Drittes Kapitel. Im Umkreis unseres Hauses
Als wir den Palast verliessen, waren wir noch heimatlose Wanderer des Meeres, auf einen Augenblick an Land gegangen; innerhalb einer Stunde hatten wir uns in einem der sechs ausländischen Häuser von Butaritai installiert und zwar in dem, das für gewöhnlich von Maka, dem hawaiischen Missionar, bewohnt wurde. Zwei San Franciscoer Firmen, Messrs. Crawford und Messrs. Wightman Brothers, haben hier ihre Niederlassungen: erstere dicht neben dem Palast mitten in der Stadt, letztere am Nordende des Ortes, und jede mit einem Laden und einer Bar. Unser Haus lag auf dem Wightmanschen Grundstück, zwischen Laden und Bar, innerhalb eines hölzernen Zaunes. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße schmiegten sich ein paar Eingeborenenhäuser in die Ausläufer des Busches, und die Palmen ragten empor wie eine grüne, feste Mauer, jeden Lufthauch absperrend. Eine kleine sandige Bucht der Lagune reichte hinten bis an das Haus heran, begrenzt von einem Steg mit Veranda, das Werk der Hände der siebzehn Königinnen. Hier legten, wenn Flut war, die Segelboote an, um gelöscht zu werden; bei Ebbe gingen die Schiffe eine halbe Meile weiter draußen vor Anker, und eine endlose Kette von Eingeborenen stieg dann die Landungstreppe hinab, schlängelte sich über den Sand, watete mit Koprasäcken beladen bis zu den Hüften im Wasser und wand sich gemütlich wieder zurück, um neue Lasten aufzunehmen. Die Geheimnisse des Koprahandels reizten meine Neugier, und stundenlang saß ich und sah zu, wie die Gewinne auf den Steg und auf den Sand niedersickerten. Auf der Frontseite strömte von vier Uhr morgens bis neun Uhr abends die Stadtbevölkerung an uns vorbei: ganze Familien, auf dem Wege nach ihren Pflanzungen zur Kopraernte; Weiber, die in den Busch wollten, auf der Suche nach Blumen für die abendliche Toilette; und zweimal am Tage die Palmweinzapfer, jeder mit seinem Messer und einer ausgehöhlten Kokosnuß bewaffnet. Beim ersten Strahl des Morgengrauens, dann wieder spät am Nachmittage wanderten sie vereinzelt an uns vorbei, auf dem Wege zu ihrer Arbeit in den Baumwipfeln, verschwanden hier und dort im Busch und wurden nicht mehr gesehen. Etwa zur gleichen Stunde waren wir, falls Ebbe herrschte, oft selbst unterwegs zum Baden in der Lagune und betraten meistens dann dicht hinter ihnen die Alleen der Palmenwälder. Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen ist, sind doch bereits die ersten Feuer des Morgens angezündet, und die aufgehäuften Wolkenmassen des Passats erglühen und signalisieren den kommenden Tag. Die Brise umfächelt das Gesicht; zu Häupten, in den Palmenwipfeln, die ihr als Spielzeug dienen, weckt sie ein lautes Rauschen; wohin man auch sieht, nach unten oder oben, nirgends ein menschliches Wesen, nur Erde und der bebende Wald. