem Treibhause führte. Nicht wahr, es war heiß im Salon, Herr Graf? sagte sie.

 

Ja, gnädige Frau, und Ihr Gedanke, die Türen und Läden öffnen zu lassen, war vortrefflich.

 

Als der Gras diese Worte sprach, bemerkte er, daß Mercedes‘ Hand zitterte.

 

Doch Sie, sagte er, mit diesem leichten Kleide und ohne ein anderes Schutzmittel um den Hals, als diesen Schal von Gaze, Ihnen ist wohl kalt?

 

Wissen Sie, wohin ich sie führe? sagte die Gräfin, ohne auf Monte Christos Frage zu antworten.

 

Nein, gnädige Frau, antwortete dieser, doch Sie sehen, ich leiste keinen Widerstand.

 

In das Treibhaus, das Sie dort am Ende der Allee erblicken. Der Graf schaute Mercedes an, als wollte er sie befragen; doch sie setzte ihren Weg fort, ohne etwas zu sagen, und Monte Christo blieb stumm.

 

Sie traten in das Gebäude, das ganz mit herrlichen Früchten geschmückt war, die schon Anfang Juli in dieser künstlichen Temperatur reiften.

 

Mercedes verließ den Arm des Grafen und pflückte an einem Weinstock eine Muskattraube.

 

Nehmen Sie, Herr Graf, sagte sie mit einem so traurigen Lächeln, daß man die Tränen am Rande ihrer Augen hätte können hervorbrechen sehen, ich weiß wohl, unsere französischen Trauben sind nicht mit denen von Sizilien und Cypern zu vergleichen, doch Sie werden gegen unsere nördliche Sonne nachsichtig sein.

 

Der Graf verbeugte sich und machte einen Schritt rückwärts.

 

Sie schlagen es mir ab? fragte Mercedes mit zitternder Stimme.

 

Gnädige Frau, antwortete Monte Christo, ich bitte Sie demütigst um Entschuldigung, aber ich esse nie Trauben.

 

Ein herrlicher Pfirsich hing, wie die Weinrebe, an einem durch die künstliche Hitze des Treibhauses erwärmten Spaliere. Mercedes näherte sich der samtartigen Frucht und pflückte sie.

 

Nehmen Sie diesen Pfirsich, sagte sie.

 

Doch der Graf machte dieselbe Gebärde der Weigerung.

 

Abermals! sagte sie mit einem schmerzlichen Tone, daß man fühlen konnte, wie dieser Ton ein Schluchzen unterdrückte, in der Tat, ich habe Unglück.

 

Ein banges Schweigen folgte auf diese Szene, der Pfirsich war wie die Traube auf den Sand gefallen.

 

Herr Graf, sagte Mercedes, Monte Christo mit flehendem Auge anschauend, es gibt eine rührende arabische Sitte, die auf ewig die zu Freunden macht, die Brot und Salz unter demselben Dache geteilt haben.

 

Ich kenne sie, gnädige Frau, antwortete der Graf, doch wir sind in Frankreich und nicht in Arabien, und in Frankreich gibt es ebensowenig ewige Freundschaften, wie eine Teilung von Salz und Brot.

 

Doch sprechen Sie, sagte die Gräfin, stammelnd und ihre Augen auf Monte Christos Augen heftend, den sie mit ihren beiden Händen am Arme faßte, nicht wahr, wir sind Freunde?

 

Das Blut floß zu dem Herzen des Grafen zurück, und er wurde bleich wie der Tod, dann stieg es vom Herzen aufwärts, überströmte seine Wangen, und seine Augen schwammen ein paar Sekunden lang im weiten Raume, wie die eines von einem Blendwerk getroffenen Menschen.

 

Gewiß sind wir Freunde, gnädige Frau, erwiderte er, warum sollten wir es auch nicht sein?

 

Dieser Ton war so weit von dem entfernt, den Frau von Morcerf zu hören wünschte, daß sie sich umwandte, um einen Seufzer entschlüpfen zu lassen, der einem Stöhnen glich.

 

Ich danke, sagte sie und schritt vorwärts.

 

So machten sie einen Gang durch den Garten, ohne ein einziges Wort zu sprechen.

 

Mein Herr, sagte plötzlich die Gräfin nach zehn Minuten einer schweigsamen Wanderung, ist es wahr, daß Sie so viel gesehen, so viele Reisen gemacht, so viel gelitten haben?

 

Ja, gnädige Frau, ich habe viel gelitten, antwortete er.

 

Aber nun sind Sie glücklich?

 

Allerdings, denn niemand hört mich klagen.

 

Und Ihr gegenwärtiges Glück hat Ihre Seele besänftigt?

 

Mein gegenwärtiges Glück kommt meinem vergangenen Unglück gleich.

 

Sind Sie nicht verheiratet? fragte die Gräfin.

 

Ich verheiratet? entgegnete Monte Christo bebend, wer konnte Ihnen dies sagen?

 

Man hat es mir nicht gesagt, aber man hat Sie wiederholt eine junge hübsche Person in die Oper führen sehen.

 

Es ist eine Sklavin, die ich in Konstantinopel gekauft habe; es ist die Tochter eines Fürsten, aus der ich meine Tochter mache, da ich keine andere Zuneigung auf Erden habe.

 

Sie leben also allein?

 

Ich lebe allein.

 

Sie haben keine Schwester … keinen Sohn … keinen Vater?

