Täglich weilten wir am Meeresstrande von Apemama. Die Küste ist von flachen Buchten durchschnitten; das Riff schickt hier einen Arm ins Meer hinaus, erhebt sich hoch über dem Wasserspiegel und umschlingt eine knietiefe Lagune, das ewig bewegte Speibecken der Brandung. Der Strand besteht an dieser Stelle teils aus feinem Sande, teils aus brüchiger Koralle. Bei der konvexen Biegung der Küste kann man auf den ersten Blick knapp ihren vierten Teil übersehen, und da das Land sehr niedrig ist, erscheint der Horizont bis auf einen Steinwurf nahe gerückt; kurz, der schmale Ausblick erhöht das Gefühl der Abgeschiedenheit. Der Inselmensch vermeidet diesen Ort – selbst Fußtapfen sind dort ungewöhnlich, aber eine große Anzahl Vögel schwebt und kreischt hier fischend und zeichnet ihre Hakenspuren in den Sand. Abgesehen von diesen Tieren bilden die Sturzwellen Über dem Riff das einzige Geräusch (und ich wollte auch sagen, die einzige Gesellschaft), die man hier findet.
Auf jedem Küstenvorsprung hat man die Klippe aus Korallenklinker unmittelbar über dem Strande planiert und dort eine vielleicht brusthohe Säule errichtet. Diese hat indes nichts mit den Toten zu tun; alle Leichen werden im Gegenteil auf der bewohnten Seite der Insel, dicht neben den menschlichen Behausungen und (was noch schlimmer ist) neben dem Brunnen begraben. Man sagte mir, diese Denkmäler sollten die Insel gegen das hereinbrechende Meer verteidigen – es sind göttliche oder teuflische Wachttürme, wahrscheinlich Taburik, dem Donnergotte, geweiht.
Die Bucht, die Äquatorstadt unmittelbar gegenüber lag und die wir zu Ehren unseres Kochs Fu Bai getauft hatten, war somit an beiden Spitzen der Sichel befestigt. Sie wurde durch das Riff geschützt und barg in ihrem Inneren klares, stilles Wasser; der sie begrenzende Strand krümmte sich wie ein Hufeisen und war breit und stell. Der Weg mündete etwa in der Mitte der rücklaufenden Biegung, und die Wälder hörten eine ziemliche Strecke landeinwärts auf. Davor, zwischen dem Saume des Waldes und dem Plateau des Strandes, hatte man eine rechteckige Fläche ähnlich einem neuartigen Tennis-court abgesteckt, deren Ränder aus runden, in den Sand eingebetteten Steinen bestanden, und deren Ecken durch niedrige, gleichfalls steinerne Pfeiler markiert waren. Das war des Königs Betplatz. Wann und worum er betete, und an wen er seine Gebete richtete, habe ich niemals erfahren können. Der Ort war tapu.
In dem Winkel neben der Wegmündung stand eine aufgelassene Maniap‘. In der Nähe hatte man schon vor unserer Ankunft ein Haus errichtet, das für den Augenblick nach Äquatorstadt verlegt worden war und dort Dienste tat. Es war das Haus Tamaitis, des Hüters und Zauberers des Orts, gewesen und sollte es nach unserer Abreise von neuem werden. Hier, in dieser einsamen Gegend, in Hörweite der See hatte er gehaust und seine unheimlichen Pflichten verrichtet. Ich kann mich nicht erinnern, je wieder gehört zu haben, daß ein Mensch auf der Meeresseite eines offenen Atolls gewohnt hätte, und Tamaiti muß starke Nerven, ein größeres Vertrauen in seine eigenen Künste oder, was ich glaube, einen beneidenswerten Skeptizismus besessen haben. Ob Tamaiti auch irgendwie als Hüter des Betplatzes bestellt war, weiß ich nicht. Seine eigene Privatandachtstätte lag weiter hinten am Waldrand. Sie bestand aus einem recht ansehnlichen Baum, um den ein Kreis, ähnlich der Linie, die des Königs Betplatz umgrenzte, gezogen war; davor, dicht am Stamm, stand mit der Front nach dem Meere ein Stein von sehr großem Umfang und leicht ausgehöhlt, etwa wie eine Piscina; davor wieder ein konischer Kieshaufen. In die Höhlung der sogenannten Piscina (die, wie es sich herausstellte, in Wahrheit ein Zauberstuhl war) war ein Opfer von grünen Kokosnüssen niedergelegt; und wenn man aufblickte, entdeckte man, daß die Äste des Baumes mit seltsamen Früchten beladen waren: mit kunstvoll geflochtenen Palmzweigen und wundervollen, bis in alle Einzelheiten durchgebildeten Modellen von Kanoes. Das Ganze bot den Anblick eines mitsommerlichen, rustikalen al fresco Weihnachtsbaumes. Wir waren jedoch mit den Gilbert-Inselnbräuchen genügend vertraut, um hier auf den ersten Blick eine Zauberei – oder wie es auf dieser Gruppe heißt – ein Teufelswerk, zu erkennen.
