Drittes Kapitel. Im Umkreis unseres Hauses

Als wir den Palast verliessen, waren wir noch heimatlose Wanderer des Meeres, auf einen Augenblick an Land gegangen; innerhalb einer Stunde hatten wir uns in einem der sechs ausländischen Häuser von Butaritai installiert und zwar in dem, das für gewöhnlich von Maka, dem hawaiischen Missionar, bewohnt wurde. Zwei San Franciscoer Firmen, Messrs. Crawford und Messrs. Wightman Brothers, haben hier ihre Niederlassungen: erstere dicht neben dem Palast mitten in der Stadt, letztere am Nordende des Ortes, und jede mit einem Laden und einer Bar. Unser Haus lag auf dem Wightmanschen Grundstück, zwischen Laden und Bar, innerhalb eines hölzernen Zaunes. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße schmiegten sich ein paar Eingeborenenhäuser in die Ausläufer des Busches, und die Palmen ragten empor wie eine grüne, feste Mauer, jeden Lufthauch absperrend. Eine kleine sandige Bucht der Lagune reichte hinten bis an das Haus heran, begrenzt von einem Steg mit Veranda, das Werk der Hände der siebzehn Königinnen. Hier legten, wenn Flut war, die Segelboote an, um gelöscht zu werden; bei Ebbe gingen die Schiffe eine halbe Meile weiter draußen vor Anker, und eine endlose Kette von Eingeborenen stieg dann die Landungstreppe hinab, schlängelte sich über den Sand, watete mit Koprasäcken beladen bis zu den Hüften im Wasser und wand sich gemütlich wieder zurück, um neue Lasten aufzunehmen. Die Geheimnisse des Koprahandels reizten meine Neugier, und stundenlang saß ich und sah zu, wie die Gewinne auf den Steg und auf den Sand niedersickerten. Auf der Frontseite strömte von vier Uhr morgens bis neun Uhr abends die Stadtbevölkerung an uns vorbei: ganze Familien, auf dem Wege nach ihren Pflanzungen zur Kopraernte; Weiber, die in den Busch wollten, auf der Suche nach Blumen für die abendliche Toilette; und zweimal am Tage die Palmweinzapfer, jeder mit seinem Messer und einer ausgehöhlten Kokosnuß bewaffnet. Beim ersten Strahl des Morgengrauens, dann wieder spät am Nachmittage wanderten sie vereinzelt an uns vorbei, auf dem Wege zu ihrer Arbeit in den Baumwipfeln, verschwanden hier und dort im Busch und wurden nicht mehr gesehen. Etwa zur gleichen Stunde waren wir, falls Ebbe herrschte, oft selbst unterwegs zum Baden in der Lagune und betraten meistens dann dicht hinter ihnen die Alleen der Palmenwälder. Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen ist, sind doch bereits die ersten Feuer des Morgens angezündet, und die aufgehäuften Wolkenmassen des Passats erglühen und signalisieren den kommenden Tag. Die Brise umfächelt das Gesicht; zu Häupten, in den Palmenwipfeln, die ihr als Spielzeug dienen, weckt sie ein lautes Rauschen; wohin man auch sieht, nach unten oder oben, nirgends ein menschliches Wesen, nur Erde und der bebende Wald. Und unmittelbar über einem in dem dichten Blättergewirr erklingt ganz plötzlich das Lied eines unsichtbaren Sängers. Weither von einem zweiten Wipfel kommt die Antwort, und noch tiefer im Herzen des Waldes hockt, schwingt und singt ein dritter Musikant. So kauern rings auf der ganzen Insel die Palmweinzapfer auf ihrem schwanken Sitz, lassen sich vom Winde schaukeln und spähen nach dem Meere aus, wo sie das Auftauchen der Segel beobachten und ungeheuren Vögeln gleich ihren Morgengesang anstimmen. Sie singen mit einer gewissen bacchantischen Lust und Freude; die Fülle von Klang und artikulierter Melodie strömt überraschend von den Gipfeln nieder, von dorther, wo man nur das Gezwitscher der Vögel erwartet, und doch sind auch diese Lieder nicht viel mehr als ein Gezwitscher. Die Worte sind uralt, vergessen und geheiligt; nur wenige verstehen sie noch, keiner wohl von Grund auf, aber es hieß, die Zapfer »beteten um guten Palmwein und sängen von ihren alten Fehden.« Und das Gebet wird auch erfüllt. Wenn einem die schäumende Schale ins Haus gebracht wird, erhält man ein Getränk, das sich eines Dankgebets wohl lohnt. Den ganzen Vormittag über darf man immer wieder kommen, um zu kosten; es funkelt, wird stärker und wächst sich zu einem neuen, nicht minder köstlichen Trank aus. Im Laufe des Tages nimmt die Gärung zu und gewinnt an Säure; nach zwölf Stunden ist sie zur Brothefe geworden, in zwei Tagen zu einem teuflischen Rauschmittel, das die Menschen zu Verbrechen treibt. Die Männer haben ausgesprochenen Arabertyp, häufig mit Bart oder Schnurrbart. Manche tragen die buntesten Kleider, manche Arm- und Beinringe, und alle stolzieren hidalgogleich einher und nehmen Begrüßungen hoheitsvoll entgegen. Das Haar wird von den Gigerln beiderlei Geschlechts in einem krausen, turbangleichen Schopf getragen, und ein den Dolchen der Japaner ähnlicher, spitzer Pfeil wird an Stelle des Kamms herausfordernd in die Frisur gesteckt. Die Weiber blicken unter diesem Haarwust kokett hervor: was Frauenschönheit betrifft, kann sich die Rasse zwar keineswegs mit den Tahitiern vergleichen, und ich bezweifle, ob der Durchschnitt ein hoher ist, trotzdem waren mit die hübschesten Mädchen und stattlichsten Weiber, die ich je gesehen habe, Gilbertinerinnen. Butaritari ist als kommerzieller Mittelpunkt der ganzen Gruppe europäisiert; ein loses, farbiges Gewand oder ein feines weißes Hemd, letzteres nur für den Abend, ist jetzt die gebräuchlichste Kleidung; der billige, mit Blumen, Früchten und Bändern überladene importierte Hut ist leider auch nicht unbekannt, und das charakteristischste Frauenkleid der Gilbertinseln ist nicht mehr Allgemeingut. Dieses heißt »Ridi« und besteht aus einem kurzen Röckchen oder Gürtel aus geräucherten Kokosnußblättern, die geteertem Bindfaden nicht unähnlich sind: das untere Ende reicht knapp bis zum Oberschenkel, das obere hängt so tief über den Hüften, daß es dort nur zufällig zu haften scheint. Ein einziges Niesen und man glaubt, die Dame stände nackt da. »Das verwegene, haarschmale Ridi« hatten wir es getauft; und in dem Konflikt, der gegenwärtig um die Weiberkleidung tobt, hat es das Unglück, beiden Seiten zu mißfallen. Die Prüden verdammen es als ungenügend, die Weltlicheren finden es an sich unschön. Und doch muß eine hübsche Gilbertinerin, will sie sich von ihrer besten Seite zeigen, in jenem Kostüm gehen. In ihm oder auch ganz nackt bewegt sie sich mit der unvergleichlichen Freiheit, Grazie und Lebendigkeit, die die Poesie Mikronesiens bilden, während der Reiz in Kleider gepackt sofort vergeht und sie sich wie eine Engländerin dreht und windet.

Gegen Abend wurde der Aufzug immer prächtiger. Die Männer brachen in alle Farben des Regenbogens oder sagen wir der Handelsniederlassung aus – und Männer sowohl wie Weiber begannen, mit frischen Blumen geschmückt und parfümiert einherzuschlendern. Ihre Lieblingsblume sind kleine weiße Blüten, die mitunter einzeln wie winzige Sternchen in das Frauenhaar gesät, mitunter auch zu dicken Kränzen geflochten werden. Bei Anbruch der Nacht begann die Menge sich zu verdichten, und das Trippeln und Schlürfen nackter Füße hörte nicht mehr auf; die Spaziergänger waren meistens ernst, selbst die Kinder verhielten sich ruhig, von Zeit zu Zeit nur wurde das Schweigen durch ein Gekicher und Gelaufe der Mädchen unterbrochen. Um neun schlug von der Kathedrale die Stunde des Schlafengehens, und das Leben der Stadt versiegte. Um vier Uhr morgens wird das Zeichen in der Dunkelheit wiederholt, und die unschuldigen Schläfer erhalten ihre Freiheit zurück, doch in den sieben Stunden, die dazwischen liegen, müssen alle – ich wollte eben sagen, hinter Schloß und Riegel sein, wo doch Türen und selbst Wände hier eine Ausnahme sind – sagen wir also, sich unter ihr luftiges Dach hinter die Zelte ihrer Moskitonetze geflüchtet haben. Hat einer einen notwendigen Gang zu machen, läßt sich ein Unterwegssein nicht verschieben, so muß sich der Betreffende von weitem schon der Polizei durch eine ungeheure Fackel aus Kokos kenntlich machen, die sich wie ein wanderndes Leuchtfeuer von Haus zu Haus bewegt. Einzig die Polizei selbst darf im Dunkeln gehn und schleicht des Nachts auf der Suche nach Übeltätern umher. Ich haßte ihr heimtückisches Wesen von Herzen; besonders der Polizeihauptmann, ein schlauer alter Kerl in Weiß, umlauerte allnächtlich so standhaft unser Hauptquartier, daß ich ihn am liebsten verdroschen hätte; aber der Schelm genoß ja Immunität.

Keiner der erwähnten elf Handelsleute kam je in die Stadt, kein Kapitän ging in der Lagune je vor Anker, ohne daß wir ihn nicht innerhalb der nächsten Stunde bei uns sahen. Das hatten wir unserer Lage zwischen Laden und Bar zu verdanken – Sanssouci war letztere genannt. Mr. Rick war nicht nur der Geschäftsführer von Wightman Brothers, sondern auch der Konsularagent der Vereinigten Staaten; Mrs. Rick war die einzige Weiße auf der ganzen Insel, ja, außer ihr befand sich nur noch eine weiße Frau im ganzen Archipel; ihr Haus mit seinen kühlen Veranden, Bücherregalen und bequemen Möbeln hatte seinesgleichen nicht zwischen Jaluit und Honolulu. Folglich sprach ein jeder vor, der mit ihnen nicht gerade in irgendeinen Südseestreit über einen Cent mehr oder weniger pro Pfund Kopra oder über ein paar Hühner verwickelt war. Selbst diese Leute aber pflegten, wenn sie nicht von Norden her erschienen, gar bald im Süden aufzutauchen, wo das »Sanssouci« sie wie mit Stricken an sich zog. Auf einer Insel mit einer Bevölkerung von insgesamt zwölf Weißen dürften zwei Schenkstuben eigentlich als überflüssig erscheinen: aber jedes Töpfchen hat sein Deckelchen, und die doppelten Annehmlichkeiten von Butaritari erfreuten sich bei Kapitän und Mannschaft der Schiffe, die dort anlegten, einer großen Popularität. Man war stillschweigend übereingekommen, »The Land we Live in« dem Vorderschiff zu überlassen und das Sanssouci für das Achterdeck zu reservieren. So aristokratisch waren meine Neigungen und so groß meine Furcht vor Mr. Williams, daß ich das erstgenannte Lokal niemals betreten habe; dagegen verbrachte ich in dem anderen, das den Klub oder das Kasino der Insel darstellte, alle meine Abende. Der Raum selbst war klein, aber adrett möbliert; nachts, wenn die Lampe angezündet war, funkelte das Glas und leuchteten die bunten Bilder an den Wänden wie ein geschmücktes Theater zur Weihnachtszeit. Die Bilder waren Plakate, die Gläser grob genug, die ganze Tischlerarbeit dilettantisch, die Wirkung jedoch, die das Ganze hier auf dieser wüsten Insel erweckte, war die eines unermeßlichen Luxus und unbeschreiblicher Wohlhabenheit. Hier wurden Lieder gesungen, Geschichten erzählt, Taschenspielerkunststücke zum besten gegeben und Spiele gespielt. Die beiden Ricks, wir selbst, Tom, der norwegische Barkeeper, ein oder zwei Schiffskapitäne und vielleicht drei oder vier Händler, die in ihren Booten oder zu Fuß herübergekommen waren, machten für gewöhnlich die Gesellschaft aus. Die Händler, von Haus aus alle für den Seemannsberuf bestimmt, sind komisch, stolz auf ihr neues Geschäft. »Wir Südseekaufleute« ist der Titel, den sie sich am liebsten geben. »Wir sind hier alle Seeleute« – »Kaufleute, bitte« – »Südseekaufleute« – so begann immer wieder die Konversation, die für sie niemals an Reiz zu verlieren schien. Wir empfanden sie samt und sonders als schlichte, freundliche, lustige, tapfere und gefällige Menschen und erinnern uns trotz der langen Zeit, die inzwischen verstrichen ist, mit Vorliebe an die Kaufleute von Butaritari. Zwar gab es auch hier ein schwarzes Schaf. Ich will von ihm an dieser Stelle erzählen, obwohl das eigentlich gegen meine Regel ist; aber in diesem Falle fühle ich mich nicht verpflichtet, irgendwelche Diskretion zu bewahren, denn der Mann stellt den Typ einer bestimmten Klasse von Schurken dar, die früher einmal die ganze Südsee in Verruf brachten und sich heute nur ganz vereinzelt auf den entlegenen Inseln Mikronesiens aufhalten. Am Strande von Butaritari genoß er die Bezeichnung eines »vollkommenen Gentleman, wenn nüchtern«, aber ich habe ihn niemals anders als betrunken gesehen. Die wenigen abstoßenden und barbarischen Eigenschaften des Mikronesiers hatte er mit der Geschicklichkeit eines Sammlers herausgefischt und auf den Grund und Boden seiner eigenen Gemeinheit verpflanzt. Man hat ihn bereits des Meuchelmords bezichtigt und freigesprochen; seither hat er jedoch mit der Tat geprunkt, was mich allerdings glauben macht, daß er tatsächlich unschuldig war. Seine Tochter ist durch seine versehentliche Grausamkeit entstellt, denn er hatte seine Frau verstümmeln wollen, und in der Dunkelheit sowie in dem tollen Rausche des genossenen Kokosschnapses war er an das falsche Opfer geraten. Seitdem ist seine Frau in den Busch entwichen und zu den Eingeborenen geflohen, und die Forderungen des Gatten nach ihrer gewaltsamen Zurückführung stoßen auf taube Ohren. Sein Geschäft besteht in der Hauptsache darin, die Eingeborenen zum Trinken anzureizen und ihnen dann das Strafgeld hierfür als lukrative Hypothek vorzuschießen. »Respekt vor den Weißen« ist das dritte Wort dieses Mannes: »Was dieser Insel fehlt, ist der Respekt vor den Weißen«. Während meines dortigen Aufenthalts traf er eines Tages auf dem Wege nach Butaritari mit seiner Frau zusammen, die im Busch mit einigen Eingeborenen verborgen lag, und wollte sich auf sie stürzen, als ihre Begleiter ihre Messer zogen, worauf der Gatte erwiderte: »Ist das der schuldige Respekt vor den Weißen?« In einem frühen Stadium unserer Bekanntschaft bezeugten wir ihm unseren Respekt vor dieser Art von Weißen damit, daß wir ihm das Betreten unseres Grundstücks bei Gefahr seines Lebens verboten. Von da ab lungerte er oft in der Nachbarschaft herum; sein bleiches, bildhübsches Gesicht (das ich jedoch nur mit Widerwillen anzuschauen vermochte) spähte zu allen möglichen Tageszeiten über unseren Zaun, und einmal rächte er sich aus sicherer Entfernung dadurch, daß er uns ein landläufiges mikronesisches Schimpfwort an den Kopf warf, das unseren Ohren gänzlich harmlos, in seinem englischen Munde jedoch unglaublich deplaziert klang.

Unser Grundstück, um das dieses Muster an vielseitiger Verkommenheit herumschlich, war ziemlich ausgedehnt. In der einen Ecke stand eine Laube mit einem rohen Brettertisch. Hier war vor kurzem erst der vierte Juli mit denkwürdigen, an anderer Stelle noch zu schildernden Folgen festlich begangen worden. Hier nahmen wir unsere Mahlzeiten ein, hier bewirteten wir auch den König und die Notabeln von Makin. In der Mitte der Einfriedung lag das Haus mit seinen nach beiden Seiten gehenden Veranden und mit drei Räumen im Innern. Auf der Veranda spannten wir unsere Schiffshängematten auf, dort arbeiteten wir am Tage, dort schliefen wir des Nachts. Drinnen befanden sich Betten, Stühle, ein runder Tisch, eine elegante Hängelampe und die Porträts der königlichen Familie von Hawaii. Die Königin Viktoria besagt gar nichts; Kalakaua und Mrs. Bishop lassen immerhin allerhand Vermutungen aufkommen: die Wahrheit ist, wir waren unrechtmäßige Bewohner des Pfarrhauses. Am Tage unserer Ankunft war Maka nicht zugegen; ein treuloser Hausverwalter schloß uns Tür und Tore auf; und der liebe, gute, strenggläubige Mann, der geschworene Feind von Alkohol und Tabak, kehrte zurück, um seine Veranda mit Zigaretten übersät und sein Wohnzimmer von Flaschen verunziert zu finden. Er stellte nur eine einzige Bedingung – den runden Tisch, den er bei der Zelebrierung des Abendmahls zu benutzen pflegte, bat er, von Alkohol zu verschonen; im übrigen beugte er sich in allem vor der vollendeten Tatsache, weigerte sich, einen Mietzins zu nehmen, zog sich in ein gegenüberliegendes Eingeborenenhaus zurück und suchte, eigenhändig rudernd, die obskursten Winkel der Insel nach Nahrungsmitteln für uns ab. Er machte Schweine für uns ausfindig – nirgends sonst haben wir jemals ein Schwein hier zu Gesicht bekommen – und schleppte Geflügel und Taro für uns heran; als wir unser Fest für König und Adel veranstalteten, verschaffte er uns den Proviant und überwachte in eigener Person das Kochen; er war es auch, der das Tischgebet sprach, der des Königs Gesundheit ausbrachte und der den Toast in ein echt englisches Hip-Hip-Hurra ausklingen ließ. In seinem ganzen Leben hat er niemals eine glücklichere Idee gehabt: das Fettherz des dicken Königs hüpfte ihm bei diesem Laut vor Wonne im Busen.

Alles in allem bin ich niemals einem liebenswerteren Geschöpf begegnet als diesem Pastor von Butaritari: seine Freude und Güte, seine vornehme, menschenfreundliche Natur quollen bei jedem Wort, bei jeder Geste hervor. Er liebte es, zu übertreiben, im Moment irgendeine Rolle zu Tode zu hetzen, seine Lungen und Muskeln zu üben, mit seinem ganzen Körper zu reden und zu lachen. Er besaß die morgendliche Heiterkeit von Vögeln oder von sehr gesunden Kindern, und sein Humor wirkte ansteckend. Wir waren die allernächsten Nachbarn und kamen tagtäglich zusammen, trotzdem dauerten unsere Begrüßungen immer minutenlang – wir schüttelten uns die Hände, klopften uns auf die Schulter, sprangen dabei wie zwei Hanswurste herum und lachten uns tot über irgendeinen Scherz, der selbst in einem Kindergarten kaum schwache Heiterkeit erregt haben würde. Und ob es auch fünf Uhr früh war, wenn die Palmweinzapfer eben an uns vorübergezogen waren, wenn die Straße noch leer vor unseren Augen lag und der Schatten der Insel weit in die Lagune hinausragte: seine überschäumend gute Laune genügte, um mich den ganzen Tag über vergnügt zu machen.

Trotzalledem habe ich stets eine gewisse geheime Melancholie in Maka vermutet; diese jubelnde Heiterkeit ließ sich unmöglich dauernd aufrechterhalten. Außerdem war er lang, hager, runzelig, knorrig und leicht ergraut, und sein Sonntagsgesicht war förmlich saturnisch zu nennen. An jenem Tage marschierten wir in einer Prozession zur Kirche oder (wie ich sie stets nennen werde) zur Kathedrale: voran Maka (ein schwarzer Fleck in der glühenden Landschaft) in Zylinder, schwarzem Gehrock und langen schwarzen Hosen, Gesangbuch und Bibel unter dem Arm und ehrfürchtigen Ernst auf seinem Gesicht; neben ihm Maria, seine Gattin, eine ruhige, kluge und stattliche, ältere Frau in gesetzter, dunkler Kleidung; ich selber hinterdrein, voll seltsamer und rührender Gedanken. Vor langer, langer Zeit war ich beim Klang der Glocken, beim Rauschen der Bäche und bei dem Gezwitscher der Vögel so durch ein schottisches Hochlandstal gezogen, so hatte ich Sonntag für Sonntag den Pfarrer begleitet, in dessen Haus ich damals wohnte, und die Ähnlichkeit wie die Verschiedenheit, die vielen Jahre, die vielen Tode, die dazwischen lagen, rührten mich bis in alle Tiefen. Die Gemeinde in der großen, dämmrigen Palmbaum-Kathedrale zählte knapp dreißig Menschen, die Männer alle auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite, ich selbst (eine große Vergünstigung) unter den Frauen, und die wenigen Mitglieder der Mission eng zusammengedrängt aus der erhöhten Plattform, ein verlorenes Häuflein in jenem großen, runden Gewölbe. Der Bibeltext des betreffenden Tages wurde antiphonisch vorgelesen, die Gemeinde katechisiert, ein blinder Jüngling wiederholte allwöchentlich eine lange Reihe Psalmen, Kirchenlieder wurden gesungen – in meinem Leben habe ich nie wieder so schlecht singen hören – und die Predigt begann. Zu sagen, daß ich nichts davon verstand, wäre eine Unwahrheit gewesen; es gab gewisse Stellen, die ich jedesmal mit Sicherheit erwartete: das Wort Honolulu, den Namen Kalakaua, den Ausdruck »Käpt’n-Kriegsschiff«, die Bezeichnung Schiff, und dann folgte unfehlbar die Beschreibung eines Unwetters auf See; nicht selten wurde ich auch durch den Namen meiner eigenen Monarchin belohnt. Der Rest war nichts als Geräusch in meinen Ohren, ein Schweigen der Gedanken: eine unendliche Öde und Langeweile, die durch die Hitze, einen harten Stuhl und den Anblick der glücklicheren Heiden draußen auf dem Anger noch unerträglicher gemacht wurde. Der Schlaf senkte sich auf meine Glieder und auf meine Augen, er summte mir in den Ohren, er herrschte unumschränkt in der dämmrigen Kathedrale. Die Gemeinde rührte und rekelte sich; sie seufzte, sie stöhnte laut, sie stieß bei jeder Note im Gesang ein Gähnen aus, wie man mitunter einen Hund gähnen hört, wenn er den tiefsten, bittersten Grad der Langeweile erreicht hat. Vergeblich donnerte der Pastor auf den Tisch; vergeblich redete er einzelne Mitglieder direkt mit Namen an. Ich selbst war vielleicht ein wirksameres Stimulans; zum mindesten ein alter Herr schien aus meinen erfolgreichen Kämpfen gegen den Schlummer – ich hoffe wenigstens, daß sie erfolgreich waren – Trost und Unterhaltung zu schöpfen. Er weidete sich nämlich starren, herausfordernden Blicks – wenn er nicht gerade Fliegen fing oder seinen Nachbarn einen Streich spielte – an den verschiedenen Stadien meiner Qual; und einmal, als der Gottesdienst seinem Ende zuging, zwinkerte er mir sogar frech vom anderen Ende der Kirche aus zu.

Ich muß, während ich diesen Gottesdienst schildere, lächeln; und doch fehlte ich niemals dabei – aus Respekt für Maka, voller Bewunderung für seinen heiligen Ernst, seine brennende Energie, das Feuer seiner begeisterten Augen, die Aufrichtigkeit und die vielen Modulationen seiner Stimme. Ihn so mit seinen schwachen Kräften unermüdlich ein totes Pferd antreiben und ein kaltes Feuer anfachen sehen, bedeutete eine gute Lehre in Willensstärke und Beharrlichkeit. Es ist die Frage, ob die Ergebnisse bei einer besseren Unterstützung der Mission und einer Entlastung Makas von anderen Geschäften nicht hätten besser sein können. Ich persönlich glaube es nicht. Ich glaube, nicht Vernachlässigung, sondern allzu große Strenge hat seine Gemeinde so geschmälert, jene Strenge, die einstmals eine Revolution erzeugte und die der Außenstehende heute an einem sonst so lebensfreudigen, liebenswürdigen Mann mit Staunen wahrnimmt. Kein Lied, kein Tanz, kein Tabak, kein Alkohol, nichts, was das Leben leichter macht – nur Arbeit und Gottesdienst – das ist der Ausdruck, der auf seinem Gesicht zu lesen ist; das Gesicht ist das Antlitz des polynesischen Esau, doch die Stimme ist die Jakobs und stammt aus einer anderen Welt. Auch im besten Falle ist ein Missionar aus Polynesien auf den Gilbertinseln ein fremder Gast, kommt er doch aus einem Lande, wo wüste Unkeuschheit herrscht, in ein Land der strengsten Moral, aus einer Gegend, die unter dem Alpdruck ihrer Schreckgespenster seufzt, in einen Bezirk, der den Schrecken der Finsternis mit relativem Mut ins Gesicht sieht. Jener Gedanke kam mir eines Morgens mit unauslöschlicher Klarheit, als ich zufällig bei hellem Mondschein die ganze Stadt in Dunkelheit getaucht vor mir liegen sah und beobachtete, wie treulich noch die Lampe neben des Missionars Bette brannte. Maka und seinen Landsleuten gegenüber bedarf es weder des Gesetzes noch des Feuers noch wachsamer Polizisten, um sie davon abzuhalten, ohne Licht im Dunkeln zu wandeln.

Viertes Kapitel. Die Geschichte eines Tapus

Am Morgen nach unserer Ankunft (Sonntag, den 14. Juli 1889) waren unsere Photographen früh auf den Beinen. Wieder einmal durchschritten wir die schweigende Stadt; viele lagen noch schlafend in ihren Betten, einige saßen schläfrig in ihren offenen Häusern; von Verkehr oder Geschäften nirgends auch nur ein Laut. In jener Stunde vor der Morgendämmerung erschienen das Palastviertel und der Kanal wie ein Landungsplatz aus Tausendundeiner Nacht oder aus den klassischen Poeten, dies war in der Tat das passende Ziel für ein Feenschiff, hier konnte irgendein Abenteuer suchender Prinz zwischen neuen Gestalten und Ereignissen an Land gehen, und das Inselgefängnis, das auf dem leuchtenden Spiegel der Lagune gleichsam zu schweben schien, hätte die Gralsburg selber sein können. In einer solchen Umgebung und zu solcher Stunde war der Eindruck, den wir empfingen, weniger der eines fremden Landes als der eines Zurückversetztseins in die Vergangenheit; wir hatten nicht das Gefühl, als wären wir durch viele, viele Breitengrade gewandert, nein, als hätten wir zahlreiche Jahrhunderte überschritten und gleichzeitig Heimat und Gegenwart weit hinter uns gelassen. Ein paar Kinder, meist nackt und alle schweigend, hefteten sich an unsere Fersen; in dem klaren, tangreichen Wasser des Kanals wateten einige stumme Jungfräulein mit bis zur Wade entblößten braunen Beinen, und aus einer der Maniapen vor den Toren des Palastes lockte uns eine leise aber lebhafte Unterhaltung.

Der ovale Schuppen war voller Männer, die mit gekreuzten Beinen dasaßen. Der König in seinen gestreiften Pyjamas war anwesend, den Rücken gedeckt von vier Wächtern mit Winchestergewehren; seine Miene zeigte ungewöhnliche Energie und Entschlossenheit. Gläser und schwarze Flaschen machten die Runde, und das Gespräch war, wenn auch lärmend, so doch allgemein und animiert. Auf den ersten Blick war ich geneigt, die ganze Szene mit einigem Argwohn zu betrachten. Aber die Stunde schien für ein Gelage allzu ungeeignet; alkoholische Getränke waren außerdem ebensosehr durch das Landesgesetz wie durch die Bestimmungen der Kirche verboten, und während ich noch zögerte, zerstreute die strenge Haltung des Königs entgültig meine Zweifel. Wir waren gekommen, um ihn inmitten seiner Wachen zu photographieren, und schon bei der ersten Andeutung empörte sich seine Frömmigkeit. Man erinnerte uns daran, daß es Sonntag wäre – Sonntag, an dem du keine Aufnahmen machen sollst – und wir machten also mit einem Floh im Ohr und der verschmähten Kamera kehrt.

In der Kirche war ich nachträglich erstaunt, den Thron leer zu finden. Ein so rigoroser Sabbatheiliger hätte sehr gut die Mittel finden können, anwesend zu sein; vielleicht wurden auch meine Zweifel wieder lebendig, und noch ehe ich unser Haus erreicht hatte, waren sie zur Gewißheit geworden. Tom, der Barkeeper des Sanssouci, befand sich im Gespräch mit zwei Abgesandten des Hofes. Der »Keen«, erklärten sie, verlange »Din«, und wenn das nicht vorhanden wäre, »Perandi.« Nix da Din, war Toms Antwort, und auch kein Perandi; aber Pira, wenn sie das wollten. Nein, Pira wollten sie anscheinend nicht und zogen kummervoll wieder ab.

»Was soll das heißen?« fragte ich. »Will die ganze Insel auf den Rummel gehen?«

Das war in der Tat der Fall. Am vierten Juli war ein Fest veranstaltet worden, und der König hatte auf Vorschlag der Weißen das Tapu gegen den Alkohol aufgehoben. Es gibt ein Sprichwort von Pferden; jeder kann ein Pferd zum trinken bringen, keine zwanzig es davon abhalten. Das gleiche gilt auch für die höhere Bestie Mensch. Das vor zehn Tagen aufgehobene Tapu war bisher nicht wieder verhängt worden. Seit zehn Tagen hatte die Stadt die Flasche kreisen lassen, oder (wie am Nachmittage des Tages vorher) ihren viehischen Rausch ausgeschlafen. Und der König, von den Alten wie von seinem Durst getrieben, hielt auch weiterhin die Erlaubnis aufrecht, fuhr fort, seine Ersparnisse an Alkohol zu verschwenden und bei der ganzen Orgie die leitende Rolle zu spielen. Die Weißen waren die Urheber dieser Krisis. Auf ihren Vorschlag hin hatte man den Alkohol freigegeben, und anfänglich waren sie es im Interesse des Handels auch wohl zufrieden. Die Freude hatte jedoch nachgelassen; das Trinken war etwas zu lange fortgesetzt worden, das mußte jeder zugeben; jetzt begann die Frage akut zu werden, wie man ihm ein Ende machen konnte. Daher Toms Weigerung. Doch die Weigerung galt eingestandenermaßen nur für den Augenblick und war ebenso offensichtlich fruchtlos, denn des Königs Fourageure würden nach Toms Abweisung im Sanssouci in »The Land we Live in« von dem habgierigen Mr. Williams versorgt werden.