 

Ich habe niemand.

 

Wie können Sie so leben, ohne daß Sie etwas an das Dasein bindet?

 

Das ist nicht mein Fehler, gnädige Frau. In Malta hatte ich eine Geliebte, ich wollte sie heiraten, als der Krieg kam und mich wie ein Sturmwind von ihr fortführte. Ich hatte geglaubt, sie liebe mich hinreichend, um mich zu erwarten und sogar meinem Grabe treu zu bleiben. Bei meiner Rückkehr war sie verheiratet. Das ist die traurige Geschichte des damals zwanzigjährigen Mannes. Ich hatte vielleicht ein schwächeres Herz als die andern und litt mehr, als andere an meiner Stelle gelitten haben würden.

 

Die Gräfin blieb einen Augenblick stehen, als bedürfe sie eines Haltes, um Atem zu schöpfen.

 

 

Ja, sagte sie, und diese Liebe ist Ihnen im Herzen geblieben … Man liebt nur einmal wirklich … Und Sie haben diese Frau nie wiedergesehen?

 

Nie, ich bin nicht nach Malta, wo sie war, zurückgekehrt. – Sie ist also in Malta? – Ich glaube. – Und haben Sie ihr die Leiden vergeben, die sie Ihnen bereitete? – Ihr, ja, – Doch nur ihr; Sie hassen immer noch die, welche Sie von ihr getrennt haben? – Ich, keineswegs; warum sollte ich sie hassen?

 

Die Gräfin stellte sich Monte Christo gegenüber; sie hielt noch ein Stück von der duftenden Traube in der Hand.

 

Nehmen Sie, sagte Mercedes.

 

Ich esse nie Trauben, erwiderte Monte Christo noch einmal.

 

Die Gräfin schleuderte die Traube mit einer Gebärde der Verzweiflung in das nächste Gebüsch.

 

Unbeugsam! murmelte sie.

 

Monte Christo blieb so unempfindlich, als gälte der Vorwurf gar nicht ihm.

 

Albert lief in diesem Augenblick herbei und rief: Oh! meine Mutter, ein großes Unglück!

 

Was ist geschehen? fragte die Gräfin, und richtete sich, wie nach einem Traume zur Wirklichkeit erwachend, hoch auf; ein Unglück sagst du? In der Tat, es muß Unglück geschehen!

 

Herr von Villefort ist hier. – Nun? – Er kommt, um seine Frau und seine Tochter zu holen. – Warum?

 

Die Frau Marquise von Saint-Meran ist mit der Nachricht in Paris angelangt, Herr von Saint-Meran sei bei seiner Abreise von Marseille auf der ersten Station gestorben. Frau von Villefort, die sehr heiter war, wollte dieses Unglück weder begreifen, noch glauben, doch Fräulein von Villefort erriet, so vorsichtig ihr Vater auch zu Werke ging, bei den ersten Worten alles. Der Schlag traf sie wie der Donner, und sie sank ohnmächtig nieder.

 

Was ist denn Herr von Saint-Meran für Fräulein von Villefort? fragte der Graf.

 

Ihr Großvater mütterlicherseits. Er wollte hierherkommen, um die Heirat seiner Enkelin mit Franz zu beschleunigen.

 

Ah! wirklich?

 

Franz hat nun Aufschub, fiel Albert ein. Warum ist Herr von Saint-Meran nicht ebenso auch Fräulein Danglars‘ Großvater?

 

Albert! Albert! versetzte Frau von Morcerf im Tone zarten Vorwurfs, was sagst du da? Ah! Herr Graf, Sie, für den er so große Achtung hegt, sagen Sie ihm, daß er übel gesprochen habe!

 

Und sie machte einige Schritte vorwärts.

 

Monte Christo schaute sie so seltsam und mit einem zugleich so träumerischen und von liebevoller Bewunderung erfüllten Ausdruck an, daß sie zurückkehrte.

 

Dann nahm sie seine Hand, drückte zugleich die ihres Sohnes und sagte, beide aneinander pressend: Nicht wahr, wir sind Freunde?

 

Oh! Ihr Freund, gnädige Frau? erwiderte Monte Christo, ich habe nicht diese Anmaßung, doch jedenfalls bin ich Ihr ehrerbietiger Diener.

 

Die Gräfin entfernte sich mit unaussprechlich gepreßtem Herzen, und ehe sie zehn Schritte gemacht hatte, sah sie der Graf ihr Taschentuch an die Augen drücken.

 

Sind Sie uneins, meine Mutter und Sie? fragte Albert erstaunt.

 

Im Gegenteil, da sie mir in Ihrer Gegenwart gesagt hat, wir seien Freunde, antwortete der Graf. Und sie kehrten in den Salon zurück, den Valentine und Herr und Frau von Villefort soeben verlassen hatten.

 

Es versteht sich von selbst, daß Morel gleich nach ihnen weggegangen war.

 

Der fünfte Oktober.

 

Der fünfte Oktober.

 

Es war ungefähr sechs Uhr abends; ein opalfarbiges Licht, in das eine schöne Herbstsonne ihre goldenen Strahlen einwob, fiel auf das bläuliche Meer. Aus diesem ungeheuren Gewässer, das sich von Gibraltar bis zu den Dardanellen, und von Tunis bis nach Venedig ausdehnt, glitt eine leichte Jacht von reiner, zierlicher Form in dem ersten Dunste des Abends hin.

