Fünftes Kapitel. König und Gemeine

Von dem gemeinen Volk der Insel bekamen wir wenig zu sehen. Anfänglich trafen wir noch am Brunnen mit ihm zusammen, an dem die Leute ihre Wäsche wuschen und wir unser Trinkwasser zapften. Diese doppelte Tätigkeit war indes nicht gerade nach unserem Geschmack, und da wir einen Tyrannen zur Verfügung hatten, wandten wir uns an diesen und veranlaßten den König, den Ort in unsere Tapulinie einzubeziehen. Das war eine der wenigen Gunstbezeugungen, die Tembinok‘ offensichtlich ungern gewährte, und man kann sich denken, wie wenig beliebt sie die Fremden machte. Zahlreiche Dorfbewohner gingen täglich aus ihrem Wege nach den Feldern an uns vorüber, allein sie machten stets einen weiten Bogen um das Tapu und schienen sogar ihre Blicke davon abzulenken. Von Zeit zu Zeit gingen wir selbst in das Dorf hinab, das ein recht seltsamer Ort war, fast holländisch anmutend infolge der vielen Kanäle und orientalisch durch die Höhe und Steilheit der Dächer, die sich in der Dämmerung wie Tempeldächer ausnahmen – doch nur selten wurden wir in ein Haus gerufen. Man bot uns keinen Willkommensgruß, keine Freundschaftsbezeugung, und von dem Familienleben bekamen wir nur ein Bild zu sehen: eine Totenwache, ein grausiger, peinlicher Anblick. Die Witwe hielt auf ihrem Schoß den kalten, bläulichen Körper ihres Gatten, nahm von Zeit zu Zeit an den Erfrischungen Teil, die der Gesellschaft gereicht wurden und küßte im nächsten Augenblick den bleichen Mund. (»Ich fürchte, Sie empfinden diese Heimsuchung tief«, bemerkte der schottische Geistliche. »Ja, Herr, sehr tief!« entgegnete die Witwe. »Die ganze Nacht über hab ich geheult, und jetzt will ich nur ein klein bißchen Grütze essen, dann heul ich gleich wieder.«) Auf unseren Spaziergängen empfing ich den Eindruck, als wichen die Insulaner uns aus, vielleicht aus Abneigung, vielleicht auch auf Befehl; wenn wir Überhaupt welchen begegneten, so geschah es meist durch Überrumpelung. Die Oberfläche der Insel ist teils mit Palmenwäldchen, teils mit Dickichten bewachsen und von romantischen kleinen Tälern, den Überresten alter Taropflanzungen, durchzogen; so war es möglich, die Leute, wenn sie von ihrer Arbeit ausruhten oder sich versteckten, unversehens zu überraschen. Ungefähr einen Pistolenschuß von unserem Stadtbild entfernt lag im Grunde des Dschungels ein Teich, wohin die Mädchen der Insel zum Baden kamen, und wo wir sie verschiedene Male durch unser plötzliches Erscheinen aufschreckten. Die hellen, kalten Flüsse von Tahiti und Upolu sind ihnen versagt; sie dürfen nicht zur Dämmerstunde zusammen mit einem ganzen Dorf voll heiterer Gefährtinnen im Wasser spielen und plantschen, sondern müssen sich einsam wegstehlen an einen Ort, der starke Ähnlichkeit mit einer Viehsuhle hat, um sich dort in dem lauwarmen Schlamm, braun wie ihre eigene Haut, hinzukauern und sich zu waschen, falls man das Waschen nennen kann. Noch andere, wenn auch seltene Begegnungen sind mir im Gedächtnis geblieben. Mehrere Male wurde ich durch den Klang zarter Stimmen im Busch aufgehalten, weich wie Flöten und voll sanfter Modulation. Hoffnung schmeichelte mir, ich schob die Blätter beiseite, aber siehe da! Statt der erwarteten Dryaden hockten ein paar nur allzu kompakte Damen in ihren ungraziösen Ridis vor mir, eifrig mit ihren Tonpfeifen beschäftigt. Schönheit der Stimme und der Augen war alles, was diesen schwerfälligen Matronen geblieben war, und die Anmut der Stimme war in der Tat wundervoll. Seltsamerweise habe ich nirgends wieder eine so gewinnende Redeweise vernommen, obwohl sich der Dialekt eher durch häßliche, gezwungene und ausgefallene Vokabeln auszeichnet, so daß Tombinok‘ selbst mir erklärte, er mache ihn müde und er ruhe sich beim Englischsprechen aus.

Die Lebensverhältnisse dieser Leute, die ich so selten sah, vermochte ich lediglich zu erraten. Der König selbst erläuterte mir in kunstvoller Weise die Situation. »Nein; ie sie bessahlen,« bemerkte er einmal. »Ie sie geben Tabak. Sie fü miss albeiten ganss wie Blüdah.« Diese Leute tragen sämtliche Zeichen der Sklaverei an sich – Leichtfertigkeit, die an Kindischsein grenzt, unverbesserliche Trägheit und unheilbare Zufriedenheit. Die Unverschämtheit des Kochs war ein origineller Zug, nicht so sein Mangel an Ernst, den er mit Onkel Parker teilte. Beide tanzten gleich sorglos im Schatten des Galgens herum und schlugen dem Tode so respektlose Schnippchen, daß ein oberflächlicher Beobachter der menschlichen Natur sich wundern mußte. Von Parker schrieb ich, daß er sich wie ein zehnjähriger Junge benehme: war er, der sechzigjährige Sklave, denn auch etwas anderes? Sein ganzes Leben hatte er in einer Schule verbracht; man hatte für ihn gesorgt, ihn ernährt, ihn gekleidet und geschulmeistert: an den Gedanken der Strafe hatte er sich gewöhnt und kokettierte deshalb mit ihr. Durch Furcht kann man die Menschen zwar lange treiben, aber nicht weit bringen. Hier in Apemama müssen sie sich ständig unter drohender Lebensgefahr plagen und haben sich in eine Lethargie der Faulheit hineingerettet. Es ist durchaus kein ungewöhnlicher Anblick, einen Mann unter einer steifen Matte, in der er, die Ellenbogen an die Hüften gedrückt, wie ein Hahn, dem man die Beine zusammengebunden hat, einherspaziert, auf die Felder gehen zu sehen. Dort muß die eine Hand, was immer auch die andere tun mag, feiern und das Kleidungsstück zusammenhalten, damit er es nicht verliert. Ebenso häufig sieht man zwei Männer an einer Stange einen einzigen Eimer Wasser tragen. Nun geht es zwar an, daß zwei Mann sich in eine Kirsche teilen: daß aber aus eines einzigen Soldaten Marschausrüstung zwei Lasten gemacht werden, nur um noch keine hundert Meter getragen zu werden, übersteigt jedes Maß. Die Frauen verkommen auch weniger rasch in der Sklaverei, da sie die weniger kindischen Tiere find. Ich habe die Frauen von Apemama, selbst in Abwesenheit des Königs, ja, wenn sie ganz allein waren, ausdauernd arbeiten sehen. Dagegen ist das Höchste, auf das man bei einem Manne hoffen darf, daß er unter äußerster Schonung seiner Kräfte ruckweise eine Arbeit beginnt, nur um in den Zwischenpausen müßig herumzulungern. So habe ich einen Maler arbeiten sehen, die Pfeife im Munde, während sein Freund ihm am Atelierfeuer Gesellschaft leistete. Man könnte meinen, die Rasse ermangele überhaupt jeder Höflichkeit und Lebenskraft, wenn man sie nicht beim Tanze beobachtet hätte. Nacht für Nacht und mitunter auch ganze Tage lang schmettern sie in dem großen Sprechhaus ihre Chorgesänge in die Luft hinaus – feierliche Andanten und Adagios, die von Händeklatschen begleitet und mit einer Kraft gesungen werden, daß die Wände davon erzittern. Dabei ist der Takt nicht einmal sehr langsam, wenn auch langsamer als der sonst auf den Inseln gebräuchliche; ich habe vielmehr nur an seine Wirkung auf die Zuhörer gedacht. Ihre Musik klingt aus der Nähe wie Kirchenmusik und erscheint dem europäischen Ohr gleichmäßiger als die meisten Inselgesänge. Zweimal habe ich auch beobachtet, daß eine Disharmonie ganz regelrecht aufgelöst wurde. Aus der Ferne dagegen, in Äquatorstadt vernommen, schien sich der Rhythmus zu heben und zu senken, und erschollen die Stimmen wie Hundegebell aus einem fernen Zwinger.

Die Sklaven sind entschieden nicht überarbeitet – zehnjährige Kinder vermögen ohne Überanstrengung mehr zu leisten – und die Apemama-Arbeiter kennen auch Feiertage, an denen das Singen schon früh am Nachmittage anfängt. Ihre Kost ist dagegen rigoros – Kopra und eine Süßigkeit aus zerstampftem Pandanus sind die einzigen Gerichte, die außerhalb des Palastes gegessen werden, doch ist an der Menge der Nahrung nichts auszusetzen, und der König teilt mit dem Volk seine Schildkröten. Während unseres Aufenthaltes wurden ihm drei dieser Tiere aus Kuria geschickt: das eine wurde für den Palast reserviert, das andere uns und das dritte dem Dorfe übersandt. Die Insulaner haben die Gewohnheit, die Schildkröte mitsamt dem Rückenschild zu kochen; man hatte uns aber die Schale versprochen, und wir baten daher, diesen törichten Brauch unter Tapu zu stellen. Sofort verfinsterte sich das Antlitz Tembinok’s, und er gab keine Antwort. Ein Zögern in der Frage des Brunnens konnte ich verstehen, denn Wasser ist rar auf einer flachen Insel; daß er sich aber weigern könnte, in eine kulinarische Frage dreinzureden, war mehr als ich mir hatte träumen lassen, und ich folgerte daraus – ob mit Recht oder Unrecht, weiß ich nicht – daß er in höchstem Maße zurückhaltend wäre, wenn es sieh darum handelte, in das Privatleben einzugreifen oder an den Gewohnheiten seiner Sklaven zu rühren. Also besitzt selbst hier, im Herzen des Despotismus, die öffentliche Meinung noch Gewicht; selbst in dieser Hochburg der Sklaverei hat die Freiheit einen Winkel gefunden.

Ordentlich, nüchtern und unschuldig – wie auf einer Musterpflanzung unter der Leitung eines Musterpflanzers – so fließt Tag für Tag das Leben auf der Insel hin. Unmöglich kann man an dem wohltuenden Einfluß dieser strengen Herrschaft zweifeln. Eine sonderbare Geschmeidigkeit, ein weiches, anmutiges Benehmen, etwas Weibisches und Höfisches zeichnet die Insulaner von Apemama aus. Diese Eigenschaften bildeten das Gesprächsthema sämtlicher Händler und wurden selbst von so unbeliebten Besuchern, wie wir es waren, empfunden, ja, sie traten sogar an unserem Koch, und zwar in seinen unverschämtesten Minuten, hervor. Der König stand mit seiner männlichen, schlichten Haltung ganz allein da; man kann ihn als den einzigen Gilbert-Insulaner auf Apemama bezeichnen. Gewalttätigkeit, die in Butaritari heimisch ist, kommt hier nicht vor, ebensowenig Diebstahl und Trunkenheit. Man versichert mir, man habe das Experiment gemacht, Goldstücke am Strande vor dem Dorfe liegen zu lassen: sie blieben dort liegen. Während unseres ganzen Aufenthaltes auf der Insel bin ich nur ein einziges Mal um Alkohol angegangen worden, und zwar von einem höchst eindrucksvollen Burschen, der europäische Kleidung trug und ausgezeichnet englisch sprach – Tamaiti war sein Name oder – in der europäischen Korrumpierung – »Tom White«. Er war einer der Superkargos des Königs und erhielt drei Pfund den Monat und Prozente, außerdem war er noch Arzt und im Privatleben ein Zauberer. Dieser Mann traf mich eines Tages an der Grenze des Dorfes an einem einsamen, heißen Ort, an dem die Tarogräben tief und die Pflanzen hoch sind. Hier hielt er mich am Knopfloch fest, blickte sich wie ein Verschwörer nach allen Seiten um und fragte mich, ob ich Gin hätte.

Ich bejahte die Frage. Er bemerkte, Gin wäre verboten, lobte eine Welle das Verbot und fuhr dann fort, mir auseinanderzusetzen, daß er ein Doktor sei – er sprach das Wort »dogstar« aus – daß Gin für seine medizinischen Tränklein unentbehrlich wäre, und daß er mir sehr dankbar sein würde, wenn ich ihm etwas in einer Flasche mitgäbe. Ich sagte ihm darauf, daß ich dem König mein Wort verpfändet hätte, daß ich aber, da ja der Fall eine Ausnahme bilde, sofort zum Palast gehen würde, wo, wie ich nicht zweifelte, Tembinok mir die Erlaubnis erteilen wurde. Sofort geriet Tom White vor Verlegenheit und Furcht außer sich, flehte mich in den herzbewegendsten Ausdrücken an, ihn doch ja nicht zu verraten und floh meine Gegenwart. Er besaß nichts von dem Mut, der den Koch beseelte; Wochen gingen vorüber, ehe er mir gerade ins Auge zu sehen wagte, und auch dann erschien er nur auf Befehl des Königs in besonderen Angelegenheiten.

Je mehr ich von dieser strengen Herrschaft zu sehen bekam, je mehr ich sie bewunderte, um so heftiger verfolgte mich das Problem, das für uns vielleicht schon morgen aktuell werden konnte. Hier lebte ein Volk, das vor jedem ernsten Unglück bewahrt war, dem man alle schlimmen Sorgen abgenommen, gleichzeitig aber auch jede Freiheit geraubt hatte. War es wirklich zufrieden? Und welches waren seine Gefühle seinem Herrscher gegenüber? Die erste Frage konnte ich natürlich an niemanden richten, und die Eingeborenen hätten sie vielleicht auch gar nicht zu beantworten gewußt. Selbst die zweite war schon etwas delikat; doch fand ich endlich unter seltsamen, reizenden Umständen eine Gelegenheit, jemanden auszukundschaften und eine Antwort zu erhalten. Der Mond war beinah voll, und eine köstliche Brise wehte; die Insel war hell erleuchtet – wie am Tage – zu schlafen wäre ein Sakrileg gewesen, und ich wanderte, meine Flöte blasend, im Busch umher. Es muß wohl der Klang dessen gewesen sein, was ich euphemistisch als Musik bezeichne, der noch einen anderen Wanderer in meiner Richtung in die Nacht herauslockte. Es war ein junger Mann in einer feingeflochtenen Matte mit einem Kranz im Haar, der eben erst von Tanz und Gesang im Sprechhaus kam; Körper, Gesicht und Augen waren von bezaubernder Schönheit. Überall aus den Gilbertinseln trifft man hier und da Jünglinge von dieser einfach lächerlichen Vollkommenheit; ich habe schon erlebt, daß wir zu fünf, sechs Mann eine halbe Stunde versunken in Bewunderung eines Knabens von Mariki da standen, und Te Kop (mein Freund in der feinen Matte mit den Kränzen) war mir schon verschiedene Male aufgefallen und von mir als bei weitem das schönste Tier von Apemama klassifiziert worden. Der Zaubertrank der Bewunderung muß sehr stark sein, oder die Insulaner sind dafür besonders empfänglich, denn selten habe ich auf den Inseln jemanden bewundert, ohne daß er nicht sofort meine Bekanntschaft gesucht hätte. So war es auch mit Te Kop. Er führte mich an das Meeresufer, wo wir ein, zwei Stunden lang rauchend und schwatzend in dem unbeschreiblichen Strahlenglanz des Mondes auf dem glitzernden Sande saßen. Mein Freund zeigte sich ungemein empfänglich für die Schönheit und Lieblichkeit der Stunde. »Gute Nacht! Gute Wind!« rief er immer wieder, und während er diese Worte sprach, war es, als schwelge er darin. Lange vorher hatte ich derartige wiederholte Ausbruche des Entzückens für eine von mir erschaffene Figur (Felipe in der Geschichte Olalla) erfunden, in der Absicht, das Tierische dieses Wesens auszudrücken. Te Kop war aber durchaus nicht tierisch, sondern bezeugte nur eine kindliche Freude an dem Augenblick. Nicht weniger entzückt war er von seinem Gefährten, wenigstens hatte er die Liebenswürdigkeit, das zu behaupten und beehrte mich vor dem Abschiede damit, daß er mich Te Kop nannte, ja, er apostrophierte mich in den zartesten Tönen als »Mein Name«, wobei er seine Hand flüchtig auf meine Knie legte, und rief mir zweimal, als wir uns erhoben hatten und unsere Wege sich trennten, in einer Art sanften Ekstase zu: »Ie dih lieben zu viel.« Von Anfang an hatte er keinen Hehl aus seiner Furcht vor dem König gemacht; er weigerte sich, sich hinzusetzen oder lauter als im Flüstertone zu sprechen, bis wir nicht die ganze Breite der Insel zwischen ihn und seinen damals harmlos schlummernden Monarchen gelegt hatten, und selbst dann, als wir nur einen Steinwurf weit vom offenen Meere entfernt waren, wo unser Gespräch von dem Geräusch der Brandung und dem Sausen des Windes unter den Palmen übertönt wurde, fuhr er fort, behutsam zu sprechen, senkte seine silberne Stimme (die im Chorgesang laut genug schallte) und blickte rings um sich, wie einer, der sich vor Spionen fürchtet. Das Seltsamste an der Sache ist aber, daß ich ihn nie wieder sah. Aus jeder anderen Insel in der Südsee hätte sich jeder Eingeborene, wenn ich auch nur halb so weit mit ihm gegangen wäre, am nächsten Tage vor meiner Tür sehen lassen, Geschenke bringend und Geschenke erwartend. Aber Te Kop verschwand auf ewig im Busch. Mein Haus war für ihn natürlich unnahbar, er wußte aber, daß er mich am Meeresstrande finden konnte, wohin ich mich jeden Tag begab. Ich war der Kaupoi, der reiche Mann; mein Tabak und meine Waren galten als unerschöpflich: er wäre eines Geschenks sicher gewesen. Ich weiß nicht, wie ich sein Benehmen erklären soll, es sei denn, daß er sich voller Schrecken und Bedauern einer Stelle unseres Gesprächs erinnerte, die folgendermaßen lautete:

»Der Konig, er guter Mann?« erkundigte ich mich. »Wenn eh diss lieben, eh gute Mann«, erwiderte Te Kop; »niss lieben, dann niss gut«.

Das ist natürlich auch eine Art, die Sache klarzulegen. Te Kop selbst war wahrscheinlich kein Liebling des Königs, denn mir erschien er kaum als ein Muster an Fleiß. Außer ihm muß es aber noch viele andere gegeben haben, die der König (um mit Te Kop zu reden) nicht liebt. Mögen diese Unglücklichen nun den König leiden? Oder ist die Abneigung nicht vielmehr gegenseitig und der gewissenhafte Tembinok‘, wie vor ihm der gewissenhafte Braxfield und zahlreiche gewissenhafte Herrscher und Gesetzgeber, dessen Vorgänger, von lauter Murrköpfen umgeben? Nehmen wir zum Beispiel den Koch, der blau vor Wut und Entsetzen an uns vorbeijagte. Er war gegen mich über die Maßen aufgebracht; nach sämtlichen traditionellen Erfahrungen von der menschlichen Natur konnte er aber auch nicht gerade sehr gut auf seinen Herrscher zu sprechen sein. Er versuchte zwar, dem reichen Manne aufzulauern, meiner Meinung nach hat aber nur ein Haar daran gefehlt, daß er statt dessen dem König ein Bein stellte. Obendrein gibt der König dazu selbst reichlich Gelegenheit oder scheint sie doch zu geben; Tag und Nacht geht er unbegleitet umher, ob bewaffnet oder nicht, weiß ich nicht; und die Taropflanzungen, wohin seine Geschäfte ihn oft führen müssen, scheinen für einen Mordangriff geradezu geschaffen. Ja, der Fall des Koches lastete schwer auf meinem Gewissen. Mir widerstrebte es, meinen Feind von zweiter Hand töten zu lassen, doch hatte ich das Recht, dem Könige, der mir vertraut hatte, den gefährlichen und ränkesüchtigen Charakter seines Dieners zu verschweigen? Und wenn nun der König wirklich gestürzt wurde, was würde dann das Schicksal seiner Freunde sein? Unsere damalige Ansicht war, daß wir die Sperrung des Brunnens teuer würden bezahlen müssen, ja, daß unser Lebensodem aus des Königs Nase blies. Falls der König tatsächlich in irgendeinem Tarograben niedergeknüttelt wurde, dann durften die philosophischen und musikalischen Bewohner von Äquatorstadt voraussichtlich ihre angenehmen Zeitvertreibe beiseite legen und sich mit nur wenig Aussicht auf Erfolg auf die Verteidigungsmaßnahmen werfen, wie sie ihnen zur Verfügung standen. Derartige Überlegungen wurden durch einen Zufall, den ich mich schäme zu berichten, in uns wachgerufen. Der Schoner »H. L. Haseltine« (seither mit Verlust von elf Menschenleben untergegangen) war eine Stunde vor uns, die wir unsere Vorräte fast gänzlich erschöpft hatten, in Apemama angelaufen. Der König brachte, wie es seine Gewohnheit war, ganze Tage an Bord zu; unglücklicherweise war der Gin sehr nach seinem Geschmack, und einige Zeit war der unumschränkte Tyrann der Insel stark angesäuselt. Er war nicht betrunken – der Mann ist kein Trunkenbold; er pflegt zwar stets große Vorräte von Schnaps auf Lager zu haben, bedient sich ihrer aber mit Mäßigung – trotzdem war er unklar im Kopfe, blöde und konfus. Eines Tages erschien er, um mit uns zu speisen und schlief, während der Tisch gedeckt wurde, auf seinem Stuhle ein. Seine Verwirrung, als er aufwachte und merkte, daß man ihn ertappt hatte, kam einzig unserer Sorge gleich. Als er gegangen war, sprachen wir noch lange von der Gefahr, in der er schwebte, die wir bis zum gewissen Grade auch für die unsrige hielten – wie leicht er in einem derartigen Zustand von den Unzufriedenen überrascht werden könnte und welche seltsamen Szenen dann folgen würden – königliche Schatzkammer und Lagerhäuser dem Pöbel ausgeliefert, der Palast gestürmt, die Weibergarnison aufgelassen. Und noch während wir sprachen, wurden wir durch einen Gewehrschuß und einen plötzlichen, barbarischen Lärm aufgeschreckt. Ich glaube, wir wechselten alle die Farbe; es war aber nur der König, der auf einen Hund schoß, und der Chor im Sprechhaus, der ein Lied anstimmte. Ein oder zwei Tage später hörte ich, der König sei schwer erkrankt. Ich ging hinunter, um den Fall zu diagnostizieren und errang mir auf der Stelle den höchsten Grad medizinischer Wissenschaft durch eine Dosis doppelkohlensauren Natrons. Noch innerhalb der gleichen Stunde war der König wieder er selbst geworden; ich fand ihn in dem Neubau, vertieft in den doppelten Genuß, Rubam bei seiner Arbeit anzuleiten und eine Mahlzeit von Kokosnußklößen zu verzehren; und er brannte darauf, die Formel für diesen neuen »Schmerzenstöter« kennenzulernen – das ist auf den Inseln der Name für jede Art von Medizin. Damit endeten des Königs bescheidene Ausschweifung und unsere Besorgnis. Nach außen hin erschien die Untertanentreue während dieser Zeit tatsächlich unerschüttert – das muß ich zugeben. Als unser Schoner nach mancherlei Abenteuern durch konträre Winde endlich wiederkehrte, um uns von neuem aufzunehmen, brachte er ein Gerücht mit, daß Tebureimoa Apemama den Krieg erklärt hätte. Im Augenblick wurde Tembinok‘ ein neuer Mensch; er strahlte, und seine Stimmung während einer Versammlung der Ältesten in einer der königlichen Maniapen war froh und eifrig wie die eines Schuljungen, seine Stimme tönte schrill und triumphierend über den halben Hof hinweg. Krieg ist, was er begehrt, und hier war seine Gelegenheit. Der englische Kapitän hatte ihm, als er seine Waffen in die Lagune warf, alle militärischen Unternehmungen außer in einem einzigen besonderen Falle verboten: hier endlich war der eine Fall eingetreten. Den ganzen Morgen über tagte der Rat; Mannschaften wurden gedrillt, Waffen herangeschleppt, Schüsse durchbrachen die nachmittägliche Stille; der König entwarf seinen Feldzugsplan und teilte ihn mir mit. Er war äußerst kompliziert und erfindungsreich, wenn auch für die rauhen Zufälligkeiten des Krieges vielleicht allzufein gesponnen. Und während dieses ganzen Aufruhrs erschien die Haltung des Volkes ausgezeichnet, ungewohntes Leben erstrahlte auf jedem Gesicht, ja, selbst Onkel Parker brannte vor militärischem Eifer.

Natürlich war das Ganze nur ein falscher Alarm. Tembureimoa hatte Näherliegendes, das ihn bekümmerte. Der Gesandte, der uns nach Butaritari zurückbegleitete, fand ihn zurückgezogen auf einer kleinen Insel des Riffs, verzankt mit den alten Männern, verfeindet mit den Händlern und, statt mit einem Appetit auf Kriege im Ausland, zitternd vor Furcht, daß im Lande eine Revolution ausbrechen könnte. Der Bevollmächtigte war unter meinen besonderen Schutz gestellt, wir begrüßten uns daher feierlich bei unserer ersten Begegnung. Er entpuppte sich als ein gewandter Fischer und fing uns vom Schiff aus Bonitos. Er war auch ein vortrefflicher Ruderer und machte sich einen ganzen, glutheißen Nachmittag nützlich, indem er die vor Mariki in einer Flaute liegende »Äquator« in Tau nahm. Er begab sich nach Butaritari, ohne etwas zu erreichen. Dann kehrte er, auch ohne irgendwelchen Schaden gestiftet zu haben, nach Haufe zurück. O si sic omnes!

Sechstes Kapitel. Der König von Apemama: Teufelswerk

Täglich weilten wir am Meeresstrande von Apemama. Die Küste ist von flachen Buchten durchschnitten; das Riff schickt hier einen Arm ins Meer hinaus, erhebt sich hoch über dem Wasserspiegel und umschlingt eine knietiefe Lagune, das ewig bewegte Speibecken der Brandung. Der Strand besteht an dieser Stelle teils aus feinem Sande, teils aus brüchiger Koralle. Bei der konvexen Biegung der Küste kann man auf den ersten Blick knapp ihren vierten Teil übersehen, und da das Land sehr niedrig ist, erscheint der Horizont bis auf einen Steinwurf nahe gerückt; kurz, der schmale Ausblick erhöht das Gefühl der Abgeschiedenheit. Der Inselmensch vermeidet diesen Ort – selbst Fußtapfen sind dort ungewöhnlich, aber eine große Anzahl Vögel schwebt und kreischt hier fischend und zeichnet ihre Hakenspuren in den Sand. Abgesehen von diesen Tieren bilden die Sturzwellen Über dem Riff das einzige Geräusch (und ich wollte auch sagen, die einzige Gesellschaft), die man hier findet.

Auf jedem Küstenvorsprung hat man die Klippe aus Korallenklinker unmittelbar über dem Strande planiert und dort eine vielleicht brusthohe Säule errichtet. Diese hat indes nichts mit den Toten zu tun; alle Leichen werden im Gegenteil auf der bewohnten Seite der Insel, dicht neben den menschlichen Behausungen und (was noch schlimmer ist) neben dem Brunnen begraben. Man sagte mir, diese Denkmäler sollten die Insel gegen das hereinbrechende Meer verteidigen – es sind göttliche oder teuflische Wachttürme, wahrscheinlich Taburik, dem Donnergotte, geweiht.