Der Ernst der Gefahr war damals schwer abzuwägen, und nachträglich neige ich eher zu der Ansicht, daß man ihn leicht übertrieb. Allein das Benehmen von Trunkenbolden gibt uns auch daheim in jedem Falle einigen Anlaß zur Besorgnis; dabei ist unsere Bevölkerung daheim nicht vom ersten bis zum letzten Mann mit Revolvern und Repetiergewehren bewaffnet, und wir betrinken uns auch nicht gleich stadtweise – ich kann ruhig sagen länderweise – König, Magistrat, Polizei und Armee. Man darf auch nicht vergessen, daß wir uns hier auf einer barbarischen, kaum besuchten, erst kürzlich und nur mangelhaft zivilisierten Insel befanden. Last not least – es ist schon eine ganze Reihe von Weißen hauptsächlich infolge ihres eigenen schlechten Benehmens auf den Gilbertinseln ums Leben gekommen; einmal zum mindesten hatten die Eingeborenen bereits eine starke Neigung bewiesen, einen zufälligen Unglücksfall durch eine Metzelei, die nichts als Knochen übriggelassen hätte, zu vertuschen. Dieses letzte Bedenken vor allem hielt uns davon ab, die Bars von heute auf morgen zu schließen; die Barkeeper wären die ersten gewesen, die daran hätten glauben müssen. Sie hatten es direkt mit Tollhäuslern zu tun; eine allzu schroffe Weigerung hätte jeden Augenblick einen Wutausbruch zeitigen können, und der erste Schlag wäre vielleicht das Zeichen zu einem Blutbad geworden.

Montag, den 15. – Zur gleichen Stunde kehrten wir in die gleiche Maniap‘ zurück. Ausgerechnet Kümmel wurde dort in Wassergläsern gereicht. In der Mitte saß der Kronprinz, ein feister Jüngling, von Flaschen umgeben und heftig mit dem Korkenzieher beschäftigt. König, Häuptlinge und Gemeine, alle zeigten das lockere Lächeln und die unsicheren Glieder, den verschwommenen und zugleich unsteten Blick von Betrunkenen in den Anfangsstadien des Rausches. Es war klar, daß man uns mit Ungeduld erwartet hatte; der König zog sich eiligst zurück, um Toilette zu machen, die Wache wurde nach ihren Uniformen geschickt, und wir blieben in einem Schuppen voll angeheiterter Eingeborenen allein, um das Resultat dieser Vorbereitungen abzuwarten. Die Orgie war weiter fortgeschritten als am Sonntag. Der Tag versprach sehr heiß zu werden; es war bereits ungewöhnlich schwül, und die Höflinge hatten alle mehr als ihnen bekömmlich war genossen, aber noch immer machte die Kümmelflasche die Runde, wobei der Kronprinz den Kellermeister spielte. Vlämische Freiheit der Sitten folgte auf diese vlämischen Exzesse. Der Komiker der Gesellschaft, ein bildhübscher junger Bursche in greller Kleidung und mit einem dicken Turban krauser Haare, entzückte die Versammlung durch eine humoristische Werbung um eine Dame, die er in einer nicht zu schildernden Weise betrieb. Wir unterhielten uns inzwischen damit, das Aufmarschieren der Wache zu beobachten. Diese trug europäische Waffen, europäische Uniformen und (zu ihrem Leidwesen) auch europäisches Schuhzeug. Wir sahen zu, wie einem dieser Krieger (gleich Mars) die Rüstung angelegt wurde; zwei Männer und ein kräftiges Frauenzimmer waren kaum stark genug, um ihm die Stiefel anzuziehen, und überhaupt ist die Armee nach jeder Parade mindestens auf eine Woche gelähmt.

Endlich öffneten sich die Pforten des königlichen Hauses, die Armee defilierte samt Gewehren und Epauletten im Gänsemarsch vorbei; die Königsflagge senkte sich unter dem Toreingang; seine Majestät folgte in einer goldstrotzenden Uniform; ihm nach die Gemahlin seiner Majestät in Federhut und wallender Seidenschleppe, zuletzt die königlichen Rangen; da stand die ganze Galagesellschaft Makins auf der von ihr selbst erwählten Bühne. Dickens allein hätte ihren feierlichen Ernst, ihre Betrunkenheit beschreiben können, den König, wie er unter seinem Dreispitz zerfloß und überquoll, wie er sich neben die größere der beiden Kanonen postierte – streng, majestätisch aber nicht gerade sehr aufrecht; wie die Truppen sich gegeneinander lehnten, angeschnauzt wurden und aufs neue zusammenfielen; wie sie und ihre Musketen in den verschiedensten Graden gleich den Masten einzelner Schiffe durcheinander schwankten, wie unser Amateurphotograph sie revidierte, ordnete und grade stellte, nur um seine Anweisungen in dem Moment, da er zu seiner Kamera zurückkehrte, wieder über den Haufen geworfen zu sehen.

Die ganze Sache war maßlos komisch, obwohl ich nicht weiß, ob es sich schickte, darüber zu lachen. Jedenfalls wurde unser Bericht über dieses Durcheinander bei unserer Rückkehr mit bedenklichem Kopfschütteln aufgenommen.

Der Tag hatte schlecht angefangen; elf Stunden trennten uns noch von Sonnenuntergang, und jeden Augenblick konnte, durch irgendeine geringfügige Tatsache hervorgerufen, das Unheil losbrechen. Das Wightmannsche Grundstück war militärisch unhaltbar, da es von drei Seiten durch Häuser und den dichten Busch beherrscht wurde; schätzungsweise sollte die Stadt über tausend Stück vorzüglicher Feuerwaffen enthalten, und für den Fall eines Angriffs war ein Rückzug auf die Schiffe undenkbar. Unser Gespräch an jenem Morgen muß ein getreues Abbild der Gespräche in den englischen Garnisonen vor der großen Sepoy-Meuterei gewesen sein: der nämliche resolute Zweifel, ob Unheil im Schwange wäre, die gleiche unerschütterliche Überzeugung, daß in dem Falle nichts zu machen sei, als kämpfend unterzugehen, dieselbe halb amüsierte, halb sorgenvolle Gespanntheit, mit der man neuen Entwickelungen entgegensah.

Der Kümmel war bald alle geworden; kaum waren wir zurückgekehrt, als der König uns schon nachkam auf der Suche nach neuem Schnaps. Herr Leiche hatte seine imposante Haltung jetzt abgelegt, sein rebellischer Riesenkörper stak wieder in den gestreiften Pyjamas; eine Leibwache, die ihre Musketen nach sich schleppte, bildete die Nachhut. Außerdem ward Se. Majestät begleitet von einem Walfischjäger aus Rarotongan sowie von dem launigen Höfling mit dem krausen Haarturban. Niemals hat es eine lebhaftere Verhandlung gegeben. Der Walfischmann war idiotisch, tränenvoll betrunken; der Höfling ging wie auf Luft, der König geruhte sogar zu scherzen. Hingegossen in einem Stuhl in Ricks Wohnzimmer ließ er den Strom unserer Bitten und Drohungen über sich ergehen. Wir schalten ihn aus, hielten ihm Beispiele aus der Vergangenheit vor, befahlen ihm, das Tapu auf der Stelle von neuem zu verhängen – nichts rührte ihn auch nur im geringsten. Morgen, erklärte er, würde es geschehen; heute stände es außerhalb seiner Macht, heute wage er es nicht. »Ist das königlich?« fragte der empörte Mr. Ricks. Nein, es war nicht königlich; wäre des Königs Charakter anders gewesen, wir hätten uns einer anderen Redeweise befleißigt; doch königlich oder nicht königlich, er blieb in diesem Streite Sieger. Tatsächlich waren die Kräfte auf beiden Seiten auch zu ungleich, denn der König war der einzige, der das Tapu wieder herstellen konnte, die Ricks aber nicht die einzigen, die Schnaps verkauften. Er brauchte bloß bei dem ersten Teil feiner Erklärung zu verharren, und die anderen mußten notgedrungen in dem übrigen nachgeben. Dem Schein zuliebe hielten sie den Widerstand noch eine kleine Weile aufrecht, dann aber machte sich die ungemein betrunkene Abordnung mit einem Brandyfaß, das auf einer Schiebkarre neben ihr her gefahren wurde, triumphierend auf den Rückweg. Der Rarotongan-Mann (den ich in meinem Leben nie zuvor gesehen hatte) schüttelte mir die Hand, wie jemand, der auf eine weite Reise geht. »Mein teurer Freun‘,« rief er, »mein teurer Freun’« – Kümmeltränen standen ihm in den Augen; der König torkelte voran, der Höfling hinterdrein – eine merkwürdige Gesellschaft berauschter Kinder, denen man einen Karren voll neuer Tollheit anvertraut hatte.

Unmöglich konnte man behaupten, daß die Stadt ruhig war; eine Gärung lag in der Luft, ein zielloses Kommen und Ansammeln der Eingeborenen herrschte auf den Straßen. Doch erst um halb Zwei schreckte uns ein plötzliches Durcheinander von Stimmen auf; wir liefen aus dem Hause und fanden die ganze weiße Kolonie bereits wie auf ein verabredetes Signal versammelt vor. Das Sanssouci war vom Pöbel überlaufen, auf Treppen und Veranden drängten sich unzählige Menschen. Aus allen diesen Kehlen stieg im Augenblick ein unartikulierter, undeutlicher Schrei; er klang wie das Blöken junger Lämmer, nur zorniger. Auf der Straße stand Se. Königliche Hoheit (den ich vor kurzem erst in seinem Amt als Kellermeister gesehen hatte) und schrie auf Tom ein; auf der obersten Treppenstufe in einem wogenden Menschenhaufen stand Tom und brüllte dem Prinzen etwas zu. Eine Weile schwankte der lärmende Mob vor der Bar hin und her. Dann siegte ein brutaler Impuls; er wankte, stürzte vorwärts und wurde wieder zurückgeworfen; die Treppe war ein Meer von Köpfen, und inmitten der auseinanderweichenden Menge tauchten drei Männer auf, die gewaltsam einen vierten mit sich schleppten. An den Haaren und Händen, mit bis auf die Kniee gebeugtem Kopf, so daß sein Gesicht ganz verborgen war, zerrten sie ihn von der Veranda herunter und die Straße entlang ins Dorf, wo er heulend verschwand. Wäre sein Gesicht erhoben gewesen, hätten wir gesehen, daß es blutüberströmt war, wenn auch nicht von seinem eigenen Blut. Der Höfling mit dem krausen Haarschopf hatte für diese Unruhen mit dem Verlust seines einen Ohrläppchens zahlen müssen.

So ging der Auflauf zu Ende, ohne schwerere Verluste zu erzeugen als die, welche inhumanen Menschen ein Lächeln ablockten. Dennoch sahen wir um uns herum nur ernste Gesichter und – eine Tatsache, die Bände sprach – Tom zog die Läden vor die Bar. Mochte die Kundschaft sich anderswohin begeben, mochte Mr. Williams noch so sehr profitieren, Tom hatte für diesen Tag genug von der Bar. Selbst so hatte alles nur an einem Haar gehangen. Ein Mann hatte einen Revolver zu ziehen versucht – aus welchem Grunde, konnte ich niemals erfahren – ein einziger Schuß in dem gedrängt vollen Zimmer hätte seine Wirkung nicht verfehlt. Wo viele bewaffnet und alle betrunken waren, hätte er andere Schüsse nach sich gezogen, und es ist sehr leicht möglich, daß die Frau, die die Waffe erspähte, und der Mann, der sich des Revolvers bemächtigte, die ganze weiße Kolonie gerettet hatten.

Unmerklich begann der Mob sich zu zerstreuen; für den Rest des Tages blieb unsere Nachbarschaft in Frieden und in ziemlicher Einsamkeit. Aber die Ruhe war nur eine lokale; Din und Perandi flossen in anderen Gegenden der Stadt in Strömen, und noch einmal sollten wir mikronesische Gewalttätigkeit kennenlernen. In der Kirche, wohin wir uns zum Photographieren begeben hatten, wurden wir durch einen durchdringenden Schrei aufgeschreckt. Die Szene, die sich uns bot, als wir durch die Türen jenes schattenhaften Raumes spähten, wird mir unvergeßlich bleiben. Die Palmen, die originellen, verstreuten Häuser, die Inselflagge, die an ihrem hohen Maste flatterte, alles lag in fast unerträglich starkem Sonnenlicht da. Und dazwischen wälzten sich zwei kämpfende Frauen auf dem Rasen. Die Streitenden waren leicht zu unterscheiden, weil die eine nackt bis auf den Ridi war, während die andere ein Holoku (loses Gewand) von irgendeiner bunten Farbe trug. Die erstere hatte die Oberhand und hatte sich mit den Zähnen fest in ihrer Gegnerin Gesicht verbissen, die sie wie einen Hund schüttelte; die andere wehrte sich ohnmächtig durch Schlagen und Kratzen. So sahen wir einen Augenblick, wie sie sich, gleich widerlichem Gezücht ineinander verstrickt, herumrollten und miteinander rangen. Dann schloß sich der Kreis des Pöbels und entzog sie unseren Blicken.

Es war eine ernsthafte Frage in jener Nacht, ob wir an Land schlafen sollten. Aber wir waren Reisende, die auf der Suche nach Abenteuern von weither kamen; es wäre höchst inkonsequent gewesen, wenn wir bei dem ersten Anzeichen eines Abenteuers ausgerissen wären; wir schickten also statt dessen an Bord, um unsere Revolver zu holen. In Erinnerung an Taahauku hielten Mr. Rick, Mr. Osbourne und meine Frau mitten auf der Landstraße eine Waffenübung ab und begannen unter lebhafter Bewunderung der Eingeborenen auf alte Flaschen zu schießen. Kapitän Reid von der »Aequator« blieb bei uns an Land, um im Notfalle zur Hand zu sein, und wir zogen uns zur gewohnten Stunde in angenehmer Erregung über die Tagesereignisse zurück und legten uns schlafen. Die Nacht war köstlich, die Stille zauberhaft; während ich so in meiner Hängematte lag und die schlafenden Palmen im starken Mondlicht betrachtete, verfolgte mich das häßliche Bild der beiden Frauen, die sich nackt und bekleidet in feindlicher Umarmung hielten. Wahrscheinlich hatten sie sich gegenseitig nicht viel Schaden zugefugt, dennoch hätte ich mit minderem Widerwillen Tod und Gemetzel schauen können. Die Rückkehr zu diesen primitiven Waffen, das Bild menschlicher Bestialität, des reißenden Tieres im Menschen, erschütterte mich tiefer als es der Blutpreis einer Schlacht getan hätte. Das alles sind Elemente unseres Staats und der Geschichte, die man mit Freuden vergißt, und bei denen man klugerweise vielleicht am besten gar nicht verweilt. Verbrechen, Pestilenz und Tod gehören zu unserem Tagewerk, und die Einbildungskraft findet sich leicht mit ihnen ab, dagegen weist sie alles zurück, was das Bild unserer Rasse auf ihrer niedrigsten Stufe heraufbeschwört, das Bild des Partners von Tieren, tierisch an sich, im wüsten Wirrwarr hausend, behaarter Mann neben behaarter Frau in den Höhlen der Vorzeit. Und doch dürfen wir, um gegenüber dem barbarischen Insulaner gerecht zu sein, nicht die Verbrecher- und Armenviertel unserer Großstädte vergessen; ich darf nicht vergessen, wie oft ich von irgendeinem Mahle heimkehrend durch Soho nach Hause gegangen bin und Bilder gesehen habe, die mich von meiner Eßlust gründlich kurierten.

Fünftes Kapitel. Die Geschichte eines Tapus – Fortsetzung

Dienstag, den 16. Juli – Gestern Nacht regnete es, plötzlich und heftig, nach Gilbertinsel-Manier. Noch vor Morgengrauen weckte mich ein Hahnenschrei, und ich wanderte auf unserem Grundstück und in den Straßen umher. Das schlechte Wetter war vorüber, der Mond schien unvergleichlich hell, und doch rauschte die ganze Insel wie bei einem starken Regen. Von den Blättern fielen dicke Tropfen, die hohen Palmen ließen in längeren Zwischenräumen schwere und laute Schauer niederrieseln. In dieser kühnen nächtlichen Beleuchtung lag das Innere der Häuser in undurchdringlicher Finsternis, als einheitlich schwarze Masse, da; nur dort, wo der Mond sich unter die Dächer stahl, schuf er einen silbernen Gürtel und malte die schrägen Schatten der Türpfosten auf den Fußboden. Nirgendwo in der ganzen Stadt sah man Feuerschein oder eine Lampe; weder Mensch, noch Tier rührten sich; ich dachte, ich sei der einzige, der wach wäre, doch die Polizei war pflichttreu auf ihrem Posten, heimlich wachsam zählte sie die Stunden, und kurz danach läutete der Wachmann wiederholt und vernehmlich die Glocke der Kathedrale; es war vier Uhr, das Wecksignal ertönte. Seltsam, daß in dieser Stadt der Trunkenheit und des Aufruhrs Abend- und Morgenläuten erklangen und so ruhig befolgt wurden.

Der Tag kam und brachte wenig Neues. Der Ort lag immer noch schweigend da; die Bevölkerung schlief, es schlief die Stadt. Selbst die wenigen Menschen, die munter waren, meist Frauen und Kinder, bewahrten das Schweigen und hielten sich in dem tiefen Schatten der Dächer auf, so daß man stehenbleiben und sich bücken mußte, um sie zu sehen. Durch die leeren Straßen, vorbei an den schlafenden Häusern, wand sich in den frühen Morgenstunden eine Deputation auf dem Wege nach dem Palast; der König wurde unsanft aufgeweckt und mußte (wahrscheinlich mit einem Kater) unschmackhafte Wahrheiten anhören. Mrs. Rick diente bei diesem Anlaß als Wortführerin, da sie der schwierigen Sprache mächtig war. Sie setzte dem leidenden Monarchen auseinander, daß ich ein intimer Freund der Königin Viktoria sei, daß ich ihr sogleich nach meiner Rückkehr einen Bericht über Butaritari abstatten würde und daß, falls wiederum die Einheimischen mein Haus belagern sollten, sofort ein Kriegsschiff erscheinen würde, um Repressalien zu ergreifen. Das beruhte ja nun kaum auf Wahrheit, es war nur eine genaue, notwendige Parallele zur Wahrheit, ein wenig nach den Breitengraden zurechtgestutzt, aber sie verfehlte nicht ihre Wirkung auf den König. Er war tief bewegt; von jeher, meinte er, hätte er den Eindruck gehabt, daß ich ein Mann von Bedeutung sei, aber daß es so schlimm wäre, hätte er doch nicht gedacht, und dann wurde das Missionshaus bei einer Geldstrafe von fünfzig Dollars unter Tapu gestellt.

Das war alles, was wir nach der Rückkehr der Deputation erfuhren, und erst nachher entdeckte ich, daß sich wesentlich mehr ereignet hatte. Der uns gewährte Schutz war hochwillkommen. Es war ungemein peinlich und nicht das mindest Aufregende des ganzen Tages gewesen, unser Haus vorübergehend von Eingeborenen erfüllt zu sehen, die, zwanzig und dreißig an der Zahl, um Schnaps bettelten, unsere Sachen betasteten und schwer hinauszuwerfen waren, ja, mit denen wir uns obendrein nicht einmal gut zanken konnten. Der Königin Viktoria Freund (der sehr bald zu ihrem Sohn avancierte) blieb von diesen Belästigungen verschont. Nicht nur unser Haus, nein, unsere ganze Nachbarschaft wurde in Ruhe gelassen; selbst auf unseren Spaziergängen wurden wir behütet und mit Aufmerksamkeiten umgeben, und gleich hochgestellten Persönlichkeiten auf einem Krankenhausbesuch bekamen wir überall nur die Lichtseiten zusehen. Wohl eine Woche lang ließ man uns so in einem Narrenparadies in der trügerischen Annahme umhergehen, daß der König Wort gehalten und das Tapu von neuem verhängt hätte, und daß die Insel wieder nüchtern wäre.

Dienstag, den 23. Juli. – Wir aßen in einer kahlen Laube zu Abend, die eigens für den vierten Juli errichtet worden war; hier pflegten wir auch im Lampenlicht bei unserem Kaffee und Tabak zu verweilen. In jenen Gegenden kommt der Abend ohne jede unangenehme Kühle; der Wind legt sich noch vor Sonnenuntergang, eine Weile ist der Himmel hell und voller Farben, dann verblaßt er und verdunkelt sich zu der Bläue der tropischen Nacht; rasch und unmerklich verdichten sich die Schatten, die Sterne vervielfältigen ihre Zahl; man blickt sich um – der Tag ist hinüber. Dann sahen wir unseren Chinesen durch den Garten in einem schwanken Lichtschimmer, der von seinem Schatten zerrissen wurde, auf uns zukommen, und mit der sich nahenden Lampe senkte sich auch die Nacht auf unseren Tisch. Die Gesichter der Anwesenden, die Stäbe der Laube hoben sich scharf und hell gegen den Hintergrund aus Blau und Silber ab, auf dem wie eine matte Zeichnung die Palmwipfel und die spitzen Dächer der Häuser schimmerten. Hier und dort glänzte ein samtenes Blatt oder die Bruchfläche eines Steines wie vereinzelte kleine Sterne. Alles andere zerfloß in nichts. So schwebten wir, gleich einem leuchtenden Sternbild, im leeren Raum; deutlich sichtbar, aber selber geblendet saßen wir in der dichten, hinterhältigen Finsternis, und die Insulaner, die leichten Schrittes und leise redend auf dem sandigen Weg vorüberzogen, blieben eine Welle stehen, um uns ungesehen zu beobachten.

Eben hatte man die Lampe auf den Tisch gestellt, als ein Wurfgeschoß mit dumpfem Schlag gegen den Tisch prallte und dann dicht an meinem Ohr vorüberfuhr. Drei Zoll seitwärts, und diese Seiten wären nie geschrieben worden, denn das Ding hatte den Schwung einer Kanonenkugel. Wir nahmen an, daß es eine Kokosnuß war, aber selbst damals schon schien es mir dafür zu klein, und seine Art zu fallen war etwas sonderbar.

Mittwoch, den 24. Juli. – Wieder einmal war es dämmrig geworden und man hatte die Lampe gebracht, als der gleiche Vorgang sich wiederholte. Wieder sauste das Wurfgeschoß an meinem Ohr vorbei. Eine Nuß hatte ich noch hingenommen; eine zweite weigerte ich mich, stillschweigend zu akzeptieren. Eine Kokosnuß pflegt nicht an windstillen Abenden in einem Winkel von fünfzehn Grad zum Horizont durch die Luft zu schwirren; Kokosnüsse fallen auch nicht an zwei Nächten hintereinander zu genau der gleichen Stunde und am gleichen Ort. In beiden Fällen schien man eine bestimmte Zeit gewählt zu haben: in dem Augenblick, in dem man uns die Lampe brachte, war eine ganz bestimmte Person, nämlich das Oberhaupt der Familie, bedroht worden. Ich mag mich geirrt haben, aber ich hielt das Geschoß für einen Stein, den man geschleudert hatte, nicht um zu treffen, sondern um uns einzuschüchtern.

Nichts bringt aber einen Menschen mehr auf als dieser Gedanke. Ich lief auf die Straße, wo die Bevölkerung ganz wie gewöhnlich auf ihrer Abendpromenade war; Maka gesellte sich mit einer Laterne zu mir, und ich rannte von einem zum anderen, leuchtete in gänzlich unschuldige Gesichter, stellte unnütze Fragen und stieß eitle Drohungen aus. Von dort trug ich meinen Zorn (der wahrhaftig jedes Königssohns würdig gewesen wäre) zu Ricks. Sie hörten mich bedrückt an, versicherten mir, dieser Trick, einen Stein in einen harmlosen Familienkreis zu schleudern, wäre durchaus nicht neu und daß es das Zeichen kommender Unruhen und ein Ausdruck der gefährlichen Stimmung wäre, die unter den Eingeborenen herrschte. Und dann kam die Wahrheit heraus, die man uns so lange verborgen hatte. Der König hatte sein Versprechen gebrochen; das Tapu war immer noch aufgehoben. »The Land we Live in« verkaufte unentwegt Spirituosen, und jenes Stadtviertel war fortgesetzt von Unruhen bedroht. Schlimmeres jedoch stand noch bevor. Man war im Begriff, zur Feier des Geburtstages der kleinen Prinzessin ein Fest zu veranstalten, täglich erwartete man die Ankunft der Vasallenhäuptlinge aus Klein-Makin. Stark, dank ihrer zahlreichen und wilden Gefolgschaft, standen sie allesamt in dem Ruf, wie früher in Schottland jener Douglas, keine sehr treuen Lehnsmänner zu sein. Kuma (ein kleiner dickbäuchiger Kerl) ging niemals in den Palast, betrat überhaupt nicht die Stadt, sondern pflegte sich am Strande auf eine Matte hinzupflanzen, und, die Büchse über den Knien, öffentlich sein Mißtrauen und seine Verachtung zu bekunden. Karaiti aus Makin sollte, obwohl er mehr Mut zeigte, auch nicht zuverlässiger sein, und nicht nur die beiden Vasallen waren eifersüchtig auf den Thron, auch die beiderseitigen Anhänger teilten diese Feindschaft. Zank und Streit war schon früher ausgebrochen; es war zu Schlägereien gekommen, die jederzeit mit Blut heimgezahlt werden konnten. Einige der Gäste waren bereits am Ort und hatten sich schon betrunken; falls die Orgie noch anhielt, wenn erst die Hauptmasse kam, war ein Zusammenstoß, vielleicht auch eine Revolution, mit Sicherheit zu erwarten.

Der Verkauf von Spirituosen auf dieser Inselgruppe entspringt der zwischen den Händlern herrschenden Eifersucht. Einer fängt damit an, der andere muß es ihm nachmachen, und wer den meisten Gin hat, schenkt ihn am freigiebigsten aus und erhält auch den Löwenanteil an Kopra. Alle sind sich indes einig, daß das Mittel ein verzweifeltes ist und weder sicher, noch anständig, noch der Weißen würdig. Ein Händler aus Tarawa kaufte einst, durch hitzigen Konkurrenzeifer angetrieben, eine große Menge Gin. Die Folge war, erzählte er, er hätte Tag und Nacht zu Hause sitzen müssen und nicht gewagt, den Verkauf einzustellen und sich aus Furcht vor einer heulenden Menge sternhagelbetrunkener Menschen, die im Busch ihren Rausch austobte, nicht eher herausgetraut, ehe nicht der ganze Schnaps ausgetrunken war. Besonders des Nachts, wenn er aus Furcht nicht schlafen konnte, und Schüsse sowie Stimmen aus der Dunkelheit zu ihm hinaufklangen, hätte ihn finsterste Reue gepackt.

»Mein Gott,« überlegte er, »wenn ich durch eine so elende Sache ums Leben käme!« Wieder und immer wieder haben sich in der Geschichte der Gilbertinseln diese Szenen wiederholt, und der reuige Händler saß neben seiner Lampe, horchte angsterfüllt auf die Tritte des Todes, erwartete sehnlichst den Morgen und faßte die besten Vorsätze für die Zukunft. Denn das Geschäft läßt sich zwar leicht anfangen, aber nur schwer abbrechen. Die Eingeborenen sind in ihrer Art ein Gerechtigkeit liebendes, die Gesetze respektierendes Volk, gewissenhaft im Bezahlen ihrer Schulden, gehorsam gegenüber ihren eigenen Behörden. Wird das Tapu wieder verhängt, so hören sie mit Trinken auf, der Weiße jedoch, der diesem Verbot durch Verweigerung des Ausschanks vorzugreifen sucht, tut das bei Gefahr seines Lebens.

Daher die Sorge und bis zum gewissen Grade auch die Machtlosigkeit Mr. Ricks. Er und Tom hatten nach dem Auflauf vor dem Sanssouci den Verkauf eingestellt; sie hatten das ohne Gefahr tun können, da ja »The Land we Live in« den Ausschank fortsetzte; außerdem behauptete man, sie hätten zuerst damit angefangen. Was sollten sie jetzt tun? Sollte Mr. Ricks Mr. Muller aufsuchen (mit dem er kaum auf Grußfuß stand) und ihn etwa folgendermaßen anreden: »Ich war nahe daran, das Rennen zu gewinnen, jetzt sind Sie mir voraus, und ich bitte Sie, auf Ihren Prosit zu verzichten. Ich habe mein Lokal dank der Tatsache, daß Sie das Geschäft fortführten, in Sicherheit schließen können; ich bin aber jetzt der Ansicht, daß Sie die Sache lang genug betrieben haben. Ich fange an, mich zu fürchten, und weil ich Angst habe, bitte ich Sie, sieh einer gewissen Gefahr auszusetzen?« – Daran war nicht zu denken. Man mußte einen anderen Ausweg finden; einen einzigen Menschen gab es am anderen Ende der Stadt, der keinesfalls an Kopra interessiert war. Sonst sprach für meine Eignung als Unterhändler wenig zu meinen Gunsten. Ich war mit dem Wightmannschen Schoner angekommen, ich wohnte auf dem Wightmannschen Grundstück, ich verkehrte täglich in dem Wightmannschen Kreise. Es war an sieh eine Anmaßung, wenn ich mich jetzt unaufgefordert in die Geschäftsangelegenheiten des Crawfordschen Agenten einmischte und ihn überreden wollte, seine Interessen zu opfern und sein Leben aufs Spiel zu setzen. Es war kein schöner Ausweg, doch es gab keinen besseren; seit der Affäre mit dem Stein war ich außerdem selbst scharf darauf erpicht, die Sache zu Ende zu führen, der Gedanke an eine delikate Mission reizte mich, und ich hielt es für klug, mich öffentlich zu zeigen.

Die Nacht war sehr dunkel. In der Kirche war Gottesdienst, die Kerzen schimmerten matt durch die Ritzen des Gebäudes. Sonst waren wenig Lichter zu sehen, doch fühlte ich im Dunkeln ganz genau das Kommen und Gehen zahlreicher Menschen und vernahm ein Gesumm und Gezisch von Stimmen, das heimtückisch klang. Ich glaube wohl, daß ich, um eine alte Redensart zu gebrauchen, mit dem Barte auf dem Rücken weiterging. Bei Mullers brannte noch Licht, doch herrschte überall Ruhe, und das Tor war geschlossen. Auf keine Weise vermochte ich den Riegel fortzuschieben. Kein Wunder, denn wie ich später entdeckte, war er vier bis fünf Fuß lang – an sich schon ein reines Befestigungswerk. Während ich noch daran herumprobierte, näherte sich von innen her ein Hund dem Tore und begann mißtrauisch meine Hände zu beschnüffeln, so daß ich gezwungen war: »Heda Hausbewohner!« zu rufen. Darauf erschien Mr. Mullers Kinn über dem Zaun. »Wer ist da?« fragte er wie einer, der nicht die geringste Lust hat, Fremde zu begrüßen.

»Mein Name ist Stevenson«, sagte ich.