 

Nach und nach verschwanden am westlichen Horizont die letzten Strahlen der Sonne. Die Jacht rückte rasch vor, obgleich scheinbar der Wind kaum stark genug war, um das Lockenhaar eines Mädchens flattern zu lassen.

 

Auf dem Vorderteile stehend, sah ein Mann von hoher Gestalt, brauner Gesichtsfarbe und mit großem Auge das Land als düstere, kegelförmige Masse auf sich zukommen, die gleich einem ungeheuren katalanischen Hut sich aus den Wellen erhob.

 

Ist das Monte Christo? fragte mit ernster, von tiefer Traurigkeit zeugender Stimme der Reisende, dessen Befehlen die Jacht für den Augenblick unterstand.

 

Ja, Exzellenz, antwortete der Patron, wir kommen sogleich dahin.

 

Wir kommen dahin! murmelte der Reisende mit einem Ausdrucke unsäglicher Schwermut. Dann fügte er mit leiser Stimme hinzu: Ja, dort wird der Hafen sein.

 

Und er versenkte sich wieder in seine Gedanken, die sich durch ein unsäglich trauriges Lächeln kundgaben.

 

Zehn Minuten nachher geite man die Segel auf und warf den Anker fünfhundert Schritte von einem kleinen Hafen.

 

Das Boot war bereits mit den Ruderern und dem Lotsen im Meere. Der Reisende stieg hinab und blieb, statt sich auf das für ihn mit einem blauen Teppich geschmückte Vorderteil zu setzen, mit gekreuzten Armen stehen.

 

Die Ruderer warteten, ihre Ruder halb in die Höhe gehoben, wie Vögel, die ihre Flügel trocknen lassen.

 

Vorwärts! sprach der Reisende.

 

Die acht Ruderer setzten mit einem Schlage ein; dann glitt die Barke, dem Antriebe gehorchend, rasch dem Ufer zu.

 

In einem Augenblick befand man sich in der kleinen Bucht, die hier durch einen natürlichen Ausschnitt gebildet wurde. Die Barke berührte einen Grund von feinem Sand. Der junge Mann stieg aus und suchte mit seinen Augen um sich her den Weg, denn es war bereits völlig Nacht.

 

In dem Augenblick, wo er den Kopf umwandte, ruhte eine Hand auf seiner Schulter, und eine Stimme ließ ihn erbeben.

 

Guten Abend, Maximilian, sagte diese Stimme, Sie sind sehr pünktlich, und ich danke Ihnen.

 

Sie sind es, Graf! rief der junge Mann mit einer freudigen Bewegung und mit seinen beiden Händen die Hand Monte Christos drückend.

 

Ja, wie Sie sehen, nicht minder pünktlich; doch Sie triefen, lieber Freund. Sie müssen die Kleider wechseln, es findet sich hier eine für Sie bereitstehende Wohnung, in der Sie Müdigkeit und Kälte vergessen werden, sagte Monte Christo lächelnd.

 

Maximilian schaute den Grafen voll Erstaunen an.

 

Wie, sagte er, Sie sind hier nicht mehr derselbe, der Sie in Paris waren?

 

Warum dies?

 

Ja, hier lächeln Sie.

 

Monte Christos Stirn verdüsterte sich plötzlich, und er sagte: Sie haben recht, daß Sie mich an mich selbst erinnern, Maximilian; Sie wiederzusehen war ein Glück für mich, und ich vergaß, daß jedes Glück vorübergehend ist.

 

Oh! nein, nein, Graf, rief Morel, abermals die beiden Hände seines Freundes ergreifend; lachen Sie im Gegenteil, seien Sie glücklich, und beweisen Sie mir, daß das Leben nur für die Leidenden schlecht ist. Oh! Sie sind menschenfreundlich, Sie sind gut, Sie sind groß, mein Freund, und um mir Mut zu verleihen, heucheln Sie diese Heiterkeit.

 

Sie täuschen sich, Morel, erwiderte Monte Christo, ich war in der Tat glücklich.

 

Dann ist es um so besser, Sie vergessen mich.

 

Wieso?

 

Ja, denn Sie wissen, Freund, wie der Gladiator, der in den Zirkus trat, den erhabenen Kaiser begrüßte, so sage ich zu Ihnen: Der den Tod erleiden wird, grüßt dich.

 

Sie sind nicht getröstet? fragte Monte Christo mit einem seltsamen Blicke.

 

Haben Sie wirklich geglaubt, ich könnte es sein? rief Morel mit einem Tone voll Bitterkeit. Graf, hören Sie mich: Ich bin zu Ihnen gekommen, um in den Armen eines Freundes zu sterben. Allerdings gibt es noch Menschen, die ich liebe; ich liebe meine Schwester Julie, ich liebe ihren Gatten Emanuel; aber für mich ist es Bedürfnis, daß man mir starke Arme öffnet, daß man mir in meinen letzten Augenblicken zulächelt. Meine Schwester würde in Tränen zerfließen und ohnmächtig werden; ich würde sie leiden sehen und habe selbst genug gelitten. Emanuel würde mir die Waffe aus den Händen reißen und das Haus mit seinem Geschrei erfüllen. Sie, Graf, dessen Wort ich habe, Sie, der Sie mehr als ein Mensch sind, Sie werden mich sanft und zärtlich bis zu den Pforten des Todes geleiten? Oh! Graf, wie sanft und wollüstig werde ich im Tode ruhen!