Die Bucht, die Äquatorstadt unmittelbar gegenüber lag und die wir zu Ehren unseres Kochs Fu Bai getauft hatten, war somit an beiden Spitzen der Sichel befestigt. Sie wurde durch das Riff geschützt und barg in ihrem Inneren klares, stilles Wasser; der sie begrenzende Strand krümmte sich wie ein Hufeisen und war breit und stell. Der Weg mündete etwa in der Mitte der rücklaufenden Biegung, und die Wälder hörten eine ziemliche Strecke landeinwärts auf. Davor, zwischen dem Saume des Waldes und dem Plateau des Strandes, hatte man eine rechteckige Fläche ähnlich einem neuartigen Tennis-court abgesteckt, deren Ränder aus runden, in den Sand eingebetteten Steinen bestanden, und deren Ecken durch niedrige, gleichfalls steinerne Pfeiler markiert waren. Das war des Königs Betplatz. Wann und worum er betete, und an wen er seine Gebete richtete, habe ich niemals erfahren können. Der Ort war tapu.

In dem Winkel neben der Wegmündung stand eine aufgelassene Maniap‘. In der Nähe hatte man schon vor unserer Ankunft ein Haus errichtet, das für den Augenblick nach Äquatorstadt verlegt worden war und dort Dienste tat. Es war das Haus Tamaitis, des Hüters und Zauberers des Orts, gewesen und sollte es nach unserer Abreise von neuem werden. Hier, in dieser einsamen Gegend, in Hörweite der See hatte er gehaust und seine unheimlichen Pflichten verrichtet. Ich kann mich nicht erinnern, je wieder gehört zu haben, daß ein Mensch auf der Meeresseite eines offenen Atolls gewohnt hätte, und Tamaiti muß starke Nerven, ein größeres Vertrauen in seine eigenen Künste oder, was ich glaube, einen beneidenswerten Skeptizismus besessen haben. Ob Tamaiti auch irgendwie als Hüter des Betplatzes bestellt war, weiß ich nicht. Seine eigene Privatandachtstätte lag weiter hinten am Waldrand. Sie bestand aus einem recht ansehnlichen Baum, um den ein Kreis, ähnlich der Linie, die des Königs Betplatz umgrenzte, gezogen war; davor, dicht am Stamm, stand mit der Front nach dem Meere ein Stein von sehr großem Umfang und leicht ausgehöhlt, etwa wie eine Piscina; davor wieder ein konischer Kieshaufen. In die Höhlung der sogenannten Piscina (die, wie es sich herausstellte, in Wahrheit ein Zauberstuhl war) war ein Opfer von grünen Kokosnüssen niedergelegt; und wenn man aufblickte, entdeckte man, daß die Äste des Baumes mit seltsamen Früchten beladen waren: mit kunstvoll geflochtenen Palmzweigen und wundervollen, bis in alle Einzelheiten durchgebildeten Modellen von Kanoes. Das Ganze bot den Anblick eines mitsommerlichen, rustikalen al fresco Weihnachtsbaumes. Wir waren jedoch mit den Gilbert-Inselnbräuchen genügend vertraut, um hier auf den ersten Blick eine Zauberei – oder wie es auf dieser Gruppe heißt – ein Teufelswerk, zu erkennen.

Wir erkannten es an den geflochtenen Palmwedeln, die wir schon anderswo, auf Apaiang, dem christlichsten Eilande jener Gruppe, gesehen hatten, wo der treffliche Mr. Bingham goldenen Angedenkens gelebt und gewirkt hat. Von dort ist alle Zivilisation, die es auf den nördlichen Gilberts gibt, ausgegangen; dort hatten wir von kleinen, eingeborenen Sonntagsschulfräuleins mit gesittetem Wesen und sauberen Kleidchen, die Kirchenlieder sangen, als wären sie dazu geboren, Besuch erhalten.

Unsere Erfahrungen von Teufelswerk auf Apaiang waren folgende: – Zufällig hatten wir uns nächtlicherweise im Hause Kapitän Tierneys verspätet. Meine Frau und ich wohnten rund eine halbe Meile entfernt bei einem Chinesen, und dorthin begleiteten uns Kapitän Tierney und ein Eingeborenenjunge mit Leuchtfackeln. Unterwegs gingen die Fackeln aus und wir flüchteten uns in ein einsames, christliches Kapellchen, um sie wieder anzuzünden. Da fand ich mitten in die Balken der Kapelle gesteckt einen geflochtenen Palmzweig. »Was ist das?« lautete meine Frage. »Das? Oh, das ist Teufelswerk«, antwortete der Kapitän. »Und was ist Teufelswerk?« erkundigte ich mich, »Wenn Sie wollen, werde ich es Ihnen bei Johnnie zeigen.« Johnnies Haus entpuppte sieh als ein originelles Hüttchen hoch oben am Strande, teils aus Mauern teils aus Gitterwerk auf etwa drei Fuß hohen Pfählen errichtet und mittels einer Treppe zugänglich. Trophäen in Gestalt von Reklamephotographien hingen als Schmuck an den Wänden. Es gab einen Tisch und ein Wandbett, in dem meine Frau schlief, während ich mit Johnnie, Frau Johnnie, ihrer Schwester und des Teufels eigenstem Regiment von Küchenschaben auf dem Fußboden kampierte. Dorthin berief man eine alte Hexe, deren Äußeres zum Entsetzen gut zu ihrer Rolle paßte. Die Lampe wurde auf den Boden gestellt; die Vettel kauerte sich, einen grünen Palmzweig in der Hand, auf der Schwelle nieder, das Licht fiel voll auf ihren uralten Kopf und suchend auf die verängstigten Gesichter der Zuschauer in der pechschwarzen Dunkelheit. Unsere Zauberin begann mit einem beschwörenden Singsang, der in der alten fremden Sprache war, für die ich keinen Dolmetscher hatte, und von Zeit zu Zeit durchlief die Versammlung dort draußen jenes Lachen, das jeder Reisende auf den Inseln gar bald als ein Gelächter der Furcht erkennen lernt. Zweifellos waren diese halben Christen empört, während ihre andere heidnische Hälfte sich entsetzte. Nachdem man Tschentsch oder Taburik also gebührend invoziert hatte, stellten wir unsere Fragen; die Hexe flocht die Blätter, hier ein Blatt, dort ein Blatt, augenscheinlich nach einem arithmethischen System, studierte mit offensichtlicher Zufriedenheit das Resultat und erteilte ihre Antworten. Sidney Colvin erfreue sich ausgezeichneter Gesundheit und befände sich augenblicklich auf Reisen, und wir würden morgen guten Wind haben: das war das Ergebnis, für das wir einen Dollar zahlten. Der morgige Tag erschien windlos und wolkenlos, aber ich glaube, Kapitän Reid vertraute insgeheim der Sybille, denn der Schoner wurde fahrtbereit gemacht. Um acht trübte sich der Spiegel der Lagune mit langen Kräuselwellen und die Palmen schwankten und rauschten im Winde; noch vor zehn lag die Einfahrt hinter uns, und wir schossen mit vollen Segeln und schäumenden Speigatten dahin. So bekamen wir wenigstens die Brise, die schon gut einen Dollar wert war; doch stellte es sich einige sechs Monate später heraus, daß das Bulletin über meinen Freund in England jeder Grundlage entbehrte. Vielleicht liegt London aber auch außerhalb des Wirkungskreises der Inselgötter.

Zu Anfang zeigte sich Tembinok‘ jedem Aberglauben streng abgeneigt, und hätte die Äquator nicht so lange auf sich warten lassen, wir wären vielleicht abgereist in dem guten Glauben, daß er ein Agnostiker sei. Zufällig kam er jedoch eines Tages in unsere Maniap‘, während meine Frau mit einer Patience beschäftigt war. Sie erläuterte ihm das Spiel so gut sie konnte und schloß ihre Auseinandersetzung mit dem Scherzwort, daß das ihr Teufelswerk sei, und daß die »Äquator«, wenn die Patience aufginge, morgen eintreffen würde. Tembinok‘ muß tief aufgeatmet haben; also saßen wir doch nicht so ganz auf dem hohen Pferd; er brauchte sich nicht mehr zu verstellen, und sofort machte er sich an eine Beichte. Er vollführe jeden Tag Teufelswerk, gestand er uns, um zu wissen, ob Schiffe zu ihm unterwegs wären; und von nun an teilte er uns jedesmal das Ergebnis mit. Es war erstaunlich, wie häufig er sich irrte, aber stets hatte er eine Erklärung bei der Hand. Ein Schoner läge dicht hinter Sichtweite vor der Insel; entweder war er aber nicht für Apemama bestimmt, oder er hatte seinen Kurs geändert oder er kam aus der Flaute nicht heraus. Ich pflegte den König bei diesen Anlässen, wenn er sich so öffentlich zu belügen suchte, mit Ehrfurcht zu betrachten. Hinter ihm sah ich sämtliche Kirchenväter, Philosophen und Männer der Wissenschaft aus der Vergangenheit; vor ihm alle die, die noch kommen sollten; ihn selbst in der Mitte. Die ganze visionäre Versammlung rang mit der Aufgabe, Ungereimtheiten auszugleichen. Bis zuletzt sprach Tembinok‘ jedoch nur widerwillig von den Inselgottheiten und ihrem Kult, so daß ich nur wenig über sie erfahren konnte. Taburik ist der Gott des Donners und hat mit Wind und Wetter zu tun. Bis vor kurzem gab es noch Zauberer, die ihn als Blitz vom Himmel herunterzuholen verstanden. »Mein Patah, eh mih sagen, daß eh das sehen: du glauben, eh lügen?« Tienti – ausgesprochen etwa wie »Tschentsch« und von seiner Majestät als der Teufel identifiziert, sendet und heilt die körperlichen Krankheiten. Man ruft ihn durch Pfeifen, nach Art der Paumoter, und er soll dann auch erscheinen, doch hat ihn der König niemals gesehen. Die Ärzte behandeln Krankheiten mit Hilfe von Tschentsch: wobei der eklektische Tembinok‘ indessen zugleich den »Schmerzenstöter« aus seinem Medizinkasten appliziert, um dem Leidenden beide Chancen zu geben. »Ie glauben, vie bessah so«, bemerkte seine Majestät mit noch mehr als seiner üblichen Selbstzufriedenheit. Anscheinend sind die Götter nicht eifersüchtig: sie erfreuen sich in Gemütsruhe gemeinsamer Heiligtümer und gemeinsamer Priester. So hängen an Tamaitis Medizinbaum die ex Voto zwecks einer günstigen Reise geschenkten Kanoemodelle, die daher Tamburik, dem Wettergott geweiht sein müssen; aber der davorstehende Stein ist von den Kranken zur Besänftigung Tschentschs gestiftet.

Durch einen außerordentlichen Glücksfall zog ich mir, noch während wir von diesen Dingen sprachen, eine Erkältung zu. Ich glaube kaum, daß ich mich je zuvor über eine Erkältung gefreut habe, noch daß ich mich je wieder darüber freuen werde, aber so bot sich mir eine unschätzbare Gelegenheit, die Zauberer während ihrer Arbeit zu belauschen, und ich berief daher die Fakultät von Apemama zu mir. Sie erschien in corpore, alle in ihren Sonntagskleidern und mit Kränzen und Muscheln, den Insignien des Teufelwerkes, behangen. Tamaiti kannte ich bereits: Terutak‘ – einen großen, hageren, grobschlächtigen, ernsten, schottischen Nordsee-Fischer mit etwas allzu brauner Haut – sah ich zum erstenmal, und noch ein dritter war mit von der Partie, dessen Namen ich nie gehört habe und der Tamaiti als Famulus diente. Tamaiti nahm mich zuerst in Behandlung und führte mich unter angenehmem Geplauder an die Ufer von Fu Bai. Der Famulus bestieg auf der Suche nach grünen Kokosnüssen einen Baum. Inzwischen verschwand Tamaiti selbst im Busch und kehrte mit Kokoszunder, trockenen Blattern und einem Zweig Wachsbeeren zurück. Man setzte mich auf den Stein, den Rücken gegen den Baum, das Gesicht der Windseite zugekehrt; zwischen mich und dem Kieshaufen legte man eine der grünen Nüsse, und dann trat Tamaiti (nachdem er zuvor seine Segeltuchschuhe, die ihn peinigten, ausgezogen hatte) zu mir in den magischen Kreis, grub in den Kieshaufen eine kleine Höhlung, in deren Inneres er seinen Scheiterhaufen aufbaute und hielt ein brennendes Streichholz – es war von Bryant und May – daran. Das Feuer wollte nicht anbrennen, und der respektlose Zauberer füllte die Zwischenzeit mit allerlei Geschwätz von fremden Städten aus – von London und »Aktiengesellschaften«, und wie viel Geld sie besaßen; von San Francisco und den schädlichen Nebeln »ganß wie Rauch«, die ihn fast umgebracht hätten. Vergeblich versuchte ich ihn auf den Gegenstand zu bringen, mit dem er sich jetzt beschäftigte. »Alle Menschen machen Medizin«, sagte er leichthin. Und als ich ihn fragte, ob er selbst ein guter Arzt wäre, erwiderte er noch leichtfertiger: »Ie niß savvy.« Endlich fingen die Blätter Feuer, dem er fortfuhr neue Nahrung zu geben; ein dichter, heller Rauch blies mir ins Gesicht, und die Flammen schlugen mir entgegen und versengten meine Kleider. Inzwischen redete er den Geist an, oder tat doch so, wobei seine Lippen sich lautlos bewegten; gleichzeitig schwang er die Arme durch die Luft und schlug mich zweimal mit seinem grünen Zweige auf die Brust. Sobald die Blätter verbrannt waren, begrub er die Asche, der grüne Zweig wurde in den Kies gebettet, und die Zeremonie war beendet.

Ein Leser von »Tausendundeine Nacht« würde sich hier vollkommen zu Hause fühlen. Hier war das Räucherwerk, der murmelnde Zauberer; hier der einsame Ort, an den Aladdin von seinem falschen Onkel gelockt wurde. Aber auf diese Dinge versteht man sich am besten in Romanen. Diesmal wurde die Wirkung durch die Leichtfertigkeit des Zauberers, der wie ein liebenswürdiger Zahnarzt seinen Patienten mit allerlei gleichgültigem Geschwätz unterhielt, und durch die unpassende Gegenwart Mr. Osbournes und seiner Kamera gestört. Und was meine Erkältung anbetrifft, so wurde sie weder besser noch schlimmer.

Darauf wurde ich Terutak‘ übergeben, dem führenden Arzt oder Geheimrat von Apemama. Seine Wohnung liegt auf der Lagunenseite der Insel, hart neben dem Palaste. Ein etwa zwei Fuß hohes Holzgeländer umschließt hier wie bei der Betstätte des Königs, einen länglichen Kiesplatz in dessen Mitte ein grüner Baum wächst. Darunter stehen auf einem Tisch zwei, mit einer feinen Matte bedeckte Kästen, und vor ihnen wird täglich eine Kokosnuß, ein Stück Taro oder ein Fisch als Opfer niedergelegt. Auf beiden Seiten der Einfriedung steht eine Reihe von Maniapen, und einer unserer Gesellschaft, der viel zum Zeichnen hierherging, hatte wiederholt eine Schar kranker Kinder dort hinpilgern sehen, denn der Ort war in Wahrheit das Hospital von Apemama. Der Arzt und ich betraten allein die heilige Stätte; die Kästen und Matten wurden von dem Tisch genommen, und ich wurde an ihrer Statt, wieder mit dem Gesichte nach Osten, auf den Stein gehoben. Eine Weile blieb der Zauberer hinter meinem Rücken unsichtbar, mit einem Palmzweig allerlei Kreise in der Luft beschreibend. Dann schlug er mich leicht auf den Rand meines Strohhutes, und dieser Schlag wurde von Zeit zu Zeit wiederholt, nur daß der Zweig manchmal statt des Hutes meinen Arm und meine Schulter streifte. Ich habe wohl ein dutzendmal erlebt, daß Leute mich zu hypnotisieren versuchten, ohne das geringste Resultat. Aber schon bei dem ersten Schlage – auf keinen wichtigeren Punkt als den Rand meines Strohhutes und von nichts Bedeutsameren als einem Palmzweig in der Hand eines Mannes, den ich nie zuvor gesehen hatte, – überfiel mich der Schlaf wie mit Waffengewalt. Meine Sehnen erschlafften, meine Augen schlossen sich, mein Hirn schwamm vor Schläfrigkeit. Ich wehrte mich zuerst instinktiv, dann in einer Art aufgeregter Verzweiflung, die zum Schluß auch siegte, wenn man in der Tat das einen Sieg nennen kann, was mir gerade noch ermöglichte, auf die Füße zu stolpern, in einem somnambulischen Zustand nach Hause zu wanken und mich auf mein Bett zu werfen, wo ich in eine traumlose Betäubung versank. Als ich erwachte, war die Erkältung vorbei, und damit lasse ich die Angelegenheit auf sich beruhen, da ich sie nicht verstehe.

Inzwischen hatte sich mein Appetit auf Kuriositäten (der für gewöhnlich nicht sonderlich stark war) durch die heiligen Kästen seltsam verschärft. Die Kästen, von vier Füßen getragen, waren aus Pandanusholz, von länglicher Form und die Seitenwände gleichsam erhaben und wie aus Stroh geflochten sowie an den Rändern leicht mit Haar oder Fasern verkleidet. Die Außenseite war so sauber und fein gearbeitet wie ein Spielzeug, das Innere ein Mysterium, in das einzudringen ich beschlossen hatte. Aber es lag noch ein Löwe quer über meinem Pfad. Ich konnte mich nicht an Terutak‘ wenden, da ich versprochen hatte, nichts auf der Insel zu kaufen; ich wagte auch nicht an den König zu appellieren, denn ich hatte von ihm bereits mehr Geschenke erhalten, als ich je hoffen durfte, erwidern zu können. Aus diesem Dilemma fanden wir (da inzwischen auch der Schoner wieder erschienen war) einen Ausweg. Kapitän Reid trat statt meiner vor, bekannte seine unbezähmbare Leidenschaft für die Kästen und bat und erhielt auch die Erlaubnis, mit dem Zauberer zu verhandeln. Noch am gleichen Nachmittage machten der Kapitän und ich uns schleunigst auf den Weg nach dem Hospital, betraten den eingezäunten Platz, hoben die Matten hoch und begannen mit Muße die Kästen zu untersuchen. Sofort stürzte Terutaks Frau aus einem der benachbarten Häuser auf uns zu, raffte ihre Schätze zusammen und war verschwunden. In meinem ganzen Leben bin ich nicht so vollständig überrumpelt worden. Sie kam, sie nahm, sie schwand, ich weiß nicht wohin, und wir blieben mit dummem Gesicht und dummem Lachen auf dem leeren Schlachtfelde zurück. Das war der passende Prolog für unser denkwürdiges Handelsgeschäft.

Nach einer Weile tauchte Terutak‘ in Begleitung Tarnaitis auf, beide lächelnd, und wir vier hockten uns auf das Geländer hin. In den drei Maniapen des Krankenhauses hatte sich eine Zuhörerschaft versammelt: die Angehörigen eines kranken und in Behandlung befindlichen Kindes, ferner des Königs Schwester mit einem Kartenspiel beschäftigt, ein hübsches Mädchen, das schwor, ich sei das Ebenbild ihres Vaters: alles in allem vielleicht zwanzig Personen. Terutaks Frau war von neuem so plötzlich erschienen, wie sie verschwunden war und saß jetzt atemlos und scharf aufpassend neben ihrem Gatten. Vielleicht war unsere Absicht gerüchtweise bekannt geworden, vielleicht hatten wir auch durch unsere unziemlichen Freiheiten die Leutchen alarmiert; gewiß ist, daß auf den Gesichtern aller Anwesenden Erwartung und Besorgnis geschrieben standen.

Kapitän Reid verkündete jetzt ohne jede Vorrede oder Bemäntelung, daß ich hierher gekommen wäre, um die Kästen zu kaufen; Terutak‘ erklärte darauf mit plötzlichem Ernst, daß sie ihm nicht feil wären. Wir drangen in ihn, er aber blieb fest. Wir setzten ihm auseinander, daß wir nur einen Kasten haben wollten: machte nichts, zwei wären erforderlich, um die Kranken zu heilen. Wir neckten ihn, redeten hin und her: alles umsonst. Ernst und schweigsam saß er da und weigerte sich. Bisher jedoch war das nur ein vorbereitendes Scharmützel gewesen; wir hatten noch keine Geldsumme genannt, jetzt aber ließ der Kapitän die schweren Geschütze spielen. Er nannte ein, zwei, schließlich drei Pfund. Aus den Maniapen gesellte sich einer nach dem andern zu uns, einige aus schierer Neugier, andere in unverhohlener Bestürzung. Das hübsche Mädchen schlich sich an meine Seite: dieser Moment war es, da sie mir – sicherlich nur in harmlosester Schmeichelei – die Ähnlichkeit mit ihrem Vater gestand. Tamaiti, der Ungläubige, saß kopfhängerisch, und mit jedem Anzeichen tiefster Depression da – Terutak‘ troff vor Schweiß, seine Augen wurden glasig, auf seinem Gesicht erschien eine unangenehme hektische Röte, seine Brust hob und senkte sich wie bei einem erschöpften Wettläufer. Der Mann muß von Natur aus habgierig gewesen sein; ich zweifle, ob ich je eine moralische Tortur so tragisch sich habe ausdrücken sehen. Inzwischen redete ihm die Frau an seiner Seite leidenschaftlich zu und bestärkte ihn in seinem Widerstand.

Und jetzt kam der Sturmangriff der alten Garde. Der Kapitän schoß ein Saltomortale und nannte die erstaunliche Summe von fünf Pfund. Bei diesem Wort leerten sich die Maniapen. Des Königs Schwester warf ihre Karten hin und kam nach vorne, um mit bewölkter Stirn zu lauschen. Das hübsche Mädchen schlug sich auf die Brust und schrie mit peinlicher Hartnäckigkeit, daß ich die Kästen kriegen würde, wenn sie die ihren wäre. Terutaks Frau geriet vor frommer Furcht außer sich, ihr Gesicht verzerrte sich, ihre Stimme (die nicht aufhörte zu warnen und zu ermutigen) schrillte wie eine Pfeife. Selbst Terutak‘ verlor die statuengleiche Unbeweglichkeit, die er bisher gewahrt hatte. Er schaukelte sich auf seiner Matte hin und her, zog abwechselnd das eine und das andere Knie an sich und schlug sich nach Art der Tänzer auf die Brust. Allein er ging als lauteres Gold aus der Feuerprobe hervor und weigerte sich, mit der wenigen Stimme, die ihm noch geblieben war, die Bestechung anzunehmen.

Jetzt trat ein willkommener Zwischenfall ein. »Geld, das niß Kjanken heilen«, bemerkte sententiös des Königs Schwester. Kaum hatte man mir den Einwurf verdolmetscht, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel und ich mich meines Tuns schämte. Hier war ein krankes Kind, und ich trachtete in Gegenwart seiner Eltern danach, den Medizinkasten zu entfernen. Hier war ein Priester der Religion und ich (ein heidnischer Millionär) verführte ihn zu einem Sakrileg. Hier war ein habgieriger Mensch, der zwischen Geiz und seinem Gewissen hin und her gerissen wurde, und ich saß daneben, weidete mich an dem Anblick und erneuerte wollüstig seine Qualen! Ave, Caesar! Irgendwo in einem Winkel schlummernd aber nicht tot, ruht in uns allen die eine Urleidenschaft: eine embryonale Sucht nach dem Sand und dem Blut der Arena! So brachte ich denn mein erstes und letztes Erlebnis als Millionär zu Ende und ging unter ehrfürchtigem Schweigen hinaus. Nirgends sonst darf ich erwarten, je wieder so bis in alle Tiefen hinein die menschliche Natur aufzurühren – mit Hilfe von fünf Pfund; nirgends sonst, selbst unter Anwendung von Millionen, kann ich hoffen, das Verderbliche des Reichtums so rückhaltlos entschleiert zu sehen. Von allen Zuhörern hatte allein des Königs Schwester die Erinnerung an den Ernst und die Gefahr des Augenblicks gewahrt. Die Augen der anderen glühten, das Mädchen schlug sich in tierischer, sinnloser Aufregung auf die Brust. Dabei hatte man ihnen selbst nichts geboten; sie hatten weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren gehabt; allein die Nennung und die Witterung dieser ungeheuren Summen genügten, um den Teufel in ihnen aufleben zu lassen.

Von dieser seltsamen Verhandlung begab ich mich schnurstracks in den Palast, suchte den König auf, gestand ihm, was ich getan hatte, bat ihn, Terutak‘ in meinem Namen zu seiner Tugend zu beglückwünschen und noch vor Rückkehr des Schoners einen ähnlichen Kasten für mich anfertigen zulassen. Tembinok, Rubam und eine der Tageszeitungen, den wir unter uns die »Luftige Ecke« getauft hatten – schienen eine Weise an irgendeiner Idee zu arbeiten, die sie endlich nach langem Ringen in Worte faßten. Sie fürchteten, ich wäre der Ansicht, der Kasten könnte mich heilen, während er doch ohne den Zauberer nutzlos war, und wenn ich eine neue Erkältung kommen fühlte, täte ich besser daran, mich auf den »Schmerzentöter« zu verlassen. Ich erklärte ihnen daher, daß ich lediglich den Wunsch hätte, ihn als Andenken an Apemama in meinem »’Aus« aufzubewahren, worauf die ehrlichen Burschen außerordentliche Erleichterung zeigten.

Spät am gleichen Abend hörte meine Frau auf dem Wege zum Meeresufer aus dem Busch ein Singen. Nichts ist alltäglicher, als zu jener Stunde und an jenem Orte das jubelnde Lied der Palmweinzapfer zu vernehmen, die sich hoch zu Häupten in den Palmen wiegen und dabei unter sich das schmale Band der Insel, die es umschließende weite Ebene des Ozeans und die Flammen des Sonnenuntergangs sehen. Doch jener Gesang war ernsteren Charakters und schien vom Erdboden aufzusteigen. Als meine Frau auf das Dickicht zuschritt, sah sie an einem freien Fleck eine feine Matte ausgebreitet, und in der Mitte einen Kranz weißer Blumen und einen der Teufelskästen. Eine Frau – in der wir ruhig Frau Terutak‘ vermuten dürfen – saß davor, beugte sich von Zeit zu Zeit über den Kasten wie eine Mutter über eine Wiege und hob dann wieder den Blick und ihre Stimme zum Himmel empor. Ein vorübergehender Palmweinzapfer erzählte meiner Frau, daß sie betete. Wahrscheinlich aber betete sie nicht so sehr, als daß sie Abbitte leistete, oder vielleicht war die Zeremonie auch nur eine Entzauberung. Denn der Kasten war bereits verurteilt; er sollte seinem grünen Medizinbaum, der heiligen Stätte und den frommen Wärtern entrissen werden, um drei Meere zu durchkreuzen und direkt unter der Narrenkappe der Sankt Pauls Kathedrale zu landen. Dort, hart bei Lillie Bridge, sollte er beheimatet und täglich von einem britischen Zimmermädchen abgestaubt werden. Dort hat er vielleicht das Gebraus von London City für die Stimme des offenen Meeres über den Riffen gehalten. Noch ehe wir unser Abendessen beendet hatten, mußte Tschentsch seine Reise bereits antreten, denn eine der Zeitungen des Königs stellte den Kasten als Geschenk Tembinoks auf unseren Tisch.