»Ach, Mr. Stevens! Ich hatte Sie nicht erkannt. Kommen Sie herein.«

Wir betraten den finsteren Laden, wo ich mich gegen den Ladentisch und er sich gegen die Wand lehnte Alles Licht, das wir hatten, kam aus dem Schlafzimmer, wo, wie ich sah, die Familie zu Bett gebracht wurde. Der Schein fiel gerade auf mein Gesicht, während Mr. Muller im Schatten blieb. Ohne Zweifel sah er voraus, was kommen sollte und suchte eine möglichst vorteilhafte Stellung einzunehmen; doch war die meinige für einen Menschen, der nur seine Überredungskünste spielen lassen will und nichts zu verbergen hat, vorzuziehen.

»Hören Sie mal,« begann ich, »ich höre, Sie verkaufen den Eingeborenen Schnaps.«

»Das haben andere vor mir auch schon getan«, entgegnete er mit Betonung.

»Ohne Zweifel,« sagte ich, »mich geht aber nicht die Vergangenheit, sondern lediglich die Zukunft an. Ich möchte mir Ihr Versprechen einholen, daß Sie mit dem Alkohol vorsichtig umgehen werden.«

»Was haben Sie daran für ein Interesse?« fragte er höhnisch. »Haben Sie Angst um Ihr Leben?«

»Das tut hier nichts zur Sache«, entgegnete ich. »Ich weiß und Sie wissen es, daß von rechtswegen überhaupt kein Alkohol verkauft werden dürfte.«

»Tom und Mr. Ricks haben ihn schon früher verkauft.«

»Ich habe mit Tom und Mr. Ricks nichts zu schaffen. Ich weiß nur, daß sich jetzt beide geweigert haben.«

»Nein, wahrscheinlich haben Sie wirklich nichts mit ihnen zu schaffen. Wahrscheinlich haben Sie nur Angst um ihr Leben.«

»Hören Sie mal,« rief ich, jetzt in der Tat ein wenig aufgebracht, »Sie wissen im Grunde ihres Herzens ganz genau, daß ich ein absolut vernünftiges Verlangen stelle. Ich will gar nicht, daß Sie von ihrem Profit was einbüßen – obwohl ich natürlich vorziehen würde, wenn es überhaupt keinen Alkohol hier am Orte gäbe, wie Sie vermutlich auch – –«

»Ich sage ja gar nicht, daß ich es nicht auch lieber möchte. Ich habe damit nicht angefangen.«

»Sie haben wahrscheinlich damit nicht angefangen«, antwortete ich. »Und ich verlange ja auch gar nicht von Ihnen, daß Sie dabei verlieren sollen; ich bitte Sie nur als Mann zu Mann um ihr Wort, daß Sie keinen Eingeborenen betrunken machen werden.« Bis jetzt hatte Mr. Muller eine Haltung angenommen, die meine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe stellte; aber er hatte sie nur mit Anstrengung aufrecht erhalten können, da er gefühlsmäßig ganz auf meiner Seite stand, und jetzt bezog er eine noch viel unhaltbarere Position. »Ich bin es ja gar nicht, der ihn verkauft«, meinte er.

»Nein, der Nigger ist es«, stimmte ich ihm zu. »Aber er ist vollkommen in Ihrer Hand; Sie halten ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, und ich bitte Sie – es handelt sich doch um Frauen – sich Ihrer Macht zu bedienen.« Er beeilte sich, seinen alten Standpunkt wieder einzunehmen. »Ich leugne gar nicht, daß ich es könnte, wenn ich es wollte«, sagte er. »Aber es besteht ja gar keine Gefahr, die Eingeborenen sind doch ganz ruhig. Sie haben einfach Angst um Ihr Leben.«

Nun liebe ich es gar nicht, wenn man mich einen Feigling nennt, daher verlor ich auch den Rest meiner guten Laune und stellte ihm ein unzeitgemäßes Ultimatum. »Erklären Sie sich bitte deutlicher«, rief ich. »Soll das heißen, daß Sie mir meine Bitte verweigern?« »Ich will sie weder verweigern noch erfüllen«, lautete die Antwort.

»Sie werden sehr bald einsehen, daß Sie sich für das eine oder das andere entscheiden müssen!« rief ich, und dann in einen richtigeren Ton fallend: »Kommen Sie, Sie sind ja ein viel besserer Kerl, als Sie sich den Anschein geben. Ich sehe schon, woran Sie sich stoßen – Sie denken, ich komme aus dem anderen Lager. Ich sehe, was für eine Art Mensch Sie find, und Sie wissen selbst ganz genau, daß ich Sie nur um das bitte, was recht ist.«

Wieder wechselte er die Stellung. »Wenn die Eingeborenen erst einmal was zu trinken haben, ist es gefährlich, ihnen plötzlich nichts mehr zu geben.«

»Ich verbürge mich für die Bar«, antwortete ich. »Wir sind drei Mann und haben vier Revolver; auf ein Wort von Ihnen sind wir an Ort und Stelle und werden den Platz gegen das ganze Dorf halten.«

»Sie wissen gar nicht, wovon Sie reden; das ist viel zu gefährlich!« rief er.

»Hören Sie mal,« sagte ich, »mir ist es ziemlich gleichgültig, ob ich das Leben verliere, von dem Sie so viel Wesens machen; aber ich will es nun mal auf meine Weise verlieren, und zwar indem ich dieser ganzen Schweinerei ein Ende mache.«

Eine Weile sprach er noch von seinen Verpflichtungen gegenüber der Firma; ich hörte aber gar nicht darauf, denn ich war meines Sieges sicher. Er wartete nur auf eine günstige Gelegenheit, um zu kapitulieren und sah sich nach einem Mittel um, die Spannung zu erleichtern. In dem Lichtstrahl, der aus der Schlafzimmertür drang, entdeckte ich auf dem Schreibpult seine Zigarrentasche. »Die sehen gut aus«, sagte ich.

»Wollen Sie nicht eine nehmen?« fragte er.

Ich nahm eine und bat ihn um Feuer. »Also«, sagte ich, »versprechen Sie’s mir.«

»Ich verspreche Ihnen, daß Sie mit den Eingeborenen, die hier in meinem Lokal zu trinken bekommen haben, keine Scherereien haben sollen«, entgegnete er. »Das genügt mir«, sagte ich und bewies auf der Stelle, daß es mir nicht genug war, indem ich ihn bat, einmal seinen Schnaps probieren zu dürfen.

Damit war der kritische Teil unseres Interviews zu Ende. Mr. Muller hatte aufgehört, mich als einen Abgesandten seines Konkurrenten zu betrachten, ließ daher seine aggressive Haltung fallen und redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Ich verstand, daß er schon längst von sich aus den Verkauf eingestellt haben würde, wenn er es nur gewagt hätte. Da er aber nicht allein den Mut dazu gehabt hatte, lehnte er sich begreiflicherweise gegen die Einmischung derer auf, die (wie er mir selbst erklärte) ihn zuerst zum Verkauf getrieben hatten, nur um ihn dann im Stich zulassen und ihn jetzt (nachdem sie in Sicherheit waren) in neue Fährnisse zu stürzen, die ihnen wohl nützen, ihm aber nur schaden konnten. Ich fragte ihn, wie er über die Gefahr dächte, die das Fest mit sich brächte.

»Sie ist bedenklicher als Sie alle glauben«, antwortete er. »Gestern abend veranstalteten sie hier in der Gegend Schießübungen, ich habe die Kugeln selbst pfeifen hören. Da sagte ich zu mir: »Die Sache ist faul.« Was mich so wundert, ist, daß Sie sich an Ihrem Ende der Stadt darüber aufregen. Ich wäre doch der erste, der dran glauben müßte.«

Seine Verwunderung war etwas kurzsichtig. Der Trost als zweiter draufzugehen, ist nicht gerade sehr groß; auf die Tatsache selbst, nicht aus die Reihenfolge kam es an. Scott erzählt irgendwo, man hätte dem Kampfe selbst mit einem Gefühl entgegengesehen, »das an Freude grenzte.« Diese Ähnlichkeit scheint mir direkt eine Übereinstimmung zu sein. Im modernen Leben gibt es keine Erwartung mehr. Man bekommt das endlose Manövrieren bald satt; den Tatsachen zu Leibe zu rücken, einen Vorteil, selbst unter Eingehen eines angemessenen Risikos auszunutzen, uns selbst einmal auf die Probe zu stellen, bringt das Blut angenehm in Wallung. Wenigstens war das bei meiner Familie der Fall, die sich samt und sonders auf einen Zusammenstoß freute. Wie die Schulbuben saßen wir bis tief in die Nacht hinein, putzten unsere Revolver und schmiedeten Pläne für morgen. Es versprach ein arbeitsamer, ereignisreicher Tag zu werden. Die Alten sollten vor uns zitiert werden, um mit mir über die Tapufrage zu verhandeln; jeden Augenblick konnte Muller uns rufen, um seine Bar zu verteidigen, und falls er versagen sollte, beschlossen wir im Familienrat, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, »The Land we Live in« mit geladenen Revolvern zu erobern und dem gesprächigen Williams ein Tänzchen aufzuführen. So wie mir unsere Stimmung von damals in Erinnerung steht, wäre es dem Mulatten, glaube ich, nicht sehr gut bekommen.

Mittwoch, den 24. Juli. – Es war gut und dennoch eine Enttäuschung, daß diese Gewitterwolken vorüberzogen, ohne sich zu entladen. Ob die Alten nun vor einer Unterredung mit dem Sohne der Königin Victoria zurückschreckten, ob Muller heimlich den Zwischenhändler spielte oder ob der König aus Furcht wegen der Nahe des kommenden Festes das Verbot erließ: Tatsache ist, daß das Tapu früh am nächsten Morgen neu verhängt wurde. Und zwar keinen Tag zu früh, wenn man die schwer beladenen Boote ankommen sah und beobachtete, wie die Stadt sich mit den grobschlächtigen, rüpelhaften Vasallen Karaitis füllte.

Die Wirkung dieser Ereignisse blieb eine ganze Weile im Gedächtnis der Händler haften; unter einstimmigem Beifall aller Anwesenden half ich, eine Petition an die Vereinigten Staaten aufzusetzen mit der Bitte, daß ein Gesetz gegen den Schnapshandel auf den Gilbertinseln erlassen werden mochte, und auf allgemeines Ersuchen hin fügte ich in meinem eigenen Namen einen kurzen Bericht der Ereignisse hinzu; – verlorene Liebesmüh, denn das Ganze ruht, wahrscheinlich ungelesen, ja, vielleicht sogar uneröffnet in irgendeinem Aktenfach zu Washington.

Sonntag, den 28. Juli. – Heute erlebten wir das Nachspiel zu der Orgie. Der König und die Königin in europäischer Kleidung wohnten, gefolgt von ihrer bewaffneten Garde, zum ersten Male dem Gottesdienste bei und thronten in etwas zweifelhafter Würde unter dem Faßreifen. Vor Beginn der Predigt kletterte Seine Majestät von dem Podium herunter, faßte in etwas schiefer Haltung auf dem Kiesboden Posto und schwor in wenigen Worten dem Trunke ab. Die Königin folgte mit einer noch kürzeren Ansprache. Dann wurden nacheinander sämtliche anwesenden Männer aufgefordert; ein jeder erhob seine Rechte, und die Sache war erledigt – Thron und Kirche hatten sich wieder versöhnt.

Sechstes Kapitel. Das fünftägige Fest

Donnerstag, den 25. Juli. – Die Strasse war heute ungewöhnlich belebt durch die Gegenwart der Männer von Klein-Makin. Im Durchschnitt sind sie höher gewachsen als die Butaritarier und gingen heute, da Feiertag war, mit gelben Blättern geschmückt und in grellbunter, leuchtender Kleidung umher. Sie sollen, dem Rufe nach, wilder fein, und sind sogar stolz darauf. Ja, uns kam es vor, als stolzierten sie durch die Straßen wie daheim zu Inverneß die Hochländer in ihren Trachten, gehoben von dem Bewußtsein ihrer barbarischen Vorzüge.

Nachmittags sah man den Sommersaal gedrängt voll Menschen: andere hatten sich draußen aufgestellt und spähten unter das überhängende Dach ins Innere wie die Kinder daheim in ein Zirkuszelt. Drinnen probte die Makiner Gesellschaft zu dem bevorstehenden Sängerfest. Karaiti saß in der vordersten Reihe, dicht neben den Sängern, und wir wurden (wahrscheinlich zu Ehren der Königin Victoria) aufgefordert, neben ihm Platz zu nehmen. Eine starke, drückende Hitze herrschte unter dem Wellblechdach, und die Luft war schwer vom Duft der Kränze. Die Sänger, um die Hüften mit feinen Matten bekleidet, mit Ringen von Kokosfederbüscheln an den Fingern und gelben Laubkronen im Haar, saßen in Gruppen auf dem Fußboden. Verschiedene Solisten erhoben sich, um Lieder vorzutragen, die den größten Tell des Programmes einnahmen. Allein schon die bloße Gegenwart der Sängergruppen trug, auch wenn sie nicht selbst sangen, sehr zu der Wirkung bei. Sie schlugen den Takt, mimikrierten die anderen, schnitten Grimassen, warfen den Kopf zurück und starrten nach oben, schwangen die Federbüschel an den Fingern, klatschten in die Hände und klopften sich (laut wie eine Blechtrommel) auf die linke Brust; der Rhythmus war vollendet, die Musik barbarisch, aber voll bewußter Kunst. Ich notierte besonders die Kunstgriffe, deren sie sich fortgesetzt bedienten. Ein plötzlicher Wechsel (ich glaube der Tonart) ohne Unterbrechung des Taktes wurde durch ein jähes, dramatisches Erhöhen der Stimme und eine lebhafte allgemeine Gestikulation angekündigt und hervorgehoben. Die Stimmen der Solisten setzten nacheinander rauh und kakophonisch ein, um sich ganz allmählich zu vereinigen, und wurden dann, wenn sie zusammenklangen, von dem voll einfallenden Chor übertönt. Das übliche, hastige, bellende, unmelodische Auf und Ab der Stimmen wurde von Zeit zu Zeit unterbrochen und verschont durch Bruchstücke einer psalmenähnlichen Melodie, die häufig gut komponiert war, oder durch den Kontrast so wirkte. Der Rhythmus wechselte häufig, und den Schluß eines jeden Stückes, wenn die Stimmung wild und toll geworden war, bildete unfehlbar folgendes Motiv:

Nur schwer kann man sich das Feuer und die Teufelei vorstellen, die sie in dieses hämmernde Finale hineinlegten; alles rückte zusammen, Stimmen, Hände, Augen, Blätter und flatternde Fingerringe; der Chor wiegte sich im Takt und fesselte die Augen, die Melodie die Ohren; die Gesichter verkrampften sich vor Begeisterung und Anstrengung.

Kurz darauf erhob sich die ganze Gesellschaft, die Trommler bildeten einen Halbkreis um die Solisten. Zuweilen waren es deren fünf, zuweilen mehr. Die Gesänge, die nun folgten, waren noch dramatischer; obwohl ich niemanden hatte, um sie mir zu erklären, konnte ich doch stellenweise in dunklen, aber klar erkennbaren Umrissen eine gewisse Handlung feststellen; unaufhörlich mußte ich dabei an bestimmte turbulente Massenszenen aus der großen Oper daheim denken; genau so klangen die einzelnen Stimmen aus dem Ensemble hervor, um dann wieder in dem Ganzen zu verschwinden; genau so scharten sich die Darsteller zusammen, mit erhobener Hand und rollenden Augen, die zum Himmel – oder der Galerie – aufblickten. Doch ist die hiesige Kunst bereits über das Vorbild der Thespis hinausgewachsen; die Kunst dieses Volkes hat das Embryostadium längst überwunden: Gesang, Tanz, Trommeln, Quartett und Solo – ein ganzes vollentwickeltes Drama, wenn auch en miniature. Unter allen sogenannten Tanzvorführungen in der Südsee, denen ich beigewohnt habe, nimmt die von Butaritari unbestritten den höchsten Platz ein. Die »Hula«, wie sie der durchreisende Globetrotter in Honolulu zu sehen bekommt, ist sicherlich eine der stumpfsinnigsten Erfindungen, die es gibt, der Zuschauer gähnt dabei wie bei einem Hochschulkolleg oder einer Parlamentsdebatte. Der Gilbertinsel-Tanz dagegen regt den Geist an; er elektrisiert und reißt das Publikum mit; er hat das, was aller Kunst inne wohnt: eine unerforschliche, zwingende Bedeutung. Wo so viele mitwirken und wo alle (in einem bestimmten Moment) die gleiche rasche, komplizierte und oft willkürliche Bewegung machen, müssen die Proben überaus ermüdend sein. Aber die Leute fangen schon als Kinder an zu üben. Häufig kann man einen Mann und ein Kind in einer Maniap‘ stehen sehen: der Mann singt und gestikuliert, das Kind steht tränenüberströmt vor ihm und ahmt zitternd alle seine Bewegungen und Töne nach; das ist der zukünftige Künstler der Gilbert-Insel, der (wie alle Künstler) in Schmerzen seine Kunst erlernt.

Ich scheine indes allzu viel zu loben; hier folge daher eine Stelle aus meiner Frau Tagebuch, die beweisen mag, daß ich nicht der einzige war, der mitgerissen wurde, und die das Bild vervollständigt: – »Der Dirigent gab das Zeichen, und alle Tänzer schwangen die Arme, bewegten die Körper hin und her, klopften sich in vollendetem Takt auf die Brust und eröffneten damit das Vorspiel. Die Darsteller blieben inzwischen sitzen, ausgenommen zwei, dann wieder drei Solisten, und zweimal ein einzelner Solist. Diese standen aufrecht in der Gruppe, bewegten kaum merklich die Füße und ließen einen leisen, zitternden Rhythmus durch ihre Körper gleiten. Nach dem Vorspiel kam eine kurze Pause, und dann begann die eigentliche Oper – anders kann man es nicht bezeichnen, eine Oper, in der jeder Sänger zugleich ein vollendeter Schauspieler war. Der Held schien in seiner leidenschaftlichen Ekstase, die ihn von Kopf bis zu Fuß durchraste, förmlich verklärt; einmal war es, als fege ein starker Wind über die Bühne – ihre Arme, die federgeschmückten Finger zitterten in einer Bewegung, die auch meine Nerven packte; Köpfe und Körper folgten nach, gleich einem sturmgepeitschten Kornfeld. Mein Blut wurde heiß und wieder kalt, Tränen stiegen mir in die Augen, mein Kopf schwankte, ich fühlte einen fast unwiderstehlichen Drang, mich den Tänzern anzuschließen. Das eine Drama habe ich, glaube ich, fast ganz verstanden. Ein wilder, blutdürstiger alter Mann spielte die Solorolle. Er sang von der Geburt eines Prinzen, und wie er zärtlich in seiner Mutter Arm gewiegt wurde; von seiner Kindheit, da er seine Kameraden im Schwimmen, Klettern, ja in allen Leibesübungen übertraf; von seiner Jugend, als er mit seinem Boot in See stach und fischen ging; von seiner Mannheit, da er ein Weib nahm, die einen Sohn von ihm in ihren Armen trug. Dann kam der Alarm des Krieges und eine große Schlacht, deren Ausgang eine Zeitlang zweifelhaft war; aber der Held siegte, wie er das immer tut, und mit einem ungeheuren Triumphschrei endete das Stück. Es gab auch humoristische Dramen, die die Leute sehr amüsierten. Während des einen faßte mich ein alter Mann, der hinter mir saß, am Arm, drohte mir schelmisch lächelnd mit dem Finger und sagte kichernd irgendeine Sache, die ich als die Parallele zu etwa den folgenden Worten verstand: »Oh ihr Weiber, ihr Weiber; so seid ihr alle!« Ich fürchte, sehr schmeichelhaft war die Sache nicht. Kein einziges Mal jedoch auch nur die geringste Spur von der häßlichen Indezenz der östlichen Inseln. Die Musik selbst war mindestens so kunstvoll wie die unsrige, wenn auch auf einer ganz anderen Basis; ein- oder zweimal überraschten mich Anklänge an die beste, englische Kirchenmusik, doch war das immer nur ganz vorübergehend. Endlich kam eine längere Pause, und diesmal sprangen sämtliche Tänzer auf. Mit dem Drama wuchs auch das Interesse. Die Darsteller riefen das Publikum und den Himmel an. Sie berieten miteinander, die Verschwörer drängten sich in einem Haufen zusammen; es war die reinste Oper, die Trommeln schlugen im richtigen Moment, Tenor, Bariton und Baß, alles war vorhanden – nur hatten die Stimmen samt und sonders die gleiche Klangfarbe. Einmal sang eine der Frauen aus den hinteren Reihen mit einer sehr schönen Altstimme, die nur durch einen Nasallaut verunziert wurde; ich habe bemerkt, daß sämtliche Frauen diese Unsitte affektieren. Das andere Mal war ein Knabe von engelhafter Schönheit der Solist, dann wieder wurde ein sechs- bis achtjähriger Junge, ohne Zweifel ein trainiertes Wunderkind, in die Mitte des Kreises gestellt. Der kleine Kerl war anfänglich furchtbar ängstlich und verlegen, doch sang er sich zum Schluß frei und zeigte viel dramatisches Talent. Der wechselnde Ausdruck auf den Gesichtern der Tänzer war so sprechend, daß ich mir sehr dumm vorkam, die Handlung nicht zu verstehen.«

Unser Nachbar bei diesen Vorstellungen, Karaiti, gleicht ein wenig Seiner Majestät in Gesicht und Figur; wie jener ist er dick, bärtig und von orientalischem. Typus. Im Charakter ist er jedoch das gerade Gegenteil: aufgeweckt, heiter, jovial, zu Scherzen geneigt und fleißig. Zu Hause auf seiner eigenen Insel arbeitet er selbst wie ein Sklave und treibt sein Volk wie ein Sklavenhalter zur Arbeit an. Für Ideen bezeugt er ein lebhaftes Interesse. George, der Händler, erzählte ihm einmal von Flugmaschinen. »Ist das auch wirklich wahr, George?«, fragte er. »Es steht in der Zeitung«, entgegnete George. »Nun,« sagte Karaiti,« wenn der Mann das mit Maschinen kann, kann ich es ohne sie.« Und er konstruierte ein paar Flügel, schnallte sie sich an die Schultern, ging an das Ende der Landungsbrücke, sprang in die Luft und plumpste schwerfällig ins Meer. Seine Frauen zogen ihn wieder heraus, denn seine Flügel hinderten ihn am Schwimmen. »George,« sagte er und hielt auf dem Wege nach Hause inne, um sich trockene Kleider anzulegen, »George, du lügst.« Er besaß acht Frauen, denn sein kleines Reich hat noch die alten Sitten treulich bewahrt, allein er wurde sehr verlegen, als man dies meiner Frau erzählte. »Sage ihr aber, daß ich nur eine mitgebracht habe«, meinte er besorgt. Im großen und ganzen gefiel uns der schwarze Douglas außerordentlich, und als wir immer wieder von des Königs Unruhe hörten und uns selbst überzeugten, daß man alle Waffen in dem Sommerpavillon versteckt hatte, sahen wir voller Bewunderung die Ursache all dieser Besorgnis an, die sich auf ihren dicken Beinen mit einem freundlichen Grinsen auf dem breiten Gesicht scheinbar unbewaffnet und jedenfalls ohne Begleitung dahertrollte. Der rote Douglas, der schmerbäuchige Kuma, dagegen blieb, nachdem er von der Orgie gehört hatte, auf seinem Lehen daheim. Seine Vasallen kamen daher führerlos zu dem Fest und vermehrten die Reihen Karaitis.

Freitag, den 26. Juli. – Nachts in der Dunkelheit marschierten die Sänger von Makin vor unserem Hause auf und sangen das Lied der Prinzessin. »Dies ist der Tag; dies ist der Tag, an dem sie geboren wurde; Nei Kamaunava wurde heute geboren – eine schöne Prinzessin, die Königin Butaritaris.« So, erzählte man mir, lautete in endlosen Wiederholungen der Text. Der Gesang war natürlich gänzlich deplaziert, und die ganze Vorstellung nur eine Probe. Gleichzeitig war sie aber auch ein Ständchen, eine zarte Aufmerksamkeit unseres neuen Freundes Karaiti für uns.

Sonnabend, den 27. Juli. – Wir hatten eine Vorstellung mit der Laterna magica angekündigt, die in der Kirche stattfinden sollte. Das brachte uns einen Besuch des Königs ein. Zu Ehren des schwarzen Douglas (nehme ich an) war die Anzahl seiner Wachtleute von zwei auf vier erhöht, und die ganze Rotte gab ein sonderbares Bild ab, wie sie in ihren Strohhüten, Röckchen und Jacken im Gänsemarsch hinter ihm drein marschierte. Drei trugen ihre Waffen umgekehrt, den Kolben über der Schulter, die Mündungen drohend auf des Königs plumpen Rücken gerichtet; der vierte hatte sein Gewehr um den Hals geschlungen und hielt es mit nach hinten gestreckten Armen auf dem Rücken fest. Der Besuch dauerte über die Maßen lang. Der König sprach ohne sein Elektrisierungsmittel, Schnaps, kein Wort. Völlig zusammengebrochen saß er auf seinem Stuhl und ließ seine Zigarre ausgehen. Es war heiß, es war schwül, es war bitter langweilig; da blieb einem nichts übrig. als in Tebureimoas Antlitz nach überlebenden Spuren von »Herrn Leiche«, dem Schlächter, zu suchen. Tatsächlich schien seine plump eingedrückte und an der Spitze abgeplattete Hakennase nach mitternächtlichem Mord zu riechen. Als er sich verabschiedete, forderte Maka mich auf zu beobachten, wie er die Treppe oder Leiter hinunterging, die zu der Veranda heraufführte. »Alter Mann«, sagte Maka. »Ja«, erwiderte ich, »und doch ist er wahrscheinlich noch gar nicht so alt.« »Junger Mann«, lautete Makas Antwort. »Vielleicht vierzig.« Seither habe ich sogar gehört, daß er noch jünger sein soll.

Während die Laterna magica vorgeführt wurde, strich ich im Dunkeln umher. Die Stimme Makas, der aufgeregt die biblischen Bilder erklärte, die gezeigt wurden, schien nicht nur die Kirche, nein, auch die Nachbarschaft zu erfüllen. Alles andere schwieg. Dann hörte man aus der Ferne ein Singen, das immer näher kam, und eine Prozession wand sich den Weg entlang, wobei der heiße, saubere Geruch der Männer und Frauen mich angenehm umfächelte. An der Ecke blieben sie, von Makas Stimme und dem abwechselnden Licht und Dunkel in der Kirche gebannt, stehen. Sie hatten nicht die Absicht, näher zu kommen, das war klar. Es waren offenbar Leute aus Klein-Makin, wahrscheinlich strenggläubige Heiden, Gegner des Missionars und seiner Werke. Ganz plötzlich jedoch brach ein Mann aus den Reihen los, lief und floh in die Kirche; im nächsten Augenblick waren ihm drei andere gefolgt, dann rannte eine ganze Schar wie ums liebe Leben. So blieb die kleine Bande Heiden unentschlossen an der Ecke stehen und schmolz vor den Lockungen einer Laterna magica wie ein Gletscher in der Sonne. Die Charakterfesten suchten vergeblich die Abtrünnigen aufzuhalten; drei weitere flohen, wenn auch in schuldbewußtem Schweigen, und als der Führer endlich Geistesgegenwart und Autorität wiederfand, um seinen Trupp in Bewegung zu setzen und das Singen von neuem aufzunehmen, war es nur noch ein arg verringertes Häuflein, das mit melodischen Tönen in der Dunkelheit verschwand.

Inzwischen erhellten und verdunkelten sich die leuchtenden Bilder im Innern. Ich stand eine Weile unbemerkt in einer der hinteren Reihen und konnte dicht vor mir ein Liebespärchen beobachten, das der Vorstellung mit Interesse folgte, wobei der Mann den Dolmetsch spielte und (wie schon Adam) seine Zärtlichkeiten in die Erklärungen einflocht. Die wilden Tiere, insbesondere ein Tiger, sowie jener alte, beliebte Schulscherz von dem Schläfer mit der Maus erregten helles Entzücken; der Clou jedoch war die Bilderfolge aus den Evangelien. Maka zeigte sich bei dieser Gelegenheit nach Ansicht seiner tief enttäuschten Gattin nicht im besten Lichte. »Was hat der Mann nur? Weshalb kann er nicht reden!« rief sie. Was den Mann hinderte, war, meiner Meinung nach, die Größe der Gelegenheit, die sich ihm bot; er brach unter seinem Glücke förmlich zusammen. Doch das war einerlei; ob er nun schlecht oder gut redete, die Vorführung dieser frommen »Phantome« brachte tatsächlich jeden Spötter in jener Gegend der Insel zum Schweigen. »Seht doch,« hieß es allgemein, »seht doch, die Bibel ist wirklich wahr!« Als wir später nach Butaritari zurückkehrten, erzählte man uns, daß der Eindruck immer noch lebendig wäre, und daß die, welche die Bilder gesehen hätten, den anderen davon berichteten: »Ja, ja, es ist alles wahr; diese Dinge haben sich alle ereignet, wir haben die Bilder gesehen.« Das Argument ist gar nicht so kindisch, wie es auf den ersten Blick scheint, denn ich bezweifle, ob die Insulaner eine andere Methode der Darstellung als die der Photographie kennen, so daß die Wiedergabe einer Begebenheit (nach dem alten melodramatischen Prinzip, daß eine Kamera nicht lügen kann) in Wahrheit einen starken Beweis bietet. Die Tatsache amüsierte uns um so mehr, als unsere Bilder zum Teil lächerlich komisch waren und das eine (Christus vor Pilatus) mit brüllendem Gelächter aufgenommen wurde, in das selbst Maka notgedrungen mit einstimmen mußte.