 

Morel sprach diese letzten Worte mit einem Ausdrucke von Energie, der den Grafen beben ließ.

 

Mein Freund, fuhr Morel fort, als er sah, daß der Graf schwieg, Sie haben mir den fünften Oktober als das Ende der Frist bezeichnet, die Sie von mir verlangen … Mein Freund, heute ist der fünfte Oktober …

 

Morel zog seine Uhr.

 

Es ist neun Uhr, ich habe noch drei Stunden zu leben.

 

Es sei! sagte Monte Christo, kommen Sie!

 

Morel folgte mechanisch dem Grafen, und sie waren bereits in der Grotte, ehe es Maximilian bemerkte.

 

Er fand Teppiche unter seinen Füßen, eine Tür öffnete sich, Wohlgerüche umhüllten ihn, ein lebhaftes Licht traf seine Augen. Morel zögerte, weiterzugehen, und blieb stehen; er mißtraute den entnervenden Sinnenreizen, die ihn umgaben.

 

Monte Christo zog ihn sanft vorwärts und sagte: Geziemt es sich nicht, daß wir die drei Stunden, die uns noch bleiben, wie die alten Römer verwenden, die, von Nero, ihrem Kaiser und Erben, zum Tode verurteilt, sich mit Blumen bekränzt zu Tische setzten und den Tod mit dem Wohlgeruch von Heliotropen und Rosen einatmeten?

 

Morel lächelte.

 

Wie Sie wollen, sagte er; der Tod bleibt immer der Tod, das heißt die Ruhe, das heißt die Abwesenheit des Lebens nd folglich des Schmerzes. Er setzte sich, Monte Christo nahm seinen Platz ihm gegenüber.

 

Man befand sich in dem wundervollen, bereits von uns beschriebenen Speisesaal, wo Marmorstatuen auf ihren Häuptern stets mit Blumen und Früchten gefüllte Körbchen trugen.

 

Morel hatte alles flüchtig angeschaut und ohne Zweifel nichts gesehen. Reden wir als Männer! sagte er mit einem Blicke auf den Grafen.

 

Sprechen Sie!

 

Graf, Sie sind der Inbegriff aller menschlichen Kenntnisse, und Ihr Wesen macht den Eindruck auf mich, als kämen Sie aus einer Welt, die weiter vorgerückt und reicher ist, als die unsrige.

 

Es ist etwas Wahres daran. Morel, sagte der Graf mit jenem schwermütigen Lächeln, das ihn so schön erscheinen ließ; ich bin von einem Planeten herabgestiegen, den man den Schmerz nennt.

 

Ich glaube alles, was Sie mir sagen, ohne daß ich den Sinn davon zu ergründen suche. Zum Beweise hierfür mag dienen: Sie hießen mich leben, und ich lebte; Sie hießen mich hoffen, und ich hoffte beinahe. Ich wage es daher, Graf, sie zu fragen, als ob Sie schon einmal tot gewesen wären: Graf, tut das wehe?

 

Monte Christo schaute Morel mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit an und erwiderte: Ja, allerdings, es tut sehr wehe. Wenn Sie auf eine rohe Weise die sterbliche Hülle zerreißen, die hartnäckig zu leben verlangt; wenn Sie Ihr Fleisch unter den unmerklichen Zähnen eines Dolches aufschreien lassen; wenn Sie mit einer unverständigen Kugel Ihr Hirn durchbohren, das bei dem geringsten Stoße von Schmerzen befallen wird, – so werden Sie sicher leiden und mit Widerwillen das Leben verlassen, das Sie mitten unter Ihrem verzweiflungsvollen Todeskampfe immer noch schöner finden, als eine so teuer erkaufte Ruhe.

 

Ja, ich begreife, sagte Morel; der Tod hat wie das Leben seine Geheimnisse des Schmerzes und der Wollust, und es kommt nur darauf an, sie kennen zu lernen.

 

Ganz richtig, Maximilian, Sie haben das große Wort ausgesprochen. Der Tod ist, je nachdem wir uns gut oder schlimm mit ihm stellen, entweder ein Freund, der uns ebenso sanft wiegt, wie eine Amme, oder ein Feind, der uns mit Gewalt die Seele aus dem Leibe reißt. Eines Tags, wenn unsere Welt noch tausend Jahre gelebt, wenn man sich aller zerstörenden Kräfte der Natur bemächtigt haben wird, um sie der allgemeinen Wohlfahrt der Menschheit dienstbar zu machen; wenn der Mensch einmal die Geheimnisse des Todes kennt, – wird dieser ebenso sanft, ebenso wollüstig sein, wie der Schlummer in den Armen unserer Geliebten.

 

Und wenn Sie sterben wollten, wüßten Sie so zu sterben? – Ja.

 

Morel reichte ihm die Hand und sagte: Ich begreife nun, warum Sie mich hierher beschieden haben, auf diese einsame Insel, mitten in den Ozean, in diesen unterirdischen Palast … ein Grab, das den Neid eines Pharao erregt haben würde; es geschah dies, weil Sie mich liebten, nicht wahr, Graf? Weil Sie mich hinreichend lieben, um mir einen Tod ohne Kampf zu gönnen, einen Tod, der mir gestattet, zu sterben, während ich den Namen Valentine ausspreche und Ihnen die Hand drücke?