Ich eilte sofort in den Palast, bedankte mich beim König, erbot mich jedoch den Kasten zurückzuerstatten, denn ich konnte den Gedanken, daß die Kranken der Insel dafür zahlen sollten, nicht ertragen. Seine Antwort setzte mich in Erstaunen. Terutak‘ – so stellte es sich heraus – besaß noch drei oder vier Kästen für Unglücksfälle in Reserve, und die Abneigung und Furcht, die sich auf seinem Gesicht widerspiegelten, wurzelten durchaus nicht in der Aussicht, eines medizinischen Schatzes beraubt zu werden, sondern unmittelbar in der Göttlichkeit Tschentschs. Wie sehr lernte ich jetzt des Königs Macht respektieren, die imstande war, augenblicklich und für nichts eine kirchenschänderische Gunst zu erpressen, die ich vergeblich mit meinen Millionen zu erkaufen versucht hatte! Doch jetzt stand mir noch eine schwierige Aufgabe bevor. Ich wollte nicht, daß Terutak‘ durch seine Tugend Einbuße erleiden sollte; ich mußte daher den König zu meiner Anschauung bekehren und ihm die Erlaubnis abringen, einen seiner Untertanen bereichern zu dürfen, ja (was das Allerheikelste war), ich wollte mein Geschenk bezahlen. Nichts zeigt den König in einem vorteilhafteren Lichte als die Tatsache, daß mir jener Versuch gelang. Zuerst murrte er gegen das Prinzip; er schlug, als er die Summe hörte, die Hände über dem Kopfe zusammen. »Vie Geld!« rief er, ohne sein verächtliches Mißfallen zu verbergen. Allein sein Widerstand war zu keiner Zeit wirklich ernst gemeint, und als seine schlechte Laune verflogen war, meinte er: »A‘ right. Du ihm geben. Vie beßah.«

Bewaffnet mit dieser Erlaubnis ging ich direkt in das Hospital. Die Nacht war jetzt kühl, dunkel und sternklar. Auf einer Matte, dicht neben einem hellen Feuer aus Holz und Kokosrinde, lag Terutak‘ neben seiner Frau. Beide lächelten; ihre Qualen waren vorüber; des Königs Befehl hatte wohl ihre ängstlichen Skrupel beschwichtigt, und man bat, ich möchte mich setzen und die kreisende Pfeife teilen. Ich war selbst ein wenig erregt, als ich die fünf Goldstücke in des Zauberers Hand legte, allein auf Terutaks Gesicht stand kein Zeichen von Bewegung, als er sie mir zurückgab, nach dem Palast hinüberwies und den Namen Tembinoks nannte. Dagegen war die Szene mit einem Schlage verwandelt, als ich ihnen die Lage glücklich auseinandergesetzt hatte. Terutak‘, dieser lange, sauertöpfische, schottische Fischer, drückte seine Zufriedenheit noch innerhalb der menschlichen Grenzen aus, aber die Frau strahlte geradezu, und ein alter Herr, der sich in ihrer Gesellschaft befand – ihr Vater, wie ich annehme, – schien förmlich verklärt. Seine Augen quollen ihm aus dem Kopf. »Kaupoi, kaupoi, – reich, reich« – ertönte es in endloser Wiederholung von seinen Lippen, und er konnte mich nicht ansehen, ohne vor törichtem Gelächter förmlich zu gurgeln. Jetzt konnte ich nach Hause gehen, und jener vom Feuer beschienene Familienkreis blieb allein zurück, um sieh an seinen neuen Millionen zu weiden – und dann konnte ich meinen seltsamen Tag überdenken. Ich hatte den Millionär gespielt, hatte mich schandbar benommen und dann bis zum gewissen Grade meine Gedankenlosigkeit wieder gutgemacht. Und jetzt besaß ich meinen Kasten und konnte in ihn hineinsehen. Er enthielt eine Schlafmatte en miniature und eine weiße Muschel. Als ich am folgenden Tage Tamaiti über die Muschel befragte, erklärte er, sie wäre ja nicht gerade Tschentsch in eigenster Person, aber eine Verkörperung von ihm, eine Zelle, die er mitunter bewohnte. Auf die Frage hin, was denn die Schlafmatte zu bedeuten hätte, erwiderte er voller Entrüstung: »Weshalb ihr haben Matten?« Das war also der skeptische Tamaiti! Aber der Skeptizismus auf den Inseln sitzt nirgends tiefer als auf den Lippen.

Siebentes Kapitel. Der König von Apemama

So gehorchten alle Wesen der Insel, selbst die Priester und Götter, dem Worte Tembinok’s. Er allein kann geben und nehmen und töten, kann die Skrupel des Gewissens zum Schweigen bringen, kann (scheinbar) alles, nur in die Zubereitung einer Schildkröte sich einmischen, das kann er nicht. »Ie haben Macht«, ist seine Lieblingsredensart; sie kehrt in allen seinen Gesprächen wieder, der Gedanke verfolgt ihn förmlich und verliert für ihn nie den Reiz der Jungfräulichkeit; ja, selbst wenn er einen Besucher über fremde Länder ausfragt und den Antworten nachsinnt, sieht er plötzlich mit einem Lächeln auf und erinnert ihn an das eine: »Ie haben Macht.« Und seine Freude macht durchaus nicht bei dem reinen Besitze halt, nein, er übt seine Macht auch aus. Er schwelgt in den krummen und gewalttätigen Mitteln des Königstums, wie ein starker Mann einen Wettlauf genießt, oder ein Künstler sich an seiner Kunst erfreut. Seine Macht empfinden und ausnutzen, seine Insel und das Bild des Lebens auf ihr nach feinem eigenen Ideal verschönern, das Eiland ausgiebig melken und sein seltsames Museum ausbauen – das sind die angenehmen Beschäftigungen, die die Summe seiner Fähigkeiten fesseln. Niemals sah ich einen Menschen vollkommener zu s einem Berufe passen.

Natürlich möchte man annehmen, Tembinok‘ hätte jene Monarchie intakt von Generationen von Vorvätern geerbt. Doch nein! Sie ist ein Gebilde von gestern. Ich war bereits ein Junge und ging zur Schule, als Apemama noch eine Republik war, die von einem lärmenden Rat der Alten regiert und von unheilbaren Fehden zerrissen wurde. Dabei ist Tembinok‘ kein Bourbone, weit eher der Sohn eines Napoleon. Selbstverständlich ist er von guter Herkunft. Niemand auf den Südseeinseln versuche, es zu etwas Großem zu bringen, wenn sein Stammbaum nicht lang und in seinen äußersten Spitzen mythologisch ist. Unser König zählt die größten Familien des Archipels zu seinen Vettern und führt seine Abstammung auf einen Haifisch und ein Heldenweib zurück. Getrieben von einem Orakelspruch, schwamm diese Frau außer Sichtweite des Landes ins Meer hinaus, um sich mit ihrem gräßlichen Buhlen zu treffen und empfing auf See den Samen eines auserlesenen Geschlechts. »Ie meinen, es Lüge«, so lautet des Königs emphatischer Kommentar; trotzdem ist er sehr stolz auf die Legende. Nach diesem illustren Anfang muß die Familie jedoch herabgekommen sein; Tenkoruti, der Großvater Tembinok’s, war simpler Häuptling eines Dorfes am Nordende der Insel. Kuria und Aranuka waren damals unabhängig, Apemama selbst diente als Arena verheerender Fehden. Durch diese unruhige Periode der Geschichte stolziert als hervorragende Gestalt Tentoruki. Im Kriege war er rasch und blutig; verschiedene Ortschaften fielen unter seinem Speer, und die Bewohner wurden bis auf den letzten Mann niedergemetzelt. Im bürgerlichen Leben war er von unerhörter Arroganz. Wenn der Rat der Alten zusammenberufen wurde, begab er sich in das Sprechhaus, äußerte seine Ansicht und ging wieder, ohne auf die Antwort zu warten. Die Weisheit hatte gesprochen: mochten die anderen nach ihrer Torheit reden. Man fürchtete und haßte ihn, und er freute sich dieses Hasses. Er war kein Dichter; was fragte er nach Kunst und Wissen? »Mein Gloß Vatah, eh savvy ein Ding: eh savvy kämpfen«, bemerkte der König. Während einer Pause in ihren Streitigkeiten unternahmen die Alten von Apemama das Wagnis einer Eroberung Apemamas, und dieser ungeleckte Caius Marcius wurde zum Generalissimus der vereinigten Heere gewählt. Erfolg begleitete ihn; die Inseln wurden unterworfen und Tentoruki kehrte, ruhmbedeckt und verhaßt, zu seiner eigenen Herrschaft zurück. Er starb etwa 1860, im siebzigsten Jahre seines Lebens und im vollen Geruch seiner Unpopularität. Er war groß und hager, erzählt sein Enkel, sah sehr alt aus und »ging ganß wie junge Mann.« Der nämliche Beobachter berichtete mir noch von einer anderen, bemerkenswerten Einzelheit. Die Überlebenden jener rauhen Epoche waren alle durch zahlreiche Speernarben verunstaltet; einzig der Körper dieses geschickten Kämpfers war ohne jedes Zeichen einer Wunde. »Ie sehen alte Mann, eh haben keine Speer«, sagte der König.

Tentoruki hinterließ zwei Söhne, Tembaitake und Tembinatake. Tembaitake, der Vater unseres Königs, war von kurzer und mäßig korpulenter Statur, ein Dichter, ein guter Genealoge und etwas von einem Kämpfer. Es scheint, daß er sich selbst von jeher sehr ernst genommen hat und sich kaum bewußt wurde, daß er in allen Dingen nur die Kreatur und Puppe seines Bruders war. Niemals gab es auch nur den Schatten eines Streits zwischen den beiden: der größere Mann füllte bereitwilligst und zufrieden den zweiten Platz aus, hielt in Kriegszeiten die Bresche gegen die Angreifer und im Frieden sämtliche Portfeuilles, und wenn sein Bruder ihn schalt, hörte er schweigend mit gesenkten Blicken zu. Gleich Tentoruki war auch Tempinatake groß, hager und ein gewandter Redner – ein seltener Zug auf den Inseln. Er war Meister aller Künste, verstand sich auf Zauberei, war der beste Genealoge seiner Zeit, ein Dichter, Tänzer, Verfertiger von Kanoes und ein Waffenschmied; und der berühmte Mast von Apemama, der um eine Spanne höher war als der Hauptmast eines großen Segelschiffs, stammte in Entwurf und Ausführung von ihm. Doch waren dies alles nur Nebenbeschäftigungen, des Mannes eigentliches Gewerbe war der Krieg. »Mei Onkel, wenn eh gehen machen Klieg, eh lachen«, sagte Tembinok‘. Er, der Schürer einheimischer Fehden, verbot die Verwendung von Feldbefestigungen; seine Leute mußten im Freien kämpfen, siegen oder auf der Stelle untergehen; seine eigenen Leistungen trieben seine Gefolgsleute an, und die Raschheit seiner Hiebe schlug im Verlaufe einer einzigen Generation den Widerstand der drei Inseln nieder. Er machte seinen Bruder zum Herrscher, seinen Neffen zum absoluten Tyrannen. »Mei Onkel, eh machen alles glatt«, sagte Tembinok‘. »Ie meh König als mein Patah: ie haben Macht«, bemerkte er mit furchtbarem Behagen.

So sieht das Porträt aus, das der Neffe von dem Onkel entwarf. Ihm zur Seite vermag ich ein zweites, von einem ganz anderen Künstler verfertigtes Bild zu stellen, einem Künstler, der mich häufig, ja, ich kann getrost behaupten, immer durch seine romantische Erzählungskunst entzückt und sehr selten von seiner Genauigkeit überzeugt hat. Ich habe mir indes die Verwendung so vielen ausgezeichneten Materials aus eben dem Grunde versagt, so daß ich es allmählich für angezeigt halte, die Tugend zu belohnen; und sein Bericht über Tembinatake stimmt so ganz mit dem des Königs überein, daß er sehr wohl (wie ich hoffe) eine Wiedergabe der Wahrheit und nicht (wie ich vermute) das reizende Spiel einer mehr als matrosenhaften Phantasie sein kann. A. – so will ich ihn lieber nennen – wanderte eines Tages bei Abenddämmerung auf der Insel umher, als er an ein erleuchtetes Dorf von nicht geringer Größe kam. Dort wurde er in das Haus des Häuptlings verwiesen und bat um Erlaubnis, sich setzen und eine Pfeife rauchen zu dürfen. Das Essen wurde gebracht, ein Gebet gesprochen (denn es waren die kurzen Tage des Christentums), und der Häuptling selbst betete mit Inbrunst und scheinbarer Aufrichtigkeit. Den ganzen langen Abend saß A. neben ihm und bewunderte beim Lichte des Feuers seine Person. Er war sechs Fuß hoch, hager, dem Äußeren nach schon alt, und aus seinem ganzen Wesen sprachen in außerordentlichem Maße Wohlerzogenheit und Autorität. »Er sah aus, als könnte er einen lachend umbringen«, sagte A. und sprach damit seltsamerweise ein Wort des Königs nach. Und wieder: »Ich hatte gerade die Drei Musketiere gelesen, und er erinnerte mich an Aramis.« Das ist das Porträt Tembinatakes, von einem gewiegten Romancier gezeichnet.

Wir hatten viele Geschichten von »Mein Patah« gehört, dagegen bis zwei Tage vor unserer Abreise nicht ein Wort von »meinem Onkel«. Als der Abschied näherrückte, ging eine große Veränderung in Tembinok‘ vor. An Stelle seines alten Ichs erschien ein weicherer Mann, der noch melancholischer und vor allem vertrauensvoller war. Meiner Frau versuchte er mühselig auseinanderzusetzen, er hätte zwar gewußt, daß es in der Natur der Dinge läge, seinen Vater zu verlieren, doch hätte er den Verlust erst vollkommen erkannt und beachtet, als der Moment dagewesen wäre; und jetzt, da er uns verlieren müßte, wiederhole sich das Erlebnis. Eines Abends veranstalteten wir auf der Terrasse ein Feuerwerk. Es war ein melancholisches Geschäft; das Gefühl der Trennung lastete auf allen, und das Gespräch stockte. Der König war besonders gerührt, saß untröstlich auf seiner Matte und seufzte viel. Plötzlich trat eine der Frauen aus der Gruppe hervor und zu ihm hin, küßte ihn stillschweigend und ging schweigend wieder an ihren Platz. Es war eine Liebkosung, wie man sie einem traurigen Kinde gibt, und der König nahm sie mit kindlicher Einfachheit hin. Nach einer Weile sagten wir gute Nacht und zogen uns zurück; allein Tembinok‘ hielt Mr. Osbourne fest, klopfte auf die Matte neben der seinen und sagte: »Du diß setzen. Ie miss fühlen schlecht. Ie mögen splechen.« Osbourne setzte sich zu ihm. »Du mögen Biehl?« fragte er, und eine der Frauen holte eine Flasche. Der König trank nicht, sondern saß seufzend und seine Meerschaumpfeife rauchend da. »Ie seh tlaulig, daß du gehen«, sagte er schließlich. »Miß Stlevens, eh gute Mann, Flau, eh gute Mann, Junge, eh gute Mann; alle gute Mann. Flau, eh klug ganß wie Mann. Meine Flau (mit einem Blick auf seine Gattinnen) eh gute Flau, niß seh klug. Ie glauben, Miß Stlevens, eh reiche Mann, ganß wie ie. Alle gehen Schona. Ie seh tlaulig. Mein Patah, eh gehen, mein Onkel, eh gehen, mein Vettel, eh gehen. Miß Stlevens, eh gehen: alle gehen. Du niß König sehen weinen bevoh. König tlotzdem wie Mann: eh fühlen schlimm, eh weinen. Ie seh tlaulig.«

Am Morgen war es allgemeines Dorfgespräch, daß der König geweint hatte. Zu mir sagte er: »Geßten Nacht, ie niß splechen: ßu vieh hieah,« die Hand auf seinen Busen legend, »Nun du gehen foht, ganß wie meine Pamili. Meine Blüdah, mein Onkel gehen foht. Ganß so wie du.« Die letzten Worte wurden in fast leidenschaftlicher Trauer gesagt. Und es war das erstemal, daß ich ihn seinen Onkel hatte nennen, ja, auch nur das Wort hatte aussprechen hören. Noch am gleichen Tage sandte er mir als Geschenk zwei Brustpanzer, nach Inselart schwer und stark, aus Fasern geflochten. Der eine war von Tenkoruti, der andere von Tembaitake getragen worden, und da die Gabe dankbar entgegengenommen wurde, schickte er nach Rückkehr seines Boten noch einen dritten –den Tembinatakes. Meine Neugier wurde wach; ich bat ihn, von den drei Eigentümern zu erzählen, und der König erging sich mit Genuß in den oben geschilderten Einzelheiten. Eine seltsame Sache, daß er so viel von seiner Familie geredet hatte, ohne ein einziges Mal auch nur den Verwandten zu erwähnen, auf den er am meisten stolz war. Ja, mehr noch: er hatte mit seinem Vater geprahlt; von nun ab hatte er wenig über ihn zu berichten, und die Eigenschaften, deretwegen er ihn bisher gelobt hatte, wurden jetzt dem beigemessen, dem sie gebührten, seinem Onkel. Eine Verwechslung kommt bei Insulanern, die sämtliche Söhne eines Großvaters Vater zu nennen pflegen, sonst häufig genug vor. Aber das war bei Tembinok‘ nicht der Fall. Nun da das Eis gebrochen war, kehrte das Wort Onkel in seinem Munde immer wieder; er, der sie so bereitwillig verwechselt hatte, unterschied sie jetzt peinlichst, und der Vater sank allmählich zur Rolle des selbstzufriedenen Durchschnittsmenschen herab, der er gewesen war, während der Onkel sich zu der wahren Statur eines Helden und Begründers des Geschlechts aufrichtete.

Je mehr ich zu hören bekam, je mehr ich überlegte, um so stärker gab mir die Ungereimtheit in Tembinok’s Verhalten zu denken. Und die Erklärung, die endlich kam, hätte die Fantasie eines Dramatikers reizen können. Tembinok‘ hatte zwei Bruder. Der eine, den er darüber ertappte, daß er auf eigene Faust Handel trieb, wurde verbannt und dann begnadigt und lebt jetzt als Vater des künftigen Tronerben, Paul, auf der Insel. Der andere sündigte über jede Verzeihung hinaus. Ich hörte, daß er eine Liebesaffäre mit einer der Frauen des Königs hatte, eine in diesem sonst so romantischen Archipel vollkommen unmögliche Angelegenheit. Man versuchte, gegen Tembinok‘ Krieg zu führen; aber dieser war zu rasch für die Rebellen, und der schuldige Bruder entfloh in einem Kanoe. Obendrein ging er nicht allein. Tembinatake hatte sich an dem Aufstand beteiligt, und der Mann, der einem Schwächling von einem Bruder ein Königreich gewonnen hatte, wurde von jenes Bruders Sohn verbannt. Die Flüchtlinge gingen auf fremden Inseln an Land, und Tembinok‘ weiß bis auf den heutigen Tag nicht, was aus ihnen geworden ist.

So weit die Geschichte. Und hier setzt die Vermutung ein. Tembinok‘ verwechselte gewohnheitsmäßig nicht nur die Eigenschaften und Tugenden seines Vaters und seines Onkels, sondern auch ihre persönlichen Erscheinungen. Bevor er je von Tembinatake gesprochen hatte oder auch nur daran dachte, von ihm zu sprechen, hatte er mir seinen Vater als einen großen, hageren Mann, geschult in allen Künsten des Krieges und sein eigener Lehrmeister in der Genealogie sowie in den dortigen Künsten geschildert. Wie wenn nun beide seine Väter gewesen wären, der eine sein natürlicher, der andere sein Adoptivvater? Wie wenn der Erbe Tembaitakes, wie der Erbe Tembinok’s selbst, nicht der Sohn, aber ein adoptierter Neffe war? Wie wenn der Gründer der Monarchie, während er für seinen Bruder sich mühte, gleichzeitig auch für den Sohn seiner Lenden arbeitete? Wie wenn nach dem Tode Tembaitakes die beiden stärkeren Naturen, Vater und Sohn, König und Königsmacher, aneinander gerieten, und Tembinok‘, als er seinen Onkel vertrieb, seinen Erzeuger von der Insel jagte? Wie dem auch sei, jedenfalls haben wir hier eine Tragödie in der vierten Potenz.

Der König, der sich zu dieser Gelegenheit die Admiralsuniform angelegt hatte, brachte uns in seiner eigenen Jolle an Bord. Er hatte wenig zu sagen, weigerte sich, irgendeine Erfrischung zu sich zu nehmen, schüttelte uns nur kurz die Hand und fuhr wieder an Land zurück. Noch in der gleichen Nacht versanken die Palmwipfel Apemamas im Meer, und der Schoner segelte einsam unter den Sternen hin.

 

Ende des Zweiten Bandes

Zweites Kapitel. Friedhofsgeschichten

Meinen abergläubischen Freunden, den Polynesiern gegenüber, bin ich, fürchte ich, nicht immer ganz aufrichtig gewesen, denn häufig gab ich als erster irgendeine Mär zum besten, und stets war ich ein ernsthafter, mitunter aber auch ein aufgeregter Zuhörer. Allein dieser kleine Betrug dürfte nicht sehr schwer wiegen, da es mir ebenso viel Freude machte, zuzuhören, wie ihnen, zu erzählen, und da ich so viel Gefallen an den Geschichten fand, wie sie an ihrem Aberglauben. Außerdem ist ein derartiger Betrug durchaus notwendig, denn es ist kaum möglich, die Vielseitigkeit und Macht ihres Aberglaubens zu übertreiben. Er formt ihr ganzes Leben und beeinflußt ihr Denken von Grund aus. Wenn sie nicht von Gespenstern, Göttern und Teufeln sprechen, spielen sie die Heuchler und reden nur mit den Lippen. Angesichts einer so völlig verschiedenen Gedankenwelt ist man gezwungen, auf die anderen Rücksicht zu nehmen, und mir ist es lieber, ich pflege ihren Aberglauben, als daß sie meine Ungläubigkeit nähren. Von einem bin ich außerdem überzeugt: mag ich ihnen noch so sehr nachgehen, niemals werde ich den ganzen Umfang ihres Aberglaubens kennenlernen, denn stets sind sie vor Leuten meinesgleichen auf der Hut, und ihre Sagenwelt ist schier unerschöpflich.

Ich will hier nur einige willkürliche Beispiele anführen, die ich in der Hauptsache auf meiner eigenen Türschwelle auf Upola im vergangenen Monat (Oktober 1890) erfuhr. Einer meiner Arbeiter wurde kürzlich nach dem Bananenhain geschickt, um dort zu graben. Der Hain lag in einer Senke zwischen den Bergen tief in den Wäldern verborgen, außer Sicht- und Rufweite von Menschen, und lange vor der Abenddämmerung stand Lafaele mit verlegener Miene bereits wieder neben der Küche: er hätte nicht gewagt, länger zu bleiben, er fürchte sich vor den Geistern im Busch. Es scheint, daß es die Seelen der unbegrabenen Toten sind, die sich dort aufhalten, wo sie starben, und jetzt die Formen von allerlei Waldgetier annehmen, von Ebern, Vögeln oder Insekten. Der Busch soll von ihnen wimmeln, sie essen anscheinend überhaupt nicht, sondern töten den einsamen Wanderer nur aus Bosheit, und mitunter ziehen sie auch in Menschengestalt ins Dorf hinab, um sich dort, unentdeckt zu den Lebenden zu gesellen. Das erfuhr ich wenige Tage später, als ich mit einem sehr intelligenten jungen Burschen, einem Eingeborenen, im Busch spazierenging. Es war kurz vor Mittag an einem grauen, stürmischen Tage, und ich hatte vielleicht etwas leichtfertig gesprochen. Da barst eine dunkle Wolke zwischen den Bergen, die Wälder bebten und ächzten, die welken Blätter stoben in Schwärmen wie Schmetterlinge dahin und mein Gefährte blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Er hätte Furcht, erklärte er, daß die Bäume stürzen könnten; kaum hatten wir jedoch unser Thema gewechselt, als er wieder munter drauflosschritt. Einige Tage zuvor war ein Bote mit einem Brief von Apia den Berg hinaufgekommen: ich war damals gerade im Busch gewesen, und er hatte meine Rückkehr sowie die Antwort abwarten müssen. Ich war noch nicht fertig, da brach er schon in schrille Klagen über die hereinbrechende Dunkelheit und den langen Weg durch den Wald aus. Das ist nun das gemeine Volk. Aber nehmen wir die Häuptlinge. In unserer Gruppe herrscht gerade ein großes Kommen und Gehen von Zeichen und Omina. Der eine Fluß führt Blut mit sich, in einem anderen fängt man rote Aale; ein unbekannter Fisch wurde in unserer Gegend an Land geworfen und auf seinen Schuppen stand ein verhängnisvolles Wort geschrieben. Das gleiche hätten wir noch ebensogut in irgendeiner mittelalterlichen Mönchschronik lesen können: jetzt kommt aber eine frische, zugleich moderne und polynesische Note. Die Götter von Upolu und Sawaii, unseren beiden Hauptinseln, haben erst kürzlich insgeheim einen Krickettmatch ausgefochten. Seitdem liegen sie miteinander im Kriege. Der Lärm der Schlacht rollt mitunter die ganze Küste entlang. Ein Weib sah einen Mann aus dem offenen Meer an das Ufer schwimmen und im Busch verschwinden; er stammte nicht irgendwoher aus der Nachbarschaft, nein, man wußte, es war einer der Götter auf dem Wege zu einer Ratsversammlung. Und, was das Auffallendste von allem ist, ein Missionar aus Sawaii, der gleichzeitig Arzt ist, wurde erst kürzlich in der Nacht durch Klopfen geweckt. Es war gar nicht die Zeit seiner Sprechstunde, aber schließlich wachte er doch auf und schickte jemanden hin, um nachzufragen. Als der Diener aus dem Fenster schaute, sah er eine große Menge Menschen, alle schwerverletzt, mit abgerissenen Gliedern, eingeschlagenen Köpfen und blutenden Schußwunden; aber als das Tor geöffnet wurde, waren sie alle verschwunden. Selbstverständlich waren es die Götter, die von dem Kampfplatz heimkehrten.

Diese Gerüchte haben natürlich ihre Bedeutung; unschwer lassen sie sich auf politisch Mißvergnügte zurückführen und leicht kann man in ihnen Anzeichen kommender Gefahren lesen; von dieser rein menschlichen Seite aus betrachtet, fand ich sie auch nicht ungefährlich. Doch wurde gerade ihre geistige Seite in geheimen Beratungen von höher gestellten Personen meiner Bekanntschaft erörtert. Am besten lassen sich die verschiedenen Gesichtspunkte des Polynesiers in zwei miteinander zusammenhängenden Vorfällen schildern. Ich wohnte einmal in einem Dorfe, dessen Namen ich nicht zu nennen brauche. Der Häuptling und seine Schwester waren durchaus kluge Menschen: adlig und sehr redegewandt. Die Schwester war streng religiös, eine eifrige Kirchenbesucherin, die mir Vorwürfe machte, wenn ich dem Gottesdienste fernblieb. Später erfuhr ich, daß sie insgeheim einen Hai anbetete. Der Häuptling selbst war etwas von einem Freidenker, zum mindesten ein toleranter Mann; dabei besaß er zahlreiche europäische Kenntnisse und Fertigkeiten sowie eine passive, philosophische Ironie. Ebensogut hätte ich in Herbert Spencer irgendeinen Aberglauben vermuten können. Nun aber kommt die Fortsetzung. Durch untrügliche Zeichen war ich darauf aufmerksam geworden, daß man die Leute auf dem Friedhof nicht tief genug verscharrte, und ich sprach mit meinem Freunde als mit der zuständigen Amtsperson darüber. »Etwas ist mit Ihrem Friedhof nicht in Ordnung,« sagte ich, »Sie müssen sich darum kümmern, sonst kann es sehr üble Folgen haben.« »Nicht in Ordnung? Was denn nur?« lautete seine Frage, die mit einer Erregung ausgesprochen wurde, welche mich in Erstaunen setzte. »Falls Sie mal an irgendeinem Abend so gegen neun Uhr da vorbeikommen wollen, können Sie sich selbst davon überzeugen«, erwiderte ich. Er wich einen Schritt zurück. »Ein Gespenst!« schrie er.