Sonntag, den 28. Juli. – Karaiti erschien heute und ersuchte um eine Wiederholung der »Phantome« das war jetzt der allgemein anerkannte Ausdruck – und kehrte dann, nachdem wir es ihm versprochen hatten, unserem bescheidenen Hause ohne auch nur den Schatten eines Grußes den Rücken. Ich fühlte, daß es unpolitisch gewesen wäre, wenn ich mir den Anschein gegeben hätte, als steckte ich stillschweigend eine Beleidigung ein; dazu hatten wir allzu schwierige Zeiten durchgemacht, und der Königin Victoria Sohn war verpflichtet, die Ehre des Hauses zu wahren. Karaiti wurde daher noch am gleichen Abend zu den Ricks beschieden, wo Mrs. Ricks ihn tüchtig herunterputzte, und der Sohn der Königin Victoria ihn mit indignierten Blicken traktierte. Ich war in der Tat der Esel in der Löwenhaut; brüllen konnte ich in der Sprache der Gilbert-Inseln nicht, aber ich konnte Blicke schießen. Karaiti erklärte darauf, er hätte nichts Böses im Sinne gehabt, entschuldigte sich in einer aufrichtigen, herzlichen, durchaus kavaliermäßigen Art und wurde sofort wieder er selbst. Dann ließ er sich einen Dolch hereinbringen, für den er sich interessierte, und sagte, er würde morgen wiederkommen, um ihn abzuschätzen; heute wäre Sonntag. Diese Gewissensskrupel bei einem Wilden, der acht Frauen hatte, setzten mich einigermaßen in Erstaunen. Der Dolch, meinte er schelmisch, »sei gut, um Fische zu töten«; dabei hatte er zweibeinige Fische im Sinn. Sonderbar, daß »Fische« in Ost-Polynesien eine gebräuchliche euphemistische Bezeichnung für Menschenopfer sind. Als wir ihn nach der Bevölkerungszahl seiner Insel fragten, rief er seine Vasallen herein, die draußen vor der Tür warteten, und sie schätzten sie auf vierhundertundfünfzig Seelen, doch werden es dank Karaitis Jovialität bald mehr sein, denn sämtliche Frauen der Insel sind von ihm in anderen Umständen. Lange bevor wir auseinandergingen, hatte ich seine Beleidigung vergessen, er jedoch behielt sie im Sinn und stattete uns am nächsten Tage, einer besonders liebenswürdigen Eingebung folgend, einen langen Besuch ab, nach dessen Verlauf er sich mit größtem Zeremoniell verabschiedete. Montag, den 29. Juli. – Endlich war der große Tag gekommen. In den ersten Nachtstunden wurden wir durch Händeklatschen und durch den Gesang auf Nei Kamaunava aufgeschreckt; die melancholischen, getragenen und etwas drohenden Klänge wurden von Zeit zu Zeit durch einen markerschütternden Schrei unterbrochen. Dabei sahen wir das kleine Stückchen Mensch, dem zuliebe diese mitternächtliche Ehrung stattfand, am nächsten Mittag splitterhagelnackt und anscheinend ebenso unbeobachtet und unbesorgt auf der Wiese spielen.

Der Sommersaal auf dem künstlichen Inselchen hob sich scharf gegen die schimmernde Lagune ab und glänzte mit seinem Wellblech in der Sonne. Heute umdrängten ihn von morgens früh bis abends spät neugierige Männer und Frauen. Drinnen stauten sich Insulaner jeden Alters und jeder Größe, in jedem Stadium der Nacktheit und des Putzes. So dicht hockten wir übereinander, daß ich einmal eine mehr als hübsche Frau auf dem Schoße hielt, – während zwei nackte kleine Buben ihre Füße gegen meinen Rücken stemmten. Dort sah man eine Matrone in voller Toilette, mit Holoku und Blumenhut, während ihre Nachbarin im nächsten Augenblick einen winzigen Fetzen Hemd von ihren fetten Schultern streifte und sich als ein Monument an Fleisch entpuppte, das von dem haarschmalen Ridi eher enthüllt als geschützt wurde. Kleine Fräulein, die sich für viel zu vornehm hielten, um an einem so hohen Festtage nackt zu gehen, sah man draußen im hellen Sonnenschein stehen bleiben, ihre Miniaturridis in der Hand; einen Augenblick später betraten sie dann in vollem Schmuck den Konzertsaal.

An den beiden Enden lösten sich abwechselnd die verschiedenen Sängergruppen ab; Kuma und Klein-Makin am Nordende, Butaritari und die angrenzenden Dörfer im Süden, beide Parteien in vollem barbarischen Aufputz. In der Mitte zwischen diesen rivalisierenden Troubadourlagern stand eine Bank. Hier thronten zwei bis drei Fuß über dem dichtgedrängten Publikum der König und die Königin – Tebureimoa wie gewöhnlich in seinen gestreiften Pyjamas mit einem Ledersäckchen über der einen Schulter, das (nach Inselart) zweifellos seine Pistolen enthielt; die Königin in einem purpurfarbenen Holoku mit wallenden, heruntergelassenen Haaren, einen Fächer in der Hand. Die Bank war in wohlerwogener Rücksicht mit der Front zu den auswärtigen Gästen gestellt, und wenn die Reihe, zu fingen, an die Butaritari-Leute kam, mußte das Paar sich umdrehen und zeigte uns seine breiten Rücken. Gelegentlich trösteten sich die Majestäten mit einem Lehmpfeifchen, während der Pomp und die Galafeierlichkeit durch Abfeuern der Gewehre einer Abteilung Garde erhöht wurde.

So hockten wir vor dem Angesicht des Herrscherpaares auf dem Boden und lauschten verschiedenen Gesängen von der einen wie von der anderen Partei. Dann zogen sich die Majestäten mit ihrer Garde zurück, und der Königin Victoria Sohn und Schwiegertochter wurden durch Akklamation auf den leeren Thron berufen. Unser Stolz wurde allerdings ein wenig gedämpft, da sich ein gewisser Tunichtgut von einem Weißen auf unserem hohen Platz zu uns gesellte, und doch war es mir auf der anderen Seite wieder ganz lieb, denn der Mann kannte ein wenig die Inselsprache und konnte mir eine Ahnung von dem Inhalt der Gesänge vermitteln. Der eine war patriotisch und forderte König Tembinok von Apemama, das Schreckgespenst der ganzen Inselgruppe, heraus, in Butaritari zu landen. Der andere handelte von der Tarosaat und Ernte. Noch andere waren historisch und feierten verstorbene Könige und ihre alten Heldentaten, wie zum Beispiel ein großes Wettrinken oder eine Schlacht. Einer zum mindesten behandelte ein häusliches Drama, das von einer Truppe aus Makin glänzend aufgeführt wurde. Es handelte von einem Mann, dessen Frau gestorben war, und der anfänglich ihren Verlust beweint, sich dann aber eine andere nimmt; die ersten Gesänge (oder Akte) wurden ausschließlich von Männern vorgetragen, gegen Schluß trat jedoch eine Frau auf, die auch erst kürzlich ihren Gatten verloren hatte, und ich glaube, das Paar tröstete sich gegenseitig, denn das Finale schien glücklich zu sein. Bezüglich der Lieder erklärte mir mein Cicerone summarisch, daß sie von »Weibern« handelten, was ich freilich auch ohne ihn erraten hatte. Ich muß noch hinzufügen, daß jede Partei durch eine oder zwei Frauen verstärkt wurde. Die Frauen wirkten stets als Solisten mit und nahmen nicht häufig an der Vorstellung teil, sondern hielten sich meist im Hintergrunde der Bühne auf; in ihren Ridi, Halsketten und Frisuren glichen sie europäischen Balletteusen, wie ein Ei dem anderen. Immer wenn die Vorstellung sich irgendwie in die Länge zog, traten diese Damen vor, und es war seltsam anzusehen, wie die Primaballerina nach jedem Auftreten scheinbar von Scham überwältigt war, als hätte sie sich weit über das Maß dessen, was sie beabsichtigte, hinreißen lassen, und wie ihre männlichen Kollegen sie zum Schein gleich jemanden, der sich mit Schande bedeckt hat, von der Bühne vertrieben. Ähnliche Manöver begleiten auch die wahrhaft obszönen Tänze auf Samoa; dort sind sie in der Tat auch am Platze. Hier ist es aber ganz anders. Die Worte in dieser ungenierten Welt waren wohl so deutlich, daß sie einen Kutscher hätten erröten lassen, das Zweideutige an der ganzen Sache war die gespielte Scham. Für derartige Rollen zeigten die Frauen eine gewisse Begabung; sie waren keck, zierlich, akrobatisch, mitunter wirklich amüsant und manchmal auch hübsch. Doch hat das nichts mit echter Kunst zu tun: ein ganzer Himmel liegt zwischen diesem Herumtanzen und Augenschmeißen und den fremdartigen rhythmischen Gebärden, seltsamen, verzückten, rasenden Gesichtern der besten männlichen Tänzer, die uns während jenes Gilbertinselballetts wie unter einem Zauberbanne hielten.

Fast von Anfang an war es klar, daß die Butaritari-Leute unterlegen waren. Vielleicht würde ich ihre Leistungen sogar für gut gehalten haben, hätte ich nicht gleichzeitig die zweite Truppe vor Augen gehabt, die mich dauernd an das »gewisse Etwas, das doch so unendlich viel bedeutet« gemahnte. Als der Chor von Butaritari erkannte, daß er dem anderen nicht gewachsen war, wurde er verwirrt, machte Fehler und brach zusammen; in diesem Wirrwarr von fremdartigen Rhythmen hätte ich selbst das Versagen wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wenn nicht das Publikum sich sofort eingemischt und zu spotten angefangen hätte. Um allem die Krone aufzusetzen, begann die Makin-Gesellschaft jetzt einen Tanz von wirklich überragender Qualität. Ich weiß nicht, wovon er handelte, denn ich war viel zu sehr gefesselt, um Fragen zu stellen. In dem einen Akt erzielte der Chor durch fortgesetztes Kreischen in einem seltsamen Falsett eine Wirkung ähnlich der eines europäischen Orchesters; in einem anderen hüpften die Tänzer wie die Springteufelchen auf und nieder und breiteten die Arme aus, um dann mit fabelhafter Schnelligkeit, Behendigkeit und Komik aus der Reihe hervorzubrechen und durcheinanderzulaufen. Eine humoristischere Wirkung habe ich niemals erlebt. In jedem europäischen Theater hätte das Publikum gerast, und diese Insulaner-Zuhörerschaft brüllte vor Lachen und Beifall. Damit war aber das Maß der Konkurrenztruppe voll, sie vergaß sich selbst und allen Anstand. Nach jedem Akt oder jeder Tanzfigur pflegten sich die Darsteller einen Augenblick auszuruhen, und die nächste Nummer wurde durch ein Händeklatschen im Dreivierteltakt eingeleitet. Erst wenn sich das ganze Ballettkorps gesetzt hatte, bedeutete das für ihre Rivalen das Zeichen, sich zu erheben. Jetzt aber wurden alle Regeln durchbrochen. In der Pause nach dem stürmischen Applaus sprang die Truppe von Butaritari plötzlich auf und eröffnete in höchst unnobler Weise für sich eine Vorstellung. Die gaffenden Blicke der Männer von Makin waren recht drollig; mit der gleichen verdutzten Würde habe ich in Europa einen Tenor so das zischende Publikum anstarren sehen; doch zu meiner Überraschung faßten sie sich bald, verzichteten auf den ungesungenen Teil ihres Balletts, nahmen ihre Plätze ein und ließen ihre unritterlichen Gegner die Sache zu Ende führen. Doch damit nicht genug. In der ersten Pause kam Butaritari wieder dazwischen; aufgebracht folgte Makin diesem Beispiel, und beide Tänzergruppen blieben stehen, klatschten fortwährend in die Hände und fielen einander bei jeder Gelegenheit in ihr Spiel. Jeden Augenblick erwartete ich, daß es zu Schlägen kommen würde; dabei war unsere Lage in der Mitte zwischen beiden strategisch äußerst unvorteilhaft. Allein die Makin-Leute besannen sich eines Besseren; bei der nächsten Unterbrechung machten sie Kehrt und marschierten hinaus. Wir folgten ihnen, einmal weil sie die wahren Künstler, dann auch weil sie die Gäste waren und man sie schäbig behandelt hatte. Ein großer Teil unserer Nachbarn tat das Gleiche, so daß sich der Gang von einem bis zum anderen Ende mit den Ausreißern füllte und der Chor von Butaritari allein zurück blieb, um zu seinem eigenen Vergnügen vor einem leeren Haus zu singen. So hatten sie zwar den Kampf gewonnen, ihr Publikum jedoch verloren. Ein Glück war es, daß niemand betrunken war; doch frage ich, wo sonst, ob betrunken oder nüchtern, hätte sich eine so aufreizende Szene abspielen können, ohne mit einer Prügelei zu enden?

Die letzte Phase und der letzte Ruhm dieses glorreichen Tages gehörten uns – dank der zweiten und wirklich unwiderruflich letzten Aufführung der »Phantome«. Rings um die Kirche hatten sich in der Dunkelheit Gruppen von Menschen gelagert, ohne irgend etwas sehen zu können; vielleicht schämten sie sich, einzutreten, sicherlich bereitete ihnen die bloße Nachbarschaft schon ein gewisses Vergnügen. Das Innere des Riesenschuppens war etwa zur Hälfte dicht gedrängt voll Menschen. In der Mitte auf dem königlichen Podium qualmte und leuchtete die Laterne; ihre trüben Strahlen fielen auf das feierliche Gesicht unseres Chinesen, der voll Biereifer eine Drehorgel drehte; ein matter Schein traf die Dachbalken und zeichnete ihre Schatten in die Deckenwölbung. Die Bilder tauchten auf der Leinwand auf und verschwanden wieder, und mit jedem neuen Bild kam eine Stille und durchlief ein Flüstern, ein Schauer und ein Rauschen die Menge, und ein Chor leiser Ausrufe wurde laut. Neben mir saß der Maat eines gestrandeten Schoners. »’Ne sonderbare Sache würden sie das in Europa oder in den Staaten finden«, meinte er, »so ’ne Vorstellung in einem Gebäude, das nur mit Endchen von Bindfaden zusammengehalten ist.«

Siebentes Kapitel. Mann und Frau

Der Händler, der an die Sitten Ostpolynesiens gewöhnt ist, muß auf den Gilbert-Inseln allerlei umlernen. Das Ridi ist ein recht dürftiges Bekleidungsstück; noch vor dreißig Jahren gingen die Frauen bis zu ihrer Heirat nackt; es ist keine zehn Jahre her, daß dieser Brauch vereinzelt noch im Schwange war, und derartige Tatsachen vermitteln, besonders wenn man sie nur vom Hörensagen kennt, einen ganz falschen Begriff von den Sitten der Gruppe. Ein sehr intelligenter Missionar schildert die Gilbert-Inseln (in ihrem früheren Entwicklungsstadium) als ein »Paradies nackter Frauen« (für die Weißen). Zum mindesten aber war es ein platonisches Paradies, in das ein Don Juan sich nur mit Lebensgefahr wagen durfte. Seit 1860 sind auf einer einzigen Insel allein vierzehn Weiße, alle aus dem nämlichen Grunde, ums Leben gekommen; alle waren dort gefunden worden, wo sie nichts zu suchen hatten, und alle wurden dafür von irgendeinem empörten Familienvater aufgespießt. Diese Zahl wurde mir von ihren vorsichtigeren und daher noch am Leben gebliebenen Genossen genannt. Die seltsame Beharrlichkeit der vierzehn Märtyrer scheint zwar auf eine Monomanie oder auf eine Epidemie romantischer Passionen zu deuten, doch ist die Ursache höchstwahrscheinlich nur Gin. Da saßen die armen Raubvögel ganz alleine in ihren Häusern neben einem offenen Faß; sie tranken; ihr Gehirn entflammte sich; so taumelten sie in das nächste, beste Haus hinein, und der rächende Pfeil traf sie in Nieren und Herz. An Stelle eines Paradieses fand der Händler einen Archipel, in dem es von wilden Ehemännern und tugendhaften Frauen wimmelte. »Natürlich ist es auch hier nicht anders als sonstwo, wenn sie ihnen wirklich den Hof machen wollen«, bemerkte recht unschuldig der Händler; allein er und seine Gefährten spürten nun mal selten Lust dazu.

Eine Tugend kann man den Händlern nicht absprechen: sie sind meist treue und gütige Gatten. Ich bin mit einigen der schlimmsten Rowdies des Pacific, mit den letzten Überlebenden der alten Schule, zusammen gekommen, und sie waren vortrefflich zu ihren eingeborenen Frauen, ja, einer war als Witwer einfach untröstlich. Die Stellung dieser Frauen ist auf den Gilbertinseln ganz besonders beneidenswert. Alle teilen die Immunität ihrer Gatten. Vergeblich läutet für sie in Butaritari die Abendglocke. Lange nachdem die vornehmen Inseldamen für die Dauer der Nacht an ihr eigenes Haus gefesselt sind, dürfen diese gesetzlich geschützten weiblichen Libertins noch durch die verödeten Straßen laufen und kichern, oder in der Dunkelheit zum Baden gehen. Das Warenlager ihrer Gatten steht ihnen zur Verfügung; sie gehen wie die Fürstinnen gekleidet und speisen tagtäglich die delikatesten Leckerbissen, Büchsenfleisch usw. Und sie, die unter ihresgleichen vielleicht gar keinen Rang einnehmen würden, sitzen jetzt mit Kapitänen am Tisch und werden an Bord der Schoner gefeiert. Fünf dieser privilegierten Damen waren vorübergehend unsere Nachbarinnen. Vier davon waren hübsche, schalkhafte Frauenzimmerchen, verspielt wie die Kinder und wie Kinder zum Schmollen aufgelegt. Tagsüber trugen sie Kleider, aber des Nachts bezeigten sie eine gewisse Neigung, das fremde Zeug abzustreifen und sich in ihrem ursprünglichen Ridi auf dem Grase zu tummeln und zu vergnügen. Karten wurden tagaus tagein gespielt, und Muscheln dienten dabei als Zahlmarken; der Verlauf des Spieles wurde häufig durch Mogeln gestört, und jede Runde löste sich zum Schluß (besonders wenn ein Mann dabei war) unfehlbar in eine Kabbelei um die Zahlmarken auf. Die fünfte war eine Matrone. Es war ein Bild für Götter, sie Sonntags mit einem Sonnenschirm in der Hand, bewaffnet mit einer patentierten Saugflasche, gefolgt von einem Kindermädchen, das Baby unter einem importierten Hut begraben, in die Kirche segeln zu sehen. Der Gottesdienst wurde durch ihr fortgesetztes Überwachen und Tadeln des Mädchens belebt. Unmöglich konnte man den Gedanken unterdrücken, daß das Baby eine Puppe und die Kirche ein europäisches Kinderspielzimmer darstellte. Alle diese Frauen waren legitim verheiratet. Zwar stellte es sich nachträglich heraus, daß der Trauschein der einen, den sie uns stolz zeigte, »nur für eine Nacht« gültig war, und daß ihr hoher Herr die Freiheit hatte, sie »am nächsten Morgen zur Hölle zu schicken«; aber sie wußte ja nichts davon, und es ging ihr trotz dieses gemeinen Tricks nicht die Spur schlechter. Eine andere, erzählte man mir, wurde über einem widerrechtlich nachgedruckten Werke von mir getraut, das den Zweck genau so gut wie eine Familienbibel erfüllte. Trotz aller dieser Lockungen, trotz der gesellschaftlichen Erhöhung, der exquisiten Nahrung und Kleidung, der relativen Entlastung von der Arbeit und der legitimen, auf einer unautorisierten Ausgabe vollzogenen Eheschließung muß der Händler mitunter lange suchen, bis er ein Gespons findet. Während ich mich auf jener Gruppe aufhielt, kam ich mit einem Händler zusammen, der sich schon seit acht Monaten auf der Suche befand und immer noch Junggeselle war. Innerhalb der rein einheimischen Gesellschaft waren die ehemaligen Gesetze streng, wenn auch nicht ohne eine gewisse hochherzige Moral. Heimlicher Ehebruch wurde mit dem Tode bestraft; mit Recht galt eine öffentliche Entführung daneben als sittlich, und es stand lediglich eine Geldstrafe darauf. Anscheinend wurde nur der männliche Ehebrecher bestraft. Es galt als Anstandsregel, daß Eifersüchtige sich erhängen; eine eifersüchtige Frau dagegen verfügte über ein ganz anderes Mittel – sie biß ihre Rivalin. Vor zehn oder zwanzig Jahren war es ein Kapitalverbrechen, das Ridi einer Frau hochzuheben; auch heute noch wird ein solches Vergehen mit einer schweren Geldstrafe geahndet, und das Kleidungsstück selbst ist ein geheiligtes Symbol. Nehmen wir an, ein Stück Land wird auf Butaritari umstritten: derjenige Prätendent, der zuerst ein Ridi an den Tapupfosten hängt, hat den Streitfall gewonnen, da keiner außer ihm selbst es fortnehmen oder berühren darf.

Das Ridi war nicht das Abzeichen der Frau, sondern der Gattin, nicht des Geschlechts, sondern der sozialen Stellung. Gleichzeitig war es bei Sklaven der Halfter, der Verkaufsstempel. Es scheint, daß die Ehebrecherin verschont wurde; hatte man den Gatten beleidigt, so war es für ihn nur ein geringer Trost, seine Zugtiere zur Fleischbank zu schicken. Karaiti nennt seine acht Frauen auch heute noch »seine Pferde«, nachdem ein Händler ihm einmal die Tätigkeit dieser Tiere auf einer Farm erklärt hat, und Nanteitei vermietete seine Frauen, um Maurerarbeit zu verrichten. Der Gatte besaß, zumal wenn er von hohem Range war, seinen Frauen gegenüber die Gewalt über Leben und Tod; und die Frauen beeilten sich, wenn sie sich eine Todsünde hatten zuschulden kommen lassen, eine Bußformel auszusprechen – I Kana Kim. Diese Worte haben so viel Kraft, daß selbst ein zum Tode verurteilter Verbrecher, wenn er sie an einem gewissen Tage vor dem König, der ihn gerichtet hat, ausspricht, auf der Stelle freigelassen werden muß. Sie enthalten gewissermaßen ein Angebot der Unterwerfung. Ich gebe hier eine Szene wieder, die sich zwischen einem Händler und seiner Frau, einer Gilbertinerin, abspielte, wie sie mir von dem Gatten, der heute einer der ältesten Ansiedler ist, damals jedoch noch Neuling auf der Gruppe war, berichtet wurde.

»Geh und mache Feuer,« sagte der Händler, »ich werde das Öl holen und uns Fische kochen.«

Die Frau grunzte ihn nach Inselmanier an.

»Ich bin kein Schwein, daß du mich angrunzest«, erklärte er.

»Ich weiß, daß du kein Schwein bist«, entgegnete die Frau, »aber ich bin auch nicht deine Sklavin.«

»Natürlich bist du nicht meine Sklavin, und wenn du nicht bei mir bleiben willst, dann kehrst du wohl am besten zu deiner Familie zurück«, lautete seine Antwort. »Inzwischen gehst du aber und machst Feuer an, und wenn ich das Öl geholt habe, werde ich uns Fische kochen.«

Sie tat, als gehorchte sie ihm; als jedoch der Händler kurz darauf nach ihr schaute, hatte sie ein so großes Feuer angezündet, daß der Küchenschuppen zu brennen anfing.

»I Kana Kim«, schrie die Frau, als sie ihn kommen sah; er aber hörte nicht auf sie und schlug sie mit einer Pfanne. Der Stiel drang in ihren Schädel, Blut spritzte hervor, man hielt sie für tot, und die Eingeborenen umlagerten drohend das Haus. Ein anderer Weißer war zugegen, ein Mann von älterer Erfahrung. »Sie werden es noch erreichen, daß man uns beide ermordet – wenn Sie so fortfahren«, schrie er. »Sie hat I Kana Kim gesagt!« Hätte sie das nicht getan, er hätte sie mit einem Kessel niederschlagen können. Nicht der Schlag war ein Verbrechen, sondern die Nichtachtung der anerkannten Formel.

Polygamie, die rigorose Unantastbarkeit der Ehefrauen, ihre halbsklavische Behandlung, ihre Absperrung in dem königlichen Harem, ja, selbst ihr Privileg, beißen zu dürfen, deuten eigentlich auf mohammedanische Gesellschaftsformen hin und könnten vermuten lassen, daß man auch hier an die Seelenlosigkeit der Frau glaubt. Dem ist aber durchaus nicht so. Das alles ist nur Schein. Hat man dieses Extrem in dem einen Hause studiert, so kann man im Nachbarhaus auf das Gegenteil stoßen: dort ist vielleicht die Frau die Herrin, der Mann aber nur der erste ihrer Vasallen. Die Macht liegt nicht bei dem Mann oder bei der Frau als solchen, sondern wurzelt vielmehr in dem Häuptling, sei er männlichen oder weiblichen Geschlechts, in dem, der die Länder des Clans geerbt hat und der der Sippe gegenüber an Eltern Statt steht, ihre Dienste beansprucht und für ihre Geldstrafen haftet. Es gibt lediglich eine Quelle der Macht und Würde – die Rangstufe. Der König heiratet einen weiblichen Häuptling – sie wird sofort seine Hörige und muß eigenhändig an Messrs. Wightmanns Steg mitarbeiten. Der König läßt sich von ihr scheiden; sofort gewinnt sie ihren alten Rang und ihre Macht zurück. Sie heiratet einen hawaiischen Matrosen, und siehe da – der Mann ist ihr Lakai, den sie nach Belieben vor die Tür setzen kann. Ja, niedrig geborene Gatten werden sogar körperlich zurechtgewiesen und müssen gleich gehorsamen, erwachsenen Kindern die Züchtigung ertragen.

Wir standen mit einer derartigen Familie auf intimem Fuße, mit Nei Takauti und Nan Tok‘; ich nenne als erste die Dame, da es gar nicht anders geht. Eine ganze Woche lang, während wir gewissermaßen in einem Narrenparadiese lebten, war meine Frau allein auf der Suche nach Muscheln an den Meeresstrand der Insel gegangen. Ohne Zweifel war sie dort nicht sicher, denn eines Tages merkte sie, daß ein Mann und eine Frau sie beobachteten. Sie mochte tun, was sie wollte, ihre Wächter behielten sie im Auge, und als es Abend wurde und jene dachten, sie wäre nun lange genug dort geblieben, nahmen sie sich ihrer an und bedeuteten ihr mit Zeichen und in gebrochenem Englisch, nach Hause zu gehen. Unterwegs zog die Dame eine Tonpfeife aus dem Ringloch ihres Ohrläppchens, der Gatte steckte die Pfeife an und überreichte sie meiner unglücklichen Frau, die nicht wußte, wie sie die unbequeme Gunst zurückweisen sollte, und als alle zusammen unser Haus erreicht hatten, setzte sich das Paar neben meine Frau auf den Boden und feierte die Rückkehr durch ein Gebet. Von jenem Augenblick an waren sie die anerkannten Freunde der Familie; zweimal täglich brachten sie uns wunderschöne weiße Blumengirlanden, wie es dort Sitte ist; allabendlich kamen sie zu Besuch, und häufig nahmen sie uns in ihre eigene Maniap‘ mit, wobei Takauti meine Frau, wie ein Kind das andere, an der Hand führte.

Nan Tok‘, der Gatte, war jung, außergewöhnlich hübsch, von gutmütigstem, heiterstem Temperament und litt in seiner etwas heiklen Stellung ein wenig an unterdrückter Lebensfreude. Nei Takauti, die Gattin, alterte bereits; ihr erwachsener Sohn aus erster Ehe hatte sich erst vor kurzem vor ihren eigenen Augen aus Verzweiflung über einen wohlverdienten Tadel erhängt. Sie war wohl niemals hübsch gewesen, aber sie hatte einen prachtvollen Charakterkopf und düstere, feurige Augen. Sie war eine sehr hohe Häuptlingin, doch seltsamerweise von kleiner, schlanker, sehniger Figur, mit feinen, schmalen Händen und muskulösem, dürrem Hals; das bedeutet für eine Person von Rang eine große Ausnahme. Ihre Grande Toilette bestand unfehlbar aus einem weißen Hemd, als Schmuck trug sie in ihrem Haar und in ihren ungeheuer großen Ohrringlöchern grüne Blätter, manchmal auch weiße Blüten. Der Gatte dagegen wechselte sein Gewand so oft wie ein Chamäleon. Was immer für eine hübsche Sache meine Frau Takauti schenkte – eine Schnur Glasperlen, ein Band, ein Stück bunten Stoffes – das trug am nächsten Tage Nan Tok‘ an seiner Person. Es war klar, daß er nur als Kleiderständer diente; er trug eine Livree, mit einem Wort, er war die Frau seiner Frau. Ja, sie hatten in allen Einzelheiten die Rollen getauscht; der Gatte war es, der sich in Krankheitsfällen als dienender Engel entpuppte, während seine Frau die sprichwörtliche Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit des Mannes zeigte. Hatte Nei Takauti Kopfschmerzen, so floß Nan Tok‘ vor Aufmerksamkeit und Bedauern über. Als der Gatte sich erkältet hatte und rasende Zahnschmerzen bekam, nahm seine Frau außer mit einem verächtlichen Grunzen keinerlei Notiz davon. Es ist stets Pflicht der Frau, die Pfeife zu stopfen und anzuzünden; Nei Takauti pflegte die ihrige stillschweigend dem ehelichen Pagen zu reichen, obwohl sie sie selbst trug, als vertraue sie ihm nicht ganz. Ebenso verwaltete sie das Geld, aber er war es, der die Einkäufe machen mußte, ängstlich besorgt, ihr zu gefallen. Eine Wolke auf ihrer Stirn verdüsterte augenblicklich sein strahlendes Gesicht, und bei einem ihrer frühsten Besuche in Nei Takautis Maniap‘ entdeckte meine Frau, daß der Gatte alle Ursache hatte, auf der Hut zu sein. Nan Tok‘ hatte einen Freund bei sich, einen leichtsinnigen jungen Kerl in seinem eigenen Alter, und sie hatten sich gegenseitig in eine jener ausgelassenen Stimmungen hineingesteigert, in denen man nur allzu leicht vergißt, an die Folgen seiner Handlungen zu denken. Nei Takauti nannte meiner Frau ihren Namen. Im gleichen Augenblick hielt Nan Tok‘ zwei Finger hoch, sein Freund tat das gleiche, und beide freuten sich halb tot über ihre Schlauheit. Es war klar, daß die Dame zwei Namen führte, und aus der Art von ihres Gatten Heiterkeit sowie aus dem Zorn, der ihr Gesicht verfinsterte, mußte etwas an dem zweiten Namen nicht richtig sein. Darauf sprach ihn der Gatte aus; eine wohlgezielte Kokosnuß von der Hand seiner Frau traf ihn an der Schläfe, und die Stimmen sowie die Heiterkeit der beiden jungen Herren waren für diesen Tag verstummt.

Die Einwohner Ostpolynesiens geraten niemals in Verlegenheit, Ihre Etikette ist absolut und umfassend; in jeder Lebenslage schreibt sie ihnen vor, was sie tun sollen, und wie sie eine Sache zu verrichten haben. Die Gilbertiner sind anscheinend freier und müssen dafür (ähnlich wie wir) durch häufige Verlegenheit zahlen. So ging es nicht selten diesem verkehrten Ehepaare. Einmal reichten wir ihnen, als sie bei uns zu Besuch waren, eine Pfeife und ein Paket Tabak, doch als sie geraucht hatten und danach aufbrechen wollten, um nach Hause zu gehen, standen sie plötzlich dem Probleme gegenüber: sollten sie den Rest des Tabaks mitnehmen oder liegen lassen? Das Päckchen wurde in die Hand genommen und wieder weggelegt, es wurde hin und her gereicht und das Für und Wider erörtert, bis die Frau abgehärmt aussah und der Mann gealtert. Schließlich nahmen sie es doch mit, aber ich gehe jede Wette ein, daß sie, noch ehe sie das Grundstück verlassen hatten, überzeugt waren, falsch gehandelt zu haben. Ein andermal gaben wir jedem von ihnen eine große Tasse Kaffee, und Nan Tok‘ trank die seinige mit Schwierigkeiten und Widerwillen aus. Nei Takauti kostete davon und beschloß nichts mehr zu trinken; da sie es aber für einen Bruch der Etikette hielt, die Tasse ungeleert wegzustellen, befahl sie ihrem ehelichen Knecht, den Rest zu erledigen. »Ich habe getrunken, was ich konnte, ich kann nicht mehr, es ist physisch unmöglich«, stand auf seinem Gesicht geschrieben; doch seine strenge Vorgesetzte wiederholte ihren Befehl durch heimliche, gebieterische Zeichen. Armer Kerl! Aus reiner Menschenliebe kamen wir ihm zu Hilfe und befreiten ihn von der Tasse.