Wir erkannten es an den geflochtenen Palmwedeln, die wir schon anderswo, auf Apaiang, dem christlichsten Eilande jener Gruppe, gesehen hatten, wo der treffliche Mr. Bingham goldenen Angedenkens gelebt und gewirkt hat. Von dort ist alle Zivilisation, die es auf den nördlichen Gilberts gibt, ausgegangen; dort hatten wir von kleinen, eingeborenen Sonntagsschulfräuleins mit gesittetem Wesen und sauberen Kleidchen, die Kirchenlieder sangen, als wären sie dazu geboren, Besuch erhalten.
Unsere Erfahrungen von Teufelswerk auf Apaiang waren folgende: – Zufällig hatten wir uns nächtlicherweise im Hause Kapitän Tierneys verspätet. Meine Frau und ich wohnten rund eine halbe Meile entfernt bei einem Chinesen, und dorthin begleiteten uns Kapitän Tierney und ein Eingeborenenjunge mit Leuchtfackeln. Unterwegs gingen die Fackeln aus und wir flüchteten uns in ein einsames, christliches Kapellchen, um sie wieder anzuzünden. Da fand ich mitten in die Balken der Kapelle gesteckt einen geflochtenen Palmzweig. »Was ist das?« lautete meine Frage. »Das? Oh, das ist Teufelswerk«, antwortete der Kapitän. »Und was ist Teufelswerk?« erkundigte ich mich, »Wenn Sie wollen, werde ich es Ihnen bei Johnnie zeigen.« Johnnies Haus entpuppte sieh als ein originelles Hüttchen hoch oben am Strande, teils aus Mauern teils aus Gitterwerk auf etwa drei Fuß hohen Pfählen errichtet und mittels einer Treppe zugänglich. Trophäen in Gestalt von Reklamephotographien hingen als Schmuck an den Wänden. Es gab einen Tisch und ein Wandbett, in dem meine Frau schlief, während ich mit Johnnie, Frau Johnnie, ihrer Schwester und des Teufels eigenstem Regiment von Küchenschaben auf dem Fußboden kampierte. Dorthin berief man eine alte Hexe, deren Äußeres zum Entsetzen gut zu ihrer Rolle paßte. Die Lampe wurde auf den Boden gestellt; die Vettel kauerte sich, einen grünen Palmzweig in der Hand, auf der Schwelle nieder, das Licht fiel voll auf ihren uralten Kopf und suchend auf die verängstigten Gesichter der Zuschauer in der pechschwarzen Dunkelheit. Unsere Zauberin begann mit einem beschwörenden Singsang, der in der alten fremden Sprache war, für die ich keinen Dolmetscher hatte, und von Zeit zu Zeit durchlief die Versammlung dort draußen jenes Lachen, das jeder Reisende auf den Inseln gar bald als ein Gelächter der Furcht erkennen lernt. Zweifellos waren diese halben Christen empört, während ihre andere heidnische Hälfte sich entsetzte. Nachdem man Tschentsch oder Taburik also gebührend invoziert hatte, stellten wir unsere Fragen; die Hexe flocht die Blätter, hier ein Blatt, dort ein Blatt, augenscheinlich nach einem arithmethischen System, studierte mit offensichtlicher Zufriedenheit das Resultat und erteilte ihre Antworten. Sidney Colvin erfreue sich ausgezeichneter Gesundheit und befände sich augenblicklich auf Reisen, und wir würden morgen guten Wind haben: das war das Ergebnis, für das wir einen Dollar zahlten. Der morgige Tag erschien windlos und wolkenlos, aber ich glaube, Kapitän Reid vertraute insgeheim der Sybille, denn der Schoner wurde fahrtbereit gemacht. Um acht trübte sich der Spiegel der Lagune mit langen Kräuselwellen und die Palmen schwankten und rauschten im Winde; noch vor zehn lag die Einfahrt hinter uns, und wir schossen mit vollen Segeln und schäumenden Speigatten dahin. So bekamen wir wenigstens die Brise, die schon gut einen Dollar wert war; doch stellte es sich einige sechs Monate später heraus, daß das Bulletin über meinen Freund in England jeder Grundlage entbehrte. Vielleicht liegt London aber auch außerhalb des Wirkungskreises der Inselgötter.