Kurz und gut, in der ganzen Südsee hat keiner das Recht, dem anderen Vorwürfe zu machen. Ob Halbblut oder ganz schwarz, ob fromm oder lasterhaft, intelligent oder dumm, alle glauben an Geister, alle verbinden mit ihrem jungen Christentum die Furcht vor den alten Inselgottheiten und den zähen Glauben an sie. So sind auch in Europa die Götter des Olymps allmählich zu Dorfpopanzen zusammengeschrumpft; so stiehlt sich auch heute noch der kirchengläubige Hochländer vor den Augen des Geistlichen hinweg, um an irgendeinem heiligen Brunnen sein Opfer niederzulegen.

Ich suche den ganzen Fragenkomplex an dieser Stelle zu behandeln, weil der paumotische Aberglaube von ganz besonderer Art ist. Allerdings lernte ich ihn auch durch einen Menschen kennen, der ein ausgesprochenes Talent für derartige Geschichten besitzt. Abends, eng um unsere Lampe geschart, das Geräusch der Brandung in unseren Ohren, hingen wir aufgeregt an seinen Lippen. Meine Leser, in einer so ganz anderen Umgebung, müssen scharf aufpassen, um ein leises Echo hiervon zu vernehmen.

Der ganze Kreis unheimlicher Geschichten entsprang dem Begräbnis und der egoistischen Beschwörung jener Frau. Ich war unbefriedigt von dem, was man mir gesagt hatte, kam immer wieder auf diese Fragen zu sprechen und stieß endlich auf eine ergiebige Ader. Von Sonnenuntergang bis etwa vier Uhr morgens müssen die Verwandten des Toten auf dem Grabe Wache halten, denn dies sind die Stunden, in denen der Geist umgeht. Jederzeit in der Nacht – früher oder später – kann man in der Erde ein Geräusch hören, das das Zeichen seiner Befreiung ist; pünktlich um vier Uhr folgt ein zweites Geräusch, das seine Rückkehr in die Gefangenschaft ankündigt, dazwischen treibt der Geist sein Unwesen. »Haben Sie je einen bösen Geist gesehen?« fragte ich einmal einen Paumoten. »Ein einziges Mal.« »In welcher Gestalt?« »In der Gestalt eines Kranichs.« »Und woher wußten Sie, daß der Kranich ein Geist war?« »Das werde ich Ihnen sagen«, erwiderte er, und erzählte folgende konfuse Geschichte. Sein Vater war vor etwa vierzehn Tagen gestorben, die anderen hatten das Wachen satt bekommen und als die Sonne unterging, befand er sich allein auf dem Grabe. Noch war es nicht dunkel, der Widerschein spendete noch etwas Helle, da bemerkte er auf einer Korallenbank einen schneeweißen Kranich. Allmählich kamen immer mehr Kraniche dazu, weiße und schwarze, dann verschwanden sie wieder und an ihrer Stelle sah er eine weiße Katze. Zu dieser Katze gesellte sich eine ungeheure Menge Katzen von jeder nur möglichen Farbe, bis auch diese verschwanden, und er verwundert zurückblieb.

Das war eine tröstliche Erscheinung. Nehmen wir statt dessen das Erlebnis Rua-a-mariterangis von der Insel Katiu. Rua brauchte einige Pandanen und ging auf die andere Seite der Insel, an den Meeresstrand, wo sie in Mengen wachsen. Der Tag war windstill, daher wunderte sich Rua, im Busch ein krachendes Geräusch und den Fall eines großen Baumes zu hören. Hier muß einer am Werke sein, sich ein Kanoe zu bauen, dachte er, und er betrat den Saum des Waldes, um mit seinem zufälligen Nachbarn einen kleinen Schwatz zu halten. Das Krachen klang immer näher, und dann merkte er, wie etwas aus den Baumwipfeln rasch auf ihn zu kam. Das Etwas baumelte mit dem Kopf nach unten und hielt sich wie ein Affe mit den Zehen fest, so daß seine Hände für jede Mordtat frei waren; es hing auch an den dünnsten Zweigen noch sicher, die Schnelligkeit mit der es sich näherte, war kaum zu glauben und bald erkannte Rua, daß es eine Leiche war, furchtbar durch ihr Alter, der die Eingeweide aus dem Leibe hingen. Gebet war das Mittel, zu dem unsere Christen im Mittelalter bei Geistererscheinungen ihre Zuflucht nahmen, und dem Gebet schreibt auch Rua-a-mariterangi seine Rettung zu. Eine rein irdische Waffe hätte ihm niemals helfen können.

Der Dämon war, kein Zweifel, dem Grabe entstiegen, obwohl es, wie man bemerkt haben wird, heller Tag war. Und wenn die Erscheinung auch im Widerspruch steht zu dem, was man über die Stunden der Nachtwache und den immer wieder erwähnten Morgenstern erzählt, so bildet sie doch durchaus nicht die einzige Ausnahme. Zwar habe ich niemals wieder gehört, daß jemand diesem mittäglichen Baumgeist begegnet wäre, andere aber haben den Sturz des Baumes vernommen, der das Signal seines Kommens zu sein scheint. Mr. Donat nahm einmal an einer Perlenfischerei auf der unbewohnten Insel Haraiki teil. Es war ein vollkommen ruhiger Tag, wie er in dem ganzen Archipel mit Tagen rauhen Windes abwechselt. Die Taucher befanden sich in der Mitte der Lagune bei der Arbeit, der Koch, ein zehnjähriger Junge, hantierte im Lager mit seinen Töpfen herum. So waren sämtliche Anwesende bis auf einen Eingeborenen, der Mr. Donat auf der Suche nach Vogeleiern begleitete, beschäftigt. Da hörten sie ganz plötzlich in der großen Stille den Fall eines mächtigen Baumes. Donat wollte weitergehen, um die Ursache zu ergründen, aber sein Begleiter rief: »Nein, das war kein Baum. Da stimmt etwas nicht, wir wollen in das Lager zurückkehren.« Am nächsten Sonntag wurden sämtliche Taucher ausgeschickt, um die Insel zu durchsuchen, und tatsächlich war auch kein Baum gefallen. Kurz danach sah Mr. Donat auf der nämlichen Insel einen seiner Taucher vor einem ähnlichen Geräusch in ähnlicher, echter Panik fliehen. Aber keiner wollte sich näher erklären, und erst später, als er mit Rua zusammenkam, erfuhr Donat den Grund ihres Schreckens.

Indessen bleibt der Zweck, den die Toten mit ihrem furchtbaren Wirken verfolgen, einerlei ob sie bei Tage oder in der Nacht erscheinen, stets der gleiche. Mein Gewährsmann auf Samoa hatte keine Ahnung, wovon die Buschgeister sich nährten; auf den Paumotu herrscht jedoch in dieser Beziehung keinerlei Unklarheit. In jenem stets hungrigen Archipel müssen die Toten wie die Lebenden um ihre Nahrung kämpfen, und da die Rasse in der Vergangenheit kannibalisch war, sind die Geister es auch heute noch. Da doch die Lebenden die Toten verzehrten, folgerte die erschreckte mitternächtliche Phantasie daraus, daß auch die Toten die Lebenden essen könnten. Zweifellos töten, ja verstümmeln die Geister die Menschen manchmal aus schierer Bosheit. Die marquesanischen Gespenster reißen zum Beispiel den Reisenden die Augen aus. Aber selbst das beruht vielleicht auf konkreteren Tatsachen, als man auf den ersten Blick annehmen möchte, denn das Auge gilt überall bei Kannibalen als ein Leckerbissen, und ohne Frage ist das Grundmotiv dieser Toten, die des Nachts umherstreifen, die Jagd nach Nahrung. Auch jenes Weib bei der Beerdigung pries Donat als einen delikaten Bissen an. Außerdem gibt es noch Geister, die es sich zur Spezialität machen, sich nicht von den Leibern, sondern von den Seelen der Toten zu ernähren. Das geht klar aus einer tahitischen Geschichte hervor. Ein Kind erkrankte, siechte schnell dahin und zeigte endlich alle Anzeichen des nahenden Todes. Da eilte die Mutter zu einem Zauberer, der in der Nähe wohnte. »Du kommst gerade noch zur rechten Zeit,« meinte der, »eben ist ein Geist an meiner Tür vorbeigelaufen, der die Seele deines Kindes in ein Puraoblatt gewickelt forttrug; aber ich habe einen Geist, der stärker ist und noch schneller läuft als er; der wird ihn einholen, bevor er Zeit hat, sie zu essen.« – In ein Blatt gewickelt: Wie alle eßbaren und dem Verfall ausgesetzten Dinge!

Oder nehmen wir einen Vorfall, der Mr. Donat auf der Insel Anaa zustieß. Es war in einer sehr stürmischen Nacht, der Wind fegte in Böen daher; das Kind war schwer krank, und der Vater lag, obwohl er zu Bett gegangen war, wach und lauschte auf den Sturm. Ganz plötzlich wurde eines seiner Hühner heftig gegen die Wand des Hauses geschleudert. In der Annahme, daß er vergessen hätte, es mit den anderen unter Dach und Fach zu bringen, stand Donat auf, fand das Tier (einen Hahn) auf der Veranda liegen und tat es in den Hühnerstall, dessen Tür er fest hinter ihm verriegelte. Fünfzehn Minuten später wiederholte sich die Geschichte mit dem einzigen Unterschied, daß das Tier diesmal, als es gegen die Wand geschleudert wurde, aufkrähte. Wieder brachte Donat es in den Stall, wobei er diesen genau untersuchte und feststellte, daß alles in Ordnung war. Während er noch damit beschäftigt war, blies der Wind das Licht aus und er mußte sich, ziemlich nervös geworden, zur Tür zurücktasten. Noch ein drittes Mal wurde der Vogel gegen die Wand geworfen, und zum drittenmal brachte Donat ihn in halbtotem Zustande zu dem übrigen Geflügel zurück. Kaum hatte er aber das Haus wieder erreicht, als irgend etwas mit der Kraft eines starken Mannes gegen die Tür stürmte und ein Pfeifen rings um das Haus ertönte, so laut wie von einer Lokomotive. Der skeptische Leser wird hierin nur die Anzeichen des wütenden Sturmes erkennen, die Frauen jedoch glaubten, alles wäre verloren und saßen wehklagend aneinandergedrängt auf den Betten. Nichts weiter geschah, und ich nehme an, daß das Unwetter allmählich nachließ, denn nach einer Weile kam ein Häuptling zu Besuch. Er war ein kühner Mann, daß er so spät noch auf den Beinen, war und trug zweifellos eine helle Laterne. Jedenfalls war er ein weiser Mann, denn kaum hatte er die Einzelheiten dieser Störungen gehört, als er sie auch schon erklärte. »Dein Kind«, sagte er, »wird sicherlich sterben. Das ist der böse Geist unserer Insel, der auf der Lauer liegt, um die Geister der soeben Verstorbenen zu verschlingen.« Und dann fuhr er fort, sich über das seltsame Benehmen des Geistes zu wundern. Gewöhnlich, meinte er, wäre er gar nicht so offen in seinen Angriffen, meist säße er stumm auf dem Dache auf der Lauer, und zwar in Gestalt eines Vogels, während die Insassen, ohne an irgend eine Gefahr zu denken, die Sterbenden pflegten oder die Toten beweinten. Wenn dann aber der Tag graute, die Türen geöffnet würden und die Menschen ausgingen, verrieten Blutflecke an der Wand die schreckliche Tragödie.

Hier findet sich das wieder, was ich an den paumotischen Sagen bewundere. Auf Tahiti soll der Seelenfresser eine Erscheinungsform wählen, die zwar viel pompöser, aber weit weniger grausig ist. Menschen jeder Art und jedes Standes, Eingeborene wie Ausländer, haben ihn gesehen; nur behaupten die letzteren, daß er ein Meteor sei. Mein Gewährsmann war dessen aber nicht ganz so sicher. Einst war er mit seiner Frau um zwei Uhr morgens auf einem Ritt unterwegs; beide kämpften gegen den Schlaf an, und den Pferden ging es auch nicht viel besser. Es war eine strahlend helle, stille Nacht, und der Weg führte sie über den Berg dicht an einem verödeten Marae (alten tahitischen Tempel) vorbei. Plötzlich zog die Erscheinung in Form eines gewissen Lichts mit rundem, grünlich schimmerndem Kopf, langem roten Schweif und einem Brennpunkt von noch tieferer Röte in seinem Inneren über ihre Köpfe hinweg. Ein surrendes Geräusch begleitete dies Fliegen, und die Erscheinung bewegte sich direkt von dem einen Marae auf einen anderen tiefer am Berge gelegenen zu. Das aber, behauptete mein Gewährsmann, sei überaus vielsagend. Denn weshalb sollte ein bloßer Meteor die Altäre der verruchten Götter heimsuchen? Ich muß noch hinzufügen, daß die Pferde nicht weniger erschrocken waren als die Reiter. Ich dagegen bin nicht im geringsten, nicht einmal angenehm erschreckt. Da ziehe ich schon den Vogel aus dem Dachfirst und die morgendlichen Blutspritzer an der Wand vor.

Die Toten sind in ihrer Nahrung durchaus nicht wählerisch. Insbesondere nehmen sie ins Grab die polynesische Vorliebe für Fische mit, und manchmal lassen sie sich sogar mit den Lebenden auf eine Partnerschaft im Fischen ein. Rua-a-mariterangi ist hier wiederum mein Gewährsmann; ich fühle zwar, daß dies das Gewicht der von mir zu schildernden Tatsachen vermindert, wie wundervoll baut diese Geschichte indes die Gestalt jenes unverbesserlichen alten Geistersehers auf! Rua gehört zu der jämmerlich armen Insel Taenga, trotzdem war seines Vaters Haus stets reichlich mit Fischen versorgt. Als Rua erwachsen war, wurde er endlich aufgefordert, mit seinem Glückspilz von Vater fischen zu gehen. So ruderten sie denn in der Abenddämmerung an eine abgelegene Stelle der Lagune, der Junge streckte sich am Heck aus und der Vater begann vor seinen Augen die Angelschnur auszuwerfen. Es ist anzunehmen, daß Rua jetzt einschlief. Jedenfalls saß, als er erwachte, eine fremde Gestalt neben seinem Vater, und sein Vater war dabei, so schnell er nur konnte Fische über Fische an Bord zu ziehen. »Wer ist jener Mann, Vater?« fragte Rua. »Das geht dich nichts an«, antwortete sein Vater, und Rua nahm an, der Fremde wäre vom Ufer her zu ihnen herübergeschwommen. Nacht für Nacht fuhren sie nun auf die Lagune zu den einsamsten Stellen hinaus; Nacht für Nacht tauchte der Fremde plötzlich unter ihnen auf, um ebenso plötzlich wieder zu verschwinden, und Morgen für Morgen kam das Kanoe mit Fischen beladen heim. »Mein Vater ist wirklich ein Glückspilz«, dachte Rua. Endlich, eines schönen Tages, erhielten sie Besuch von einer, dann einer zweiten Schiffsgesellschaft, die bewirtet werden mußten; Vater und Sohn brachen später als gewöhnlich nach der Lagune auf, und ehe das Kanoe an Ort und Stelle war, war es bereits vier Uhr geworden und der Morgenstern stand dicht unter dem Horizont. Da schien der Fremde von einem plötzlichen Unbehagen befallen; er drehte sich um und wandte zum erstenmal Rua das Gesicht eines Menschen zu, der lange schon tot ist, mit weit aufgerissenen, leuchtenden Augen. Dann starrte er lange Zeit nach Osten, blies auf seine Fingerspitzen wie einer, den es friert, stieß einen seltsamen, schauerlichen Ton aus, der halb ein Pfeifen, halb ein Stöhnen war, und bei dem einem das Blut in den Adern gerann, und zerfloß, gerade in dem Augenblick als der Morgenstern aus dem Meere auftauchte, plötzlich in Nichts. Jetzt verstand Rua, weshalb es seinem Vater so gut ging, weshalb seine Fische in der Morgenfrühe verfaulten und weswegen immer etliche davon auf den Friedhof getragen und auf die Gräber gelegt wurden. Nun war zwar mein Gewährsmann ganz entschieden kein Feind des Aberglaubens, trotzdem blieb er stets nüchtern und bezeugte für derartige Dinge ein gewisses überlegenes Interesse, das ich mit gutem Recht als wissenschaftlich bezeichnen kann. Da also der letzte Punkt ihn an einen ähnlichen Brauch auf Tahiti erinnerte, fragte er Rua, ob die Fische auf den Gräbern liegen gelassen wurden, oder ob man sie nur scheinbar opferte und dann wieder mit sich nähme? Es stellte sich heraus, daß der alte Mariterangi beides tat; manchmal brachte er seinem schattenhaften Partner lediglich ein Scheinopfer dar, mitunter ließ er seine Fische aber auch ganz ehrlich auf dem Grabe vermodern.

Es ist klar, daß wir in Europa ähnliche Geschichten kennen: der polynesische »varua ino« oder »aitu o le vao« ist offenbar ein naher Verwandter des transsylvanischen Vampyrs. Aus der nachstehenden Geschichte gehen die nahen Beziehungen beider deutlich hervor. Auf dem damals zum Teil noch unzivilisierten Atoll Penrhyn lebte einst ein Häuptling, der lange Zeit ein heilsamer Schrecken der Eingeborenen war. Er starb und wurde begraben; kaum hatten jedoch seine bisherigen Nachbarn die Süßigkeit ihrer Freiheit gekostet, als auch schon sein Geist im Dorfe umging. Furcht packte sie alle; aus den wichtigsten Männern und Zauberern wurde ein Rat gebildet und mit Genehmigung Rarotongans, des Missionars, der nicht minder ins Bockshorn gejagt war als die anderen, sowie in Gegenwart verschiedener Weißer – darunter auch meines Freundes Mr. Ben Hird – wurde das Grab geöffnet, vertieft, bis man auf Wasser stieß, und die Leiche mit dem Gesicht nach unten neu eingegraben. Das Pfählen von Selbstmördern in England, wie es vor kurzem noch Sitte war, sowie das Köpfen der Vampyre im östlichen Europa bilden enge Parallelen hierzu.

Auf Samoa fürchtet man sich nur vor den unbegrabenen Toten. Während des letzten Krieges sind viele im Busch gefallen; ihre Leichen wurden mitunter geköpft, von den eingeborenen Pastoren eingeholt und begraben; das genügte jedoch aus irgendeinem Grunde nicht, jeder Geist fuhr fort, auf dem Schauplatz seines Ablebens zu spuken. Als der Friede erklärt wurde, spielten sich an manchen Orten, hauptsächlich aber in der Nähe der hochgelegenen Schluchten von Lotoanuu, wo die Kämpfe sich konzentriert hatten und die Verluste am heftigsten gewesen waren, merkwürdige Szenen ab. Die weiblichen Verwandten der Toten kamen, von den Überlebenden des Kampfes begleitet, mit Matten oder Laken beladen. Die Stellen, wo die Betreffenden gefallen waren, wurden sorgfältig erforscht, dann wurde das Laken auf dem Boden ausgebreitet und die Frauen hielten, von pietätvoller Sorge getrieben, daneben Wacht. Wenn irgendein Lebewesen sich darauf niederließ, wurde es die ersten beiden Male verscheucht, das drittemal jedoch wußte man, daß es der Geist des Toten war; es wurde daher eingefangen, nach Hause gebracht und neben der Leiche begraben. Damit hatte der Aitu seine Ruhe gefunden. Diese Zeremonie entsprang sicherlich den schlichtesten, frommsten Motiven; sie hatte zum Ziel den Frieden der Seele, der Beweggrund war pietätvolle Liebe. Der gegenwärtige König will jedoch nichts von den gefährlichen Aitus wissen; er erklärt, die Seelen der Unbegrabenen wanderten lediglich im Fegefeuer umher, unglücklich wohl, ohne die Möglichkeit, das eigentliche Totenland zu erreichen, aber in keiner Hinsicht schädlich. Diese streng klassische Auffassung spiegelt zweifellos den Standpunkt der Aufgeklärten wider, während die Flucht meines Lafaeles die gröberen Schrecken der Unwissenden zum Ausdruck bringt.

Der Glaube an die exorzierende Kraft der Grabriten erklärt vielleicht die an sich sonst erstaunliche Tatsache, daß kein Polynesier das Grauen des Europäers vor menschlichem Gebein und Mumien teilt. Aus dem einen stellte er früher die geschätztesten Schmuckstücke her; man pflegte es in den Häusern oder in Gräberhöhlen aufzubewahren, ja, die Wächter des königlichen Grabes wohnten mit ihren Kindern unter den Gebeinen zahlreicher Generationen von Verstorbenen. Die Mumien wurden selbst während der Herstellung ebensowenig gefürchtet. Auf den Marquesas, in den Siedlungen unmittelbar an der Küste, wurden sie von den Mitgliedern des Haushaltes eigenhändig wiederholt geölt und dem Sonnenlicht ausgesetzt, um sie herzurichten; auf den Karolinen werden sie auch heute noch in dem Rauchfang des Familienherdes konserviert. Außerdem ist die Kopfjägerei noch hart an der Türschwelle meines Hauses auf Samoa zu Hause, und zehn Jahre ist es her, daß auf den Gilbertinseln die Witwe verpflichtet war, den Schädel ihres toten Gatten eigenhändig auszugraben, zu reinigen, zu polieren und dann Tag und Nacht mit sich herumzutragen. In allen diesen Fällen können wir annehmen, daß der Vorgang, entweder des Trocknens oder des Reinigens, den Aitu völlig exorziert.

Der paumotische Glaube ist jedoch weniger klar. Hier wird der Mann ordnungsgemäß begraben und muß von nun an bewacht werden. Er wird auch bewacht, trotzalledem geht sein Geist um. In der Tat ist es nicht der Zweck dieser Wachen, derartige Wanderungen zu verhüten; sie sollen vielmehr durch höfliche Aufmerksamkeit die inhärente Bosheit des Toten besänftigen. Vernachlässigung kann – so nimmt man an – ihn ärgern und seine Verfolgungen heraufbeschwören, daher wägen die Alten und Schwachen das Risiko mitunter ab und ziehen es vor, zu Hause zu bleiben. Man vergesse nicht, daß es des Toten eigene Sippe und nächste Freunde sind, die so seinen bösen Willen durch ihre Nachtwachen milde stimmen. Selbst diese beschwichtigende Zeremonie gilt als gefährlich, es sei denn, daß zahlreiche Personen daran teilnehmen; in Rotoava wurde mir eines Tages ein Junge eigens deshalb vorgeführt, weil er ganz allein neben seines Vaters Grab gewacht hatte. Weder die verwandtschaftlichen Bindungen des Toten noch sein im Leben bewiesener Charakter vermögen den Ausgang zu beeinflussen. Einer der verflossenen Gouverneure, der auf Fakarava an den Folgen eines Sonnenstichs starb, war zu seinen Lebzeiten sehr beliebt und steht auch heute noch im liebevollen Andenken der Leute, trotzdem geht sein Geist, mit allen Schrecken des Todes bekleidet, auf der Insel um, so daß die Nachbarschaft des Regierungssitzes in der Dunkelheit ängstlich gemieden wird. Ja, diese heitere Lehre läßt sich wie folgt zusammenfassen: Alle Menschen werden Vampyre, und die Vampyre verschonen niemanden. Aber hier stehen wir plötzlich einer gewinnenden Ausnahme gegenüber: die Geister der Pfeifer sind ausgesprochene Stammesgeister. Wenn ich mich nicht irre, umgeben und unterrichten sie einzig ihre Stammesverwandten, und das Medium ist stets von dem Geschlecht des sich mitteilenden Geistes. So sehen wir denn einerseits die Bande der Familie mit dem Tode abgeschnitten, andererseits aber auch in hilfreicher Weise über ihn hinaus weiterbestehen.

Nach der tahitischen Sage war die Seele des Kindes in Blätter eingepackt. Die Geister der Frischverstorbenen gelten nämlich als besondere Delikatesse. Wenn sie getötet werden, wird das Haus mit Blut bespritzt. Ruas toter Fischer befand sich in der Auflösung; zersetzt – und zwar in furchtbarer Weise zersetzt – war auch sein Baumgeist. Die Geister sind also materielle Wesen, und nur durch die materiellen Anzeichen der Verwesung unterscheiden sie sich von den lebenden Menschen. Diese so weit verbreitete Ansicht gesellt dem stark Grausigen, das in den widerwärtigsten polynesischen Sagen zum Ausdruck gelangt, noch einen besonders abstoßenden Zug hinzu, den manchmal auch die liebenswürdigsten Einzelheiten nicht zu mildern vermögen. Ich führe zu diesem Zweck zwei ziemlich weit auseinanderliegende Beispiele aus Tahiti und Samoa an.

Zuerst das tahitische. Ein Mann ging einst auf Besuch zu dem Gatten seiner Schwester, die schon seit längerer Zeit verstorben war. Zu ihren Lebzeiten war die Schwester nach Inselart stets zierlich gekleidet gegangen mit einem Blumenkranze auf dem Kopf. Mitten in der Nacht wachte nun der Bruder durch einen überirdisch lieblichen Duft auf, der im Hause hin und her schwebte. Die Lampe wird wohl ausgebrannt gewesen sein, denn kein Tahitier würde sich im Dunkeln niedergelegt haben. Eine Weile lag er so voller Entzücken, dann rief er auch die anderen herbei. »Riecht keiner von euch den Blumengeruch?« erkundigte er sich. »O ja,« erwiderte sein Schwager, »daran sind wir hier gewöhnt.« Am folgenden Morgen gingen die beiden Männer spazieren, und der Witwer gestand seinem Schwager, daß seine Frau ständig das Haus besuche, ja, daß er sie einmal sogar gesehen hätte. Sie hätte die gleiche Gestalt und Kleidung wie zu ihren Lebzeiten gehabt, und sei auch mit Blumen geschmückt gewesen: nur hätte sie sich leicht schwebend ein paar Zoll über dem Erdboden bewegt und sei auch trockenen Fußes über den Flußspiegel geglitten. Und jetzt kommen wir zu dem fraglichen Punkte: Stets habe sie nur ihre Rückseite gezeigt, und die Schwäger wurden sich, während sie die Sache erörterten, einig, das hätte seinen Grund darin, daß sie die Spuren der Verwesung verbergen wolle.

Und nun meine samoanische Geschichte. Ich verdanke sie der Freundlichkeit des Herrn Dr. F. Otto Sierich, dessen Sammlung folkloristischer Erzählungen ich mit Spannung entgegensehe. Ein Mann auf Manu’a hatte zwei Frauen geehelicht, ohne Kinder von ihnen zu bekommen. Er ging daher nach Sawaii, heiratete dort ein drittes Mal und hatte mehr Glück. Als seine Frau ihre Stunde kommen fühlte, erinnerte er sich, daß er hier in einem fremden Lande nur ein armer Mann sei, und daß er sich, wenn das Kind geboren würde, wegen der Geringfügigkeit seiner Geschenke schämen müßte. Vergeblich suchte seine Frau ihn von dem Gegenteil zu überzeugen. Er kehrte zu seinem Vater nach Manu’a zurück, um bei ihm Hilfe zu suchen, und machte sich mit dem, was er in der Eile erraffen konnte, noch in der gleichen Nacht auf den Rückweg. Nun hatten aber seine Frauen von seinem Kommen erfahren; sie waren zornig, daß er nicht blieb, um sie zu besuchen, fingen ihn am Strande bei seinem Kanoe ab und töteten ihn. Währenddessen lag seine dritte Frau in Sawaii im Schlaf; ihr Kind war inzwischen geboren worden und schlummerte an ihrer Seite; da wurde sie von dem Geiste ihres Gatten geweckt. »Stehe auf,« sagte er, »mein Vater liegt krank auf Manu’a, wir müssen ihn besuchen.« »Gut,« sagte sie, »nimm du das Kind, während ich die Matten trage.« »Ich kann das Kind nicht nehmen,« antwortete der Geist, »ich bin vom Meere her zu kalt.« Als sie an Bord waren, roch die Frau den Leichengeruch. »Wie kommt das?« fragte sie. »Was hast du in dem Kanoe, denn ich spüre Leichengeruch?« »Nichts ist in dem Kanoe«, entgegnete der Geist. »Es ist nur der Landwind, der von den Bergen weht, wo irgendein Tier verendet ist.« Es scheint noch dunkel gewesen zu sein, als sie Manu’a erreichten – wohl die rascheste Überfahrt, die je gemacht wurde – denn als sie in das Innere des Riffes einfuhren, sahen sie die Totenfeuer im Dorfe brennen. Wieder bat sie ihn, das Kind zu tragen, jetzt aber brauchte er sich nicht mehr zu verstellen. »Ich kann dein Kind nicht tragen,« sagte er, »denn ich bin tot, und die Feuer, die du brennen siehst, sind die Feuer meines Begräbnisses.«

Wer neugierig ist, kann in Dr. Sierichs Buch den unerwarteten Ausgang dieser Geschichte lesen. Das Obige genügt für meine Zwecke. Obwohl der Mann eben erst gestorben war, war sein Geist doch schon verwest, als ob Verwesung das Merkmal, ja die Quintessenz der Geister sei. Die Totenwache auf den Paumotu dauert nur zwei Wochen, und man sagte mir, dieses sei die Zeit, die eine Leiche zur Auflösung brauche. Der Geist, der stets die Zeichen der Verwesung an sich trägt – Gefahr, die mit dem Zerfallsprozeß ihr Ende zu nehmen scheint – hier bieten sich verführerische Möglichkeiten von Kombinationen für einen Liebhaber von Theorien. Doch all solche Theorien sind unhaltbar. Die Dame mit den Blumen war schon lange tot und ihr Geist trug angeblich immer noch die Zeichen der Vergänglichkeit an sich. Der Gouverneur war weit über vierzehn Tage in der Erde verscharrt und ging als Vampyr noch immer um.