Ich kann nicht anders, ich muß über diesen komischen Haushalt lächeln, und doch gedenke ich der guten Leutchen mit Liebe und Hochachtung. Ihre Aufmerksamkeit war einfach rührend. Blumengirlanden werden zum Beispiel hochgeschätzt; die Blüten dazu müssen mühsam von allen Ecken der Insel zusammengetragen werden, und obwohl ihnen viele Diener zur Verfügung standen, sahen wir das Paar doch häufig selbst suchen gehen und beobachteten, wie die Frau die Kränze eigenhändig wand. Es war auch nicht Herzlosigkeit, sondern lediglich jene übliche Mißachtung Gatten gegenüber, die Nei Takauti die Leiden Nan Toks ignorieren ließ. Als beispielsweise meine Frau krank wurde, zeigte Nei Takauti sich als unermüdliche, gütige Pflegerin; ja, zur unaussprechlichen Verlegenheit meiner Frau waren beide, er wie sie, nicht mehr aus dem Krankenzimmer hinauszuschlagen. Diese barsche, tüchtige, herrschsüchtige alte Dame mit den wilden Augen war tiefer, zärtlicher Gefühle fähig; ihren Stolz auf ihren jungen Gatten verbarg sie anscheinend aus Furcht, ihn eitel machen zu können, wenn jedoch die Rede auf ihren toten Sohn kam, nahm ihr Gesicht einen tieftragischen Ausdruck an. Ja, in den Einwohnern der Gilbertinseln habe ich meiner Meinung nach eine Kraft der Vernunft und der Empfindung entdeckt, die sie (gleich ihrer rauhen, unschönen Sprache) von ihren östlichen Brüdern scharf unterscheidet.

Zweites Kapitel. Der König von Apemama: die Gründung von Äquatorstadt

Dem ersten Zusammentreffen mit Tembinok‘ hatte unsere ganze Gesellschaft mit Unruhe, ja fast mit Besorgnis entgegengesehen. Wir wollten eine Gunst von ihm erbitten; es galt also, ihm in der richtigen, höfischen Haltung eines Bittstellers zu nahen und ihm zu gefallen – oder wir mußten den Hauptzweck unserer Reise ausgeben. Unser Wunsch war es, auf Apemama landen und uns niederlassen zu dürfen, um den merkwürdigen Charakter des Mannes und die seltsamen (und ziemlich unberührten) Sitten der Insel aus der Nähe zu studieren. Auf allen anderen Südseeinseln darf ein Weißer mit seiner Kiste landen und bis an sein Lebensende wohnen bleiben, falls er dazu Lust hat und das nötige Geld oder ein Geschäft besitzt; ich wüßte nicht, was ihn sonst hindern könnte. Apemama dagegen ist ein unzugängliches Eiland, das mit verschlossenen Toren mitten im Meere daliegt, und der König selbst steht wie ein wachsamer Beamter an der Sperre, um unliebsame Gäste zu mustern und abzuweisen. Daher auch der Reiz, den unser Unternehmen für uns besaß: nicht nur weil es mit Schwierigkeiten verbunden war, sondern weil diese gesellschaftliche Quarantäne, die an sich schon eine Merkwürdigkeit bedeutete, andere Merkwürdigkeiten am Leben erhalten hatte.

Tembinok‘ ist wie die meisten Tyrannen konservativ und begrüßt, auch wie die meisten Tyrannen, jede neue Idee mit Begeisterung, vorausgesetzt, daß sie nicht auf dem Gebiete der Politik liegt und auf praktische Reformen abzielt. Als die Missionare erschienen und behaupteten, sie hätten die Wahrheit entdeckt, empfing er sie mit Freuden, wohnte dem Gottesdienste bei, lernte öffentlich beten und ließ sieh als Lernender zu ihren Füßen nieder. So hat er durch Ausnutzung der sich ihm bietenden Gelegenheiten auch Lesen, Schreiben, Rechnen und sein sonderbares, höchst persönliches Englisch gelernt, das so sehr von dem üblichen »Beach de Mar« abweicht und so viel unklarer, ausdrucksvoller und knapper ist. Nachdem er also seine Ausbildung vollendet hatte, begann er die Ankömmlinge kritisch zu betrachten. Wie Nakaeia von Makin ist er ein Freund des Schweigens; gleich einem Riesenohr schwebt er brütend über der Insel, unterhält Spione, die ihm täglich Bericht erstatten, und zieht Untertanen, die singen, denen, die reden, vor. Unter diesen Umständen war es gar nicht zu vermeiden, daß er früher oder später an dem Gottesdienste, vor allem an der Predigt, Anstoß nahm. »Hie mein Insel, hie splechen ie«, bemerkte er eines Tages zu mir. »Mein Häuplinge, die niß splechen – die tun, was ie sagen.« Er richtete seinen Blick auf den Missionar, und was mußte er entdecken? »Ie sehen Kanake splechen in glosse Haus«, meinte er mit einem starken Unterton von Sarkasmus. Trotzdem duldete er dies aufrührerische Schauspiel und hätte es vielleicht bis auf den heutigen Tag geduldet, wenn nicht ein neuer Streitpunkt entstanden wäre. Um seine eigenen Worte zu gebrauchen – er sah noch einmal hin, und der Kanake begnügte sich nicht nur mit Reden, nein, schlimmer noch, er baute sich ein Koprahaus. Das berührte aber die ureigensten Interessen des Königs: sein Einkommen und seine Vorrechte waren bedroht. Außerdem war er der Ansicht, die viele mit ihm teilen, daß Handel treiben mit dem Berufe eines Missionars unvereinbar sei. »Wenn Mitonar denken ›guta Mann‹: dann seh gut. Wenn eh denken ›Kopla‹: niß gut. Iß ihn ssicken foht Ssiff.« Das war seine kurze Fassung der Geschichte der Mission auf Apemama. Dergleichen Deportationen kommen nicht selten vor. »Iß ihn ssicken foht Ssiff«, so lautet der Epitaph vieler Leute, und seine Majestät bezahlt dem Verbannten das Reisegeld bis zur nächsten Station. So mietete er verschiedene Male, da er eine leidenschaftliche Vorliebe für europäisches Essen hatte, für seinen Haushalt einen weißen Koch, nur um ihn regelmäßig wieder deportieren zu lassen. Die Köche schwören, daß sie niemals ihren Lohn bekommen hätten, er dagegen behauptet, sie hätten ihn unerträglich beschwindelt – beide Parteien werden recht haben. Bedeutsamer ist der Fall eines Agenten, der (wie man mir erzählte) von einer Handelsfirma eigens hinausgeschickt wurde, um sich bei dem König einzuschmeicheln, wenn möglich Premierminister zu werden und den Koprahandel zugunsten seiner Arbeitgeber zu betreiben. Er erhielt in der Tat die Erlaubnis zu landen, wandte alle seine Künste an, wurde geduldig von Tembinok‘ angehört, glaubte sich schon dicht am Ziel und – siehe da! Als das nächste Schiff in Apemama anlief, wurde der künftige Premierminister in ein Boot geworfen, an Bord expediert, erhielt feine Fahrkarte in die Hand gedrückt – und Adieu! Doch es ist überflüssig, weitere Beispiele anzuführen; man koste den Pudding, wenn man seine Güte kennen lernen will. Als wir nach Apemama kamen, war von den vielen Weißen, die versucht hatten, sich auf jenem reichen Markte eine Position zu schaffen, ein einziger geblieben – ein schweigsamer, nüchterner, einsamer, geiziger Menschenfeind, von dem der König bemerkte: »Ie glauben, eh gut; eh niß splechen.«

Von Anfang an machte man mich darauf aufmerksam, daß uns unser Vorhaben vielleicht nicht glücken würde; dennoch ließ ich mir die Wirklichkeit nicht träumen. Tatsächlich hielt man uns vierundzwanzig Stunden in der Schwebe und hätte uns zum Schluß um ein Haar abgewiesen. Kapitän Reid hatte seinen Stolz darein gesetzt, uns zu helfen; kaum war daher der König an Bord gekommen und die Henetti-Frage freundschaftlich erledigt, als unser Freund sich schon beeilte, ihm meine Bitte sowie eine Schilderung meiner Vorzüge vorzutragen. Der Köder von dem Sohn der Königin Victoria war für Butaritari gut genug; hier hätte er nicht verfangen, und so posierte ich denn als einer der »Alten Leute Englands«, eine Persönlichkeit voll tiefen Wissens, die eigens in Tembinoks Reich gekommen wäre, um voller Eifer der ebenso eifrigen Königin Victoria über ihn zu berichten. Der König antwortete indes kein Sterbenswörtchen und ging sehr bald zu einem anderen Thema über. Ebensogut hätte er gar nichts zu hören oder zu verstehen brauchen; wir merkten jedoch später, daß er uns eifrig studierte. Während des Essens betrachtete er uns einzeln und in Gruppen und heftete auf jeden etwa eine Minute lang den gleichen harten, gedankenvollen Blick. Währenddessen schien er sich selbst, die Gesellschaft und das Gespräch gänzlich vergessen zu haben und vollkommen in Gedanken versunken dazusitzen; sein Blick war ganz unpersönlich: genauso habe ich Porträtmaler ihre Studienobjekte prüfend betrachten sehen. Die Grunde, weswegen er die Weißen hatte deportieren lassen, waren viererlei: Betrug, Einmischung in den Koprahandel, der die Quelle seines Reichtums darstellt, »Splechen«, das seine Macht antastete, und politische Intrigen. Ich fühlte mich so unschuldig wie ein kleines Kind, aber wie sollte ich ihm das zeigen? Kopra hätte ich nicht geschenkt haben mögen: wie konnte ich nur diese Eigenschaft in meiner Haltung bei Tische ausdrücken? Die übrige Gesellschaft teilte meine Unschuld wie meine Verlegenheit, und nicht minder meine Enttäuschung, als Tembinok‘ nach zwei Mahlzeiten und den freien Momenten, die ihm für derartige Musterungen übrig blieben, ohne ein Wort das Schiff verließ. Am folgenden Morgen das gleiche ungenierte Studium, das gleiche Schweigen, und auch der zweite Tag ging bereits zur Neige, bevor man mir mitteilte, daß ich die Probe bestanden hätte. »Ie sehen dein Auge. Du gute Mann. Du niß lügen«, erklärte der König – für einen Romanschriftsteller freilich ein etwas zweifelhaftes Kompliment. Später setzte er mir dann auseinander, daß er einen Menschen nicht nur nach den Augen, sondern auch nach dem Munde beurteilte. »Wenn iß sehen Mann«, sagte er, »ie niß wissen gute Mann, slimme Mann. Ie sehen Auge, ie sehen Mund. Dann ie wissen. Sehen Auge, sehen Mund«, wiederholte er. In unserem Falle hatte sogar der Mund das meiste dabei zu tun, denn unseren Reden verdankten wir es in erster Linie, daß wir auf der Insel zugelassen wurden, da sich der König (wie sich später herausstellte, wohl mit Recht) versprach, eine Menge nützlicher Kenntnisse von uns zu erlernen.

Die Bedingungen unserer Zulassung lauteten folgendermaßen: Wir sollten uns eine passende Stelle aussuchen, und der König würde uns eine Stadt aufbauen. Sein Volk sollte für uns arbeiten, aber nur der König durfte befehlen. Einer seiner Köche sollte täglich zu uns kommen, um dem meinigen zu helfen und von ihm zu lernen. Falls unsere Vorräte sich erschöpften, würde der König uns versorgen und dafür bei Wiederkehr der »Äquator« bezahlt werden. Dagegen sollte er mit uns essen, wann immer er Lust hätte; wenn er aber zu Hause blieb, mußte ihm ein Gericht von unserer Tafel geschickt werden; außerdem verpflichtete ich mich feierlich, seinen Untertanen weder Alkohol noch Geld zu geben (was zu besitzen ihnen verboten war), und auch keinen Tabak, der ihnen nur von der Hand des Königs verabreicht werden durfte. Ich kann mich noch erinnern, daß ich gegen diesen letzten, rigorosen Artikel protestierte; wenigstens wurde er später dahin abgeändert, daß ich die Erlaubnis erhielt, einem Manne, wenn er für mich arbeitete, an Ort und Stelle ein Pfeifchen Tabak zu geben, er durfte jedoch keinen Tabak mitnehmen.

Der Bauplatz von Äquatorstadt – wir tauften unsere Stadt nach unserem Schoner – war sehr bald gewählt. Die nächstgelegenen Ufer der Lagune sind windig und blendend sonnig: selbst Tembinok‘ empfindet es als eine Erleichterung, mit einer blauen Brille bewaffnet auf seiner Terrasse herumzutappen. Wir flohen daher die Nachbarschaft der roten »Konjunktiva«, des eiternden Augapfels, und die Bettler, die den Fremden auf Schritt und Tritt verfolgen und um Augenwasser angehen. Hinter der Stadt ist die Gegend abwechslungsreich, mitunter frei, sandig, uneben, mit einzelnen Zwergpalmen bestanden, dann wieder von tiefen und flachen Tarogräben durchzogen, und stellt je nach der Größe der Pflanzen eine sandige Gerberei oder einen grünenden, von Alleen durchschnittenen Garten dar. Ein Pfad führt zum Meere hinunter und steil aufwärts zum Hauptplateau der Insel, das den übrigen Boden um zwanzig bis dreißig Fuß überragt (obwohl Findlay nur fünf angibt); und dicht unter dem Gipfel der Kuppe, grade dort, wo die Kokospalmen eine anständige Höhe zu erreichen beginnen, fanden wir eine Gruppe Pandanus und ein Fleckchen Erde, das angenehm mit grünem Unterholz bedeckt war. Nicht weit davon befanden sich unter einem ländlichen Verschlag ein Brunnen und in noch größerer Nähe ein Teich, in dem wir unsere Wäsche waschen konnten. Der Platz war außerdem windstill, vor der Sonne geschützt und außer Sichtweite des Dorfes. Man zeigte ihn dem König, und er versprach bis zum nächsten Morgen die Stadt zu liefern.

Der Morgen kam. Mr. Osbourne ging an Land, fand daß sich nichts verändert hatte, und wandte sich mit seiner Beschwerde an den König. Tembinok‘ hörte ihn an, erhob sich, rief nach einem Winchester-Gewehr, trat vor die königliche Palisade und feuerte zweimal in die Luft. Ein Schuß in die Luft ist das erste Warnungssignal auf Apemama; in diesem schweigsamen Lande besitzt er die Kraft einer Proklamation, und seine Majestät bemerkte freundlich, das würde seine Arbeiter »meh‘ lustie« machen. Folglich hatten die Männer sich in weniger als einer halben Stunde versammelt, die Arbeit wurde begonnen, und man sagte uns, wir könnten unser Gepäck, wann wir Lust hätten, an Land bringen.

Es wurde zwei Uhr nachmittags, bevor das erste Boot an den Strand gezogen war, und die lange Prozession von Kisten, Koffern und Säcken sich mühsam durch die Sandwüste nach Äquatorstadt hinaufwand. Der Pandanushain gehörte bereits der Vergangenheit an. Feuer umgab den grünen Busch, und Rauch stieg aus ihm auf. Rings im weiten Umkreis krachten die Äxte. Gerade die Vorteile, denen zuliebe wir den Ort gewählt hatten, hatte der König als erstes ausmerzen lassen, und inmitten dieser Zerstörung standen bereits eine ziemlich große Maniap‘, sowie ein kleines, geschlossenes Haus. Ganz in der Nähe war eine Matte für Tembinok‘ ausgebreitet, und da saß er und beaufsichtigte die Arbeiten, ganz in Kardinalrot gekleidet, mit einem Tropenhelm auf dem Kopf, einer Meerschaumpfeife im Munde und einer Gattin als Hüterin der Streichhölzer und des Tabaks hinter seinem Rücken ausgestreckt. Zwanzig bis dreißig Fuß vor ihm hockte die Mehrzahl der Arbeiter auf dem Boden; ein Teil des Buschs war verschont geblieben, und hier saß, fast bis zu den Schultern darin begraben, das gemeine Volk – ein Halbkreis brauner Gesichter und schwarzer Köpfe, die aufmerksamen Augen starr auf seiner Majestät Gesicht geheftet. Lange Pausen entstanden, während der die Untertanen lediglich gafften und der König rauchte. Dann pflegte Tembinok‘ seine Stimme zu erheben und kurz und schrill zu sprechen. Niemals kam die Antwort in Worten, war die Rede jedoch scherzhaft gewesen, so erscholl statt einer Erwiderung ein diskretes, unterwürfiges Lachen – ein Lachen, wie wir alle es von der Schule her kennen –, hatte er aber einen Befehl ausgegeben, dann schnellte die Arbeitskolonne auf die Füße und machte sich an ihr Werk. Zweimal verschwand sie so und kehrte mit weiteren Bausteinen für die Stadt, einem zweiten Haus und einer zweiten Maniap‘, zurück. Es war seltsam, die Maniap‘ lautlos von weither durch die Stämme der Kokospalmen auf uns zuwandeln zu sehen: anfänglich hatte es den Anschein, als schwimme sie durch die Luft, aber im Näherkommen tauchten unter ihrem Giebel viele Dutzende von nackten Beinen auf. An der ganzen Angelegenheit war ein sklavischer Gehorsam nicht weniger auffallend als sklavische Trägheit. Der Klang einer tödlichen Waffe hatte diese Sklaven zusammenberufen; der Mann, der sie beaufsichtigte, war der unumstrittene Herr ihres Lebens, aber was ihre Eile anbetraf, so hätten sie ebensogut eine Schar amerikanischer Hotel-Clerks sein können, nur daß sie höflicher waren. Der Zuschauer fühlte eine gewisse, wenn auch ungreifbare Lässigkeit heraus, die den Kapitän eines schmucken Handelsschiffes veranlaßt hätte, sich die Haare auszuraufen.

Trotzdem wurde das Werk fertig. Bei Anbruch der Dämmerung zog sich seine Majestät zurück, die Stadt war gegründet, die Arbeit vollendet, ein neuer und rauherer Amphion hatte sie kraft zweier Büchsenschüsse aus dem Nichts gerufen. Am folgenden Morgen erfreute uns der gleiche Zauberer durch ein weiteres Wunder: eine mystische Rampe schloß uns ein, so daß der Weg, der an unserer Tür vorbeiführte, plötzlich unpassierbar wurde und die Bevölkerung, die am anderen Ende der Insel etwas zu erledigen hatte, gezwungen war, einen weiten Bogen zu machen. Wir aber saßen in durchsichtiger Abgeschlossenheit, sehend, gesehen, aber unnahbar wie Bienen in einem gläsernen Stock da. Das äußerliche, sichtbare Zeichen dieses Mirakels bestand aus nichts mehr und nichts weniger als ein paar zerfetzten Girlanden von Kokosblättern, die um die Stämme der umstehenden Palmen geschlungen waren, deren Bedeutung jedoch in der allgewaltigen, heiligen Macht des Tapu und der Gewehre Tembinok’s ruhte.

Wir weihten unsere improvisierte Stadt noch am gleichen Abend durch die erste Mahlzeit ein. Zwei Monate wollten wir an unserem neuen Wohnorte bleiben, und sobald wir ihn nicht mehr brauchten, sollte er, ganz wie er entstanden war, innerhalb von Tagesfrist wieder verschwinden. Seine Elemente mußten dorthin zurückkehren, woher sie gekommen waren; das Tapu wurde aufgehoben, der Verkehr auf der Straße wieder eröffnet werden. Sonne und Mond sollten vergeblich zwischen den Palmen nach dem geschwundenen Werke spähen, und die Winde über einen leeren Bauplatz fegen. Und doch schien dies ganze Gebilde, das jetzt nur noch als eine Episode in unseren Erinnerungen weiterlebt, für Jahre gebaut, ja, über die Maßen dauerhaft. Es war ein äußerst rühriges Dörfchen. Die eine Maniap‘ diente uns als Eßzimmer, die andere als Küche. Die Häuser wurden nur zum Schlafen gebraucht. Sie waren nach dem bewährten Apemama-Plan konstruiert, auf Grund dessen bei weitem die besten Häuser in der ganzen Südsee entstehen und lagen etwa drei Fuß über dem Erdboden erhöht. Die Seitenwände bestanden aus geflochtenen Matten, die man hochheben konnte, um Licht und Luft den Eintritt zu gestatten, und die, heruntergelassen, Wind und Regen aussperrten: luftig, hygienisch, sauber und wasserdicht. Außerdem hatten wir eine ganz fabelhafte Henne; meiner Erfahrung nach ein einzigartiges Exemplar, denn gelegentlich legte sie auch Eier. Dicht am Hause lag ein Garten, in welchem meine Frau Salat und Schalotten zog. Der Salat wurde von dem Huhn verschlungen – und sollte ihm schlecht bekommen. Die Schalotten jedoch gelangten blattweise auf die Tafel und wurden mit dem Genuß und dem Behagen verzehrt, als wären sie Pfirsiche. Toddy und grüne Kokosnuß bekamen wir täglich geliefert, und einmal schenkte uns der König Fische, ein anderes Mal sogar eine Schildkröte. Manchmal schossen wir am Strande sogenannte Kiebitze, manchmal auch wilde Hühner im Busch. Das übrige Essen wurde aus Konservenbüchsen geschöpft.

Unsere Beschäftigungen waren zahlreich. Während ein Teil der Gesellschaft aus die Skizzenjagd ging, hämmerten Mr. Osbourne und ich einen Roman zurecht. Wir lasen einander Gibbon und Carlyle vor, bliesen Flageolett, zupften Gitarre, photographierten im Sonnenlicht, bei Mondschein, bei Blitzlicht, und manchmal spielten wir auch Karten. Ein Teil unseres Nichtstuns ging auf die wirkliche Jagd drauf. Ich selbst habe ganze Nachmittage mit der aufregenden aber gänzlich harmlosen Beschäftigung des Pistolenschießens nach allerlei geflügeltem Getier verbracht; ein Glück nur, daß sich bessere Schützen unter uns befanden, und daß der König uns eine passendere Waffe in Gestalt eines ausgezeichneten Jagdgewehres lieh, sonst wäre es um unsere magere Kost noch schlechter bestellt gewesen.

Die richtige Zeit, unsere Stadt zu besichtigen, war aber des Nachts, wenn der Mond am Himmel stand, die Lampen angezündet waren und im Küchenhaus noch Feuer brannte. Wir litten unter einer Plage von Fliegen und Moskitos, die ein würdiges Gegenstück zu den ägyptischen Plagen war; unser Eßtisch, den wir (wie alle unsere Möbel) vom König entliehen hatten, mußte ständig unter einem Netzzelt stehen, das unsere Zitadelle, unsere einzige Zufluchtsstatt, war. Nachts glühte der Platz vor Helligkeit und strahlte und leuchtete unter dem Giebel in das Dunkel hinaus wie eine monströse Lampe unter ihrem Schirm. Unsere Schlafräume, deren Wände in den mannigfachsten Ebenen durcheinander ragten, warfen seltsame, eckige Lichtreflexe in die Nacht. In der bedachten, offenen Küche sah man Ah Fu zwischen den Töpfen hantieren. Über alles aber ergoß sich von Zeit zu Zeit der Glanz und die Pracht weichen, sanftesten Mondlichts. Der Sand glitzerte wie Diamantenstaub; die Sterne waren verblaßt. Von Zeit zu Zeit schwirrte ein dunkler Nachtvogel mit langsamem, schwerfälligem Flügelschlag unter der Kolonnade von Bäumen dicht an uns vorbei und stieß seinen heiseren, krächzenden Ruf aus.

Drittes Kapitel. Der König von Apemama: der Palast der vielen Frauen

Der Palast, vielmehr die Fläche, die er einnimmt, dehnt sich über mehrere Acres aus. Nach der Lagune zu schließt ihn eine Terrasse ab, nach der Landseite eine Palisade mit einer Reihe von Toren. Das Ganze ist jedoch schwerlich für eine Verteidigung eingerichtet; ein kräftiger Mann könnte ohne weiteres die Rampe herunterreißen, und er brauchte auch nicht sonderlich gelenkig zu sein, um vom Strande aus die Terrasse zu erklettern. Es stehen weder Schildwachen, noch Soldaten, noch Waffen zur Schau; das ganze Arsenal wird unter Verschluß gehalten; die einzigen Posten sind ein paar unansehnliche alte Weiber, die Tag und Nacht vor den Toren herumlungern. Am Tage sind diese alten Gevatterinnen häufig mit Syrupkochen oder anderen häuslichen Arbeiten beschäftigt; nachts liegen sie im Schatten im Hinterhalt oder hocken auf der Palisade, erfüllen das Amt von Eunuchen des königlichen Harems und sind die einzigen Hüter von Tembinok’s Leben.

Weibliche Wachen sind hier vor den Toren des Palastes der vielen Frauen sehr am Platze. Wieviele Gattinnen der König hat, geht über mein Schätzungsvermögen, und von ihren Funktionen habe ich auch nur eine schwache Vorstellung. Er selbst wurde verlegen, wenn man von ihnen als von seinen Ehefrauen sprach, nannte sie seine »Pamile« und setzte uns auseinander, sie wären seine »Kussinen« (Kusinen). Vier von der ganzen Schar fielen uns besonders auf: die Königinmutter, seine Schwester (eine ernste, energische Frau, die viel von ihres Bruders Intelligenz besaß) die eigentliche Königin, der (und nur der allein) meine Frau offiziell vorgestellt wurde, und die augenblickliche Favoritin, ein hübsches, graziöses Mädchen, das dauernd um den König beschäftigt war, und das ihn einmal (als er Tränen vergoß) durch ihre Liebkosungen tröstete. Allein man versicherte mir, selbst seine Beziehungen zu ihr wären rein platonisch. Im Hintergrunde betätigte sich dann noch ein ganzes Heer von Damen, magere, rundliche, mammutartige, einige in losen Gewändern, andere mit dem haarschmalen Ridi bekleidet; hochgeborene und plebejische, Sklavinnen und Gebieterinnen, von der Königin an bis zur Küchenmagd, von der Favoritin bis zu den zerlumpten Schildwächterinnen auf der Palisade. Natürlich gehörten nicht alle von ihnen zu »meiner Pamile« – viele waren nur Dienstboten, doch teilte sich eine erstaunliche Anzahl in die Verantwortlichkeit, die das königliche Vertrauen mit sich brachte. Es gab Schlüsselhüterinnen, Schatzmeisterinnen, Arsenalverwalterinnen, Wäschebewahrerinnen, Verwalterinnen der Vorräte. Jede kannte ihr Amt und verwaltete es bis zur Vollendung. Wurde irgend etwas gebraucht – ein besonderes Gewehr, oder ein spezielles Stück Stoff: stets wurde die richtige Königin gerufen; stets erschien sie mit der richtigen Kiste, öffnete sie in Gegenwart des Königs und zeigte das ihr anvertraute Gut in tadellosester Ordnung – die Gewehre gereinigt und geölt, die Stoffe hübsch sauber gefaltet. Ohne Hast und ohne jede Verzögerung und mit einem Minimum von Gerede lief dieser Riesenhaushalt lautlos wie eine gutgeschmierte Maschine. Nirgends wieder habe ich eine derart vollständige und umfassende Ordnung gesehen. Und doch mußte ich dabei fortwährend an die alten Nordlandssagen von den Trollen und Riesen denken, die der Sicherheit wegen ihre Herzen in der Erde vergraben hielten und gezwungen waren, das Geheimnis ihren Frauen anzuvertrauen. Denn das Leben Tembinok’s hängt von derartigen Mitteln ab. Er trachtet durchaus nicht nach Popularität, sondern schindet und beherrscht seine Untertanen mit einer so vollkommenen Macht, daß man nicht umhin kann, ihn zu bewundern, so schwer es einem auch wird, damit zu sympathisieren. Sollte sich eine der vielen Frauen als treulos erweisen, wird insgeheim einmal das Arsenal geöffnet, nickt eine der alten Weiber vor den Toren ein und finden die Waffen unbemerkt ihren Weg ins Dorf, so ist eine Revolution, die aller Wahrscheinlichkeit nach mit Tod enden würde, so gut wie sicher, und der Geist des Tyrannen von Apemama würde sich zu seinen Vorgängern von Mariki und Tapituea versammeln. Und doch sind die, denen er vertraut, nichts als Frauen und obendrein noch untereinander Rivalinnen.

Zwar gibt es auch ein Ministerium und einen Stab von Männern: den Koch, den Hausmeister und verschiedene Superkargos: die ganze Hierarchie eines Schoners. Die Spione, »seiner Majestät Tageszeitungen«, wie wir sie nannten, kamen allmorgendlich, um ihm Bericht zu erstatten, dann aber sofort wieder zu verschwinden. Der Koch und der Hausmeister haben nur mit der Tafel zu tun. Die Superkargos, deren Pflicht es ist, für drei Pfund monatlich und gewisse Prozente die Kopra zu zählen, betreten nur selten den Palast, und zum mindesten zwei von ihnen sind auf anderen Inseln beschäftigt. Einzig der Zimmermann, der schlaue, vergnügte alte Rubam – Ruben vielleicht? – der nach meinem letzten Besuch zu der höheren Würde eines Gouverneurs aufgerückt war, ist täglich dort zu sehen und hat mit Änderungen, Erweiterungen und Verschönerungen, sowie mit der Ausführung der zahllosen Erfindungen seiner Majestät vollauf zu tun; und mitunter pflegt der König einen Nachmittag damit zuzubringen, daß er Rubam bei der Arbeit zusieht und sich mit ihm unterhält. Trotzalledem bleiben die Männer Outsiders; keiner von ihnen scheint bewaffnet zu sein, keinem wird ein Schlüssel anvertraut; noch vor der Abenddämmerung haben sie in der Regel den Palast verlassen, und die Lasten der Monarchie sowie des Monarchen Leben ruhen einzig auf den Schultern der Frauen.