Zu Anfang zeigte sich Tembinok‘ jedem Aberglauben streng abgeneigt, und hätte die Äquator nicht so lange auf sich warten lassen, wir wären vielleicht abgereist in dem guten Glauben, daß er ein Agnostiker sei. Zufällig kam er jedoch eines Tages in unsere Maniap‘, während meine Frau mit einer Patience beschäftigt war. Sie erläuterte ihm das Spiel so gut sie konnte und schloß ihre Auseinandersetzung mit dem Scherzwort, daß das ihr Teufelswerk sei, und daß die »Äquator«, wenn die Patience aufginge, morgen eintreffen würde. Tembinok‘ muß tief aufgeatmet haben; also saßen wir doch nicht so ganz auf dem hohen Pferd; er brauchte sich nicht mehr zu verstellen, und sofort machte er sich an eine Beichte. Er vollführe jeden Tag Teufelswerk, gestand er uns, um zu wissen, ob Schiffe zu ihm unterwegs wären; und von nun an teilte er uns jedesmal das Ergebnis mit. Es war erstaunlich, wie häufig er sich irrte, aber stets hatte er eine Erklärung bei der Hand. Ein Schoner läge dicht hinter Sichtweite vor der Insel; entweder war er aber nicht für Apemama bestimmt, oder er hatte seinen Kurs geändert oder er kam aus der Flaute nicht heraus. Ich pflegte den König bei diesen Anlässen, wenn er sich so öffentlich zu belügen suchte, mit Ehrfurcht zu betrachten. Hinter ihm sah ich sämtliche Kirchenväter, Philosophen und Männer der Wissenschaft aus der Vergangenheit; vor ihm alle die, die noch kommen sollten; ihn selbst in der Mitte. Die ganze visionäre Versammlung rang mit der Aufgabe, Ungereimtheiten auszugleichen. Bis zuletzt sprach Tembinok‘ jedoch nur widerwillig von den Inselgottheiten und ihrem Kult, so daß ich nur wenig über sie erfahren konnte. Taburik ist der Gott des Donners und hat mit Wind und Wetter zu tun. Bis vor kurzem gab es noch Zauberer, die ihn als Blitz vom Himmel herunterzuholen verstanden. »Mein Patah, eh mih sagen, daß eh das sehen: du glauben, eh lügen?« Tienti – ausgesprochen etwa wie »Tschentsch« und von seiner Majestät als der Teufel identifiziert, sendet und heilt die körperlichen Krankheiten. Man ruft ihn durch Pfeifen, nach Art der Paumoter, und er soll dann auch erscheinen, doch hat ihn der König niemals gesehen. Die Ärzte behandeln Krankheiten mit Hilfe von Tschentsch: wobei der eklektische Tembinok‘ indessen zugleich den »Schmerzenstöter« aus seinem Medizinkasten appliziert, um dem Leidenden beide Chancen zu geben. »Ie glauben, vie bessah so«, bemerkte seine Majestät mit noch mehr als seiner üblichen Selbstzufriedenheit. Anscheinend sind die Götter nicht eifersüchtig: sie erfreuen sich in Gemütsruhe gemeinsamer Heiligtümer und gemeinsamer Priester. So hängen an Tamaitis Medizinbaum die ex Voto zwecks einer günstigen Reise geschenkten Kanoemodelle, die daher Tamburik, dem Wettergott geweiht sein müssen; aber der davorstehende Stein ist von den Kranken zur Besänftigung Tschentschs gestiftet.
