Erwachen.

 

Erwachen.

 

Als Franz wieder zu sich kam, schien seine Umgebung den Traum fortzusetzen; er glaubte, in einem Grabe zu sein, in das kaum ein Sonnenstrahl wie ein Blick des Mitleids drang; er streckte die Hand aus und fühlte Stein, er setzte sich auf und fand, daß er in seinem Burnus auf getrocknetem Heidekraut gelegen hatte. Jede Vision war verschwunden, und die Statuen hatten, als wären sie nur während seines Traumes aus ihren Gräbern hervorgegangen, bei seinem Erwachen die Flucht ergriffen. Er machte einige Schritte nach dem Punkt zu, woher das Licht kam; auf die ganze Aufregung des Traumes folgten die Ruhe und die Wirklichkeit. Er sah sich in einer Grotte, schritt auf die Öffnung zu und erblickte durch die gewölbte Tür einen blauen Himmel und ein Azurmeer. Luft und Wasser erglänzten in den Strahlen der Morgensonne, auf dem Ufer saßen plaudernd und lachend die Matrosen, zehn Schritte in der See schaukelte sich anmutig die Barke an ihrem Anker.

 

Da kostete er eine Zeitlang den frischen, gelinden Wind, der seine Stirn umspielte; er horchte auf das geschwächte Geräusch der Welle, die am Strand erstarb und auf den Felsen eine Spitze von silberweißem Schaum zurückließ; er überließ sich ganz und ohne Rückhalt dem göttlichen Zauber, der in den Dingen der Natur liegt, besonders wenn man aus einem phantastischen Traume erwacht. Dann brachte ihm die stille, ungetrübte, großartige Umgebung allmählich die Unwahrscheinlichkeit eines Traumes zum Bewußtsein, und die Erinnerungen fingen an, in sein Gedächtnis wiederzukehren. Er erinnerte sich seiner Ankunft auf der Insel, seiner Vorstellung bei einem Anführer von Schmugglern, eines unterirdischen Palastes voll Pracht und Herrlichkeit, eines vortrefflichen Abendbrotes und eines Löffels voll Haschisch. Nur kam es ihm der Wirklichkeit des lichten Tages gegenüber vor, als sei dies alles schon vor einem Jahre gewesen, so lebendig war der Traum in seinem Geiste, so gewaltig hatte er sich seinem Innern eingeprägt. Von Zeit zu Zeit ließ auch seine Einbildungskraft einen von den Schatten, deren Blicke und Küsse seine Nacht durchleuchtet hatten, mitten unter den Matrosen erscheinen, oder über einen Felsen hinschreiten, oder auf der Barke sich wiegen. Im übrigen war sein Kopf völlig frei, sein Körper ganz ausgeruht; keine Schwerfälligkeit belastete das Gehirn, sondern im Gegenteil ein gewisses Wohlbehagen verlieh eine größere Fähigkeit als je, Luft und Licht einzusaugen. Er näherte sich daher heiter seinen Matrosen. Sobald sie ihn erblickten, standen sie auf, und der Patron kam ihm entgegen.

 

Herr Simbad, sagte er zu ihm, hat uns mit Empfehlungen für Eure Exzellenz beauftragt; wir sollen sein Bedauern ausdrücken, daß er nicht habe Abschied nehmen können; doch er hoffe, Sie werden ihn entschuldigen, wenn Sie erfahren, daß ihn eine sehr dringende Angelegenheit nach Malaga rufe.

 

Ah! mein lieber Gaetano, sagte Franz, dies alles ist also Wirklichkeit? Es hat mich jemand auf der Insel empfangen, mir königliche Gastfreundschaft gewährt, und ist während meines Schlafes abgereist!

 

Es ist so sehr Wahrheit, daß Sie dort seine kleine Jacht mit vollen Segeln hinfahren sehen können.

 

Franz zog sein Fernglas aus der Tasche, hielt es vor sein Auge und richtete es nach dem bezeichneten Punkte. Gaetano täuschte sich nicht. Auf dem Hinterteile des Schiffes stand der geheimnisvolle Fremde, nach der Insel gekehrt und ebenfalls ein Fernglas in der Hand haltend. Er war ganz so gekleidet, wie er sich am Abend vorher vor seinem Gaste gezeigt hatte, und schwenkte zum Zeichen des Abschieds ein Tuch in der Luft. Franz zog auch sein Taschentuch, ließ es flattern und erwiderte den Gruß. Nach einer Sekunde erschien eine leichte Rauchwolke auf dem Hinterteil des Schiffes, machte sich leicht vom Verdeck los und stieg langsam zum Himmel empor; dann traf ein schwacher Knall Franzens Ohr. Hören Sie? rief Gaetano, er nimmt von Ihnen Abschied. Der junge Mann ergriff seine Büchse und schoß sie in die Lust.

 

Was befiehlt nun Eure Exzellenz? fragte Gaetano.

 

Zündet mir vor allem eine Fackel an.

 

Ah! ja, ich begreife, um den Eingang in die Zaubergemächer zu suchen. Viel Vergnügen dabei, Exzellenz; die Fackel will ich Ihnen geben. Auch mich hat der Gedanke erfaßt, der Sie jetzt beschäftigt, drei- oder viermal habe ich gesucht, aber am Ende gab ich jede weitere Nachforschung auf. Giovanni, fügte er hinzu, zünde eine Fackel an und bringe sie Seiner Exzellenz! Giovanni gehorchte. Franz nahm die Fackel und trat mit Gaetano in den unterirdischen Raum.

 

Er erkannte den Platz, wo er erwacht war, an dem noch ganz zerdrückten Lager von Heidekraut; doch wenn er auch mit der Fackel die ganze äußere Oberfläche der Grotte ableuchtete, er sah nichts und erkannte nur an Spuren von Rauchschwärze, daß bereits andere vor ihm vergeblich in gleicher Weise gesucht hatten. Er ließ indessen keinen Fuß dieser undurchdringlichen Granitmauer ungeprüft. Er sah keine Spalte, in die er nicht die Klinge seines Jagdmessers stieß. Er bemerkte keinen hervorspringenden Punkt, auf den er nicht drückte, in der Hoffnung, er würde nachgeben; aber alles war umsonst, und nachdem er zwei Stunden vergeblich aufgewendet hatte, leistete er Verzicht. Gaetano triumphierte.

 

Franz hielt nichts mehr auf Monte Christo zurück; er hatte jede Hoffnung verloren, das Geheimnis der Grotte zu entdecken, beeilte sich zu frühstücken, und eine halbe Stunde nachher befand er sich an Bord seiner Barke. Er warf einen letzten Blick auf die Jacht, die im Begriff war, im Golf von Porto-Veechio zu verschwinden, und gab nun das Signal zur Abfahrt. In der Sekunde, wo die Barke sich in Bewegung setzte, verschwand die Jacht; mit ihr erlosch die letzte Wirklichkeit der vorhergehenden Nacht: Abendessen, Simbad, Haschisch und Statuen, alles fing an, sich für Franz im gleichen Traume zu vermengen.

 

Die Barke segelte den Tag und die ganze Nacht, und am Morgen bei Sonnenaufgang war die Insel Monte Christo ebenfalls verschwunden. Sobald Franz die Erde berührte, vergaß er, wenigstens für den Augenblick, die erlebten Ereignisse, um seine Angelegenheiten in Florenz abzumachen. Dann reiste er ab, seinen Gefährten in Rom aufzusuchen, wo bereits die ersten Karnevalsfestlichkeiten begonnen hatten.

 

Franz mußte sich durch die bereits in gehobener Feststimmung die Straßen Roms passierende Menge – es war der Sonnabend vor Beginn des Festes – drängen und kam endlich zu Pastrinis berühmtem Hotel zur Stadt London, wo er mit seinem ihn erwartenden Freunde Albert von Morcerf zusammentraf.

 

Das Haus Morel.

 

Das Haus Morel.

 

Wer ein paar Jahre früher Marseille verlassen hätte und zu der Zeit, in der Dantes seine Vaterstadt wiedersah, zurückgekehrt wäre, hätte die Verhältnisse des Hauses Morel sehr verändert gefunden.

 

Statt des Behagens und Glückes, das von einem im Gedeihen begriffenen Hause ausgeht, wäre ihm auf den ersten Blick eine gewisse Trauer und Stille aufgefallen. In den Büros, die früher von zahlreichen Kommis wimmelten, waren nur noch zwei zurückgeblieben. Der eine war ein junger Mann, namens Emanuel Raymond, der die Tochter des Herrn Morel liebte, der andere der alte einäugige Cocles, der den Posten eines Kassendieners bekleidete. In der Stellung des letzteren war eine sonderbare Veränderung eingetreten; er war zugleich zum Range eines Kassierers avanciert und zum Range eines Dienstboten heruntergerückt. Es war aber immer der nämliche Cocles, geduldig, treu und ein Rechner, wie man nicht leicht einen zweiten wiederfinden konnte.

 

Inmitten der allgemeinen Schwermut, die über dem Hause Morel lagerte, war Cocles übrigens der einzige, der unempfindlich geblieben zu sein schien. Diese Gelassenheit entsprang nicht einem Gefühlsmangel, sondern im Gegenteil einer unerschütterlichen Überzeugung. Als die andern Kommis und Angestellten des Hauses die Büros verlassen hatten, hatte Cocles sie gehen sehen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Er hatte seinen letzten Monatsabschluß fertig gemacht und darin eine Differenz von siebzig Centimes zu Gunsten der Kasse entdeckt, die er am gleichen Tage seinem Prinzipal überbrachte. Der Prinzipal nahm sie mit wehmütigem Lächeln, ließ sie in eine beinahe leere Schublade fallen und sagte zum Kassierer: Gut, Cocles, Sie sind die Perle aller Kassierer.

 

Cocles entfernte sich äußerst zufrieden; denn ein Lob von Herrn Morel schmeichelte ihm mehr als ein Geschenk von fünfzig Talern. Aber seit diesem so glücklich durchgeführten Monatsschluß hatte Herr Morel grausame Stunden durchgemacht; um diesen Monatsschluß herbeizuführen, hatte er alle seine Mittel zusammengerafft und sogar einige Juwelen und einen Teil seines Silberzeugs verkauft. Infolge dieser Opfer war diesmal noch alles zur größten Ehre des Hauses Morel vorübergegangen. Die Kasse aber blieb völlig leer. Erschreckt durch umlaufende Gerüchte, zog sich der Kredit mit seiner gewöhnlichen Selbstsucht zurück, und um gegen die 200 000, die in wenigen Wochen zurückzuzahlen waren, aufzukommen, hatte Herr Morel in Wirklichkeit nichts mehr, als die Hoffnung auf die Rückkehr des Pharao, von dessen Abfahrt ein Schiff, das mit ihm die Anker gelichtet, Kunde gegeben hatte. Dieses Schiff, das wie der Pharao von Kalkutta kam, war aber bereits seit vierzehn Tagen im Hafen eingelaufen, während man vom Pharao keine Nachricht hatte.

 

So standen die Dinge, als der Vertreter des Hauses Thomson und French in Rom am Tage, nachdem er den von uns mitgeteilten Besuch bei Herrn von Boville gemacht hatte, sich bei Herrn Morel einfand. Emanuel empfing ihn. Der erschreckte junge Mann, der in jedem neuen Besucher einen Gläubiger vermutete, wollte seinem Herrn den Ärger ersparen und ihn selbst abfertigen. Der Geschäftsreisende erklärte ihm aber, er müsse durchaus mit Herrn Morel persönlich sprechen.

 

Emanuel rief seufzend Cocles und befahl ihm, den Fremden zu Herrn Morel zu führen. Cocles ging voraus, und der Fremde folgte. Auf der Treppe begegneten sie einem hübschen jungen Mädchen, das den Fremden voll Unruhe anschaute. Cocles bemerkte diesen Gesichtsausdruck nicht, der jedoch dem Fremden keineswegs entgangen war.

 

»Herr Morel ist in seinem Kabinett, nicht wahr, Fräulein Julie?« fragte der Kassierer.

 

»Ja, ich glaube wenigstens«, antwortete das Mädchen zögernd, »sehen Sie nach, Cocles, und wenn mein Vater dort ist, melden Sie den Herrn!«

 

»Es wäre unnütz, mich zu melden,« erwiderte der Engländer, »Herr Morel kennt meinen Namen nicht. Dieser brave Mann mag ihm nur sagen, ich sei der erste Kommis der Herren Thomson und French in Rom, mit denen das Haus Ihres Herrn Vaters in Verbindung steht.«

 

Das Mädchen erbleichte und schritt weiter die Treppe hinab, während der Fremde vollends hinaufging. Julie, wie sie der Kassierer genannt hatte, trat in das Büro, wo sich Emanuel aufhielt, und Cocles öffnete mit Hilfe eines Schlüssels eine Tür im zweiten Stock und ließ den Fremden eintreten. Der Fremde fand Herrn Morel erschöpft und bleich an seinem Schreibtische sitzend. Als er den Fremden erblickte, stand er auf und schob einen Stuhl hin; worauf beide Platz nahmen.

 

Vierzehn Jahre hatten eine gewaltige Veränderung bei dem würdigen Handelsherrn hervorgebracht, der, am Anfang dieser Geschichte sechsunddreißig Jahre alt, nun das fünfzigste erreicht hatte. Seine Haare waren gebleicht, seine Stirn von sorgenvollen Runzeln durchzogen; sein einst so fester, bestimmter Blick war unbestimmt, unentschlossen geworden. Der Engländer schaute ihn aufmerksam und scheinbar teilnahmsvoll an.

 

Mein Herr, sagte Morel, dessen Unbehaglichkeit dieses Anschauen zu verdoppeln schien, Sie wünschten mich im Namen des Hauses Thomson und French zu sprechen?

 

Ja, mein Herr. Das Haus Thomson und French soll im Laufe des nächsten Monats in Frankreich 3 bis 400.000 Franken bezahlen, und hat im Vertrauen auf Ihre Zuverlässigkeit alle Papiere angekauft, die es mit Ihrer Unterschrift finden konnte, wobei mir der Auftrag geworden ist, nach Maßgabe des Verfalls die Gelder bei Ihnen zu erheben und sodann zu verwenden.

 

Morel stieß einen schweren Seufzer aus, fuhr mit der Hand über seine schweißbedeckte Stirn und erwiderte: Sie haben also von mir unterzeichnete Tratten?

 

Ja, Herr, für eine beträchtliche Summe.

 

Für welche Summe? fragte Herr Morel mit einer Stimme, der er Sicherheit zu verleihen strebte.

 

Einmal, sagte der Engländer, ein Päckchen aus der Tasche ziehend, einmal habe ich hier eine Abtretung von 200.000 Franken seitens des Herrn von Boville an unser Haus. Erkennen Sie diese Schuld an?

 

Ja, mein Herr, das Geld wurde zu 4½ Prozent vor bald fünf Jahren bei mir angelegt.

 

Und Sie haben den Betrag zurückzuzahlen?

 

Ja, am 15. des nächsten Monats.

 

So ist es; dann habe ich hier 32.500 auf Ende dieses; es sind von Ihnen unterzeichnete Wechsel.

 

Ich erkenne sie an, sagte Herr Morel, dem bei dem Gedanken, daß er zum erstenmal in seinem Leben vielleicht seiner Unterschrift nicht entsprechen könnte, die Schamröte ins Gesicht stieg. Ist das alles?

 

Ich habe noch auf Ende nächsten Monats diese Papiere, die das Haus Pascale und das Haus Wild und Turner in Marseille an uns verkauften, etwa 55000 Franken, im ganzen 287500 Franken.

 

Es läßt sich nicht beschreiben, was der unglückliche Morel während dieser Aufzählung litt.

 

287500 Franken, wiederholte er mechanisch.

 

Ja, sagte der Engländer. Ich kann Ihnen nun nicht verbergen, fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort, daß, so sehr man auch Ihre bis jetzt vorwurfsfreie Redlichkeit schätzt, in Marseille doch das Gerücht geht, Sie seien nicht imstande, Ihren Verpflichtungen nachzukommen.

 

Bei dieser rücksichtslosen Offenheit erbleichte Herr Morel furchtbar.

 

Mein Herr, sagte er, bis jetzt, und es sind mehr als zwanzig Jahre, seitdem ich das Haus aus den Händen meines Vaters übernommen habe, der es selbst fünfunddreißig Jahre führte, bis jetzt ist kein von Morel und Sohn unterzeichnetes Papier an der Kasse präsentiert worden, ohne daß wir Zahlung dafür geleistet hätten.

 

Ja, ich weiß dies; doch sprechen Sie offenherzig, wie ein Ehrenmann zum andern! Werden Sie diese Papiere mit derselben Pünktlichkeit bezahlen?

 

Morel bebte und schaute den Engländer ängstlich an.

 

Auf eine so offenherzig gestellte Frage, antwortete er, muß ich auch offenherzig Antwort geben. Ja, mein Herr, ich bezahle, wenn mein Schiff, wie ich hoffe, glücklich im Hafen einläuft, denn seine Ankunft wird mir den Kredit wiedergeben, den mir schnell aufeinander folgende Unglücksfälle geraubt haben; bliebe aber der Pharao, die letzte Quelle, auf die ich zähle, aus …

 

Die Tränen traten dem armen Reeder in die Augen.

 

Nun? fragte der Engländer, bliebe diese letzte Quelle aus?

 

Es ist grausam zu sagen … doch, bereits an das Unglück gewöhnt, muß ich mich auch an die Schmach gewöhnen … ich glaube, ich wäre dann genötigt, meine Zahlungen einzustellen.

 

Haben Sie keine Freunde, die Sie unter diesen Umständen unterstützen könnten? fragte der Engländer.

 

Herr Morel lächelte traurig und erwiderte: Im Geschäftsleben hat man keine Freunde, wie Sie wissen, sondern nur Korrespondenten.

 

Das ist wahr, murmelte der Engländer. Sie haben also keine Hoffnung mehr?

 

Eine einzige; die letzte.

 

Und wenn diese Hoffnung sich nicht verwirklicht?

 

Bin ich völlig zu Grunde gerichtet.

 

Als ich zu Ihnen kam, lief ein Schiff im Hafen ein.

 

Ich weiß, doch ist es nicht das meine, sondern ein bordolesisches Schiff, die Gironde; es kommt ebenfalls von Indien.

 

Vielleicht bringt es Ihnen vom Pharao Kunde.

 

Soll ich es Ihnen sagen, mein Herr, ich fürchte beinahe ebensosehr, Nachricht von meinem Dreimaster zu erhalten, als in Ungewißheit zu bleiben. Die Ungewißheit ist noch Hoffnung. Dann fügte Herr Morel mit dumpfem Tone bei: Dieses Zögern ist nicht natürlich; der Pharao ist am 5. Februar in Kalkutta abgegangen und ist seit mehr als einem Monat hier fällig.

 

In diesem Augenblicke hörte man Lärm auf der Treppe; verschiedene Personen näherten sich, sogar ein Schmerzensruf ließ sich vernehmen. Morel stand auf, um die Tür zu öffnen, doch es gebrach ihm an Kraft, und er fiel in seinen Stuhl zurück. Während die beiden Männer einander gegenüber saßen, Morel an allen Gliedern zitternd, der Engländer ihn mit einem Ausdrucke tiefen Mitleids anschauend, öffnete sich die Tür, und man sah das Mädchen, in Tränen gebadet, erscheinen. Morel stand zitternd auf und stützte sich, um nicht zu fallen, auf den Arm seines Lehnstuhls.

 

Oh! Vater! sagte das Mädchen, die Hände faltend, verzeihen Sie Ihrem Kinde, daß es Ihnen schlimme Botschaft bringt.

 

Morel wurde furchtbar bleich; Julie warf sich in seine Arme.

 

Oh, Vater! Vater! rief sie, Mut gefaßt!

 

Der Pharao ist also zu Grunde gegangen? fragte Morel mit zusammengeschnürter Stimme.

 

Das Mädchen antwortete nicht, sondern machte nur ein bejahendes Zeichen mit seinem an die Brust des Vaters gelehnten Haupte.

 

Und die Mannschaft? fragte Morel.

 

Gerettet, antwortete das Mädchen, gerettet durch das bordolesische Schiff, das soeben in den Hafen eingelaufen ist.

 

Morel hob seine Hände mit einem Ausdruck voll Ergebenheit und erhabener Dankbarkeit zum Himmel empor und sagte: Ich danke, mein Gott, ich danke; wenigstens schlägst du nur mich allein.

 

So phlegmatisch der Engländer war, so befeuchtete doch eine Träne sein Augenlid.

 

Tretet ein, sagte Herr Morel, denn ich vermute, ihr seid alle vor der Türe.

 

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als Frau Morel schluchzend eintrat; Emanuel folgte ihr; im Vorzimmer sah man die rauhen Gesichter von sieben bis acht halbnackten Matrosen. Beim Anblick dieser Menschen bebte der Engländer; er machte einen Schritt, als wollte er auf sie zugehen, aber er bezwang sich und drückte sich im Gegenteil in den dunkelsten Winkel des Zimmers. Frau Morel setzte sich in den Lehnstuhl und nahm die Hand ihres Gatten, während Julie, an die Brust ihres Vaters gelehnt, stehen blieb.

 

Wie ist es zugegangen? fragte Herr Morel. Tretet näher, Penelon, und erzählt! Wo ist der Kapitän?

 

Was den Kapitän betrifft, Herr Morel, so ist er krank in Palma geblieben; doch wird es wohl nichts weiter sein, und Sie werden ihn in einigen Tagen wohl und gesund ankommen sehen.

 

Gut … nun sprecht, Penelon.

 

Penelon erzählte, wie der Pharao bei Kap Blanc von einem heftigen Sturm überfallen wurde und trotz heldenmütigem Widerstande untergegangen sei, nachdem sich die Mannschaft und der Kapitän in ein Boot gerettet hatten.

 

Als der Alte geendet hatte, sagte Herr Morel: Gut, mein Freund, ihr seid brave Leute, und ich wußte zum voraus, daß bei dem Unglück, das mir begegnet ist, nichts anders schuld war als mein Verhängnis. Es ist der Wille Gottes und nicht der Fehler der Menschen. Nun sagt, wieviel Sold bin ich euch schuldig?

 

Ah! bah … sprechen wir nicht davon, Herr Morel.

 

Im Gegenteil sprechen wir davon, erwiderte der Reeder mit traurigem Lächeln. Cocles, bezahlen Sie jedem von diesen braven Leuten zweihundert Franken. Zu andrer Zeit hätte ich gesagt: Geben Sie jedem zweihundert Franken über seinen Lohn, aber die Zeiten sind ungünstig, meine Freunde, und das wenige Geld, das mir übrig bleibt, ist nicht mehr mein Eigentum; entschuldigt mich also und liebt mich darum nicht minder!

 

Penelon zeigte eine gerührte Miene, er wandte sich gegen seine Gefährten um, sprach einige Worte mit ihnen, kam dann zurück und sagte: Was das betriffst, Herr Morel, was das betrifft …

 

Nun?

 

Nun, Herr Morel, die Kameraden meinen, sie hätten für den Augenblick mit fünfzig Franken jeder genug, und sie könnten mit dem Reste warten.

 

Ich danke, meine Freunde, rief Herr Morel, tief erschüttert, ihr seid brave Leute; aber nehmt nur, nehmt, und wenn ihr einen guten Dienst findet, tretet ein, ihr seid frei.

 

Diese letzten Worte brachten eine wunderbare Wirkung auf die Matrosen hervor; sie schauten einander mit bestürzter Miene an. Penelon, dem es an Atem fehlte, hätte beinahe seinen Kautabak verschluckt; zum Glück fuhr er zu rechter Zeit mit der Hand an seine Zunge.

 

Wie, Herr Morel! sagte er mit zusammengepreßter Stimme, wie? Sie schicken uns weg, Sie sind also unzufrieden mit uns?

 

Nein, Kinder, erwiderte der Reeder, nein, ich bin nicht unzufrieden mit euch, im Gegenteil; nein, ich schicke euch nicht weg. Aber was wollt ihr, ich habe kein Schiff mehr, und bedarf folglich auch keiner Matrosen.

 

Wie? Sie haben keine Schiffe mehr? rief Penelon; wohl, Sie lassen andere bauen, und wir warten.

 

Ich habe kein Geld mehr, um Schiffe bauen zu lassen, Penelon, entgegnete Herr Morel traurig lächelnd; ich kann also euer Anerbieten nicht annehmen, so freundlich es auch ist.

 

Wohl, wenn Sie kein Geld haben, so dürfen Sie uns nicht bezahlen, wir machen es, wie es der arme Pharao gemacht hat, wir laufen aufs Trockene.

 

Genug, genug, meine Freunde, erwiderte Herr Morel, dem vor Rührung beinahe die Sprache versagte. Wir werden uns in besseren Zeiten wiederfinden. Emanuel, begleiten Sie diese braven Leute, und seien Sie dafür besorgt, daß meine Wünsche erfüllt werden.

 

Also wenigstens auf Wiedersehen, nicht wahr, Herr Morel? versetzte Penelon.

 

Ja, meine Freunde, ich hoffe wenigstens; geht!

 

Auf ein Zeichen seiner Hand marschierte Cocles voran. Die Matrosen folgten dem Kassierer, und Emanuel folgte den Matrosen.

 

Nun laßt mich einen Augenblick allein, sagte der Reeder zu seiner Frau und zu seiner Tochter, ich habe mit diesem Herrn zu sprechen.

 

Und seine Augen richteten sich auf den Vertreter des Hauses Thomson und French, der während des beschriebenen Auftritts unbeweglich in seiner Ecke stehen geblieben war. Die Frauen schauten den Fremden an, den sie völlig vergessen hatten, und entfernten sich sodann; nur die Tochter warf im Weggehen dem Engländer einen inständig bittenden Blick zu, den er mit einem Lächeln erwiderte. Die Männer blieben wieder allein.

 

»Nun«, sagte Morel, »Sie haben alles gesehen und gehört, und ich habe Ihnen nichts mehr mitzuteilen«.

 

»Ich habe gesehen, mein Herr«, erwiderte der Engländer,» daß Ihnen ein neues Unglück, so unverdient als die anderen, widerfahren ist, und das hat mich in meinem Wunsche, Ihnen angenehm zu sein, bestärkt«.

 

»Oh! mein Herr …«

 

»Ich bin einer von Ihren Hauptgläubigern, nicht wahr«?

 

»Sie sind wenigstens der, welcher die Wechsel kürzester Sicht von mir in Händen hat. Eine Fristverlängerung könnte mir die Ehre und folglich das Leben retten«.

 

»Wieviel verlangen Sie«?

 

»Zwei Monate«, sagte Morel zögernd.

 

»Gut«, sagte der Fremde, »ich gebe Ihnen drei«.

 

»Doch glauben Sie, daß das Haus Thomson und French … «?

 

»Seien Sie unbesorgt, ich nehme alles auf mich … Wir haben heute den 5. Juni. – Schreiben Sie also alle diese Papiere auf den 5. September um, und an diesem Tage um elf Uhr morgens werde ich mich bei Ihnen einfinden«.

 

»Ich werde Sie erwarten, mein Herr, und Sie sollen Bezahlung erhalten, oder ich bin tot«.

 

Diese letzten Worte sprach Morel so leise, daß sie der Fremde nicht hören konnte. Die Papiere wurden umgeschrieben, die alten zerrissen, und der arme Reeder hatte wenigstens drei Monate vor sich, um seine letzten Mittel aufzubieten. Der Engländer empfing seinen Dank mit dem seiner Nation eigentümlichen Phlegma und nahm von Morel Abschied, der ihn unter Segnungen bis an die Tür zurückführte. Auf der Treppe traf er Julie; das Mädchen tat, als ob es hinabginge, aber es wartete auf ihn.

 

»Oh! Herr …« rief Julie die Hände faltend.

 

»Mein Fräulein«, sagte der Fremde, »Sie werden eines Tages einen Brief, unterzeichnet … Simbad der Seefahrer …, erhalten. Tun Sie Punkt für Punkt, was der Brief sagt, so seltsam Ihnen auch die Aufforderung erscheinen mag.«

 

»Gut, mein Herr«, erwiderte Julie.

 

»Versprechen Sie es mir?«

 

»Ich schwöre es Ihnen.«

 

»Leben Sie wohl, mein Fräulein; bleiben Sie stets ein gutes, frommes Mädchen, und ich hoffe, Gott wird Sie dadurch belohnen, daß er Ihnen Herrn Emanuel zum Gatten gibt.«

 

Julie stieß einen leichten Schrei aus, wurde rot wie eine Kirsche und hielt sich am Geländer, um nicht zu fallen. Der Engländer entfernte sich mit einer Verneigung. Im Hofe begegnete er Penelon; dieser hatte eine Rolle von hundert Franken in der Hand und schien sich nicht entschließen zu können, das Geld fortzutragen.

 

»Kommt, Freund«, sagte der Engländer zu ihm, »ich habe mit Euch zu sprechen«.

 

Der fünfte September.

 

Der fünfte September.

 

Die von dem Mandatar des Hauses Thomson und French in dem Augenblick, wo es Morel am wenigsten erwartete, bewilligte Frist glaubte der arme Reeder als eine von jenen Wendungen des Geschickes betrachten zu dürfen, die dem Menschen ankündigen, das Schicksal sei endlich müde geworden, ihn zu verfolgen. An demselben Tage erzählte er, was ihm begegnet war, seiner Tochter, seiner Frau und Emanuel, und es kehrte ein wenig Hoffnung und Ruhe in die Familie zurück. Leider aber hatte es Morel nicht allein mit dem Hanse Thomson und French zu tun, das sich so nachsichtig gegen ihn zeigte.

 

Zum Unglück hatten, sei es aus Haß, sei es aus Verblendung, nicht alle Korrespondenten dieselbe Nachsicht. Die von Morel unterzeichneten Tratten wurden daher mit ängstlicher Strenge an der Kasse präsentiert, aber infolge der von dem Engländer bewilligten Frist ohne Verzug bezahlt von Cocles, der unverändert in seiner prophetischen Ruhe verharrte.

 

Der ganze Marseiller Handelsstand war der Meinung, nach den Unglücksfällen, die Herrn Morel hintereinander getroffen, könnte dieser sich nicht halten. Man staunte daher nicht wenig, als man sah, daß sein Monatsschluß sich mit der gewöhnlichen Pünktlichkeit abwickelte. Doch das Vertrauen kehrte darum nicht zurück, und man verschob einstimmig auf das Ende des nächsten Monats die Insolvenzerklärung des unglücklichen Reeders.

 

Der ganze Monat verging in unerhörten Anstrengungen Morels, alle Mittel aufzubieten. Früher wurden seine Wechsel, auf welches Datum sie auch ausgestellt sein mochten, mit Vertrauen angenommen und sogar gesucht. Jetzt fand er alle Banken geschlossen, als er Papiere mit dreimonatiger Frist unterbringen wollte. Zum Glück hatte er jetzt einige Zahlungen zu erwarten, auf die er rechnen konnte, und die erwarteten Gelder gingen auch wirklich ein; Morel fand sich dadurch abermals in den Stand gesetzt, seinen Verbindlichkeiten zu entsprechen, als das Ende des Juli erschien.

 

Den Vertreter des Hauses Thomson und French hatte man übrigens nicht mehr in Marseille gesehen. Er war verschwunden, und da er in Marseille nur mit dem Maire, dem Gefängnisinspektor und Herrn Morel verkehrt hatte, so ließ seine Anwesenheit keine andere Spur zurück, als die verschiedenen Erinnerungen, die diese drei Personen von ihm bewahrten. Die Matrosen des Pharao hatten, wie es schien, irgend ein Unterkommen gefunden, denn sie waren ebenfalls verschwunden.

 

Von der Unpäßlichkeit, die ihn in Palma zurückgehalten hatte, wieder genesen, kehrte der Kapitän des Pharao, Herr Gaumard, bald nach Marseille zurück. Er zögerte, sich bei Morel zu zeigen, aber dieser erfuhr seine Ankunft und suchte ihn selbst auf. Der würdige Reeder hatte schon durch Penelons Erzählung von dem mutigen Benehmen des Kapitäns während des unglücklichen Ereignisses erfahren, und er suchte nun seinerseits den Seemann zu trösten. Er brachte ihm den Betrag seines Soldes, den der Kapitän sonst nicht zu erheben gewagt hätte.

 

Der August verlief in beständig erneuerten Versuchen Morels, seinen alten Kredit wiederzuheben und sich einen neuen zu eröffnen, ohne daß ihm dies gelang. Als aber der 31. kam, öffnete sich gegen alle Voraussicht die Kasse wie gewöhnlich. Cocles erschien hinter dem Gitter, ruhig, wie ein Gerechter, untersuchte mit gewohnter Gewissenhaftigkeit das Papier, das man ihm präsentierte, und bezahlte die Tratten von der ersten bis zur letzten mit gleicher Pünktlichkeit. Man begriff dies durchaus nicht und verschob mit der den Unglückspropheten eigentümlichen Hartnäckigkeit den Bankrott auf das Ende des September.

 

Morel war einige Tage in Paris gewesen und hatte versucht, bei seinem ehemaligen Rechnungsführer Danglars ein Anlehen aufzunehmen, doch auch dieses letzte Mittel, zu dem er sich nur schwer entschlossen hatte, schlug fehl. Schwer gedemütigt durch eine abschlägige Antwort, kam er zurück.

 

Er stieß bei seiner Ankunft keine Klage aus, brachte keine Anschuldigung vor, umarmte nur weinend seine Frau und seine Tochter, reichte Emanuel freundschaftlich die Hand, ließ Cocles kommen und schloß sich mit diesem in sein Kabinett im zweiten Stock ein.

 

»Diesmal sind wir verloren«, sagten die Frauen zu Emanuel, und in einer kurzen Beratung, die sie unter sich pflogen, wurde beschlossen, daß Julie an ihren Bruder, der in Nimes in Garnison lag, schreiben und ihn auffordern sollte, sogleich zu kommen. Die armen Frauen fühlten, daß sie aller ihrer Kräfte bedurften, um den Schlag zu ertragen, der sie bedrohte. Überdies übte Maximilian Morel, obgleich erst zweiundzwanzig Jahre alt, doch bereits einen großen Einfluß auf seinen Vater aus.

 

Er war ein energischer, rechtschaffner junger Mann, der die militärische Laufbahn erwählt hatte. Vorzüglich vorbereitet, trat er in die polytechnische Schule ein, die er, zum Unterleutnant im 53sten Linien-Regiment ernannt, wieder verließ. Im Regiment galt Maximilian Morel als strenger, pflichtgetreuer Soldat; man nannte ihn nur den Stoiker.