 

Ja, Sie haben richtig erraten, Morel, sagte der Graf einfach, dies war meine Absicht.

 

Ich danke; die Hoffnung, daß ich morgen nicht mehr leben werde, ist so süß für mein armes Herz.

 

Bedauern Sie keinen Verlust? fragte Monte Christo.

 

Nein! antwortete Morel.

 

Bedauern Sie nicht, von mir scheiden zu müssen? fragte der Graf mit tiefer Rührung.

 

Morel hielt inne. Sein so reines Auge trübte sich plötzlich und glänzte dann wieder in ungewöhnlichem Feuer, eine große Träne strömte hervor und rollte an seiner Wange herab.

 

Wie! rief der Graf, Sie beklagen den Verlust von irgend etwas auf Erden und wollen sterben?

 

Oh! Ich flehe Sie an! rief Morel mit mattem Tone, kein Wort mehr, verlängern Sie meine Qualen nicht, Graf.

 

Hören Sie, Morel, sagte der Graf, im innersten Herzen bewegt, Ihr Schmerz ist ungeheuer, das sehe ich; aber dennoch glauben Sie an Gott und setzen das Heil Ihrer Seele nicht aufs Spiel!

 

Morel lächelte traurig und erwiderte: Graf, ich schwöre Ihnen, meine Seele gehört nicht mehr mir.

 

Hören Sie, Morel, ich habe keine Verwandten auf der Welt, ich habe mich daran gewöhnt, Sie als meinen Sohn zu betrachten; um meinen Sohn zu retten, würde ich mein Leben und noch viel mehr mein Vermögen opfern.

 

Was wollen Sie damit sagen?

 

Ich will damit sagen, Morel, daß Sie das Leben verlassen, weil Sie nicht alle Genüsse kennen, die es einem großen Vermögen verheißt. Morel, ich besitze hundert Millionen: mit einem solchen Vermögen können Sie jedes Ziel erreichen, das Sie sich vorsetzen. Sind Sie ehrgeizig? Jede Laufbahn ist Ihnen geöffnet. Setzen Sie die Welt in Aufruhr, vollführen Sie wahnsinnige Streiche, seien Sie ein Verbrecher, wenn es sein muß, aber leben Sie.

 

Graf, ich habe Ihr Wort, erwiderte Morel kalt, und, fügte er, seine Uhr ziehend, hinzu, es ist halb zwölf Uhr.

 

Morel! Bedenken Sie auch, unter meinen Augen, in meinem Hause?

 

Dann lassen Sie mich gehen, sprach Morel düster, oder ich fange an zu glauben, Sie lieben mich nicht meinetwegen, sondern Ihretwegen! Und er stand auf.

 

Es ist gut, sagte Monte Christo, dessen Gesicht sich bei diesen Worten aufklärte; Sie wollen es, Morel, und sind unbeugsam. Ja! Sie sind tief unglücklich, und es könnte Sie, wie Sie gesagt haben, nur ein Wunder heilen; setzen Sie sich, Morel, und warten Sie!

 

Morel gehorchte. Monte Christo stand ebenfalls auf und holte aus einem sorgfältig verschlossenen Schranke, dessen Schlüssel er an einer goldenen Kette an sich hängen hatte, ein kleines silbernes, wunderbar gearbeitetes Kästchen, dessen Ecken vier Figuren darstellten, Figuren von Frauen, Symbole von Engeln, die zum Himmel aufstreben.

 

Er stellte dieses Kästchen auf den Tisch, öffnete es und zog eine kleine goldene Kapsel daraus hervor, deren Deckel sich durch den Druck einer Feder hob.

 

Diese Kapsel enthielt eine salbenartige, halbfeste Substanz. Der Graf schöpfte eine kleine Menge davon mit einem goldenen Löffel und bot sie Morel mit einem langen Blicke.

 

Man konnte nun sehen, daß diese Substanz grünlich war.

 

Das ist es, was Sie von mir verlangten, sagte er, das ist es, was ich Ihnen versprochen habe.

 

Noch lebend, erwiderte der junge Mann, den Löffel aus den Händen Monte Christos nehmend, noch lebend danke ich Ihnen aus dem Grunde meines Herzens.

 

Der Graf nahm einen zweiten Löffel und schöpfte abermals aus der goldenen Kapsel.

 

Was wollen Sie machen, Freund? fragte Morel, seine Hand zurückhaltend.

 

Meiner Treu, Morel, erwiderte er lächelnd, Gott vergebe mir! Ich glaube, ich bin des Lebens so müde wie Sie, und da sich eine Gelegenheit bietet …

 

Halten Sie ein! rief der junge Mann. Oh! Sie, der Sie lieben, den man liebt, der Sie den Glauben und die Hoffnung haben, tun Sie nicht, was ich zu tun im Begriffe bin!

 

Von Ihrer Seite wäre es ein Verbrechen. Gott befohlen, mein edler und hochherziger Freund! Gott befohlen! Ich werde Valentine alles sagen, was Sie für mich getan haben.

 

Und ohne weiter zu zögern, schlürfte Morel die geheimnisvolle Substanz.

 

Dann schwiegen beide. Ali brachte still und aufmerksam den Tabak und die persischen Pfeifen, trug den Kaffee auf und verschwand. Allmählich erbleichten die Lampen in den Händen der Marmorstatuen, und der Geruch der Räucherflammen kam Morel minder durchdringend vor.