Durch einen außerordentlichen Glücksfall zog ich mir, noch während wir von diesen Dingen sprachen, eine Erkältung zu. Ich glaube kaum, daß ich mich je zuvor über eine Erkältung gefreut habe, noch daß ich mich je wieder darüber freuen werde, aber so bot sich mir eine unschätzbare Gelegenheit, die Zauberer während ihrer Arbeit zu belauschen, und ich berief daher die Fakultät von Apemama zu mir. Sie erschien in corpore, alle in ihren Sonntagskleidern und mit Kränzen und Muscheln, den Insignien des Teufelwerkes, behangen. Tamaiti kannte ich bereits: Terutak‘ – einen großen, hageren, grobschlächtigen, ernsten, schottischen Nordsee-Fischer mit etwas allzu brauner Haut – sah ich zum erstenmal, und noch ein dritter war mit von der Partie, dessen Namen ich nie gehört habe und der Tamaiti als Famulus diente. Tamaiti nahm mich zuerst in Behandlung und führte mich unter angenehmem Geplauder an die Ufer von Fu Bai. Der Famulus bestieg auf der Suche nach grünen Kokosnüssen einen Baum. Inzwischen verschwand Tamaiti selbst im Busch und kehrte mit Kokoszunder, trockenen Blattern und einem Zweig Wachsbeeren zurück. Man setzte mich auf den Stein, den Rücken gegen den Baum, das Gesicht der Windseite zugekehrt; zwischen mich und dem Kieshaufen legte man eine der grünen Nüsse, und dann trat Tamaiti (nachdem er zuvor seine Segeltuchschuhe, die ihn peinigten, ausgezogen hatte) zu mir in den magischen Kreis, grub in den Kieshaufen eine kleine Höhlung, in deren Inneres er seinen Scheiterhaufen aufbaute und hielt ein brennendes Streichholz – es war von Bryant und May – daran. Das Feuer wollte nicht anbrennen, und der respektlose Zauberer füllte die Zwischenzeit mit allerlei Geschwätz von fremden Städten aus – von London und »Aktiengesellschaften«, und wie viel Geld sie besaßen; von San Francisco und den schädlichen Nebeln »ganß wie Rauch«, die ihn fast umgebracht hätten. Vergeblich versuchte ich ihn auf den Gegenstand zu bringen, mit dem er sich jetzt beschäftigte. »Alle Menschen machen Medizin«, sagte er leichthin. Und als ich ihn fragte, ob er selbst ein guter Arzt wäre, erwiderte er noch leichtfertiger: »Ie niß savvy.« Endlich fingen die Blätter Feuer, dem er fortfuhr neue Nahrung zu geben; ein dichter, heller Rauch blies mir ins Gesicht, und die Flammen schlugen mir entgegen und versengten meine Kleider. Inzwischen redete er den Geist an, oder tat doch so, wobei seine Lippen sich lautlos bewegten; gleichzeitig schwang er die Arme durch die Luft und schlug mich zweimal mit seinem grünen Zweige auf die Brust. Sobald die Blätter verbrannt waren, begrub er die Asche, der grüne Zweig wurde in den Kies gebettet, und die Zeremonie war beendet.
Ein Leser von »Tausendundeine Nacht« würde sich hier vollkommen zu Hause fühlen. Hier war das Räucherwerk, der murmelnde Zauberer; hier der einsame Ort, an den Aladdin von seinem falschen Onkel gelockt wurde. Aber auf diese Dinge versteht man sich am besten in Romanen. Diesmal wurde die Wirkung durch die Leichtfertigkeit des Zauberers, der wie ein liebenswürdiger Zahnarzt seinen Patienten mit allerlei gleichgültigem Geschwätz unterhielt, und durch die unpassende Gegenwart Mr. Osbournes und seiner Kamera gestört. Und was meine Erkältung anbetrifft, so wurde sie weder besser noch schlimmer.