 

Die beiden Frauen täuschten sich nicht über das Mißliche ihrer Lage, denn einen Augenblick nachher, nachdem Herr Morel mit Cocles in sein Kabinett gegangen war, sah Julie den letzteren bleich, zitternd und mit völlig verstörtem Gesichte wieder herauskommen. Sie wollte ihn fragen, als er an ihr vorüberging, doch der brave Mann lief mit einer bei ihm ungewöhnlichen Eile unaufhaltsam die Treppe hinab und rief ihr nur, die Hand zum Himmel erhebend, zu: Oh, mein Fräulein! Welch ein furchtbares Unglück, wer hätte das je gedacht!

 

Eine Minute nachher sah ihn Julie, mit ein paar dicken Handlungsbüchern, einem Portefeuille und einem Sacke Geld wieder hinaufgehen. Morel prüfte die Bücher, öffnete das Portefeuille und zählte das Geld. Alle baren Mittel beliefen sich auf 7 bis 8000 Franken, die Einnahmen bis zum 5. auf 4 bis 5000, was also im höchsten Fall einen Aktivstand von 17 000 Franken bildete, womit einer Tratte von 287 500 Franken entsprochen werden sollte. Eine solche Abschlagszahlung anzubieten, war nicht möglich.

 

Als jedoch Herr Morel zum Mittagsessen kam, schien er ziemlich ruhig. Diese Ruhe erschreckte die Frauen mehr, als es die tiefste Niedergeschlagenheit hätte tun können. Cocles schien ganz stumpfsinnig; er hielt sich einen Teil des Tages, auf einem Steine sitzend und mit bloßem Kopfe bei dreißig Grad Wärme, im Hofe auf. Emanuel suchte die Frauen zu trösten; aber es mangelte ihm an Beredsamkeit. Der junge Mann war zu sehr in die Angelegenheiten des Hauses eingeweiht, um nicht zu fühlen, daß eine große Katastrophe bevorstand. Es kam die Nacht; die Frauen wachten, in der Hoffnung, Morel würde, von seinem Kabinett herabkommend, bei ihnen eintreten, doch sie hörten, wie er, ohne Zweifel aus Furcht, man könnte ihn rufen, mit leisen Tritten an ihrer Tür vorüberschlich. Sie horchten; er kehrte in sein Zimmer zurück und schloß die Tür von innen.

 

Frau Morel hieß ihre Tochter schlafen gehen; eine halbe Stunde nach dem sich Julie entfernt hatte, stand sie auf, zog ihre Schuhe aus und schlüpfte in den Gang, um zu sehen, was ihr Gatte machte. Im Gang erblickte sie einen Schatten, der sich zurückzog. Sie erkannte Julie, die, selbst unruhig, ihrer Mutter zuvorgekommen war. Julie ging auf ihre Mutter zu und sagte: Er schreibt.

 

Frau Morel neigte sich zum Schlüsselloch herab. Morel schrieb wirklich; aber was ihre Tochter nicht bemerkt hatte, das bemerkte Frau Morel; ihr Gatte schrieb auf gestempeltes Papier. Es kam ihr der furchtbare Gedanke, er mache sein Testament; sie bebte an allen Gliedern und hatte dennoch die Kraft, nichts zu sagen.

 

Am andern Tage erschien Herr Morel ganz ruhig, er hielt sich wie gewöhnlich in seinem Büro auf, kam wie gewöhnlich zum Frühstück herab; nur ließ er nach dem Mittagsessen seine Tochter neben sich sitzen, nahm den Kopf des Kindes in seinen Arm und hielt ihn lange an seine Brust. Am Abend sagte Julie zu ihrer Mutter, sie habe, obgleich ihr Vater scheinbar ruhig gewesen, doch sein Herz heftig schlagen gefühlt. Die zwei nächsten Tage gingen ungefähr auf dieselbe Weise hin.

 

Die ganze Nacht vom 4. auf den 5. horchte Frau Morel, ihr Ohr fester an das Täfelwerk haltend; bis 3 Uhr morgens hörte sie ihren Gatten in großer Aufregung im Zimmer umhergehen; erst nach drei Uhr warf er sich auf sein Bett. Die Frauen brachten die Nacht beisammen zu. Seit dem vorhergehenden Abend erwarteten sie Maximilian. Um acht Uhr trat Herr Morel in ihr Zimmer; er war ruhig, aber die Aufregung der Nacht zeigte sich auf seinem bleichen, verstörten Gesichte. Die Frauen wagten es nicht, ihn zu fragen, ob er gut geschlafen habe. Morel war freundlicher gegen seine Frau und väterlicher gegen seine Tochter, als er es je gewesen; er konnte nicht satt werden, das arme Kind anzuschauen und zu küssen.

 

Julie wollte ihrem Vater folgen, als er sich entfernte; er stieß sie jedoch sanft zurück und sagte: »Bleib bei deiner Mutter.

 

Julie drang in ihn, doch er sprach: Ich will es.

 

Sie blieb stumm und unbeweglich auf ihrem Platze stehen.

 

Eine Minute nachher öffnete sich die Tür, und sie fühlte zwei Arme, die sie umschlangen, und einen Mund, der sich auf ihre Stirn preßte. Sie schlug die Augen auf und stieß einen Freudenschrei aus.

 

Maximilian! Mein Bruder! rief sie.

 

Bei diesem Rufe lief Frau Morel herbei und warf sich in die Arme ihres Sohnes.

 

Mutter! sprach der junge Mann und schaute dabei abwechselnd Frau Morel und ihre Tochter an, was gibt es denn? Was geht denn vor? Euer Brief hat mich erschreckt, und ich eile herbei!

 

Julie, sagte Frau Morel, ihrem Sohne ein Zeichen machend, benachrichtige deinen Vater, daß Maximilian angekommen ist.

 

Julie eilte hinaus, aber auf der ersten Stufe der Treppe begegnete sie einem Manne, der einen Brief in der Hand hielt.

 

Sind Sie nicht Fräulein Julie Morel? fragte dieser Mann mit stark italienischer Betonung.

 

Ja, Herr, stammelte Julie; doch was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht.

 

Lesen Sie diesen Brief, antwortete der Mann und reichte ihr das Billett. Julie zögerte.

 

Es handelt sich um die Wohlfahrt Ihres Vaters.

 

Das Mädchen entriß das Billett seinen Händen, öffnete es rasch und las:

 

»Begeben Sie sich sogleich in die Allées de Meillan; treten Sie in das Haus Nr. 15; verlangen Sie von dem Hausverwalter den Schüssel des Zimmers im fünften Stocke; gehen Sie in dieses Zimmer; nehmen Sie von der Ecke des Kamins eine rote seidene Börse, und bringen Sie diese Börse Ihrem Vater. Es ist von großem Belang, daß er sie vor elf Uhr erhält. Sie haben mir blinden Gehorsam versprochen; ich erinnere Sie an dieses Versprechen.

 

Simbad der Seefahrer.«

 

Julie stieß einen Freudenschrei aus, schlug die Augen auf und suchte den Mann, der ihr das Billett zugestellt hatte, um ihn zu befragen, aber er war verschwunden. Sie schaute dann wieder auf das Billett, um es zum zweiten Male zu lesen, und bemerkte, daß es eine Nachschrift hatte. Julie las:

 

»Es ist wichtig, daß Sie diese Sendung in Person und allein erfüllen; kämen Sie in Begleitung, oder erschiene eine andere Person an Ihrer Stelle, so würde der Hausverwalter antworten, er wisse nicht, was man wolle.«

 

Diese Nachricht mäßigte Julies Freude bedeutend. Hatte sie nichts zu befürchten? War es nicht eine Falle, die man ihr stellte? Julie zögerte; sie beschloß, um Rat zu fragen, nahm aber seltsamerweise ihre Zuflucht weder zu ihrer Mutter noch zu ihrem Bruder, sondern zu Emanuel. Sie ging hinab, erzählte ihm, was ihr vor drei Monaten begegnet sei, und welches Versprechen sie dem Engländer gegeben habe, und zeigte den Brief.

 

Sie müssen den Gang machen, Fräulein, sagte Emanuel.

 

Ich muß ihn machen?

 

Ja, ich begleite Sie.

 

Haben Sie denn nicht gelesen, daß ich allein sein soll?

 

Sie werden auch allein sein; ich erwarte Sie an der Ecke der Rue du Musée, und wenn Sie so lange ausbleiben, daß es mir Unruhe bereitet, so suche ich Sie auf, und ich stehe Ihnen dafür, wehe denen, von denen Sie mir sagen werden, Sie haben sich über sie zu beklagen! Also, Emanuel, versetzte zögernd das junge Mädchen, es ist Ihre Ansicht, daß ich dieser Aufforderung Folge leisten soll?

 

Ja. Sagte Ihnen der Bote nicht, es handle sich um die Wohlfahrt Ihres Vaters?

 

Aber, Emanuel, welche Gefahr läuft er denn? fragte Julie.

 

Emanuel zögerte einen Augenblick, doch das Verlangen, sie mit einem einzigen Schlage und ohne Verzug zu bestimmen, gewann die Oberhand, und er sagte: Hören Sie! Nicht wahr, um elf Uhr soll Ihr Vater gegen 300 000 Franken bezahlen? Nun, er hat keine 15 000 in der Kasse. Wenn also Ihr Vater bis heute vor elf Uhr nicht jemand gefunden hat, der ihm zu Hilfe kommt, so ist er um Mittag genötigt, sich zahlungsunfähig zu erklären.

 

Ah! kommen Sie, rief Julie und zog den jungen Mann mit sich fort.

 

Mittlerweile hatte Frau Morel ihrem Sohne alles auseinandergesetzt. Der junge Mann wußte wohl, daß wiederholte Unglücksfälle dem Wohlstand des Hauses schwere Wunden geschlagen hatten, hatte aber keine Vorstellung von dem vollen Umfang der Gefahr. Er blieb wie vernichtet; dann eilte er plötzlich aus dem Zimmer und stieg rasch die Treppe hinauf, denn er glaubte, sein Vater sei in seinem Kabinett, aber er klopfte vergebens. Als er vor der Tür des Kabinetts stand, hörte er die untere Wohnung sich öffnen; er wandte sich um und sah seinen Vater. Dieser stieß einen Schrei der Überraschung aus, als er Maximilian erblickte: er blieb unbeweglich auf der Stelle und preßte mit dem linken Arme einen Gegenstand, den er unter seinem Oberrock verborgen hielt. Maximilian stieg rasch die Treppe hinab und warf sich seinem Vater um den Hals; aber plötzlich wich er zurück und ließ nur seine linke Hand auf Morels Brust ruhen.

 

Vater, sagte er, bleich wie der Tod, warum haben Sie ein paar Pistolen unter Ihrem Oberrock?

 

Oh! das befürchtete ich, versetzte Morel. Vater! Vater! Im Namen des Himmels, rief der junge Mann, wozu diese Waffen?

 

Maximilian, antwortete Morel, seinen Sohn starr anschauend, du bist ein Mann, du bist ein Ehrenmann; komm, und ich werde es dir sagen!

 

Und mit sicherem Schritte stieg Morel in sein Kabinett hinauf, während ihm sein Sohn wankend folgte. Morel öffnete die Tür und schloß sie wieder hinter seinem Sohne; dann durchschritt er das Vorzimmer, näherte sich dem Büro, legte seine Pistolen auf die Ecke des Tisches und bezeichnete Maximilian mit der Fingerspitze ein offenes Buch. In diesem Buche war der Stand der Dinge genau eingetragen. Morel hatte in einer halben Stunde 287 500 Franken zu bezahlen und besaß im ganzen nur 15 227 Franken. Der junge Mann las und war einen Augenblick völlig niedergeschmettert. Morel sprach kein Wort; was hätte er zu dem unerbittlichen Urteile der Zahlen noch hinzufügen können?

 

Und Sie haben alles getan, um diesem Unglück zu begegnen, mein Vater? fragte der junge Mann. – Ja.

 

Sie haben alle Ihre Quellen erschöpft? – Alle.

 

Und in einer halben Stunde ist unser Name entehrt? fügte der Sohn mit düsterem Tone hinzu.

 

Blut wäscht die Schande ab, sprach Morel.

 

Sie haben recht, Vater, ich verstehe Sie. Dann seine Hand nach den Pistolen ausstreckend, fuhr Maximilian fort: Eine für Sie, eine für mich.

 

Morel hielt seine Hand zurück.

 

Und deine Mutter … deine Schwester … wer wird sie ernähren?

 

Ein Schauder durchlief den Leib des jungen Mannes.

 

Vater, sagte er, bedenken Sie, daß Sie mich leben heißen?

 

Ja, ich sage es dir, denn es ist deine Pflicht; du hast einen starken, ruhigen Geist, Maximilian … Maximilian, du bist kein gewöhnlicher Mensch; ich befehle dir nichts, ich schreibe dir nichts vor, ich sage dir nur: Untersuche die Lage der Dinge, als ob du ein Fremder wärst, und urteile dann selbst!

 

Der junge Mann dachte einen Augenblick nach, dann trat ein Ausdruck erhabener Resignation auf seinem Antlitz hervor; nur zuckte er mit einer langsamen, traurigen Bewegung die Schulter.

 

Wohl, sagte er, Morel die Hand reichend, sterben Sie in Frieden, ich werde leben, mein Vater.

 

Morel warf sich seinem Sohne an die Brust, Maximilian zog ihn an sich, und die zwei edlen Herzen schlugen einen Augenblick fest aneinander gepreßt.

 

Du weißt, daß es nicht meine Schuld ist, sagte Morel.

 

Maximilian lächelte.

 

Ich weiß, mein Vater, daß Sie der ehrlichste Mann sind den ich kennen gelernt habe.

 

Wohl, alles ist abgemacht; kehre nun zu deiner Mutter und zu deiner Schwester zurück!

 

Vater, sagte der junge Mann, die Knie beugend, segnen Sie mich!

 

Morel nahm den Kopf seines Sohnes zwischen seine Hände und drückte wiederholt seine Lippen darauf.

 

Ja, ja, rief er, ich segne dich in meinem Namen und im Namen dreier Generationen vorwurfsfreier Menschen. Höre, was sie dir durch meine Stimme sagen: Das Gebäude, das das Unglück zerstört hat, kann die Vorsehung wieder aufbauen. Wenn sie mich einen solchen Tod sterben sehen, werden die Unerbittlichsten Mitleid mit mir haben; dir wird man vielleicht die Zeit gönnen, die man mir verweigert hat. Dann strebe vor allem danach, daß das Wort ehrlos nicht ausgesprochen werde; schreite zum Werke, arbeite, junger Mann, kämpfe heiß und mutig! Lebet, du, deine Mutter und deine Schwester, vom Notwendigsten, damit Tag für Tag das Gut derer, denen ich schuldig bin, wachse und unter deinen Händen Früchte trage! Bedenke, daß es ein schöner Tag, ein großer Tag, ein feierlicher Tag sein wird, der Tag, wo du in diesem Zimmer sagen wirst: Mein Vater ist gestorben, weil er nicht tun konnte, was ich heute tue, doch er ist ruhig und getrost gestorben, weil er wußte, ich würde es tun!

 

Oh! Vater, Vater, wenn Sie dennoch leben könnten!

 

Wenn ich lebe, ist alles verloren, wenn ich lebe, verwandelt sich die Teilnahme in Zweifel, das Mitleid in Erbitterung; wenn ich lebe, bin ich nur ein Mensch, der sein Wort gebrochen hat, der seiner Verbindlichkeit nicht nachgekommen ist; ich bin nichts anderes, als ein Bankerottierer. Sterbe ich dagegen, bedenke wohl, Maximilian, so ist mein Leichnam der eines unglücklichen, aber ehrlichen Mannes. Bleibe ich am Leben, so werden meine besten Freunde mein Haus meiden. Bin ich tot, so folgt mir ganz Marseille weinend zu meiner letzten Ruhestätte. Lebe ich, so mußt du dich meines Namens schämen; sterbe ich, so erhebe stolz das Haupt und sprich: Ich bin der Sohn des Mannes, der sich getötet hat, weil er zum erstenmal im Leben sein Wort nicht halten konnte.

 

Der junge Mann stieß einen Seufzer aus, doch er schien sich zu fügen. Zum zweiten Male erfüllte die Überzeugung nicht sein Herz, aber seinen Geist.

 

Und nun laß mich allein, sagte Morel, und suche die Frauen zu entfernen!

 

Wollen Sie nicht meine Schwester noch einmal sehen? fragte Maximilian, indem er eine letzte, schwache Hoffnung auf diese Zusammenkunft setzte.

 

Herr Morel schüttelte den Kopf und erwiderte: Ich habe sie heute morgen gesehen und ihr Lebewohl gesagt.

 

Haben Sie mir keinen besonderen Auftrag zu erteilen, mein Vater? fragte Maximilian mit bebender Stimme.

 

Allerdings, mein Sohn, einen heiligen Auftrag.

 

Sprechen Sie, Vater!

 

Das Haus Thomson und French ist das einzige, das aus Menschlichkeit, vielleicht aus Selbstsucht – es kommt mir nicht zu, in den Herzen der Menschen zu lesen, – Mitleid mit mir gehabt hat. Sein Vertreter, der in zehn Minuten erscheinen wird, um den Betrag von 287 500 Franken in Empfang zu nehmen, hat mir drei Monate nicht bewilligt, sondern angeboten. – Dieses Haus werde zuerst befriedigt, mein Sohn, dieser Mann sei dir heilig.

 

Ja, Vater.

 

Und nun noch einmal Lebewohl, mein Sohn; geh, geh, ich muß allein sein. Du findest mein Testament in dem Schreibpult in meinem Schlafzimmer.

 

Höre, Maximilian, sprach der Vater, als er sah, daß der Sohn immer noch zauderte, denke dir, ich sei Soldat, wie du, ich habe den Befehl erhalten, eine Schanze zu nehmen, und du wissest, ich müsse beim Erstürmen fallen, würdest du mir nicht sagen: Gehen Sie, Vater, denn Sie entehren sich, wenn Sie bleiben, und besser der Tod, als die Schande!

 

Ja, ja, sagte der junge Mann, Morel krampfhaft in seine Arme schließend; ja, gehen Sie!

 

Und er stürzte aus dem Kabinett.

 

Morel blieb ein paar Sekunden, die Augen starr auf die Tür heftend, stehen; dann läutete er. Alsbald erschien Cocles, der seinem früheren Selbst nicht mehr glich; die drei letzten Tage hatten ihn gelähmt. Der Gedanke: das Hans Morel ist im Begriff, seine Zahlungen einzustellen, beugte ihn mehr nieder, als es zwanzig Jahre getan hätten.

 

Mein guter Cocles, sagte Morel mit einem Tone, dessen Ausdruck sich nicht beschreiben läßt, du wirst im Vorzimmer bleiben. Wenn der Herr, der bereits vor drei Monaten hier gewesen ist, der Vertreter von Thomson und French, kommt, meldest du ihn. Cocles antwortete nicht; er machte ein Zeichen mit dem Kopfe, setzte sich in das Vorzimmer und wartete. Morel fiel in seinen Lehnstuhl zurück; seine Augen wandten sich nach der Pendeluhr; es blieben ihm nur noch sieben Minuten; der Zeiger rückte mit unglaublicher Geschwindigkeit vor; es schien ihm, er sehe ihn fortschreiten. Was nun in dem Geiste dieses Mannes vorging, der, noch jung, sich von allem, was er auf der Welt liebte, trennen und das Leben verlassen wollte, vermag keine Feder zu schildern; man hätte, um einen Begriff zu bekommen, seine mit Schweiß bedeckte und dennoch ruhige Stirn, seine von Tränen befeuchteten und dennoch zum Himmel aufgeschlagenen Augen sehen müssen.

 

Der Zeiger rückte immer weiter vor, die Pistolen waren geladen; er streckte die Hand aus, ergriff eine und murmelte den Namen seiner Tochter; dann legte er die tödliche Waffe wieder nieder, nahm eine Feder und schrieb ein paar Worte. Es kam ihm vor, als hätte er seinem geliebten Kinde nicht genug Lebewohl gesagt; dann wandte er sich wieder nach der Pendeluhr … er zählte nicht mehr nach Minuten, sondern nach Sekunden. Er faßte abermals die Waffe, den Mund halb geöffnet und die Augen starr auf den Zeiger geheftet; und er bebte bei dem Geräusch, das er selbst, den Hahn spannend, machte. Der Schweiß lief ihm immer kälter über die Stirn, immer tödlicher schnürte ihm die Angst das Herz zusammen; er hörte, wie die Tür der Treppe auf ihren Angeln knarrte und sich sodann die seines Kabinetts öffnete; die Pendeluhr war auf dem Punkte, die elfte Stunde zu schlagen.

 

Morel wandte sich nicht um, er erwartete von Cocles die Worte zu hören: Der Vertreter des Hauses Thomson und French! und näherte die Waffe seinem Munde. Plötzlich hörte er einen Schrei … es war die Stimme seiner Tochter.

 

Er kehrte sich um und erblickte Julie; die Pistole entglitt seinen Händen.

 

»Vater!« rief das Mädchen atemlos und beinahe sterbend vor Freunde, »gerettet! Sie sind gerettet!«

 

Und sie warf sich, mit der Hand eine rote seidene Börse emporhaltend, in seine Arme.

 

»Gerettet, mein Kind?« sagte Morel, »was willst du damit sagen?«

 

»Ja, gerettet! Sehen Sie, sehen Sie!«

 

 

Morel ergriff die Börse und bebte, denn eine dunkle Erinnerung sagte ihm, daß sie einst ihm gehört habe. Auf der einen Seite fand er die Tratte von 287 00O Franken; die Tratte war quittiert. Auf der andern gewahrte er einen Diamanten von der Größe einer Haselnuß, mit den auf ein Stück Pergament geschriebenen drei Worten: Mitgift für Julie.

 

Morel fuhr mit der Hand über seine Stirn; er glaubte zu träumen. In diesem Augenblick schlug die Pendeluhr die elfte Stunde. Der Klang durchbebte ihn, als ob jeder Schlag des stählernen Hammers an seinem eigenen Herzen widertönte.

 

Sprich, Kind, sagte Morel, erkläre dich! Wo hast du diese Börse gefunden?

 

In einem Hause der Allées de Meillan, Nr. 15, auf der Ecke des Kamins eines armseligen Zimmers im fünften Stocke.

 

Diese Börse gehört aber nicht dir! rief Morel.

 

Julie reichte dem Vater den Brief, den sie am Morgen empfangen hatte.

 

Und du bist allein in jenem Hause gewesen? sagte er, nachdem er gelesen hatte.

 

Emanuel begleitete mich, Vater; er sollte an der Ecke der Rue du Musée auf mich warten, war aber seltsamerweise bei meiner Rückkehr nicht dort.

 

Herr Morel! … rief man auf der Treppe, Herr Morel!

 

Zu gleicher Zeit trat Emanuel, das Gesicht vor Freude und Aufregung ganz verstört, ein.

 

Der Pharao! rief er, der Pharao!

 

Was, der Pharao? Sind Sie verrückt, Emanuel? Sie wissen, daß er zu Grunde gegangen ist!

 

Der Pharao! Herr, man signalisiert den Pharao! Der Pharao läuft in den Hafen ein!

 

Morel fiel in seinen Stuhl zurück; die Kräfte verließen ihn; sein Verstand weigerte sich, diese Folge unglaublicher, unerhörter, fabelhafter Ereignisse zu fassen. Aber Maximilian trat ebenfalls ein und rief: Vater, was sagten Sie denn, der Pharao sei zu Grunde gegangen? Die Wache hat ihn signalisiert, und er läuft, wie ich höre, in den Hafen ein.

 

Meine Freunde, sagte Morel, wenn dies der Fall wäre, so müßte man an ein Wunder des Himmels glauben. Unmöglich! Unmöglich!

 

Was aber wirklich war und nicht minder unglaublich erschien, das war die Börse, die er in der Hand hielt, das war der quittierte Wechsel, das war der prachtvolle Diamant.

 

Oh, Herr, sagte Cocles, was soll das bedeuten, der Pharao?

 

Auf, Kinder, sagte Morel sich erhebend, wir wollen sehen, und Gott sei uns barmherzig, wenn es eine falsche Nachricht ist.

 

Sie gingen hinab; mitten auf der Treppe wartete Frau Morel; die arme Frau hatte es nicht gewagt, hinaufzugehen. In einem Augenblick befanden sie sich auf der Cannebière. Es war eine Menge von Menschen versammelt. Alles Volk gab Raum für Morel.

 

Der Pharao! Der Pharao! riefen alle Stimmen.

 

Wunderbar, unerhört! Ein Schiff, an dessen Vorderteil in weißen Buchstaben die Worte: Der Pharao, Morel und Sohn in Marseille, geschrieben waren, und das ganz die Gestalt des Pharao hatte und wie dieser mit Indigo und Cochenille beladen war, ging in der Tat vor dem Saint-Jean-Turme vor Anker. Aus dem Verdecke gab der Kapitän Gaumard seine Befehle, und Meister Penelon machte Herrn Morel Zeichen. Es ließ sich nicht mehr zweifeln, die Sinne bezeugten, und zehntausend Menschen bestätigten es. Als Morel und sein Sohn auf dem Hafendamm unter dem Beifallsgeschrei der ganzen diesem Schauspiel beiwohnenden Stadt sich umarmten, murmelte ein Mann, dessen Kopf halb von einem schwarzen Barte bedeckt war, indem er, hinter einem Schilderhäuschen verborgen, voll Rührung diese Szene betrachtete, die Worte: Sei glücklich, edles Herz; sei gesegnet für alles Gute, was du getan hast und noch tun wirst, und meine Dankbarkeit bleibe im Dunkeln, wie deine Wohltat. Und mit einem Lächeln, in dem sich Freude und Glück ausprägten, verließ er den Ort, an dem er sich verborgen gehalten hatte, stieg, ohne daß jemand darauf achtete, eine von den kleinen Treppen hinab, die zum Landen benutzt werden, und rief dreimal: Jacopo!

 

Eine Schaluppe kam auf ihn zu, nahm ihn an Bord und führte ihn zu einer reich ausgerüsteten Jacht, auf deren Verdeck er mit der Gelenkigkeit eines Seemanns sprang; von hier aus betrachtete er noch einmal Morel, der vor Freude weinend herzliche Händedrücke an alle Welt austeilte und mit suchendem Blicke dem unsichtbaren Wohltäter dankte, den er im Himmel zu vermuten schien.

 

Und nun, sagte der Unbekannte, fahret wohl, Güte, Menschlichkeit, Dankbarkeit … fahret wohl alle Gefühle, die das Herz schwellen lassen! … Ich habe die Stelle der Vorsehung eingenommen, um die Guten zu belohnen … jetzt trete mir der rächende Gott seinen Platz ab, um die Bösen zu bestrafen!

 

Nach diesen Worten machte er ein Signal, und die Jacht ging, als hätte sie nur auf dieses Signal gewartet, sogleich in See.

 

Simbad der Seefahrer

 

Simbad der Seefahrer

 

Am Anfang des Jahres 1838 befanden sich in Florenz zwei junge Leute, die der elegantesten Gesellschaft von Paris angehörten. Der eine war der Vicomte Albert von Morcerf, der andere der Baron Franz d’Epinay. Sie hatten verabredet, den Karneval dieses Jahres in Rom zuzubringen, wo Franz, der seit beinahe vier Jahren in Italien lebte, Albert als Cicerone dienen sollte. Albert wollte die Zeit, die er noch vor sich hatte, benutzen und reiste nach Neapel ab. Franz blieb in Florenz. Als er einige Zeit das Leben, das die Stadt der Medici bietet, genossen hatte, kam es ihm in den Kopf, da er Korsika, Bonapartes Wiege, bereits besucht hatte, auch Elba, diese berühmte napoleonische Station, zu sehen.

 

Eines Abends machte er daher eine Barchetta von dem eisernen Ringe los, an dem sie im Hafen von Livorno befestigt war, legte sich, in seinen Mantel gehüllt, darin nieder und sagte zu den Schiffern nur die Worte: Nach Elba! Die Barke verließ den Hafen, wie der Meervogel sein Nest verläßt, und landete am andern Tage in Porto Ferrajo. Nachdem Franz allen Spuren gefolgt war, die der Tritt des korsischen Riesen auf der Insel zurückgelassen hatte, schiffte er sich in Marciana wieder ein. Zwei Stunden später stieg er in Pianosa, wo seiner, wie man ihm versicherte, zahllose Schwärme von Rothühnern warteten, abermals ans Land. Die Jagd war schlecht, Franz schoß nur ein paar magere Hühner und kehrte übler Laune in seine Barke zurück.

 

Oh! wenn Euere Exzellenz wollte, sagte der Patron zu ihm, könnte sie eine schöne Jagd machen.

 

Wo denn?

 

Sehen Sie jene Insel? sagte der Patron, den Finger nach Süden ausstreckend und auf eine kegelförmige Masse deutend, die in den schönsten Farben mitten aus dem Meere aufstieg.

 

Was für eine Insel ist denn das? fragte Franz.

 

Die Insel Monte Christo, antwortete der Livornese.

 

Was für Wildpret werde ich dort finden?

 

Tausende von wilden Ziegen.

 

Die davon leben, daß sie an den Steinen lecken? versetzte Franz mit ungläubigem Lächeln.

 

Nein, davon, daß sie Heidekraut, Myrten und Brombeerstauden abweiden.

 

Aber wo soll ich schlafen?

 

Auf der Erde, in den Grotten, oder an Bord in Ihrem Mantel. Auch können wir, wenn es Eure Exzellenz so haben will, unmittelbar nach der Jagd wieder absegeln? sie weiß, daß wir bei Nacht wie bei Tag fahren können und neben den Segeln auch Ruder haben.

 

Da Franz noch Zeit genug blieb, um wieder zu seinem Gefährten zurückzukehren, nahm er den Vorschlag an und rief dem Patron zu: Also vorwärts nach Monte Christo!

 

Der Kapitän gab die geeigneten Befehle; man legte sich gegen die Insel und näherte sich ihr rasch. Je näher man kam, desto mehr trat das Eiland wachsend aus dem Schoße des Meeres hervor, und durch die klare Atmosphäre der letzten Strahlen des Tages unterschied man die Masse der aufeinander gehäuften Felsen, in deren Zwischenräumen das rötliche Heidekraut und die grünenden Bäume sichtbar wurden. Sie waren noch ungefähr fünfzehn Meilen von Monte Christo entfernt, als die Sonne hinter Korsika, dessen Berge rechts zum Vorschein kamen, unterzugehen anfing. Eine halbe Stunde nachher herrschte völlige Finsternis. Zum Glück befanden sich die Schiffer in einer Gegend des toskanischen Archipels, die sie aufs genaueste kannten, denn inmitten der Dunkelheit, welche die Barke umhüllte, wäre Franz sonst etwas beunruhigt gewesen.

 

Es war ungefähr eine Stunde seit Sonnenuntergang vorüber, als Franz auf eine Viertelmeile links eine dunkle Masse zu erblicken glaubte; doch es ließ sich durchaus nicht unterscheiden, was es war, und er schwieg, weil er dachte, es seien vielleicht nur schwebende Wolken, und die Matrosen würden ihn auslachen. Nun wurde aber ein Heller Schimmer sichtbar, und Franz rief:

 

Was bedeutet jenes Licht?

 

Still! sagte der Patron, es ist ein Feuer.

 

Ich glaubte doch, die Insel sei unbewohnt?

 

Sie hat keine feste Bevölkerung, doch dient sie manchmal als Aufenthaltsort für Schmuggler und für Seeräuber, fuhr Gaetano fort; deshalb habe ich Befehl gegeben, daran vorbeizufahren, denn das Feuer ist, wie Sie sehen, nunmehr hinter uns.

 

Mir scheint, dieses Feuer muß uns eher Sicherheit gewähren, als Unruhe verursachen; Leute, die gesehen zu werden befürchten, zünden kein Feuer an.

 

Oh! das will nichts sagen, entgegnete Gaetano; wenn Ihnen die Lage der Insel genau bekannt wäre, würden Sie wissen, daß dieses Feuer weder von Korsika noch von Pianosa, sondern nur von der offenen See aus bemerkt werden kann.

 

Ihr fürchtet also, das Feuer kündige uns schlimme Gesellschaft an?

 

Darüber muß man sich Gewißheit verschaffen, erwiderte Gaetano, die Augen beständig darauf heftend.

 

Hierauf beratschlagte Gaetano mit seinen Gefährten, und nach einer kurzen Unterredung wendete man stillschweigend das Schiff; nun war das Feuer nicht mehr sichtbar. Dann gab der Lotse dem kleinen Fahrzeug, das bald nur noch fünfzig Schritte von der Insel entfernt war, eine neue Richtung. Gaetano zog das Segel ein, und die Barke blieb stehen.

 

Dies alles war mit der größten Stille vor sich gegangen, und man hatte seit Änderung der Richtung keine Silbe an Bord gesprochen. Gaetano, der die Expedition vorgeschlagen, hatte auch die ganze Verantwortlichkeit übernommen. Die drei andern Matrosen wandten kein Auge von ihm, während sie die Ruder richteten und sich offenbar bereit hielten, die Flucht zu ergreifen, was bei der großen Dunkelheit nicht schwer sein konnte. Franz untersuchte seine Gewehre, zwei Doppelflinten und eine Büchse, mit seiner gewöhnlichen Kaltblütigkeit; dann wartete er, auf alles gefaßt.

 

Inzwischen zog der Patron seine Kleider bis auf die Hosen aus und legte einen Finger auf die Lippen, um den andern Stillschweigen anzuempfehlen, ließ sich in das Meer hinabgleiten und schwamm mit solcher Vorsicht nach dem Ufer, daß es nicht möglich war, auch nur das geringste Geräusch zu hören. Man konnte seine Spur nur an der leuchtenden Furche verfolgen, die seine Bewegungen verursachten. Bald verschwand auch diese Furche; Gaetano hatte offenbar das Land erreicht.

 

Eine halbe Stunde lang blieben alle auf dem Schiffe unbeweglich; nach Verlauf dieser Zeit sah man dieselbe leuchtende Furche wiedererscheinen und sich der Barke nähern. Mit einigen Stößen war Gaetano wieder bei der Barke.

 

Nun? fragten gleichzeitig Franz und die drei Matrosen.

 

Es sind drei spanische Schmuggler, die zwei korsische Banditen bei sich haben.

 

Gut, so viel sind wir auch gerade; unsere Kräfte sind, falls die Herren schlimme Absichten haben sollten, gleich. Also, auf nach Monte Christo!

 

Ja, Exzellenz; doch Sie werden mir ohne Zweifel erlauben, daß ich einige Vorsichtsmaßregeln nehme?