 

Ihm gegenübersitzend, schaute Monte Christo Maximilian aus der Tiefe des Schattens an, während Morel nur die Augen des Grafen glänzen sah.

 

Ein ungeheurer Schmerz bemächtigte sich des jungen Mannes; er fühlte die Pfeife seinen Händen entschlüpfen, die Gegenstände verloren unmerklich ihre Farbe, seinen getrübten Augen kam es vor, als öffneten sich die Türen und Vorhänge in der Wand.

 

Freund, sagte er, ich fühle, daß ich sterbe – Dank!

 

Er machte eine Anstrengung, um dem Grafen zum letzten Male die Hand zu reichen; aber die Hand fiel kraftlos an seiner Seite nieder.

 

Dann kam es ihm vor, als lächele Monte Christo, nicht mit seinem seltsamen, furchtbaren Lächeln, bei dem er wiederholt die Geheimnisse dieser tiefen Seele im Halbdunkel zu erkennen geglaubt hatte, sondern mit einem barmherzigen Wohlwollen, wie es Väter ihren kleinen Kindern zeigen, wenn diese unvernünftige Dinge reden.

 

Zu gleicher Zeit wuchs der Graf in seinen Augen; seine fast verdoppelte Gestalt trat auf den roten Tapeten hervor; er hatte seine schwarzen Haare zurückgeworfen und erschien aufrecht und stolz, wie einer von jenen Engeln, mit denen man die Bösen am Tage des jüngsten Gerichtes bedroht.

 

Gelähmt, gebändigt, warf sich Morel in seinen Stuhl zurück; eine sanfte Erstarrung durchdrang alle seine Adern.

 

 

Liegend, entkräftet, fühlte er nichts Lebendes mehr in sich als diesen Traum; es kam ihm vor, als liefe er mit vollen Segeln in den schwankenden Zustand ein, der dem unbekannten Dunkel vorhergeht, das man Tod nennt. Noch einmal versuchte er, dem Grafen seine Hand zu geben; diesmal aber rührte sich seine Hand nicht mehr. Er wollte ein letztes Lebewohl aussprechen; doch seine Zunge wälzte sich schwerfällig im Munde umher, wie ein Stein, der ein Grab verstopfen soll.

 

Seine mit betäubender Schlafsucht belasteten Augen schlossen sich unwillkürlich; hinter seinen Augenlidern aber bewegte sich ein Bild, das er erkannte, trotz der Dunkelheit, mit der er sich umhüllt glaubte. Es war der Graf, der eine Tür öffnete.

 

Sogleich übergoß eine unermeßliche, aus einem anstoßenden mit unendlicher Pracht geschmückten Gemache hervorstrahlende Klarheit den Saal, in dem sich Morel seinem süßen Todeskampfe hingab.

 

Da sah er auf der Schwelle dieses Saales zwischen beiden Gemächern eine Frau von wunderbarer Schönheit stehen, Bleich und sanft lächelnd, schien sie der Engel der Barmherzigkeit, der den Engel der Rache beschwört.

 

Öffnet sich schon der Himmel für mich? dachte der Sterbende; dieser Engel gleicht dem, welchen ich verloren habe.

 

Monte Christo bezeichnete der jungen Frau mit dem Finger das Sofa, auf dem Morel ruhte.

 

Sie ging auf ihn zu, die Hände gefaltet und ein Lächeln auf den Lippen.

 

Valentine! Valentine! rief Morel aus dem Grunde seiner Seele.

 

Aber sein Mund brachte keinen Ton hervor, und er stieß, als wären alle seine Kräfte in dieser inneren Bewegung vereinigt, einen Seufzer aus und schloß die Augen.

 

Valentine stürzte auf ihn zu.

 

Morels Lippen machten abermals eine Bewegung.

 

Er ruft Sie, sprach der Graf, er ruft Sie aus der Tiefe seines Schlummers, er, dem Sie Ihr Schicksal anvertraut hatten, und von dem Sie der Tod trennen wollte! Aber zum Glück war ich da; und ich habe den Tod besiegt! Valentine, fortan sollt ihr euch auf Erden nicht mehr trennen; denn damit ihr einander wiederfändet, stürzte er sich in das Grab. Ohne mich wäret ihr beide gestorben; ich gebe euch einander zurück: möge Gott mir das doppelte Dasein, das ich rettete, in Rechnung stellen!

 

Valentine ergriff die Hand Monte Christos und drückte sie in einem Ergusse unwiderstehlicher Freude an ihre Lippen.

 

Oh! Danken Sie mir sehr, sagte der Graf, oh! Wiederholen Sie mir, ohne des Wiederholens müde zu werden, daß ich Sie glücklich gemacht habe; Sie ahnen nicht, wie sehr ich dieser Gewißheit bedarf.

 

Oh! Ja, ja, ich danke Ihnen von ganzer Seele, sagte Valentine, und wenn Sie an der Aufrichtigkeit meines Dankes zweifeln, so fragen Sie Haydee, die mich seit unserer Abreise von Frankreich bewog, mit Gesprächen über Sie den glücklichen Tag, der heute für mich erglänzt, geduldig zu erwarten.

 

Sie lieben also Haydee? fragte Monte Christo mit einer Rührung, die er vergebens zu verbergen bemüht war.

 

Oh! Von ganzer Seele!