Darauf wurde ich Terutak‘ übergeben, dem führenden Arzt oder Geheimrat von Apemama. Seine Wohnung liegt auf der Lagunenseite der Insel, hart neben dem Palaste. Ein etwa zwei Fuß hohes Holzgeländer umschließt hier wie bei der Betstätte des Königs, einen länglichen Kiesplatz in dessen Mitte ein grüner Baum wächst. Darunter stehen auf einem Tisch zwei, mit einer feinen Matte bedeckte Kästen, und vor ihnen wird täglich eine Kokosnuß, ein Stück Taro oder ein Fisch als Opfer niedergelegt. Auf beiden Seiten der Einfriedung steht eine Reihe von Maniapen, und einer unserer Gesellschaft, der viel zum Zeichnen hierherging, hatte wiederholt eine Schar kranker Kinder dort hinpilgern sehen, denn der Ort war in Wahrheit das Hospital von Apemama. Der Arzt und ich betraten allein die heilige Stätte; die Kästen und Matten wurden von dem Tisch genommen, und ich wurde an ihrer Statt, wieder mit dem Gesichte nach Osten, auf den Stein gehoben. Eine Weile blieb der Zauberer hinter meinem Rücken unsichtbar, mit einem Palmzweig allerlei Kreise in der Luft beschreibend. Dann schlug er mich leicht auf den Rand meines Strohhutes, und dieser Schlag wurde von Zeit zu Zeit wiederholt, nur daß der Zweig manchmal statt des Hutes meinen Arm und meine Schulter streifte. Ich habe wohl ein dutzendmal erlebt, daß Leute mich zu hypnotisieren versuchten, ohne das geringste Resultat. Aber schon bei dem ersten Schlage – auf keinen wichtigeren Punkt als den Rand meines Strohhutes und von nichts Bedeutsameren als einem Palmzweig in der Hand eines Mannes, den ich nie zuvor gesehen hatte, – überfiel mich der Schlaf wie mit Waffengewalt. Meine Sehnen erschlafften, meine Augen schlossen sich, mein Hirn schwamm vor Schläfrigkeit. Ich wehrte mich zuerst instinktiv, dann in einer Art aufgeregter Verzweiflung, die zum Schluß auch siegte, wenn man in der Tat das einen Sieg nennen kann, was mir gerade noch ermöglichte, auf die Füße zu stolpern, in einem somnambulischen Zustand nach Hause zu wanken und mich auf mein Bett zu werfen, wo ich in eine traumlose Betäubung versank. Als ich erwachte, war die Erkältung vorbei, und damit lasse ich die Angelegenheit auf sich beruhen, da ich sie nicht verstehe.
Inzwischen hatte sich mein Appetit auf Kuriositäten (der für gewöhnlich nicht sonderlich stark war) durch die heiligen Kästen seltsam verschärft. Die Kästen, von vier Füßen getragen, waren aus Pandanusholz, von länglicher Form und die Seitenwände gleichsam erhaben und wie aus Stroh geflochten sowie an den Rändern leicht mit Haar oder Fasern verkleidet. Die Außenseite war so sauber und fein gearbeitet wie ein Spielzeug, das Innere ein Mysterium, in das einzudringen ich beschlossen hatte. Aber es lag noch ein Löwe quer über meinem Pfad. Ich konnte mich nicht an Terutak‘ wenden, da ich versprochen hatte, nichts auf der Insel zu kaufen; ich wagte auch nicht an den König zu appellieren, denn ich hatte von ihm bereits mehr Geschenke erhalten, als ich je hoffen durfte, erwidern zu können. Aus diesem Dilemma fanden wir (da inzwischen auch der Schoner wieder erschienen war) einen Ausweg. Kapitän Reid trat statt meiner vor, bekannte seine unbezähmbare Leidenschaft für die Kästen und bat und erhielt auch die Erlaubnis, mit dem Zauberer zu verhandeln. Noch am gleichen Nachmittage machten der Kapitän und ich uns schleunigst auf den Weg nach dem Hospital, betraten den eingezäunten Platz, hoben die Matten hoch und begannen mit Muße die Kästen zu untersuchen. Sofort stürzte Terutaks Frau aus einem der benachbarten Häuser auf uns zu, raffte ihre Schätze zusammen und war verschwunden. In meinem ganzen Leben bin ich nicht so vollständig überrumpelt worden. Sie kam, sie nahm, sie schwand, ich weiß nicht wohin, und wir blieben mit dummem Gesicht und dummem Lachen auf dem leeren Schlachtfelde zurück. Das war der passende Prolog für unser denkwürdiges Handelsgeschäft.