Dieser Haushalt ist in der Tat völlig von den unsrigen verschieden und hat noch weniger mit einem orientalischen Harem etwas gemein: wir sehen hier einen älteren, kinderlosen Mann, der unter ständiger Bedrohung seines Lebens einsam inmitten einer Schar von Frauen jeden Alters, jeden Standes und jeder verwandtschaftlichen und persönlichen Beziehung lebt – mit Mutter, Schwester, legitimer Frau, Konkubine, Favoritin von heute und mit dem Liebling von gestern. So haust er unter ihnen, ihr alleiniger Herr, das einzige männliche Wesen, die Quelle aller Ehren, Kleider und Leckerbissen, das einzige Ziel der mannigfachsten Hoffnungen und Wünsche. Ich zweifle, ob sich in Europa ein Mann finden würde, kühn genug, um dieses Meisterstück an Takt und Regierungskunst zu versuchen. Zudem soll bei Tembinok‘ zu Anfang durchaus nicht alles glatt gegangen sein. Ich hörte, daß er einmal eine Frau wegen irgendeiner Leichtfertigkeit an Bord eines Schiffes eigenhändig erschossen hätte. Ein anderes Mal, als es sich um ein ernsteres Vergehen handelte, spielte er ausdrücklich den Henker, stellte den Leichnam öffentlich zur Schau und ließ ihn (um die Warnung wirkungsvoller zu gestalten) vor den Toren seines Palastes verfaulen. Zweifellos erleichtert ihm die erhöhte Zahl seiner Jahre sein Werk, denn es ist leichter in so ausgedehntem Maße, den Vater als den Gatten zu spielen. Heute ist er so weit, daß sich, wenigstens vor den Augen des Fremden, alles glatt abwickelt, und die Frauen scheinen stolz auf ihr Amt, stolz auf ihren Rang und stolz auf ihren schlauen Gebieter zu sein.

Ich hatte sogar den Eindruck, daß sie mit dem Mann Heldenkult trieben. Ein beliebter Lehrer in einer Mädchenschule vermittelt vielleicht am ehesten noch einen Begriff von Tembinok’s Rolle. Aber ein Lehrer ißt, schläft, wohnt nicht und wäscht auch nicht seine schmutzige Wäsche inmitten seiner Verehrerinnen; er entgeht ihnen von Zeit zu Zeit, besitzt sein eigenes Zimmer und führt ein Leben für sich, ja, selbst wenn ihm nichts anderes bleibt, hat er doch seine Ferien. Der unglückliche Tembinok‘ dagegen befindet sich stets auf der Bühne und in Spannung.

Während all meines Kommens und Gehens habe ich ihn kein einziges Mal grob werden oder das geringste Mißfallen ausdrücken hören. Ein ausgesprochenes, etwas schwerfälliges Wohlwollen – das Wohlwollen eines Menschen, der des Gehorsams sicher ist – zeichnete ihn in allen Dingen aus, so daß ich manchmal an Samuel Richardson und seinen Kreis bewundernder Frauen erinnert wurde. Die Gattinnen sagten auch ganz offen ihre Meinungen, wie die Ehefrauen bei uns daheim – oder sagen wir, wie blind anbetende, aber durchaus zu verehrende Tanten. Im großen und ganzen bin ich daher der Ansicht, daß er sein Serail weit mehr durch List als durch Gewalt beherrscht. Wer eine andere Auffassung vertritt (ohne die Möglichkeiten zur Beobachtung gefunden zu haben, die mir zur Verfügung standen), wird vielleicht nicht die nötigen Rangunterschiede zwischen »meine Pamile« und den Gefolgsfrauen, Wäscherinnen und Prostituierten bemerkt haben.

Eine wichtige Rolle spielt die abendliche Runde Karten, wenn die Lampen auf die Terrasse gebracht werden und »ie und meine Pamile« stundenlang um Tabak spielen. Es ist für Tembinok‘ überaus charakteristisch., daß er sich bemüßigt fühlte, ein eigenes Spiel zu erfinden; nicht minder charakteristisch, daß sein bewundernder Familienkreis auf diese lächerliche Erfindung schwört. Sie basiert auf Poker, wird mit den Trümpfen aus mehreren Pack Karten gespielt und ist unendlich langweilig. Nun hege ich aber eine leidenschaftliche Vorliebe für alle Spiele, studierte dieses genau und galt daher als der einzige Weiße, der auch nur annähernd das Prinzip begriffen hatte: eine Tatsache, die die Gattinnen (bei denen ich sonst nicht beliebt war) glühend bewunderten. Unmöglich konnte man die Frauen mißverstehen: ihre Freude war echt; sie waren stolz auf ihr Privatspiel, hatten sich über den Mangel an Interesse der anderen bis ins Innerste verletzt gefühlt und sonnten sich nun geschmeichelt in meiner Aufmerksamkeit. Tembinok‘ setzt dabei stets den doppelten Einsatz und erhält dafür auch doppelt so viel Karten, von denen er wählen kann: ein höchst durchsichtiges Kunststück, das die Frauen indes in all den Jahren nicht durchschaut haben. Er selbst machte mir gegenüber privatim nicht das geringste Geheimnis daraus, daß er gewinnen mußte; so erklärte er auch seine Großzügigkeit auf der »Äquator«. Er läßt seine Frauen ihren eigenen Tabak kaufen, was ihnen im Augenblick höchlichst gefällt. Diesen nimmt er ihnen aber beim Kartenspiel wieder ab, wodurch Tembinok‘ ohne jede Unkosten wieder zu dem wird, was er sein will – zu dem alleinigen Spender aller Freuden. Kurz, er faßte den Fall in jener Phrase zusammen, mit der er jede Schilderung seiner Politik zu beenden pflegt: »Vie bessah‘ so.« Der Palasthof ist ganz mit zerstampfter Koralle gepflastert, die sowohl für Augen als auch für nackte Füße qualvoll ist, und wird stets tadellos geharkt und von Unkraut frei gehalten. Einige zwanzig Gebäude liegen an einer Art Straße entlang der Palisade oder verstreut am Rande der Terrasse. Es sind die Behausungen der Ehefrauen und Dienerinnen, Lagerhäuser für die Schätze und Sammlungen des Königs, geräumige Maniapen für Gelage und Ratsversammlungen, einige davon auf Holzsäulen, andere auf einem festen Fundament errichtet. Das eine war noch in Arbeit; es stellte die neuste Erfindung des Königs dar, sein letztgeborenes Kind: ein europäisches Fachwerkhaus, das um der Kühle willen im Inneren einer luftigen Maniap‘ gebaut war, und dessen flaches, schiffsdeckähnliches Bretterdach als hochgelegene, schattige Privatpromenade dienen sollte. Hier pflegte der König stundenlang mit Rubam zu verweilen; hier gesellte ich mich mitunter zu ihnen. Der Ort hatte ein sehr seltsames Aussehen; ich war, das muß ich offen eingestehen, von der Idee sehr entzückt und gab den Architekten gegenüber mit Behagen meinen fachmännischen Rat zum Besten.

Nehmen wir an, wir hätten bei Tage mit seiner Majestät zu sprechen: dann schlendern wir über den Sand an den Zwergpalmen vorbei, tauschen ein »Konamaori« mit dem alten Weiblein aus, das gerade Posten steht, und betreten den Hof. Die weite Korallenfläche liegt in blendender Einsamkeit da; jeder hat sich vor dem Riesenraum in schützendes Dunkel geflüchtet. Ich habe mitunter das ganze große Labyrinth nach dem König absuchen müssen und fand dann, wenn ich unter den Giebel einer Maniap‘ spähte, als einziges Lebewesen irgendeine der Frauen vor, eine braune, nackte Amazone, deren sehniger Körper in regungslosem Schlummer lag. Ist es noch die Stunde der »Morgenzeitungen«, so werden wir nicht so lange zu suchen brauchen, denn dann verrät ihn die Gegenwart eines halben Dutzends schlauer, unterwürfiger Kerle, die vor irgendeinem Hause hocken, so eng wie möglich in den schmalen Schattenstreifen gedrängt, und dem König eine Reihe grinsender Gesichter zukehren. Tembinok‘ sitzt währenddessen drinnen, die Seitenwände sind zurückgeklappt, der Passat durchfächelt den Raum, und der König nimmt die Berichte entgegen. Und genau wie die Journalisten in den Europa näher gelegenen Ländern schmücken auch diese Neuigkeitskrämer ihre Reden um so mehr aus, je weniger sie zu berichten haben. Ja, ich habe erlebt, wie sie einen ganzen, ereignislosen Morgen mit einer imaginären Unterhaltung zwischen zwei Hunden ausfüllten. Manchmal läßt der König sich herbei, zu lachen, manchmal richtet er auch an sie Fragen oder scherzt mit ihnen, und immer tönt seine Stimme schrill aus dem Inneren heraus. Ihm zur Seite kauert vielleicht der präsumptive Thronerbe, sein Neffe und Adoptivsohn Paul, ein splitternacktes, sechsjähriges Bürschchen, ein Idealbild menschlicher Schönheit. Und stets wachen die Favoritin und zwei oder drei Frauen bei ihm, während vier andere wie leblos unter Matten in den Armen des Schlafes liegen. Vielleicht kommen wir aber auch erst später, zu einer intimeren Stunde, und finden Tembinok‘ allein mit seiner Favoritin, einem tönernen Spucknapf, einem bleiernen Tintenfaß und einem großen Kontobuch. In dieses trägt er, auf dem Bauche liegend von Tag zu Tag die Geschichte seiner an Ereignissen armen Regierung ein. Wenn er so beschäftigt ist, verrät er eine Spur Ärger über die Unterbrechung, den ich ihm durchaus nachzufühlen vermag. Einmal las der königliche Chronist mir eine Seite vor, indem er Satz für Satz übersetzte; da jedoch die Stelle ausschließlich von Genealogie handelte und der Autor sehr häufig über seine Version stolperte, muß ich gestehen, daß ich mich manchmal schon besser unterhalten habe. Auch beschränkt er sich durchaus nicht auf Prosa, sondern schlägt in den Stunden seiner Muße noch die Leier und gilt als der beste Barde seines Reiches, ebenso wie er dessen einzige öffentliche Persönlichkeit, führender Architekt und alleiniger Kaufmann ist. Seine Begabung reicht jedoch nicht bis an das Musikalische heran, sondern seine Verse werden nach ihrer Vollendung beruflichen Musikern eingetrichtert, die sie dann komponieren und dem Chor eindrillen. Auf die Frage, wovon die Verse denn handelten, erwiderte Tembinok‘: »Vom Liebchen, von Bäumen und der See. Niß alle wah‘, alle seh vie‘ Lüge.« Ich kenne keine präzisere Zusammenfassung des Inhalts der lyrischen Poesie (höchstens hat er die Sterne und die Blumen noch vergessen). Diese vielfältigen Beschäftigungen zeugen indes (für einen eingeborenen, absoluten Fürsten) von ungewöhnlicher Regsamkeit des Geistes.

Zur Mittagszeit, wenn man über die losen Steine stolpert, ist der Palasthof ein Ort, an den man sich nur mit Ehrfurcht als an einen glanzvollen Alpdruck von Licht und Hitze erinnert. Doch fegen ihn die Winde von Fliegen und Moskitos rein, und bei Sonnenuntergang wird er zu einer himmlischen Labe. Am liebsten aber erinnere ich mich seiner mondlosen Nächte. Die Luft ist dann wie ein Bad von Milch. Zahllose Sterne scheinen am Himmel, und die Lagune ist mit ihnen besät. Heere von Frauen hocken gruppenweise auf dem Kies und schwatzen leise miteinander. Tembinok‘ pflegt dann seinen Rock auszuziehen und nackt und schweigend dazusitzen, vielleicht in die Konzeption eines neuen Gedichtes versunken. Inzwischen wird in der Mitte des Hofes ein Regiment von Lampen angezündet und am Boden aufgereiht – sechs bis acht Quadratmeter werden von diesen Lichtern bedeckt, ein Anblick, der uns einen recht seltsamen Begriff von der Größe »meiner Pamile« vermittelte und ein Schauspiel bot, wie um die Dämmerzeit ein Winkel aus irgendeinem großen Bahnknotenpunkt daheim. Bald jedoch wandern die Lampen nach allen Ecken und Richtungen auseinander, um über den letzten Arbeiten des Tages zu erstrahlen und einer nach der anderen aus der unendlich großen Schar der Frauen in ihr Bett zu leuchten. Nur wenige verweilen noch in der Mitte des Hofes, um über dem Kartenspiel zu erglänzen. Dort sehen sie zu, wie die Trümpfe gemischt und ausgeteilt werden, wie Tembinok‘ aus seinen zwei Blatt das Beste herauswählt, und wie die Königinnen ihren Tabak verlieren. Dann werden auch sie ausgelöscht und fortgetragen, und an ihre Stelle tritt ein großes Feuer, die Nachtlampe des Palastes. Wenn auch diese ausgebrannt ist, werden vor den Toren kleinere Feuerchen angezündet, die von den unsichtbaren, nimmermüden, doch nicht immer stummen Gevatterinnen genährt werden. Für den Fall, daß sich jemand in tiefster Nacht der Residenz nähert, macht eine Wache die Runde um den Ort, wobei jeder Posten seine Gegenwart dem Nachbarn durch das Werfen eines Steins ankündigt. Das Rattern der Kiesel stirbt dahin und verklingt, und wieder kauern die Wächterinnen Tembinok’s schweigend an ihren Plätzen.

Viertes Kapitel. Der König von Apemama: Äquatorstadt und der Palast

Fünf Personen wurden abgeordnet, um uns aufzuwarten. Onkel Parker, der uns mit Toddy und grünen Nüssen versorgte, war ein ältlicher, fast alter Mann mit dem Temperament, dem Fleiß und der Moral eines zehnjährigen Jungens. Sein Gesicht war das eines Greises und blickte spitzbübisch, ja diabolisch in die Welt; die Haut spannte sich über den gestrafften Sehnen wie ein Segel am Leitseil, und er lächelte mit jedem Muskel seines Kopfes. Seine Nüsse mußten Tag für Tag abgezählt werden, sonst betrog er uns bei der Ablieferung; täglich mußte man sie untersuchen, sonst stellte es sich heraus, daß aus einigen der Kern herausgeschält war, und nichts außer dem Namen des Königs vermochte ihn zu seiner Pflicht anzuhalten, und selbst dieser Name versagte manchmal. Nach vollendeter Mühe und Arbeit gab man ihm eine Pfeife, Zündhölzer und Tabak, und er setzte sieh auf den Boden der Maniap‘, um zu rauchen. Dabei rührte er sich nicht vom Platze, und doch war jeden Tag, wenn es galt die Sachen zurückzugeben, das Päckchen Tabak verschwunden. Auf irgendeine Weise hatte er es fertig gebracht, es unter dem Dach zu verstecken, von wo er es am nächsten Tage strahlend hervorholte. Obwohl dieses Taschenspielerstückchen regelmäßig vor drei bis vier Paar Augen verübt wurde, ist es uns weder gelungen, ihn dabei zu ertappen, noch konnten wir je, wenn er gegangen war, den Tabak wiederfinden. Das waren so die Späße und Unterhaltungen Onkel Parkers, eines Mannes von fast sechzig Jahren. Aber er wurde für alle seine Missetaten bestraft: meine Frau setzte es sich in den Kopf, ihn malen zu müssen, und die Leiden, die er während der Sitzungen ausstand, spotten jeder Beschreibung.

Dann erschienen noch drei Mädels aus dem Palaste, um unsere Wäsche zu waschen und mit Ah Fu Unsinn zu treiben. Sie waren von niedrigstem Range, Nichtstuerinnen, die man zur Bequemlichkeit der Handelskapitäne duldete, wahrscheinlich von plebejischer Abstammung, vermutlich sogar Ausländerinnen, ohne eine Spur von Verfeinerung in ihren Manieren oder ihrer Erscheinung, aber in ihrer Art ganz brauchbare, lustige Dirnen. Die eine nannten wir »Die Schneppe«, denn ihr Prototyp ist in den finstersten Vierteln jeder Großstadt zu finden: das gleiche magere, dunkeläugige, lebhafte, ordinäre Gesicht, das gleiche plötzliche, heisere, laute Lachen, das gleiche dreiste und doch ängstliche Benehmen, als schiele sie mit dem einen Auge ständig zum nächsten Polizisten hinüber; nur daß der hiesige Wachtmeister ein richtiger, lebendiger König und sein Gummiknüppel ein Gewehr war. Dagegen zweifle ich, ob man außerhalb dieser Gegend eine Parallele zu »Dickerchen« finden wird, denn auch hier trifft man nur selten ihresgleichen. »Dickerchen« war ein Berg von einem Mädchen, die ungefähr ebensoviel Stone 1 wiegen mußte, wie sie Sommer zählte, und die es ohne weiteres mit einem Gardegrenadier aufgenommen hätte, dabei das Gesicht eines Babys besaß und ihre ungeheuren Körperkräfte ausschließlich auf Spiel verwandte. Doch hatten alle drei das gleiche heitere Temperament. Unsere Wäsche wurde besorgt, während sie Haschen spielten; sie liefen und jagten einander, bespritzten und bewarfen sich, tummelten und wälzten sich im Sande und schrien und lachten dabei fortwährend wie eine Schar Kinder in den Ferien. Und kann man es ihnen verdenken? So sonderbar ihre Rollen in jenem strengen Institut sein mochten, in dem sie für gewöhnlich beschäftigt waren, hier waren sie endlich einmal auf einen Tag dem größten und züchtigsten Mädchenpensionat der ganzen Südsee entronnen.

Der fünfte unserer Dienstboten war kein geringerer als der königliche Koch. Er war an Gesicht und Figur ein auffallend schöner Bursche, faul wie ein Sklave und frech wie ein Fleischerjunge. Er schlief und rauchte auf unserem Grundstück in den verschiedensten, anmutigsten Posen, aber weit davon entfernt, Ah Fu zu helfen, nahm er sich nicht einmal die Mühe, ihm zuzusehen. Von ihm kann man getrost behaupten, daß er gekommen war, um zu lernen, und blieb, um anderen eine Lehre zu sein, und wahrlich, seine Lektionen waren schwer zu verdauen. So wurde er zum Beispiel weggeschickt, um einen Eimer am Brunnen mit Wasser zu füllen. Etwa auf halbem Wege traf er meine Frau, die damit beschäftigt war, ihre Zwiebeln zu begießen, tauschte die Gefäße mit ihr aus, ließ ihr den leeren Eimer da und kehrte mit dem vollen in die Küche zurück. Ein anderes Mal gab man ihm eine Schüssel Klöße für den König, erklärte ihm, daß sie heiß gegessen werden müßten und befahl ihm, sie so schnell wie möglich hinzutragen. Darauf fiel der Schuft hocherhobenen Hauptes und gigerlhaften Schritts in ein Tempo von etwa einer Meile in der Stunde. Das war zu viel. Meine seit einem Monat auf eine harte Probe gestellte Geduld riß. Ich rannte hinter ihm drein, packte ihn an seinen breiten Schultern, schob ihn vor mir her und lief mit ihm den Berg hinunter über den Sand und quer durch das Beifall klatschende Dorf bis zum Sprechhaus, wo der König gerade eine Versammlung hielt. Und der Kerl hatte noch die Unverschämtheit zu behaupten, ich hätte ihn innerlich verletzt und tat ernstlich besorgt um sein Leben!

Alles das ließen wir geduldig über uns ergehen, denn die Gepflogenheiten Tembinok’s sind summarisch, und ich war noch nicht so weit, meine Hand zu des Burschen Tod zu leihen. Inzwischen aber rackerte sich mein unglücklicher Chinesenjunge für beide ab und erkrankte nach einer Weile. Jetzt befand ich mich in der Lage Cimondain Lantenacs sowie sämtlicher Charaktäre in Quatre-Vingts-Treize: ich mußte, um auch fernerhin den Schuldigen zu schonen, den Unschuldigen opfern. Natürlich wählte ich den üblichen Weg, suchte beide Teile zu schonen und erlitt ebenso natürlich eine Niederlage. Nach einer gründlichen Vorprobe begab ich mich nach dem Palast, wo ich den König allein fand, und traktierte ihn mit einer langatmigen Geschichte. Der Koch sei bereits zu alt, um zu lernen; ich fürchtete, er mache nicht die gewünschten Fortschritte; wie wäre es, wenn er mir statt dessen lieber einen Jungen gäbe? Jungen wären doch leichter anzulernen. Alles umsonst! Der König durchschaute meine Ausflüchte bis auf ihren Grund, erkannte, daß der Koch sich über die Maßen schlecht benommen hatte und saß eine Weile düster brütend da. »Ie glauben, eh wissen ssu viel,« sagte er endlich mit grimmiger Bestimmtheit und wandte das Gespräch sofort anderen Dingen zu. Noch am gleichen Tage erschien bei uns an Stelle des Kochs ein anderer höherer Beamter, der Hausmeister, der sich – zu seiner Ehre sei’s gesagt – als höflich und fleißig entpuppte.

Kaum war ich gegangen, da rief der König, wie man mir erzählte, nach seinem Winchester und schlenderte auf die Palisade hinaus, wo er dem Schuldigen auflauerte. An jenem Tage trug Tembinok‘ Weiberkleidung; wahrscheinlich wurde sein Kostüm noch durch den Tropenhelm und die blaue Brille vervollständigt. Man stelle sich die in blendende Helle getauchten Sandhügel vor, die Zwergpalmen mit ihren mittäglichen Schatten, die lange Rampe, die Altweiberposten (jede an ihrem Feuer mit Syrupkochen beschäftigt) – und jene Chimäre, die mit der tödlichen Waffe in der Hand wartete. Kaum war der Koch in Schußweite gekommen, als diese Karrikatur eines Monarchen über den Kopf des anderen hinweg, vor dessen Füße und an beiden Seiten vorbei sechs Schüsse abfeuerte. Das war die zweite auf Apemama übliche Warnung von verhängnisvoller Bedeutung, denn das nächste Mal zielt seine Majestät, um zu treffen. Man sagte mir, der König wäre ein vollendeter Schütze; wenn er mit der Absicht, zu töten, zielt, kann das Grab getrost geschaufelt werden; zielt er aber hart an jemandem vorbei, so geschieht das so haarscharf, daß der Verbrecher sechsmal die Bitterkeit des Todes kostet. Ich hatte selbst Gelegenheit, die Wirkung auf den Koch zu beobachten. Meine Frau und ich kehrten von dem Meeresstrande zurück, als wir jemanden in raschestem, unregelmäßigen Tempo, halb laufend, halb gehend, auf uns zukommen sahen. Gleich darauf erkannten wir den Koch, völlig außer sich vor Aufregung, das übliche warme Mulattenbraun seines Gesichts in bläuliche Blässe verwandelt. Ohne ein Wort oder eine Bewegung, aber mit dem Gesichte eines Satans starrte er uns an, lief an uns vorüber und verschwand im Walde auf dem Wege nach dem unbevölkerten Teil der Insel und dem weiten, einsamen Strande, wo er ungesehen hin und her rasen und schäumend seine Wut, Furcht und Demütigung austoben konnte. Ohne Zweifel mischte sich in die Flüche, die er angesichts der tosenden Brandung und der tropischen Vögel ausstieß, nicht selten der Name des Kaupoi, des reichen Mannes. Ich hatte ihn in der Affäre mit den Klößen zum Gespött des Dorfes gemacht, hatte ihn durch meine Intrigen in Ungnade sowie in ernste Lebensgefahr gebracht, und schließlich hatte er mich, was für ihn vielleicht das Bitterste war, dort am Wege gesehen, wie ich ihn in der Stunde seiner Verzweiflung belauschte.

Die Tage verstrichen, und wir bekamen ihn nicht mehr zu Gesicht. Es war wieder einmal Vollmond, die Zeit, in der es einem wie eine Schande vorkommt, zu schlafen, und ich fuhr fort, bis spät in der Nacht – zwölf und ein Uhr morgens – auf dem hellen Sande und im Schatten der wehenden Palmen spazieren zu gehen. Während meiner Wanderungen spielte ich das Flageolett, wodurch ein großer Teil meiner Aufmerksamkeit gefesselt wurde; die Fächer zu meinen Häupten knarrten mit einem metallischen Geräusch im Winde, und ein nackter Fuß tritt auf jenem nachgiebigen Boden zu jeder Zeit fast lautlos auf. Als ich daher nach Äquatorstadt zurückkehrte, wo alle Lichter bereits gelöscht waren, und meine Frau (die noch wach lag und mich beobachtet hatte) sich erkundigte, wer denn der Mann gewesen wäre, der mir gefolgt sei, dachte ich zuerst, sie mache einen Scherz. »Keineswegs«, lautete ihre Antwort. »Ich sah ihn zweimal, während du vorübergingst, dicht auf deinen Fersen. Er verließ dich erst an der Ecke der Maniap‘ und muß noch hinter dem Kochhaus herumlungern.« Dorthin rannte ich also – Narr der ich war – ohne jede Waffe und befand mich plötzlich Aug in Auge dem Koch gegenüber. Er stand innerhalb meiner Tapulinie, was an sich schon Tod bedeutete; dort konnte er zu solcher Stunde, außer zum Morden oder Stehlen, nichts zu suchen haben. Allein das Schuldbewußtsein machte ihn feige, er drehte sich um und floh ohne ein Wort in die Nacht hinaus. Dabei versetzte ich ihm einen Puff an jene Stelle, mit der man sich die größten Ehren ersitzt, und er ließ ein mattes Quietschen wie eine verwundete Maus hören. In jenem Augenblick vermutete er wahrscheinlich, ich hätte ihn mit einer tödlichen Waffe berührt.

Was hatte der Mann hier zu suchen? Sonst habe ich immer gefunden, daß meine Musik das Publikum eher vertreibt als anlockt. Dilettant der ich war, konnte ich nicht annehmen, daß meine Wiedergabe des »Karnevals in Venedig« ihn reizte, oder daß er auf die natürliche Nachtruhe verzichtet hatte, um meinen Variationen des »Fröhlichen Landmanns« zu lauschen. Was immer auch sein Zweck war, unmöglich konnte man ihn des Nachts ungehindert um das Haus streichen lassen. Ein Wort an den König, und der Mann existierte nicht mehr, da sein Benehmen wirklich unverzeihlich war. Aber es ist ein ander Ding, einen Menschen selbst zu töten, als ihn hinter seinem Rücken zu denunzieren, um ihn von einem Dritten erschießen zu lassen. Ich beschloß daher, auf meine eigene Faust mit dem Kerl fertig zu werden, erzählte die Geschichte Ah Fu und bat ihn, mir den Koch zu bringen, wo immer er seiner habhaft werden könnte. Ich hatte dabei angenommen, daß dies mit einigen Schwierigkeiten verknüpft sein würde, doch, weit davon entfernt, erschien er plötzlich ungerufen: in Wahrheit eine Verzweiflungstat, denn sein Leben hing von meinem Schweigen ab, und das Beste, was er erhoffen konnte, war, daß ich ihn vergessen würde. Trotzdem trat er vollkommen selbstsicher auf, brachte weder eine Entschuldigung noch eine Erklärung vor, beklagte sich nur über die Verletzung, die er hätte erleiden müssen, und gab vor, nicht mehr sitzen zu können. Nun glaube ich wohl, daß ich der schwächste Mann bin, den der Herrgott je erschaffen hat; ich hatte ihn obendrein an die unverwundbarste Stelle seines Riesenkadavers getreten, hatte keine Schuhe angehabt und nicht einmal meinen Fuß verletzt. Ah Fu vermochte einen Heiterkeitsausbruch auch nicht zu unterdrücken. Ich meinerseits, der ich wußte, welche Angst der andere ausstehen mußte, konnte nicht umhin, in dieser Unverschämtheit eine Art von Tapferkeit zu sehen und bewunderte den Mann im stillen. Ich erklärte ihm daher, ich würde dem König nichts von dem nächtlichen Abenteuer erzählen und erlaubte ihm zwar, wenn er eine Botschaft auszurichten hätte, tagsüber den Grund innerhalb meiner Tapulinie zu betreten, drohte aber, wenn ich ihn nach Sonnenuntergang dort fände, ihn auf der Stelle niederzuknallen und zeigte ihm als Beweis meinen Revolver. Er muß sich unendlich erleichtert gefühlt haben, doch hütete er sich, das merken zu lassen, schlenderte im Gegenteil mit seiner üblichen, stutzerhaften Nonchalance davon und ward kaum mehr gesehen.

Diese Fünf allein, ausgenommen den an Stelle des Kochs beorderten Hausmeister, gingen bei uns aus und ein und waren unsere einzigen Besucher. Der Tapukreis hielt alle Dorfbewohner auf Armeslänge von uns fern. Und was »meine Pamili« betrifft, so hauste sie wie die Nonnen in ihren eigenen vier Wänden. Ein einziges Mal nur bin ich einer der Frauen, und zwar des Königs Schwester, an einem Orte begegnet, der wahrscheinlich ausnahmsweise für sie freigegeben war. Es war das Dorfhospital. Also wäre nur noch über den König selbst zu berichten. Dieser pflegte stets allein, kurz vor dem Essen, zu uns herüber zu spazieren, Platz zu nehmen, mitzuessen und sich wie ein alter Freund der Familie mit uns zu unterhalten. Bei diesen Gelegenheiten wollte es mir erscheinen, als gäbe es in der Etikette der Gilbertinseln hinsichtlich der Frage des Aufbrechens bei Gesellschaften eine Lücke. Man erinnert sich vielleicht, daß wir in diesem Punkte bereits mit Karaiti zusammengestoßen waren. Es lag etwas Kindisches und Störendes in Tembinoks abruptem »Ie jess Hause gehen wollen«, das stets von einem sprunghaften Aufstehen und einem ungeschminkten Rückzug gefolgt wurde. Das war aber auch der einzige Makel an seinen Manieren, die sonst stets schlicht, anständig, vernünftig und würdevoll waren. Niemals blieb er lange, nie trank er viel, und immer kopierte er unser Benehmen, sobald er sah, daß es in irgendeiner Beziehung von dem seinen abwich. So gewöhnte er es sich zum Beispiel sehr bald ab, mit dem Messer zu essen. Es war ganz klar, daß er beschlossen hatte, aus unserem Besuch in jeder Hinsicht, vornehmlich aber in Punkto Etikette, auch das kleinste Quäntchen Nutzen herauszupressen. Viel Kopfzerbrechen machte ihm der Rang seiner weißen Besucher; er pflegte einen Namen nach dem andern auf das Tapet zu bringen und zu fragen, ob der Betreffende ein »dlossah Häupling« oder überhaupt ein »Häupling« wäre, wodurch ich, da ich einige dieser Personen zu meinen sehr guten Freunden rechnete und keiner wirklich in Purpur geboren war, mitunter in einige Verlegenheit geriet. Daß man unsere verschiedenen Bevölkerungsklassen an ihrer Redeweise unterscheiden könne, machte auf ihn einen tiefen Eindruck, ebenso daß gewisse Worte (zum Beispiel) auf dem Achterdeck eines Kriegsschiffes tapu sind. Er bat mich deshalb auch, auf seine Rede zu achten und ihn zu korrigieren, allein wir waren, in der Lage ihm zu versichern, daß tatsächlich nichts zu verbessern wäre. Sein Wortschatz ist im Gegenteil erstaunlich treffend und reichhaltig. Der Himmel allein weiß, wo er ihn gesammelt hat, doch hat er dabei durch Instinkt oder Zufall alle profanen und gewöhnlichen Ausdrücke vermieden. »Verpflichten, erstochen, nagen, Portikus, Macht, Gesellschaft, schlank, glatt und wunderbar« sind einige der unerwarteten Worte, mit denen er seinen Jargon bereichert hat. Was ihn jedoch wohl am meisten entzückte, war die Neuigkeit, daß vor dem Achterdeck eines Kriegsschiffes salutiert wird. Seine Dankbarkeit für diesen Wink war geradezu überschwänglich. »Schonah Käp’n, eh mih niss sagen,« rief er, »ie glauben, eh niss wissen! Du wisen ssu viel; wissen Timah, 2, wissen Kiessiff. Iss glauben, du wissen alles.« Doch quälte er mich häufig genug mit seinen ewigen Fragen, und nicht selten gab der falsche »Kindermann« sich vor diesem Serenissimus eine arge Blöße. Ein solcher Fall ist mir besonders in der Erinnerung haften geblieben. Wir führten ihm die Laterna Magica vor. Unter anderem erschien auch ein Bild von Windsor Castle, und ich erklärte ihm, das wäre das Haus der Königin Victoria. »Wieviel Faden hoch?», lautete die Frage, und ich stand da, wie auf den Mund geschlagen. Hier sprach der Bauherr, der unermüdliche Architekt; trotz seiner Sammelwut sammelte er nur nützliche Kenntnisse, und seine Fragen verfolgten alle einen Zweck. Nach den Etikettefragen interessierte er sich in der Hauptsache für Regierungspolitik, Gesetze, Polizei, Geldwesen und Medizin, alles Dinge, die für ihn als König und Vater seines Volkes von größter Wichtigkeit waren. Meine Pflicht war es, ihn nicht nur mit neuen Informationen zu versorgen, sondern auch die alten zu korrigieren. »Mein Patah, eh mih sagen«,– oder »Weiße Mann, eh mih sagen« – so lautete unfehlbar der Anfang, und dann – »Du glauben, eh lügen?« – Manchmal glaubte ich es in der Tat. Einmal trat Tembinok mit einem Problem an mich heran, das ich anfangs gar nicht begreifen konnte. Der Kapitän eines Schoners hatte ihm einmal von Kapitän Cook erzählt; der König hatte sich sehr für die Geschichte interessiert und wandte sich, zwecks näherer Information, nicht an Stephens Diktionär, nicht an die Encyclopedia Britannica – sondern an die Bibel der Gilbertinseln (die in der Hauptsache aus dem Neuen Testament und den Psalmen besteht). In ihr forschte er lange und gewissenhaft; Paulus fand er und Festus und Alexander, den Kupferschmied: aber kein Wort von Cook. Die Schlußfolgerung lag auf der Hand: der große Entdecker war ein Mythos. So schwer ist es für einen Mann selbst von so ausgesprochener Begabung wie Tembinok, die Ideen einer neuen Gesellschaft und Kultur zu erfassen.