 

Freilich, mein Teurer. Seid weise wie Nestor und klug wie Ulysses! Ich erlaube es Euch nicht nur, sondern ich ermahne Euch dazu.

 

Still also! sagte Gaetano. Alle schwiegen.

 

Für einen Mann wie Franz, der alles vom richtigen Gesichtspunkte aus betrachtete, ermangelte die Lage der Dinge, ohne gefährlich zu sein, doch nicht eines gewissen Ernstes. Er befand sich in der tiefsten Finsternis mitten auf dem Meere mit Schiffern, die ihn nicht kannten und keinen Grund hatten, ihm ergeben zu sein, die wußten, daß in seinem Gürtel tausend Franken waren, und wenigstens zehnmal, wenn nicht mit Lüsternheit, doch mit Neugierde seine wirklich schönen Gewehre untersucht hatten. Sodann sollte er ohne anderes Geleit, als diese Menschen, auf einer Insel landen, auf der Schmuggler und Banditen ihr Wesen trieben. Zwischen diese doppelte, vielleicht eingebildete, vielleicht wirkliche Gefahr gestellt, ließ er seine Leute nicht aus den Augen, seine Flinte nicht aus der Hand.

 

Die Matrosen hatten indessen ihre Segel wieder gehißt, und die Barke fuhr das Ufer entlang; bald erblickte man das Feuer deutlicher und fünf daran sitzende Personen. Der Wiederschein der Glut erstreckte sich auf etwa hundert Schritt ins Meer hinaus. Gaetano fuhr längs dem Feuer hin, wobei er jedoch die Barke in dem nicht beleuchteten Teile hielt; als er sich endlich gerade vor dem Feuer befand, richtete er das Vorderteil seines Fahrzeugs auf dieses zu und fuhr mutig in den beleuchteten Kreis, wobei er ein Fischerlied anstimmte, dessen Refrain seine Gefährten im Chor wiederholten.

 

Bei dem ersten Worte des Liedes erhoben sich die um das Feuer sitzenden Männer und näherten sich dem Strand, ihre Augen auf die Barke heftend, deren Besatzung zu erkennen und deren Absicht zu erraten sie sich sichtbar anstrengten. Sobald sie sich genügend überzeugt hatten, setzten sie sich, einen Mann ausgenommen, der am Ufer stehen blieb, wieder um das Feuer, an dem man eine junge Ziege briet.

 

Als das Schiff bis auf zwanzig Schritte zum Land gelangt war, rief der Mann am Ufer in sardinischer Mundart: Wer da?

 

Franz spannte kaltblütig seine Doppelflinte.

 

Gaetano wechselte mit dem Manne am Ufer ein paar Worte, von denen der Reisende nichts verstand, die aber offenbar seine Person betrafen.

 

Will Eure Exzellenz sich nennen oder ihr Inkognito beibehalten? fragte der Patron.

 

Mein Name muß diesen Leuten völlig unbekannt bleiben, antwortete Franz; sagt ihnen ganz einfach, ich sei ein Franzose, der zu seinem Vergnügen reise.

 

Als Gaetano diese Worte wiederholt hatte, gab die Schildwache einem von den am Feuer sitzenden Männern einen Befehl; dieser stand sogleich auf und verschwand in den Felsen. Es herrschte tiefe Stille. Jeder schien mit seinen Angelegenheiten beschäftigt, Franz mit dem Ausschiffen, die Matrosen mit ihren Segeln, die Schmuggler mit ihrer jungen Ziege. Doch bei aller scheinbaren Sorglosigkeit beobachtete man sich gegenseitig scharf.

 

Der Mann, der sich durch die Felsen entfernt hatte, erschien plötzlich wieder von der entgegengesetzten Seite; er machte der Schildwache mit dem Kopfe ein Zeichen, diese wandte sich um und sprach nur die Worte: s'accommodi.

 

Das italienische s'accommodi läßt sich nicht übersetzen. Es bedeutet zugleich: Kommt, tretet ein, seid willkommen. tut, als ob Ihr zu Hause wäret, Ihr habt zu gebieten. Die Matrosen ließen sich das nicht zweimal sagen; mit vier Ruderschlägen berührte die Barke das Land. Gaetano sprang ans Ufer, wechselte leise noch ein paar Worte mit der Schildwache, seine Gefährten stiegen ebenfalls nacheinander aus, und die Reihe kam an Franz.

 

Er trug selbst eine von seinen Flinten, Gaetano hatte die andere, einer von den Matrosen hielt seine Büchse. Seine Tracht hielt die Mitte zwischen der eines Künstlers und der eines Stutzers, was den Leuten auf der Insel keinen Verdacht und folglich keine Unruhe einflößte. Man band die Barke am Ufer an und ging einige Schritte vorwärts, um ein bequemes Biwak zu suchen; aber ohne Zweifel paßte die Stelle, wo man suchte, dem Schmuggler, der Wache stand, nicht, denn er rief Gaetano zu: Nein, nicht dort!

 

Gaetano stammelte eine Entschuldigung und schritt ohne Widerspruch in entgegengesetzter Richtung fort, während zwei Matrosen, um den Weg zu beleuchten, Fackeln am Feuer anzündeten. Man machte ungefähr dreißig Schritte und hielt auf einem freien Platze an, der ganz von Felsen umgeben war.

 

Sobald Franz einmal den Fuß auf die Erde gesetzt und die, wenn nicht gerade freundschaftliche, doch wenigstens gleichgültige Stimmung seiner Wirte wahrgenommen hatte, verschwand bei ihm jede Unruhe, und der Geruch der an dem nahen Biwak bratenden Ziege verwandelte seine Unruhe sogar in Appetit.

 

Er erwähnte dies gegen Gaetano, der ihm erwiderte, es gebe nichts Einfacheres, als ein Abendbrot, wenn man, wie sie, in der Barke Brot, Wein, sechs Feldhühner und ein gutes Feuer zum Braten besäße.

 

Überdies, fügte er bei, wenn Eure Exzellenz den Geruch der Ziege so verführerisch findet, so kann ich hingehen und unsern Nachbarn zwei von unsern Vögeln für eine Schnitte von ihrem Vierfüßigen bieten.

 

Tut das, Gaetano, antwortete Franz. Während dieser Zeit hatten die Matrosen Arme voll Heidekraut ausgerissen und Bündel von Myrten und grünen Eichen gemacht, woran sie Feuer legten, was bald einen sehr ansehnlichen Brand gab. Franz erwartete, beständig den Geruch der jungen Ziege einatmend, die Rückkehr des Patrons. Dieser erschien und ging mit sehr unruhiger Miene auf ihn zu.

 

Nun, fragte Franz, was Neues? Man weist unser Anerbieten zurück?

 

Im Gegenteil, erwiderte Gaetano, der Anführer, dem man gesagt hat, Sie seien ein junger französischer Edelmann, lädt Sie zum Abendbrot zu sich ein.

 

Gut! Tiefer Anführer ist ein sehr höflicher Mann, und ich weiß nicht, warum ich seiner Einladung nicht entsprechen sollte, um so mehr, als ich meinen Teil zum Abendbrot mitbringe.

 

Oh, das ist es nicht, denn es findet sich dort genug zum Abendbrot; aber er stellt eine sonderbare Bedingung, unter der er Sie bei sich empfangen will.

 

Bei sich! versetzte der junge Mann; er hat sich also ein Haus bauen lassen?

 

Nein, er besitzt aber darum nichtsdestoweniger ein sehr behagliches Heim, wenigstens wie man mir versichert hat.

 

Ihr kennt also diesen Anführer?

 

Ich habe von ihm sprechen hören.

 

Und wie heißt die Bedingung, die er mir stellt?

 

Sie sollen sich die Augen verbinden lassen und die Binde nicht eher abnehmen, als bis er Sie selbst dazu auffordert.

 

Franz schaute forschend in Gaetanos Augen, um zu erfahren, was hinter diesem Vorschlage verborgen sein könnte.

 

Ah! bei Gott! sagte dieser, auf Franzens Blick antwortend, ich weiß wohl, die Sache verdient Überlegung.

 

Was würdet Ihr an meiner Stelle tun? fragte der junge Mann.

 

Ich, der nichts zu verlieren hat, ginge hin, und wär’s nur aus Neugierde. Es ist also etwas Merkwürdiges bei diesem Anführer zu sehen?

 

Hören Sie, sagte Gaetano, die Stimme dämpfend, ich weiß nicht, ob das, was man sagt, wahr ist. Er schwieg und schaute umher, ob kein Fremder ihn behorchte. Man sagt, dieser Anführer besitze einen unterirdischen Palast, im Vergleich zu dem der Palast Pitti gar nichts sei.

 

Welche Phantasie! rief Franz.

 

Oh, es ist keine Phantasie, es ist Wahrheit. Cama, der Lotse des Ferdinando, ist einmal darin gewesen; er kam voll Verwunderung zurück und sagte, dergleichen Schätze finden sich nur in Feenmärchen.

 

Franz dachte einen Augenblick nach, er begriff, daß ein so reicher Mann gegen ihn, der nur ein paar tausend Franken bei sich hatte, nichts im Schilde führen konnte; und da ihm im Augenblick vor allem an einem vortrefflichen Abendbrot lag, so willigte er ein. Gaetano überbrachte seine Antwort.

 

Franz war indessen, wie gesagt, klug; er wollte soviel als möglich über seinen seltsamen, geheimnisvollen Wirt in Erfahrung bringen, wandte sich deshalb gegen den Matrosen um, der beständig mit dem Ernste eines auf sein Amt stolzen Mannes die Feldhühner gerupft hatte, und fragte ihn, wie diese Leute hätten landen können, da kein Schiff sichtbar sei.

 

Das beunruhigt mich nicht, antwortete der Matrose, ich kenne das Schiff, worauf sie fahren.

 

Ist es ein hübsches Schiff?

 

Ich wünsche Eurer Exzellenz ein ähnliches, um damit die Reise um die Welt zu machen.

 

Wie groß?

 

Etwa hundert Tonnen. Es ist eine Jacht, aber so gebaut, daß sie sich bei jedem Wetter auf der See halten kann.

 

Wo ist sie gebaut worden?

 

Ich weiß es nicht, doch ich glaube in Genua.

 

Und wie kann es ein Anführer von Schmugglern wagen, eine für sein Gewerbe bestimmte Jacht in Genua bauen zu lassen?

 

Ich sagte gar nicht, der Eigentümer dieser Jacht sei ein Schmugglerführer.

 

Nein, aber Gaetano hat es gesagt, meine ich.

 

Gaetano hat das Schiffsvolk von fern gesehen, aber noch mit niemand gesprochen.

 

Doch was ist denn dieser Mensch, wenn er kein Schmuggler ist?

 

Ein reicher Herr, der zu seinem Vergnügen reist.

 

Bei so widersprechenden Aussagen wird diese Person immer geheimnisvoller, dachte Franz. Und wie heißt er?

 

Wenn man fragt, so sagt er, er heiße Simbad der Seefahrer; doch ich zweifle, daß dies sein wahrer Name ist.

 

Und wo wohnt dieser Herr? – Auf dem Meere. – Aus welchem Lande ist er? – Ich weiß es nicht. – Habt Ihr ihn gesehen? – Einige Male. – Was für ein Mann ist es? – Eure Exzellenz wird ihn selbst sehen. – Und wo wird er mich empfangen? – Ohne Zweifel in seinem unterirdischen Palaste.

 

Und wenn Ihr hier anhieltet und die Insel verlassen fandet, trieb Euch die Neugierde nie an, in diesen Zauberpalast zu dringen?

 

Oh! doch wohl, Exzellenz, erwiderte der Matrose, und zwar mehr als einmal, aber unsere Nachforschungen waren stets vergeblich; wir umwühlten die Grotte von allen Seiten, fanden aber nirgends einen Eingang. Übrigens sagt man, die Tür öffne sich nicht mit einem Schlüssel, sondern mittels eines magischen Wortes.

 

Ich bin offenbar in ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht versetzt, murmelte Franz.

 

Seine Exzellenz erwartet Sie, sprach hinter ihm eine Stimme, in welcher er die der Schildwache erkannte.

 

Der Vortretende war von zwei Personen von der Mannschaft der Jacht begleitet. Statt jeder Antwort zog Franz sein Taschentuch und reichte es dem, welcher ihn angeredet hatte. Ohne ein Wort zu sprechen, verband man ihm die Augen mit einer Sorgfalt, aus der man erkannte, wie sehr man eine Indiskretion fürchtete, und ließ ihn sodann schwören, daß er auf keine Weise versuchen würde, seine Binde abzunehmen, bevor man ihn dazu aufforderte.

 

Die beiden Männer nahmen ihn jeder an einem Arm, und er entfernte sich, von ihnen geleitet, die Schildwache voran. Nach etwa 50 Schritten fühlte er an der Veränderung der Atmosphäre, daß man in ein unterirdisches Gewölbe eintrat. Nachdem man noch einige Sekunden gegangen war, hörte er ein Krachen, und es kam ihm vor, als hätte sich die Atmosphäre wieder geändert und würde lau und wohlriechend; endlich fühlte er, haß seine Füße auf einen dicken, weichen Teppich traten; seine Führer verließen ihn. Nach kurzem Stillschweigen sagte eine Stimme in gutem Französisch, obgleich mit fremder Betonung: Ich heiße Sie willkommen; Sie können Ihre Binde abnehmen.

 

Franz kam dieser Aufforderung sofort nach, nahm das Tuch ab und befand sich einem Manne von vierzig Jahren in tunesischer Tracht gegenüber; der Unbekannte trug einen roten Fez mit einer langen Quaste von blauer Seide, eine reich mit Gold gestickte Jacke von schwarzem Tuch, weite, bauschige Beinkleider, goldgestickte Gamaschen von derselben Farbe und gelbe Pantoffeln. Ein prachtvoller Kaschmir umgürtete seine Hüften, und ein kleiner spitziger, gebogener Handschar stak in diesem Gürtel. Obgleich bleich, fast bleifarbig, hatte dieser Mann doch ein interessantes Gesicht; seine Augen waren lebhaft und durchdringend; seine gerade und die Stirnlinie fast fortsetzende Nase deutete den griechischen Typus in seiner ganzen Reinheit an, und seine perlweißen Zähne hoben sich von dem schwarzen Schnurrbart prächtig ab. Nur die Blässe war seltsam; man hätte glauben sollen, er habe lange im Grabe gelegen und könne nun die natürliche Farbe der Lebenden nicht wieder annehmen. Wenn auch nicht hoch gewachsen, war er doch wohlgebaut und hatte, wie die Südländer, kleine Hände und Füße. Am meisten aber erstaunte Franz über die Kostbarkeit der Ausstattung.

 

 

Das ganze Zimmer war mit einem türkischen Stoffe von karmesinroter Farbe austapeziert. In einer Vertiefung stand ein Diwan, über dem man eine Trophäe von arabischen Waffen erblickte, deren Scheiden und Griffe von Edelsteinen funkelten; an der Zimmerdecke hing eine Lampe von venetianischem Glas von reizender Form und Farbe, und die Füße ruhten auf einem türkischen Teppich, in dem sie bis an die Knöchel versanken. Vorhänge waren vor der Tür angebracht, durch die man Franz eingeführt hatte, und ebenso vor einer andern Tür, die nach einem zweiten Gemache ging, das glänzend erleuchtet zu sein schien. Der Wirt überließ Franz eine Zeit lang gänzlich seinem Staunen, prüfte ihn überdies auch seinerseits neugierig und hatte beständig seine Augen auf ihn geheftet.

 

Mein Herr, sagte er endlich, ich bitte Sie tausendmal um Entschuldigung wegen der Vorsichtsmaßregeln, die man von Ihnen verlangte. Da aber die Insel meist öde und verlassen ist, so fände ich, wenn das Geheimnis dieses Aufenthaltsortes bekannt würde, ohne Zweifel bei meiner Rückkehr mein Absteigequartier in schlimmem Zustand, was mir sehr unangenehm wäre, nicht wegen des Verlustes, den es mir verursachen würde, sondern weil ich nicht mehr die Gewißheit hätte, mich nach Belieben von der Welt abschließen zu können. Ich will mich nun bemühen, Sie diese kleine Unannehmlichkeit vergessen zu lassen, indem ich Ihnen anbiete, was Sie gewiß nicht zu finden hofften, nämlich ein erträgliches Abendbrot und gute Betten.

 

Wahrhaftig, mein lieber Wirt, Sie brauchen sich deshalb nicht zu entschuldigen. Ich habe immer gehört, daß man den Leuten, die in Zauberpaläste drangen, die Augen verband, auch geziemt es mir nicht, mich zu beklagen, denn das, was Sie mir zeigen, bildet offenbar die Fortsetzung von Tausendundeiner Nacht.

 

Ach! ich möchte Ihnen wie Lucullus sagen, wenn ich gewußt hätte, daß mir die Ehre Ihres Besuches zuteil würde, so hätte ich mich daraus vorbereitet. Doch ich stelle meine Einsiedelei, so wie sie ist, zu Ihrer Verfügung; mein Abendbrot ist Ihnen angeboten, so mager es auch sein mag. Ali, ist ausgetragen?

 

In demselben Augenblick wurde der Türvorhang ausgehoben, und ein nubischer Neger, so schwarz wie Ebenholz und in einen einfachen weißen Leibrock gekleidet, deutete seinem Herrn durch ein Zeichen an, er könnte sich in den Speisesaal begeben.

 

Ich weiß nicht, sagte der Unbekannte zu Franz, ob Sie meiner Ansicht sind, aber ich finde nichts unbehaglicher, als zwei bis drei Stunden einander unter vier Augen gegenüber zu bleiben, ohne zu wissen, mit welchem Namen oder welchem Titel man sich nennen soll. Ich achte indessen zu sehr die Gesetze der Gastfreundschaft, um Sie nach Ihrem Namen zu fragen, und bitte Sie nur, mir irgend eine Benennung zu bezeichnen, unter der ich das Wort an Sie richten kann. Mich nennt man gewöhnlich Simbad, den Seefahrer.

 

Und ich denke, erwiderte Franz, ich kann mich, da mir, um in Aladins Lage zu sein, nur die berühmte Wunderlampe fehlt, für den Augenblick Aladin nennen.

 

Wohl, edler Herr Aladin, sagte der Fremde, Sie haben gehört, daß aufgetragen ist, wollen Sie also die Güte haben, in den Speisesaal einzutreten! Ihr untertäniger Diener geht voran, um Ihnen den Weg zu zeigen.

 

Bei diesen Worten hob Simbad den Türvorhang auf und ging Franz voran. Franz schritt von Zauber zu Zauber; die Tafel schien herrlich bestellt. Nachdem er sich von diesem wichtigen Punkte überzeugt hatte, schaute er umher. Der Speisesaal war nicht minder glänzend, als das Zimmer, das er soeben verlassen hatte; er war ganz von Marmor mit antiken Basreliefs vom höchsten Werte, und in den vier Ecken des länglichen Saales standen vier prächtige Statuen, die Körbchen auf ihren Köpfen trugen. Diese Körbchen enthielten Pyramiden von herrlichen Früchten, Ananas von Sizilien, Granaten von Malaga, Orangen von den balearischen Inseln, Pfirsiche aus Frankreich und Datteln aus Tunis. Das Abendbrot bestand aus gebratenem Fasan, mit korsischen Merlen garniert, einer Wildschweinskeule mit Gelee, einem Ziegenviertel, einem herrlichen Turbot und einer riesigen Languste. Daneben enthielten kleinere Platten die Nebengerichte. Die Platten waren von Silber, die Teller von japanischem Porzellan. Franz rieb sich die Augen, um sich zu überzeugen, daß er nicht träume. Ali allein war zur Bedienung zugelassen und entledigte sich vortrefflich seiner Pflichten. Der Gast sagte seinem Wirte hierüber ein Kompliment.

 

Ja, sagte dieser, er ist ein mir sehr ergebener Bursche, der nach seinen besten Kräften zu Werke geht. Er erinnert sich, daß ich ihm das Leben gerettet habe, und dafür bewahrt er mir die größte Dankbarkeit.

 

Wäre es nicht unbescheiden, edler Herr Simbad, sagte Franz, so möchte ich Sie fragen, bei welcher Gelegenheit Sie diese schöne Tat ausgeführt haben.

 

Mein Gott! Das ist ganz einfach, antwortete Simbad. Es scheint, der Bursche war dem Serail des Beis von Tunis nähergekommen, als es sich für einen Menschen seiner Farbe geziemt, und so sollten ihm Zunge, Hand und Kopf abgeschnitten werden, die Zunge am ersten Tag, die Hand am zweiten, der Kopf am dritten. Es gelüstete mich immer, einen Stummen in meinem Dienste zu haben; ich wartete daher, bis ihm die Zunge abgeschnitten war, und schlug dem Bei vor, mir ihn gegen eine herrliche Doppelflinte zu überlassen, die tags zuvor die Begierde Seiner Hoheit erregt hatte. Er schwankte einen Augenblick, so viel war ihm daran gelegen, mit dem armen Teufel ein Ende zu machen. Aber ich fügte zur Flinte noch ein englisches Jagdmesser, mit dem ich den Yatagan Seiner Hoheit durchhackt hatte, worauf der Bei sich entschloß, Ali zu begnadigen, jedoch unter der Bedingung, daß er nie mehr das Gebiet von Tunis betreten würde. Dies anzuempfehlen war unnötig. Wenn der Unglückliche nur von fern die Küste von Afrika erblickt, flüchtet er sich in den untersten Raum des Schiffes, und man kann ihn nicht mehr herausbringen, bis man den dritten Weltteil aus dem Gesichte verloren hat.

 

Franz blieb einen Augenblick stumm und nachdenklich, er überlegte sich, was er von der grausamen Gutmütigkeit denken sollte, mit der ihm sein Wirt diese Geschichte erzählte.

 

Und wie der ehrenwerte Seemann, dessen Namen Sie angenommen haben, sagte er, das Gespräch ändernd, bringen Sie Ihr Leben mit Reisen hin?

 

Ja, es ist ein Gelübde, das ich in einer Zeit getan habe, wo ich kaum glaubte, es je erfüllen zu können, sagte Simbad lächelnd! ich habe einige weitere getan, die, wie ich hoffe, wenn die Reihe an ihnen ist, ebenfalls erfüllt werden.

 

Obgleich Simbad diese Worte mit der größten Kaltblütigkeit sprach, schleuderten doch seine Augen dabei einen seltsam wilden Blick.

 

Sie haben viel gelitten, mein Herr? sprach Franz.

 

Simbad bebte, schaute ihn starr an und erwiderte: Woran sehen Sie dies?

 

An allem, an Ihrer Stirn, an Ihrem Blicke, an Ihrer Blässe und an dem Leben, das Sie führen.

 

Ich? Ich führe das glücklichste Leben, das ich kenne, ein wahres Pascha-Leben; ich bin der König der Schöpfung. Gefällt es mir an einem Orte, so bleibe ich; langweile ich mich, so reise ich ab; ich bin frei, wie der Vogel, ich habe Flügel, wie er. Die Leute meiner Umgebung gehorchen mir auf den Wink; von Zeit zu Zeit belustige ich mich damit, der menschlichen Gerechtigkeit zu spotten, indem ich ihr einen Banditen entziehe, den sie sucht, oder sonst einen Verbrecher, den sie verfolgt. Dann habe ich meine eigene Gerichtsbarkeit, hohe und niedere, ohne Frist und Appellation, eine Gerichtsbarkeit, die verurteilt und freispricht, während sich niemand um sie zu kümmern hat. Ah, hätten Sie mein Leben gekostet, Sie würden sich kein anderes mehr wünschen, und Sie kehrten nie mehr in die Welt zurück, wenn Sie nicht ein großes Vorhaben antriebe.

 

Eine Rache zum Beispiel! versetzte Franz.

 

Der Unbekannte heftete auf den jungen Mann einen von jenen Blicken, die in die tiefste Tiefe des Herzens und des Geistes eintauchen. Dann fragte er: Und warum eine Rache?

 

Weil Sie aussehen wie ein Mann, der, von der Gesellschaft verfolgt, eine furchtbare Rechnung mit ihr abzuschließen hat.

 

Sie irren sich, erwiderte Simbad mit seltsamem Lachen, wobei sich seine weißen spitzigen Zähne zeigten; so wie Sie mich sehen, bin ich eher ein Menschenfreund, und ich gehe vielleicht eines Tages nach Paris, um mich dort um den Tugendpreis zu bewerben.

 

Wird es das erste Mal sein, daß Sie diese Reise machen?

 

Mein Gott, ja. Nicht wahr, es scheint, daß ich sehr wenig neugierig bin? Doch ich versichere Ihnen, es ist nicht mein Fehler, daß ich so lange gezögert habe; jedenfalls wird es einmal geschehen.

 

Gedenken Sie diese Reise bald zu machen?

 

Ich weiß noch nicht; es hängt von verschiedenen Umständen ab.

 

Ich wünschte wohl, zur Zeit, wo Sie nach Paris kommen, ebenfalls dort zu sein; ich würde mich bemühen, Ihnen, soviel in meinen Kräften liegt, die Gastfreundschaft zu vergelten, die Sie mir so reichlich auf Monte Christo angedeihen ließen.

 

Ich würde Ihr Anerbieten mit großem Vergnügen annehmen, versetzte der Unbekannte; leider aber wird es, wenn ich dahin gehe, wohl inkognito geschehen.

 

Das Abendbrot nahm indessen seinen Fortgang; es schien nur für Franz bestimmt zu sein, denn Simbad kostete kaum voll ein paar Schüsseln des glänzenden Mahles, dem sein unerwarteter Gast alle Ehre antat. Endlich brachte Ali den Nachtisch, er nahm vielmehr die Körbchen aus den Händen der Statuen und setzte sie auf die Tafel. Zwischen zwei Körbchen stellte er einen Becher von Vermeil, der mit einem Deckel von demselben Metalle verschlossen war.

 

Die Ehrfurcht, mit der Ali diesen Becher herbeibrachte, stachelte Franzens Neugierde; er hob den Deckel auf und sah eine Art von grünlichem Teig, der ihm aber völlig unbekannt war. Er setzte den Deckel wieder auf und wußte ebensowenig wie zuvor, was der Becher enthielt; als er seine Augen zu seinem Wirte aufschlug, sah er, wie dieser über seine Neugier lächelte.

 

Sie können nicht erraten, sagte der Unbekannte, welche Art von eßbarem Stoffe diese kleine Vase enthält, und das setzt Sie in Verlegenheit?

 

Ich gestehe es.

 

Nun, diese Sorte von Zuckerwerk ist nichts mehr und nichts weniger als die Ambrosia, die Hebe an Jupiters Tafel reichte. Sind Sie ein materieller Mensch, ist das Gold Ihr Gott? Kosten Sie hiervon; und die Minen von Peru, Goleonda und Guzerate sind Ihnen geöffnet. Sind Sie ein Mann von Phantasie? Sind Sie ein Dichter? Kosten Sie abermals hiervon, und die Schranken des Möglichen werden verschwinden; die Gefilde des Unendlichen öffnen sich, und Sie wandeln, frei an Herz, frei an Geist, auf dem grenzenlosen Gebiete des Traumlebens umher. Sind Sie ehrgeizig, jagen Sie der irdischen Größe nach? In einer Stunde sind Sie König, nicht König eines kleinen Reiches, wie Spanien, Frankreich und England, sondern König der Welt, König des Weltalls. Sprechen Sie, ist es nicht verführerisch, was ich Ihnen da biete, und ist es nicht etwas Leichtes, da nur folgendes zu tun ist? Sehen Sie!

 

Bei diesen Worten hob er ebenfalls den Deckel von dem kleinen Becher ab, der den so gepriesenen Stoff enthielt, nahm einen Kaffeelöffel von dem magischen Zuckerwerk, führte ihn an den Mund und zog, die Augen halb geschlossen und den Kopf zurückgelegt, die wunderbare Speise langsam in den Mund. Franz ließ ihm Zeit, sein Lieblingsgericht zu verzehren; als er ihn aber wieder etwas zu sich kommen sah, sagte er zu ihm: Was für ein kostbares Gericht ist denn dies?

 

Haben Sie vom Alten vom Berge sprechen hören?

 

Allerdings.

 

Sie wissen, daß ihm ein reiches Tal gehörte, das der Berg beherrschte, von dem er seinen malerischen Namen genommen hatte. In diesem Tale waren herrliche, von Hassan Ben Saba angelegte Gärten, und in diesen Gärten einzeln stehende Pavillons. In diese Pavillons berief er seine Auserwählten, und hier ließ er sie ein gewisses Kraut essen, das sie in das Paradies, unter ewig blühende Pflanzen, stets reife Früchte und immer jungfräulich reizvolle Mädchen versetzte. Was aber die seligen jungen Leute für Wirklichkeit hielten, war ein Traum; doch ein so sanfter, so berauschender, so wollüstiger Traum, daß sie sich mit Leib und Seele an den verkauften, der sie darein versetzt hatte; daß sie, seinen Befehlen wie denen Gottes gehorchend, bis ans Ende der Welt gingen, um das bezeichnete Opfer zu schlagen; daß sie unter den gräßlichsten Martern, ohne zu klagen, einzig und allein in dem Gedanken starben, der Tod, den sie erlitten, sei nur ein Übergang zu dem köstlichen Leben, von dem ihnen das Kraut einen Vorgeschmack gegeben hatte.

 

Also ist es Haschisch, rief Franz; ich kenne dies wenigstens dem Namen nach.

 

Sie haben das richtige Wort ausgesprochen, Herr Aladin, es ist Haschisch aus Alexandrien.

 

Wissen Sie, daß ich große Lust habe, selbst ein Urteil über die Richtigkeit Ihrer Lobeserhebungen zu gewinnen?

 

Urteilen Sie selbst, mein Gast! Sie werden nie mehr leben und immer nur träumen wollen. Kosten Sie von dem Haschisch, mein Freund, kosten Sie davon!

 

Franz nahm, ohne zu antworten, einen Löffel voll von dem Wunderteig und führte ihn an den Mund.

 

Dann standen beide auf Simbads Vorschlag auf und traten in das anstoßende Zimmer. Dieses war einfacher, obwohl nicht minder reich ausgestattet. Es hatte eine runde Form, und ein großer Diwan prangte rings umher. Aber Diwan, Wände, Decken und Boden waren insgesamt mit prächtigem, weichem, teppichartigem Pelzwerk überzogen. Beide legten sich auf Diwans; Pfeifen in gehöriger Anzahl standen mit Jasminrohren und Bernsteinspitzen im Bereich der Hand. Jeder nahm eine. Ali zündete sie an und ging sodann hinaus, um Kaffee zu holen.

 

Während Wirt und Gast einen Augenblick schwiegen, überließ sich Simbad Gedanken, die ihn unablässig, selbst während des Gesprächs, zu beschäftigen schienen, und Franz gab sich jenen stummen Träumereien hin, in die man leicht verfällt, wenn man vortrefflichen Tabak raucht, wobei der Rauch alle Schmerzen des Geistes mitzunehmen und dem Raucher alle Goldträume der Seele dafür zu geben scheint. Ali brachte den Kaffee.

 

Ah! sehen Sie, unterbrach Simbad die Träumereien seines Gastes, die Orientalen sind die einzigen Menschen, die zu leben wissen. Ich für meine Person, fügte er mit seltsamem Lächeln bei, das dem jungen Manne nicht entging, ich werde, wenn meine Angelegenheiten in Paris beendigt sind, nach dem Orient ziehen, um dort zu sterben, und wenn Sie mich dann Wiedersehen wollen, so müssen Sie mich in Kairo, in Bagdad oder in Ispahan aufsuchen.

 

Wahrhaftig, sagte Franz, nichts kann in der Welt leichter sein, denn ich glaube, es wachsen mir Adlerflügel, und mit diesen Flügeln mache ich in 24 Stunden die Reise um die Welt.

 

Ah! ah! der Haschisch wirkt; wohl, so öffnen Sie die Flügel und fliegen Sie in überirdische Regionen; fürchten Sie nichts, man wacht über Ihnen.

 

Hierauf sagte er einige arabische Worte zu Ali, der ein Zeichen des Gehorsams machte und sich zurückzog, jedoch ohne sich zu entfernen. Bei Franz ging eine seltsame Veränderung vor: die ganze körperliche Ermattung, die ganze Unruhe seines Geistes verschwanden wie in einem ersten Augenblick der Ruhe, wo man noch genug lebt, um den Schlaf kommen zu fühlen. Sein Körper schien eine ätherische Leichtigkeit zu bekommen, sein Geist erleuchtete sich auf wunderbare Weise, seine Sinne schienen ihre Fähigkeiten zu verdoppeln. Der Horizont erweiterte sich immer mehr, aber es war nicht mehr der düstere Horizont, den er so oft vor seinem Entschlummern gesehen hatte, sondern ein blauer, durchsichtiger Horizont, mit allem, was das Meer an Azur, die Sonne an Goldfunken, der Abendwind an Wohlgeruch hat! Dann sah er mitten unter Gesängen seiner Matrosen die Insel Monte Christo erscheinen, nicht mehr wie eine über den Wellen drohende Klippe, sondern wie eine in der Wüste verlorene Oase.

 

Endlich berührte die Barke das Ufer, und es kam Franz vor, als trete er in die Grotte, ohne daß die bezaubernde Musik aufhörte. Er stieg hinab, eine frische, balsamische Lust einatmend, und er sah alles, was er vor seinem Schlummer gesehen hatte, von Simbad, dem phantastischen Wirte, bis auf Ali, den stummen Diener; dann schien sich alles unter seinen Augen zu verwischen und zu vermengen, wie die letzten Schatten einer Zauberlaterne, die man auslöscht, und er fand sich wieder in dem Zimmer mit den Statuen, das nur von einer jener antiken, blassen Lampen beleuchtet war, die mitten in der Nacht den Schlummer der Wollust bewachen.

 

Es waren wohl dieselben an Formen, Üppigkeit und Poesie reichen Statuen, mit den magnetischen Augen, mit dem verführerischen Lächeln, mit den überreichen Haupthaaren. Es waren Phryne, Kleopatra, Messalina, die drei großen Kurtisanen; dann glitt mitten unter diese unzüchtigen Schatten, wie ein reiner Engel, wie mitten im Olymp ein christlicher Engel, eine von den keuschen Gestalten, einer von den ruhigen Schatten, eine von den sanften Visionen, die ihre jungfräuliche Stirn unter allen diesen marmornen Unreinheiten zu verschleiern schien. Da kam es ihm vor, als hätten diese drei Statuen ihre dreifache Liebe für einen Menschen vereinigt, und dieser Mensch wäre er, als näherten sie sich dem Bette, wo er einen zweiten Schlaf träumte, die Füße in ihre langen, weißen Tuniken gehüllt, die Haare gleich Wellen sich entrollend, in einer von jenen Stellungen, denen die Heiligen widerstanden, denen aber die Götter unterlagen; mit einem jener unwiderstehlichen, glühenden Blicke, wie sie die Schlange auf den Vogel heftet, und als gäbe er sich diesen Blicken hin, die so schmerzlich waren wie ein gewaltiger Druck und zugleich so wollüstig wie ein Kuß.