Nach einer Weile tauchte Terutak‘ in Begleitung Tarnaitis auf, beide lächelnd, und wir vier hockten uns auf das Geländer hin. In den drei Maniapen des Krankenhauses hatte sich eine Zuhörerschaft versammelt: die Angehörigen eines kranken und in Behandlung befindlichen Kindes, ferner des Königs Schwester mit einem Kartenspiel beschäftigt, ein hübsches Mädchen, das schwor, ich sei das Ebenbild ihres Vaters: alles in allem vielleicht zwanzig Personen. Terutaks Frau war von neuem so plötzlich erschienen, wie sie verschwunden war und saß jetzt atemlos und scharf aufpassend neben ihrem Gatten. Vielleicht war unsere Absicht gerüchtweise bekannt geworden, vielleicht hatten wir auch durch unsere unziemlichen Freiheiten die Leutchen alarmiert; gewiß ist, daß auf den Gesichtern aller Anwesenden Erwartung und Besorgnis geschrieben standen.
Kapitän Reid verkündete jetzt ohne jede Vorrede oder Bemäntelung, daß ich hierher gekommen wäre, um die Kästen zu kaufen; Terutak‘ erklärte darauf mit plötzlichem Ernst, daß sie ihm nicht feil wären. Wir drangen in ihn, er aber blieb fest. Wir setzten ihm auseinander, daß wir nur einen Kasten haben wollten: machte nichts, zwei wären erforderlich, um die Kranken zu heilen. Wir neckten ihn, redeten hin und her: alles umsonst. Ernst und schweigsam saß er da und weigerte sich. Bisher jedoch war das nur ein vorbereitendes Scharmützel gewesen; wir hatten noch keine Geldsumme genannt, jetzt aber ließ der Kapitän die schweren Geschütze spielen. Er nannte ein, zwei, schließlich drei Pfund. Aus den Maniapen gesellte sich einer nach dem andern zu uns, einige aus schierer Neugier, andere in unverhohlener Bestürzung. Das hübsche Mädchen schlich sich an meine Seite: dieser Moment war es, da sie mir – sicherlich nur in harmlosester Schmeichelei – die Ähnlichkeit mit ihrem Vater gestand. Tamaiti, der Ungläubige, saß kopfhängerisch, und mit jedem Anzeichen tiefster Depression da – Terutak‘ troff vor Schweiß, seine Augen wurden glasig, auf seinem Gesicht erschien eine unangenehme hektische Röte, seine Brust hob und senkte sich wie bei einem erschöpften Wettläufer. Der Mann muß von Natur aus habgierig gewesen sein; ich zweifle, ob ich je eine moralische Tortur so tragisch sich habe ausdrücken sehen. Inzwischen redete ihm die Frau an seiner Seite leidenschaftlich zu und bestärkte ihn in seinem Widerstand.
Und jetzt kam der Sturmangriff der alten Garde. Der Kapitän schoß ein Saltomortale und nannte die erstaunliche Summe von fünf Pfund. Bei diesem Wort leerten sich die Maniapen. Des Königs Schwester warf ihre Karten hin und kam nach vorne, um mit bewölkter Stirn zu lauschen. Das hübsche Mädchen schlug sich auf die Brust und schrie mit peinlicher Hartnäckigkeit, daß ich die Kästen kriegen würde, wenn sie die ihren wäre. Terutaks Frau geriet vor frommer Furcht außer sich, ihr Gesicht verzerrte sich, ihre Stimme (die nicht aufhörte zu warnen und zu ermutigen) schrillte wie eine Pfeife. Selbst Terutak‘ verlor die statuengleiche Unbeweglichkeit, die er bisher gewahrt hatte. Er schaukelte sich auf seiner Matte hin und her, zog abwechselnd das eine und das andere Knie an sich und schlug sich nach Art der Tänzer auf die Brust. Allein er ging als lauteres Gold aus der Feuerprobe hervor und weigerte sich, mit der wenigen Stimme, die ihm noch geblieben war, die Bestechung anzunehmen.