  1. Ein Stone = vierzehn englische Pfund.
  2. Steamer.

Fünftes Kapitel. König und Gemeine

Von dem gemeinen Volk der Insel bekamen wir wenig zu sehen. Anfänglich trafen wir noch am Brunnen mit ihm zusammen, an dem die Leute ihre Wäsche wuschen und wir unser Trinkwasser zapften. Diese doppelte Tätigkeit war indes nicht gerade nach unserem Geschmack, und da wir einen Tyrannen zur Verfügung hatten, wandten wir uns an diesen und veranlaßten den König, den Ort in unsere Tapulinie einzubeziehen. Das war eine der wenigen Gunstbezeugungen, die Tembinok‘ offensichtlich ungern gewährte, und man kann sich denken, wie wenig beliebt sie die Fremden machte. Zahlreiche Dorfbewohner gingen täglich aus ihrem Wege nach den Feldern an uns vorüber, allein sie machten stets einen weiten Bogen um das Tapu und schienen sogar ihre Blicke davon abzulenken. Von Zeit zu Zeit gingen wir selbst in das Dorf hinab, das ein recht seltsamer Ort war, fast holländisch anmutend infolge der vielen Kanäle und orientalisch durch die Höhe und Steilheit der Dächer, die sich in der Dämmerung wie Tempeldächer ausnahmen – doch nur selten wurden wir in ein Haus gerufen. Man bot uns keinen Willkommensgruß, keine Freundschaftsbezeugung, und von dem Familienleben bekamen wir nur ein Bild zu sehen: eine Totenwache, ein grausiger, peinlicher Anblick. Die Witwe hielt auf ihrem Schoß den kalten, bläulichen Körper ihres Gatten, nahm von Zeit zu Zeit an den Erfrischungen Teil, die der Gesellschaft gereicht wurden und küßte im nächsten Augenblick den bleichen Mund. (»Ich fürchte, Sie empfinden diese Heimsuchung tief«, bemerkte der schottische Geistliche. »Ja, Herr, sehr tief!« entgegnete die Witwe. »Die ganze Nacht über hab ich geheult, und jetzt will ich nur ein klein bißchen Grütze essen, dann heul ich gleich wieder.«) Auf unseren Spaziergängen empfing ich den Eindruck, als wichen die Insulaner uns aus, vielleicht aus Abneigung, vielleicht auch auf Befehl; wenn wir Überhaupt welchen begegneten, so geschah es meist durch Überrumpelung. Die Oberfläche der Insel ist teils mit Palmenwäldchen, teils mit Dickichten bewachsen und von romantischen kleinen Tälern, den Überresten alter Taropflanzungen, durchzogen; so war es möglich, die Leute, wenn sie von ihrer Arbeit ausruhten oder sich versteckten, unversehens zu überraschen. Ungefähr einen Pistolenschuß von unserem Stadtbild entfernt lag im Grunde des Dschungels ein Teich, wohin die Mädchen der Insel zum Baden kamen, und wo wir sie verschiedene Male durch unser plötzliches Erscheinen aufschreckten. Die hellen, kalten Flüsse von Tahiti und Upolu sind ihnen versagt; sie dürfen nicht zur Dämmerstunde zusammen mit einem ganzen Dorf voll heiterer Gefährtinnen im Wasser spielen und plantschen, sondern müssen sich einsam wegstehlen an einen Ort, der starke Ähnlichkeit mit einer Viehsuhle hat, um sich dort in dem lauwarmen Schlamm, braun wie ihre eigene Haut, hinzukauern und sich zu waschen, falls man das Waschen nennen kann. Noch andere, wenn auch seltene Begegnungen sind mir im Gedächtnis geblieben. Mehrere Male wurde ich durch den Klang zarter Stimmen im Busch aufgehalten, weich wie Flöten und voll sanfter Modulation. Hoffnung schmeichelte mir, ich schob die Blätter beiseite, aber siehe da! Statt der erwarteten Dryaden hockten ein paar nur allzu kompakte Damen in ihren ungraziösen Ridis vor mir, eifrig mit ihren Tonpfeifen beschäftigt. Schönheit der Stimme und der Augen war alles, was diesen schwerfälligen Matronen geblieben war, und die Anmut der Stimme war in der Tat wundervoll. Seltsamerweise habe ich nirgends wieder eine so gewinnende Redeweise vernommen, obwohl sich der Dialekt eher durch häßliche, gezwungene und ausgefallene Vokabeln auszeichnet, so daß Tombinok‘ selbst mir erklärte, er mache ihn müde und er ruhe sich beim Englischsprechen aus.

Die Lebensverhältnisse dieser Leute, die ich so selten sah, vermochte ich lediglich zu erraten. Der König selbst erläuterte mir in kunstvoller Weise die Situation. »Nein; ie sie bessahlen,« bemerkte er einmal. »Ie sie geben Tabak. Sie fü miss albeiten ganss wie Blüdah.« Diese Leute tragen sämtliche Zeichen der Sklaverei an sich – Leichtfertigkeit, die an Kindischsein grenzt, unverbesserliche Trägheit und unheilbare Zufriedenheit. Die Unverschämtheit des Kochs war ein origineller Zug, nicht so sein Mangel an Ernst, den er mit Onkel Parker teilte. Beide tanzten gleich sorglos im Schatten des Galgens herum und schlugen dem Tode so respektlose Schnippchen, daß ein oberflächlicher Beobachter der menschlichen Natur sich wundern mußte. Von Parker schrieb ich, daß er sich wie ein zehnjähriger Junge benehme: war er, der sechzigjährige Sklave, denn auch etwas anderes? Sein ganzes Leben hatte er in einer Schule verbracht; man hatte für ihn gesorgt, ihn ernährt, ihn gekleidet und geschulmeistert: an den Gedanken der Strafe hatte er sich gewöhnt und kokettierte deshalb mit ihr. Durch Furcht kann man die Menschen zwar lange treiben, aber nicht weit bringen. Hier in Apemama müssen sie sich ständig unter drohender Lebensgefahr plagen und haben sich in eine Lethargie der Faulheit hineingerettet. Es ist durchaus kein ungewöhnlicher Anblick, einen Mann unter einer steifen Matte, in der er, die Ellenbogen an die Hüften gedrückt, wie ein Hahn, dem man die Beine zusammengebunden hat, einherspaziert, auf die Felder gehen zu sehen. Dort muß die eine Hand, was immer auch die andere tun mag, feiern und das Kleidungsstück zusammenhalten, damit er es nicht verliert. Ebenso häufig sieht man zwei Männer an einer Stange einen einzigen Eimer Wasser tragen. Nun geht es zwar an, daß zwei Mann sich in eine Kirsche teilen: daß aber aus eines einzigen Soldaten Marschausrüstung zwei Lasten gemacht werden, nur um noch keine hundert Meter getragen zu werden, übersteigt jedes Maß. Die Frauen verkommen auch weniger rasch in der Sklaverei, da sie die weniger kindischen Tiere find. Ich habe die Frauen von Apemama, selbst in Abwesenheit des Königs, ja, wenn sie ganz allein waren, ausdauernd arbeiten sehen. Dagegen ist das Höchste, auf das man bei einem Manne hoffen darf, daß er unter äußerster Schonung seiner Kräfte ruckweise eine Arbeit beginnt, nur um in den Zwischenpausen müßig herumzulungern. So habe ich einen Maler arbeiten sehen, die Pfeife im Munde, während sein Freund ihm am Atelierfeuer Gesellschaft leistete. Man könnte meinen, die Rasse ermangele überhaupt jeder Höflichkeit und Lebenskraft, wenn man sie nicht beim Tanze beobachtet hätte. Nacht für Nacht und mitunter auch ganze Tage lang schmettern sie in dem großen Sprechhaus ihre Chorgesänge in die Luft hinaus – feierliche Andanten und Adagios, die von Händeklatschen begleitet und mit einer Kraft gesungen werden, daß die Wände davon erzittern. Dabei ist der Takt nicht einmal sehr langsam, wenn auch langsamer als der sonst auf den Inseln gebräuchliche; ich habe vielmehr nur an seine Wirkung auf die Zuhörer gedacht. Ihre Musik klingt aus der Nähe wie Kirchenmusik und erscheint dem europäischen Ohr gleichmäßiger als die meisten Inselgesänge. Zweimal habe ich auch beobachtet, daß eine Disharmonie ganz regelrecht aufgelöst wurde. Aus der Ferne dagegen, in Äquatorstadt vernommen, schien sich der Rhythmus zu heben und zu senken, und erschollen die Stimmen wie Hundegebell aus einem fernen Zwinger.

Die Sklaven sind entschieden nicht überarbeitet – zehnjährige Kinder vermögen ohne Überanstrengung mehr zu leisten – und die Apemama-Arbeiter kennen auch Feiertage, an denen das Singen schon früh am Nachmittage anfängt. Ihre Kost ist dagegen rigoros – Kopra und eine Süßigkeit aus zerstampftem Pandanus sind die einzigen Gerichte, die außerhalb des Palastes gegessen werden, doch ist an der Menge der Nahrung nichts auszusetzen, und der König teilt mit dem Volk seine Schildkröten. Während unseres Aufenthaltes wurden ihm drei dieser Tiere aus Kuria geschickt: das eine wurde für den Palast reserviert, das andere uns und das dritte dem Dorfe übersandt. Die Insulaner haben die Gewohnheit, die Schildkröte mitsamt dem Rückenschild zu kochen; man hatte uns aber die Schale versprochen, und wir baten daher, diesen törichten Brauch unter Tapu zu stellen. Sofort verfinsterte sich das Antlitz Tembinok’s, und er gab keine Antwort. Ein Zögern in der Frage des Brunnens konnte ich verstehen, denn Wasser ist rar auf einer flachen Insel; daß er sich aber weigern könnte, in eine kulinarische Frage dreinzureden, war mehr als ich mir hatte träumen lassen, und ich folgerte daraus – ob mit Recht oder Unrecht, weiß ich nicht – daß er in höchstem Maße zurückhaltend wäre, wenn es sieh darum handelte, in das Privatleben einzugreifen oder an den Gewohnheiten seiner Sklaven zu rühren. Also besitzt selbst hier, im Herzen des Despotismus, die öffentliche Meinung noch Gewicht; selbst in dieser Hochburg der Sklaverei hat die Freiheit einen Winkel gefunden.

Ordentlich, nüchtern und unschuldig – wie auf einer Musterpflanzung unter der Leitung eines Musterpflanzers – so fließt Tag für Tag das Leben auf der Insel hin. Unmöglich kann man an dem wohltuenden Einfluß dieser strengen Herrschaft zweifeln. Eine sonderbare Geschmeidigkeit, ein weiches, anmutiges Benehmen, etwas Weibisches und Höfisches zeichnet die Insulaner von Apemama aus. Diese Eigenschaften bildeten das Gesprächsthema sämtlicher Händler und wurden selbst von so unbeliebten Besuchern, wie wir es waren, empfunden, ja, sie traten sogar an unserem Koch, und zwar in seinen unverschämtesten Minuten, hervor. Der König stand mit seiner männlichen, schlichten Haltung ganz allein da; man kann ihn als den einzigen Gilbert-Insulaner auf Apemama bezeichnen. Gewalttätigkeit, die in Butaritari heimisch ist, kommt hier nicht vor, ebensowenig Diebstahl und Trunkenheit. Man versichert mir, man habe das Experiment gemacht, Goldstücke am Strande vor dem Dorfe liegen zu lassen: sie blieben dort liegen. Während unseres ganzen Aufenthaltes auf der Insel bin ich nur ein einziges Mal um Alkohol angegangen worden, und zwar von einem höchst eindrucksvollen Burschen, der europäische Kleidung trug und ausgezeichnet englisch sprach – Tamaiti war sein Name oder – in der europäischen Korrumpierung – »Tom White«. Er war einer der Superkargos des Königs und erhielt drei Pfund den Monat und Prozente, außerdem war er noch Arzt und im Privatleben ein Zauberer. Dieser Mann traf mich eines Tages an der Grenze des Dorfes an einem einsamen, heißen Ort, an dem die Tarogräben tief und die Pflanzen hoch sind. Hier hielt er mich am Knopfloch fest, blickte sich wie ein Verschwörer nach allen Seiten um und fragte mich, ob ich Gin hätte.

Ich bejahte die Frage. Er bemerkte, Gin wäre verboten, lobte eine Welle das Verbot und fuhr dann fort, mir auseinanderzusetzen, daß er ein Doktor sei – er sprach das Wort »dogstar« aus – daß Gin für seine medizinischen Tränklein unentbehrlich wäre, und daß er mir sehr dankbar sein würde, wenn ich ihm etwas in einer Flasche mitgäbe. Ich sagte ihm darauf, daß ich dem König mein Wort verpfändet hätte, daß ich aber, da ja der Fall eine Ausnahme bilde, sofort zum Palast gehen würde, wo, wie ich nicht zweifelte, Tembinok mir die Erlaubnis erteilen wurde. Sofort geriet Tom White vor Verlegenheit und Furcht außer sich, flehte mich in den herzbewegendsten Ausdrücken an, ihn doch ja nicht zu verraten und floh meine Gegenwart. Er besaß nichts von dem Mut, der den Koch beseelte; Wochen gingen vorüber, ehe er mir gerade ins Auge zu sehen wagte, und auch dann erschien er nur auf Befehl des Königs in besonderen Angelegenheiten.

Je mehr ich von dieser strengen Herrschaft zu sehen bekam, je mehr ich sie bewunderte, um so heftiger verfolgte mich das Problem, das für uns vielleicht schon morgen aktuell werden konnte. Hier lebte ein Volk, das vor jedem ernsten Unglück bewahrt war, dem man alle schlimmen Sorgen abgenommen, gleichzeitig aber auch jede Freiheit geraubt hatte. War es wirklich zufrieden? Und welches waren seine Gefühle seinem Herrscher gegenüber? Die erste Frage konnte ich natürlich an niemanden richten, und die Eingeborenen hätten sie vielleicht auch gar nicht zu beantworten gewußt. Selbst die zweite war schon etwas delikat; doch fand ich endlich unter seltsamen, reizenden Umständen eine Gelegenheit, jemanden auszukundschaften und eine Antwort zu erhalten. Der Mond war beinah voll, und eine köstliche Brise wehte; die Insel war hell erleuchtet – wie am Tage – zu schlafen wäre ein Sakrileg gewesen, und ich wanderte, meine Flöte blasend, im Busch umher. Es muß wohl der Klang dessen gewesen sein, was ich euphemistisch als Musik bezeichne, der noch einen anderen Wanderer in meiner Richtung in die Nacht herauslockte. Es war ein junger Mann in einer feingeflochtenen Matte mit einem Kranz im Haar, der eben erst von Tanz und Gesang im Sprechhaus kam; Körper, Gesicht und Augen waren von bezaubernder Schönheit. Überall aus den Gilbertinseln trifft man hier und da Jünglinge von dieser einfach lächerlichen Vollkommenheit; ich habe schon erlebt, daß wir zu fünf, sechs Mann eine halbe Stunde versunken in Bewunderung eines Knabens von Mariki da standen, und Te Kop (mein Freund in der feinen Matte mit den Kränzen) war mir schon verschiedene Male aufgefallen und von mir als bei weitem das schönste Tier von Apemama klassifiziert worden. Der Zaubertrank der Bewunderung muß sehr stark sein, oder die Insulaner sind dafür besonders empfänglich, denn selten habe ich auf den Inseln jemanden bewundert, ohne daß er nicht sofort meine Bekanntschaft gesucht hätte. So war es auch mit Te Kop. Er führte mich an das Meeresufer, wo wir ein, zwei Stunden lang rauchend und schwatzend in dem unbeschreiblichen Strahlenglanz des Mondes auf dem glitzernden Sande saßen. Mein Freund zeigte sich ungemein empfänglich für die Schönheit und Lieblichkeit der Stunde. »Gute Nacht! Gute Wind!« rief er immer wieder, und während er diese Worte sprach, war es, als schwelge er darin. Lange vorher hatte ich derartige wiederholte Ausbruche des Entzückens für eine von mir erschaffene Figur (Felipe in der Geschichte Olalla) erfunden, in der Absicht, das Tierische dieses Wesens auszudrücken. Te Kop war aber durchaus nicht tierisch, sondern bezeugte nur eine kindliche Freude an dem Augenblick. Nicht weniger entzückt war er von seinem Gefährten, wenigstens hatte er die Liebenswürdigkeit, das zu behaupten und beehrte mich vor dem Abschiede damit, daß er mich Te Kop nannte, ja, er apostrophierte mich in den zartesten Tönen als »Mein Name«, wobei er seine Hand flüchtig auf meine Knie legte, und rief mir zweimal, als wir uns erhoben hatten und unsere Wege sich trennten, in einer Art sanften Ekstase zu: »Ie dih lieben zu viel.« Von Anfang an hatte er keinen Hehl aus seiner Furcht vor dem König gemacht; er weigerte sich, sich hinzusetzen oder lauter als im Flüstertone zu sprechen, bis wir nicht die ganze Breite der Insel zwischen ihn und seinen damals harmlos schlummernden Monarchen gelegt hatten, und selbst dann, als wir nur einen Steinwurf weit vom offenen Meere entfernt waren, wo unser Gespräch von dem Geräusch der Brandung und dem Sausen des Windes unter den Palmen übertönt wurde, fuhr er fort, behutsam zu sprechen, senkte seine silberne Stimme (die im Chorgesang laut genug schallte) und blickte rings um sich, wie einer, der sich vor Spionen fürchtet. Das Seltsamste an der Sache ist aber, daß ich ihn nie wieder sah. Aus jeder anderen Insel in der Südsee hätte sich jeder Eingeborene, wenn ich auch nur halb so weit mit ihm gegangen wäre, am nächsten Tage vor meiner Tür sehen lassen, Geschenke bringend und Geschenke erwartend. Aber Te Kop verschwand auf ewig im Busch. Mein Haus war für ihn natürlich unnahbar, er wußte aber, daß er mich am Meeresstrande finden konnte, wohin ich mich jeden Tag begab. Ich war der Kaupoi, der reiche Mann; mein Tabak und meine Waren galten als unerschöpflich: er wäre eines Geschenks sicher gewesen. Ich weiß nicht, wie ich sein Benehmen erklären soll, es sei denn, daß er sich voller Schrecken und Bedauern einer Stelle unseres Gesprächs erinnerte, die folgendermaßen lautete:

»Der Konig, er guter Mann?« erkundigte ich mich. »Wenn eh diss lieben, eh gute Mann«, erwiderte Te Kop; »niss lieben, dann niss gut«.

Das ist natürlich auch eine Art, die Sache klarzulegen. Te Kop selbst war wahrscheinlich kein Liebling des Königs, denn mir erschien er kaum als ein Muster an Fleiß. Außer ihm muß es aber noch viele andere gegeben haben, die der König (um mit Te Kop zu reden) nicht liebt. Mögen diese Unglücklichen nun den König leiden? Oder ist die Abneigung nicht vielmehr gegenseitig und der gewissenhafte Tembinok‘, wie vor ihm der gewissenhafte Braxfield und zahlreiche gewissenhafte Herrscher und Gesetzgeber, dessen Vorgänger, von lauter Murrköpfen umgeben? Nehmen wir zum Beispiel den Koch, der blau vor Wut und Entsetzen an uns vorbeijagte. Er war gegen mich über die Maßen aufgebracht; nach sämtlichen traditionellen Erfahrungen von der menschlichen Natur konnte er aber auch nicht gerade sehr gut auf seinen Herrscher zu sprechen sein. Er versuchte zwar, dem reichen Manne aufzulauern, meiner Meinung nach hat aber nur ein Haar daran gefehlt, daß er statt dessen dem König ein Bein stellte. Obendrein gibt der König dazu selbst reichlich Gelegenheit oder scheint sie doch zu geben; Tag und Nacht geht er unbegleitet umher, ob bewaffnet oder nicht, weiß ich nicht; und die Taropflanzungen, wohin seine Geschäfte ihn oft führen müssen, scheinen für einen Mordangriff geradezu geschaffen. Ja, der Fall des Koches lastete schwer auf meinem Gewissen. Mir widerstrebte es, meinen Feind von zweiter Hand töten zu lassen, doch hatte ich das Recht, dem Könige, der mir vertraut hatte, den gefährlichen und ränkesüchtigen Charakter seines Dieners zu verschweigen? Und wenn nun der König wirklich gestürzt wurde, was würde dann das Schicksal seiner Freunde sein? Unsere damalige Ansicht war, daß wir die Sperrung des Brunnens teuer würden bezahlen müssen, ja, daß unser Lebensodem aus des Königs Nase blies. Falls der König tatsächlich in irgendeinem Tarograben niedergeknüttelt wurde, dann durften die philosophischen und musikalischen Bewohner von Äquatorstadt voraussichtlich ihre angenehmen Zeitvertreibe beiseite legen und sich mit nur wenig Aussicht auf Erfolg auf die Verteidigungsmaßnahmen werfen, wie sie ihnen zur Verfügung standen. Derartige Überlegungen wurden durch einen Zufall, den ich mich schäme zu berichten, in uns wachgerufen. Der Schoner »H. L. Haseltine« (seither mit Verlust von elf Menschenleben untergegangen) war eine Stunde vor uns, die wir unsere Vorräte fast gänzlich erschöpft hatten, in Apemama angelaufen. Der König brachte, wie es seine Gewohnheit war, ganze Tage an Bord zu; unglücklicherweise war der Gin sehr nach seinem Geschmack, und einige Zeit war der unumschränkte Tyrann der Insel stark angesäuselt. Er war nicht betrunken – der Mann ist kein Trunkenbold; er pflegt zwar stets große Vorräte von Schnaps auf Lager zu haben, bedient sich ihrer aber mit Mäßigung – trotzdem war er unklar im Kopfe, blöde und konfus. Eines Tages erschien er, um mit uns zu speisen und schlief, während der Tisch gedeckt wurde, auf seinem Stuhle ein. Seine Verwirrung, als er aufwachte und merkte, daß man ihn ertappt hatte, kam einzig unserer Sorge gleich. Als er gegangen war, sprachen wir noch lange von der Gefahr, in der er schwebte, die wir bis zum gewissen Grade auch für die unsrige hielten – wie leicht er in einem derartigen Zustand von den Unzufriedenen überrascht werden könnte und welche seltsamen Szenen dann folgen würden – königliche Schatzkammer und Lagerhäuser dem Pöbel ausgeliefert, der Palast gestürmt, die Weibergarnison aufgelassen. Und noch während wir sprachen, wurden wir durch einen Gewehrschuß und einen plötzlichen, barbarischen Lärm aufgeschreckt. Ich glaube, wir wechselten alle die Farbe; es war aber nur der König, der auf einen Hund schoß, und der Chor im Sprechhaus, der ein Lied anstimmte. Ein oder zwei Tage später hörte ich, der König sei schwer erkrankt. Ich ging hinunter, um den Fall zu diagnostizieren und errang mir auf der Stelle den höchsten Grad medizinischer Wissenschaft durch eine Dosis doppelkohlensauren Natrons. Noch innerhalb der gleichen Stunde war der König wieder er selbst geworden; ich fand ihn in dem Neubau, vertieft in den doppelten Genuß, Rubam bei seiner Arbeit anzuleiten und eine Mahlzeit von Kokosnußklößen zu verzehren; und er brannte darauf, die Formel für diesen neuen »Schmerzenstöter« kennenzulernen – das ist auf den Inseln der Name für jede Art von Medizin. Damit endeten des Königs bescheidene Ausschweifung und unsere Besorgnis. Nach außen hin erschien die Untertanentreue während dieser Zeit tatsächlich unerschüttert – das muß ich zugeben. Als unser Schoner nach mancherlei Abenteuern durch konträre Winde endlich wiederkehrte, um uns von neuem aufzunehmen, brachte er ein Gerücht mit, daß Tebureimoa Apemama den Krieg erklärt hätte. Im Augenblick wurde Tembinok‘ ein neuer Mensch; er strahlte, und seine Stimmung während einer Versammlung der Ältesten in einer der königlichen Maniapen war froh und eifrig wie die eines Schuljungen, seine Stimme tönte schrill und triumphierend über den halben Hof hinweg. Krieg ist, was er begehrt, und hier war seine Gelegenheit. Der englische Kapitän hatte ihm, als er seine Waffen in die Lagune warf, alle militärischen Unternehmungen außer in einem einzigen besonderen Falle verboten: hier endlich war der eine Fall eingetreten. Den ganzen Morgen über tagte der Rat; Mannschaften wurden gedrillt, Waffen herangeschleppt, Schüsse durchbrachen die nachmittägliche Stille; der König entwarf seinen Feldzugsplan und teilte ihn mir mit. Er war äußerst kompliziert und erfindungsreich, wenn auch für die rauhen Zufälligkeiten des Krieges vielleicht allzufein gesponnen. Und während dieses ganzen Aufruhrs erschien die Haltung des Volkes ausgezeichnet, ungewohntes Leben erstrahlte auf jedem Gesicht, ja, selbst Onkel Parker brannte vor militärischem Eifer.

Natürlich war das Ganze nur ein falscher Alarm. Tembureimoa hatte Näherliegendes, das ihn bekümmerte. Der Gesandte, der uns nach Butaritari zurückbegleitete, fand ihn zurückgezogen auf einer kleinen Insel des Riffs, verzankt mit den alten Männern, verfeindet mit den Händlern und, statt mit einem Appetit auf Kriege im Ausland, zitternd vor Furcht, daß im Lande eine Revolution ausbrechen könnte. Der Bevollmächtigte war unter meinen besonderen Schutz gestellt, wir begrüßten uns daher feierlich bei unserer ersten Begegnung. Er entpuppte sich als ein gewandter Fischer und fing uns vom Schiff aus Bonitos. Er war auch ein vortrefflicher Ruderer und machte sich einen ganzen, glutheißen Nachmittag nützlich, indem er die vor Mariki in einer Flaute liegende »Äquator« in Tau nahm. Er begab sich nach Butaritari, ohne etwas zu erreichen. Dann kehrte er, auch ohne irgendwelchen Schaden gestiftet zu haben, nach Haufe zurück. O si sic omnes!

Sechstes Kapitel. Der König von Apemama: Teufelswerk

Täglich weilten wir am Meeresstrande von Apemama. Die Küste ist von flachen Buchten durchschnitten; das Riff schickt hier einen Arm ins Meer hinaus, erhebt sich hoch über dem Wasserspiegel und umschlingt eine knietiefe Lagune, das ewig bewegte Speibecken der Brandung. Der Strand besteht an dieser Stelle teils aus feinem Sande, teils aus brüchiger Koralle. Bei der konvexen Biegung der Küste kann man auf den ersten Blick knapp ihren vierten Teil übersehen, und da das Land sehr niedrig ist, erscheint der Horizont bis auf einen Steinwurf nahe gerückt; kurz, der schmale Ausblick erhöht das Gefühl der Abgeschiedenheit. Der Inselmensch vermeidet diesen Ort – selbst Fußtapfen sind dort ungewöhnlich, aber eine große Anzahl Vögel schwebt und kreischt hier fischend und zeichnet ihre Hakenspuren in den Sand. Abgesehen von diesen Tieren bilden die Sturzwellen Über dem Riff das einzige Geräusch (und ich wollte auch sagen, die einzige Gesellschaft), die man hier findet.

Auf jedem Küstenvorsprung hat man die Klippe aus Korallenklinker unmittelbar über dem Strande planiert und dort eine vielleicht brusthohe Säule errichtet. Diese hat indes nichts mit den Toten zu tun; alle Leichen werden im Gegenteil auf der bewohnten Seite der Insel, dicht neben den menschlichen Behausungen und (was noch schlimmer ist) neben dem Brunnen begraben. Man sagte mir, diese Denkmäler sollten die Insel gegen das hereinbrechende Meer verteidigen – es sind göttliche oder teuflische Wachttürme, wahrscheinlich Taburik, dem Donnergotte, geweiht.

Die Bucht, die Äquatorstadt unmittelbar gegenüber lag und die wir zu Ehren unseres Kochs Fu Bai getauft hatten, war somit an beiden Spitzen der Sichel befestigt. Sie wurde durch das Riff geschützt und barg in ihrem Inneren klares, stilles Wasser; der sie begrenzende Strand krümmte sich wie ein Hufeisen und war breit und stell. Der Weg mündete etwa in der Mitte der rücklaufenden Biegung, und die Wälder hörten eine ziemliche Strecke landeinwärts auf. Davor, zwischen dem Saume des Waldes und dem Plateau des Strandes, hatte man eine rechteckige Fläche ähnlich einem neuartigen Tennis-court abgesteckt, deren Ränder aus runden, in den Sand eingebetteten Steinen bestanden, und deren Ecken durch niedrige, gleichfalls steinerne Pfeiler markiert waren. Das war des Königs Betplatz. Wann und worum er betete, und an wen er seine Gebete richtete, habe ich niemals erfahren können. Der Ort war tapu.