 

Nun wohl, so hören Sie, sagte der Graf, ich habe mir eine Gunst von Ihnen zu erbitten.

 

Von mir? Großer Gott! Bin ich so glücklich? …

 

Ja. Sie haben Haydee Ihre Schwester genannt, möge sie in der Tat Ihre Schwester sein, Valentine; geben Sie ihr alles zurück, was Sie mir schuldig zu sein glauben, beschützen Sie mit Morel die arme Haydee, denn sie wird fortan allein auf der Welt sein …

 

Allein auf der Welt! wiederholte eine Stimme hinter dem Grafen; und warum?

 

Monte Christo wandte sich um.

 

Haydee stand da, bleich und in Eis verwandelt, und schaute den Grafen mit einer Gebärde tödlicher Starrheit an.

 

Weil du morgen frei sein wirst, meine Tochter, antwortete der Graf; weil du in der Welt den dir gebührenden Platz einnehmen wirst; weil mein Verhängnis das deinige nicht verdunkeln soll. Fürstentochter! Ich gebe dir die Reichtümer und den Namen deines Vaters zurück!

 

Haydee erbleichte, öffnete ihre durchsichtigen Hände, wie es die Jungfrau tut, die sich Gott befiehlt, und sprach mit einer von Tränen heiseren Stimme: Also du verläßt mich, Herr?

 

Haydee! Du bist jung, du bist schön; vergiß mich bis auf meinen Namen und sei glücklich!

 

Es ist gut, sprach Haydee, deine Befehle sollen vollzogen werden, mein Herr, ich werde dich bis auf deinen Namen vergessen und glücklich sein. Und sie machte einen Schritt rückwärts, um sich zu entfernen.

 

Oh, mein Gott! rief Valentine, während sie den erstarrten Kopf Morels auf ihre Schulter hob, sehen Sie nicht, wie bleich sie ist? Begreifen Sie nicht, was sie leidet?

 

Haydee entgegnete mit einem herzzerreißenden Ausdrucke: Warum soll er mich begreifen? Er ist mein Herr, und ich bin seine Sklavin; er hat das Recht, nichts zu sehen.

 

Der Graf bebte bei den Tönen dieser Stimme, die selbst die geheimsten Fibern seines Herzens erweckte; seine Augen begegneten denen des jungen Mädchens und konnten ihren Glanz nicht ertragen.

 

Mein Gott! Mein Gott! rief Monte Christo, was ich ahnen durfte, wäre also wahr, Haydee, du wärest glücklich, wenn ich dich nicht verlassen würde?

 

Ich bin jung, antwortete sie mit sanftem Tone; ich liebe das Leben, das du mir stets so süß gemacht hast, und würde es beklagen, wenn ich sterben müßte.

 

Damit willst du mir sagen, wenn ich dich verließe, Haydee …

 

So würde ich sterben, Herr, ja!

 

Du liebst mich also?

 

Oh! Valentine, er fragt, ob ich ihn liebe! Valentine, sage ihm doch, ob du Maximilian liebst!

 

Der Graf fühlte, wie seine Brust sich erweiterte und sein Herz sich ausdehnte; er öffnete seine Arme, und Haydee fiel ihm, einen Schrei ausstoßend, um den Hals.

 

Oh! Ja, ich liebe dich! sprach sie, ich liebe dich, wie man seinen Vater, seinen Bruder, seinen Gatten liebt, ich liebe dich, wie man sein Leben, seinen Gott liebt, denn du bist für mich das Schönste, das Beste und das Größte der geschaffenen Wesen.

 

Also geschehe, wie du willst, mein geliebter Engel, sagte der Graf. Gott, der mich gegen meine Feinde angetrieben und mich zu ihrem Sieger gemacht hat, Gott will nicht diese Reue an das Ende meines Sieges setzen, das sehe ich nun. Ich wollte mich bestrafen; Gott will mir verzeihen. Liebe mich also, Haydee! Wer weiß? Deine Liebe wird mich vielleicht vergessen lassen, was ich vergessen muß.

 

Aber was sprichst du denn da, Herr? fragte das junge Mädchen.

 

Ich sage, daß ein Wort von dir, Haydee, mich mehr erleichtert hat, als zwanzig Jahre meiner lahmen Weisheit. Ich habe nur dich aus dieser Welt; durch dich kann ich leiden, durch dich kann ich glücklich sein.

 

Hörst du, Valentine? rief Haydee, er sagt, durch mich könne er leiden, durch mich, die ich mein Leben für ihn geben würde!

 

Der Graf sammelte sich einen Augenblick und sprach: Habe ich die Wahrheit erschaut? Oh, mein Gott, gleichviel, Belohnung oder Strafe, ich nehme diese Bestimmung an. Komm, Haydee, komm …

 

Seinen Arm um den Hals des Mädchens schlingend, drückte er Valentine die Hand und verschwand.

 

Es verging ungefähr eine Stunde, während deren Valentine, stöhnend, ohne Stimme und mit starren Augen bei Morel verharrte. Allmählich fühlte sie sein Herz schlagen, ein unmerklicher Atem öffnete seine Lippen, und dieses leichte, die Rückkehr des Lebens verkündende Beben durchlief den ganzen Leib des jungen Mannes.

 

Endlich öffneten sich seine Augen, aber starr und wie im Irrwahn; dann kehrte das Gesicht zurück, und mit dem Gesicht das Gefühl, mit dem Gefühl der Schmerz.