Jetzt trat ein willkommener Zwischenfall ein. »Geld, das niß Kjanken heilen«, bemerkte sententiös des Königs Schwester. Kaum hatte man mir den Einwurf verdolmetscht, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel und ich mich meines Tuns schämte. Hier war ein krankes Kind, und ich trachtete in Gegenwart seiner Eltern danach, den Medizinkasten zu entfernen. Hier war ein Priester der Religion und ich (ein heidnischer Millionär) verführte ihn zu einem Sakrileg. Hier war ein habgieriger Mensch, der zwischen Geiz und seinem Gewissen hin und her gerissen wurde, und ich saß daneben, weidete mich an dem Anblick und erneuerte wollüstig seine Qualen! Ave, Caesar! Irgendwo in einem Winkel schlummernd aber nicht tot, ruht in uns allen die eine Urleidenschaft: eine embryonale Sucht nach dem Sand und dem Blut der Arena! So brachte ich denn mein erstes und letztes Erlebnis als Millionär zu Ende und ging unter ehrfürchtigem Schweigen hinaus. Nirgends sonst darf ich erwarten, je wieder so bis in alle Tiefen hinein die menschliche Natur aufzurühren – mit Hilfe von fünf Pfund; nirgends sonst, selbst unter Anwendung von Millionen, kann ich hoffen, das Verderbliche des Reichtums so rückhaltlos entschleiert zu sehen. Von allen Zuhörern hatte allein des Königs Schwester die Erinnerung an den Ernst und die Gefahr des Augenblicks gewahrt. Die Augen der anderen glühten, das Mädchen schlug sich in tierischer, sinnloser Aufregung auf die Brust. Dabei hatte man ihnen selbst nichts geboten; sie hatten weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren gehabt; allein die Nennung und die Witterung dieser ungeheuren Summen genügten, um den Teufel in ihnen aufleben zu lassen.
Von dieser seltsamen Verhandlung begab ich mich schnurstracks in den Palast, suchte den König auf, gestand ihm, was ich getan hatte, bat ihn, Terutak‘ in meinem Namen zu seiner Tugend zu beglückwünschen und noch vor Rückkehr des Schoners einen ähnlichen Kasten für mich anfertigen zulassen. Tembinok, Rubam und eine der Tageszeitungen, den wir unter uns die »Luftige Ecke« getauft hatten – schienen eine Weise an irgendeiner Idee zu arbeiten, die sie endlich nach langem Ringen in Worte faßten. Sie fürchteten, ich wäre der Ansicht, der Kasten könnte mich heilen, während er doch ohne den Zauberer nutzlos war, und wenn ich eine neue Erkältung kommen fühlte, täte ich besser daran, mich auf den »Schmerzentöter« zu verlassen. Ich erklärte ihnen daher, daß ich lediglich den Wunsch hätte, ihn als Andenken an Apemama in meinem »’Aus« aufzubewahren, worauf die ehrlichen Burschen außerordentliche Erleichterung zeigten.
Spät am gleichen Abend hörte meine Frau auf dem Wege zum Meeresufer aus dem Busch ein Singen. Nichts ist alltäglicher, als zu jener Stunde und an jenem Orte das jubelnde Lied der Palmweinzapfer zu vernehmen, die sich hoch zu Häupten in den Palmen wiegen und dabei unter sich das schmale Band der Insel, die es umschließende weite Ebene des Ozeans und die Flammen des Sonnenuntergangs sehen. Doch jener Gesang war ernsteren Charakters und schien vom Erdboden aufzusteigen. Als meine Frau auf das Dickicht zuschritt, sah sie an einem freien Fleck eine feine Matte ausgebreitet, und in der Mitte einen Kranz weißer Blumen und einen der Teufelskästen. Eine Frau – in der wir ruhig Frau Terutak‘ vermuten dürfen – saß davor, beugte sich von Zeit zu Zeit über den Kasten wie eine Mutter über eine Wiege und hob dann wieder den Blick und ihre Stimme zum Himmel empor. Ein vorübergehender Palmweinzapfer erzählte meiner Frau, daß sie betete. Wahrscheinlich aber betete sie nicht so sehr, als daß sie Abbitte leistete, oder vielleicht war die Zeremonie auch nur eine Entzauberung. Denn der Kasten war bereits verurteilt; er sollte seinem grünen Medizinbaum, der heiligen Stätte und den frommen Wärtern entrissen werden, um drei Meere zu durchkreuzen und direkt unter der Narrenkappe der Sankt Pauls Kathedrale zu landen. Dort, hart bei Lillie Bridge, sollte er beheimatet und täglich von einem britischen Zimmermädchen abgestaubt werden. Dort hat er vielleicht das Gebraus von London City für die Stimme des offenen Meeres über den Riffen gehalten. Noch ehe wir unser Abendessen beendet hatten, mußte Tschentsch seine Reise bereits antreten, denn eine der Zeitungen des Königs stellte den Kasten als Geschenk Tembinoks auf unseren Tisch.