Von dem Herumirren der Toten im Fegefeuer, von der wüsten mangaischen Sage zu erzählen, nach der es infernalische Gottheiten gibt, die die Seelen aller Verstorbenen verzaubern und vernichten, von den verschiedenen submarinen und ätherischen Zwischenwelten zu berichten, wo die Toten schwelgen, müßig umherschweben oder die Beschäftigungen ihres Daseins auf Erden wieder aufnehmen, würde ermüdend sein. Nur eine Geschichte möchte ich noch anführen, denn sie ist nicht nur an sich recht sonderbar und auf Tahiti weit verbreitet, sondern hat das Interessante für sich, daß sie aus der nachchristlichen Ära stammt, also erst wenige Jahre alt ist. Eine Prinzessin aus regierendem Hause war gestorben und wurde nach der Nachbarinsel Raiatea überführt. Dort verfiel sie der Herrschaft eines Geistes, der ihr befahl, den ganzen Tag über auf Kokospalmen herumzuklettern und ihm Nüsse zu pflücken; eines Tages aber wurde sie von einem zweiten Geist aus ihrer eigenen Familie in dieser elenden Sklaverei entdeckt und auf ihre Klagen hin nach Tahiti zurückgebracht, wo ihr Leib zwar immer noch bewacht wurde, sie ihn aber durch die herannahende Verwesung aufgedunsen vorfand. Ein lebendiger Zug an dem Märchen ist die Tatsache, daß die Prinzessin beim Anblick ihres so entstellten und entehrten Tabernakels bat, doch lieber endgültig unter die Toten gerechnet zu werden. Dafür war es aber anscheinend schon zu spät, ihr Geist wurde durch den wenigst würdevollen Eingang in den Leib zurückbefördert, und ihre erschrockenen Verwandten sahen, wie der Körper sich bewegte. Die scheinbar dem Fegefeuer zugehörigen Arbeiten, die die Prinzessin verrichten mußte, sowie ihr Grauen vor dem faulenden Leichnam sind beides recht auffallende Einzelheiten.

Die Wahrheit ist, daß alle diese Geschichten einander in vielen Punkten widersprechen, und sie werden außerdem noch für den Fremden durch eine geheimnisvolle Sprache verdunkelt. Gespenster, Vampyre, Geister und Götter werden miteinander verwechselt. Und doch glaube ich zu erkennen, daß (mit einigen Ausnahmen) jene, die wir unter die Götter rechnen können, die wenigst boshaften sind. Zwar geht eine Reihe von Dauergeistern, die auch Morde verüben, in einigen Winkeln Samoas um, aber jene legitimen Götter von Upolu und Sawaii, deren Kriege und Kricketturniere vor kurzem erst die Gesellschaft erschütterten, waren, soweit ich ersehen konnte, nicht besonders oder zum mindesten nicht in dem Maße gefürchtet. Der Geist von Anaa, der sich von Seelen nährte, ist zwar entschieden ein etwas unbehaglicher Zeitgenosse, aber die hohen Götter des Archipels erscheinen doch im ganzen hilfreich. Mahinui – nach dem unser Sträflingskatechet getauft war – Gott des Meeres und wie Proteus mit einer endlosen Menge von dienenden Gottheiten umgeben – pflegt zum Beispiel Schiffbrüchigen zu Hilfe zu kommen und sie in Gestalt eines Regenbogenfisches an Land zu tragen. Die gleiche Gottheit trug auch die Priester von einer Insel des Archipels zur anderen, ja, noch in diesem Jahrhundert hat man Menschen mit seiner Hilfe fliegen sehen. Die Titulargottheit jeder Insel ist gleichfalls hilfsbereit und kündet durch eine bestimmte keilförmige Wolke am Horizont das Kommen eines Schiffes an.

Wer diese Atolle richtig vor sich sieht, so schmal, so unfruchtbar, so allseits hart vom Meere bedrängt, dem will es scheinen, als herrsche hier ein Überreichtum an gespensterhaften Einwohnern. Aber mit denen, die ich aufgezählt habe, ist ihre Zahl noch nicht erschöpft. Aus den verschiedenen salzigen Tümpeln und Teichen kann man schöne Frauen mit langem roten Haar aufsteigen und sich baden sehen, nur sind sie furchtsam wie die Mäuse und tauchen, sowie sie einen Schritt auf der Koralle herannahen hören, auf Nimmerwiedersehen im Wasser unter. Man kennt sie als gesunde, harmlose Lebewesen, Bewohner einer unterirdischen Welt; die gleiche Vorstellung herrscht auch auf Tahiti, wo sie ebenfalls rote Haare haben. Tetea ist ihr tahitischer, Mokurea ihr paumotischer Name.

Erstes Kapitel. Butaritari

In Honululu hatte wir der ›Casco‹ und Kapitän Otis Lebewohl gesagt, unsere nächste Ausreise fand daher unter veränderten Umständen statt. Plätze wurden für mich, meine Frau, Mr. Osbourne und meinen Chinesenboy, Ah Fuh, auf einem winzigen Handelsschoner, der »Äquator«, Kapitän Dennis Reid, belegt; und eines schönen Junitages 1889 stachen wir, nach hawaiischer Sitte mit Abschiedskränzen geschmückt, in See und segelten bei günstigem Winde gen Mikronesien.

Die ganze weite Südsee ist, was Schiffe anbetrifft, eine Wüste, vor allem jener Teil, auf den wir jetzt zuhielten. Zwischen diesen Inseln gibt es keine Post; die vorhandenen Verbindungen sind rein zufälliger Art; wohin man zu fahren beabsichtigt, ist eine Sache für sich – wo man schließlich landet, eine ganz andere Sache. So war es zum Beispiel meine Hoffnung, die Karolinen zu erreichen und zur zivilisierten Welt über Manila und die chinesischen Häfen zurückzukehren; statt dessen sollten wir in Samoa auftauchen und dort endlich von neuem durch den Anblick der Berge erfrischt werden. Seitdem jene Abendröte auf den Gipfeln von Oahu verblaßte, waren sechs Monate vergangen, und wir hatten nirgends einen Fleck Erde erblickt, der auch nur so hoch wie ein gewöhnliches kleines Haus gewesen wäre. Unser Weg hatte uns unausgesetzt über die flache See geführt, unsere Wohnungen waren auf der nackten Koralle aufgeschlagen gewesen, unser Essen hatte aus dem bestanden, was wir dem Pökeltopf oder den Konservenbüchsen entnehmen konnten. Ich hatte gelernt, selbst Haifischfleisch als Abwechslung zu begrüßen, und ein Berg, eine Zwiebel, eine irische Kartoffel oder gar ein Beefsteak waren alles Genüsse, deren Geschmack wir fast verlernt hatten, und nach denen wir uns in unseren Träumen sehnten.

Die beiden Orte, an denen wir uns am längsten aufhielten, waren Butaritari und Apemama; beide liegen in der Nähe des Äquators, die letztere Siedelung nur dreißig Meilen davon entfernt. Beide erfreuen sich des herrlichsten Seeklimas, Tage blendender Sonne und frischer Winde, Nächte von überirdischem Glanz. Beide sind etwas breiter als Fakarava und messen (an ihrer breitesten Stelle) rund eine Viertelmeile von Strand zu Strand. Auf beiden gedeiht eine grobe Art Taro, dessen Kultur die Haupttätigkeit der Eingeborenen bildet, und die vielen Gräben und Hügel, die so entstehen, schaffen eine Art Miniaturszenerie, die das Auge ergötzt. In jeder anderen Hinsicht zeigen die beiden Inseln die gewöhnlichen Eigenschaften eines Atolls: den niedrigen Horizont, die weite Fläche der Lagune, den schilfartigen Saum von Palmenwipfeln, die Eintönigkeit und geringe Ausdehnung des Landes, die ins Ungeheure vergrößerte Weite und Bedeutung von Meer und Himmel. Das Leben auf einer derartigen Insel verläuft in mancher Beziehung wie das Leben an Bord. Das Atoll wird bald wie das Schiff zur Selbstverständlichkeit; auf die Inselbewohner konzentriert sich wie auf die Leute an Bord das ganze Interesse. Die beiden Eilande selbst sind dicht bevölkert, unabhängig, die Sitze von kleinen Königen, erst kürzlich zivilisiert und infolgedessen noch wenig besucht. In den letzten zehn Jahren hat sich dort manches unmerklich verändert; die Weiber gehen nicht mehr bis zu ihrer Verheiratung vollständig nackt; die Witwe schläft nachts nicht mehr neben dem Schädel ihres verstorbenen Gatten und braucht ihn am Tage nicht länger mit sich herumzutragen, und seitdem Feuerwaffen eingeführt wurden, werden Speere und die Schwerter aus Haifischzähnen nur noch als Kuriositäten verkauft. Vor zehn Jahren dagegen waren alle diese Dinge und Gebräuche noch im Schwange, nach weiteren zehn Jahren wird die ganze alte Lebensordnung völlig verschwunden sein. Wir hatten Glück, ihre Einrichtungen noch lebendig oder (wie in Apemama) kaum angetastet zu finden.

Dicht bevölkert und unabhängig – Unterschlupfe von Menschen, die mit einigem rustikalen Pomp regiert wurden – das war der erste und auch dauernde Eindruck dieser winzigen Eilande. Während wir in der Lagune auf Butaritari zuhielten, sahen wir einen Teil des flachen Ufers von einem Meer niedriger brauner Dächer bedeckt; die des Palastes und des königlichen Sommersaals waren aus Wellblech und glänzten grell in der Sonne; die Königsflagge flatterte dicht davor an einer hohen Fahnenstange; gegenüber lag ein künstliches Inselchen, auf dem das Gefängnisgebäude als Alarmturm emporragte. Selbst bei diesem ersten und aus der Ferne gewonnenen Blick erweckte der Ort kaum den Eindruck dessen, was er wirklich war, eines Dorfes; vielmehr glich er einer Miniaturresidenz, einer ländlichen, aber dennoch königlichen Hauptstadt, und auch das entsprach ja seinem Charakter.

Die Lagune ist seicht. Bei Ebbe konnten wir rund eine Viertelmeile weit in dem lauwarmen Wasser über Sandbänke waten, um endlich in eine grelle Glut von Sonnenlicht und Schwüle zurückzukehren. Die Binnenseite einer Äquatorinsel ist nachmittags in der Tat ein ziemlich erdrückender Ort; an der Meeresküste weht wenigstens noch der stürmische, kühlende Passat; auf der Lagune ist auch noch Wind, der die Kanoes beflügelt, aber der schirmende Busch hält ihn vollständig vom Lande ab, und Stille sowie Schwärme von Mücken senken sich brütend auf die Stadt hernieder.

Wir konnten also behaupten, Butaritari gewissermaßen überrascht zu haben, denn nur wenige Einwohner waren noch am Nordende der Niederlassung unterwegs, als wir landeten. Im Weitergehen nahmen auch diese Begegnungen ein Ende, es schien, als durchschritten wir eine Totenstadt. Nur zwischen den Pfosten der offenen Häuser sahen wir die Bewohner ihre Siesta halten, mitunter ganze Familien unter einem Moskitonetz, mitunter auch einen einzelnen Schläfer, wie einen Toten auf der Bahre ausgestreckt.

Die Häuser waren in allen Dimensionen gebaut, von Spielzeuggröße an bis zum Umfange einer Kirche. Einige hätten ein ganzes Bataillon beherbergen können, andere waren so winzig, daß kaum ein liebendes Paar darin Platz gefunden hätte; nur noch in einem Kinderzimmer, wo Spielzeug aller Art durcheinandergeworfen ist, finden wir derartige Gegensätze. Manche Bauten waren nichts als offene Schuppen, andere glichen einer Bühne mit einem Dach darüber, wieder andere waren von Mauern umschlossen, in die man kleine Fenster eingebrochen hatte. Einige waren auf Pfählen in die Lagune hineingebaut; die übrigen standen beliebig auf dem Anger herum, durch den die Straße ein Band aus weißem Sande zog, oder auf den Dämmen eines Binnengewässers, das einem flachen Dock glich. Alle miteinander waren die Geschöpfe eines einzigen Baumes: Palmholz und Palmblätter waren das Baumaterial; kein Nagel war eingetrieben, kein Hammerschlag geführt worden, als man sie errichtete, denn zusammengehalten wurden sie durch Palmfasern.

In der Mitte dieser Hauptstraße steht wie eine Insel die Kirche, ein hohes, dämmeriges Gebäude mit einer Reihe von Fenstern. Das Dach ruht auf reichem Gebälk, und durch beide Türen hat man einen weiten Blick auf die Straße. Die Proportionen sowie das Baumaterial wirkten in dieser Umgebung einfach imponierend, und wir durchschritten das Mittelschiff mit einem Gefühl, wie es uns sonst nur in Kathedralen überkommt. An beiden Seiten waren Bänke aufgereiht; in der Mitte auf erhöhtem, wackeligen Postament standen zwei Stühle für den König und die Königin, für den Fall, daß sie am Gottesdienste teilzunehmen geruhten; darüber hing an roten Baumwollschnüren ein alter Reifen, vermutlich von einem Schnapsfaß, und der Reifen, der recht schief baumelte, war mit roten und weißen Wimpeln aus dem gleichen Stoffe geschmückt.

Das war das erste Anzeichen königlicher Würde, dem wir begegneten, und bald standen wir vor ihrem Hauptsitz und Mittelpunkt. Der Palast ist aus importierten, europäischen Hölzern gebaut; das Dach ist aus Wellblech, der Hof wird von Mauern umschlossen, und das Tor ist von einer Art Wächterhäuschen gekrönt. Man kann den Palast nicht einmal geräumig nennen; mancher Arbeiter in den Vereinigten Staaten hat eine bessere Wohnung; als wir jedoch Gelegenheit erhielten, ihn von innen zu besichtigen, waren wir erstaunt, ihn über alle polynesische Erwartung hinaus durch farbige Plakate und Ausschnitte aus illustrierten Zeitungen geschmückt zu finden. Schon vor dem Tor ist ein Teil des Kronschatzes ausgestellt: eine Glocke von ansehnlicher Größe, zwei Stück Kanonen und eine einzige Granate. Die Glocke kann nicht geläutet, die Kanonen können nicht abgefeuert werden; sie sind nichts als Kuriositäten, Zeichen von Reichtum, ein Teil des königlichen Pomps, und stehen hier wie bei uns die Statuen auf öffentlichen Plätzen, um bewundert zu werden. Ein gerader, kanalähnlicher Wasserarm führt fast bis an das Tor des Palastes; die Seitendämme sind aus festem Korallengestein, und an seiner Mündung liegt, gleichsam als ein Effekt der Landschaftsgärtnerei gedacht, den Spiegel der Lagune unterbrechend, das Inselchen mit dem Gefängnis. Vasallenhäuptlinge, ihren Tribut einhändigend, benachbarte Monarchen auf ihren Vergnügungsfahrten, können hier bis dicht vor das Portal fahren, mit Verwunderung die ausgedehnten Anlagen besichtigen und sich von den Mündungen dieser stummen Kanonenrohre imponieren lassen. Unmöglich konnte man sich hier umsehen, ohne zu merken, daß das Ganze nur auf Wirkung berechnet war. Damals jedoch stand diese pompöse Anlage leer; das königliche Haus war verödet, weit aufgerissen starrten seine Türen und Fenster, das ganze Stadtviertel lag in Schweigen versunken. Nur auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals schlief auf einer überdachten Bretterbühne in aller Öffentlichkeit ein betagter Herr, der alleinige sichtbare Bewohner, und im Hintergrunde der Lagune trug ein Kanoe ein buntgestreiftes lateinisches Segel, der einzige Gegenstand, der Leben und Bewegung zeigte.

Der Kanal wird im Süden durch einen Landungssteg oder Deich mit einer Brustwehr begrenzt. An seinem fernsten Teile hört die Brustwehr auf, und der Quai erweitert sich zu einer langgestreckten Halbinsel, die weit in die Lagune hinausragt, und die das Sanssouci oder die Sommerresidenz des Königs ist. In ihrer Mitte steht ein offenes Haus oder Dauerzelt – hier Maniapa oder, nach der neuerlichen Aussprache, Maniap‘ genannt – das nach mäßiger Schätzung vierzig mal sechzig Fuß mißt. Das hohe, eiserne Dach, das indes soweit überhängt, daß selbst eine Frau sich beim Eintritt bücken muß, wird außen durch Korallenpfeiler, innen durch ein Holzgerüst getragen. Der Boden ist aus geschotterter Koralle und wird durch die Stützen des Gerüsts in verschiedene Gänge geteilt. Das Haus selbst liegt weit genug vom Ufer entfernt, um die Brise aufzufangen, die es ungestört durchweht und die Mückenschwärme vertreibt, und unter seinem niedrigen Giebel sieht man die Sonne schimmern sowie den Tanz der Wellen auf der Lagune.

Seit geraumer Zeit waren wir jetzt niemandem außer den Schläfern begegnet, als wir daher den Landungssteg hinunter gingen und in diesen hellen Schuppen hineinstolperten, waren wir überrascht, ihn von einer ganzen Schar munterer Leute, etwa zwanzig an der Zahl, dem Hof und der Wache von Butaritari, bevölkert zu finden. Die Hofdamen waren damit beschäftigt, Matten zu flechten; die Wache gähnte und rekelte sich. Ein halb Dutzend Gewehre lagen auf den Steinen umher, und eine Axt lehnte gegen einen der Pfosten; das waren die Waffen der schläfrigen Musketiere. Am hinteren Ende der Maniap stand ein kleines verschlossenes Holzhaus mit ein paar billigen Gardinen, das sich bei näherer Untersuchung als eine Privatwohnung nach europäischem Muster entpuppte. Vor dem Hause auf einigen Matten hingegossen lag Tabureimoa, der König; hinter ihm an der Hauswand vertraten zwei gekreuzte Gewehre die Stelle von Liktorenbeilen. Der König trug Pyjamas, die seinen ungeheuren Körper recht jämmerlich kleideten; er hatte eine gewalttätige, krumme Nase, sein Körper quoll über von aufgedunsenem Fett, sein Blick war unsicher und trübe. Er schien zugleich von Schläfrigkeit überwältigt wie von Furcht gepackt: ein Pfefferrajah, der, von Opium betäubt, ständig auf den Anmarsch einer holländischen Armee lauert, hätte einen ähnlichen Eindruck gemacht. Wir sollten uns noch besser kennenlernen, doch behielt ich bis zuletzt diesen Eindruck bei: stets war er schläfrig und trotzdem auf dem Qui vive, und, ob aus Reue oder Furcht, weiß ich nicht, aber sicher ist, daß er seine Zuflucht zu dem übermäßigen Genuß irgendeiner Droge nahm. Der Rajah zeigte kein besonderes Interesse für unser Erscheinen, doch die Königin, die in ein langes, purpurrotes Gewand gekleidet, neben ihm saß, war entgegenkommender als er; außerdem fand sich noch ein Dolmetscher, der nur allzu bereitwillig seine Dienste anbot, so das sein Redefluß uns endlich wieder zum gehen zwang. Gleich bei unserem Eintritt begrüßte er uns mit mehr Würde als Wahrhaftigkeit mit den Worten: »Das hier ist der ehrenwerte König, und ich bin sein Dolmetscher.« Tatsächlich bekleidete er überhaupt keine Stelle bei Hofe, verstand nur sehr wenig von der Inselsprache und befand sich ebenso wie wir lediglich auf einer Höflichkeitsvisite. Er hieß Mr. Williams und war ein Neger aus den Vereinigten Staaten, ein entlaufener Schiffskoch und Barkeeper in »The Land we Live in« Gasthof in Butaritari. Nie habe ich einen Menschen kennengelernt, der so viel Worte zur Verfügung hatte und so wenig die Wahrheit sprach. Weder die Ungnade des Monarchen noch meine eigenen Versuche, ihn mir vom Leibe zu halten, vermochten ihn auch nur im geringsten zu dämpfen, und als unsere Audienz ein Ende nahm, redete der Nigger noch immer. Die Stadt schlief oder hatte höchstens eben erst angefangen, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben, immer noch lag sie in Glut und Schweigen. Um so lebendiger war der Eindruck, den wir von dem Haus auf der Insel davontrugen, von jenem mikronesichen Saul, der inmitten seiner Garde wachte, sowie von seinem unmelodischen David, Mr. Williams, der die schlaftrunkene Zeit zu Tode schwatzte.

Erstes Kapitel. Ein Begräbnis auf den Paumotu

Nein, ich wußte nichts von dem Grauen, das diese Männer beseelte. Und doch hatte ich auch damals schon einen Fingerzeig erhalten, nur hatte ich den Wink nicht verstanden. Das war bei Gelegenheit eines Begräbnisses.

Etwas abseits, aber dennoch in der Hauptstraße von Rotoava gelegen, steht inmitten einer kleinen Einfriedung eine niedrige Laubhütte, die indes einem Schweinestall in einer Hürde gleicht, und dort wohnten ganz allein ein uralter Mann und seine uralte Frau. Vielleicht waren sie schon zu alt, um mit der übrigen Bevölkerung auszuwandern, vielleicht waren sie auch zu arm und nannten überhaupt keinen Besitz ihr eigen, um den sie sich hätten streiten können. Wie dem auch sei, sie waren zurückgeblieben, und so kam es, daß sie zu meinem Feste geladen wurden. Wahrscheinlich fanden in dem Schweinestall langwierige politische Erörterungen statt, ob man nun hingehen sollte oder nicht, und der Gatte schwankte lange zwischen Neugier und seinem hohen Alter, bis endlich die Neugier siegte und sie kamen. Und da, mitten in ihrem letzten Gelage, erschien der Tod und klopfte dem Alten auf die Schulter. Ein paar Tage lang, während der Himmel hell und der Wind erfrischend waren, lag seine Matte mitten auf der Hauptstraße des Dorfes, und man konnte ihn dort liegen sehen, apathisch, nur noch eine Handvoll von einem Menschen, und seine Frau saß nicht minder apathisch zu seinen Häupten. Beide schienen sowohl unseren Bedürfnissen wie den gewöhnlichen menschlichen Fähigkeiten entrückt zu sein; sie sprachen weder, noch lauschten sie, wenn man mit ihnen sprach; sie ließen uns vorübergehen, ohne auch nur ein einziges Mal aufzublicken; die Frau fächelte ihren Mann nicht, noch schien sie ihm irgendwie aufzuwarten. So ruhten die beiden armen Überbleibsel von Menschen dicht nebeneinander unter dem hohen Palmenbaldachin, die menschliche Tragödie auf ihre nacktesten Elemente zurückgeführt, ein Anblick, der jenseits von Mitleid lag und nur ein Gefühl von Neugierde erregte. Und doch berührte mich etwas tragisch: der Gedanke, daß selbst in diesen verschrumpften Adern vor kurzem noch so viel jugendliche Erwartung pulsiert und der Mann die Neige seines Lebens auf einem Fest vergeudet hatte.

Am Morgen des 17. Septembers starb der Kranke endlich und wurde, da die Zeit drängte, noch am gleichen Tage um vier Uhr nachmittags begraben. Der Friedhof liegt nach dem Meere zu hinter dem Regierungsgebäude; geschotterte Koralle bildet, ähnlich wie unser Wegschotter, den Boden, ein paar hölzerne Kreuze, wenige unscheinbare Steine bezeichnen die Gräber, eine mit Beton verkittete Mauer, hoch genug, um sich daran lehnen zu können, schließt ihn ein, und üppiges Strauchwerk umgibt ihn mit seinen hellgrünen Blättern. Hier beim Gekreisch der Meeresvögel wurde an jenem Morgen das Grab gegraben, ohne Zweifel von recht ängstlichen Totengräbern, während der Tote in seinem Hause wartete und die Witwe zusammen mit noch einem anderen uralten Weiblein vor dem Tore an der Mauer lehnte, kein Wort auf ihren Lippen und ihre Blicke leer.

Pünktlich auf die Minute setzte sich die Prozession in Bewegung; der Sarg war in Weiß gehüllt und wurde von vier Trägern getragen. Das Trauergefolge war nicht groß, denn nur wenige waren in Rotoava zurückgeblieben, und die wenigsten kamen in Schwarz, denn alle waren arm. Die Männer trugen Strohhüte, weiße Röcke und blaue Hosen oder grellbunte, teilweise gefärbte Parius, das tahitische Hochlandsröckchen; die Frauen waren mit geringen Ausnahmen in helle Farben gekleidet. Als letzte folgte die Witwe, mühsam des Toten Schlafmatte hinter sich schleppend, ein Geschöpf über das Menschenmögliche hinaus gealtert und am ehesten noch dem »missing link« vergleichbar.

Der Tote war Mormone gewesen, da aber der mormonische Geistliche mit den anderen nach der Nachbarinsel gezogen war, um sich über die Grenzen seiner Grundstücke zu zanken, übernahm ein Laie für ihn das Predigeramt. Da stand er zu Häupten des Grabes in einem weißen Rock und einem blauen Pariu, seine tahitische Bibel in der Hand und das eine Auge mit einem roten Taschentuch verbunden. Feierlich las er das Kapitel aus Hiob vor, das schon über so manchen Überresten unserer Väter gelesen worden ist, und sprach mit lauter Stimme zwei Gebete. Wind und Brandung bildeten den Chor. Am Friedhofseingang säugte eine Mutter in Rot ein Kind in blauen Windeln. In unserer Mitte saß die Witwe auf dem Erdboden und scheuerte mit einem Stückchen Koralle eine der Tragstangen blank, etwas später drehte sie dem Grabe den Rücken und begann mit einem Blatte zu spielen. Verstand sie etwas von alledem? Gott allein weiß es. Der Offiziant hielt einen Augenblick inne, bückte sich und warf ehrfurchtsvoll eine Handvoll rasselnder Korallen auf den Sarg. Staub zu Staub, nur daß hier die Staubkörnchen groß wie Kirschen waren und daß der wahre Staub, der dem anderen bald folgen sollte, dicht daneben saß, einzig durch ein Wunder in die tragische Gestalt einer Äffin gebannt.

Soweit glich alles, ob mormonisch oder nicht, einem christlichen Begräbnis. Die altbekannte Stelle aus Hiob war verlesen worden, das Gebet gesprochen, das Grab aufgefüllt, und die Leidtragenden begaben sich einzeln nach Hause. Abgesehen von der etwas gröberen Erddecke, der etwas aufdringlicheren Stimme des Ozeans, dem stärkeren Sonnenlicht, das über der primitiven Einfriedung spielte, und den ein wenig deplazierten Farben der Trauerkleider, hatte man wohlbekannte alte Formen eingehalten.

Von rechtswegen hätte es ganz anders kommen sollen. Die Matte hätte eigentlich mit dem Besitzer begraben werden müssen, da die Familie aber sehr arm war, sparte man sie klugerweise bis zu dem nächsten Begräbnis auf. Die Witwe hätte sich über das Grab hinwerfen sollen, um die offizielle Totenklage zu erheben, in die die Nachbarn dann eingestimmt hätten, und die schmale Insel hätte eine Weile von ihren Lamentationen widergehallt. Aber die Witwe war alt; vielleicht hatte sie ihre Rolle vergessen, vielleicht sie auch niemals richtig begriffen, statt dessen spielte sie wie ein Kind mit Blättern und Tragstangen. In allen Punkten war der Ritus, mit dem mein Gast begraben wurde, verstümmelt worden. Seltsam, dieser Gedanke, daß seine letzte bewußte Freude die »Casco« und mein Fest gewesen waren, seltsam, daß er wie ein altes Kind dorthin gehumpelt kam auf der Suche nach neuen guten Dingen. Und das Beste von allen guten Dingen, Ruhe, war ihm gewährt worden.

Aber obwohl die Witwe vieles vernachlässigt hatte, eine Sache durfte sie nicht außer acht lassen. Auch sie ging mit dem sich auflösenden Trauergefolge hinweg, doch blieb des Toten Matte auf dem Grabe zurück, und ich erfuhr, daß sie bei Sonnenuntergang wiederkommen müßte, um dort zu schlafen. Diese Nachtwache ist einfach unerläßlich. Von Sonnenuntergang bis zum Aufstieg des Morgensternes ist der Paumote verpflichtet, über der Asche seiner Verwandten zu wachen. Zahlreiche Freunde leisten dem Wachthabenden dabei Gesellschaft, wenn der Tote ein Mann von Rang und Bedeutung war; man versorgt sie gut mit Decken gegen die Unbilden des Wetters; ich glaube, sie bringen auch ihr Essen mit, und diese Zeremonie wird zwei Wochen lang eingehalten. Unsere arme Überlebende, falls man sie wirklich noch als Überlebende bezeichnen kann, hatte jedoch nur wenige Decken, unter denen sie sich verkriechen konnte, und noch weniger Freunde, mit ihr zu wachen. In der Nacht nach dem Begräbnis trieb ein starker Sturm sie von dem Grabe hinweg, tagelang blieb das Wetter unbeständig und rauh, und noch vor der siebenten Nacht hatte sie die Sache aufgegeben und war zum Schlafen unter ihr niedriges Dach zurückgekehrt. Daß sie sich die Mühe machte, zu so kurzem Besuch in ein so einsames Haus zurückzukehren, daß dieser Mensch, so hart am Rande des Grabes, ein wenig Wind und eine nasse Decke so fürchten konnte, gab mir seinerzeit viel zu denken. Ich kann nicht einmal behaupten, daß sie gleichgültig war; sie stand in allem so gänzlich außerhalb des Bereichs meiner Erfahrungen, daß meine Kritik vor ihr versagte, aber ich erdichtete für sie allerlei Entschuldigungen, indem ich mir selbst erklärte, sie hätte vielleicht wenig zu beweinen gehabt, vielleicht auch viel gelitten und verstände nun nichts mehr davon. In Wahrheit spielten bei der Sache Pietät und Zärtlichkeit überhaupt nicht mit, die unerschrockene Rückkehr des alten Weibleins unter das heimatliche Dach war ein Anzeichen entweder von ungewöhnlicher Vernunft oder von ungewöhnlicher Willensstärke.

Eine einzige Sache ereignete sich, die mir etwas Klarheit brachte. Ich sagte schon, daß das Begräbnis im großen und ganzen so verlief wie bei uns zu Hause. Als jedoch alles vorbei war und wir alle miteinander in schicklichem Schweigen von dem Friedhofseingang den Weg zum Dorfe hinuntergingen, schreckte uns ein plötzlicher und vielleicht peinlicher Mißton aus unserer Stimmung auf. Zwei Menschen schritten nicht weit voneinander in der Prozession einher: mein Freund Mr. Donat – Donat-Rimarau, »Donat, der Vielhändige«, der stellvertretende Vizegouverneur, der gegenwärtige Beherrscher des Archipels, bei weitem die wichtigste Persönlichkeit der ganzen Szene, der außerdem wegen seiner unerschütterlichen Gutmütigkeit bekannt war, und eine hübsche, robuste junge Paumotin, die hübscheste, aber hoffentlich nicht die tapferste und höflichste der ganzen Insel. Ganz plötzlich, ehe noch das feierliche Schweigen des Begräbnisses gebrochen war, sprang sie auf den Gouverneur zu, zeigte mit dem Finger auf ihn, schrie ihm ein paar Worte ins Gesicht und trat, in unnatürliches Gelächter ausbrechend, wieder zurück. »Was hat sie Ihnen gesagt?« fragte ich. »Sie hat gar nicht zu mir gesprochen,« entgegnete ein wenig beunruhigt Donat, »sie sprach zu dem Geiste des Toten.« Und der Inhalt ihrer Rede war etwa folgender: »Sieh da! Donat wird heut Nacht einen fetten Bissen für dich abgeben!«

»Mr. Donat nannte es einen Scherz«, schrieb ich damals in mein Tagebuch. »Mir erschien es aber weit eher einer aus Angst geborenen Beschwörung zu gleichen, als ob sie dadurch des Geistes Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken versuchte. Ein Kannibalenvolk kann sehr wohl auch kannibalische Gespenster besitzen. Gemeinhin scheinen die Vermutungen von Reisenden von vornherein dazu verurteilt, auf Irrtümern zu beruhen, die meinige hatte diesmal jedoch den Nagel auf den Kopf getroffen. Das Weib hatte voller Entsetzen dem Begräbnis beigewohnt, da sie sich in jenem Augenblick zufällig an einem gefürchteten Ort, dem Kirchhof, befand. Mit Entsetzen sah sie der kommenden Nacht entgegen, in der jener Dämon, der neue Geist, auf die Insel losgelassen werden sollte. Die Worte, die sie Donat ins Gesicht schleuderte, waren in der Tat eine angsterfüllte Beschwörung, in der niedrigen Absicht, sich selbst zu schützen und gemeinerweise den anderen an ihre Stelle zu setzen. Das eine läßt sich zu ihrer Entschuldigung anführen. Sicherlich hatte sie Donat teils wegen seiner übergroßen Gutmütigkeit gewählt, teils aber auch, weil er ein Halbblut war. Denn soviel ich weiß, halten alle Eingeborenen das Blut der Weißen für einen Talisman gegen die Mächte der Hölle. Auf keine andere Art vermögen sie die ungestrafte Tollkühnheit der Europäer zu erklären.«

Erstes Kapitel. Der König von Apemama: – Der fürstliche Händler

Auf den Gilbertinseln gibt es eine bedeutende Persönlichkeit: Tembinok‘ von Apemama, auf den alle Augen gerichtet sind, den Helden der Volkspoesie, die Zielscheibe des Klatsches. Überall sonst auf jener Gruppe sind die Könige ermordet worden oder in Abhängigkeit geraten: Tembinok‘ allein ist übriggeblieben, der letzte Tyrann, der einzig überlebende Zeuge einer dahingeschwundenen Gesellschaft. Allerorten hat der Weiße seinen Fuß hingesetzt und seine Häuser gebaut; überall trinkt er seinen Gin und bekommt immer wieder Verdruß mit der schwachen, einheimischen Regierung. Auf Apemama dagegen gibt es nur einen Weißen, und auch der ist lediglich geduldet, lebt weit abseits vom Hofe und achtet und lauscht ängstlich auf jeden Schritt des Königs, wie die Maus, die im Ohre der Katze lebt. Anderswo auf den Inseln kommt und geht ein ständiger Strom von einheimischen Gästen, die manchmal in ganzen Familien reisen und Jahrelang auf der Walze sind. Nur Apemama wird links liegen gelassen, da jeder Fremde Furcht hat, sich in Tembinok’s Klauen zu begeben. Ja, diese Furcht folgt jedem sogar bis in sein eigenes Haus. Maiana hat ihm früher einmal Tribut gezahlt; sofort überrumpelt und bemächtigt er sich Nonutis: der erste Schritt zur Gründung eines Inselreiches ist getan. Da taucht ein britisches Kriegsschiff auf dem Kampfplatz auf, der Sieger wird gezwungen, seine Beute herauszugeben, seiner Laufbahn wird gleich am Anfang ein Ziel gesteckt, das teuer erkaufte Arsenal in seiner eigenen Lagune versenkt. Doch der erste Eindruck wurzelt tief; von Zeit zu Zeit schüttelt Furcht die Insel: das Gerücht will wissen, daß er frische Kanoes für einen frischen Überfall ausmustert. Ja, das Gerücht kennt sogar seine Pläne – und Tembinok‘ spielt in den patriotischen Kriegsgefangen der Gilbertinseln ungefähr die gleiche Rolle wie Napoleon in denen unserer Väter.

Wir befanden uns wieder einmal zur See auf dem Wege von Mariki nach Nonuti und Tapituea, als der Wind plötzlich in Richtung auf Apemama umsprang. Sofort wurde der Kurs geändert; jetzt hieß es alle Mann an Deck, um das Schiff zu reinigen; der Boden wurde mit Sand gescheuert, die Kabine von Grund auf geputzt, das Warenlager geordnet. Auf unseren ganzen Fahrten haben wir die »Äquator« niemals so schmuck gesehen wie damals, als sie für Tembinok‘ hergerichtet wurde. Obendrein war Kapitän Reid nicht der einzige, der so Toilette machte; zufällig traf während unseres dortigen Aufenthalts noch ein anderer Schoner in Apemama ein, und ich entdeckte, daß auch dieses Schiff sich bei der Gelegenheit Stutzermanieren zugelegt hatte. Diese beiden Fälle sind jedoch einzigartig in meinen Erfahrungen auf Handelsschiffen in der Südsee.

Wir hatten eine Familie von Eingeborenen an Bord, vom Großvater an bis zum Säugling an der Mutterbrust, die jetzt nach einer ganz außergewöhnlich harten und anhaltenden Serie von Mißgeschicken versuchten, ihre Heimatinsel Peru (in der Gilbertgruppe) zu erreichen. Fünfmal bereits hatten sie ihre Überfahrt bezahlt und sich eingeschifft; fünfmal hatte man sie getäuscht und mittellos aus fremden Inseln abgesetzt oder nach Butaritari zurückgeschleppt, von wo sie aufgebrochen waren. Dieser letzte Versuch war auch nicht von mehr Glück begleitet; ihre Vorräte waren jetzt erschöpft, Peru lag gänzlich außerhalb des Bereiches ihrer Hoffnungen, und mit heiterer Resignation hatten sie sich auf eine neuerliche Verbannung nach Tapituea oder Nomuti gefaßt gemacht. Mit diesem plötzlichen Windwechsel änderte sich indes auch ihr willkürliches Ziel, und wie der Schiffer in dem Märchen von den Kalendern erbleichten sie jetzt und schlugen sich gegen die Brust, als die »schwarzen Berge« am Horizont auftauchten. Ihr Lager, das sie sieh mittschiffs an Deck aufgeschlagen hatten, widerhallte von ihren Klagen. Man würde sie auf Arbeit schicken, man würde sie zwingen, Sklaven zu werden, bis an ihr Lebensende würden sie sich in der Höhle des Löwen von Apemama abrackern und plagen müssen. Mit derartigem Gerede hatten sie ihren Kindern schließlich einen solchen Schrecken eingejagt, daß das eine von ihnen (ein großer, strammer Junge) schreiend mit Gewalt vom Schiff gebracht werden mußte. Dabei waren ihre Befürchtungen vollkommen grundlos. Ich zweifle keinen Augenblick, daß sie arbeiten mußten, aber ich kann dafür einstehen, daß sie gut, ja glänzend behandelt wurden. Denn etwa ein Jahr später traf ich diese heimatlosen Wanderer zufällig an Bord der »Janet Nicoll« wieder. Ihre Überfahrt war ihnen von Tembinok bezahlt worden; sie, die ohne einen Pfennig in der Tasche die »Äquator« verlassen hatten, erschienen in neuen Kleidern, mit Matten und Geschenken beladen auf der »Janet« und brachten ein ganzes Warenlager von Lebensmitteln mit, von denen sie auf der Überfahrt wie die Könige lebten. Endlich sah ich sie auch in ihrer Heimat landen, und ich muß sagen, ihre Trauer, Apemama den Rücken zu kehren, war größer als ihre Wiedersehensfreude.

Wir fuhren am Sonntag, den 1. September, von Norden her in einem Zickzackkurs zwischen flachen Sandbänken in den Hafen ein. Es war ein Tag glühendheißen Äquatorsonnenscheins, aber die Brise war stark und kühl, und der Maat, der den Schoner vom Ausguck her hineingelotst hatte, schauderte, als er wieder auf das Deck sprang. Die Lagune kräuselte sich in abertausend regenbogenfarbigen kleinen Wellen; das ständige Donnern der Brandung klang von der offenen See zu dem Ankerplatz hinüber, und die langgestreckte, hohle Sichel des Palmwaldes wiegte sich schimmernd im Winde. Gegenüber der Stelle, wo wir vor Anker lagen, war der Strand durch eine sieben bis acht Fuß hohe Terrasse aus weißer Koralle gekrönt, die ihrerseits wieder überragt wurde von den verstreuten und nicht zueinander passenden Gebäuden des königlichen Palastes. Nach Süden zu schloß sich das Dorf an, ein Komplex hochstrebiger Maniapen, und Dorf wie Palast schienen ausgestorben.

Kaum jedoch hatten wir den Anker ausgeworfen, als wir aus der Ferne eilfertig und geschäftig allerlei Gestalten am Strande auftauchen sahen; ein Boot wurde flottgemacht, und die Besatzung ruderte zu uns heraus, um das königliche Fallreep an Bord zu bringen. Tembinok‘ hatte einst einen Unfall und scheut sich jetzt, seine königliche Person dem morschen Gerät der Südseehandelsschiffe anzuvertrauen. Er hat daher eine Art hölzernes Gerüst konstruieren lassen, das bis zur Ausfahrt des Fahrzeuges an den Schiffsbug angeschnallt bleibt. Nachdem die Mannschaft diesen Apparat befestigt hatte, kehrte sie an Land zurück. An Bord kommen durfte sie nicht; ebenso war es uns verboten, zu landen; zum mindesten hätten wir uns dadurch einem starken Risiko ausgesetzt, denn der König pflegt persönlich die Erlaubnis dazu zu erteilen. Eine Pause folgte, während der das Abendessen zu Ehrendes großen Mannes verschoben wurde. Da das Vorspiel mit der Leiter uns eine Ahnung sowohl von seinem gewichtigen Körpers wie von seinem verständigen, erfinderischen Geistes gegeben hatte, war unsere Neugier in hohem Maße erregt; so beobachteten wir denn mit einem Gefühl, das an Aufregung grenzte, wie Strand und Terrasse sich plötzlich mit Gefolgsmännern anfüllten, wie der König mit seiner Begleitung ein Fahrzeug bestieg, und wie das Boot (eine Kriegsschiffsjolle) direkt vor dem Winde auf uns zuschoß. Geschickt legte der königliche Bootsführer neben unserem Schiffe an, bestieg vorsichtig mißtrauisch die Leiter und betrat schwerfällig das Deck.

Es ist nicht lange her, da schwamm der König in einer einzigen Fettmasse, die jede Linie seines Gesichtes und seiner Gestalt verwischte und ihn sich selbst zur Last machte. Kapitäne, die bei ihm zu Besuch waren, rieten ihm indes, spazieren zu gehen, und er wandte das Heilmittel, obwohl es seine ganzen Lebensgewohnheiten und die Traditionen, die sich an seinen Rang knüpften, durchbrach, mit Erfolg an. Seine Korpulenz ist jetzt erträglich; man wurde ihn eher robust als dick nennen, doch ist sein Gang noch immer langsam, stolpernd und elefantenschwer. Niemals zögert oder beeilt er sich, stets erledigt er seine Geschäfte mit der gleichen unerschütterlichen Ruhe. Jedesmal, wenn wir ihn sahen, fielen uns die reichen natürlichen Gaben auf, die er in feinem Äußeren für das Theater mitbrachte: eine Hakennase wie Dantes Totenmaske, eine lange Mähne schwarzer Haare, gebieterisch funkelnde, forschende Augen, für gewisse Rollen bei einem Menschen, der sie zu gebrauchen weiß, einfach unbezahlbare Gottesgaben. Seine Stimme paßte gut zu allem; sie war schrill, mächtig und unheimlich und hatte den Klang der Stimmen von Seevögeln. Hier, wo es keine Moden gibt und auch niemand da ist, sie einzuführen oder sich ihnen anzupassen und sie zu kritisieren, geht der König, wie Sir Charles Grandison, »gekleidet nach seinem Herzen.« Manchmal trägt er ein Weibergewand, manchmal auch Marineuniform; dann wieder (und zwar das am häufigsten) ein Maskeradenkostüm nach eigenem Entwurf: Hosen und einen merkwürdigen Rock mit Schwalbenschwänzen, Schnitt und Sitz nach kostbarster Inselschneidermanier, das Material jedoch stets prächtig, mitunter grüner Samt, mitunter aber auch kardinalrote Seide. Diese Vermummung steht ihm ausgezeichnet, dagegen sieht er in dem Frauenkleid über alle Begriffe ominös und unheimlich aus. Auch jetzt sehe ich ihn noch in der furchtbar grellen Sonne, einsam, eine Gestalt aus E. T. A. Hoffmann, auf mich zuschreiten.

Besuche an Bord eines Schiffes, wie der, den wir jetzt erlebten, bilden einen großen und zwar den unterhaltendsten Teil seines Lebens. Tembinok‘ ist nicht nur Alleinherrscher, er ist auch der einzige Kaufmann seiner drei Reiche Apemama, Aranuka und Kuria – alles wohlbepflanzte Inseln. Die Taroernte dieser Eilande fällt den Häuptlingen zu, die sie wiederum unter ihren nächsten Anhängern verteilen; allein gewisse Fische und Schildkröten – von denen es auf Kuria wimmelt – sowie die ganze Kokosproduktion gehören ausschließlich Tembinok‘. »A‘ Kopla gehölen mie«, bemerkte seine Majestät mit einer Handbewegung; und zwar berechnet und verkauft er sie häuserweise. »Du haben Kopra, König?« habe ich einen Händler ihn fragen hören. »Ie zewei, dlei Haus haben«, entgegnete seine Majestät: »ie glauben dlei.« Daher die kommerzielle Bedeutung Apemamas, auf der der ganze Handel in einer Hand konzentriert ist; daher haben auch so viele Weiße sich vergeblich bemüht, hier Fuß zu fassen; daher werden die Schiffe geputzt, erhalten die Köche besondere Befehle und setzen die Kapitäne ihr freundlichstes Lächeln auf, um den König zu begrüßen. Ist er mit seinem Empfang und der Kost zufrieden, kann es leicht geschehen, daß er ganze Tage an Bord zubringt, und jeder Tag, ja jede Stunde wird für das Schiff ein Gewinn sein. Er pendelt dann zwischen der Kabine, in der er die seltsamsten Fleischgerichte vorgesetzt bekommt, und dem Warenlager hin und her, wo er das »Shopping« in einem seiner Person angepaßten Maßstabe genießt. Inzwischen hocken ein paar unterwürfige Gefolgsleute vor der Tür und harren seines leisesten Winks, während einige seiner Frauen sich in einem Boot, das man am Heck hat anlegen lassen, in der kurzen Dünung der Lagune wiegen, und zugedeckt von Matten als Schutz gegen die Sonne, Qualen der Hitze und der Langeweile erdulden. Der gestrenge Herr läßt sich indes von Zeit zu Zeit erweichen, dann dürfen die Frauen auch an Bord kommen. So erhielten wir am Tage unserer Ankunft die Ehre eines Besuches von drei oder vier dieser Damen; alle etwas umfangreiche Schönen, auf das Luftigste mit ihren Ridis bekleidet. Jede besitzt ihren Anteil Kopra, ihr peculium, mit dem sie nach Belieben schalten und walten darf. Die Ausstellung der Waren jedoch – Hüte, Bänder, Kleider, Parfüms, Dosenlachs – ein Schmaus für die Augen und eine Befriedigung leiblicher Genüsse – lockte sie vergebens. Sie hatten nur einen einzigen Gedanken: Tabak – das Zahlungsmittel der dortigen Gegend, das für sie den Wert gemünzten Goldes hat. Schwerbeladen aber triumphierend kehrten sie damit an Land zurück, und bis spät in die Nacht hinein konnte man sie auf der königlichen Terrasse sitzen sehen, wo sie in freier Luft beim Lampenlicht die Stangen zählten.

Der König dagegen ist nicht so sparsam. Er hat eine unersättliche Gier nach allem Neuen und Fremdartigen. Haus für Haus und Kiste für Kiste auf dem königlichen Grundstück sind bereits mit Uhren, Spieldosen, blauen Brillen, Regenschirmen, Strickwesten, Stoffballen, Werkzeugen, Gewehren, Jagdbüchsen, Medizinen, europäischen Nahrungsmitteln, Nähmaschinen und – was das Allermerkwürdigste ist – Öfen vollgepfropft. Alles, was je sein Auge fesselte, seinen Appetit reizte, ihm im Gebrauch gefiel oder ihm durch seine scheinbare Unbrauchbarkeit Kopfzerbrechen verursachte, wurde und wird von ihm gekauft. Und noch immer ist seine Gier unersättlich. Er ist besessen von den sieben Teufeln der Sammelwut. Er hört, daß von irgendeiner Sache gesprochen wird, und ein Schatten fällt auf sein Gesicht. »Ie glauben, ie ihn niß haben«, lautet seine Redensart, und alle seine Schätze scheinen ihm im Vergleich mit dem Fehlenden wertlos. Wenn ein Schiff nach Apemama fahrt, so zerbricht sich der Kapitän den Kopf nach etwas Neuartigem. »Wieviel du wollen?« fragt Tembinok‘ und deutet im Vorübergehen mit dem Finger darauf. »Nein, König; das zu teuer«, erwidert der Händler. »Ie glauben, ie ihn mögen«, entgegnet der König. Diesmal war es ein Glas Goldfische. Bei einer anderen Gelegenheit handelte es sich um parfümierte Seife. »Nein, König; das kostet zu viel«, sagte der Händler; »das zu gut für Kanaken.« »Wieviel du haben? Ie nehmen alle«, lautete die Antwort seiner Majestät, und er wurde Besitzer von siebzehn Kisten Seife zu zwei Dollar das Stückchen. Oder der Händler tut, als wäre der Artikel unverkäuflich, Privateigentum: ein Erbstuck oder ein Geschenk. Der Trick verfängt jedesmal. Man stelle dem König Hindernisse in den Weg und man hat ihn ganz sicher. Seine autokratische Natur empört sich gegen jeden Widerstand. Er empfindet ihn als Herausforderung, beißt wie ein Hunter, der über einen Zaun setzt, aufs Gebiß und zahlt, ohne mit der Wimper zu zucken, ja selbst ohne jedes Interesse zu zeigen, den verlangten Preis. Auch uns strafte Gott für unsere Sünden, indem er dem König eine Vorliebe für meiner Frau Toilettekoffer einflößte, der für einen Mann vollkommen unbrauchbar und zudem durch jahrelangen Gebrauch stark strapaziert war. Eines schönen Vormittags kam er in unser Haus und erbot sich ohne lange Vorrede, ihn uns abzukaufen. Ich sagte ihm, daß ich nichts zu verkaufen hätte; der Koffer wäre tatsächlich das Geschenk eines alten Freundes. Derartige Ausreden waren ihm ja nicht neu, er wußte, was sie im allgemeinen wert waren, und wie man ihnen entgegentreten mußte. Er griff daher stillschweigend zu einem realen Gegenargument, zog einen Sack englischen Goldes heraus und begann, ohne ein Wort zu verlieren, einen halben und einen ganzen Sovereign nach dem anderen auf den Tisch des Hauses zu legen. Dabei beobachtete er nach jedem neuen Goldstück unsere Gesichter. Vergeblich versicherte ich ihm, ich sei kein Händler; er würdigte mich keiner Antwort. Mindestens zwanzig Pfund müssen auf dem Tisch gelegen haben, aber immer noch holte er neue Goldstücke hervor, und in unsere Verlegenheit mischte sich bereits Ärger, als uns ein glücklicher Einfall kam. Da Seine Majestät so viel Wert auf den Koffer legten, baten wir ihn, denselben von uns als Geschenk anzunehmen. Noch nie in seinem Leben hat Tembinok‘ eine derartige Überraschung erlebt. Zu spät erkannte er, daß seine Hartnäckigkeit unhöflich gewesen war; eine Weile ließ er wortlos den Kopf hängen, dann blickte er uns mit blödverlegenem Ausdruck an. »Ie mi‘ schämen«, sagte der Tyrann. Es war das erste und letztemal, daß wir ihn an seinem eigenen Benehmen Kritik üben sahen. Eine halbe Stunde später schickte er uns eine Kiste aus Kampferholz im Werte von wenigen Dollar – aber der Himmel allein weiß, was Tembinok‘ dafür bezahlt hatte.

Von Haus aus schlau und gewitzigt durch eine vierzigjährige Menschenkenntnis, ließ er sich weder blindlings betrügen, noch hatte er sich stillschweigend darein geschickt, von sämtlichen vorüberfahrenden Händlern als Milchkuh behandelt zu werden. Im Gegenteil, er unternahm direkt heroische Anstrengungen, um gegen den weißen Mann aufzukommen. Wie Nakaeia von Makiu besaß er eigene Schoner. Doch glücklicher als Nakaeia hatte er auch Kapitäne gefunden, seine Schiffe zu führen. Seine Fahrzeuge sind bis zu den englischen Kolonien gekommen, und er hat auf seinen eigenen Seglern mit Neuseeland Handel getrieben. Aber trotzdem erwies sich die weltumspannende Unehrlichkeit des weißen Mannes als zu stark für ihn. Seine Gewinne schmolzen zusammen, die Schiffe kehrten verschuldet zurück; das Geld für die Versicherung wurde unterschlagen, und als gar die »Coronet« verloren ging, entdeckte er zu seiner Überraschung, daß mit ihr alles flötengegangen war. Da streckte er die Waffen, gestand sich, daß er ebensogut mit den vier Winden kämpfen konnte und hielt, erfahrenes Schaf, das er war, sein Vließ zum scheeren hin. Er ist der letzte Mensch der Welt, sich über das Unabänderliche zu ärgern, nimmt es vielmehr mit zynischer Ruhe auf und verlangt von denen, die mit ihm handeln, nicht mehr als ein gewisses anständiges Maß im Betrügen; dabei macht er so gute Geschäfte, als er nur kann und vermerkt, wenn er sich für mehr als gewöhnlich beschwindelt hält, des Betreffenden Namen in seinem Gedächtnis. Einmal zählte er mir eine Liste der Kapitäne und Superkargos auf, mit denen er zu tun gehabt hatte, wobei er sie in drei Kategorien einteilte: »El wenig swindelen – el viel swindelen – el swindelen zu viel.« Gegenüber den ersten beiden Klassen bezeugte er die großzügigste Toleranz, mitunter, aber nicht immer, auch gegenüber der dritten Ich war dabei, wie er einmal einen gewissen Händler kurz abfertigte und ich hatte dann das Glück (da ich seit der Kofferaffäre ziemlichen Einfluß auf ihn befaß), die beiden wieder zu versöhnen. Ja, bereits am Tage unserer Ankunft drohte es zu einer Auseinandersetzung zwischen ihm und Kapitän Reid zu kommen, deren Ursache es sich vielleicht lohnt, zu erzählen. Unter den eigens für Tembinok‘ importierten Waren befindet sieh auch ein als Cognak von Henessy bekanntes (und etikettiertes) Getränk, das in seinem ganzen Leben weder Cognak, geschweige denn Henessy gewesen ist. Es hat ungefähr die Farbe von Sherry, ist aber kein Sherry, schmeckt wie Kirsch und ist doch auch kein Kirsch. Der König aber hat sich an diese erstaunliche Marke gewöhnt und bildet sich auf seinen Geschmack obendrein etwas ein, so daß jeder Ersatz eine doppelte Beleidigung bedeutet, da er dahinter nicht nur einen Betrug wittert, sondern auch einen Zweifel in bezug auf die Zuverlässigkeit seines Gaumens. Eine ähnliche Schwäche habe ich übrigens an allen Kennern beobachtet. Es stellte sich also heraus, daß die letzte von der »Äquator« verkaufte Kiste ein anderes und, wie ich sogar optimistischerweise annehmen möchte, besseres Gebräu enthalten hatte; die Unterredung begann daher unter für Kapitän Reid recht schwarzen Auspizien. Aber Tembinok‘ ist ein duldsamer Mann. Man erinnerte ihn daran, daß Irren menschlich sei, ja, daß er selbst nicht unfehlbar wäre, und er akzeptierte das Prinzip, daß ein ehrlich eingestandener Fehler Nachsicht erfordere. Die Affäre schloß mit folgendem Vorschlage: »Wenna iß maken Fehla, du mih sagen. Wenn du maken Fehla, iß dih sagen. Vieh bessa so.«

Nach einem Diner und Souper in der Kabine, sowie nach einem oder zwei Gläschen »Hennetti« – dem echten diesmal, mit der richtigen Blume – und einem fünfstündigen Aufenthalt vor dem Ladentisch, fuhr seine Majestät wieder nach Hause. Nach dreimaligem Kreuzen hielt das Boot vor dem Palaste; die Frauen wurden auf den Rücken der Vasallen an Land gebracht; Tembinok‘ betrat eine mit einer Reeling versehene Plattform, ähnlich einer Dampfertreppe, und wurde in Schulterhöhe über die Sandbänke an den Strand und über eine schräge, mit Kieseln bepflasterte Ebene zu der glühendheißen Terrasse getragen, auf der er wohnt.

Drittes Kapitel


Der Verbannte

Über die Schönheiten von Anaho könnte man Bände schreiben. Ich entsinne mich, daß ich um drei Uhr erwachte und die Luft warm und voll Wohlgeruch fand. Lange Dünung stand in der Bucht, schien sie ganz zu erfüllen und dann zurückzuweichen. Weich, tief und stumm rollte die »Casco«, nur manchmal kreischte die Kette wie ein Vogel. Seewärts strahlten die Sterne am Himmel und spiegelten sich im Wasser. Wenn ich dorthin blickte, hätte ich mit dem hawaiischen Dichter singen mögen:

Ua maomao ka lani, ua kahaea luna,
Ua pipi ka maka o ka hoku
.

(Die Himmel waren lieblich, sie dehnten sich da oben,
Zahlreich waren die Augen der Sterne.)

Und dann wandte ich mich landwärts, hohe Wolken waren über meinem Haupt, schwarz türmten sich die Berge, und es war mir, als wäre ich tausend Meilen von hier und läge vor Anker in einer Hochlandsbucht; wenn der Tag anbräche, würde ich Pinien, Heidekraut, grüne Farne und Rauchschwaden aus Torfdächern erblicken; die fremde Sprache, die gleich an mein Ohr schlagen würde, müsse gälisch, nicht kanakisch sein.

Und der Tag, als er kam, brachte andere Gesichte und Gedanken. Ich habe den Morgen anbrechen sehen in vielen Teilen der Welt: sicher eine der größten Freuden meines Daseins, und die Morgendämmerung, die ich mit höchster Bewegung betrachtete, leuchtete über der Bucht von Anaho. Die Berge hingen jäh über dem Hafen in allen erdenklichen Formen und Gestalten, grasbedeckt, zerklüftet und bewaldet, aber jeder besaß eine besondere Tönung von Saffran, Schwefel, Nelken oder Rosen. Der Glanz war wie Seide, die helleren Flecke schienen blütenhaft weich zu zerfließen, die dunkleren waren wie feierliches Erblühen. Das Licht selbst war das gewöhnliche Licht des Morgens, farblos und rein, und zeichnete auf diesem Juwelengrund alle Linien klar ab. Inzwischen verrieten rund um das Dorf unter den Palmen, wo blauer Schatten lagerte, rote Kokosfaserglut und leichte Rauchfahnen die erwachende Geschäftigkeit des Tages; am Strande kehrten Männer und Frauen, Knaben und Mädchen vom Bade zurück in strahlenden Gewändern, rot und blau und grün, wie wir sie entzückt schauten in den bunten kleinen Bilderbüchern unserer Kindheit, und bald darauf hatte die Sonne den östlichen Hügel erklommen, und der Glanz des Tages lag über allem.

Das Leuchten wuchs und mehrte sich, alle Tätigkeit hörte fast auf, ehe sie begonnen hatte. Zweimal am Tage bemerkte man eine gewisse Lebhaftigkeit der Hirten auf den Hügeln an der See. Bisweilen zog ein Kanu aus zum Fischfang. Bisweilen füllten eine oder zwei Frauen schläfrig einen Korb in der Baumwollpflanzung. Bisweilen drang Flötenton aus dem Schatten eines Hauses, spielerisch drei Töne wiederholend, in der Wirkung etwa wie » Que le your me dure«, endlos wiederholt. Oder bisweilen verständigten sich zwei Eingeborene über eine Biegung der Bucht hinweg durch das übliche Pfeifen. Sonst alles Schlaf und Schweigen. Der Gischt brandete und erglänzte rundumher am Ufer, eine Art schwarzer Kraniche fischte im seichten Wasser, die schwarzen Schweine galoppierten fortwährend umher aus irgendeinem Grunde, aber die Menschen hätten nie wieder zu erwachen brauchen oder alle tot sein können.

Mein Lieblingsversteck lag gegenüber dem Dorf, wo eine Landungsstelle war unter dem Hang einer lianenbewachsenen Klippe. Die Bucht war umsäumt von Palmen und einem » purao« genannten Baum, in der Größe zwischen Feige und Maulbeerbaum, mit Blüten wie großer gelber Mohn, in der Mitte ein kastanienbraunes Herz. An manchen Stellen schoben sich die Felsen über den Sand vor, der Strand war hier ganz überflutet, der Gischt spritzte lauwarm bis zu meinen Knien empor und spielte mit Kokosnußschalen, wie unser Ozean daheim mit Wrackstücken, Abfall und Flaschen spielt. Flutete das Wasser zurück, so strömten wunderbar farbige Dinge zwischen meinen Füßen. Griff ich nach ihnen, fehlte oder faßte sie, so hielten sie manchmal, was sie versprachen, waren Muscheln, die ein Museum oder in goldner Fassung die Hand einer Dame zieren konnten; manchmal war es nur farbiger Sand, zusammenklebende Nichtigkeiten, die getrocknet ebenso langweilig und alltäglich waren wie Kiesel auf Gartenwegen. Ich habe mich bei diesem kindischen Vergnügen stundenlang abgemüht unter der heißen Sonne, meiner unverbesserlichen Unwissenheit voll bewußt, aber zu herzhaft fröhlich, um mich zu schämen. Inzwischen flötete die Drossel oder ihre tropische Schwester im Dickicht über meinem Kopf.

Etwas weiter, an der Krümmung der Bucht, murmelte ein Bach unten in einer Grotte und fiel dann über eine Felsentreppe ins Meer. Der Luftzug drang unter dem Laubwerk bis tief in die Grotte vor, ein wahres Paradies der Kühle. Vorn öffnete sie sich auf die blaue Bucht, wo die »Casco« unter ihrem Schutze lag mit ihren fröhlichen Farben. Zu Häupten standen Puraobäume, und darüber wirbelten Palmen ihre glänzenden Fächer, wie ein Zauberer sich aus blanken Schwertern einen Heiligenschein wirkt. Denn hier strömt der Passatwind über den flachen Landstrich am Fuße des Gebirges fast immer mächtig und himmlisch kühl in die Bucht von Anaho.

Eines Tages war ich zufällig mit meiner Frau und dem Schiffskoch in dieser Grotte an Land gegangen. Abgesehen von der »Casco«, die vor uns lag, von ein oder zwei Kranichen und der immer bewegten See und dem Wind, war das Antlitz der Welt von vorgeschichtlicher Leere, das Leben schien stockstill zu stehen, und das Gefühl der Abgeschiedenheit war tief und wohltuend. Plötzlich erfaßte der Passatwind, der in einer Böe über die Landzunge strich, die Fächer der Palme oberhalb der Grotte. Und siehe da! In zwei der Kronen saß ein Eingeborener, bewegungslos wie ein Götzenbild, und beobachtete uns, sozusagen ohne mit der Wimper zu zucken. Im nächsten Augenblick schloß sich der Baum, und das Gesicht war verschwunden. Diese Entdeckung von menschlichen Seelen über unserm Kopf, während wir glaubten, allein zu sein, die Regungslosigkeit unserer Baumspione, und der Gedanke, daß wir vielleicht stets in ähnlicher Weise beobachtet wurden, wirkte ernüchternd. Unser Gespräch stockte, der Koch, dessen Gewissen nicht rein war, setzte nie wieder einen Fuß ans Land, und zweimal, als die »Casco« Gefahr lief, auf die Felsen getrieben zu werden, konnte man lachend den Arbeitseifer des Mannes beobachten, denn er glaubte, der Tod warte am Strande auf ihn. Erst auf den Gilbertinseln, über ein Jahr später, dämmerte mir die Erklärung auf: die Leute hatten Palmwein gezapft, was gesetzlich verboten ist, und als der Wind sie plötzlich verriet, waren sie ohne Zweifel stärker beunruhigt als wir.

Oben in der Schlucht lebte ein alter, melancholischer, grauhaariger Mann namens Tari (Charlie) Sarg. Er war in Oahu auf den Sandwichinseln geboren und in seiner Jugend auf amerikanischen Walfischfängern zur See gegangen, ein Umstand, dem er seinen Namen, sein Englisch, seinen östlichen Dialekt und das Unglück seines schuldlosen Lebens verdankte. Denn ein Kapitän, der von Neubedford aus in See ging, verschleppte ihn nach Nuka-hiva und setzte ihn dort unter den Kannibalen aus. Diese Tat war glatter Mord. Taris Leben muß anfangs an einem Haar gehangen haben. In der Aufregung und dem Schrecken jener Zeit ist er wahrscheinlich irrsinnig geworden, eine Krankheit, an der er noch jetzt litt. Vielleicht hat sich ein Kind in ihn verliebt und um Schonung gebeten. Jedenfalls kam er mit dem Leben davon, heiratete auf der Insel und lebte, als ich ihn kennenlernte, als Witwer mit einem verheirateten Sohn und einer Nichte. Aber die Erinnerung an Oahu verfolgte ihn, sein Lob war stets auf seinen Lippen, er sah es vor sich als Ort ewiger Feste, Gesänge und Tänze, und in seinen Träumen mag er es freudestrahlend besucht haben. Ich möchte wissen, was er empfunden hätte, wenn man ihn wirklich dorthin versetzt und ihm das moderne Honolulu mit seinem lärmenden Verkehr gezeigt hätte, den Palast mit der Wache, das große Hotel und Mr. Bergers Kapelle mit ihren Uniformen und ausländischen Instrumenten; wenn er gesehen hätte, daß die braunen Gesichter so selten und die weißen so zahlreich geworden; daß seines Vaters Land an Zuckerplantagen verkauft und sein Haus völlig verschwunden ist, oder daß vielleicht der Letzte seiner Stammesgenossen leprakrank zwischen Brandung und Klippen auf Molokai gefangengehalten wird. So schnell und so traurig ändert sich das Dasein, auch auf den Südseeinseln.

Tari war arm und wohnte elend. Sein Haus war ein Holzgerüst, von Europäern zusammengezimmert; es war tatsächlich eine Amtswohnung, denn Tari war der Schafhirt des Vorgebirges. Ich kann ein vollständiges Inventar der Hütte geben: drei Bottiche, eine Blechdose, eine eiserne Pfanne, mehrere Näpfe aus Kokosschalen, eine Laterne und drei Flaschen, die wahrscheinlich Öl enthielten, während die Kleider der Familie und ein paar Matten über die freistehenden Balken geworfen waren. Gleich beim ersten Zusammentreffen brachte der Verbannte mir Inselfreundschaft entgegen, die ohne ersichtliche Gründe entsteht, gab mir Kokosmilch zu trinken und trug mich die Schlucht hinauf, um sein Haus zu besichtigen: das einzige Gastgeschenk, das er zu bieten hatte. Er liebte den »Amelican« und den »Inglisman«, aber der »Flesman« war ihm ein Abscheu, und er erklärte uns eifrig, daß wir als »Fles«, Franzosen, seine Nüsse nicht erhalten und sein Haus nicht zu Gesicht bekommen hätten. Seinen Haß gegen die Franzosen kann ich einigermaßen verstehen, aber seine Vorliebe für die Angelsachsen keineswegs. Am folgenden Tag brachte er mir ein Schwein, und einige Tage später traf einer von uns ihn auf dem Wege, ein zweites zu bringen. Wir waren noch fremd auf den Inseln und peinlich berührt durch die Freigebigkeit des armen Menschen, die er sich schlecht leisten konnte, und machten den verständlichen, aber unverzeihlichen Fehler, das Schwein zurückzuweisen. Wäre Tari ein Marquesaner gewesen, so hätten wir ihn nie wiedergesehen, da er aber jener höchst sanfte, leidgequälte, melancholische Mann war, nahm er eine viel empfindlichere Rache. Kaum hatte das Kanu mit den neun abschiednehmenden Dorfbewohnern die »Casco« verlassen, als das Schiff von der andern Seite bestiegen wurde. Es war Tari, der so spät kam, weil er kein eigenes Kanu besaß und sich nur unter Schwierigkeiten eins borgen konnte, und allein, wie wir ihn immer sahen – weil er ein Fremdling war im Lande und der langweiligste Gesellschafter. Meine ganze Familie floh vor dem Zusammensein mit ihm, und ich mußte unseren beleidigten Freund allein empfangen. Die Unterhaltung muß beinahe eine Stunde gedauert haben, denn es war ihm unmöglich, sich loszureißen. »Du gehen weg. Ich sehen dich nicht mehr – nein, Herr!« klagte er; und dann rief er, indem er mit schmerzlicher Bewunderung um sich blickte: »Dies guter Schiff – nein Herr! – guter Schiff!« Das »Nein, Herr!« stieß er scharf durch die Nase heraus unter starker Betonung, eine Erinnerung an New Bedford und den verruchten Walfischfänger. Von diesen Bezeugungen der Trauer und des Lobes kam er sofort zurück auf das zurückgewiesene Schwein. »Ich lieben schenken wie du,« beklagte er sich, »ich nur haben Schwein, du ihn nicht nehmen!« Er sei ein armer Mann, er könne die Geschenke nicht auswählen, er habe nur ein Schwein, wiederholte er, und ich habe es zurückgewiesen! Ich bin selten bedrückter gewesen, als da ich ihn so vor mir sitzen sah, alt, grau, hart geprüft, schmerzlich bewegt, und die Beleidigung immer deutlicher begriff, die ich ihm unschuldigerweise zugefügt hatte, aber es war einer jener Fälle, denen gegenüber die Sprache versagt.

Taris Sohn war heiter und lebhaft, seine Schwiegertochter – ein Mädel von sechzehn Jahren, hübsch, höflich und ernst, klüger als die meisten Frauen von Anaho – besaß leidliche französische Sprachkenntnisse, sein Enkelkind war ein winziges Geschöpfchen an ihrer Brust. Ich stieg eines Tages die Schlucht hinauf, als Tari nicht zu Hause war, und fand den Sohn bei der Arbeit, einen Sack aus Baumwolle zu knüpfen; seine Frau nährte das Kindlein. Als ich mit ihnen auf dem Fußboden saß, fragte mich das Mädchen über England aus, das ich zu beschreiben versuchte, indem ich die Pfanne und die Kokosschalen aufeinandertürmte, um Häuser darzustellen. Ich erzählte ihnen, so gut es möglich war, durch Worte und Gesten, von der Übervölkerung, dem Hunger und der ewigen Arbeitshast. » Pas de cocotiers? pas de popoi?« fragte sie. Ich erzählte ihr, es sei dort zu kalt, und suchte es ihr durch allerlei Mimik klarzumachen, indem ich so tat, als ob ich die Zugluft absperrte und mich über ein Phantasiefeuer beugte, damit sie mich verstände. Aber sie begriff mich sofort, sagte, das müsse schlimm sein für die Gesundheit, und saß eine Weile in ernstes Nachsinnen versunken über diese traurigen Zustände. Ich bin sicher, daß ihr Mitleid sich regte, denn ein anderer Gedanke, der stets in jeder marquesanischen Brust herrscht, regte sich in ihr. Mit traurigem Lächeln sah sie mich aus melancholischen Augen an und beklagte den Verfall ihres eigenen Volkes. » Ici pas de Canaques«, sagte sie, und reichte mir das Baby von ihrer Brust mit beiden Händen her. » Tenez – ein winziges Baby wie dies und dann tot. Alle Kanaken sterben. Dann keine mehr.« Das Lächeln und die Art, mit der diese jugendliche Mutter ihr eigenes überzartes Fleisch und Blut als lebenden Beweis darbot, berührte mich sonderbar: beides bewies stille Verzweiflung. Inzwischen arbeitete der Gatte lächelnd an seinem Sack, und das nichtsahnende Kindlein griff kriechend nach einem Topf mit Himbeermarmelade, den ich als Freundschaftsgabe soeben die Schlucht heraufgetragen hatte. Und im Ausblick auf die Jahrhunderte sah ich ihr Schicksal als das unsere, ich sah den Tod wie eine Flutwelle herankommen, den Tag schon bestimmt, da es kein »Beretani« mehr geben würde, überhaupt niemand mehr von irgendeiner Rasse und – was mich besonders anging – keine Literatur mehr und keine Leser.

Viertes Kapitel


Tod

Der Gedanke an den Tod beherrscht, wie gesagt, die Seele der Marquesaner. Es wäre sonderbar, wenn es anders wäre. Die Rasse ist vielleicht die schönste auf Erden. Sechs Fuß ist die mittlere Größe der Männer, sie haben starke Muskeln, kein Fett, sind flink in der Bewegung, graziös in der Ruhe; und die Frauen, obwohl dicker und langweiliger, sind doch edle Tiere. Dem Augenschein nach gibt es keine lebenstüchtigere Rasse, und doch hält der Tod seine Ernte mit beiden Händen. Als Bischof Dordillan zum erstenmal nach Tai-o-hae kam, schätzte er die Eingeborenen auf mehrere Tausend, aber gleich nach seinem Tode zählte Stanislao Moanatini in derselben Bucht acht seßhafte Insulaner. Oder man nehme das Tal von Hapaa, das den Lesern von Herman Melville unter der grotesk falschen Bezeichnung Hapar bekannt ist. Es gibt nur zwei Schriftsteller, die einigermaßen klug über die Südsee geschrieben haben: Melville und Charles Warren Stoddard, und bei der Taufe des ersten und größten müssen einige einflußreiche Feen schlecht behandelt worden sein. »Er soll sehen können, er soll erzählen können, er soll entzücken können,« sagten die freundlichen Patinnen, »aber er soll nicht hören können!« rief die letzte aus. Der Stamm der Hapaa soll vierhundert Seelen gezählt haben, als die Blattern kamen und ihn um ein Viertel verkleinerten. Sechs Monate später wurde eine Frau tuberkulös, und in weniger als einem Jahr flohen die letzten beiden Überlebenden, ein Mann und eine Frau, aus der plötzlich entstandenen Einsamkeit. Ein ähnliches Paar wird vielleicht eines Tages unter neuen Rassen dahinsiechen als tragisches Überbleibsel der Großbritannier. Als ich diese Geschichte zuerst hörte, machten mich die Zeitangaben stutzig, aber ich bin jetzt geneigt, sie für richtig zu halten. Zu Anfang meines Besuches zum Beispiel, oder im Spätjahr vorher, tauchte ein Fall von Phthisis in einer Hausgemeinschaft von siebzehn Personen auf, und im August, als man mir davon berichtete, lebte nur noch ein Knabe, der auf einer auswärtigen Schule gewesen war. Die Entvölkerung hat zwei Ursachen: die Tore des Todes stehen weit offen, und die Tore der Geburten sind fast geschlossen. So verzeichnete man im ersten Halbjahr 1888 zwölf Todesfälle und nur eine Geburt im Distrikt von Hatiheu. Sieben oder acht weitere Todesfälle waren nach menschlichem Ermessen noch zu erwarten, und Mr. Aussel, der diensthabende Gendarm, wußte nur von einer bevorstehenden Geburt. Unter solchen Umständen ist die Abnahme der Bevölkerung von sechshundert auf vierhundert im Laufe von vierzig Jahren nicht verwunderlich, Ziffern, die nach den Angaben von Mr. Aussel richtig geschätzt sind. Und das Tempo des Verfalls muß sich zum Schluß noch vergrößert haben.

Auf dem Landwege von Anaho nach Hatiheu an der nächsten Bucht kann man sich von der Entvölkerung ein richtiges Bild machen. Der Weg ist gut gangbar, aber grausam steil. Wir schienen an dem verlassenen höchsten Haus von Anaho soeben erst vorüber zu sein, als wir auch schon erstaunt auf das Dach blickten; die »Casco«, weit draußen in der Bucht, stark rollend, schrumpfte sichtbar zusammen, und bald sah man Ua-huna durch ein Loch der Landzunge von Tari wie eine Wolke am Horizont schweben. Jenseits des Gipfels, wo der Wind sehr kalt wehte, durch die schilfartigen Gräser pfiff und den Grasbehang des Pandanus zerzauste, gelangten wir plötzlich wie durch ein Tor in das nächste Tal und zur Bucht von Hatiheu. Ein Gebirgsmassiv umschließt das Tal von drei Seiten. Auf der vierten ist dies Bollwerk zersprengt zu Ruinen, stürzt abwärts zur See in steilen und zerklüfteten Felsblöcken und bildet so die einzige wegbare Bresche zu der blauen Bucht. Das Innere dieses Tales ist dicht bewachsen mit lieblichen und wertvollen Bäumen: Orangen, Brotfrucht, Mumienäpfeln, Kokospalmen, der Inselwallnuß und, an Stelle von Unkraut, mit Pinien und Bananen. Vier nie versiegende Flüsse halten es feucht und grün, und an den Ufern des einen und dann des andern führt der Weg ziemlich weit hinab in dies glückliche Tal. Der Sang der Wasser und der vertraute Anblick zerstreuter Felsblöcke erinnerte uns lebhaft an die Heimat, aber der Eindruck wurde, ehe wir ihn recht genossen, wieder zerstört durch das tropische Laubwerk, den sonderbaren Wuchs des Pandanus, die Säulenstämme der Banyan, die im Busch galoppierenden schwarzen Schweine und die Architektur der Eingeborenenhäuser.

Die Häuser auf der Hatiheuseite begannen hoch oben, noch höher aber der traurige Anblick verlassener Plattformen. Wenn ein Eingeborenenhaus leer steht, verrottet der Oberbau – Pandanusstroh, Bast, wenig haltbares tropisches Holz – sehr rasch und wird durch den Wind zerstreut. Nur die Steine der Terrasse bleiben, und keine Ruine, kein Grab, kein ragender Fels und keine zerstörte Festung kann ein traurigeres Bild des Alters darbieten. Wir müssen an sechs bis acht solcher häuserloser Plattformen vorübergekommen sein. An der Hauptstraße der Insel, wo sie das Tal von Taipi durchquert, sollen sie, wie mir Mr. Osbourne erzählt, zu Dutzenden stehen, und da die Straßen lange nach dem Bau der Häuser angelegt wurden, vielleicht sogar nach der Räumung, und einfach als Linien anzusehen sind, die willkürlich durch den Busch laufen, so muß der Wald zu beiden Seiten mit diesen Überbleibseln angefüllt sein: Grabdenkmälern ganzer Familien. Solche Ruinen sind streng tabu, kein Eingeborener darf sich ihnen nähern, sie sind zu Schildwachen des Königreiches der Gräber geworden. Es könnte scheinen, als ob es sich um eine natürliche und fromme Sitte der Hunderte handelte, die von untergegangenen Tausenden übrigblieben, sie wollten den Herd der Vorfahren nicht mit Füßen treten. Ich glaube jedoch, daß die Sitte auf anderen und düstereren Vorstellungen beruht. Haus, Grab und selbst der Körper des Toten wurden von den Marquesanern stets besonders geehrt. Bis vor einiger Zeit wurde ein Leichnam bisweilen von der Familie aufbewahrt und täglich eingeölt und gesonnt, bis er allmählich nach vielen Unannehmlichkeiten zu einer Art Mumie eintrocknete. Opfergaben werden noch heute auf die Gräber gelegt. In der Verräterbucht sah Mr. Osbourne einen Mann einen Spiegel kaufen und auf das Grab seines Sohnes legen. Und der Abscheu gegen die Entweihung der Grabstätten, die bei der Anlage neuer Wege gedankenlos zerstört wurden, ist einer der Hauptgründe für den Haß der Eingeborenen gegen die Franzosen.

Der Marquesaner blickt mit Trauer dem herannahenden Aussterben seines Volkes entgegen. Der Gedanke an den Tod sitzt mit ihm zu Tisch und steht mit ihm auf vom Nachtlager, er lebt und atmet im Schatten der Sterblichkeit, furchtbar zu ertragen, und wird von der Vorstellung so niedergedrückt, daß er das Ende wie eine Erlösung betrachtet. Er versucht nicht einmal, eine Enttäuschung zu überwinden; bei einer Beleidigung, beim Abbruch seiner flüchtigen und freien Liebesbeziehungen sucht er sofort Zuflucht im Grabe. Erhängen ist augenblicklich Sitte. Ich habe von drei Leuten gehört, die sich in der ersten Hälfte des Jahres 1888 an der westlichen Grenze vor Hiva-oa erhängten, aber obwohl das die gebräuchliche Form des Selbstmordes in anderen Teilen der Südsee ist, glaube ich nicht, daß sie sich auf den Marquesas erhält. Marquesanischem Empfinden näher steht die alte Art des Vergiftens mit der Frucht der Ewa, die dem Eingeborenen einen grausamen, aber mit vollem Bewußtsein empfundenen Tod spendet und ihm Zeit gibt für die kleinen Besorgungen der letzten Stunde, denen er so große Bedeutung beimißt. Der Sarg kann bereitgestellt, die Schweine können getötet werden und die Klageschreie bereits das Haus durchtönen; und erst dann, nicht vorher, ist sich der Marquesaner der Vollkommenheit bewußt, sein Leben ist ganz abgeschlossen, sein Gewand wie das Cäsars geordnet zum letzten Gang. Preise niemand vor seinem Tode glücklich, sagten die Alten; beneide niemand, bevor du seine Totenklage hörst, könnte die marquesanische Formel lauten. Der Sarg findet ganz besonderes Interesse, obwohl er erst seit einiger Zeit eingeführt ist. Für den erwachsenen Marquesaner bedeutet er ebensoviel wie eine Taschenuhr für den europäischen Schulknaben. Zehn Jahre lang bestürmte Königin Vaekehu ihren Rat, bis man ihr neulich willfahrte und ihr einen Sarg schenkte. Jetzt hat die liebe Seele Ruhe. Man erzählte mir eine sonderbare Geschichte von dieser Liebhaberei. Die Polynesier leiden mehr unter der Krankheit des Willens als des Körpers. Man sagte mir, die Tahitier hätten ein Wort dafür, erimatua, aber ich finde es nicht in meinem Wörterbuch. Ein Gendarm, M. Nouveau, sah Menschen dieser unheimlichen Krankheit anheimfallen, jagte sie aus ihren Behausungen, zwang sie zum Straßenbau, und in zwei Tagen waren sie geheilt. Aber ein anderes Heilmittel ist origineller: ein Marquesaner, der an Mutlosigkeit hinsiechte, oder besser gesagt an Müdigkeit, lebte beim bloßen Anblick der ersehnten Ruhestätte, seines Sarges, auf, erholte sich, schüttelte die Faust des Todes ab und widmete sich noch jahrelang seiner Beschäftigung, zum Beispiel dem Schnitzen von Tikis (Götzenbildern) oder dem Flechten von Bärten alter Männer. Man mag aus alledem ersehen, wie leichtherzig sie dem natürlichen Tode entgegenblicken. Ich hörte ein Beispiel, furchtbar und erstaunlich. Zur Zeit der Blattern in Hapaa wurde ein alter Mann von der Krankheit ergriffen, er rechnete nicht mit der Genesung, ließ sein Grab graben am Wegrande und lebte beinahe vierzehn Tage darin, aß, trank und rauchte mit den Vorübergehenden und sprach meistens von seinem Ende, unbesorgt um sich und die Freunde, die er ansteckte.