 

Franz schien es, als schlösse er die Augen und als gewahrte er durch den letzten Blick, den er umherwarf, die züchtige Statue, die sich gänzlich verschleierte; als sodann seine Augen für die wirklichen Dinge geschlossen waren, öffneten sich seine Sinne für unbeschreibliche Eindrücke. Dann trat eine Wollust ohne Unterlaß, eine Liebe ohne Rast ein, wie die, die der Prophet seinen Auserwählten verspricht. Dann belebten sich alle diese steinernen Wände dergestalt, daß für Franz, der zum erstenmal der Herrschaft des Haschisch unterlag, diese Liebe beinahe ein Schmerz, diese Wollust beinahe eine Marter wurde, als er über seinen bebenden Mund die Lippen dieser Statuen, kalt und geschmeidig wie die Ringe einer Schlange, hinschlüpfen fühlte. Aber je mehr seine Arme diese unbekannte Liebe zurückzustoßen strebten, desto mehr unterlagen seine Sinne dem Zauber des geheimnisvollen Traumes, und nach einem Kampf, für den er seine Seele geopfert hätte, gab er sich ohne Rückhalt hin und fiel endlich stöhnend, brennend vor Müdigkeit, unter den Zauber dieses unerhörten Traumes zurück.

 

Der Karneval in Rom.

 

Der Karneval in Rom.

 

Als Franz zu sich kam, erblickte er Albert, der ein Glas Wasser trank, was er, nach seiner Blässe zu urteilen, sehr nötig hatte, und den Grafen, der bereits die Tracht eines Bajazzo anlegte. Auf dem Platze war alles verschwunden, Schafott, Henker, Opfer; nur das geräuschvolle, geschäftige, lustige Volk war noch übrig; die Glocke des Monte-Citorio, die nur beim Tode des Papstes und bei der Eröffnung des Karnevals hörbar wird, ertönte in vollen Schwingungen.

 

Nun! fragte er den Grafen, was ist denn vorgefallen?

 

Nichts, durchaus nichts, wie Sie sehen, erwiderte der Graf; der Karneval hat nun begonnen, und wir wollen uns ankleiden.

 

In der Tat, sagte Franz, von dieser ganzen furchtbaren Szene ist nichts mehr vorhanden, als die Spur eines Traumes.

 

Weil es nichts anderes ist, als ein Traum, ein Alp, den Sie gehabt haben.

 

Ja, ich, aber der Verurteilte?

 

Auch für ihn ist es ein Traum, nur ist er eingeschlafen geblieben, während Sie erwacht sind; und wer vermag zu sagen, welcher von beiden besser daran ist?

 

Und Peppino, fragte Franz, was ist aus ihm geworden?

 

Peppino ist ein Mensch von Verstand und ohne alle Eitelkeit. Während sonst die Leute wütend darüber werden, wenn man sich nicht mit ihnen beschäftigt, war er entzückt, als er sah, daß sich die allgemeine Aufmerksamkeit seinem Kameraden zuwandte; er benutzte daher die Zerstreuung, um unter die Menge zu schlüpfen und zu verschwinden, ohne auch nur den würdigen Priestern, die ihn begleitet hatten, zu danken. Der Mensch ist offenbar ein sehr undankbares und selbstsüchtiges Geschöpf … Doch kleiden Sie sich an! Sie sehen, Herr von Morcerf geht Ihnen mit gutem Beispiel voran.

 

Albert zog mechanisch seine Taffethose über seine schwarzen Beinkleider und seine Lackstiefel.

 

Nun, Albert, fragte Franz, sind Sie wirklich im Zuge, Karnevalstollheiten zu begehen? Sprechen Sie offenherzig.

 

Nein, aber es ist mir lieb, daß ich eine solche Szene gesehen habe, und ich begreife nun, was der Herr Graf sagte. Hat man sich einmal an ein solches Schauspiel gewöhnen können, so ist es das einzige, das noch Aufregung gewährt.

 

Abgesehen davon, daß man in diesem Augenblick allein Charakterstudien machen kann, sagte der Graf. Auf der ersten Stufe des Schafotts reißt der Tod die Larve ab, die man das ganze Leben hindurch getragen hat, und das wahre Gesicht erscheint. Man muß gestehen, Andreas war nicht schön anzuschauen … der häßliche Schuft! … Kleiden wir uns an, meine Herren! Ich fühle das Bedürfnis, Pappenmasken zu sehen, um mich über die Fleischmasken zu trösten.

 

Franz schämte sich, dem Beispiel der beiden andern nicht zu folgen. Er legte daher ebenfalls sein Kostüm an und nahm seine Maske, die sicher nicht bleicher war als er. Als alle drei mit der Toilette fertig waren, gingen sie hinunter. Der Wagen wartete vor der Tür, voll von Confetti und Sträußen. Man schloß sich der Reihe an.

 

Es läßt sich kaum ein vollständigerer Gegensatz denken, als der, welcher sich jetzt vollzogen hatte. Statt der düsteren, schweigsamen Todesszene bot die Piazza del popolo den Anblick einer tollen, brausenden Orgie. Eine Menge von Masken drängte von allen Seiten hervor, strömte aus allen Türen, stieg von allen Fenstern herab; mit Pierrots, Harlekins, Dominos, Marquis, mit Trasteverinern, Grotesken, Kavalieren und Bauern beladen, quollen die Wagen aus allen Straßenecken hervor, und alles schrie, gestikulierte, schleuderte Eier voll Mehl, Confetti, Sträuße, griff mit Worten und Geschossen Freunde und Fremde, Bekannte und Unbekannte an, ohne daß jemand das Recht hatte, sich darüber zu ärgern, ohne daß auch nur einer etwas anderes tat, als lachen.

 

Franz und Albert waren wie Menschen, die man, um sie von einem heftigen Kummer zu zerstreuen, zu einer Orgie führt, und die, je mehr sie trinken und sich berauschen, fühlen, wie sich ein immer dichterer Schleier zwischen die Vergangenheit und die Gegenwart zieht. Sie sahen immer noch den Wiederschein dessen, was sie geschaut hatten. Aber allmählich erfaßte sie doch die allgemeine Trunkenheit; es kam ihnen vor, als sei ihre schwankende Vernunft im Begriff, sie zu verlassen, sie verspürten in sich das Bedürfnis, an diesem Geräusch, an dieser Bewegung, an diesem Schwindel teilzunehmen. Eine Handvoll Confetti (etwa erbsengroße Wurfkügelchen aus Gips), die Morcerf von einem benachbarten Wagen zuflog, prickelte ihn am Halse und an allen Teilen seines Gesichts, die nicht durch die Maske geschützt waren, als hätte man ihm hundert Nadeln zugeworfen, und dies zog ihn vollends in den allgemeinen Kampf hinein, in den bereits alle Masken verwickelt waren. Er erhob sich nun auch in seinem Wagen, schöpfte mit vollen Händen aus den Taschen und schleuderte mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft und Geschicklichkeit seine Geschosse gegen seine Nachbarn. Von nun an nahm der Kampf ununterbrochen seinen Fortgang. Die Erinnerung an das, was sie eine halbe Stunde zuvor gesehen, verwischte sich bei Franz und Albert völlig, so viel Abwechslung bot ihnen das buntscheckige, bewegliche, tolle Schauspiel, das sie vor sich hatten. Auf den Grafen von Monte Christo dagegen schien nichts einen besonderen Eindruck hervorbringen zu können.

 

Man denke sich die große, schöne Straße des Korso, von einem Ende zum andern mit Palästen von vier bis fünf Stockwerken eingefaßt, deren Balkone insgesamt mit Teppichen verziert, deren Fenster alle reich drapiert sind, auf diesen Balkonen und an diesen Fenstern dreimal hunderttausend Zuschauer, Römer, Italiener, Fremde aus allen Weltteilen; alles Vornehme vereinigt: Aristokraten der Geburt, des Geldes und des Genies; reizende Frauen, die, von diesem Schauspiel hingerissen, sich über die Balkone herabneigen, aus den Fenstern sich beugen und auf die vorüberfahrenden Wagen einen Hagel von Confetti regnen lassen, auf den man ihnen mit Sträußen erwidert, bis die Luft ganz voll ist von herabfliegenden Dragées (Zuckerwerk) und hinaufsteigenden Blumen. Dazu auf der Straße eine freudige, rastlose, tolle Menge in den phantastischen Trachten und Gestalten: wandernde Kohlköpfe, Büffelköpfe, auf menschlichen Leibern brüllend, Hunde, die auf den Vorderbeinen zu gehen schienen; und mitten darunter eine Maske, die sich lüftet, oder irgend eine Astarte, die ein reizendes Gesicht zeigt, von dem man aber, wenn man ihm folgen will, durch Dämonen getrennt wird, wie man sie nur in seinen Träumen sieht; – man versuche, sich das alles vereinigt vorzustellen, und man hat einen schwachen Begriff von dem, was der Karneval in Rom ist.

 

Bei der zweiten Fahrt ließ der Graf den Wagen halten, bat die Freunde um Erlaubnis, sie verlassen zu dürfen, und stellte die Kalesche zu ihrer Verfügung. Man befand sich vor dem Palaste Rospoli, und an dem mittleren Fenster, woran der weiße Damastvorhang mit einem roten Kreuz angebracht war, stand ein Domino, unter dem sich Franzens Einbildungskraft ohne Mühe die schöne Griechin des Teatro Argentina vorstellte.

 

Meine Herren, sagte der Graf, aus dem Wagen springend, sind Sie müde, Schauspieler zu sein, und wollen Sie wieder Zuschauer werden, so wissen Sie, daß Sie Platz an meinen Fenstern haben; inzwischen verfügen Sie über meinen Kutscher, meinen Wagen und meine Bedienten.

 

Franz dankte dem Grafen für sein höfliches Anerbieten. Die Freunde fuhren davon, nutzten das lustige Karnevalsfest noch gehörig aus und amüsierten sich bis zum späten Abend, um wiederum das Theater zu besuchen.

 

Im Foyer trafen sie mit der Gräfin zusammen, die ihnen mit allen Zeichen der Ungeduld entgegenkam und Franz hastig fragte: Ich hörte, daß Sie bereits heute mit ihm in Beziehung traten. Wie heißt er? Sprechen Sie, ich muß näheres über ihn erfahren.

 

Lächelnd verbeugte sich Franz und erwiderte der schönen Frau: Allerdings habe ich schon seit heute morgen bei einem vorzüglichen Frühstück die Bekanntschaft des Grafen von Monte Christo gemacht.

 

Was für ein Name ist dies? Ich kenne das Geschlecht nicht.

 

Es ist der Name einer Insel, die er gekauft hat.

 

Und er ist Graf?

 

Toskanischer Graf.

 

So werden wir ihn dulden wie die andern, sagte die Gräfin, die einer der ältesten Familien aus Venetien angehörte. Und was für ein Mann ist er im übrigen? wandte sich die Gräfin an den Vicomte von Morcerf.

 

Oh, uns gefällt er ausgezeichnet, antwortete Albert; ein zehnjähriger Freund hätte nicht mehr für uns getan, als er, und dies mit einer Anmut, einer Zartheit, einer Höflichkeit, worin sich der wahre Weltmann offenbart.

 

Gehen Sie, versetzte die Gräfin lachend. Sie werden sehen, mein Vampir ist nichts als ein plötzlich reichgewordener Emporkömmling, der für seine Millionen Verzeihung sucht. Und sie haben Sie auch gesehen?

 

Welche sie? fragte Franz lächelnd.

 

Die schöne Griechin von gestern.

 

Nein. Wir hörten, wie ich glaube, den Ton ihrer Zither, doch sie blieb völlig unsichtbar.

 

Das heißt, wenn Sie unsichtbar sagen, mein lieber Franz, unterbrach Albert, so geschieht dies nur, um den Geheimnisvollen zu spielen. Für wen halten Sie den blauen Domino, der an dem mittleren Fenster mit dem weißen Damastvorhang im Palaste Rospoli stand? – Der Graf hatte also drei Fenster im Palaste Rospoli? Dieser Mensch muß ein wahrer Nabob sein. Wissen Sie, daß drei solche Fenster für acht Karnevalstage 2-3000 römische Taler kosten? Ah, Teufel! – Bezieht er diese Einkünfte von seiner Insel? – Seine Insel trägt ihm keinen Heller ein. – Warum hat er sie dann gekauft? – Aus Phantasie. – Er ist also ein Original? – Ich kann es nicht leugnen, er kam mir sehr exzentrisch vor, sagte Albert.

 

Es war Zeit geworden, sich zu verabschieden, und die beiden Freunde verließen die Gräfin. Die nächsten Tage vergingen im Taumel der Vergnügungen, und endlich kam der Dienstag, der letzte und lärmendste von den Karnevalstagen. Am Dienstag öffneten sich die Theater um zehn Uhr morgens, denn sobald acht Uhr abends vorüber ist, beginnt die Fastenzeit. Am Dienstag mischt sich alles, was aus Mangel an Zeit, Geld oder Begeisterung an den vorhergehenden Festen nicht teilgenommen hat, in das Bacchanal, läßt sich von der Orgie fortreißen und bringt seinen Tribut an Leben und Lärm zu der allgemeinen Tollheit. Von zwei Uhr bis fünf Uhr folgten Franz und Albert der Reihe, tauschten Hände voll Confetti mit den Wagen der entgegengesetzten Reihe und den Fußgängern aus, die zwischen den Füßen der Pferde, zwischen den Rädern der Karrossen umherschwärmten, ohne daß mitten unter diesem furchtbaren Gedränge ein Unfall geschah oder irgend ein Streit entstand. Die Italiener bilden in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Die Feste sind für sie wahre Feste.

 

Albert triumphierte in seiner Bajazzotracht. Er trug auf der Schulter einen Knoten von rosa Bändern, deren Enden ihm bis zu den Knien herabfielen, um keine Verwechslung zwischen ihm und Franz herbeizuführen, der seinerseits in der Tracht eines römischen Bauern steckte.

 

Je mehr der Tag vorrückte, desto größer wurden Lärm und Gedränge; es war in der Tat ein menschliches Ungewitter, das sich aus einem Donner schreiender Stimmen und einem Hagel von Dragées, Sträußen, Eiern, Orangen und Blumen zusammensetzte. Um drei Uhr verkündigten Böllerschüsse, die zu gleicher Zeit auf der Piazza del popolo und im venetianischen Palaste gelöst wurden, daß das Wettrennen beginne.

 

Das Wettrennen ist, wie die Moccoli, eine besondere Eigenheit der letzten Tage des Karnevals. Bei dem Krachen der Böller brachen die Wagen sofort aus ihren Reihen und flüchteten sich in die nächste Querstraße. Alle diese Szenenwechsel vollziehen sich übrigens mit unbegreiflicher Geschicklichkeit und wunderbarer Geschwindigkeit, und zwar ohne daß die Polizei nur im geringsten nötig gehabt hätte, jedem seinen Posten anzuweisen oder seinen Weg vorzuschreiben. Die Fußgänger drückten sich an die Paläste, dann hörte man ein gewaltiges Geräusch von Pferden und Säbelrasseln.

 

Eine fünfzehn Mann starke Abteilung von Carabinieri sprengte im Galopp durch die Straße des Korso, um den Wettrennern Platz zu machen. Als diese Abteilung zum venetianischen Palaste gelangte, verkündigte eine zweite Batterie von Böllern, daß die Straße frei sei.

 

Beinahe im selben Augenblick sah man unter allgemeinem, unerhörtem Geschrei sieben bis acht Reiter, vom Zuruf von dreimal hunderttausend Personen angestachelt, vorüberjagen; dann verkündigten drei Kanonenschüsse vom Kastell St. Angelo, daß Nummer 3 gewonnen habe.

 

Sogleich setzten sich die Wagen wieder in Bewegung, strömten gegen den Korso zurück und mündeten aus allen Straßen aus. Nun hatte sich ein neues Element des Lärmens und der Bewegung in die Menge gemischt: die Moccolihändler traten in Szene.

 

Die Moccoli oder Moccoletti sind Kerzen von verschiedener Dicke, die bei den Schauspielern dieser Schlußszene des römischen Karnevals zweierlei Tätigkeiten auslösen: erstens, das eigene Moccoletto brennend zu erhalten, zweitens, das anderer auszulöschen.

 

Das Moccoletto wird an irgend einem Lichte angezündet. Wer aber vermöchte die tausend Mittel zu beschreiben, die erfunden worden sind, um das Moccoletto auszulöschen … die Riesenohrfeigen, die ungeheuren Löschhörner, die übermenschlichen Windfächer? Alle beeilten sich, Moccoletti zu kaufen, Franz und Albert so gut wie die andern.

 

Die Nacht rückte rasch heran, und bereits begannen bei dem tausendfachen schrillen Rufe der Händlern » Moccoli!« einige Sterne über der Menge zu glänzen. Es war dies wie ein Signal. Nach Verlauf von zehn Minuten funkelten fünfzigtausend Lichter von dem venetianischen Palaste nach der Piazza del popolo herab, und von der Piazza del popolo nach dem venetianischen Palaste hinauf. Man hätte glauben sollen, es sei das Fest der Irrlichter; denn man kann sich in der Tat von diesem Anblick, wenn man nicht einmal Augenzeuge davon gewesen ist, keinen Begriff machen.

 

In diesem Augenblick besonders gibt es keinen gesellschaftlichen Unterschied mehr. Der Facchino hängt sich an den Prinzen, der Prinz an den Trasteveriner, der Trasteveriner an den Bürger … Jeder bläst, löscht aus, zündet wieder an. Das tolle Lichterspiel dauerte ungefähr zwei Stunden; der Korso war erleuchtet wie am hellen Tage, man konnte die Züge der Zuschauer im dritten und vierten Stocke unterscheiden.

 

Plötzlich erscholl die Glocke, die das Signal zum Schlusse des Karnevals gibt, und in einer Sekunde erloschen wie durch einen Zauber alle Moccoli. Es war, als ob ein einziger, ungeheurer Windstoß alles vernichtet hätte. Franz, den Albert mit der Bemerkung, er gehe zu einem Stelldichein, verlassen hatte, befand sich in der tiefsten Finsternis. Man hörte jetzt nur noch das Rollen der Wagen, die die Masken nach Hause führten, und sah nur spärliche Lichter hinter den Fenstern glänzen.

 

Der Karneval war zu Ende.

 

Die Katakomben von San Sebastiano.

 

Die Katakomben von San Sebastiano.

 

Franz hatte vielleicht in seinem Leben keinen so scharfen, schneidenden Eindruck, keinen so raschen Übergang von der Heiterkeit zur Traurigkeit erfahren, als in diesem Augenblick; es war, als hätte sich Rom unter dem magischen Hauche eines Dämons der Nacht in ein Grab verwandelt. Da der abnehmende Mond erst um elf Uhr abends aufging, so waren die Straßen, durch die der junge Mann fuhr, noch in die tiefste Finsternis versenkt. Nach Verlauf von zehn Minuten hielt sein Wagen oder vielmehr der des Grafen vor dem Gasthofe zur Stadt London.

 

Das Diner harrte der Freunde; da jedoch Albert erwähnt hatte, er gedenke nicht so bald zurückzukehren, so setzte sich Franz ohne ihn zu Tische. Gewohnt, sie miteinander speisen zu sehen, erkundigte sich Herr Pastrini nach der Ursache seiner Abwesenheit, aber Franz begnügte sich, ihm zu erwidern, Albert habe am Tage zuvor eine Einladung erhalten, der er Folge leiste. Das plötzliche Auslöschen der Moccoletti, die Dunkelheit, die auf den maßlosen Lärm folgende Stille hatten Franz in eine traurige Stimmung versetzt, die nicht ganz frei von Unruhe war. Er speiste also sehr schweigsam, trotz der Dienstfertigkeit seines Wirtes, der wiederholt erschien, um zu fragen, ob er nichts bedürfe.

 

Franz war entschlossen, solange als möglich auf Albert zu warten. Er bestellte daher den Wagen erst auf elf Uhr und beauftragte Pastrini, ihn sogleich benachrichtigen zu lassen, wenn Albert zurückkehrte. Um elf Uhr war dies noch nicht geschehen. Franz kleidete sich an und entfernte sich mit der Bemerkung, er würde die ganze Nacht bei dem Herzog von Bracciano, bei dem die Freunde zu einem Balle geladen waren, zubringen.

 

Das Haus des Herzogs von Bracciano gehörte zu den gesuchtesten Häusern Roms; die Herzogin, eine der letzten Erbinnen der Colonna, war eine der gefeiertsten Damen der ewigen Stadt, und die Feste, die der Herzog gab, hatten europäischen Ruf. Franz und Albert waren mit Empfehlungsbriefen an ihn nach Rom gekommen, er fragte deshalb Franz auch sogleich, wo sein Reisegefährte geblieben sei. Franz erwiderte dem Herzog, er habe ihn in dem Augenblick, wo man die Moccoletti ausgelöscht, verlassen und sei ihm bei der Via Macello aus dem Gesichte gekommen.

 

Er ist also nicht nach Hause zurückgekehrt? fragte der Herzog.

 

Ich erwartete ihn bis zu dieser Stunde.

 

Wissen Sie, wohin er gegangen ist?

 

Nicht genau; ich glaube jedoch, es handelt sich um ein Stelldichein.

 

Teufel! rief der Herzog; das ist ein übler Tag, oder vielmehr eine üble Nacht, um noch spät außen zu bleiben, nicht wahr, Frau Gräfin?

 

Diese Worte waren an die Gräfin G*** gerichtet, die soeben erschien und am Arme des Herrn Torlonia, des Bruders des Herzogs, auf und ab ging.

 

Mir scheint im Gegenteil, daß es eine bezaubernde Nacht ist, entgegnete die Gräfin, und die, welche sich hier befinden, werden nur klagen, daß sie so schnell vorübergeht.

 

Ich spreche auch nicht von den Personen, die hier sind, versetzte der Herzog lächelnd; die Männer laufen keine andere Gefahr, als die, in Sie verliebt zu werden, die Frauen keine andere, als vor Eifersucht zu sterben, wenn sie Ihre Schönheit erschauen; ich spreche von denen, die in den Straßen der Stadt umherlaufen.

 

Ei! guter Gott, fragte die Gräfin, wer läuft zu dieser Stunde aus den Straßen umher, wenn nicht, um auf den Ball zu gehen?

 

Unser Freund Albert von Morcerf, Frau Gräfin, den ich heute abend um sieben Uhr, als er einer Unbekannten folgte, verlassen und seitdem nicht wieder gesehen habe, sagte Franz. Hat er Waffen bei sich?

 

Er geht in der Tracht eines Bajazzo.

 

Sie hätten ihn nicht sollen gehen lassen, sagte der Herzog zu Franz, Sie, der Sie Rom besser kennen, als er.

 

Oh! es wäre ebenso leicht gewesen, Nummer 3 der Wettrenner, die heute den Preis gewonnen hat, aufzuhalten als ihn zu hindern; und dann, was soll ihm geschehen?

 

Wer weiß? Die Nacht ist sehr finster, und der Tiber ganz nahe bei der Ria Macello.

 

Franz fühlte, wie ihm ein Schauer durch die Adern lief, als er fand, daß die Gedanken des Herzogs und der Gräfin so sehr mit seiner persönlichen Unruhe im Einklang standen.

 

Ich habe auch im Gasthofe bemerkt, ich würde die Nacht hier zubringen, und man benachrichtigt mich, sobald er zurückkommt, versetzte Franz.

 

Halt, sprach der Herzog, ich glaube, es kommt hier gerade einer von meinen Dienern, der Sie sucht.

 

Der Herzog täuschte sich nicht, der Diener näherte sich Franz und sagte: Exzellenz, der Gastwirt von der Stadt London läßt Ihnen melden, daß Sie ein Mann mit einem Briefe des Vicomte von Morcerf bei ihm erwarte.

 

Warum brachte er den Brief nicht hierher?

 

Der Bote hat mir keine Erklärung gegeben.

 

Und wo ist der Bote?

 

Er ging sogleich wieder weg, als er mich in den Ballsaal eintreten sah, um Sie zu benachrichtigen.

 

Oh! mein Gott! sagte die Gräfin zu Franz, gehen Sie schnell; es ist ihm vielleicht ein Unglück widerfahren, und kommen Sie bald zurück, uns Kunde zu geben.

 

 

Franz nahm seinen Hut und entfernte sich in größter Eile. Er hatte seinen Wagen weggeschickt und erst auf zwei Uhr wieder bestellt, aber zum Glück ist der Palast Bracciano kaum zehn Minuten von der Stadt London entfernt. Als sich Franz dem Gasthofe näherte, sah er einen Menschen mitten auf der Straße stehen, von dem er keinen Augenblick zweifelte, daß er der von Albert abgeschickte Bote sei. Er ging auf den Menschen, der in einen langen Mantel gehüllt war, zu; doch zu seinem großen Erstaunen richtete der Unbekannte zuerst das Wort an ihn.

 

Was wollen Sie von mir, Exzellenz? sagte er, einen Schritt zurückweichend, wie ein Mensch, der auf seiner Hut ist. Seid Ihr es nicht, der mir einen Brief vom Vicomte von Morcerf bringt? entgegnete Franz.

 

Wie heißt Eure Exzellenz?

 

Baron Franz d’Epinay.

 

Dann ist dieser Brief wohl an Eure Exzellenz gerichtet.

 

Bedarf er einer Antwort? fragte Franz, den Brief aus den Händen des Unbekannten nehmend.

 

Ja, wenigstens hofft Ihr Freund auf eine Antwort.

 

So kommt mit mir herauf, und ich werde sie Euch geben.

 

Ich will lieber hier warten, sagte der Bote lachend.

 

Warum?

 

Eure Exzellenz wird die Sache begreifen, wenn sie den Brief gelesen hat.

 

Franz ging in den Gasthof; auf der Treppe begegnete er Pastrini, der ihn mit verstörter Miene erwartet hatte. Franz entfaltete rasch das Papier. Der Brief war von Alberts Hand geschrieben und von ihm unterzeichnet. Franz las ihn zweimal, so überrascht war er von seinem Inhalt. Er lautete:

 

»Lieber Freund!

 

Sobald Sie Gegenwärtiges empfangen, haben Sie die Gefälligkeit, aus meinem Portefeuille, das Sie in der viereckigen Schublade des Sekretärs finden werden, den Kreditbrief zu nehmen; nehmen Sie den Ihrigen dazu, wenn meiner nicht reicht. Laufen Sie zu Torlonia, lassen Sie sich auf der Stelle viertausend Piaster geben, und händigen Sie dieselben dem Überbringer ein. Es ist dringend, daß mir diese Summe ohne Verzug zukommt. Ich sage nicht mehr, da ich auf Sie zähle, wie Sie auf mich zählen können. N. S. I believe now in Italian bandits. 1

 

Ihr Freund
Albert von Morcerf

 

Unter diese Zeilen waren von fremder Hand folgende italienische Worte geschrieben:

 

Se alle sei della mattina le quattro mille piastre non sono nelle miei mani, alle sette il conte Alberto avrà cessto di vivere. 2

 

Luigi Vampa

 

Die zweite Unterschrift erklärte Franz alles, und er begriff das Widerstreben des Boten, zu ihm heraufzukommen; die Straße schien ihm sicherer als Franzens Zimmer. Albert war in die Hände des berüchtigten Banditenführers gefallen, an dessen Existenz er so lange nicht hatte glauben wollen.

 

Es war keine Zeit zu verlieren. Er lief an den Sekretär, öffnete ihn, fand in der bezeichneten Schublade das Portefeuille, und in dem Portefeuille den Kreditbrief; er war im ganzen auf 6000 Piaster ausgestellt; aber von diesen 6000 Piastern hatte Albert bereits 3000 verbraucht. Franz besaß keinen Kreditbrief; da er in Florenz wohnte und nur nach Rom gekommen war, um hier sieben bis acht Tage zu bleiben, so hatte er etwa 100 Louisd’or mitgenommen, und davon blieben ihm höchstens noch 50. Es waren also noch 7 bis 800 Piaster erforderlich, wenn Franz und Albert die verlangte Summe zusammenbringen sollten. Allerdings konnte Franz auf die Gefälligkeit des Herrn Torlonia rechnen, und er war daher auch schon im Begriff, in den Palast Bracciano zurückzukehren, als ein leuchtender Gedanke seinen Geist durchblitzte.

 

Der Graf von Monte Christo fiel ihm ein. Franz wollte eben den Wirt rufen lassen, als dieser auf der Türschwelle erschien.

 

Mein lieber Herr Pastrini, sagte er, glauben Sie, daß der Graf zu Hause ist?

 

Ja, Exzellenz, er ist soeben zurückgekommen.

 

Ich bitte Sie, fragen Sie ihn für mich um Erlaubnis, ihn einen Augenblick sprechen zu dürfen.

 

Der Wirt beeilte sich, diesen Auftrag zu vollziehen; fünf Minuten nachher meldete er Franz, der Graf erwarte ihn. Franz durchschritt rasch den Gang, ein Diener führte ihn bei dem Grafen ein. Er befand sich in einem kleinen, ganz von Diwans umgebenen Kabinett, das Franz noch nicht gesehen hatte. Der Graf kam ihm entgegen.

 

Ei! welcher gute Wind führt Sie zu dieser Stunde hierher? sagte er. Sollten Sie das Abendessen mit mir nehmen wollen? Das wäre sehr liebenswürdig.

 

Nein, ich komme wegen einer sehr ernsten Angelegenheit.

 

Wegen einer ernsten Angelegenheit! sagte der Graf, Franz mit dem ihm eigentümlichen tiefen Blicke anschauend; worum handelt es sich?

 

Franz übergab ihm Alberts Brief und sagte: Lesen Sie.

 

Ah! ah! rief der Graf.

 

Was sagen Sie dazu? fragte Franz.

 

Haben Sie die verlangte Summe? Es fehlen mir achthundert Taler.

 

Der Graf ging an einen Sekretär, öffnete ihn, zog eine Schublade voll Gold heraus und sagte zu Franz: Ich hoffe, daß Sie mir nicht die Beleidigung antun werden, sich an einen andern, als mich zu wenden?

 

Sie sehen im Gegenteil, daß ich gerade zu Ihnen gekommen bin.

 

Dafür danke ich; nehmen Sie. Und er ersuchte Franz, das Gold zu nehmen.

 

Ist es denn durchaus notwendig, diese Summe Luigi Vampa zu schicken? fragte der junge Mann, den Grafen ebenfalls fest anschauend.

 

Bei Gott! rief dieser, urteilen Sie selbst, die Nachschrift klingt sehr bestimmt.

 

Es scheint mir, wenn Sie ein wenig nachdenken wollten, würden Sie ein Mittel finden, das die Unterhandlung sehr vereinfachen müßte? entgegnete Franz.

 

Welches? fragte der Graf erstaunt.

 

Wenn wir zum Beispiel Luigi Vampa miteinander aufsuchten … ich bin überzeugt, er schlüge es Ihnen nicht ab, Albert freizugeben.

 

Mir? Welchen Einfluß soll ich auf den Banditen ausüben?

 

Haben Sie ihm nicht einen von den Diensten geleistet, die man nie vergißt? – Einen Dienst?

 

Haben Sie nicht vor wenigen Tagen Peppino gerettet?

 

Ah! ah! rief der Graf, wer hat Ihnen das gesagt?

 

Was liegt daran? Ich weiß es.

 

Der Graf blieb einen Augenblick stumm.

 

Und wenn ich Vampa aufsuchte, würden Sie mich begleiten?

 

Falls Ihnen meine Gesellschaft nicht zu unangenehm wäre.

 

Gut! Es sei; das Wetter ist schön, ein Spaziergang nach der Campagna kann uns nur wohltun. Wo ist der Mensch, der diesen Brief gebracht hat? Auf der Straße.

 

Er muß hören, wohin wir gehen; ich werde ihn rufen.

 

Der Graf trat an das Fenster des Kabinetts, das nach der Straße ging, und pfiff auf eine besondere Weise. Der Mann mit dem Mantel entfernte sich von der Mauer und schritt bis in die Mitte der Straße vor.

 

Salite! sprach der Graf mit einem Tone, als gäbe er seinem Bedienten einen Befehl. Der Bote gehorchte, ohne zu zögern, ja sogar mit einem gewissen Eifer, sprang die vier Stufen der Freitreppe hinauf und trat in den Gasthof. Fünf Sekunden nachher war er an der Tür des Kabinetts.

 

Ah! Du bist es, Peppino, rief der Graf.

 

Doch statt zu antworten, warf sich Peppino auf die Knie, ergriff die Hand des Grafen und drückte seine Lippen wiederholt darauf.

 

Oh! sagte der Graf, du hast noch nicht vergessen, daß ich dir das Leben rettete! Das ist seltsam, es sind doch heute schon acht Tage vorüber.

 

Nein, Exzellenz, ich werde es nie vergessen, antwortete Peppino mit dem Tone der tiefsten Dankbarkeit.

 

Nie? Das ist sehr lange; doch schon genug, wenn du es nur glaubst. Steh auf und antworte.

 

Peppino warf einen unruhigen Blick auf Franz.

 

Oh! du kannst vor dem Herrn sprechen, versetzte der Graf, es ist einer meiner Freunde. Wie ist der Graf Albert in Luigis Hände gefallen?

 

Exzellenz, die Kalesche des Franzosen hat wiederholt den Wagen gekreuzt, worin Teresa saß.

 

Des Hauptmanns Geliebte?

 

Ja. Der Franzose liebäugelte mit ihr, Teresa machte sich den Spaß es zu erwidern: der Franzose warf ihr Sträuße zu und sie ihm, alles, wohlverstanden, mit Einwilligung des Hauptmanns, der sie, als Kutscher verkleidet, führte.

 

Und dann? fragte der Graf.

 

Nun, dann nahm der Franzose die Maske ab; Teresa tat dasselbe; der Franzose verlangte eine Zusammenkunft, Teresa sagte sie ihm zu; nur fand sich, statt Teresa, Beppo – verkleidet als Bäuerin – auf den Stufen der Kirche von San Giacomo ein; ein Wagen wartete am Ende der Via Macello, Beppo forderte den Franzosen auf, ihm zu folgen; er ließ sich dies nicht zweimal sagen und setzte sich neben ihn. Dieser sagte ihm nun, er führe ihn nach einer Villa, die eine Meile von der Stadt liege. Der Franzose versicherte Beppo, er sei bereit, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen. Sogleich fuhr der Kutscher die Strada di Ripetta hinauf, erreichte die Porta di San Paolo, und als der Franzose, zweihundert Schritte in der Campagna, zu unternehmend wurde, setzte ihm Beppo ein paar Pistolen vor die Brust; rasch hielt der Kutscher seine Pferde an, wandte sich auf seinem Sitze um und tat dasselbe. Zu gleicher Zeit stürzten vier von den Unseren, die am Ufer des Almo verborgen waren, an den Kutschenschlag. Der Franzose hatte große Lust, sich zu verteidigen, würgte Beppo auch ein wenig, wie ich hörte; aber er konnte gegen fünf bewaffnete Männer nichts machen, er mußte sich ergeben. Man ließ ihn aussteigen, folgte dem Ufer des Flüßchens und führte ihn zu Teresa und Luigi, die ihn in den Katakomben von San Sebastiano erwarteten.

 

Ei, das ist eine romantische Geschichte, bemerkte der Graf. Was sagen Sie dazu, Sie, der Sie Kenner sind?

 

Ich würde sie sehr lustig finden, wäre sie einem anderen, als dem armen Albert begegnet.

 

Wenn Sie mich nicht gefunden hätten, erwiderte der Graf, so würde dieses Liebesabenteuer Ihrem Freunde ziemlich teuer zu stehen gekommen sein; doch beruhigen Sie sich, er wird mit der Angst davon kommen.

 

Und wir suchen ihn auf? fragte Franz.

 

Bei Gott! Um so mehr, als er sich an einem sehr malerischen Orte befindet. Kennen Sie die Katakomben von San Sebastiano?

 

Nein, doch ich dachte, sie einmal zu besuchen. Wohl, die Gelegenheit ist da, und es wäre schwer, eine bessere zu finden. Haben Sie Ihren Wagen?

 

Nein.

 

Gleichviel; es ist bei mir Gewohnheit, Tag und Nacht einen Wagen angespannt halten zu lassen.

 

Tag und Nacht angespannt?

 

Ja, ich bin ein sehr launenhafter Mensch und muß Ihnen sagen, daß mir zuweilen, wenn ich aufstehe, nach der Mahlzeit oder auch mitten in der Nacht, die Lust ankommt, nach irgend einem Punkte der Welt zu reisen, und dann reise ich auch.

 

Der Graf läutete, sein Kammerdiener erschien.

 

Lassen Sie den Wagen vorfahren, sagte der Graf zu ihm, nehmen Sie die Pistolen heraus, die in den Taschen sind! es ist nicht nötig, den Kutscher zu wecken, Ali fährt.

 

Nach einem Augenblick hörte man den Wagen.

 

Halb ein Uhr, sagte der Graf, auf seine Uhr blickend, wir hätten erst um fünf Uhr fahren können und wären noch zu rechter Zeit gekommen; doch dann würde Ihr Gefährte vielleicht eine schlimme Stunde durchgemacht haben, und es ist daher besser, ihn auf der Stelle den Händen der Ungläubigen zu entziehen. Sind Sie immer noch entschlossen, mich zu begleiten?

 

Mehr als je.

 

Franz und der Graf verließen das Zimmer, gefolgt von Peppino. Vor der Tür fanden sie den Wagen, Ali saß auf dem Bocke; Franz erkannte den stummen Sklaven der Grotte von Monte Christo. Franz und der Graf stiegen in den Wagen; Peppino setzte sich neben Ali, und man fuhr im Galopp fort. Ali hatte vorher Befehle erhalten, denn er fuhr über den Korso und erreichte die Porta di San Sebastiano; hier wollte der Torwart einige Schwierigkeiten machen, aber der Graf von Monte Christo zeigte ihm einen Erlaubnisschein vom Gouverneur der Stadt, der ihm zu jeder Stunde des Tages und der Nacht ungehinderten Aus- und Einlaß zusicherte; das Fallgatter wurde also aufgehoben, der Torwart erhielt einen Louisd’or für seine Mühe, und man fuhr hinaus.

 

Die Straße war die alte, beiderseits von Gräbern begrenzte Via Appia. Von Zeit zu Zeit kam es Franz beim Lichte des aufgehenden Mondes vor, als ob eine Schildwache hinter einer Ruine hervorträte; doch auf ein zwischen Peppino und dieser Schildwache ausgetauschtes Zeichen kehrte sie in den Schatten zurück und verschwand. Wenige Schritte vor dem Zirkus des Caracalla hielt der Wagen an, Peppino öffnete den Schlag, und Franz und der Graf stiegen aus.

 

In zehn Minuten sind wir an Ort und Stelle, sagte der Graf zu seinem Begleiter. Dann nahm er Peppino beiseite, gab ihm leise einen Befehl, und der Bandit entfernte sich, nachdem er sich mit einer Fackel versehen hatte, die er aus einem Kistchen hervorzog. Es vergingen fünf Minuten, während Franz Peppino auf einem schmalen Fußpfade fortschreiten und dann in hohem rötlichem Grase verschwinden sah. Franz und der Graf schlugen denselben Fußpfad ein, der sie nach hundert Schritten auf einen sich in ein Tälchen senkenden Abhang führte.

 

Exzellenz, sagte Peppino, der stehen geblieben war, folgen Sie mir, bitte, die Öffnung der Katakomben ist nur zwei Schritte von hier.

 

Gut, sagte der Graf, geh voraus!

 

Es bot sich in der Tat hinter einem Gebüsch und mitten unter einigen Felsen eine Öffnung, durch die kaum ein Mann dringen konnte. Peppino schlüpfte zuerst hinein; aber kaum hatte er einige Schritte getan, als der unterirdische Gang sich erweiterte. Er blieb nun stehen und zündete seine Fackel an. Der Graf war zuerst in eine Art von Luftloch gedrungen, und Franz folgte ihm. Das Terrain vertiefte sich allmählich und wurde immer weiter, je mehr man vorrückte. Franz und der Graf waren jedoch genötigt, gebückt zu marschieren, und konnten nur mit Mühe nebeneinander gehen. Sie machten auf diese Weise noch ungefähr fünfzig Schritte, dann wurden sie durch den Ruf: Wer da? angehalten. Zu gleicher Zeit sahen sie inmitten der Finsternis den Lauf eines Karabiners im Schimmer ihrer eigenen Fackel aufblitzen.

 

Gut Freund! antwortete Peppino, und sagte einige Worte mit leiser Stimme zu der Schildwache, die, wie die erste, grüßte und dann den nächtlichen Gästen durch ein Zeichen bedeutete, sie könnten weitergehen. Hinter der Wache war eine Treppe von ungefähr zwanzig Stufen. Franz und der Graf stiegen die zwanzig Stufen hinab und befanden sich an einem Kreuzweg. Fünf Wege liefen wie Strahlen von dieser Stelle aus, und an den Wänden, in denen sargartige Nischen ausgegraben waren, erkannte man, daß man in den Katakomben angelangt war. In einer von diesen Höhlen, deren Ausdehnung sich nicht erkennen ließ, gewahrte man einige Lichtstrahlen. Der Graf legte die Hand auf Franzens Schulter und sagte: Wollen Sie ein Lager ruhender Banditen sehen, so folgen Sie mir! Peppino, lösche deine Fackel aus!

 

Peppino gehorchte, und Franz und der Graf befanden sich in der tiefsten Finsternis; nur tanzte fortwährend etwa fünfzig Schritte vor ihnen längs den Wänden ein rötlicher Schein nach dem andern hin. Sie rückten langsam vor, wobei der Graf Franz leitete, als besäße er die seltene Fähigkeit, in der Finsternis zu sehen. Drei Arkaden, von denen die mittlere als Tür zu betrachten war, gewährten ihnen Durchlaß. Diese Arkaden öffneten sich einerseits nach dem Gange, wo Franz und der Graf sich befanden, andererseits nach einem großen viereckigen Gemache, das ganz von Nischen, den vorhergehenden ähnlich, umgeben war. Mitten in diesem Gemach erhoben sich vier Steine, die einst als Altar gedient hatten, wie das überragende Kreuz andeutete. Eine einzige auf einem Säulenschafte stehende Lampe beleuchtete mit bleichem, flackerndem Lichte die seltsame Szene, die sich den Augen der im Schatten verborgenen Gefährten bot. Den Ellenbogen auf diese Säule gestützt, saß ein Mann und las, den Rücken den Arkaden zuwendend, durch deren Öffnung die Ankömmlinge ihn betrachteten. Es war der Anführer der Bande, Luigi Vampa. Ringsumher sah man in ihren Mänteln liegend oder an eine Steinbank gelehnt etwa zwanzig Räuber; jeder hatte seinen Karabiner im Bereiche der Hand. Im Hintergrunde ging schweigsam, kaum sichtbar und einem Schatten ähnlich, eine Schildwache vor einer Öffnung auf und ab, die man kaum zu unterscheiden vermochte.

 

Als der Graf glaubte, Franz hätte seine Blicke hinreichend an diesem malerischen Bilde geweidet, legte er den Finger an seine Lippen, um ihm Stillschweigen zu empfehlen, trat, die drei Stufen hinabsteigend, die von dem Gange ins Lager führten, durch die mittlere Arkade in das Gemach und ging auf Vampa zu, der so tief in das Lesen versunken war, daß er das Geräusch seiner Tritte nicht hörte.

 

Wer da? rief die Schildwache, die bei dem Schimmer der Lampe etwas wie einen Schatten sah, der hinter ihrem Hauptmann immer größer wurde. Bei diesem Ruf erhob sich Vampa rasch und zog gleichzeitig eine Pistole aus seinem Gürtel. In einem Augenblick waren alle Banditen auf den Beinen, und zwanzig Karabinerläufe richteten sich auf den Grafen.

 

Nun! sagte dieser mit vollkommen ruhiger Stimme und ohne daß eine Muskel seines Gesichtes sich rührte; nun, mein lieber Vampa, es scheint, Ihr macht Euch große Unkosten, um einen Freund zu empfangen.

 

‚runter die Gewehre! rief der Anführer mit einem gebieterischen Zeichen einer Hand, während er mit der andern ehrfurchtsvoll seinen Hut abnahm. Dann, sich gegen den hinwendend, der diese ganze Szene beherrschte, sagte er: Verzeihen Sie, Herr Graf, aber ich war so weit entfernt, die Ehre Ihres Besuches zu erwarten, daß ich Sie nicht erkannte.

 

Es scheint, Ihr habt in allen Dingen ein kurzes Gedächtnis, Vampa, entgegnete der Graf, und Ihr vergeßt nicht nur das Gesicht der Menschen, sondern auch die Bedingungen, die Ihr mit ihnen eingegangen seid.

 

Welche Bedingungen habe ich vergessen, Herr Graf? fragte der Bandit, wie ein Mensch, dem alles daran liegt, einen etwa gemachten Fehler wieder gutzumachen.

 

Sind wir nicht miteinander übereingekommen, daß Euch nicht nur meine Person, sondern auch die meiner Freunde heilig sein soll?

 

In welcher Beziehung habe ich mich gegen diesen Vertrag verfehlt, Exzellenz?

 

Ihr habt den Vicomte Albert von Morcerf entführt und hierher gebracht; nun, so wißt, fuhr der Graf mit einem Tone fort, der Franz erbeben ließ, dieser junge Mann gehört zu meinen Freunden, er wohnt in demselben Gasthofe wie ich, er hat acht Tage lang in meinem Wagen den Korso mitgemacht, und dessenungeachtet, ich wiederhole es, habt Ihr ihn entführt, hierher geschleppt und – der Graf zog den Brief aus der Tasche – ein Lösegeld wie für den nächsten besten festgesetzt.

 

Warum habt ihr mich nicht davon in Kenntnis gesetzt? sagte der Anführer, sich gegen seine Leute wendend, die sämtlich vor seinem Blicke zurückwichen; warum habt ihr mich dem ausgesetzt, daß ich mein Wort breche gegen einen Mann, der unser aller Leben in seinen Händen hat? Bei dem Blute Christi! Wenn ich dächte, einer von euch hätte gewußt, der junge Mann sei der Freund Seiner Exzellenz, ich würde ihm die Hirnschale zerschmettern.

 

Nun! sprach der Graf, sich an Franz wendend, ich sagte Ihnen, es walte irgend ein Irrtum ob.

 

Sind Sie nicht allein? fragte Vampa unruhig.

 

Die Person ist bei mir, an die der Brief gerichtet war; ich wollte ihr beweisen, daß Luigi Vampa ein Mann von Wort ist. Kommen Sie, Exzellenz, sagte er zu Franz, hier ist Luigi Vampa, der Ihnen selbst zu sagen wünscht, er sei in Verzweiflung über den Irrtum, den er begangen hat.

 

 

Franz näherte sich; der Banditenführer trat ihm entgegen und sagte: Seien Sie uns willkommen, Exzellenz; Sie haben gehört, was der Herr Graf sagte, und was ich antwortete; ich füge hinzu, gern gäbe ich viertausend Piaster her, könnte ich das Geschehene ungeschehen machen. Doch wo ist der Gefangene? versetzte Franz, unruhig umherschauend, ich sehe ihn nicht.

 

Es ist ihm hoffentlich nichts widerfahren, fragte der Graf, die Stirn faltend.

 

Der Gefangene ist dort antwortete Vampa, auf die Vertiefung deutend, vor welcher der Bandit als Schildwache auf und ab ging; ich werde ihm selbst ankündigen, daß er frei ist.

 

Der Anführer schritt dem von ihm bezeichneten Orte und zu, und Franz folgte ihm mit dem Grafen.

 

Der Graf und Franz stiegen, dem Hauptmann folgend, sieben bis acht Stufen hinauf; sobald Vampa einen Riegel gezogen und eine Tür aufgestoßen hatte, konnte man beim Schimmer einer Lampe Albert sehen, der, in einen Mantel gehüllt, in einem Winkel im tiefsten Schlafe lag. Sieh da, sagte der Graf mit eigentümlichem Lächeln, nicht übel für einen Menschen, der um sieben Uhr erschossen werden sollte.

 

Bampa schaute den schlafenden Albert mit einer gewissen Bewunderung an; man sah, daß er für einen solchen Beweis von Mut nicht unempfindlich war.

 

Sie haben recht, Herr Graf, sagte er, dieser Mann muß zu Ihren Freunden gehören. Dann, sich Albert nähernd und ihn an der Schulter berührend, fügte er hinzu: Exzellenz, ist’s gefällig, aufzuwachen?

 

Ah! ah! sagte Albert, Ihr seid es, Hauptmann? Ihr hättet mich, bei Gott! sollen schlafen lassen; ich hatte einen entzückenden Traum; es träumte mir, ich tanze mit der Gräfin G***. Er zog seine Uhr, die man ihm gelassen hatte.

 

Halb zwei Uhr morgens … warum zum Teufel weckt Ihr mich zu dieser Stunde?

 

Um Ihnen zu sagen, daß Sie frei sind, Exzellenz.

 

Mein Lieber, erwiderte Albert mit vollkommener Geistesfreiheit, befolgt künftig den Grundsatz des großen Napoleon! Weckt mich nur wegen schlimmer Nachrichten! Hättet Ihr mich schlafen lassen, so würde ich meinen Tanz fortgesetzt haben und wäre Euch mein Leben lang dankbar … Man hat also mein Lösegeld bezahlt?

 

Nein, Exzellenz, einer, dem ich nichts verweigern kann, hat Sie zurückgefordert.

 

Ah! bei Gott, dieser jemand ist sehr liebenswürdig.

 

Albert schaute umher, erblickte Franz und rief: Wie, mein lieber Freund, Sie treiben die Ergebenheit so weit?

 

Nein, nicht ich, sondern der Herr Graf von Monte Christo.

 

Ah! bei Gott! Herr Graf, sagte Albert heiter, während er seine Krawatte und seine Manschetten ordnete, Sie sind wahrlich ein kostbarer Mann, und ich hoffe, daß Sie mich als Ihnen ewig verbunden ansehen werden. Er reichte dem Grafen die Hand, der sie bebend in die seine nahm.

 

Der Bandit sah mit erstaunter Miene zu; er war offenbar gewohnt, seine Gefangenen vor sich zittern zu sehen, und hier fand er einen, den seine heitere Laune nicht verlassen hatte. Franz war entzückt, daß Albert selbst einem Banditen gegenüber die Ehre der Nation aufrecht erhielt.

 

Mein lieber Albert, sagte er zu ihm, wenn Sie sich beeilen wollten, so haben wir noch Zeit, die Nacht bei Torlonia zu beschließen. Sie nehmen Ihren Galopp wieder auf, wo Sie ihn unterbrochen haben, und werden somit keinen Groll gegen den edlen Herrn Luigi bewahren, der sich in der Tat bei dieser ganzen Angelegenheit auf das artigste benommen hat.

 

Ah! gewiß, versetzte Albert, Sie haben recht, wir können um zwei Uhr dort sein. Herr Luigi, ich wünsche Ihnen ein lustiges Leben. Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie!

 

Und Franz und dem Grafen voran ging Albert die Treppe hinab und durchschritt den großen viereckigen Saal. Alle Banditen standen mit dem Hut in der Hand. Der Hauptmann nahm die Fackel aus den Händen des Hirten und ging den Gästen voran, nicht wie ein Diener, sondern wie ein König, der seinen Botschaftern voranschreitet. An der Tür verbeugte er sich und sagte: Und nun, Herr Graf, wiederhole ich meine Entschuldigung, und ich hoffe, daß Sie mir wegen dessen, was geschehen ist, nicht ferner grollen werden.

 

Nein, mein lieber Vampa, sagte der Graf; Ihr sühnt überdies Eure Irrtümer auf eine so artige Weise, daß man versucht ist, Euch auch dafür, daß Ihr sie begangen habt, Dank zu wissen.

 

Meine Herren, sagte der Banditenführer, sich nach den jungen Männern umwendend, vielleicht kommt Ihnen mein Anerbieten nicht sehr lockend vor, aber wenn Sie je Lust verspüren, mir einen zweiten Besuch zu machen, so werden Sie, wo ich auch sein mag, stets willkommen sein.

 

Franz und Albert grüßten, und alle drei gingen hinaus. Sie fanden den Wagen, wo sie ihn gelassen hatten. Der Graf sagte zu Ali ein einziges arabisches Wort, und die Pferde setzten sich in schnellsten Galopp. Es war zwei Uhr, als die Freunde wieder im Tanzsaal erschienen; ihre Rückkehr machte das größte Aufsehen; da sie aber miteinander kamen, so hörte im Augenblick jede Unruhe wegen Alberts auf.

 

Gnädige Frau, sagte der Vicomte von Morcerf, auf die Gräfin zuschreitend, Sie haben gestern die Güte gehabt, mir einen Galopp zu versprechen, ich komme etwas spät, um Sie an diese entzückende Zusage zu erinnern; doch hier ist ein Freund, dessen Wahrheitsliebe Sie kennen; er wird Ihnen bestätigen, daß ich nicht schuld daran bin.

 

Und da die Musik in diesem Augenblick mit einem Galopp einsetzte, schlang Albert seinen Arm um die Hüfte der Gräfin und verschwand mit ihr im Wirbel der Tänzer. Während dieser Zeit dachte Franz an den seltsamen Schauder, der den ganzen Leib des Grafen in dem Augenblicke durchlaufen hatte, wo er Albert die Hand gereicht hatte.

 

    1. Ich glaube nun an italienische Banditen.

 

    1. Wenn morgens sechs Uhr die viertausend Piaster nicht in meinen Händen sind, so hat Graf Albert um sieben zu leben aufgehört.

 

 

Das Wiedersehen.

 

Das Wiedersehen.

 

Am andern Tage machte Albert seinem Freunde mit dem ersten Worte den Vorschlag, den Grafen zu besuchen. Er hatte ihm zwar bereits gedankt, aber er meinte, daß ein Dienst, wie der Graf ihn geleistet, wohl zwei Danksagungen wert war. Franz, den ein mit Furcht gemischter Zauber zu dem Grafen von Monte Christo hinzog, wollte Albert nicht allein gehen lassen und begleitete ihn. Beide wurden eingeführt, und nach fünf Minuten erschien der Graf.

 

Herr Graf, sagte Albert, ihm entgegengehend, erlauben Sie mir, Ihnen heute zu wiederholen, was ich gestern schlecht ausgedrückt habe: nie werde ich vergessen, unter welchen Umständen Sie mir zu Hilfe gekommen sind, und stets werde ich mich erinnern, daß ich Ihnen das Leben zu verdanken habe.

 

Mein lieber Nachbar, antwortete der Graf lachend, Sie übertreiben Ihre Verbindlichkeiten gegen mich, denn Sie sind mir nicht mehr schuldig, als eine kleine Ersparnis von 20 000 Franken an Ihren Reiseausgaben. Sie sehen, daß es nicht der Mühe wert ist, davon zu sprechen. Empfangen Sie Ihrerseits mein Kompliment, fügte er hinzu, Sie besitzen eine bewunderungswürdige Ungezwungenheit und Leichtigkeit des Benehmens.

 

Was wollen Sie, Herr Graf? entgegnete Albert, ich stellte mir vor, ich hätte Händel gehabt, und ein Duell sei die Folge davon, und so wollte ich dem Banditen begreiflich machen, daß, wenn man sich auch in allen Ländern der Welt schlägt, doch nur die Franzosen sich lachend schlagen. Nichtsdestoweniger, da meine Verbindlichkeit Ihnen gegenüber nicht minder groß ist, komme ich, um Sie zu fragen, ob ich Ihnen nicht durch mich, durch meine Freunde und meine Bekannten in irgend einer Beziehung nützlich sein kann. Mein Vater, der Vicomte von Morcerf, besitzt großen Einfluß in Spanien und in Frankreich. Verfügen Sie über mich und über alle, die mich lieben!

 

Ich gestehe, Herr von Morcerf, erwiderte der Graf, ich erwartete Ihr Anerbieten und nehme es von ganzem Herzen an. Es war sogar meine Absicht, Sie um einen großen Dienst zu bitten. Ich bin nie in Paris gewesen, ich kenne Paris nicht.

 

Wirklich? rief Albert, Sie konnten bis jetzt leben, ohne Paris zu sehen? Das ist unglaublich.

 

Und dennoch ist es so. Doch ich fühle, daß eine längere Unbekanntschaft mit dieser Hauptstadt der intelligenten Welt unverantwortlich ist. Mehr noch, ich hätte die seit langer Zeit unerläßliche Reise dorthin vielleicht schon gemacht, wäre ich mit irgend jemand bekannt gewesen, der mich in diese Welt eingeführt hätte, in der ich mich keiner Verbindung erfreue.

 

Oh! ein Mann wie Sie, rief Albert.

 

Sie sind sehr gütig. Doch da ich eben kein anderes Verdienst von mir kenne, als daß ich mit Ihren reichsten Bankiers in die Schranken zu treten imstande bin, und da ich nicht nach Paris gehe, um an der Börse zu spielen, so hielt mich dieser kleine Umstand zurück. Ihr Anerbieten hat aber nunmehr meinen Entschluß zur Reife gebracht. Machen Sie sich anheischig, mein lieber Herr von Morcerf, – der Graf begleitete diese Worte mit einem seltsamen Lächeln, – wenn ich nach Frankreich komme, mir die Türen dieser Welt zu öffnen, in der ich so fremd sein werde, wie ein Hurone oder ein Cochinchinese?

 

Oh! Herr Graf, mit der größten Freude, um so mehr, als ich nach Paris durch einen mir soeben zugekommenen Brief zurückgerufen werde, worin für mich von einer Verbindung mit einem sehr angenehmen Hause die Rede ist, das in den besten Verhältnissen zu der ganzen Pariser Welt steht.

 

Verbindung durch Heirat? versetzte Franz lachend.

 

Oh! mein Gott, ja. Wenn Sie nach Paris kommen, finden Sie mich als einen gesetzten Mann und vielleicht als Familienvater. Nicht wahr, das wird sich zu meinem natürlichen Ernste gut machen? In jedem Falle wiederhole ich Ihnen, ich und die Meinigen gehören Ihnen mit Leib und Seele.

 

Ich nehme es an, sagte der Graf, denn ich schwöre Ihnen, es fehlte mir nur eine solche Gelegenheit, um Pläne zu verwirklichen, mit denen ich mich seit geraumer Zeit trage.

 

Franz zweifelte keinen Augenblick, diese Pläne seien die, welche der Graf in der Grotte von Monte Christo angedeutet hatte, und er schaute den Grafen, während er sprach, fest an, um auf seinem Gesichte irgend eine Enthüllung der Entwürfe, die ihn nach Paris führten, zu erhaschen; aber es war sehr schwierig, in das Innere dieses Mannes zu dringen, besonders wenn er es mit einem Lächeln verschleierte.

 

Wann werden Sie selbst dort sein? fragte der Graf Albert.

 

In vierzehn Tagen oder spätestens drei Wochen, gerade soviel ich Zeit zur Rückkehr brauche.

 

Wohl! ich gebe Ihnen drei Monate; Sie sehen, ich mache das Maß lang. Und in drei Monaten werden Sie an meine Tür klopfen? rief Albert vor Freude.

 

Wollen Sie ein Wiedersehen auf Tag und Stunde? Ich sage Ihnen, daß ich von einer verzweifelten Pünktlichkeit bin.

 

Auf Tag und Stunde! sagte Albert, das ist mir äußerst angenehm.

 

Wohl, es sei!

 

Und er streckte die Hand nach einem in der Nähe des Spiegels hängenden Kalender aus und fuhr dann fort: Wir haben heute den 21. Februar, es ist halb elf Uhr morgens. Wollen Sie mich am 21. Mai um halb elf Uhr morgens erwarten?

 

Vortrefflich! Das Frühstück wird bereit sein.

 

Wo wohnen Sie?

 

In der Rue du Helder, Nr. 27. Ich wohne im Hotel meines Vaters, aber in einem völlig abgesonderten Hintergebäude.

 

Der Graf nahm seine Schreibtafel und schrieb: Rue du Helder, Nr. 27 am 21. Mai um halb elf Uhr morgens.

 

Und nun seien Sie unbesorgt, sagte der Graf, ich werde pünktlich sein.

 

Ich sehe Sie noch vor meiner Abreise? fragte Albert.

 

Je nachdem, wann reisen Sie?

 

Morgen abend um fünf Uhr.

 

Dann sage ich Ihnen Lebewohl. Ich habe Geschäfte in Neapel und werde erst Samstag oder Sonntag früh zurückkommen. Und Sie, fragte der Graf Franz, reisen Sie ebenfalls, Herr Baron?

 

Ja, nach Venedig. Ich bleibe noch in Italien.

 

Wir werden uns also in Paris nicht sehen?

 

Ich befürchte, nicht die Ehre zu haben.

 

Meine Herren, glückliche Reise, sagte der Graf zu den Freunden und reichte jedem eine Hand. Es war das erstemal, daß Franz die Hand dieses Mannes berührte; er bebte, denn sie war eisig wie die Hand eines Toten. Also, auf Wiedersehen, am 21. Mai um halb elf Uhr morgens, Rue du Helder, Nr. 27, sagte Albert.

 

Hierauf grüßten die jungen Männer den Grafen und entfernten sich.

 

Was haben Sie denn? sagte Albert, in sein Zimmer zurückkehrend, zu Franz, Sie sehen ja ganz sorgenvoll aus?

 

Ja, ich gestehe, der Graf ist ein seltsamer Mann, antwortete Franz, und nur mit Unruhe sehe ich seinem Pariser Aufenthalt entgegen.

 

Mit Unruhe? Ah! Sie sind befangen, lieber Franz! rief Albert.

 

Ob befangen, ob nicht, es ist einmal so.

 

Hören Sie, und es ist mir sehr lieb, daß sich eine Gelegenheit bietet, Ihnen dies zu sagen, ich habe Sie sehr kalt gegen den Grafen gefunden, während mir sein Benehmen gegen Sie tadellos, ja sogar höchst zuvorkommend erschien. Haben Sie etwas Besonderes gegen ihn einzuwenden?

 

Vielleicht.

 

Haben Sie ihn etwa schon irgendwo gesehen, ehe Sie ihm hier begegneten?

 

Allerdings.

 

Wo?

 

Versprechen Sie mir, nicht ein Wort von dem zu sagen, was ich Ihnen mitteilen werde?

 

Ich verspreche es Ihnen.

 

Gut. Hören Sie.

 

Hierauf erzählte Franz seinem Freunde den ganzen Verlauf seines Ausflugs nach der Insel Monte Christo, wie er dort mehrere Schmuggler gefunden und unter diesen Schmugglern einige Banditen. Er verweilte bei allen einzelnen Umständen der feenhaften Gastfreundschaft, die ihm der Graf in seiner Grotte hatte angedeihen lassen; er sprach vom Abendessen, vom Haschisch, von den Statuen, von Wirklichkeit und Traum, und wie am Morgen als Beweis und als Erinnerung an all diese Ereignisse nichts mehr übrig geblieben sei, als eine kleine Jacht, die er am Horizont nach Porto Vecchio segeln sah. Dann ging er auf Rom über, auf die Nacht im Kolosseum, auf das Gespräch über Peppino, das er zwischen dem Grafen und Bampa belauscht und wobei der Graf versprochen habe, die Begnadigung des Banditen zu erlangen.

 

Endlich gelangte er zu dem Abenteuer der vorhergehenden Nacht, zu seiner Verlegenheit, als er gesehen, daß ihm 6 bis 700 Piaster fehlten, um die erforderliche Summe vollständig zu machen, und endlich zu dem Eintreten des Grafen. Albert hörte mit größter Aufmerksamkeit zu.

 

Nun, sagte er, als sein Freund geendigt hatte, was finden Sie daran auszusetzen? Der Graf hat ein eigenes Schiff, weil er reich ist. Gehen Sie nach Portsmouth oder Southampton, und Sie werden die Häfen voll von Jachten sehen, die reichen Engländern gehören, die dieselbe Neigung haben. Um zu wissen, wo er bei seinen Ausflügen anhalten soll, um nicht aus der abscheulichen Küche zu essen, die mich seit vier Monaten vergiftet, um nicht in den niederträchtigen Betten zu liegen, in denen man nicht schlafen kann, läßt er sich ein Absteigequartier auf Monte Christo einrichten. Nachdem er sein Absteigequartier eingerichtet hat, befürchtet er, die toskanische Regierung könnte ihm die Sache verleiden, und er seiner Aufwendungen verlustig gehen; er kauft daher die Insel und nimmt deren Namen an.

 

Aber die Banditen, die sich bei seiner Mannschaft befanden? Was sagen Sie zu dem Einfluß des Grafen auf dergleichen Leute?

 

Ich sage, mein Lieber: Insofern ich aller Wahrscheinlichkeit nach diesem Einfluß das Leben zu verdanken habe, ist es nicht meine Sache, hierüber zu scharf zu urteilen. Statt ihm, wie Sie, ein Hauptverbrechen daraus zu machen, werden Sie begreifen, daß ich ihn entschuldige, nicht weil er mir das Leben gerettet, was vielleicht übertrieben ist, sondern weil er mir 4000 Piaster erspart hat, eine Summe, die gerade 20 000 Franken unseres Geldes gleichkommt, eine Summe, zu der man mich sicherlich in Frankreich nicht angeschlagen hätte, was zum Beweise dient, fügte er lachend bei, daß der Prophet in seinem Vaterlande nie etwas gilt.

 

Wohl! gerade das ist es. Aus welchem Lande ist der Graf? Welche Sprache spricht er? Welches sind seine Existenzmittel? Woher kommt sein ungeheures Vermögen? Wie war der erste Teil seines Lebens beschaffen? Was hat über den zweiten den düsteren, menschenfeindlichen Schatten geworfen? Das wünschte ich an Ihrer Stelle zu wissen.

 

Mein lieber Franz, erwiderte Albert, als Sie beim Empfang meines Briefes sahen, daß Sie seines Einflusses bedurften, sagten Sie zu dem Grafen: Albert von Morcerf, mein Freund, ist in Gefahr; helfen Sie mir, ihn dieser Gefahr entziehen! Nicht wahr? – Ja.

 

Fragte er dann: Wer ist Albert von Morcerf? Woher hat er seinen Namen? Woher sein Vermögen? Welches sind seine Existenzmittel? Welches ist sein Vaterland? Wo ist er geboren? Sprechen Sie, hat er Sie danach gefragt?

 

Ich muß gestehen, nein.

 

Er ist ohne weiteres gegangen und hat mich aus Vampas Händen befreit, wo ich eben keine beneidenswerte Rolle spielte. Nun, mein Lieber, wenn er mich dafür um etwas bittet, was man jeden Tag für jeden italienischen oder russischen Fürsten tut, der durch Paris reist, das heißt, ihn in der Gesellschaft vorzustellen … soll ich ihm das verweigern? Oh, Franz, Sie sind befangen.

 

Tun Sie, wie Sie wollen, lieber Vicomte, versetzte Franz nach kurzem Stillschweigen, denn alles, was Sie mir da sagen, ist dem Anscheine nach völlig richtig; aber darum scheint es mir nicht minder wahr, daß der Graf ein äußerst seltsamer Mann ist.

 

Der Graf von Monte Christo ist ein Menschenfreund; hat er Ihnen nicht gesagt, in welcher Absicht er nach Paris kommt? Nun wohl, er kommt, um sich um den von Monthyon für edle Schriftwerke gestifteten Tugendpreis zu bewerben, und wenn es nur meiner Stimme bedarf, damit er ihn erhält, so werde ich sie ihm geben. Somit wollen wir diesen Gegenstand ruhen lassen, lieber Franz, uns zu Tische setzen und dann Sankt Peter einen letzten Besuch machen.

 

Es geschah, wie Albert sagte, und am andern Tage um fünf Uhr nachmittags trennten sich die jungen Leute, Albert von Morcerf, um nach Paris zurückzukehren, Franz d’Epinay, um vierzehn Tage in Venedig zuzubringen. Doch ehe Albert in den Wagen stieg, übergab er einem Diener im Gasthofe eine Karte für den Grafen von Monte Christo, auf die er unter die Worte: Vicomte Albert von Morcerf, die Worte geschrieben hatte:

 

Am 21. Mai, um halb elf Uhr morgens,

Rue du Helder, Nr. 27.

 

Das Frühstück.

 

Das Frühstück.

 

In dem Hause der Rue du Helder bereitete sich am Morgen des 21. Mai alles vor, um dem Worte des jungen Mannes Ehre zu machen. Albert von Morcerf bewohnte einen Pavillon, der an der Ecke eines großen Hofes und einem andern für die Dienerschaft bestimmten Gebäude gegenüber lag. Nur zwei Fenster dieses Pavillons gingen auf die Straße, während drei nach dem Hof und zwei weitere rückwärts nach dem Garten schauten. Zwischen dem Hofe und dem Garten erhob sich die modische, geräumige Wohnung des Grafen und der Gräfin von Morcerf.

 

Aus der Wahl des zur Wohnung für Albert bestimmten Pavillons leuchtete die zarte Fürsorge einer Mutter, die sich von ihrem Sohne nicht trennen wollte, aber wohl einsah, daß ein junger Mann vom Alter des Vicomte seiner vollen Freiheit bedurfte. Zugleich ergab sich daraus auch der verständige Egoismus des jungen Mannes, dem es das freie, müßige Leben eines minderjährigen Sohnes angetan hatte, das man ihm vergoldete, wie dem Vogel seinen Bauer.

 

Durch die nach der Straße gehenden Fenster konnte Albert sich von den Vorgängen draußen unterrichten, und wenn er sich weiter orientieren wollte, durch eine kleine Tür gehen, die neben der Wohnung des Pförtners angebracht war. Es sah aus, als sei es ein seit Erbauung des Hauses vergessenes und zu fortwährender Vergessenheit verurteiltes Pförtchen, so bestaubt und bescheiden erschien es beim ersten Blick; aber bei näherer Betrachtung zeugten Schloß und Angeln, sorgfältig eingeölt, von einer geheimen beständigen Benutzung.

 

Am Ende eines weiten, stillen, als Vorzimmer dienenden Ganges öffneten sich rechts der nach dem Hofe gehende Speisesaal Alberts und links sein kleiner Salon, von dem man die Aussicht nach dem Garten hatte. Gesträuche und Schlingpflanzen breiteten sich fächerartig von den Fenstern aus und verbargen dem Hofe und dem Garten das Innere der zwei einzigen im Erdgeschosse liegenden Zimmer, in die unbescheidene Blicke hätten dringen können. Im ersten Stocke fanden sich die gleichen Zimmer, außerdem ein drittes, das als Vorzimmer diente. Diese drei Gelasse waren ein Salon, ein Schlafzimmer und ein Boudoir. Der untere Salon war nur eine Art algerischen Rauchzimmers. Das Boudoir des ersten Stockes ging in das Schlafzimmer und stand durch eine unsichtbare Tür mit der Treppe in Verbindung. Es waren, wie man sieht, alle Vorsichtsmaßregeln getroffen.

 

Über diesem ersten Stocke fand sich ein geräumiges Atelier, das man, Mauern und Scheidewände einreißend, vergrößert hatte … ein Pandämonium, das der Künstler dem Stutzer streitig machte. Dort sammelten sich alle Spuren der verschiedenen Neigungen Alberts: Waldhörner, Baßgeigen, Flöten, ein ganzes Orchester, denn Albert hatte einen Augenblick nicht Begabung, sondern Neigung zur Musik gehabt; sodann fanden sich dort Staffeleien, Paletten, Pastelle, auf die Neigung zur Musik war nämlich die Neigung zur Malerei gefolgt, ferner Rappiere, Boxhandschuhe und Stöcke aller Art, denn nach den Überlieferungen der jungen Modeherren der Zeit pflegte Albert mit unendlich mehr Ausdauer, als er dies bei der Musik und Malerei getan, jene drei Künste, welche die Erziehung des Salonlöwen vollenden, die Fechtkunst, das Boxen und die Handhabung des Stockes.

 

Im übrigen bestand die Ausstattung in alten Truhen aus der Zeit Franz I., die mit chinesischem Porzellan, japanischen Vasen, Fayencen von Lucca della Robbia und Platten von Bernard de Palissy gefüllt waren; in antiken Lehnstühlen, worin vielleicht Heinrich IV. oder Ludwig XIII. gesessen hatte, denn zwei von diesen Stühlen waren mit dem geschnitzten Lilienwappen geschmückt. Auf diesen Stühlen lagen durcheinander kostbare Stoffe aus Persien oder Indien. An dem am meisten in die Augen fallenden Platze stand ein prächtiges Piano. Überall, längs den Wänden, über den Türen, an der Decke sah man Schwerter, Dolche, Keulen, Äxte, ganz vergoldete Rüstungen; Kräuterbücher, Haufen von Mineralien, ausgestopfte Vögel u. s. w.

 

Es versteht sich von selbst, daß dieses Zimmer Alberts Lieblingszimmer war.

 

Am Tage des Wiedersehens hatte jedoch der junge Mann sein Hauptquartier in dem kleinen Salon im Erdgeschosse aufgeschlagen und alle Anordnungen zu einem würdigen Empfange seines Gastes getroffen.

 

Um drei Viertel auf zehn Uhr trat ein Kammerdiener ein. Er bildete für gewöhnlich mit einem kleinen Reitknecht, der nur englisch sprach und auf den Namen John antwortete, die ganze Dienerschaft Alberts. Der Kammerdiener, der Germain hieß und das vollkommene Vertrauen seines jungen Herrn genoß, hielt in der Hand einen Stoß Zeitungen, die er auf den Tisch legte, und ein Päckchen Briefe, das er Albert übergab.

 

Albert schaute mit zerstreutem Auge die verschiedenen Schreiben an, wählte zwei mit zarter Schrift und wohlriechenden Umschlägen, öffnete sie und las sie mit einiger Aufmerksamkeit.

 

Lassen Sie Frau Danglars sagen, wandte er sich dann an den Diener, ich nehme den Platz an, den sie mir in ihrer Loge anbietet … Warten Sie doch … im Verlaufe des Tages gehen Sie zu Rosa und melden ihr, ich werde ihrer Einladung zufolge nach der Oper bei ihr zu Nacht speisen; bringen Sie ihr sechs Flaschen ausgesuchten Wein, Cyprier, Xeres und einen Korb Ostender Austern …

 

Um welche Zeit soll gedeckt werden?

 

Servieren Sie um halb elf Uhr. Debray muß vielleicht in sein Ministerium gehen … Und überdies … es ist die Stunde, die ich dem Grafen angegeben habe, am 21. Mai um halb elf Uhr morgens; wenn ich auch nicht erwarte, daß er sein Versprechen hält, so will ich doch pünktlich sein. Wissen Sie nicht, ob die Frau Gräfin aufgestanden ist?

 

Wenn es der Herr Vicomte wünscht, werde ich mich erkundigen.

 

Ja … erbitten Sie sich von ihr einen Likörkasten, meiner ist unvollständig; sagen Sie ihr, ich werde um drei Uhr die Ehre haben, zu ihr zu kommen.

 

Der Kammerdiener ging ab. Albert warf sich auf einen Diwan, blätterte in ein paar Zeitungen, sah nach den Theatern, machte eine Grimasse, als er wahrnahm, daß man eine Oper und kein Ballett gab, warf ein Blatt nach dem andern beiseite und murmelte gähnend: Diese Zeitungen werden in der Tat immer erbärmlicher.

 

In diesem Augenblick hielt ein leichter Wagen vor der Tür, und eine Minute nachher kam der Kammerdiener zurück, um Herrn Lucien Debray zu melden. Ein großer, blonder, bleicher junger Mann, mit grauem, sicherem Auge, dünnen, kalten Lippen, mit weißer Kravatte und einem an einer seidenen Schnur hängenden Monokle trat, ohne zu lächeln, ohne zu sprechen und mit einer halboffiziellen Miene ein. Er war nämlich Privatsekretär des Ministers des Innern. Die beiden jungen Leute sprachen von allerlei Stadtklatsch, und Debray erzählte eben, ihr gemeinschaftlicher Bekannter, Baron von Danglars, habe in spanischen Papieren eine Million gewonnen, als der Kammerdiener eintrat und Herrn Beauchamp anmeldete.

 

Herein! Herein! Furchtbare Feder! rief Albert, aufstehend und dem jungen Manne entgegengehend, hier ist Debray, der Ihr Gegner ist, ohne Sie zu lesen … so sagt er wenigstens.

 

Er hat recht, erwiderte Beauchamp, es geht ihm wie mir, ich kritisiere ihn, ohne zu wissen, was er tut. Doch sage mir, lieber Albert: Frühstücken wir oder speisen wir zu Mittag? Die Deputiertenkammer nimmt mich in Anspruch. Es ist, wie Sie sehen, nicht alles rosa in unserm Berufe.

 

Wir frühstücken nur; wir erwarten noch zwei Personen und setzen uns zu Tische, sobald sie gekommen sind.

 

Ich werde also zum Nachtisch zurückkehren. Heben Sie mir Erdbeeren, Kaffee und Zigarren auf. Ich esse mein Kotelett in der Kammer.

 

Tun Sie das nicht, Beauchamp, denn wir frühstücken Punkt elf Uhr; mittlerweile machen Sie es wie Debray, kosten Sie meinen Xeres und meine Zwiebacke.

 

Gut, ich bleibe; ich muß mich heute unbedingt zerstreuen.

 

Sie machen’s gerade wie Debray, doch mir scheint, wenn das Ministerium traurig ist, sollte die Opposition heiter sein.

 

Ah! sehen Sie, lieber Freund, sagte Debray, Sie wissen nicht, was mir droht. Ich werde heute in der Deputiertenkammer eine Rede von Herrn Danglars hören. Der Teufel hole die konstitutionelle Regierung!

 

Ich begreife, Sie bedürfen eines Vorrats an Heiterkeit.

 

Machen Sie Herrn Danglars‘ Reden nicht schlecht, sagte Albert zu Beauchamp, wenn er auch zur Opposition gehört. Erinnern Sie sich doch, daß die Pariser Chronik von einer Heirat zwischen mir und Fräulein Eugenie Danglars spricht. Ich kann Sie also nicht mit gutem Gewissen die Beredsamkeit eines Mannes anzweifeln lassen, der mir eines Tages sagen soll: Herr Vicomte, Sie wissen, daß ich meiner Tochter zwei Millionen mitgebe.

 

Still doch! sagte Beauchamp, diese Heirat wird nie stattfinden. Der König konnte ihn zum Grafen machen, er kann ihn zum Pair ernennen, aber er wird ihn nie zum Edelmann machen, und der Graf von Morcerf ist ein viel zu aristokratischer Degen, um gegen zwei armselige Millionen in eine Mesalliance zu willigen. Der Vicomte von Morcerf darf nur eine Marquise heiraten.

 

Lassen Sie ihn reden, Morcerf, versetzte Debray nachlässig, und heiraten Sie! Sie heiraten die Etikette eines gewissen Sacks, nicht wahr? Wohl, was liegt Ihnen daran? Es ist besser, ein Wappenschild weniger bei dieser Etikette und eine Null mehr; Sie haben sieben Amseln in Ihrem Wappen, Sie geben Ihrer Frau drei, und es bleiben Ihnen immer noch vier; das ist eine mehr, als Herr von Guise gehabt hat, der beinahe König von Frankreich geworden wäre, und dessen Vetter Kaiser von Deutschland war.

 

Meiner Treu, ich glaube, Sie haben recht, erwiderte Albert zerstreut.

 

Herr von Chateau-Renaud! Herr Maximilian Morel, sagte der Kammerdiener, zwei neue Gäste meldend.

 

Vollzählig also! rief Beauchamp, denn wenn ich mich nicht täusche, erwarteten Sie nur noch zwei Personen, Albert?

 

Morel! murmelte Albert erstaunt; Morel, wer ist das?

 

Doch ehe er vollendet hatte, nahm Herr von Chateau-Renaud, ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, ein Edelmann vom Scheitel bis zur Zehe, Albert bei der Hand und sagte zu ihm: Erlauben Sie mir, mein Lieber, Ihnen den Spahi-Kapitän, Herrn Maximilian Morel, meinen Freund und meinen Retter, vorzustellen, obgleich ein solcher Mann wohl keiner Vorstellung bedarf. Begrüßen Sie meinen Helden, Vicomte.

 

Und er trat auf die Seite, um den großen, edeln, jungen Mann mit der breiten Stirne, mit dem durchdringenden Auge, mit dem schwarzen Schnurrbart vorzustellen, den unsere Leser bereits in Marseille unter so dramatischen Umständen kennen gelernt haben. Eine reiche, halb französische, halb orientalische, stolz getragene Uniform ließ seine breite, mit dem Kreuze der Ehrenlegion geschmückte Brust und die kühnen Linien seines Wuchses noch besser hervortreten.

 

Der junge Mann verbeugte sich mit anmutreicher Höflichkeit.

 

Mein Herr, sagte Albert mit zuvorkommender Freundlichkeit, Herr von Chateau-Renaud wußte zum voraus, welches Vergnügen er mir durch Ihre Bekanntschaft bereiten würde; Sie gehören zu seinen Freunden, lassen Sie sich auch zu den unsern zählen.

 

Sehr gut, rief Chateau-Renaud, Sie können nur wünschen, daß er eintretendenfalls für Sie tun möge, was er für mich getan hat.

 

Und was hat er denn getan? fragte Albert.

 

Oh! es ist nicht der Mühe wert, davon zu reden, sagte Morel; der Herr übertreibt.

 

Wie? entgegnete Chateau-Renaud, es ist nicht der Mühe wert, davon zu reden? Das Leben ist nicht wert, daß man davon spricht …? In der Tat, was Sie da sagen, ist zu philosophisch, mein lieber Herr Morel. Gut für Sie, der Sie Ihr Leben jeden Tag aufs Spiel setzen, aber nicht für mich, der es zufällig einmal in Gefahr brachte.

 

Aus Ihren Worten entnehme ich, daß Ihnen Kapitän Morel das Leben gerettet hat, unterbrach ihn Albert.

 

Ja, es ist so, erwiderte Chateau-Renaud.

 

Bei welcher Gelegenheit? fragte Beauchamp.

 

Sie wissen alle, daß mir der Gedanke kam, nach Afrika zu gehen.

 

Das ist ein Weg, den Ihnen Ihre Ahnen, die Kreuzfahrer, vorgezeichnet haben, mein lieber Chateau-Renaud, bemerkte Morcerf höflich.

 

Ja, doch ich zweifle, daß es bei Ihnen auch die Befreiung des Grabes Christi galt, warf Beauchamp ein.

 

Sie haben recht, Beauchamp, versetzte der junge Aristokrat. Ich ging nur, um mich im Pistolenschießen zu üben. Das Duell widerstrebt mir, wie Sie wissen, seitdem zwei Zeugen, die ich gewählt, um eine Sache beizulegen, mich zwangen, einem meiner besten Freunde den Arm zu zerschmettern … oh! bei Gott, dem armen Franz d’Epinay, den ihr alle kennt.

 

Ah! ja, es ist wahr, ihr habt euch geschlagen, sagte Debray. Aus welcher Veranlassung?

 

Der Teufel soll mich holen, wenn ich mich dessen erinnere, erwiderte Chateau-Renaud; ich weiß nur noch, daß ich mich schämte, ein Talent wie das meinige ruhen zu lassen, und daß ich an den Arabern die Pistolen versuchen wollte, die ich zum Geschenke bekommen habe. Demzufolge schiffte ich mich nach Oran ein und begab mich nach Constantine, wo ich gerade ankam, als die Belagerung aufgehoben wurde. Ich zog mich daher zurück wie die andern. 48 Stunden lang ertrug ich den Regen bei Tage, den Schnee bei Nacht, am dritten Morgen endlich starb mein Pferd vor Kälte. Armes Tier! Als es tot war, mußte ich zu Fuß zurückgehen. Da sprengten sechs Araber im Galopp herbei, mir den Kopf abzuhauen. Ich schoß zwei mit der Flinte, zwei mit meinen Pistolen nieder; aber es blieben noch zwei übrig, und ich hatte keine Waffe mehr. Der eine nahm mich bei den Haaren, weshalb ich sie jetzt kurz trage, denn man kann nicht wissen, was wieder geschieht; der andere zielte mit seinem Yatagan nach meinem Halse, und ich fühlte bereits das kalte Eisen, als dieser Herr, den Sie hier sehen, ebenfalls auf sie eindrang, den, welcher mich bei den Haaren hielt, mit einem Pistolenschuß niederstreckte und dem andern, der mir mit einem Säbelhieb den Hals abschlagen wollte, den Schädel spaltete. Der Herr hatte sich die Aufgabe gestellt, an diesem Tage einen Menschen zu retten, der Zufall wollte, daß ich dies war; wenn ich einmal reich bin, lasse ich dem Zufall eine Statue errichten.

 

Ja, sagte Morel lächelnd, es war am 5. September, am Jahrestage einer wunderbaren Rettung meines Vaters, ich feiere daher auch, soviel in meinen Kräften liegt, diesen Tag jedes Jahr durch irgend eine Handlung.

 

Durch eine heldenmütige, nicht wahr? unterbrach ihn Chateau-Renaud; kurz ich war der Auserwählte, doch das ist noch nicht alles. Nachdem er mich vom Eisen errettet, rettete er mich vor der Kälte, indem er mir seinen Mantel gab; dann schützte er mich vor dem Hunger dadurch, daß er sein kostbares Pferd, von dem wir, vom Hunger getrieben, jeder ein Stück mit großem Appetit verzehrten, mit mir teilte.

 

Ich ahnte, Sie würden mein Freund werden, Herr Graf, sagte Morel; überdies habe ich bereits die Ehre gehabt, Ihnen zu bemerken, daß ich an diesem Tage dem Schicksal eine Gabe als Wiedervergeltung für die Gunst schuldig bin, die uns einst zu teil geworden ist.

 

Die Geschichte, auf die Herr Morel anspielt, fuhr Chateau-Renaud fort, ist eine ganz bewunderungswürdige Geschichte, die er Ihnen eines Tages erzählen wird, wenn Sie nähere Bekanntschaft mit ihm gemacht haben; für heute wollen wir den Magen und nicht das Gedächtnis stärken. Um wieviel Uhr frühstücken Sie, Albert?

 

Um halb elf Uhr.

 

Auf den Punkt? fragte Debray, seine Uhr ziehend.

 

Ah! Sie werden mir doch die fünf Wartminuten gewähren, erwiderte Morcerf, denn ich erwarte ebenfalls einen Retter.

 

Einen Retter wessen?

 

Von mir, bei Gott! antwortete Morcerf. Glauben Sie, man könne mich nicht auch retten, wie einen andern, und nur die Araber schlagen Köpfe ab? Unser Frühstück ist ein philanthropisches Frühstück, und wir werden, wenigstens hoffe ich es, zwei Wohltäter der Menschheit bei Tische haben.

 

Und woher kommt er? fragte Debray.

 

Das weiß ich nicht, erwiderte Albert. Als ich ihn vor drei Monaten einlud, war er in Rom; doch wer kann sagen, welchen Weg er seitdem gemacht hat?

 

Glauben Sie, daß er Pünktlichkeit besitzt? fragte Debray.

 

Ich glaube, daß er alle guten Eigenschaften besitzt.

 

Passen Sie ja auf! Mit Ihren fünf Wartminuten sind’s noch zehn.

 

Ich werde sie benutzen, um Ihnen ein Wort von meinem interessanten Gaste zu sagen. Ich war während des letzten Karnevals in Rom und wurde von Räubern entführt.

 

Es gibt keine Räuber, sagte Debray.

 

Allerdings gibt es welche und zwar abscheuliche, das heißt liebenswürdige, denn ich habe sie zum Fürchten zu schön gefunden. Die Räuber hatten mich also entführt und an einen jammervollen Ort gebracht, den man die Katakomben von San Sebastiano nennt. Man kündigte mir an, ich sei Gefangener gegen Lösegeld für erbärmliche 4000 römische Taler. Zum Unglück besaß ich nicht mehr als fünfzehnhundert; ich war am Ende meiner Reise und mein Kredit erschöpft. Ich schrieb an Franz, daß ich mich, wenn er nicht um sechs Uhr morgens mit den 4000 Talern käme, zehn Minuten später in der Gesellschaft der Heiligen und glorreichen Märtyrer befinden würde, und Luigi Vampa, dies ist der Name meines Räuberhauptmanns, hätte gewissenhaft sein Wort gehalten, das dürfen Sie glauben.

 

Doch Franz kam mit den 4000 Talern? sagte Chateau-Renaud. Zum Teufel! Man ist um 4000 Taler nicht in Verlegenheit, wenn man Franz d’Epinay oder Albert von Morcerf heißt!

 

Nein, er kam einfach in Begleitung des Gastes, den ich Ihnen ankündige und vorzustellen hoffe.

 

Oh! dieser Herr ist also ein Herkules.

 

Nein, er ist ein Mann etwa von meiner Figur.

 

Bis unter die Zähne bewaffnet?

 

Er hatte nicht einmal eine Stricknadel bei sich.

 

Unterhandelte er wegen Ihres Lösegeldes?

 

Er sagte dem Anführer zwei Worte ins Ohr, und ich war frei.

 

Man entschuldigte sich sogar bei Ihnen, daß man Sie festgenommen hatte? sagte Beauchamp.

 

Allerdings, sagte Morcerf.

 

Der Mann war also ein Geisterbanner?

 

Es war der Graf von Monte Christo.

 

Es gibt keinen Grafen von Monte Christo, sagte Debray.

 

Ich glaube nicht, fügte Chateau-Renaud mit der überlegenen Miene eines Mannes bei, der sein europäisches Adelsbuch an den Fingern auswendig weiß, daß irgend wer irgend was von einem Grafen von Monte Christo gehört hat.

 

Verzeihen Sie, meine Herren, sagte Maximilian, ich glaube, ich kann Ihnen einen Fingerzeig geben. Monte Christo ist eine kleine Insel, von der ich die Matrosen im Dienste meines Vaters oft sprechen hörte … ein Sandkorn im Mittelländischen Meere.

 

Ganz richtig, versetzte Albert. Nun, dieses Sandkorns Gebieter und König ist der, von dem ich eben rede; er wird das Grafendiplom irgendwo in Toskana gekauft haben.

 

Ihr Graf ist also reich?

 

Haben Sie Tausendundeine Nacht gelesen?

 

Bei Gott, eine schöne Frage!

 

Wissen Sie denn, ob die Leute, die man dort sieht, reich oder arm sind? Ob ihre Getreidekörner nicht Diamanten oder Rubinen sind? Sie sehen aus wie armselige Fischer, nicht wahr? Plötzlich öffnen Sie Ihnen eine geheimnisvolle Höhle, worin Sie einen Schatz finden, für den man Indien kaufen könnte.

 

Nun?

 

Nun, mein Graf von Monte Christo ist einer von diesen Fischern. Er hat sogar einen entsprechenden Namen angenommen, denn er nennt sich Simbad der Seefahrer und besitzt eine Höhle voll Gold.

 

Und haben Sie diese Höhle gesehen, Morcerf? sagte Beauchamp.

 

Ich nicht, aber Franz. Doch still! Man darf kein Wort davon in seiner Gegenwart sprechen. Franz stieg mit verbundenen Augen in die Höhle hinab und wurde von Stummen und von Frauen bedient, gegen die Kleopatra nur eine Lorette ist. Nur ist er nicht ganz sicher in Beziehung auf diese Frauen, weil er sie erst gesehen hat, nachdem er Haschisch gegessen hatte, so daß möglicherweise das, was er für tanzende Frauen hielt, eine Quadrille von Statuen war.

 

Die jungen Leute schauten Morcerf mit Augen an, als wollten sie sagen: Sind Sie wahnsinnig, oder wollen Sie unser spotten?

 

In der Tat, sagte Morel nachdenklich, ich habe einen alten Matrosen namens Penelon etwas erzählen hören, was mit Herrn von Morcerfs Erzählung übereinstimmt.

 

Ah! rief Albert, es ist ein Glück, daß mir Herr Morel zu Hilfe kommt. Nicht wahr, es ärgert Sie, daß er einen Faden in mein Labyrinth wirft?

 

Verzeihen Sie, lieber Freund, entgegnete Debray, Sie erzählen uns so unwahrscheinliche Dinge.

 

Ja, aber mein Graf von Monte Christo existiert.

 

Bei Gott! Die ganze Welt existiert, ein schönes Wunder also!

 

Allerdings existiert die ganze Welt, aber nicht unter ähnlichen Bedingungen. Nicht die ganze Welt hat schwarze Sklaven, fürstliche Galerien, Waffen wie in der Kasauba, Pferde für 6000 Franken das Stück, eine griechische Geliebte.

 

Haben Sie die griechische Geliebte gesehen?

 

Ja, ich habe sie gesehen und gehört, gesehen im Teatro Argentina, gehört eines Tages, als ich bei dem Grafen frühstückte.

 

Ihr außerordentlicher Mann ißt also?

 

Meiner Treu, wenn er es tut, ist es so wenig, daß es sich nicht der Mühe lohnt, nur davon zu sprechen.

 

Sie werden sehen, es ist ein Vampir.

 

Lachen Sie, wenn Sie wollen. Das war auch die Ansicht der Gräfin G***.

 

Falbes Auge, dessen Stern sich nach Belieben vermindert oder erweitert, sagte Debray; stark hervortretende Gesichtswinkel, herrliche Stirn, Leichenblässe, schwarzer Bart, weiße, spitzige Zähne, Höflichkeit ebenso.

 

Ganz genau getroffen, Lucien, rief Morcerf, das Signalement paßt Zug für Zug. Ja, spitzige, einschneidende Höflichkeit. Er hat mich oft schaudern lassen, so eines Tages, als wir gemeinschaftlich einer Hinrichtung beiwohnten und ich ihn kalt über alle Arten von Hinrichtungen sprechen hörte.

 

Hat er Sie nicht auch in die Ruinen des Kolosseums geführt, um Ihnen das Blut auszusaugen, Morcerf? fragte Beauchamp.

 

Spotten Sie, solange Sie wollen, meine Herren, versetzte Morcerf etwas gereizt. Wenn ich Sie anschaue, Sie, den schönen Pariser, und mir daneben diesen Mann vorstelle, so kommt es mir vor, als wären wir nicht von demselben Geschlechte.

 

Jedenfalls, sagte Chateau-Renaud, ist Ihr Graf in seinen verlorenen Augenblicken ein artiger Mann, abgesehen von seinem Verkehr mit den italienischen Banditen.

 

Es gibt keine italienischen Banditen! sagte Debray.

 

Keine Vampire! fügte Beauchamp hinzu.

 

Keinen Grafen von Monte Christo, sagte Debray. Hören Sie, Albert, es schlägt halb elf Uhr. Gestehen Sie, daß Sie der Alp gedrückt hat, und lassen Sie uns frühstücken!

 

Doch die Pendeluhr hatte vom Schlage noch nicht zu schwingen aufgehört, als die Tür sich öffnete; Germain trat ein und meldete: Der Graf von Monte Christo.

 

Alle Zuhörer fuhren in die Höhe, so sehr hatte sie Morcerfs Erzählung erregt; Albert selbst konnte sich einer ungestümen Bewegung nicht erwehren. Man hatte weder einen Wagen auf der Straße noch Tritte im Vorzimmer gehört; selbst die Tür hatte sich geräuschlos geöffnet.

 

 

Der Graf erschien auf der Schwelle mit der größten Einfachheit gekleidet, aber auch der anspruchsvollste Gesellschaftslöwe hätte an seiner Toilette nichts zu tadeln gefunden. Alles war vom feinsten Geschmack und aufs eleganteste gearbeitet.

 

Er schien kaum fünfunddreißig Jahre alt zu sein, und allen Anwesenden fiel beim ersten Blick die große Ähnlichkeit mit dem von Debray entworfenen Porträt auf.

 

Der Graf trat lächelnd mitten in den Saal und ging auf Albert zu, der ihm mit zuvorkommendem Eifer die Hand reichte.

 

Die Pünktlichkeit, sagte Monte Christo, ist die Höflichkeit der Könige, wie einer Ihrer Fürsten behauptet hat; doch sie ist nicht immer die der Reisenden, trotz ihrem besten Willen. Ich hoffe indessen, mein lieber Vicomte, Sie werden zu gunsten meines guten Willens die paar Sekunden entschuldigen, die ich zu spät erscheine. Fünfhundert Meilen macht man nicht, ohne auf Hindernisse zu stoßen, besonders in Frankreich, wo es, wie mir scheint, verboten ist, die Postillone durchzuprügeln.

 

Herr Graf, erwiderte Albert, ich war eben damit beschäftigt, Ihren Besuch einigen meiner Freunde anzukündigen, die ich aus Veranlassung Ihrer Zusage eingeladen und nun Ihnen vorzustellen die Ehre habe. Es sind dies der Herr Graf von Chateau-Renaud, dessen Adel bis zu den zwölf Pairs hinaufsteigt, und dessen Ahnen an der Tafelrunde gesessen haben; Herr Lucien Debray, Privatsekretär des Ministers des Innern, Herr Beauchamp, ein furchtbarer Journalist, der Schrecken der französischen Regierung, von dem Sie jedoch vielleicht trotz seiner nationalen Berühmtheit in Italien niemals etwas gehört haben, weil seine Zeitung wegen ihrer freien Haltung in Italien nicht zugelassen wird, ferner Herr Maximilian Morel, Kapitän bei den Spahis.

 

Bei diesem Namen machte der Graf, der bis dahin höflich, aber mit echt englischer Kälte und Unempfindlichkeit gegrüßt hatte, einen Schritt vorwärts, und ein leichter rötlicher Ton zog wie ein Blitz über seine bleichen Wangen hin.

 

Der Herr trägt die Uniform der neuen französischen Sieger? sagte er; es ist eine schöne Uniform.

 

Man hätte schwer sagen können, was die Stimme des Grafen so tief ertönen ließ, was den unwillkürlichen Glanz in sein Auge lockte, das so schön, so ruhig, so durchsichtig war, wenn er nicht irgend einen Grund hatte, es zu verschleiern.

 

Sie haben unsre Afrikaner nie gesehen? sagte Albert.

 

Nie, erwiderte der Graf, der nun wieder vollkommen seiner Herr geworden war.

 

Wohl, unter dieser Uniform schlägt eins der bravsten und edelsten Herzen des Heeres.

 

Oh! Herr Vicomte … unterbrach ihn Morel.

 

Lassen Sie mich sprechen, Kapitän. Wir haben soeben von diesem Herrn einen so edelmütigen Zug erfahren, fuhr Albert fort, daß ich mir, obgleich ich ihn heute zum erstenmal sehe, die Gunst erbitte, ihn als meinen Freund vorstellen zu dürfen.

 

Bei diesen Worten konnte man beim Grafen abermals den seltsamen Blick und das leichte Zittern des Augenlides wahrnehmen, wodurch sich bei ihm eine innere Bewegung kundgab. Ah! der Herr hat ein edles Herz, desto besser, sagte er.

 

Dieser mehr dem eigenen Gedanken, als dem, was Albert gesagt hatte, entsprechende Ausruf überraschte alle, besonders Morel, der Monte Christo ganz erstaunt anschaute. Aber der Ton war zu gleicher Zeit so sanft und weich, daß man sich, so seltsam auch der Ausruf erscheinen mußte, unmöglich darüber ärgern konnte.

 

Warum sollte er daran zweifeln? sagte Beauchamp leise zu Chateau-Renaud.

 

In der Tat, versetzte Chateau-Renaud ebenso, der mit seiner Welterfahrenheit und der Schärfe seines aristokratischen Blickes alles bei Monte Christo durchdrungen hatte, was bei ihm zu durchdringen war, in der Tat, Albert hat uns nicht getäuscht; dieser Graf ist eine seltsame Person. Was sagen Sie dazu, Morel?

 

Meiner Treu, sagte Morel, er hat ein offenes Auge und eine sympathische Stimme, und er gefällt mir, trotz der sonderbaren Bemerkung, die er soeben über mich gemacht hat.

 

Meine Herren, sagte Albert, Germain meldet mir, daß aufgetragen ist. Mein lieber Graf, erlauben Sie mir, Ihnen den Weg zu zeigen.

 

Man ging schweigend in den Speisesaal.

 

Meine Herren, sagte der Graf, nachdem er sich gesetzt hatte, erlauben Sie mir ein Geständnis, das zur Entschuldigung für jede Unschicklichkeit dienen soll, die ich begehen dürfte; ich bin fremd, und zwar dergestalt fremd, daß ich zum erstenmal nach Paris komme. Das französische Leben ist mir folglich unbekannt, und ich habe bis jetzt nur ein orientalisches Leben geführt, das den guten Pariser Traditionen am allerwenigsten entspricht. Ich bitte Sie also, mich zu entschuldigen, wenn Sie an mir etwas zu Türkisches, zu Neopolitanisches oder zu Arabisches finden. So, nun lassen Sie uns aber frühstücken, meine Herren!

 

Wie er das alles sagt! murmelte Beauchamp; es ist entschieden ein vornehmer Herr.

 

Ein vornehmer Herr aus fremden Lande, flüsterte Debray.

 

Ein vornehmer Herr in allen Ländern, sagte Chateau-Renaud.

 

Der Graf war, wie man sich erinnern wird, ein mäßiger Esser. Albert befürchtete, das Pariser Leben könnte dem Gast schon von Anfang an durch seine materiellste, aber zugleich notwendigste Seite mißfallen, und sagte daher zu ihm: Mein lieber Graf, ich fürchte, die Küche der Rue du Helder wird Ihnen nicht so sehr munden, als die der Piazza di Spagna. Ich hätte Ihren Geschmack zu Rate ziehen und Ihnen einige Gerichte nach Ihrer Phantasie bereiten lassen sollen.

 

Wenn Sie mich näher kennten, antwortete der Graf lächelnd, so würden Sie sich deswegen nicht die geringste Sorge bei einem Reisenden machen, der abwechselnd von Maccaroni in Neapel, von Polenta in Mailand, von Olla potrida in Valencia, von Pilau in Konstantinopel, von Carick in Indien und von Schwalbennestern in China gelebt hat. Es gibt keine Küche für einen Kosmopoliten wie ich bin. Ich esse von allem und überall, nur esse ich wenig, und heute, wo Sie mir meine Nüchternheit zum Vorwurf machen, habe ich gerade Appetit, denn seit gestern morgen ist nichts über meine Lippen gekommen.

 

Wie, seit gestern morgen? riefen die Gäste; Sie haben seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen?

 

Nein, erwiderte Monte Christo, ich war genötigt, von der Straße abzugehen und in der Gegend von Nimes Erkundigungen einzuziehen; dadurch verspätete ich mich etwas, und dann wollte ich nicht mehr anhalten. Und Sie speisten in Ihrem Wagen? fragte Morcerf.

 

Nein, ich schlief, wie mir dies begegnet, wenn ich mich langweile, ohne den Mut zu haben, mich zu zerstreuen, oder wenn mich hungert, ohne daß ich Lust habe zu essen.

 

Sie können also dem Schlaf befehlen?

 

So ungefähr.