Ich eilte sofort in den Palast, bedankte mich beim König, erbot mich jedoch den Kasten zurückzuerstatten, denn ich konnte den Gedanken, daß die Kranken der Insel dafür zahlen sollten, nicht ertragen. Seine Antwort setzte mich in Erstaunen. Terutak‘ – so stellte es sich heraus – besaß noch drei oder vier Kästen für Unglücksfälle in Reserve, und die Abneigung und Furcht, die sich auf seinem Gesicht widerspiegelten, wurzelten durchaus nicht in der Aussicht, eines medizinischen Schatzes beraubt zu werden, sondern unmittelbar in der Göttlichkeit Tschentschs. Wie sehr lernte ich jetzt des Königs Macht respektieren, die imstande war, augenblicklich und für nichts eine kirchenschänderische Gunst zu erpressen, die ich vergeblich mit meinen Millionen zu erkaufen versucht hatte! Doch jetzt stand mir noch eine schwierige Aufgabe bevor. Ich wollte nicht, daß Terutak‘ durch seine Tugend Einbuße erleiden sollte; ich mußte daher den König zu meiner Anschauung bekehren und ihm die Erlaubnis abringen, einen seiner Untertanen bereichern zu dürfen, ja (was das Allerheikelste war), ich wollte mein Geschenk bezahlen. Nichts zeigt den König in einem vorteilhafteren Lichte als die Tatsache, daß mir jener Versuch gelang. Zuerst murrte er gegen das Prinzip; er schlug, als er die Summe hörte, die Hände über dem Kopfe zusammen. »Vie Geld!« rief er, ohne sein verächtliches Mißfallen zu verbergen. Allein sein Widerstand war zu keiner Zeit wirklich ernst gemeint, und als seine schlechte Laune verflogen war, meinte er: »A‘ right. Du ihm geben. Vie beßah.«
Bewaffnet mit dieser Erlaubnis ging ich direkt in das Hospital. Die Nacht war jetzt kühl, dunkel und sternklar. Auf einer Matte, dicht neben einem hellen Feuer aus Holz und Kokosrinde, lag Terutak‘ neben seiner Frau. Beide lächelten; ihre Qualen waren vorüber; des Königs Befehl hatte wohl ihre ängstlichen Skrupel beschwichtigt, und man bat, ich möchte mich setzen und die kreisende Pfeife teilen. Ich war selbst ein wenig erregt, als ich die fünf Goldstücke in des Zauberers Hand legte, allein auf Terutaks Gesicht stand kein Zeichen von Bewegung, als er sie mir zurückgab, nach dem Palast hinüberwies und den Namen Tembinoks nannte. Dagegen war die Szene mit einem Schlage verwandelt, als ich ihnen die Lage glücklich auseinandergesetzt hatte. Terutak‘, dieser lange, sauertöpfische, schottische Fischer, drückte seine Zufriedenheit noch innerhalb der menschlichen Grenzen aus, aber die Frau strahlte geradezu, und ein alter Herr, der sich in ihrer Gesellschaft befand – ihr Vater, wie ich annehme, – schien förmlich verklärt. Seine Augen quollen ihm aus dem Kopf. »Kaupoi, kaupoi, – reich, reich« – ertönte es in endloser Wiederholung von seinen Lippen, und er konnte mich nicht ansehen, ohne vor törichtem Gelächter förmlich zu gurgeln. Jetzt konnte ich nach Hause gehen, und jener vom Feuer beschienene Familienkreis blieb allein zurück, um sieh an seinen neuen Millionen zu weiden – und dann konnte ich meinen seltsamen Tag überdenken. Ich hatte den Millionär gespielt, hatte mich schandbar benommen und dann bis zum gewissen Grade meine Gedankenlosigkeit wieder gutgemacht. Und jetzt besaß ich meinen Kasten und konnte in ihn hineinsehen. Er enthielt eine Schlafmatte en miniature und eine weiße Muschel. Als ich am folgenden Tage Tamaiti über die Muschel befragte, erklärte er, sie wäre ja nicht gerade Tschentsch in eigenster Person, aber eine Verkörperung von ihm, eine Zelle, die er mitunter bewohnte. Auf die Frage hin, was denn die Schlafmatte zu bedeuten hätte, erwiderte er voller Entrüstung: »Weshalb ihr haben Matten?« Das war also der skeptische Tamaiti! Aber der Skeptizismus auf den Inseln sitzt nirgends tiefer als auf den Lippen.