Diese Neigung zum Selbstmord und die lose Verbindung mit dem Leben ist nicht nur dem Marquesaner eigentümlich. Seltsam ist die allgemein verbreitete Entmutigung und der Glaube an das Aussterben des Volkes. Vergnügungen werden vernachlässigt, der Tanz schläft ein, die Lieder werden vergessen. Es ist wahr, daß manche und sogar viele vom Tode gezeichnet sind, aber viele würden überleben, wenn sie Lust hätten, sich zu erhalten und aufzurütteln. Beim letzten Fest des Sturmes auf die Bastille vergoß Stanislao Moanatini Tränen, da er die seelenlosen Vorführungen der Tänzer sah. Als die Leute in Anaho uns Lieder vorsangen, entschuldigten sie sich wegen der geringen Auswahl. Es seien nur junge Leute anwesend, sagten sie, und die Alten allein wüßten die Gesänge. Die ganze marquesanische Poesie und Musik ließ man aussterben, weil es einer einzigen Generation an Lebensmut gebrach. Die volle Bedeutung dieser Zustände wird dem klar, der andere polynesische Stämme kennt und weiß, daß der Samoaner bei jedem Anlaß ein neues Lied erfindet oder gehört hat, wie zum Beispiel auf Penrhyn Scharen kleiner lebhafter Mädchen von acht bis zwölf Jahren ihren Singsang ununterbrochen stundenlang fortsetzen und ein Lied dem andern ohne Pause folgen lassen. Gleichzeitig stellt der Marquesaner, der nie fleißig war, jetzt vollständig die Produktion ein. Der Export der Inselgruppe verringert sich unverhältnismäßig, auch wenn man die Sterbeziffern in Betracht zieht. »Die Koralle vermehrt sich, die Palme wächst, aber der Mensch geht von dannen«, sagt der Marquesaner und legt die Hände in den Schoß. Und das ist ohne Zweifel natürlich. Es mag eitel erscheinen, aber wir arbeiten und darben nicht für den Lohn, den unser Einzeldasein uns bietet, sondern blicken schüchtern voraus auf das Leben und das ehrende Gedenken unserer Nachkommen, und wäre niemand, der aus eigenem Blut oder Stamm uns nachfolgte – ich bezweifle, ob dann die Rothschilds Geld angehäuft hätten und Cato tugendhaft gewesen wäre. Es wäre gut, von Zeit zu Zeit den Marquesanern einen Anreiz zu geben, aus der Lethargie zu erwachen. An der ganzen Küste landeinwärts von Anaho wächst Baumwolle wie Unkraut, Männer und Frauen können, wenn sie sammeln, täglich einen Dollar verdienen, aber als wir ankamen, war das Lager des Händlers vollständig leer, und bevor wir abfuhren, war es nahezu voll. Solange wir als Schaustück da waren und die »Casco« in der Bucht ankerte, wollte jeder uns einen Besuch abstatten, und zu diesem Zweck brauchte jede Frau ein neues Gewand, jeder Mann Hemd und Hosen. Niemals zuvor hatte man nach Mr. Reglers Erfahrungen soviel Arbeitslust gezeigt.

In ihrer Mutlosigkeit steckt ein gut Teil Furcht. Die Angst vor Geistern und Dunkelheit ist tief eingegraben in das Gemüt des Polynesiers und nicht am wenigsten in das der Marquesaner. Der arme Taipi, Häuptling von Anaho, war in einer mondlosen Nacht dazu verurteilt, nach Hatiheu zu reiten. Er borgte sich eine Laterne, saß eine lange Weile still, um sich Mut zu machen für das Abenteuer, und als er schließlich fortging, schüttelte er uns die Hand, als ob wir uns für ewig trennten. Gewisse Wesen, Vehinehae genannt, bevölkern die Wege in der Nacht und machen sie furchtbar. Man erzählte mir, sie seien wie Nebel, und wenn der Wanderer näher käme, verflüchtigten sie sich und verschwänden; ein anderer beschrieb sie als Menschen mit Katzenaugen; von niemand konnte ich Aufklärung darüber bekommen, was sie anrichteten, und warum man sie fürchtete. Man darf aber überzeugt sein, daß sie Tote darstellen, und die Toten können nach der Ansicht der Insulaner alles durchdringen. »Wenn ein Eingeborener sagt, er sei ein Mensch,« schreibt Dr. Codrington, »so meint er, daß er ein Mensch und kein Geist, nicht etwa, daß er ein Mensch und kein Tier sei. Die vernünftigen Wesen in der Welt sind nach seiner Ansicht die lebenden Menschen, während die Geister tote Menschen sind.« Dr. Codrington spricht von Melanesien, aber nach meinen Erfahrungen gelten seine Worte auch von Polynesien. Und noch mehr. Unter Kannibalenvölkern ruht auf den Toten im allgemeinen ein furchtbarer Verdacht, und die Marquesaner, die größten Menschenfresser von allen, sind kaum frei von ähnlichen Vorstellungen. Ich glaube recht zu raten, wenn ich annehme, daß die Vehinehae die hungrigen Seelen der Verstorbenen sind, die das Geschäft ihres Lebens, auf Menschenfleisch zu jagen, fortsetzen und überall unsichtbar lauern, um die Lebendigen zu verschlingen. Von einem andern Aberglauben erfuhr ich durch das zweifelhafte Englisch Tari Sargs. Die Toten, erzählte er mir, kämen und tanzten nachts rund um das Paepae ihrer früheren Familie; die Familie geriete dadurch in eine gewisse Erregung – ob aus frommer Trauer oder aus Furcht, konnte ich nicht feststellen – und müßte ein Festmahl veranstalten, zu dem unbedingt Fisch, Schweinefleisch und Popoi gehören. Soweit ist alles klar. Aber nun führte Tari das neue Haus von Toma als Beispiel an mit dem Herdbrandfestmahl, das gerade damals in Vorbereitung war, und zwar als charakteristisches Beispiel. Dürfen wir diese Dinge tatsächlich miteinander verbinden und uns dabei der verlassenen Ruinen erinnern, um anzunehmen, daß die Toten beständig die Paepaes der Lebenden belagern, nur durch Versöhnungsfeste von der Zeit der Grundsteinlegung an verdrängt werden und sofort wieder Besitz ergreifen von ihrer alten Heimstätte, sobald das Feuer des Lebens auf den Herden erlischt?

Ich kann diesen marquesanischen Aberglauben nur erraten. Auf die menschenfresserischen Geister werde ich an anderer Stelle ausführlicher zurückkommen. Vorläufig genügt es festzustellen, daß die Marquesaner aus irgendwelchen Gründen vor der Gegenwart der Geister Furcht haben. Man begreift, wie sehr das auf die Nerven gehen muß in einem Inselreich, wo die Zahl der Toten die der Lebendigen schon so weit übertrifft, und wo die Toten sich so rasch vermehren, wie die Lebenden abnehmen. Man versteht, wie der Rest sich um die verlöschende Glut des Lebensfeuers schart, gleich alten Rothäuten, die allein in Steppe und Schnee zurückgelassen werden, während die Stammesangehörigen weiterziehen, die letzte Flamme erstirbt und die Nacht ringsum von Wolfen bevölkert ist.

Fünftes Kapitel


Entvölkerung

Überall in der Südsee finden wir Spuren früherer Übervölkerung, so daß selbst die Fruchtbarkeit tropischen Bodens kaum hinreichte und selbst der sorglose Polynesier um die Zukunft bangte. Man kann sich den Vorstellungen Darwins über die Koralleninseln anschließen und sich ausmalen, wie das Steigen des Meeres oder das Versinken eines Festlandes zahlreiche Flüchtlinge in die Gebirge trieb. Oder, nüchterner, daß ein Seeräubervolk aus fremden Landen eine Insel nach der andern eroberte und in Besitz nahm, um sich mit der Zeit in der neuen Heimat ungeheuer zu vermehren. In jedem Falle war der Erfolg derselbe: früher oder später mußte sich herausstellen, daß die Zahl der Menschen zu groß und eine Hungersnot auf dem Wege sei.

Die Polynesier begegneten dieser drohenden Gefahr durch verschiedene Mittel und Vorbeugungsmaßnahmen. Man fand eine Möglichkeit heraus, Brotfrucht zu konservieren, indem man sie in künstlichen Gruben aufbewahrte; Gruben von vierzig Fuß Tiefe und entsprechendem Durchmesser kann man noch heute auf den Marquesas sehen, wie man mir erzählte, aber selbst diese genügten nicht für das anwachsende Volk, so daß die Annalen der Vergangenheit finstere Berichte enthalten über Hungersnöte und Kannibalismus. Unter den Hawaiiern – einem zäheren Volk in gemäßigterem Klima – wurde die Landwirtschaft stark entwickelt, Kanäle durchzogen das Land, und die Fischteiche von Molokai beweisen die Zahl und den Fleiß der ehemaligen Einwohner. Inzwischen waren Abtreibung und Kindesmord an der Tagesordnung auf der ganzen Insel. Auf den Korallenatollen, wo die Gefahr am offensichtlichsten war, wurden sie sogar vom Gesetz befohlen und durch Strafen erzwungen. Auf Vaitupu in der Elliceengruppe waren jedem Ehepaar nur zwei Kinder erlaubt, und es wird berichtet, daß man manchmal eine Geldstrafe bezahlte, um das Kind verschonen zu dürfen.

Das ist charakteristisch. Denn kein Volk der Erde ist Kindern gegenüber so liebevoll und nachsichtig: Kinder sind der Jubel und der Schmuck ihrer Häuser, sie dienen ihnen als Spielzeug und Bildergalerie. »Glücklich der Mensch, der seinen Köcher voll von ihnen hat.« Der heimatlose Bastard wird umworben von vielen Familien, und die natürlichen und adoptierten Kinder spielen und wachsen unterschiedslos miteinander auf. Der Verzug, oder man kann beinahe sagen die Vergötterung des Kindes werden nirgends soweit getrieben wie auf den westlichen Inseln und am weitesten nach meinen Beobachtungsmöglichkeiten auf der Paumotugruppe, dem sogenannten niedrigen oder gefährlichen Archipel. Ich sah dort einen Eingeborenen sich erstaunt und unwillig von mir wenden, weil ich andeutete, daß einem Taugenichts die Rute gut täte. Täglich kann man auf den östlichen Inseln beobachten, wie ein Kind seine Mutter schlägt oder gar steinigt, und die Mutter, weit entfernt, zu strafen, wagt kaum, sich zu wehren. Auf manchen Inseln wurde ein Häuptling bei der Geburt seines Kindes abgesetzt und verzichtete auf seinen Namen, als ob er wie eine Drohne den Zweck seines Daseins erfüllt habe. Und auf anderen hatten nichtssagende Kindesworte das Gewicht von Orakelsprüchen. Vor nicht allzulanger Zeit wurde ein Fremdling, gegen den ein Kind Abneigung verspürte, erschlagen, wie man mir versicherte. Und an anderer Stelle werde ich ein entgegengesetztes Beispiel zu erzählen haben: wie ein Kind in Manihiki mich ins Herz schloß und seine Adoptiveltern sofort diese Tatsache anerkannten, indem sie mich mit Geschenken überhäuften.

Mit diesen Gefühlen mußte natürlich die Notwendigkeit der Kindervernichtung in Widerstreit geraten, und ich glaube, man findet Spuren dieser zwiespältigen Empfindungen in der tahitischen Brüderschaft des Oro. Einst wurde ein neuer Gott dem Olymp der Gesellschaftsinseln zugeführt oder ein früherer ausgegraben und populär gemacht. Oro war sein Name, und man kann ihn mit dem Bacchus der Alten vergleichen. Seine Anhänger segelten von Bucht zu Bucht und von Insel zu Insel, sie wurden überall mit Festgelagen empfangen, trugen feine Kleider, sangen, tanzten und spielten, zeigten ihre Gewandtheit und Kraft und waren die Künstler, Akrobaten, Barden und Dirnen der Gruppe. Ihr Leben war öffentlich und epikureisch, ihr Ursprung ein Geheimnis, und die Angesehensten des Landes bemühten sich um Aufnahme in die Bruderschaft. Wenn ein Ehepaar die nächste Erbberechtigung besaß für die Würde der Oberherrschaft, durfte es aus politischen Gründen ein Kind verschonen; alle anderen Kinder, deren Vater oder Mutter der Gesellschaft des Oro angehörte, waren vom Augenblick der Empfängnis an zum Tode verurteilt. Eine Art Freimaurerloge, eine geheimnisvolle Sekte, eine Gesellschaft von Künstlern, alle Mitglieder eidlich verpflichtet, Unzucht zu verbreiten, und alle unter dem Verbot, Nachkommen zu hinterlassen: ich weiß nicht, welchen Eindruck alles das auf andere macht, aber mir erscheint der Zweck klar. Hungersnot bedrohte die Inseln, das notwendige Gegenmittel war verhaßt, und so wurde es dem Eingeborenengemüt durch den Reiz des Geheimnisvollen, der Lustbarkeiten und der Schaustellung nähergebracht. Das wird noch wahrscheinlicher und der geheime, ernste Zweck der Institution noch deutlicher, wenn es wahr ist, daß nach einer gewissen Lebenszeit die Verpflichtung des Gelübdes geändert wurde: zuerst Ausschweifung, dann Keuschheit.

Hier haben wir also die eine Seite des Problems klar vor uns: Kannibalismus unter liebenswürdigen Menschen, Kindermord unter Kinderliebhabern, Fleiß unter geborenen Faulenzern, Erfindungsgabe unter Menschen, die dem Fortschritt abgeneigt sind, eine Art schrecklicher heidnischer Heilsarmee der Bruderschaft des Oro, die Berichte früherer Reisender, weit verstreute Reste älterer Wohnstätten, zusammen mit der allgemeinen Überlieferung der Insulaner: alles das deutet auf dieselbe Tatsache hin: Übervölkerung und Erregung darüber in früheren Zeiten. Und heute sehen wir das Gegenteil, heute finden wir dasselbe Volk auf den Marquesas, den acht Inseln von Hawaii, in Mangareva und auf der Osterinsel dahinsterben wie die Fliegen. Woher diese Veränderung? Wollte man das Eindringen der Weißen, den Wechsel der Sitten und die Einschleppung neuer Krankheiten und Laster für die Entvölkerung verantwortlich machen: warum ist diese Entvölkerung nicht allgemein? Die Einwohnerzahl von Tahiti ist, nach einer Periode erschreckender Abnahme, wieder stabil geworden. Ich höre von ähnlichen Tatsachen bei einigen Maoristämmen, auf vielen Paumotuinseln kann man eine leichte Zunahme feststellen, und die Samoaner sind heute ebenso gesund und mindestens ebenso fruchtbar wie vor den großen Veränderungen. Zugegeben, daß die Tahitier, Maoris und Paumotuaner sich an die neuen Zustände gewöhnt haben mögen: wie will man dann erklären, daß die Samoaner niemals darunter gelitten haben?

Wer nur eine einzige Inselgruppe kennt, ist geneigt, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. So schrieb man, wie ich höre, die größere Sterblichkeit der Maoris dem Wechsel der Wohnsitze zu, sie zogen von den befestigten Bergspitzen in die niedrig gelegenen marschigen Gegenden ihrer Pflanzungen. Wie einleuchtend! Und doch starben die Marquesaner aus in denselben Häusern, in denen sich ihre Vorfahren vermehrten. Oder man denke an das Opium. Die Marquesaner und Hawaiier sind diesem Laster am meisten verfallen, die Bevölkerung der einen Gruppe ist die zivilisierteste, die der andern die wildeste von Polynesien, und beide siechen am raschesten dahin. Dringende Verdachtsmomente gegen das Opium! Aber nehmen wir die Unzucht: wieder bestätigen die Verhältnisse bei den Marquesanern und auf Hawaii die Vermutung. So sind die Samoaner zum Beispiel die keuschesten Polynesier, und sie sind heute durchaus fruchtbar; die Marquesaner leben am ausschweifendsten, und wir haben gesehen, wie sie zugrunde gehen; die Hawaiier sind bekannt als sittenlos, und ihr Gebiet ist heute so schwach bewohnt wie eine Wüste. Die Beweise für die Theorie von der Unzucht sind also noch stärker, und doch erfahren sie eine Korrektur. Was immer die Tugenden der Tahitier sein mögen, weder Freund noch Feind darf sie keusch nennen, und trotzdem scheinen sie die Zeit der Gefahr überstanden zu haben. Ein letztes Argument: die Syphilis. Aber die Samoaner sind unter allen Umständen so fruchtbar wie zuvor, nach manchen Berichten sogar noch fruchtbarer, obwohl niemand ernsthaft behaupten kann, daß sie von der Syphilis verschont geblieben sind.

Diese Beispiele beweisen, wie gefährlich es ist, irgendeine Tatsache oder auch mehrere, die für eine Gruppe zutreffen, zu verallgemeinern. Ich erinnere mich an eine gut und mit viel Liebe geschriebene Broschüre des hochwürdigen Herrn S. G. Bishop: »Warum sterben die Hawaiier aus?« Jeder, den das Thema interessiert, sollte diese Abhandlung lesen, die viel Tatsachenmaterial enthält; und doch würde Bishop seine Ansichten geändert haben, wenn er andere Inselgruppen nur oberflächlich kennengelernt hätte. Samoa ist augenblicklich die größte und lehrreichste Ausnahme von der Regel. Die Bevölkerung ist durchaus keusch und die enthaltsamste aller Inselbewohner. Eine schwere Seuche hat sie nie heimgesucht und belastet. Ihre Kleidung hat man kaum gewaltsam geändert, über das einfache und zierliche »Tabard« der Mädchen würde Tartuffe auf manchen andern Inseln sich entrüstet haben; an Stelle des kühlen, gesunden und sittsamen Lava-Lava oder Lendenschurzes hat Tartuffe auf mancher andern Insel die Einführung der steifen und unbequemen Hosen erzwungen. Schließlich haben sich, was das wichtigste ist, ihre Vergnügungen nicht verringert, sondern im großen ganzen vermehrt. Der Polynesier verfällt leicht der Mutlosigkeit: Trauerfälle, Enttäuschungen, Furcht vor neuartigen Heimsuchungen, der Verfall oder das Verbot alter Volksbelustigungen machen ihn leicht traurig, und Traurigkeit löst ihn vom Leben. Die Melancholie der Hawaiier und die Leere ihres neuen Daseins sind deutlich sichtbar, und das gilt noch mehr von den Marquesanern. Auf Samoa anderseits machen Gesang und Tanz, ewige Spiele, Reisen und Vergnügungen das Inselleben lebhaft und liebenswürdig, und diese Samoaner sind heute die fröhlichsten und an Unterhaltungen reichsten Bewohner unseres Planeten. Die Wichtigkeit dieser Tatsache kann kaum übertrieben werden. In einem Klima und einem Lande, wo der Lebensunterhalt um nichts zu bekommen ist, ist Unterhaltung ein allererstes Erfordernis. Bei uns, wo das Leben uns täglich neuen Problemen gegenüberstellt, ist es ganz anders, wir haben ernsthaft zu kämpfen und Konflikte zu überwinden, wenn wir überhaupt existieren wollen. So hielt sich auf manchen Atollen, wo keine große Fröhlichkeit herrscht und der Mensch sich mit einer gewissen Kraftanstrengung nur um das tägliche Brot bemühen muß, die öffentliche Gesundheit und die Bevölkerungsziffer gut, aber auf den Lotosinseln schwindet mit den Vergnügungen auch das Leben selbst dahin. Von diesem Gesichtspunkt aus können wir auch den Verfall des Kriegsspieles zu den Ursachen der Entmutigung rechnen. In Europa sind wir so lange an das furchtbare Gewerbe des Krieges, der Seuchen und verpestete Leichen hinter sich läßt, gewöhnt, daß wir seinen Ursprung, den sehr gesunden und, rein menschlichen Freiluftsport: den Guerillakrieg, fast vergessen haben. Er ist den Insulanern wie seine sonstigen Belustigungen und Gewohnheiten neuerdings verboten worden, der Samoaner aber stellt hier wie in vielen andern Dingen noch immer seinen Mann.

Allgemein gesprochen scheint mir das Problem folgendermaßen zu liegen: Wo der geringste Wechsel der Lebensbedingungen eintritt – wichtig oder unwichtig, heilsam oder unheilvoll –, dort geht das Volk zugrunde. Jeder Wechsel, sei er noch so klein, vermehrt die Summe der neuartigen Verhältnisse, an die die Rasse sich gewöhnen muß. Es mag auf den ersten Blick keine Vergleichsmöglichkeit geben zwischen dem Übergang von saurem Bier zu schlechtem Gin in Schottland und dem vom Insulanerschurz zu europäischen Hosen. Aber ich bin nicht überzeugt, daß das eine weniger gefährlich ist als das andere, und eine nicht eingewöhnte Rasse kann manchmal durch Nadelstiche aussterben. Wir stehen hier einer der Hauptschwierigkeiten des Missionars gegenüber. Auf polynesischen Inseln gewinnt er leicht überragende Autorität, der König wird sein Haushofmeister, er kann verdammen und befehlen, und die Versuchung ist groß, zu weit zu gehen. So haben – nach allen Berichten – die Katholiken in Mangareva und – nach meiner Erfahrung – die Protestanten in Hawaii den Neubekehrten das Leben mehr oder weniger unerträglich gemacht. Es ist leicht, den Missionar zu tadeln, aber es ist seine Aufgabe, Veränderungen herbeizuführen. Sicher ist es zum Beispiel seine Pflicht, Kriege zu verhindern, und doch habe ich das Kriegführen als ein Element der Gesundheit bezeichnet. Andererseits wäre es vielleicht möglich für den Missionar, vorsichtiger zu Werke zu gehen und jeden Wechsel als gewichtige Angelegenheit zu betrachten. Ich denke an den Durchschnittsmissionar, und ich glaube, daß ich ihm Gerechtigkeit widerfahren lasse, wenn ich vermute, daß er zögern würde, eine Stadt zu bombardieren, selbst wenn er dadurch einen ganzen Archipel bekehren könnte. Die Erfahrung lehrt uns allmählich, wenigstens auf den polynesischen Inseln, daß Gewohnheitswechsel eine blutigere Angelegenheit ist als ein Bombardement.

Bevor ich dies Kapitel schließe, will ich einen Punkt erwähnen, der mir vielleicht viel Kritik einträgt. Ich habe nichts gesagt über falsche Hygiene, Baden während des Fiebers, falsche Behandlung von Kindern, Kurpfuscherei der Eingeborenen und Abtreibung, alles Ursachen, die man für die Entvölkerung oft anführt. Und ich habe jene Zustände nicht erwähnt, die beiden Epochen gemeinsam sind und in der Vergangenheit sogar verhängnisvoller waren als jetzt. Gehört die Unzucht nicht dazu? könnte man fragen. War der Polynesier nicht immer unkeusch? Zweifellos war er es immer, zweifellos aber ist er es noch mehr seit der Ankunft seiner hervorragend keuschen Besucher aus Europa. Man denke an den Hawaiibericht von Cook – und ich bezweifle nicht, daß er durchaus richtig ist. Man denke an Krusensterns offenherzige, beinahe naive Erzählung vom Besuche eines russischen Kriegsschiffes auf den Marquesas; man erinnere sich der schmachvollen Missionsgeschichte auf Hawaii selbst, wo im Kampf um die Wollust die amerikanischen Missionen einst von einem englischen Abenteurer beschossen und ein andermal von der Mannschaft eines amerikanischen Kriegsschiffes überfallen und mißhandelt wurden; man füge dem die Gewohnheit der Walfischfänger hinzu, die auf den Marquesas zu landen und eine Anzahl Frauen auf die Reise mitzunehmen pflegten; man bedenke auch, daß die Weißen zuerst als Halbgötter angesehen wurden, wie aus dem Bericht über den Empfang Cooks auf Hawaii klar hervorgeht und aus der Geschichte von der Entdeckung Tutuilas, wo die wahrhaft züchtigen Frauen von Samoa sich öffentlich den Franzosen hingaben, und man vergesse nicht, daß es Sitte der Eroberer und, man kann beinahe sagen, Pflicht der Missionare war, die heilsamsten Tabus zu bespötteln und zu vernichten. Wir sehen also alle Zerstörungsmaßnahmen auf einmal gegen eine Tugend gerichtet, die nie und nirgends sehr stark oder volkstümlich war, und der Erfolg war selbst auf den entarteten Inseln weitere Entartung. Mr. Lawes, der Missionar von Savage Island, erzählte mir, daß die weibliche Keuschheit sich dort seit der Ankunft der Weißen verringert habe. In heidnischer Zeit habe der Vater oder Bruder eines Mädchens, das ein uneheliches Kind gebar, den Säugling die Klippen hinuntergeschleudert, heute aber sei der Skandal geringfügig. Oder man denke an die Marquesas. Stanislao Moanatini erzählte mir, daß nach seiner eigenen Erinnerung die jungen Leute früher streng bewacht wurden; man duldete nicht einmal, daß sie sich auf der Straße ansahen, sondern sie gingen, wie mein Berichterstatter sich ausdrückte, gleich Hunden aneinander vorbei – und vor einiger Zeit entwichen sämtliche Schulkinder von Nuka-hiva und Ua-pu in die Wälder und lebten dort vierzehn Tage in freier Vereinigung. Leser von Reiseberichten mögen vielleicht meine Autorität bezweifeln und sich für besser unterrichtet erklären. Ich würde die Aussage eines einzigen intelligenten Eingeborenen wie Stanislao – selbst wenn er allein stünde, was durchaus nicht der Fall ist – den Berichten der ehrenhaftesten Reisenden vorziehen. Ein Kriegsschiff läuft in einen Hafen ein, ankert, schickt einige Leute an Land, empfängt und erwidert Besuche, und der Kapitän schreibt ein Kapitel über die Sitten des Landes. Man überlegt nicht, welche Klasse Menschen man auf diese Weise meistens sieht! Aber wir wären nicht gerade befriedigt, wenn ein indischer Kuli England nach den Damen beurteilte, die sich an den Kais herumtreiben, und nach den Leuten, die sich von seiner Heuer bewirten lassen. Die Ansicht Stanislaos über den Verfall der Sitten selbst auf diesen tugendlosen Inseln wird mir von andern bestätigt; das von ihm angeführte Beispiel, die zunehmende Entsittlichung der Jugend, wird von Mr. Bishop auf Hawaii ebenfalls herangezogen. Und soweit die Marquesaner in Betracht kommen, so hätten wir einen gewissen Sittenverfall fast erraten können: ich glaube nicht, daß irgendein Volk bei den dort herrschenden Gewohnheiten blühen und sich vermehren könnte, und ich bin sicher, daß man sich nie die Mühe machte, nach der Vaterschaft zu forschen. Einzelheiten anzuführen, ist unmöglich, es mag genügen zu sagen, daß ihre Sitten den Träumen unwissender und lasterhafter Kinder entlehnt zu sein scheinen, und daß sie ihre Ausschweifungen so weit treiben, bis Energie, Vernunft und fast das Leben selbst zugrunde gehen.