 

Besitzen Sie ein Rezept hierzu?

 

Ein untrügliches.

 

Das wäre gut für uns Afrikaner, die wir nicht immer zu essen und selten zu trinken haben, bemerkte Morel.

 

Ja, erwiderte Monte Christo, doch so vortrefflich mein Rezept für einen Menschen ist wie ich, der ein ausnahmsweises Leben führt, so gefährlich wäre es für eine ganze Armee, die nicht mehr erwachen würde, wenn man ihrer bedürfte.

 

Darf man wissen, worin dieses Rezept besteht? fragte Debray.

 

Oh! mein Gott, ja, ich mache kein Geheimnis daraus. Es ist eine Mischung von vortrefflichem Opium, das ich selbst in Canton geholt habe, um es rein zu besitzen, und vom besten Haschisch, den man im Orient, das heißt zwischen dem Tigris und Euphrat, findet. Man mengt diese beiden Ingredienzien zu gleichen Teilen und macht daraus eine Art von Pillen, die man im Augenblick des Bedürfnisses verschluckt. Zehn Minuten nachher tritt die Wirkung ein. Fragen Sie den Baron Franz d’Epinay, ich glaube, er hat eines Tages davon gekostet.

 

Ja, versetzte Morcerf, er erzählte mir davon, und er bewahrt eine sehr angenehme Erinnerung an diesen Genuß.

 

Sie führen also diese Droge stets bei sich? fragte Beauchamp, der in seiner Eigenschaft als Journalist sehr ungläubig war.

 

Beständig, antwortete Monte Christo.

 

Wäre es unbescheiden, wenn ich Sie bitte, diese Pillen sehen zu dürfen? fuhr Beauchamp fort, in der Hoffnung, den Fremden auf einer Blöße zu ertappen. Nein, mein Herr, erwiderte der Graf; und er zog aus seiner Tasche eine wundervolle Bonbonniére, die aus einem einzigen Smaragd gearbeitet und mit einer Schraube verschlossen war, und die, wenn man sie ausschraubte, ein Kügelchen von grünlicher Farbe und von der Größe einer Erbse durchließ. Dieses Kügelchen hatte einen scharfen, durchdringenden Geruch; es waren vier oder fünf ähnliche in dem Smaragd, der ungefähr ein Dutzend fassen mochte. Die Bonbonniére machte die Runde um die Tafel, doch die Gäste ließen sie mehr umhergehen, um den prachtvollen Smaragd zu bewundern, als um die Pillen zu beriechen.

 

Und diese Speise bereitet Ihnen Ihr Koch? fragte Beauchamp.

 

Nein, erwiderte Monte Christo; ich überlasse meine reellen Genüsse nicht der Willkür unwürdiger Hände. Ich bin ein ziemlich guter Chemiker und bereite meine Pillen selbst.

 

Das ist ein bewunderungswürdiger Smaragd … es ist der größte, den ich je gesehen habe, obgleich meine Mutter als Familienwertstücke verschiedene ziemlich merkwürdige Juwelen besitzt, sagte Chateau-Reuaud.

 

Ich hatte drei gleiche, versetzte Monte Christo; den einen gab ich dem Großsultan, der ihn an seinen Säbel fassen ließ; den andern unserem heiligen Vater, dem Papst, auf dessen Geheiß er auf seine Tiara, als Gegenstück zu einem ähnlichen, aber doch minder schönen Smaragd, einer Gabe Napoleons an seinen Vorgänger Pius VII., eingesetzt wurde. Den dritten behielt ich für mich; ich ließ ihn aushöhlen, was ihm ungefähr die Hälfte seines Wertes benommen, aber für den Gebrauch, zu dem ich ihn bestimmte, bequemer gemacht hat.

 

Alle schauten Monte Christo erstaunt an; er sprach mit so viel Einfachheit, daß er offenbar die Wahrheit sagte oder verrückt sein mußte. Beim Anblick des Smaragds in seinen Händen aber neigte man natürlich zu der ersten Vermutung.

 

Und was haben Ihnen diese beiden Herrscher dagegen gegeben? fragte Debray.

 

Der Großherr die Freiheit einer Frau, antwortete der Graf, unser heiliger Vater, der Papst, das Leben eines Mannes. So war ich einmal in meinem Dasein so mächtig, als hätte mich Gott auf den Stufen eines Thrones geboren werden lassen.

 

Es ist Peppino, den Sie befreit haben, nicht wahr? rief Morcef; für ihn haben Sie Ihr Begnadigungsrecht angewendet?

 

Vielleicht, antwortete Monte Christo lächelnd.

 

Herr Graf, Sie machen sich keinen Begriff, welches Vergnügen es mir bereitet, Sie so sprechen zu hören, sagte Morcerf. Ich hatte Sie zum voraus meinen Freunden als einen fabelhaften Mann, als einen Zauberer aus Tausendundeiner Nacht, als einen Hexenmeister angekündigt; doch die Pariser sind so paradoxe Leute, daß sie die unbestreitbarsten Wahrheiten für Launen der Einbildungskraft halten, wenn diese Wahrheiten nicht in ihrer täglichen Existenz in Erscheinung treten,. Nehmen Sie zum Beispiel hier Debray, der alle Tage liest, und Beauchamp, der täglich druckt, daß man auf dem Boulevard ein verspätetes Mitglied des Jockeyklubs geplündert, daß man vier Personen in der Rue Saint-Denis oder im Faubourg Saint-Germain ermordet hat, daß zehn Diebe in einem Kaffeehause des Boulevard du Temple verhaftet worden sind, und dennoch bestreiten sie das Vorhandensein von Banditen in der römischen Campagna. Sagen Sie ihnen doch selbst, Herr Graf, daß mich Banditen festgenommen, und daß ich ohne Ihre edelmütige Vermittelung aller Wahrscheinlichkeit nach heute die ewige Auferstehung in den Katakomben von San Sebastiano zu erwarten hätte, statt Ihnen in meinem unwürdigen Häuschen in der Rue du Helder ein Frühstück zu geben.

 

Bah! rief Monte Christo, Sie haben mir versprochen, von dieser Kleinigkeit nie zu sprechen. Nicht ich, Herr Graf, entgegnete Morcerf; Sie verwechseln mich mit einem andern, dem Sie wahrscheinlich denselben Dienst geleistet haben, wie mir. Sprechen wir im Gegenteil davon, ich bitte Sie! Denn wenn Sie sich entschließen, hiervon zu reden, so werden Sie mir vielleicht nicht nur das wiederholen, was ich weiß, sondern auch vieles sagen, was ich nicht weiß.

 

Es scheint mir aber, entgegnete der Graf lächelnd, Sie haben bei dieser ganzen Angelegenheit eine genügend wichtige Rolle gespielt, um ebensogut wie ich zu wissen, was vorgefallen ist.

 

Wollen Sie mir versprechen, wenn ich alles sage, was ich weiß, mir Ihrerseits zu sagen, was ich nicht weiß?

 

Das ist nur billig, antwortete Monte Christo.

 

Gut, sagte Morcerf, und sollte es auch auf Kosten meiner Eitelkeit gehen. Ich hielt mich drei Tage lang für den Gegenstand der Liebesblicke einer Maske, die mir als neue Julia oder Poppäa erschien, während ich doch in Wahrheit von einer Bäuerin geködert wurde. Ich weiß nur, daß ich Dummkopf einen jungen Banditen von fünfzehn bis sechzehn Jahren mit bartlosem Kinn und von schlankem Wuchse für diese Bäuerin hielt, der im Augenblick, wo ich mir die Freiheit nehmen wollte, einen Kuß auf seine keusche Schulter zu drücken, mir die Pistole vor die Brust setzte und mich mit Hilfe von sieben oder acht Gefährten in die Katakomben von Sebastiano führte oder vielmehr schleppte. Hier fand ich einen wissenschaftlich gebildeten Banditenanführer, der Cäsars Kommentar las und sich nur bewogen fühlte, seine Lektüre zu unterbrechen, um mir zu sagen, daß ich, wenn ich am andern Morgen um sechs Uhr nicht viertausend Taler in seine Kasse entrichtet hätte, um Viertel auf sieben Uhr zu leben aufhören würde. Der Brief ist noch in Franzens Händen, von mir unterzeichnet und mit einer Nachschrift von Luigi Vampa versehen. Zweifeln Sie an meinen Worten, so schreibe ich an Franz und lasse die Echtheit der Unterschriften bescheinigen. Das ist alles, was ich weiß. Was ich aber nicht weiß, ist der Umstand, wie es Ihnen gelungen ist, den Banditen so große Achtung einzuflößen. Ich gestehe Ihnen, daß Franz und ich von Bewunderung erfüllt waren.

 

Nichts ist einfacher, antwortete der Graf; ich kannte den berüchtigten Vampa seit mehr als zehn Jahren. Als er noch ganz jung und Hirte war, gab er mir eines Tages dafür, daß ich ihm irgend eine Goldmünze schenkte, weil er mir den Weg gezeigt hatte, einen von ihm selbst geschnitzten Dolch, den Sie wohl in meiner Waffensammlung gesehen haben. Später, … hatte er nun dieses Vorkommnis vergessen, oder hatte er mich nicht erkannt … wollte er mich einmal festnehmen; es gelang mir aber im Gegenteil, ihn mit einem Dutzend seiner Leute gefangen zu nehmen. Ich konnte Vampa der römischen Justiz ausliefern, die ziemlich rasch zu Werke geht und in seinem Fall sich noch mehr als gewöhnlich beeilt haben würde, aber ich tat es nicht; ich entließ ihn und die Seinigen.

 

Unter der Bedingung, daß sie nicht mehr sündigen würden, sagte der Journalist lachend. Ich sehe mit Vergnügen, daß sie ihr Wort gewissenhaft gehalten haben.

 

Nein, entgegnete Monte Christo, unter der einzigen Bedingung, daß sie mir und den Meinen Achtung erweisen. Was ich Ihnen sage, kommt Ihnen vielleicht seltsam vor, meine Herren Sozialisten, Progressisten, Humanisten, aber ich kümmere mich nie um meinen Nächsten, ich suche nie die Gesellschaft zu beschützen, die mich nicht beschützt und sich, ich darf es wohl behaupten, im allgemeinen nur mit mir beschäftigt, um mir zu schaden, und indem ich sie gering achte und ihnen gegenüber Neutralität beobachte, sind mir die Gesellschaft und mein Nächster das gleiche schuldig.

 

Das gefällt mir! rief Chateau-Renaud; das ist der erste Mensch, den ich ehrlich und geradeheraus die Selbstsucht predigen höre. Sehr schön, bravo, Herr Graf!

 

Es ist wenigstens offenherzig, bemerkte Morel; doch ich bin überzeugt, der Herr Graf bereut es nicht, daß er einmal von den Grundsätzen abgegangen ist, die er soeben so unbedingt gegen uns ausgesprochen hat.

 

Wieso bin ich von diesen Grundsätzen abgegangen? fragte Monte Christo, der von Zeit zu Zeit Maximilian unwillkürlich so aufmerksam anschaute, daß der kühne junge Mann schon ein paarmal die Augen vor dem klaren, durchsichtigen Blicke des Grafen niedergeschlagen hatte.

 

Mir scheint, antwortete Morel, indem Sie Herrn von Morcerf, der Ihnen unbekannt war, befreiten, dienten Sie Ihrem Nächsten und der Gesellschaft.

 

Deren schönste Zierde er bildet, sagte Beauchamp ernst und leerte mit einem Zuge ein volles Glas Champagner.

 

Herr Graf, rief Morcerf, Sie sind gefangen, Sie, einer der schärfsten Logiker, die ich kenne, und Sie werden sehen, man beweist Ihnen sogleich, daß Sie kein Egoist, sondern ein Philanthrop sind. Ah, Herr Graf, Sie sagen, Sie seien Orientale, Malaie, Indianer, Chinese, Wilder, Sie nennen sich Monte Christo mit Familiennamen, Simbad der Seefahrer mit Vornamen, und an dem Tage, wo Sie Paris zum erstenmal betreten, besitzen Sie bereits das größte Verdienst oder den größten Fehler unserer überschwenglichen Pariser, das heißt, Sie maßen sich Laster an, die Sie nicht haben, und verbergen die Tugenden, die Sie besitzen.

 

Lieber Vicomte, sagte Monte Christo, ich sehe in allem, was ich gesprochen oder getan, nicht das geringste, was des Lobes wert wäre, das ich soeben von Ihnen und diesen Herren empfangen habe. Sie waren kein Fremder für mich, da ich Sie kannte, da ich Ihnen zwei Zimmer abgetreten, da ich Ihnen ein Frühstück gegeben, da ich Ihnen meinen Wagen geliehen, da wir miteinander auf dem Korso die vorüberziehenden Masken betrachtet und von einem Fenster der Piazza del popolo einer Hinrichtung zugeschaut hatten, die einen so gewaltigen Eindruck auf Sie machte, daß Ihnen beinahe übel geworden wäre. Ich frage nun alle diese Herren: Konnte ich meinen Gast in den Händen der Banditen lassen, wie Sie diese Leute nennen? Auch hatte ich, als ich Sie rettete, wie Sie wissen, einen Hintergedanken; ich wollte gern durch Sie in die Pariser Salons eingeführt werden, wenn ich nach Frankreich käme. Sie konnten das damals für einen flüchtigen Einfall halten, heute aber sehen Sie, daß es eine ernste Wahrheit ist, der Sie sich unterwerfen müssen, wenn Sie Ihr Wort nicht brechen wollen.

 

Ich werde es halten, sagte Morcerf, doch ich fürchte sehr, es wird eine Entzauberung bei Ihnen eintreten, lieber Graf, da Sie durch romantische Begebenheiten und phantastische Ereignisse verwöhnt sind. Bei uns finden Sie keine Spur von Episoden der Art, wie sie in Ihrem abenteuerlichen Leben zur Regel gehören. Unser Chimborasso ist der Montmartre, unser Himalaya der Mont-Valérien, unsere große Wüste die Ebene von Grenelle, wo man einen artesischen Brunnen gegraben hat, damit die Karawanen Wasser finden. Wir haben auch Räuber, viele Räuber, wenn auch nicht so viele, wie man sagt, aber diese Räuber fürchten der weitem mehr den kleinsten Spion, als den mächtigsten Herrn: kurz, Frankreich ist ein so prosaisches Land und Paris eine so zivilisierte Stadt, daß Sie in allen unseren Departements keinen Berg finden, auf dem nicht eine Telegraphenstange stände, und keine etwas dunkle Grotte, in der die Polizei nicht hätte eine Glastür einsetzen lassen. Ich kann Ihnen folglich nur einen Dienst leisten, lieber Graf, und für diesen stehe ich zu Ihrer Verfügung: ich kann Sie überall vorstellen oder durch meine Freunde vorstellen lassen. Übrigens brauchen Sie niemand hierzu; mit Ihrem Namen, mit Ihrem Vermögen und Ihrem Geiste – Monte Christo verbeugte sich mit leichtem ironischem Lächeln – stellt man sich überall selbst vor und wird überall gut aufgenommen. Ich kann Ihnen also nur in einer Beziehung nützlich sein. Gereicht es mir bei Ihnen zur Empfehlung, daß ich ein wenig mit dem Pariser Leben vertraut bin, einige Erfahrung im Komfortablen habe und unsere Basare kenne, so verfügen Sie über mich, wenn Sie sich ein bequemes Haus aussuchen wollen. Ich wage es nicht, Ihnen den Vorschlag zu machen, meine Wohnung mit mir zu teilen, wie ich die Ihrige in Rom geteilt habe, ich, der ich mich nicht zum Egoismus bekenne, aber nichtsdestoweniger vorzugsweise Egoist bin; denn bei mir würde es, mich selbst ausgenommen, kein Schatten aushalten, dieser Schatten müßte denn der einer Frau sein.

 

Ah! rief der Graf, das ist ein ganz ehrlicher Vorbehalt. Sie haben mir in der Tat in Rom ein paar Worte von einem Heiratsplane gesagt; darf ich Ihnen zu Ihrer nahe bevorstehenden Verbindung Glück wünschen?

 

Meinem Vater ist daran gelegen, und ich hoffe Ihnen binnen kurzem, wenn nicht meine Frau, doch meine Braut, Fräulein Eugenie Danglars, vorzustellen.

 

Eugenie Danglars! rief Monte Christo, warten Sie doch … ist Ihr Vater nicht der Graf Danglars?

 

Ja, antwortete Morcerf, aber ein Graf neuer Herkunft.

 

Oh! Was tut das? entgegnete Monte Christo. Wenn er nur dem Staate Dienste geleistet hat, welche diese Auszeichnung als gerechte Belohnung erscheinen lassen.

 

Ungeheure Dienste, sagte Beauchamp. Er hat, obgleich in seinem Innern liberal, im Jahre 1829 ein Anlehen von sechs Millionen für den König Karl X. zu stande gebracht und wurde von diesem dafür zum Grafen und Ritter der Ehrenlegion ernannt, und so trägt er das Band nicht an seiner Westentasche, wie man glauben könnte, sondern hübsch am Knopfloch seines Frackes.

 

Oh! rief Morcerf lachend, Beauchamp, Beauchamp, sparen Sie sich das für das Journal Amüsant und den Charivari, aber schonen Sie in meiner Gegenwart meinen künftigen Schwiegervater!

 

Sich an Monte Christo wendend, fragte Morcerf: Sie haben soeben seinen Namen ausgesprochen, wie einer, der den Grafen kennt?

 

Ich kenne ihn nicht, antwortete Monte Christo mit nachlässigem Tone, werde jedoch wahrscheinlich bald seine Bekanntschaft machen, da ich einen offenen Kredit auf ihn durch das Haus Thomson und French in Rom habe.

 

Beim Aussprechen dieser Namen warf der Graf aus einem Winkel seines Auges Morel einen Blick zu.

 

Hatte der Fremde auf Morel eine Wirkung hervorzubringen gehofft, so täuschte er sich nicht. Morel zitterte, wie vom elektrischen Schlag getroffen. Thomson und French, sagte er, kennen Sie dieses Haus?

 

Es sind meine Bankiers in der Hauptstadt der christlichen Welt, antwortete ruhig der Graf, kann ich Ihnen bei diesen Herren in irgend einer Beziehung nützlich sein?

 

Oh! Herr Graf, Sie könnten uns vielleicht in Nachforschungen unterstützen, die bis jetzt fruchtlos gewesen sind. Dieses Haus hat einst dem unsrigen einen großen Dienst geleistet, diesen Dienst aber, ich weiß nicht warum, stets abgeleugnet.

 

Ich stehe zu Befehl, sagte der Graf, sich verbeugend.

 

Aber wir sind vom Gegenstande unseres Gespräches abgekommen, bemerkte Morcerf. Es war davon die Rede, eine taugliche Wohnung für den Grafen von Monte Christo auszusuchen. Also meine Herren, wir wollen uns besinnen! Wo werden wir unsern neuen Gast einquartieren?

 

Im Faubourg Saint-Germain, sagte Chateau-Renaud, der Herr findet dort ein reizendes kleines Hotel zwischen Garten und Hof.

 

Bah! Chateau-Renaud, rief Debray, Sie kennen nur Ihren öden, langweiligen Faubourg Saint-Germain. Hören Sie nicht auf ihn, Herr Graf! Wohnen Sie in der Chaussée-d’Antin, das ist der wahre Mittelpunkt von Paris.

 

Boulevard de l’Opéra, sagte Beauchamp, im ersten Stock, ein Haus mit Balkon, der Herr Graf läßt Kissen von Silberstoff dahin bringen und sieht, seinen Tschibuk rauchend oder seine Pillen schluckend, die ganze Hauptstadt vor seinen Augen vorüberziehen.

 

Haben Sie keinen Gedanken, Morel, daß Sie nichts vorschlagen? sagte Chateau-Renaud.

 

Doch wohl, erwiderte lächelnd der junge Mann; ich habe einen Gedanken, wartete aber, ob sich der Herr Graf nicht durch einen von den glänzenden Vorschlägen, die man ihm macht, verführen lassen würde. Nun, da er nicht geantwortet, glaube ich ihm eine Wohnung in einem reizenden kleinen Hotel … ganz Pompadour … anbieten zu dürfen, das meine Schwester seit einem Jahr in der Rue Meslay gemietet hat.

 

Sie haben eine Schwester? fragte Monte Christo.

 

Ja, mein Herr, eine vortreffliche Schwester.

 

Verheiratet?

 

Seit bald neun Jahren, und so glücklich, als es ein menschliches Geschöpf nur sein kann, antwortete Maximilian; sie hat den Mann geheiratet, den sie liebte, der uns in unserem Unglück treu geblieben ist: Emanuel Raymond.

 

Monte Christo lächelte unmerklich.

 

Ich wohnte dort während meines halbjährigen Urlaubs, fuhr Maximilian fort, und stehe mit meinem Schwager Emanuel mit jeder Auskunft zu Diensten, deren der Herr Graf bedürfen sollte.

 

Einen Augenblick, rief Morcerf, noch ehe der Graf von Monte Christo Zeit gehabt hatte zu antworten. Bedenken Sie wohl, was Sie tun, Herr Morel; Sie wollen einen freien, schrankenlosen Reisenden, Simbad den Seefahrer, an das Familienleben fesseln; Sie wollen aus einem Mann, der gekommen ist, Paris zu sehen und zu genießen, einen Patriarchen machen.

 

Oh nein, erwiderte Morel lächelnd. Meine Schwester ist fünfundzwanzig Jahre alt, mein Schwager dreißig; sie sind beide jung, heiter und glücklich. Zudem wird der Graf in eigenen Räumen leben, völlig sein eigener Herr sein und seine Wirte nur sehen, so oft es ihm beliebt, sich zu ihnen zu begeben.

 

Ich danke, ich danke, sagte Monte Christo, ich werde mich begnügen, Ihrer Schwester und Ihrem Schwager durch Sie vorgestellt zu werden, wenn Sie mir diese Ehre erweisen wollen; aber ich nehme keines von den Anerbieten der Herren an, da schon eine Wohnung für mich bereit steht.

 

Wie? rief Morcerf, Sie wollen im Gasthof absteigen? Das wird sehr unbequem für Sie sein.

 

War ich denn in Rom so übel dran? fragte Monte Christo.

 

Oh! in Rom, entgegnete Morcerf, dort haben Sie fünfzigtausend Piaster ausgegeben, um sich eine Wohnung möblieren zu lassen, doch ich setze voraus, Sie sind nicht geneigt, sich jeden Tag eine solche Ausgabe zu machen.

 

Das hätte mich nicht zurückgehalten, sagte Monte Christo; doch ich war entschlossen, ein Haus in Paris zu haben, ein eigenes Haus, und schickte meinen Kammerdiener voraus, der mir dieses Haus kaufen und möblieren lassen mußte.

 

Haben Sie denn einen Kammerdiener, der Paris kennt? rief Beauchamp.

 

Er kommt, wie ich, zum erstenmal nach Frankreich, mein Herr, ist schwarz und spricht nicht.

 

Dann ist es Ali? versetzte Albert, während alle erstaunt aufblickten.

 

Ja, es ist Ali, mein Nubier, mein Stummer, den Sie, wie ich glaube, in Rom gesehen haben.

 

Allerdings, ich erinnere mich seiner, sagte Morcerf.

 

Aber wie konnten Sie einen Nubier beauftragen, Ihnen ein Haus zu kaufen, einen Stummen, es möblieren zu lassen? Der arme Unglückliche wird alles verkehrt gemacht haben.

 

Sie täuschen sich, Herr; ich bin im Gegenteil überzeugt, daß er alles nach meinem Geschmack eingerichtet hat, denn Sie wissen, mein Geschmack stimmt mit dem gewöhnlichen nicht überein. Er ist vor acht Tagen angekommen und wird in der Stadt mit dem Instinkte eines guten Jagdhunds herumgelaufen sein. Er kennt meine Neigungen, meine Schrullen, meine Bedürfnisse, und ich zweifle nicht, daß er alles nach meinem Sinn gewählt hat. Er wußte, daß ich heute um zehn Uhr ankomme, und wartete auf mich seit neun Uhr an der Barrière de Fontainebleau. Dort übergab er mir dieses Papier, auf dem meine neue Adresse steht; sehen Sie! Monte Christo reichte das Papier Albert, und dieser las: Champs-Elysées Nr. 30.

 

Das ist in der Tat originell, rief Beauchamp unwillkürlich.

 

Und ganz fürstlich, fügte Chateau-Renaud hinzu.

 

Sie kennen Ihr Haus nicht einmal? fragte Debray.

 

Nein, erwiderte Monte Christo. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich die Stunde nicht versäumen wollte. Ich machte meine Toilette im Wagen und stieg vor der Tür des Vicomte aus.

 

Die jungen Leute schauten sich an; sie wußten nicht, ob Monte Christo Komödie spielte; doch alles, was aus dem Munde dieses Mannes kam, trug ein solches Gepräge der Einfachheit, daß man an keine Lüge denken konnte. Warum sollte er auch gelogen haben?

 

Wir werden uns also begnügen müssen, dem Herrn Grafen alle die kleinen Dienste zu leisten, die in unserer Macht liegen, sagte Beauchamp. Ich meinerseits öffne ihm in meiner Eigenschaft als Journalist alle Theater von Paris.

 

Ich danke, versetzte Monte Christo lächelnd, mein Intendant hat bereits Befehl erhalten, mir in jedem eine Loge zu mieten.

 

Ist Ihr Intendant auch ein Nubier, ein Stummer? fragte Debray.

 

Nein, er ist ein Landsmann von Ihnen, soweit man bei einem Korsen überhaupt von Landsmannschaft reden kann, er ist also ein Korse: doch Sie kennen ihn, Herr von Morcerf?

 

Sollte es etwa der brave Signor Bertuccio sein, der so gut Fenster zu mieten versteht?

 

Ganz richtig, Sie haben ihn bei mir an dem Tage gesehen, wo ich Sie beim Frühstück zu empfangen die Ehre hatte. Er ist ein sehr braver Mann, der ein wenig Soldat, ein wenig Schmuggler, ein wenig von allem, was man sein kann, gewesen ist. Ich möchte nicht schwören, daß er nicht einmal mit der Polizei wegen einer Lumperei, etwa wegen eines Messerstichs, in Konflikt gekommen ist.

 

Und Sie haben diesen ehrlichen Weltbürger zum Intendanten gewählt, Herr Graf? sagte Debray. Wieviel stiehlt er Ihnen jährlich?

 

Auf mein Ehrenwort, nicht mehr als ein andrer, dessen bin ich sicher; doch er besorgt meine Angelegenheiten, kennt keine Unmöglichkeit, und ich behalte ihn.

 

Also Sie haben ein völlig eingerichtetes Haus, sagte Chateau-Renaud, ein Hotel in den Champs-Elysées, Bediente, Intendanten; es fehlt Ihnen nur noch eine Geliebte.

 

Albert lächelte; er dachte an die schöne Griechin, die er in der Gesellschaft des Grafen gesehen hatte.

 

Ich habe etwas Besseres, antwortete Monte Christo, ich habe eine Sklavin. Sie mieten Ihre Geliebten im de l’Opéra, im Théâtre des Variétés, ich habe die meinige in Konstantinopel gekauft; sie hat mich sehr viel gekostet, aber ich brauche mich in dieser Beziehung um nichts mehr zu bekümmern.

 

Doch Sie vergessen, sagte Debray lachend, wir sind, wie König Karl gesagt hat, frank dem Namen nach, frank der Natur nach, und somit ist Ihre Sklavin, sobald sie den Fuß auf die Erde Frankreichs gesetzt hat, frei geworden.

 

Wer wird es ihr sagen? fragte Monte Christo.

 

Der nächste beste.

 

Sie spricht nur Neugriechisch.

 

Das ist etwas anderes.

 

Aber wir werden sie wenigstens sehen, fragte Beauchamp, oder besitzen Sie auch Eunuchen, wie Sie einen Stummen haben?

 

Nein, erwiderte Monte Christo, so weit treibe ich den Orientalismus nicht. Jedem von meiner Umgebung steht es frei, mich zu verlassen, und wer mich verläßt, bedarf weder mehr meiner, noch irgend einer andern Person, darum verläßt man mich vielleicht nicht.

 

Inzwischen war man längst beim Nachtisch und bei den Zigarren angelangt.

 

Mein Lieber, sagte Debray, als er aufstand und wegging, zum Wirt, es hat halb drei Uhr geschlagen, Ihr Gast ist entzückend, aber die Gesellschaft mag so gut sein, wie sie will, man verläßt sie doch endlich … zuweilen einer schlechten zu Liebe; ich muß in mein Ministerium zurückkehren. Über den Grafen spreche ich mit dem Minister, und wir erfahren sicherlich, wer er ist.

 

Nehmen Sie sich in acht, entgegnete Morcerf; die Schlauesten haben darauf Verzicht geleistet.

 

Bah! wir haben drei Millionen für unsere Polizei; sie sind allerdings fast immer zum voraus ausgegeben, doch gleichviel, es bleiben immerhin fünfzigtausend Franken, die man hierauf verwenden kann.

 

Und wenn Sie wissen, wer er ist, werden Sie es mir sagen?

 

Ich verspreche es Ihnen. Auf Wiedersehen, meine Herren!

 

Mit diesen Worten verließ Debray die Gesellschaft und rief ganz laut im Vorzimmer: Vorfahren!

 

Gut, sagte Beauchamp zu Albert, ich gehe nicht in die Kammer, aber ich habe nun meinen Lesern etwas Besseres zu bieten, als eine Rede von Danglars.

 

Ich bitte, Beauchamp, erwiderte Morcerf, ich bitte, kein Wort, hiervon; berauben Sie mich nicht des Verdienstes, ihn vorzustellen. Nicht wahr, er ist interessant?

 

Er ist noch mehr, sagte Chateau-Renaud, er ist in der Tat einer der außerordentlichsten Menschen, die ich in meinem Leben gesehen habe. Kommen Sie mit, Morel?

 

Lassen Sie mich nur meine Karte dem Grafen geben, der uns einen Besuch zugesagt hat.

 

Seien Sie versichert, daß ich nicht verfehlen werde, ihn abzustatten, sagte der Graf mit einer Verbeugung.

 

Nachdem hierauf Morel dem Grafen seine Karte überreicht hatte, entfernte er sich mit dem Baron von Chateau-Renaud und ließ Monte Christo mit Morcerf allein.

 

 

Der Unbekannte.

 

Der Unbekannte.

 

Der Tag, den Dantes längst mit offenen Augen erwartet hatte, erschien endlich. Bei seinen ersten Strahlen erhob er sich und stieg, wie am Tage vorher, auf den höchsten Felsen der Insel, um die Gegend zu erforschen. Es war alles öde, wie am Tage vorher.

 

Edmond stieg wieder hinab, hob den Stein auf, füllte seine Taschen mit Edelsteinen, brachte, so gut er konnte, die Bretter und Beschläge der Kiste wieder an ihre Stelle, bedeckte sie mit Erde, stampfte diese Erde ein, warf Sand darauf, um die frisch umgewühlte Stelle dem übrigen Boden gleichzumachen. Dann trat er aus der Grotte hervor, legte die Platte wieder auf, häufte auf die Platte Steine von verschiedener Größe, stopfte Erde in die Zwischenräume, pflanzte in diese Myrten und Heidekraut, bedeckte die neuen Pflanzungen, damit sie wie alte aussähen, mit Staub, verwischte die Spuren seiner ringsum sichtbaren Tritte und erwartete mit Ungeduld die Rückkehr seiner Gefährten. Denn jetzt galt es nicht mehr, seine Zeit mit Beschauung dieses Goldes und dieser Diamanten hinzubringen und, wie ein unnütze Schätze hütender Drache, auf der Insel Monte Christo zu verweilen; er mußte ins Leben, unter die Menschen zurückkehren und in der Gesellschaft den Rang, den Einfluß, die Gewalt erlangen, die in der Welt der Reichtum verleiht, die erste und größte der Kräfte, worüber der Mensch zu verfügen hat.

 

Am sechsten Tage kehrten die Schmuggler zurück; Dantes schleppte sich zum Hafen wie der verwundete Philoktet, und als seine Gefährten landeten, sagte er ihnen, immer noch klagend, es sei eine merkliche Besserung in seinem Zustande eingetreten; dann hörte er seinerseits die Erzählung der Abenteurer an. Die Fahrt war im ganzen nicht schlecht gewesen, und alle, besonders Jacopo, beklagten, daß Dantes nicht mitgemacht habe, und darum seines auf fünfzig Piaster sich belaufenden Anteils am Nutzen verlustig gehe. Edmond verriet sich durch keine Miene, er lächelte nicht einmal bei der Aufzählung der Vorteile, die ihm zugeflossen wären, wenn er die Insel hätte verlassen können. Da die Amalie nur nach Monte Christo gekommen war, um ihn abzuholen, so schiffte er sich ein und folgte dem Patron nach Livorno, wo er sich, da seine Dienstzeit abgelaufen war, von dem alten Seemann verabschiedete. In Livorno ging er zu einem Juden und verkaufte für hunderttausend Franken vier von seinen kleinsten Diamanten. Der Jude hätte sich erkundigen können, wie ein Fischer zu solchen Wertgegenständen komme, aber er hütete sich wohl, denn er gewann an jedem Stein mehrere tausend Franken. Am andern Tage kaufte er eine ganz neue Barke und schenkte sie Jacopo, dem er außerdem noch hundert Piaster gab, damit er sich Leute anwerben könne, alles unter der Bedingung, daß Jacopo nach Marseille ginge und dort über einen Greis, namens Louis Dantes, der in den Allées de Meillan wohnte, und über ein Mädchen in dem Dorfe der Katalonier, namens Mercedes, Erkundigungen einzöge.

 

Jacopo glaubte zu träumen. Edmond erzählte ihm, er sei aus Eigensinn, und weil ihm seine Freunde das Geld zu seinem Unterhalt verweigerten, Seemann geworden, aber bei seiner Ankunft in Livorno habe er die Erbschaft eines Oheims empfangen, der ihn zu seinem alleinigen Erben eingesetzt. Dantes‘ überlegene Bildung verlieh der Erzählung solche Wahrscheinlichkeit, daß Jacopo seine Angabe keinen Augenblick in Zweifel zog.

 

Am andern Morgen ging Jacopo nach Marseille unter Segel; er sollte Edmond auf Monte Christo wiederfinden. An demselben Tage reiste Dantes, ohne zu sagen, wohin, nach Genua ab.

 

In dem Augenblick, wo er hier ankam, machte man eine Probefahrt mit einer kleinen Jacht, die ein Engländer bestellt hatte. Der Erbauer hatte dafür vierzigtausend Franken gefordert; Dantes bot ihm sechzigtausend unter der Bedingung, daß ihm das Schiff noch am selben Tage übergeben würde. Man wurde einig, und der Schiffsbauer erbot sich, Dantes auch eine Mannschaft anzuwerben; aber Dantes dankte und erwiderte, er pflege allein zu schiffen; er wünschte nur, daß man in der Kajüte, oben am Bette, einen Geheimschrank anbringe, in dem sich drei geheime Fächer fänden; dieser Auftrag wurde auch nach den von ihm gegebenen Maßen am andern Tage ausgeführt.

 

Zwei Stunden nachher verließ Dantes den Hafen, von den Blicken einer Menge von Neugierigen begleitet, die den spanischen Herrn sehen wollten, der allein zu schiffen pflegte. Dantes machte seine Sache vortrefflich; mit Hilfe des Steuerruders ließ er sein Schiff alle Bewegungen ausführen, die er wollte, und er gestand, daß die Genueser ihren Ruf als die ersten Schiffsbauer der Welt verdienten. Niemand wußte, wohin der fremde Schiffer fahren würde. Sein Reiseziel war jedoch Monte Christo, wo er gegen das Ende des zweiten Tages ankam. Das Schiff war ein vortrefflicher Segler und hatte die Entfernung in 35 Stunden durchlaufen. Dantes hatte sich die Lage der Küste sehr gut gemerkt, und statt in dem gewöhnlichen Hafen zu landen, warf er in der kleinen Bucht Anker. Die Insel war öde, niemand schien seit Dantes‘ Abreise gelandet zu sein. Er besuchte seinen Schatz; alles war in dem Zustand, wie er es verlassen hatte. Am andern Abend war das ungeheure Vermögen an Bord der Jacht gebracht und in den drei Fächern des Geheimschrankes eingeschlossen. Dantes wartete noch acht Tage. Während dieser Zeit ließ er seine Jacht um die Insel manövrieren und studierte sie, wie der Stallmeister ein edles Pferd. Am achten Tage sah er ein kleines Schiff, das mit vollen Segeln auf die Insel zusteuerte; er erkannte Jacopos Barke, machte ein Signal, das dieser erwiderte, und zwei Stunden nachher lag die Barke neben der Jacht. Auf die beiden Fragen erhielt Edmond eine traurige Antwort; der alte Dantes war tot, Mercedes war verschwunden.

 

Edmond vernahm diese Nachrichten mit ruhiger Miene; aber er stieg an das Land, wohin ihm keiner folgen durfte. Nach zwei Stunden kam er zurück und nahm nun zwei Mann von Jacopos Barke auf seine Jacht über, die ihm beim Manövrieren helfen sollten. Sodann gab er Befehl, nach Marseille zu segeln. Den Tod seines Vaters hatte er vorhergesehen; aber was war aus Mercedes geworden?

 

Ohne sein Geheimnis bekannt werden zu lassen, konnte Dantes einem Agenten keine genügenden Instruktionen geben; überdies wollte er noch andere Erkundigungen einziehen, wobei er sich nur auf sich selbst verließ. Sein Spiegel hatte ihn in Livorno belehrt, daß er keine Gefahr lief, erkannt zu werden; auch standen ihm alle Mittel, sich zu verkleiden, zu Gebote. Eines Morgens lief also die Jacht, nebst der kleinen Barke, kühn in den Hafen von Marseille ein und legte sich gerade vor der Stelle vor Anker, wo man Dantes an jenem Abend unseligen Andenkens nach dem Kastell If eingeschifft hatte.

 

Nicht ohne ein gewisses Beben sah Dantes in dem Sanitätskahne einen Gendarmen auf sich zukommen. Doch mit der vollkommenen Sicherheit, die er erlangt hatte, reichte er ihm einen in Livorno erkauften englischen Paß, und mittels dieses fremden Ausweises, der in Frankreich viel mehr geachtet wird als der französische, stieg er ohne Schwierigkeit ans Land. Das erste, was er erblickte, als er den Fuß auf die Cannebière setzte, war einer von den ehemaligen Matrosen des Pharao. Er schritt gerade auf ihn zu und richtete mehrere Fragen an ihn, die der Matrose beantwortete, ohne nur entfernt durch seine Worte oder sein Gesicht vermuten zu lassen, daß er sich erinnerte, den Fremden je gesehen zu haben.

 

Dantes setzte seinen Weg fort; jeder Schritt, den er tat, brachte eine neue Erschütterung in seinem Herzen hervor; alle Erinnerungen aus seiner Kindheit, unvertilgbare Erinnerungen, erhoben sich auf jedem Platze, an jeder Straßenecke. Als er an das Ende der Rue de Noailles gelangte und die Allées de Meillan erblickte, fühlte er, wie ihm die Knie versagten, und er wäre bald unter die Räder eines Wagens gefallen. Er kam zu dem Hause, das sein Vater bewohnt hatte. Hier lehnte er sich an einen Baum und schaute einen Augenblick nachdenkend den obersten Stock des armseligen Häuschens an; endlich ging er auf die Tür zu, überschritt die Schwelle, fragte, ob keine Wohnung frei sei, und drang, obgleich das Haus besetzt war, so lange in den Hausverwalter, bis dieser hinaufstieg und die Personen, die den obersten Stock bewohnten, im Namen eines Fremden um die Erlaubnis bat, ihre zwei Zimmer sehen zu dürfen.

 

Die Personen, die den kleinen Raum bewohnten, waren ein junger Mann und eine junge Frau, die sich erst acht Tage vorher geheiratet hatten. Als Dantes diese jungen Leute sah, stieß er einen tiefen Seufzer aus. Nichts erinnerte ihn indessen an die Wohnung seines Vaters. Nur die Wände waren dieselben. Dantes kehrte sich nach dem Bette um; es stand an derselben Stelle wie das des früheren Mieters; Dantes‘ Augen befeuchteten sich unwillkürlich mit Tränen; auf diesem Platze mußte der Greis gestorben sein. Die zwei jungen Leute schauten voll Erstaunen den Mann mit der ernsten Stirn an, über dessen Wangen zwei große Tränen flossen, ohne daß sich sein Gesicht nur im geringsten veränderte. Aber da jeder Schmerz etwas Heiliges an sich hat, so richteten die jungen Leute keine Frage an den Unbekannten; sie zogen sich nur etwas zurück, um ihn ungestört weinen zu lassen, und da er sich entfernte, begleiteten sie ihn und sagten ihm, er könne wiederkommen, wann er wolle, und ihr armes Haus würde ihn jederzeit gastfreundlich aufnehmen. Als er am untern Stocke vorbeikam, blieb er vor einer Tür stehen und fragte, ob der Schneider Caderousse immer noch hier wohne; der Hausverwalter antwortete ihm jedoch, der Mann, von dem er spreche, habe schlechte Geschäfte gemacht und führe gegenwärtig die Gastwirtschaft zum Pont du Gard zwischen Bellegarde und Beaucaire.

 

Dantes ging hinab, fragte nach der Adresse des Eigentümers des Hauses der Allées de Meillan, begab sich zu ihm, ließ sich als Lord Wilmore melden (auf diesen Namen lautete sein Paß) und kaufte ihm das Häuschen für die Summe von 25 000 Franken ab, was wenigstens 10 000 Franken mehr war, als es wert sein mochte. Aber Dantes würde eine halbe Million bezahlt haben, wenn man so viel dafür gefordert hätte.

 

An demselben Tage wurden die jungen Leute des fünften Stockes durch den Notar, der den Vertrag gemacht hatte, benachrichtigt, daß ihnen der neue Eigentümer eine Wohnung im ganzen Hause nach ihrer Wahl überlasse, ohne ihren Mietzins zu erhöhen, unter der Bedingung, daß sie ihm die zwei Zimmer, die sie bewohnten, abträten. Dieses seltsame Ereignis beschäftigte acht Tage lang alle Bewohner der Allées de Meillan und gab zu tausend Vermutungen Anlaß, von denen keine der Wahrheit entsprach. Noch mehr Aufregung und Unruhe erregte es aber, daß man den Lord Wilmore im Dorfe der Katalonier umhergehen und in ein armseliges Fischerhäuschen eintreten sah, wo er mehr als eine Stunde blieb, um Erkundigungen über verschiedene Personen einzuziehen, die tot oder seit fünfzehn bis sechzehn Jahren verschwunden waren.

 

Am andern Tage erhielten die Leute, bei denen er eingetreten war, eine ganz neue katalonische Barke zum Geschenk, die mit Schleppnetzen und allem, was man sonst bedarf, ausgerüstet war. Gern hätten die braven Leute dem großmütigen Geber gedankt, doch hatte man ihn, als er sie verließ, einem Matrosen Befehle geben, zu Pferd steigen und aus Marseille wegreiten sehen.

 

Das Wirtshaus zum Pont du Gard.

 

Das Wirtshaus zum Pont du Gard.

 

An der Straße zwischen Beaucaire und Bellegarde liegt mit der Rückseite nach der Rhone zu ein altes, verwahrlostes Gasthaus. Seit etwa acht Jahren wurde diese kleine Wirtschaft von einem Manne und einer Frau geführt, deren einzige Dienerschaft ein Stubenmädchen, genannt Toinette, und ein Hausknecht, namens Pacaud, bildeten, die indessen für die Bedürfnisse des Dienstes genügten, seitdem ein von Beaucaire nach Aigues-Mortes gegrabener Kanal der Landstraße den Frachtverkehr entzogen hatte.

 

Der Mann, der diese kleine Wirtschaft führte, war ungefähr vierzig Jahre alt, groß, mager und nervig, der wahre südliche Typus, mit seinen tiefliegenden, glänzenden Augen, seiner adlerförmigen Nase und seinen Zähnen, so weiß wie die eines fleischfressenden Tieres. Seine Haare waren, wie sein dichter, krauser Bart, kaum mit etwas Grau vermischt, sein von Natur bräunlicher Teint hatte sich noch tiefer gebräunt, weil sich der arme Teufel vom Morgen bis zum Abend auf seiner Türschwelle aufzuhalten pflegte, um zu sehen, ob ihm nicht zu Fuß oder zu Wagen ein Kunde zukäme, eine Erwartung, in der er fast immer getäuscht wurde, indes er sich vor der sengenden Sonnenhitze nach der Weise der spanischen Maultiertreiber nur durch ein um den Kopf gewickeltes rotes Taschentuch zu schützen suchte. Dieser Mann war unser alter Bekannter Gaspard Caderousse. Seine Frau sah im Gegenteil bleich und kränklich aus. In der Gegend von Arles geboren, war ihr Gesicht, obwohl die ursprünglichen Spuren der bekannten Schönheit ihrer Landsleute bewahrend, langsam unter dem Einfluß eines fast beständigen Sumpffiebers verfallen. Sie hielt sich, fast immer vor Kälte zitternd, in ihrem im ersten Stocke liegenden Zimmer auf, entweder in einem Lehnstuhle ausgestreckt, oder an ihrem Bette lehnend, während ihr Mann an der Tür seine gewöhnliche Wache bezog, die sich um so länger ausdehnte, als ihn seine magere Ehehälfte, so oft er sich wieder mit ihr zusammenfand, mit ihren ewigen Klagen gegen das Schicksal verfolgte, die er gewöhnlich nur mit den philosophischen Worten erwiderte: Schweig, Carconte, Gott will es so!

 

Trotz dieser anscheinenden Fügsamkeit in die Beschlüsse der Vorsehung darf man indessen nicht glauben, daß unser Wirt den armseligen Zustand nicht erkannte, in den ihn der elende Kanal von Beaucaire versetzt hatte, und daß er unverwundbar gegen die ewigen Klagen blieb, mit denen ihn seine Frau verfolgte. Er war, wie alle Südländer, ein mäßiger Mensch und ohne große Bedürfnisse, aber eitel in äußeren Dingen. So ließ er in den Zeiten seines Wohlstandes nie eine Prozession vorübergehen, ohne sich dabei mit der Carconte zu zeigen, er in der malerischen Tracht des Südfranzosen, die die Mitte zwischen der des Andalusiers und des Kataloniers hält, sie in dem reizenden Gewande der Frauen von Arles, das Griechenland und Arabien entlehnt zu sein scheint. Allmählich aber waren Uhrketten, Halsbänder, tausendfarbige Gürtel, gestickte Leibchen, Samtwesten, Strümpfe mit zierlichen Zwickeln, bunte Gamaschen, Schuhe mit silbernen Schnallen verschwunden, und Caderousse, der sich nicht mehr in seinem ehemaligen Glanze zeigen konnte, hatte für sich und seine Frau Verzicht geleistet auf alles weltliche Gepränge, dessen freudiges Geräusch bis in sein armseliges Wirtshaus drang, das ihm mehr als Schirmdach, denn als Einnahmequelle diente.

 

Caderousse hatte sich seiner Gewohnheit gemäß am Morgen vor der Tür aufgehalten und seinen schwermütigen Blick von einem Stückchen kahlen Rasens, woraus ein paar Hühner kauerten, nach den Enden der öden Landstraße spazieren lassen, die einerseits nach Süden und anderseits nach Norden lief, als ihn plötzlich die spitzige Stimme seiner Frau seinen Posten zu verlassen nötigte. Er ging brummend hinein und stieg in den ersten Stock hinauf, ließ aber nichtsdestoweniger seine Tür weit offen stehen, als wollte er die Reisenden einladen, ihn im Vorbeigehen nicht zu vergessen.

 

In dem Augenblick, wo Caderousse hineinging, näherte sich von Bellegarde her ein Reiter. Es war ein Priester mit schwarzem Rock und dreieckigem Hute, der vor der Tür anhielt. Der Reiter stieg ab, zog das Pferd am Zügel nach und band es an; dann schritt er, seine von Schweiß triefende Stirn mit einem roten Tuche abwischend, auf die Tür zu und tat mit dem eisernen Ende seines Stockes drei Schläge auf die Schwelle.

 

Sogleich erhob sich ein großer schwarzer Hund, bellend und seine weißen, scharfen Zähne zeigend. Alsdann erschütterte ein schwerer Tritt die hölzerne Treppe.

 

Hier bin ich! sagte Caderousse ganz erstaunt, hier bin ich. Willst du schweigen, Margotin. Fürchten Sie sich nicht, Herr, er bellt, aber er beißt nicht. Was wünschen Sie, was verlangen Sie, Herr Abbé? Ich stehe zu Befehl.

 

Der Priester schaute den Mann ein paar Sekunden lang mit seltsamer Aufmerksamkeit an, er schien sogar seinerseits die Aufmerksamkeit des Wirtes auf sich lenken zu wollen; als er aber sah, daß die Züge des letzteren kein anderes Gefühl ausdrückten, als ein Erstaunen darüber, daß er keine Antwort erhielt, sagte er mit stark italienischem Ton: Sind Sie nicht Monsou Caderousse?

 

Ja, Herr, antwortete der Wirt noch mehr erstaunt, ich bin es in der Tat, Gaspard Caderousse, Ihnen zu dienen.

 

Gaspard Caderousse? … Ja … ich glaube, das ist der Vorname, nicht wahr, Sie wohnten einst in der Allée de Meillan, im vierten Stocke? – Ja.

 

Und Sie trieben dort das Gewerbe eines Schneiders?

 

Ja, aber die Sache nahm eine schlimme Wendung. Es ist so heiß in dem spitzbübischen Marseille, daß man sich dort am Ende gar nicht mehr kleiden wird. Doch was die Hitze betrifft, wollen Sie sich nicht erfrischen, Herr Abbé?

 

Allerdings! geben Sie mir eine Flasche von Ihrem besten Wein, und wir nehmen dann, wenn’s Ihnen beliebt, das Gespräch wieder auf, wo wir es verlassen.

 

Um die Gelegenheit nicht zu versäumen, eine von den letzten Flaschen Cahors-Wein, die ihm blieben, anzubringen, beeilte sich Caderousse, seinem Gast eine solche vorzusetzen. Als er nach Verlauf von fünf Minuten zurückkehrte, fand er den Abbé auf einem Schemel sitzend, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, während Margotin, der Frieden mit ihm gemacht zu haben schien, seinen fleischlosen Hals und seinen Kopf mit dem schmachtendem Auge auf dem Schenkel des Priesters ausstreckte.

 

Sie sind allein? fragte der Abbé seinen Wirt, während dieser die Flasche und ein Glas vor ihn stellte.

 

Oh! mein Gott, ja, allein oder beinahe so, denn ich habe eine Frau, die mich in nichts unterstützen kann, weil sie immer krank ist, die arme Carconte.

 

Ah! Sie sind verheiratet? sagte der Priester mit einer gewissen Teilnahme und warf einen Blick umher auf das elende Mobiliar des armseligen Haushalts.

 

Sie finden, daß ich nicht reich bin, nicht wahr? sagte Caderousse seufzend; aber was wollen Sie, um in dieser Welt zu gedeihen, genügt es nicht, ein ehrlicher Mann zu sein!

 

Der Abbé heftete einen durchdringenden Blick auf ihn.

 

Ja, ein ehrlicher Mann, dessen kann ich mich rühmen, sagte der Wirt, der den Blick des Abbés aushielt, und in unseren Zeiten kann das nicht jeder von sich sagen.

 

Desto besser, wenn Sie wahr reden, versetzte der Abbé; denn ich habe die Überzeugung, daß früher oder später der ehrliche Mann belohnt und der schlechte bestraft wird.

 

Sie, als Priester, sagen dies wohl, Herr Abbé! versetzte Caderousse mit bitterem Ausdruck. Doch es steht jedem frei, nicht zu glauben, was Sie sagen.

 

Sie haben unrecht, daß Sie so sprechen, mein Herr; denn vielleicht werde ich selbst für Sie der Beweis dessen sein, was ich behaupte.

 

Wie soll ich das verstehen? fragte Caderousse mit erstaunter Miene.

 

Ich muß mich vor allem versichern, daß Sie wirklich der sind, den ich suche.

 

Welche Beweise soll ich Ihnen geben?

 

Haben Sie im Jahre 1814 oder 1815 einen Seefahrer namens Dantes gekannt?

 

Dantes! Ob ich ihn gekannt habe, den armen Edmond! Ich glaube wohl; er war sogar einer meiner besten Freunde! rief Caderousse, dessen Gesicht Purpurröte überströmte, während sich das klare, sichere Auge des Abbés zu erweitern schien.

 

Ja, ich glaube, er hieß wirklich Edmond.

 

Was ist aus dem armen Edmond geworden, mein Herr? fuhr der Wirt fort; haben Sie ihn vielleicht gekannt? Lebt er noch, ist er frei? Ist er glücklich?

 

Er ist im Gefängnis gestorben, elender und verzweiflungsvoller, als die Galeerensklaven, die ihre Kugel in dem Bagno von Toulon schleppen.

 

Eine Totenblässe überflog Caderousses Antlitz. Er wandte sich um, und der Abbé sah, wie er eine Träne mit einer Ecke seines roten Tuches trocknete.

 

Armer Kleiner, murmelte Caderousse. Das ist abermals ein Beweis von dem, was ich Ihnen sagte, Herr Abbé, daß nämlich der gute Gott nur für die Schlechten gut sei. Oh, diese Welt wird immer schlechter.

 

Sie scheinen diesen Jungen von ganzem Herzen lieb gehabt zu haben? fragte der Abbé.

 

Oh! ich liebte ihn ungemein, obgleich ich mir vorzuwerfen habe, daß ich ihn einen Augenblick um sein Glück beneidete. Aber seitdem, das schwöre ich Ihnen, so wahr ich Caderousse heiße, habe ich sein unseliges Geschick sehr beklagt.

 

Es trat ein augenblickliches Stillschweigen ein, während dessen der feste Blick des Abbés nicht eine Sekunde die bewegliche Physiognomie des Wirtes zu erforschen aufhörte. Und Sie haben ihn also gekannt, den armen Kleinen? fuhr Caderousse fort.

 

Ich wurde an sein Sterbebett gerufen, um ihm die letzten Tröstungen der Religion zu bieten.

 

Und woran starb er? fragte Caderousse mit halb erstickter Stimme.

 

Woran stirbt man im Gefängnis im Alter von dreißig Jahren, wenn nicht am Gefängnis selbst?

 

Caderousse trocknete den Schweiß ab, der von seiner Stirn floß.

 

Das Seltsamste bei alledem ist, fuhr der Abbé fort, daß mir Dantes auf seinem Sterbebette bei dem Christus, dessen Füße er küßte, wiederholt schwur, er wisse die wahre Ursache seiner Gefangenschaft gar nicht.

 

Das ist richtig, murmelte Caderousse, er konnte sie nicht wissen; nein, Herr Abbé, der Kleine log nicht.

 

Darum beauftragte er mich, sein Unglück aufzuklären, was er nie selbst zu tun imstande gewesen war, und sein Andenken zu reinigen, wenn ein Flecken darauf ruhte.

 

Und der Blick des Abbés wurde immer starrer und verschlang fast den düstern Ausdruck, der auf Caderousses Antlitz hervortrat.

 

Ein reicher Engländer, fuhr der Abbé fort, sein Unglücksgefährte, der das Gefängnis bei der zweiten Restauration verließ, war Besitzer eines Diamanten von großem Werte. Als er von Dantes, der ihn während einer Krankheit, die er ausgestanden, wie ein Bruder gepflegt hatte, Abschied nahm, wollte er ihm einen Beweis seiner Dankbarkeit zurücklassen und gab ihm diesen Diamanten. Statt sich desselben zu bedienen, um die Gefängniswärter zu bestechen, die den Edelstein ja nehmen und ihn hernach verraten konnten, bewahrte er ihn stets als ein kostbares Kleinod, falls er aus dem Gefängnis käme, denn wenn ihm dies gelang, so war sein Glück durch den Verkauf dieses Diamanten allein gesichert.

 

Es war also, wie Sie sagen, ein Diamant von großem Werte? fragte Caderousse mit glühenden Augen.

 

Alles beziehungsweise, erwiderte der Abbé; er war für Edmond von großem Werte; man hat den Stein auf fünfzigtausend Franken geschätzt.

 

Fünfzigtausend Franken! rief Caderousse; er war also so groß wie eine Nuß?

 

Nein, nicht ganz; doch Sie mögen selbst urteilen, ich habe ihn bei mir. Und der Abbé zog aus seiner Tasche ein kleines Futteral von schwarzem Saffianleder, öffnete es und ließ vor Caderousses geblendeten Augen den herrlichen Stein funkeln, der in einen Ring von bewunderungswürdiger Arbeit gefaßt war.

 

Und das ist fünfzigtausend Franken wert? fragte Caderousse gierig.

 

Ohne die Fassung, die auch ihren Preis hat, sagte der Abbé, machte das Futteral zu und steckte den Diamanten, der in Caderousses Phantasie fortfunkelte, in seine Tasche.

 

 

Aber woher besitzen Sie diesen Diamanten, Herr Abbé? fragte Caderousse; haben Sie ihn von Edmond?

 

Ja, als sein Testamentsvollstrecker. Ich hatte drei gute Freunde und eine Braut, sagte er zu mir; alle vier, ich bin überzeugt, beklagen mich bitterlich; der eine dieser Freunde hieß Caderousse.

 

Caderousse bebte.

 

Der andere, fuhr der Abbé fort, ohne daß er Caderousses Erregung wahrzunehmen schien, hieß Danglars; der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls …

 

Ein teuflisches Lächeln entstellte Caderousses Züge, und er machte eine Bewegung, um den Abbé zu unterbrechen.

 

Warten Sie, sagte der Abbé, lassen Sie mich vollenden, und wenn Sie etwas zu bemerken haben, so können Sie es dann sogleich tun. Der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls und hieß Fernand; der Name meiner Braut war … Ich erinnere mich des Namens der Braut nicht mehr, sagte der Abbé.

 

Mercedes.

 

Ah! ja, versetzte der Abbé mit unterdrücktem Seufzen. Die Braut hieß Mercedes; ja, so ist es. Sie gehen nach Marseille … Verstehen Sie? So sprach Dantes.

 

Ich verstehe.

 

Sie verkaufen diesen Diamanten, Sie machen fünf Teile und geben sie diesen guten Freunden, den einzigen Wesen, die mich auf Erden geliebt haben.

 

Wie, fünf Teile? fragte Caderousse; Sie haben mir nur vier Personen genannt!

 

Weil die fünfte tot ist, wie ich erfuhr … Die fünfte war Dantes‘ Vater.

 

Ach! ja, sagte Caderousse, erschüttert durch die Leidenschaften, die sich in seinem Innern durchkreuzten; ach! ja, der arme Mann ist tot.

 

Ich habe das in Marseille erkundet, erwiderte der Abbé, der Mühe hatte, gleichgültig zu erscheinen; aber der Tod ist schon so lange erfolgt, daß ich über die näheren Umstände nichts erfahren konnte … Wissen Sie vielleicht etwas von dem Ende des Greises?

 

Ei! erwiderte Caderousse, wer kann das besser wissen, als ich? … Ich wohnte Tür an Tür mit dem guten Mann.

 

… Ei! mein Gott; ja, ein Jahr nach dem Verschwinden seines Sohnes starb der arme Greis!

 

Woran starb er?

 

Die Ärzte nannten die Krankheit; er starb, glaube ich, an einer Art Magendarmentzündung; seine Bekannten sagten, er sei vor Schmerz gestorben; … ich aber, der ich ihn beinahe verscheiden sah, sage, er starb …

 

Woran? versetzte der Priester voll Angst.

 

Hungers!

 

Hungers? rief der Abbé, von seinem Schemel aufspringend; Hungers! Die schlechtesten Tiere sterben nicht Hungers; die Hunde, die in den Straßen umherirren, finden eine mitleidige Hand, die ihnen ein Stück Brot zuwirft, und ein Mensch, ein Christ ist vor Hunger gestorben, mitten unter andern Menschen, die sich Christen nannten, wie er? Unmöglich! oh! das ist unmöglich!

 

Was ich gesagt habe, habe ich gesagt, sagte Caderousse.

 

Und du hast unrecht gehabt, rief eine Stimme auf der Treppe; worein mischst du dich?

 

Die Männer wandten sich um und erblickten durch das Treppengeländer Carcontes fiebrigen Kopf; sie hatte sich bis hierher geschleppt und belauschte, auf der letzten Stufe sitzend und den Kopf auf ihre Knie stützend, das Gespräch.

 

Worein mischst du dich, Frau? entgegnete Caderousse. Der Herr verlangt Auskunft, die Höflichkeit will, daß ich ihm entspreche.

 

Ja, aber die Klugheit will, daß du ihm die Auskunft weigerst. Wer sagt dir, in welcher Absicht man dich zum Sprechen veranlaßt, Dummkopf?

 

In einer vortrefflichen, Madame, dafür stehe ich Ihnen, versetzte der Abbé. Ihr Gatte hat nichts zu befürchten, falls er offenherzig antwortet!

 

Nichts zu befürchten … ja, man fängt mit schönen Versprechungen an, hernach beschränkt man sich darauf, zu sagen, man habe nichts zu befürchten; dann geht man und hält nichts von dem, was man versprochen hat, und eines Morgens bricht das Unglück über die armen Leute herein, ohne daß man weiß, woher es kommt.

 

Seien Sie unbesorgt, gute Frau, erwiderte der Abbé, das Unglück wird von meiner Seite nicht über Sie kommen, dafür stehe ich.

 

Die Carconte brummte ein paar Worte, die man nicht verstehen konnte, ließ ihren Kopf wieder auf die Knie sinken, zitterte, fortwährend vom Fieber geschüttelt, und stellte es ihrem Manne frei, das Gespräch fortzusetzen, jedoch nur so, daß sie kein Wort davon verlor.

 

Mittlerweile hatte der Abbé einige Schluck Wasser getrunken und sich etwas gesammelt.

 

Dieser unglückliche Greis, fuhr er fort, war also dergestalt von aller Welt verlassen, daß er eines solchen Todes starb?

 

Oh! Herr, antwortete Caderousse, nicht als hätten ihn Mercedes, die Katalonierin, oder Herr Morel verlassen, aber der unglückliche Greis hatte einen solchen Widerwillen gegen Fernand gefaßt, gerade gegen den, fügte Caderousse mit einem ironischen Lächeln bei, den Dantes Ihnen als einen seiner Freunde bezeichnete.

 

Er war es also nicht? fragte der Abbé.

 

Kann man der Freund eines Menschen sein, dessen Frau man begehrt? Dantes, der ein Goldherz war, nannte alle diese Leute seine Freunde. Armer Edmond! … Es ist besser, daß er nichts erfahren hat; … es hätte ihn zu sehr gequält, ihnen im Augenblick des Todes verzeihen zu sollen. Und was man auch sagen mag, fuhr Caderousse in seiner bilderreichen Sprache fort, mir graut noch mehr vor dem Fluche der Toten, als vor dem Hasse der Lebendigen.

 

Schwachkopf, sagte die Carconte.

 

Sie wissen also, was dieser vermeintliche Freund gegen Dantes getan hat? fragte der Abbé.

 

Ob ich es weiß! Ich glaube wohl!

 

Gaspard, tu, was du willst, ’s ist deine Sache, rief die Frau oben von der Treppe herab, doch wenn du mir Gehör schenktest, sagtest du nichts.

 

Diesmal glaube ich, daß du recht hast, Frau.

 

Sie wollen also nichts sagen? versetzte der Abbé.

 

Wozu soll es nützen? sagte Caderousse. Wenn der Kleine noch am Leben wäre und zu mir käme, um einmal alle seine Freunde und Feinde kennen zu lernen, dann wohl; aber er liegt unter der Erde, wie Sie mir sagen, er kann keinen Haß mehr haben, er kann sich nicht mehr rächen, folglich ausgelöscht die ganze Geschichte!

 

Ich soll also diesen Leuten, die Sie für unwürdige und falsche Freunde erklären, eine für die Treue bestimmte Belohnung geben?

 

Es ist wahr, Sie haben recht, erwiderte Caderousse. Was wäre überdies für sie jetzt das Legat des armen Edmond? Ein in das Meer fallender Tropfen Wasser.

 

Abgesehen davon, daß dich diese Leute mit einer Gebärde vernichten können, sagte die Fran.

 

Wieso? Diese Menschen sind also reich und mächtig geworden?

 

Sie kennen Ihre Geschichte nicht?

 

Nein; erzählen Sie!

 

Caderousse schien einen Augenblick nachzudenken und sprach sodann: Nein, es wäre in der Tat zu lang.

 

Sie mögen nach Ihrem Belieben schweigen, mein Freund, versetzte der Abbé mit dem Tone der größten Gleichgültigkeit, und ich ehre Ihre Bedenklichkeiten; sprechen wir nicht mehr davon! Womit wurde ich beauftragt? Mit einer einfachen Förmlichkeit. Ich werde also diesen Diamanten verkaufen.

 

Und er zog den Edelstein aus der Tasche, öffnete das Futteral und ließ ihn abermals vor Caderousses geblendeten Augen glänzen.

 

Sieh doch, Fran, sagte dieser mit heiserer Stimme.

 

Ein Diamant? sagte die Carconte, aufstehend und mit ziemlich festem Schritte die Treppe herabsteigend. Was ist’s mit diesem Diamanten?

 

Hast du denn nicht gehört, Frau? Es ist ein Diamant, den uns der Kleine vermacht hat, zuerst seinem Vater, sodann Fernand, Danglars, mir und Mercedes, seiner Braut. Dieser Diamant ist fünfzigtausend Franken wert.

 

Oh, der schöne Juwel! rief sie.

 

Also gehört der fünfte Teil dieser Summe uns? fragte Caderousse.

 

Ja, antwortete der Abbé, nebst dem Teile des Vaters von Dantes, den ich unter euch vier zu verteilen mich berechtigt glaube.

 

Und warum unter uns vier? fragte Caderousse.

 

Weil ihr Edmonds vier Freunde seid.

 

Verräter sind keine Freunde, murmelte dumpf die Frau.

 

Ja, ja, sagte Caderousse, das sagte ich auch. Es ist eine Entheiligung, ein Frevel, den Verrat, vielleicht das Verbrechen zu belohnen.

 

Sie wollen es so haben, erwiderte der Abbé und steckte ruhig den Diamanten in die Tasche seiner Soutane. Nun geben Sie mir die Adresse von Edmonds Freunden, damit ich seinen letzten Willen vollstrecken kann.

 

Der Schweiß floß in schweren Tropfen über Caderousses Stirn; er sah den Abbé aufstehen, sich nach der Tür wenden, als wollte er seinem Pferde einen Blick zuwerfen, und zurückkommen. Caderousse und seine Frau schauten sich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an.

 

Der Diamant wäre ganz unser! sagte Caderousse.

 

Glaubst du? erwiderte seine Frau.

 

Ein Geistlicher wird uns gewiß nicht täuschen wollen.

 

Tu, was du willst. Ich wenigstens mische mich nicht drein.

 

Und sie ging fieberschauernd wieder die Treppe hinauf. Ihre Zähne klapperten trotz der Glühhitze. Auf der letzten Stufe blieb sie einen Augenblick stehen und rief: Bedenke wohl, Gaspard.

 

Ich bin entschlossen, antwortete Caderousse.

 

Die Carconte ging, einen Seufzer ausstoßend, in ihre Stube zurück; man hörte die Decke unter ihren Tritten krachen, bis sie ihren Lehnstuhl wieder erreicht hatte, in dem sie sich schwerfällig niederließ.

 

Ich glaube in der Tat, es ist das beste, was Sie tun können, mir alles zu sagen, sagte der Priester; nicht als ob mir viel daran gelegen wäre, die Dinge zu erfahren, die Sie mir verbergen wollen; aber es wird besser sein, wenn Sie mich in den Stand setzen, das Vermächtnis nach dem Willen des Erblassers zu verteilen.

 

Ich hoffe dies, antwortete Caderousse mit von Hoffnung und Gier geröteten Wangen. Er ging an die Tür seines Wirtshauses, verschloß sie und schob zu größerer Sicherheit den Nachtriegel vor. Mittlerweile hatte der Abbé seinen Platz gewählt, um mit Bequemlichkeit zu hören; er saß so in einer Ecke, daß er im Schatten blieb, während das volle Licht auf Caderousses Gesicht fiel. Das Haupt geneigt, die Hände zusammengelegt oder vielmehr krampfhaft zusammengepreßt, schickte er sich an, mit der größten Aufmerksamkeit auf jedes Wort zu lauschen. Caderousse rückte einen Schemel vor und setzte sich ihm gegenüber.

 

Vergiß nicht, daß du’s gegen meinen Willen tust, sagte die zitternde Stimme der Carconte, als hätte sie durch den Boden die Szene unten sehen können.

 

Gut, gut! rief Caderousse; genug, ich nehme alles auf mich.

 

Und er fing an.