In dem Winkel neben der Wegmündung stand eine aufgelassene Maniap‘. In der Nähe hatte man schon vor unserer Ankunft ein Haus errichtet, das für den Augenblick nach Äquatorstadt verlegt worden war und dort Dienste tat. Es war das Haus Tamaitis, des Hüters und Zauberers des Orts, gewesen und sollte es nach unserer Abreise von neuem werden. Hier, in dieser einsamen Gegend, in Hörweite der See hatte er gehaust und seine unheimlichen Pflichten verrichtet. Ich kann mich nicht erinnern, je wieder gehört zu haben, daß ein Mensch auf der Meeresseite eines offenen Atolls gewohnt hätte, und Tamaiti muß starke Nerven, ein größeres Vertrauen in seine eigenen Künste oder, was ich glaube, einen beneidenswerten Skeptizismus besessen haben. Ob Tamaiti auch irgendwie als Hüter des Betplatzes bestellt war, weiß ich nicht. Seine eigene Privatandachtstätte lag weiter hinten am Waldrand. Sie bestand aus einem recht ansehnlichen Baum, um den ein Kreis, ähnlich der Linie, die des Königs Betplatz umgrenzte, gezogen war; davor, dicht am Stamm, stand mit der Front nach dem Meere ein Stein von sehr großem Umfang und leicht ausgehöhlt, etwa wie eine Piscina; davor wieder ein konischer Kieshaufen. In die Höhlung der sogenannten Piscina (die, wie es sich herausstellte, in Wahrheit ein Zauberstuhl war) war ein Opfer von grünen Kokosnüssen niedergelegt; und wenn man aufblickte, entdeckte man, daß die Äste des Baumes mit seltsamen Früchten beladen waren: mit kunstvoll geflochtenen Palmzweigen und wundervollen, bis in alle Einzelheiten durchgebildeten Modellen von Kanoes. Das Ganze bot den Anblick eines mitsommerlichen, rustikalen al fresco Weihnachtsbaumes. Wir waren jedoch mit den Gilbert-Inselnbräuchen genügend vertraut, um hier auf den ersten Blick eine Zauberei – oder wie es auf dieser Gruppe heißt – ein Teufelswerk, zu erkennen.

Wir erkannten es an den geflochtenen Palmwedeln, die wir schon anderswo, auf Apaiang, dem christlichsten Eilande jener Gruppe, gesehen hatten, wo der treffliche Mr. Bingham goldenen Angedenkens gelebt und gewirkt hat. Von dort ist alle Zivilisation, die es auf den nördlichen Gilberts gibt, ausgegangen; dort hatten wir von kleinen, eingeborenen Sonntagsschulfräuleins mit gesittetem Wesen und sauberen Kleidchen, die Kirchenlieder sangen, als wären sie dazu geboren, Besuch erhalten.

Unsere Erfahrungen von Teufelswerk auf Apaiang waren folgende: – Zufällig hatten wir uns nächtlicherweise im Hause Kapitän Tierneys verspätet. Meine Frau und ich wohnten rund eine halbe Meile entfernt bei einem Chinesen, und dorthin begleiteten uns Kapitän Tierney und ein Eingeborenenjunge mit Leuchtfackeln. Unterwegs gingen die Fackeln aus und wir flüchteten uns in ein einsames, christliches Kapellchen, um sie wieder anzuzünden. Da fand ich mitten in die Balken der Kapelle gesteckt einen geflochtenen Palmzweig. »Was ist das?« lautete meine Frage. »Das? Oh, das ist Teufelswerk«, antwortete der Kapitän. »Und was ist Teufelswerk?« erkundigte ich mich, »Wenn Sie wollen, werde ich es Ihnen bei Johnnie zeigen.« Johnnies Haus entpuppte sieh als ein originelles Hüttchen hoch oben am Strande, teils aus Mauern teils aus Gitterwerk auf etwa drei Fuß hohen Pfählen errichtet und mittels einer Treppe zugänglich. Trophäen in Gestalt von Reklamephotographien hingen als Schmuck an den Wänden. Es gab einen Tisch und ein Wandbett, in dem meine Frau schlief, während ich mit Johnnie, Frau Johnnie, ihrer Schwester und des Teufels eigenstem Regiment von Küchenschaben auf dem Fußboden kampierte. Dorthin berief man eine alte Hexe, deren Äußeres zum Entsetzen gut zu ihrer Rolle paßte. Die Lampe wurde auf den Boden gestellt; die Vettel kauerte sich, einen grünen Palmzweig in der Hand, auf der Schwelle nieder, das Licht fiel voll auf ihren uralten Kopf und suchend auf die verängstigten Gesichter der Zuschauer in der pechschwarzen Dunkelheit. Unsere Zauberin begann mit einem beschwörenden Singsang, der in der alten fremden Sprache war, für die ich keinen Dolmetscher hatte, und von Zeit zu Zeit durchlief die Versammlung dort draußen jenes Lachen, das jeder Reisende auf den Inseln gar bald als ein Gelächter der Furcht erkennen lernt. Zweifellos waren diese halben Christen empört, während ihre andere heidnische Hälfte sich entsetzte. Nachdem man Tschentsch oder Taburik also gebührend invoziert hatte, stellten wir unsere Fragen; die Hexe flocht die Blätter, hier ein Blatt, dort ein Blatt, augenscheinlich nach einem arithmethischen System, studierte mit offensichtlicher Zufriedenheit das Resultat und erteilte ihre Antworten. Sidney Colvin erfreue sich ausgezeichneter Gesundheit und befände sich augenblicklich auf Reisen, und wir würden morgen guten Wind haben: das war das Ergebnis, für das wir einen Dollar zahlten. Der morgige Tag erschien windlos und wolkenlos, aber ich glaube, Kapitän Reid vertraute insgeheim der Sybille, denn der Schoner wurde fahrtbereit gemacht. Um acht trübte sich der Spiegel der Lagune mit langen Kräuselwellen und die Palmen schwankten und rauschten im Winde; noch vor zehn lag die Einfahrt hinter uns, und wir schossen mit vollen Segeln und schäumenden Speigatten dahin. So bekamen wir wenigstens die Brise, die schon gut einen Dollar wert war; doch stellte es sich einige sechs Monate später heraus, daß das Bulletin über meinen Freund in England jeder Grundlage entbehrte. Vielleicht liegt London aber auch außerhalb des Wirkungskreises der Inselgötter.

Zu Anfang zeigte sich Tembinok‘ jedem Aberglauben streng abgeneigt, und hätte die Äquator nicht so lange auf sich warten lassen, wir wären vielleicht abgereist in dem guten Glauben, daß er ein Agnostiker sei. Zufällig kam er jedoch eines Tages in unsere Maniap‘, während meine Frau mit einer Patience beschäftigt war. Sie erläuterte ihm das Spiel so gut sie konnte und schloß ihre Auseinandersetzung mit dem Scherzwort, daß das ihr Teufelswerk sei, und daß die »Äquator«, wenn die Patience aufginge, morgen eintreffen würde. Tembinok‘ muß tief aufgeatmet haben; also saßen wir doch nicht so ganz auf dem hohen Pferd; er brauchte sich nicht mehr zu verstellen, und sofort machte er sich an eine Beichte. Er vollführe jeden Tag Teufelswerk, gestand er uns, um zu wissen, ob Schiffe zu ihm unterwegs wären; und von nun an teilte er uns jedesmal das Ergebnis mit. Es war erstaunlich, wie häufig er sich irrte, aber stets hatte er eine Erklärung bei der Hand. Ein Schoner läge dicht hinter Sichtweite vor der Insel; entweder war er aber nicht für Apemama bestimmt, oder er hatte seinen Kurs geändert oder er kam aus der Flaute nicht heraus. Ich pflegte den König bei diesen Anlässen, wenn er sich so öffentlich zu belügen suchte, mit Ehrfurcht zu betrachten. Hinter ihm sah ich sämtliche Kirchenväter, Philosophen und Männer der Wissenschaft aus der Vergangenheit; vor ihm alle die, die noch kommen sollten; ihn selbst in der Mitte. Die ganze visionäre Versammlung rang mit der Aufgabe, Ungereimtheiten auszugleichen. Bis zuletzt sprach Tembinok‘ jedoch nur widerwillig von den Inselgottheiten und ihrem Kult, so daß ich nur wenig über sie erfahren konnte. Taburik ist der Gott des Donners und hat mit Wind und Wetter zu tun. Bis vor kurzem gab es noch Zauberer, die ihn als Blitz vom Himmel herunterzuholen verstanden. »Mein Patah, eh mih sagen, daß eh das sehen: du glauben, eh lügen?« Tienti – ausgesprochen etwa wie »Tschentsch« und von seiner Majestät als der Teufel identifiziert, sendet und heilt die körperlichen Krankheiten. Man ruft ihn durch Pfeifen, nach Art der Paumoter, und er soll dann auch erscheinen, doch hat ihn der König niemals gesehen. Die Ärzte behandeln Krankheiten mit Hilfe von Tschentsch: wobei der eklektische Tembinok‘ indessen zugleich den »Schmerzenstöter« aus seinem Medizinkasten appliziert, um dem Leidenden beide Chancen zu geben. »Ie glauben, vie bessah so«, bemerkte seine Majestät mit noch mehr als seiner üblichen Selbstzufriedenheit. Anscheinend sind die Götter nicht eifersüchtig: sie erfreuen sich in Gemütsruhe gemeinsamer Heiligtümer und gemeinsamer Priester. So hängen an Tamaitis Medizinbaum die ex Voto zwecks einer günstigen Reise geschenkten Kanoemodelle, die daher Tamburik, dem Wettergott geweiht sein müssen; aber der davorstehende Stein ist von den Kranken zur Besänftigung Tschentschs gestiftet.

Durch einen außerordentlichen Glücksfall zog ich mir, noch während wir von diesen Dingen sprachen, eine Erkältung zu. Ich glaube kaum, daß ich mich je zuvor über eine Erkältung gefreut habe, noch daß ich mich je wieder darüber freuen werde, aber so bot sich mir eine unschätzbare Gelegenheit, die Zauberer während ihrer Arbeit zu belauschen, und ich berief daher die Fakultät von Apemama zu mir. Sie erschien in corpore, alle in ihren Sonntagskleidern und mit Kränzen und Muscheln, den Insignien des Teufelwerkes, behangen. Tamaiti kannte ich bereits: Terutak‘ – einen großen, hageren, grobschlächtigen, ernsten, schottischen Nordsee-Fischer mit etwas allzu brauner Haut – sah ich zum erstenmal, und noch ein dritter war mit von der Partie, dessen Namen ich nie gehört habe und der Tamaiti als Famulus diente. Tamaiti nahm mich zuerst in Behandlung und führte mich unter angenehmem Geplauder an die Ufer von Fu Bai. Der Famulus bestieg auf der Suche nach grünen Kokosnüssen einen Baum. Inzwischen verschwand Tamaiti selbst im Busch und kehrte mit Kokoszunder, trockenen Blattern und einem Zweig Wachsbeeren zurück. Man setzte mich auf den Stein, den Rücken gegen den Baum, das Gesicht der Windseite zugekehrt; zwischen mich und dem Kieshaufen legte man eine der grünen Nüsse, und dann trat Tamaiti (nachdem er zuvor seine Segeltuchschuhe, die ihn peinigten, ausgezogen hatte) zu mir in den magischen Kreis, grub in den Kieshaufen eine kleine Höhlung, in deren Inneres er seinen Scheiterhaufen aufbaute und hielt ein brennendes Streichholz – es war von Bryant und May – daran. Das Feuer wollte nicht anbrennen, und der respektlose Zauberer füllte die Zwischenzeit mit allerlei Geschwätz von fremden Städten aus – von London und »Aktiengesellschaften«, und wie viel Geld sie besaßen; von San Francisco und den schädlichen Nebeln »ganß wie Rauch«, die ihn fast umgebracht hätten. Vergeblich versuchte ich ihn auf den Gegenstand zu bringen, mit dem er sich jetzt beschäftigte. »Alle Menschen machen Medizin«, sagte er leichthin. Und als ich ihn fragte, ob er selbst ein guter Arzt wäre, erwiderte er noch leichtfertiger: »Ie niß savvy.« Endlich fingen die Blätter Feuer, dem er fortfuhr neue Nahrung zu geben; ein dichter, heller Rauch blies mir ins Gesicht, und die Flammen schlugen mir entgegen und versengten meine Kleider. Inzwischen redete er den Geist an, oder tat doch so, wobei seine Lippen sich lautlos bewegten; gleichzeitig schwang er die Arme durch die Luft und schlug mich zweimal mit seinem grünen Zweige auf die Brust. Sobald die Blätter verbrannt waren, begrub er die Asche, der grüne Zweig wurde in den Kies gebettet, und die Zeremonie war beendet.

Ein Leser von »Tausendundeine Nacht« würde sich hier vollkommen zu Hause fühlen. Hier war das Räucherwerk, der murmelnde Zauberer; hier der einsame Ort, an den Aladdin von seinem falschen Onkel gelockt wurde. Aber auf diese Dinge versteht man sich am besten in Romanen. Diesmal wurde die Wirkung durch die Leichtfertigkeit des Zauberers, der wie ein liebenswürdiger Zahnarzt seinen Patienten mit allerlei gleichgültigem Geschwätz unterhielt, und durch die unpassende Gegenwart Mr. Osbournes und seiner Kamera gestört. Und was meine Erkältung anbetrifft, so wurde sie weder besser noch schlimmer.

Darauf wurde ich Terutak‘ übergeben, dem führenden Arzt oder Geheimrat von Apemama. Seine Wohnung liegt auf der Lagunenseite der Insel, hart neben dem Palaste. Ein etwa zwei Fuß hohes Holzgeländer umschließt hier wie bei der Betstätte des Königs, einen länglichen Kiesplatz in dessen Mitte ein grüner Baum wächst. Darunter stehen auf einem Tisch zwei, mit einer feinen Matte bedeckte Kästen, und vor ihnen wird täglich eine Kokosnuß, ein Stück Taro oder ein Fisch als Opfer niedergelegt. Auf beiden Seiten der Einfriedung steht eine Reihe von Maniapen, und einer unserer Gesellschaft, der viel zum Zeichnen hierherging, hatte wiederholt eine Schar kranker Kinder dort hinpilgern sehen, denn der Ort war in Wahrheit das Hospital von Apemama. Der Arzt und ich betraten allein die heilige Stätte; die Kästen und Matten wurden von dem Tisch genommen, und ich wurde an ihrer Statt, wieder mit dem Gesichte nach Osten, auf den Stein gehoben. Eine Weile blieb der Zauberer hinter meinem Rücken unsichtbar, mit einem Palmzweig allerlei Kreise in der Luft beschreibend. Dann schlug er mich leicht auf den Rand meines Strohhutes, und dieser Schlag wurde von Zeit zu Zeit wiederholt, nur daß der Zweig manchmal statt des Hutes meinen Arm und meine Schulter streifte. Ich habe wohl ein dutzendmal erlebt, daß Leute mich zu hypnotisieren versuchten, ohne das geringste Resultat. Aber schon bei dem ersten Schlage – auf keinen wichtigeren Punkt als den Rand meines Strohhutes und von nichts Bedeutsameren als einem Palmzweig in der Hand eines Mannes, den ich nie zuvor gesehen hatte, – überfiel mich der Schlaf wie mit Waffengewalt. Meine Sehnen erschlafften, meine Augen schlossen sich, mein Hirn schwamm vor Schläfrigkeit. Ich wehrte mich zuerst instinktiv, dann in einer Art aufgeregter Verzweiflung, die zum Schluß auch siegte, wenn man in der Tat das einen Sieg nennen kann, was mir gerade noch ermöglichte, auf die Füße zu stolpern, in einem somnambulischen Zustand nach Hause zu wanken und mich auf mein Bett zu werfen, wo ich in eine traumlose Betäubung versank. Als ich erwachte, war die Erkältung vorbei, und damit lasse ich die Angelegenheit auf sich beruhen, da ich sie nicht verstehe.

Inzwischen hatte sich mein Appetit auf Kuriositäten (der für gewöhnlich nicht sonderlich stark war) durch die heiligen Kästen seltsam verschärft. Die Kästen, von vier Füßen getragen, waren aus Pandanusholz, von länglicher Form und die Seitenwände gleichsam erhaben und wie aus Stroh geflochten sowie an den Rändern leicht mit Haar oder Fasern verkleidet. Die Außenseite war so sauber und fein gearbeitet wie ein Spielzeug, das Innere ein Mysterium, in das einzudringen ich beschlossen hatte. Aber es lag noch ein Löwe quer über meinem Pfad. Ich konnte mich nicht an Terutak‘ wenden, da ich versprochen hatte, nichts auf der Insel zu kaufen; ich wagte auch nicht an den König zu appellieren, denn ich hatte von ihm bereits mehr Geschenke erhalten, als ich je hoffen durfte, erwidern zu können. Aus diesem Dilemma fanden wir (da inzwischen auch der Schoner wieder erschienen war) einen Ausweg. Kapitän Reid trat statt meiner vor, bekannte seine unbezähmbare Leidenschaft für die Kästen und bat und erhielt auch die Erlaubnis, mit dem Zauberer zu verhandeln. Noch am gleichen Nachmittage machten der Kapitän und ich uns schleunigst auf den Weg nach dem Hospital, betraten den eingezäunten Platz, hoben die Matten hoch und begannen mit Muße die Kästen zu untersuchen. Sofort stürzte Terutaks Frau aus einem der benachbarten Häuser auf uns zu, raffte ihre Schätze zusammen und war verschwunden. In meinem ganzen Leben bin ich nicht so vollständig überrumpelt worden. Sie kam, sie nahm, sie schwand, ich weiß nicht wohin, und wir blieben mit dummem Gesicht und dummem Lachen auf dem leeren Schlachtfelde zurück. Das war der passende Prolog für unser denkwürdiges Handelsgeschäft.

Nach einer Weile tauchte Terutak‘ in Begleitung Tarnaitis auf, beide lächelnd, und wir vier hockten uns auf das Geländer hin. In den drei Maniapen des Krankenhauses hatte sich eine Zuhörerschaft versammelt: die Angehörigen eines kranken und in Behandlung befindlichen Kindes, ferner des Königs Schwester mit einem Kartenspiel beschäftigt, ein hübsches Mädchen, das schwor, ich sei das Ebenbild ihres Vaters: alles in allem vielleicht zwanzig Personen. Terutaks Frau war von neuem so plötzlich erschienen, wie sie verschwunden war und saß jetzt atemlos und scharf aufpassend neben ihrem Gatten. Vielleicht war unsere Absicht gerüchtweise bekannt geworden, vielleicht hatten wir auch durch unsere unziemlichen Freiheiten die Leutchen alarmiert; gewiß ist, daß auf den Gesichtern aller Anwesenden Erwartung und Besorgnis geschrieben standen.

Kapitän Reid verkündete jetzt ohne jede Vorrede oder Bemäntelung, daß ich hierher gekommen wäre, um die Kästen zu kaufen; Terutak‘ erklärte darauf mit plötzlichem Ernst, daß sie ihm nicht feil wären. Wir drangen in ihn, er aber blieb fest. Wir setzten ihm auseinander, daß wir nur einen Kasten haben wollten: machte nichts, zwei wären erforderlich, um die Kranken zu heilen. Wir neckten ihn, redeten hin und her: alles umsonst. Ernst und schweigsam saß er da und weigerte sich. Bisher jedoch war das nur ein vorbereitendes Scharmützel gewesen; wir hatten noch keine Geldsumme genannt, jetzt aber ließ der Kapitän die schweren Geschütze spielen. Er nannte ein, zwei, schließlich drei Pfund. Aus den Maniapen gesellte sich einer nach dem andern zu uns, einige aus schierer Neugier, andere in unverhohlener Bestürzung. Das hübsche Mädchen schlich sich an meine Seite: dieser Moment war es, da sie mir – sicherlich nur in harmlosester Schmeichelei – die Ähnlichkeit mit ihrem Vater gestand. Tamaiti, der Ungläubige, saß kopfhängerisch, und mit jedem Anzeichen tiefster Depression da – Terutak‘ troff vor Schweiß, seine Augen wurden glasig, auf seinem Gesicht erschien eine unangenehme hektische Röte, seine Brust hob und senkte sich wie bei einem erschöpften Wettläufer. Der Mann muß von Natur aus habgierig gewesen sein; ich zweifle, ob ich je eine moralische Tortur so tragisch sich habe ausdrücken sehen. Inzwischen redete ihm die Frau an seiner Seite leidenschaftlich zu und bestärkte ihn in seinem Widerstand.

Und jetzt kam der Sturmangriff der alten Garde. Der Kapitän schoß ein Saltomortale und nannte die erstaunliche Summe von fünf Pfund. Bei diesem Wort leerten sich die Maniapen. Des Königs Schwester warf ihre Karten hin und kam nach vorne, um mit bewölkter Stirn zu lauschen. Das hübsche Mädchen schlug sich auf die Brust und schrie mit peinlicher Hartnäckigkeit, daß ich die Kästen kriegen würde, wenn sie die ihren wäre. Terutaks Frau geriet vor frommer Furcht außer sich, ihr Gesicht verzerrte sich, ihre Stimme (die nicht aufhörte zu warnen und zu ermutigen) schrillte wie eine Pfeife. Selbst Terutak‘ verlor die statuengleiche Unbeweglichkeit, die er bisher gewahrt hatte. Er schaukelte sich auf seiner Matte hin und her, zog abwechselnd das eine und das andere Knie an sich und schlug sich nach Art der Tänzer auf die Brust. Allein er ging als lauteres Gold aus der Feuerprobe hervor und weigerte sich, mit der wenigen Stimme, die ihm noch geblieben war, die Bestechung anzunehmen.

Jetzt trat ein willkommener Zwischenfall ein. »Geld, das niß Kjanken heilen«, bemerkte sententiös des Königs Schwester. Kaum hatte man mir den Einwurf verdolmetscht, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel und ich mich meines Tuns schämte. Hier war ein krankes Kind, und ich trachtete in Gegenwart seiner Eltern danach, den Medizinkasten zu entfernen. Hier war ein Priester der Religion und ich (ein heidnischer Millionär) verführte ihn zu einem Sakrileg. Hier war ein habgieriger Mensch, der zwischen Geiz und seinem Gewissen hin und her gerissen wurde, und ich saß daneben, weidete mich an dem Anblick und erneuerte wollüstig seine Qualen! Ave, Caesar! Irgendwo in einem Winkel schlummernd aber nicht tot, ruht in uns allen die eine Urleidenschaft: eine embryonale Sucht nach dem Sand und dem Blut der Arena! So brachte ich denn mein erstes und letztes Erlebnis als Millionär zu Ende und ging unter ehrfürchtigem Schweigen hinaus. Nirgends sonst darf ich erwarten, je wieder so bis in alle Tiefen hinein die menschliche Natur aufzurühren – mit Hilfe von fünf Pfund; nirgends sonst, selbst unter Anwendung von Millionen, kann ich hoffen, das Verderbliche des Reichtums so rückhaltlos entschleiert zu sehen. Von allen Zuhörern hatte allein des Königs Schwester die Erinnerung an den Ernst und die Gefahr des Augenblicks gewahrt. Die Augen der anderen glühten, das Mädchen schlug sich in tierischer, sinnloser Aufregung auf die Brust. Dabei hatte man ihnen selbst nichts geboten; sie hatten weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren gehabt; allein die Nennung und die Witterung dieser ungeheuren Summen genügten, um den Teufel in ihnen aufleben zu lassen.

Von dieser seltsamen Verhandlung begab ich mich schnurstracks in den Palast, suchte den König auf, gestand ihm, was ich getan hatte, bat ihn, Terutak‘ in meinem Namen zu seiner Tugend zu beglückwünschen und noch vor Rückkehr des Schoners einen ähnlichen Kasten für mich anfertigen zulassen. Tembinok, Rubam und eine der Tageszeitungen, den wir unter uns die »Luftige Ecke« getauft hatten – schienen eine Weise an irgendeiner Idee zu arbeiten, die sie endlich nach langem Ringen in Worte faßten. Sie fürchteten, ich wäre der Ansicht, der Kasten könnte mich heilen, während er doch ohne den Zauberer nutzlos war, und wenn ich eine neue Erkältung kommen fühlte, täte ich besser daran, mich auf den »Schmerzentöter« zu verlassen. Ich erklärte ihnen daher, daß ich lediglich den Wunsch hätte, ihn als Andenken an Apemama in meinem »’Aus« aufzubewahren, worauf die ehrlichen Burschen außerordentliche Erleichterung zeigten.

Spät am gleichen Abend hörte meine Frau auf dem Wege zum Meeresufer aus dem Busch ein Singen. Nichts ist alltäglicher, als zu jener Stunde und an jenem Orte das jubelnde Lied der Palmweinzapfer zu vernehmen, die sich hoch zu Häupten in den Palmen wiegen und dabei unter sich das schmale Band der Insel, die es umschließende weite Ebene des Ozeans und die Flammen des Sonnenuntergangs sehen. Doch jener Gesang war ernsteren Charakters und schien vom Erdboden aufzusteigen. Als meine Frau auf das Dickicht zuschritt, sah sie an einem freien Fleck eine feine Matte ausgebreitet, und in der Mitte einen Kranz weißer Blumen und einen der Teufelskästen. Eine Frau – in der wir ruhig Frau Terutak‘ vermuten dürfen – saß davor, beugte sich von Zeit zu Zeit über den Kasten wie eine Mutter über eine Wiege und hob dann wieder den Blick und ihre Stimme zum Himmel empor. Ein vorübergehender Palmweinzapfer erzählte meiner Frau, daß sie betete. Wahrscheinlich aber betete sie nicht so sehr, als daß sie Abbitte leistete, oder vielleicht war die Zeremonie auch nur eine Entzauberung. Denn der Kasten war bereits verurteilt; er sollte seinem grünen Medizinbaum, der heiligen Stätte und den frommen Wärtern entrissen werden, um drei Meere zu durchkreuzen und direkt unter der Narrenkappe der Sankt Pauls Kathedrale zu landen. Dort, hart bei Lillie Bridge, sollte er beheimatet und täglich von einem britischen Zimmermädchen abgestaubt werden. Dort hat er vielleicht das Gebraus von London City für die Stimme des offenen Meeres über den Riffen gehalten. Noch ehe wir unser Abendessen beendet hatten, mußte Tschentsch seine Reise bereits antreten, denn eine der Zeitungen des Königs stellte den Kasten als Geschenk Tembinoks auf unseren Tisch.

Ich eilte sofort in den Palast, bedankte mich beim König, erbot mich jedoch den Kasten zurückzuerstatten, denn ich konnte den Gedanken, daß die Kranken der Insel dafür zahlen sollten, nicht ertragen. Seine Antwort setzte mich in Erstaunen. Terutak‘ – so stellte es sich heraus – besaß noch drei oder vier Kästen für Unglücksfälle in Reserve, und die Abneigung und Furcht, die sich auf seinem Gesicht widerspiegelten, wurzelten durchaus nicht in der Aussicht, eines medizinischen Schatzes beraubt zu werden, sondern unmittelbar in der Göttlichkeit Tschentschs. Wie sehr lernte ich jetzt des Königs Macht respektieren, die imstande war, augenblicklich und für nichts eine kirchenschänderische Gunst zu erpressen, die ich vergeblich mit meinen Millionen zu erkaufen versucht hatte! Doch jetzt stand mir noch eine schwierige Aufgabe bevor. Ich wollte nicht, daß Terutak‘ durch seine Tugend Einbuße erleiden sollte; ich mußte daher den König zu meiner Anschauung bekehren und ihm die Erlaubnis abringen, einen seiner Untertanen bereichern zu dürfen, ja (was das Allerheikelste war), ich wollte mein Geschenk bezahlen. Nichts zeigt den König in einem vorteilhafteren Lichte als die Tatsache, daß mir jener Versuch gelang. Zuerst murrte er gegen das Prinzip; er schlug, als er die Summe hörte, die Hände über dem Kopfe zusammen. »Vie Geld!« rief er, ohne sein verächtliches Mißfallen zu verbergen. Allein sein Widerstand war zu keiner Zeit wirklich ernst gemeint, und als seine schlechte Laune verflogen war, meinte er: »A‘ right. Du ihm geben. Vie beßah.«

Bewaffnet mit dieser Erlaubnis ging ich direkt in das Hospital. Die Nacht war jetzt kühl, dunkel und sternklar. Auf einer Matte, dicht neben einem hellen Feuer aus Holz und Kokosrinde, lag Terutak‘ neben seiner Frau. Beide lächelten; ihre Qualen waren vorüber; des Königs Befehl hatte wohl ihre ängstlichen Skrupel beschwichtigt, und man bat, ich möchte mich setzen und die kreisende Pfeife teilen. Ich war selbst ein wenig erregt, als ich die fünf Goldstücke in des Zauberers Hand legte, allein auf Terutaks Gesicht stand kein Zeichen von Bewegung, als er sie mir zurückgab, nach dem Palast hinüberwies und den Namen Tembinoks nannte. Dagegen war die Szene mit einem Schlage verwandelt, als ich ihnen die Lage glücklich auseinandergesetzt hatte. Terutak‘, dieser lange, sauertöpfische, schottische Fischer, drückte seine Zufriedenheit noch innerhalb der menschlichen Grenzen aus, aber die Frau strahlte geradezu, und ein alter Herr, der sich in ihrer Gesellschaft befand – ihr Vater, wie ich annehme, – schien förmlich verklärt. Seine Augen quollen ihm aus dem Kopf. »Kaupoi, kaupoi, – reich, reich« – ertönte es in endloser Wiederholung von seinen Lippen, und er konnte mich nicht ansehen, ohne vor törichtem Gelächter förmlich zu gurgeln. Jetzt konnte ich nach Hause gehen, und jener vom Feuer beschienene Familienkreis blieb allein zurück, um sieh an seinen neuen Millionen zu weiden – und dann konnte ich meinen seltsamen Tag überdenken. Ich hatte den Millionär gespielt, hatte mich schandbar benommen und dann bis zum gewissen Grade meine Gedankenlosigkeit wieder gutgemacht. Und jetzt besaß ich meinen Kasten und konnte in ihn hineinsehen. Er enthielt eine Schlafmatte en miniature und eine weiße Muschel. Als ich am folgenden Tage Tamaiti über die Muschel befragte, erklärte er, sie wäre ja nicht gerade Tschentsch in eigenster Person, aber eine Verkörperung von ihm, eine Zelle, die er mitunter bewohnte. Auf die Frage hin, was denn die Schlafmatte zu bedeuten hätte, erwiderte er voller Entrüstung: »Weshalb ihr haben Matten?« Das war also der skeptische Tamaiti! Aber der Skeptizismus auf den Inseln sitzt nirgends tiefer als auf den Lippen.