 

Oh! rief er im Tone der Verzweiflung, ich lebe noch, der Graf hat mich getäuscht! Und er streckte die Hand nach dem Tische aus und griff nach einem Messer.

 

Freund, sagte Valentine mit ihrem wunderbaren Lächeln, erwache und schaue mich an!

 

Morel stieß einen gewaltigen Schrei aus und fiel mit irrem Geiste, voll Zweifel, wie von einer himmlischen Erscheinung geblendet, auf seine Knie nieder …

 

Am andern Morgen, bei den ersten Strahlen des Tages, gingen Morel und Valentine Arm in Arm am Gestade hin. Valentine erzählte Morel, wie Monte Christo in ihrem Zimmer erschienen sei, wie er ihr alles entschleiert habe, wie er sie das Verbrechen mit dem Finger habe berühren lassen, und sie endlich auf eine wunderbare Weise, indem er die Leute in dem Glauben ließ, sie sei wirklich gestorben, vom Tode errettete.

 

Sie hatten die Tür der Grotte offen gefunden und waren hinausgetreten; der Himmel ließ in seinem Morgenazur die letzten Gestirne der Nacht erglänzen.

 

Da erblickte Morel in dem Halbschatten einer Gruppe von Felsen einen Menschen, der auf ein Zeichen wartete, um herbeizukommen; es war Jacopo, der Kapitän der Jacht.

 

Mit einer Gebärde rief Valentine ihn zu sich, und Maximilian fragte ihn: Ihr habt uns etwas zu sagen?

 

Ich habe Ihnen einen Brief vom Grafen zu übergeben. Vom Grafen! murmelten gleichzeitig die jungen Leute.

 

Ja, lesen Sie.

 

Morel öffnete den Brief und las:

 

Mein lieber Maximilian!

 

Eine Feluke liegt für Sie vor Anker. Jacopo wird Sie nach Livorno fahren, wo Herr Noirtier seine Enkelin erwartet, die er segnen will, ehe sie Ihnen zum Altare folgt. Alles, was sich in dieser Grotte findet, mein Freund, mein Haus in den Champs-Elysées und mein kleines Schloß in Treport sind Hochzeitsgeschenke von Edmond Dantes für den Sohn seines Patrons Morel. Fräulein von Villefort wird die Güte haben, die Hälfte davon zu nehmen, denn ich bitte sie, den Armen von Paris das ganze Vermögen zu schenken, das ihr von ihrem Vater, der wahnsinnig geworden, und von ihrem Bruder, der im vorigen September mit ihrer Stiefmutter verschieden ist, zukommt.

 

Sagen Sie dem Engel, der über Ihrem Leben wachen wird, Morel, er möge zuweilen für einen Menschen beten, der sich wie Satan einen Augenblick für Gottes gleichen gehalten, aber mit aller Demut eines Christen erkannt hat, daß in den Händen Gottes allein die oberste Macht und die unbegrenzte Weisheit liegen. Diese Gebete werden vielleicht die Gewissensbisse mildern, die er im Grunde seines Herzens mit sich trägt.

 

Was Sie betrifft, Morel, hören Sie das ganze Geheimnis meines Benehmens gegen Sie. Es gibt weder Glück noch Unglück auf dieser Welt, es gibt nur eine Vergleichung eines Zustandes mit einem anderen und mehr nicht. Der allein, der das äußerste Unglück erfahren hat, ist geeignet, die höchste Glückseligkeit zu empfinden. Man muß die Nähe des Todes empfunden haben, Maximilian, um zu wissen, wie schön das Leben ist.

 

Lebt also und seid glücklich, geliebte Kinder meines Herzens, und vergeßt nie: bis zu dem Tage, wo es Gott gefallen wird, den Menschen die Zukunft zu enthüllen, besteht die ganze menschliche Weisheit in den zwei Worten:

 

Warten und Hoffen!

 

Euer Freund

 

Edmond Dantes,

Graf von Monte Christo.

 

Während Maximilian diesen Brief las, der Valentine von dem Wahnsinn ihres Vaters und dem Tode ihres Bruders in Kenntnis setzte, erbleichte sie; ein schmerzlicher Seufzer entschlüpfte ihrer Brust, und stille, aber darum nicht minder brennende Zähren rollten an ihren Wangen herab. Ihr Glück war teuer erkauft.

 

Morel schaute unruhig umher und sprach: In der Tat, der Graf übertreibt seine Großmut, Valentine würde sich mit meinem bescheidenen Vermögen begnügt haben. Wo ist der Graf, mein Freund? Führt mich zu ihm!

 

Jacopo streckte die Hand nach dem Horizont aus. Die Augen der jungen Leute folgten der vom Seemann angegebenen Richtung, und auf einer dunkelblauen Linie, die am Horizont den Himmel vom Meere trennte, erblickten sie ein kleines weißes Segel.

 

Abgereist! rief Morel; abgereist! Gott befohlen, mein Freund! Fahre wohl, mein Vater!

 

Abgereist! rief Valentine: Gott befohlen, meine Freundin! Fahre wohl, meine Schwester! Wer weiß, ob wir sie je wiedersehen werden! sagte Morel, eine Träne trocknend.

 

Mein Freund! versetzte Valentine, hat uns der Graf nicht gesagt, die ganze menschliche Weisheit bestehe in den zwei Worten: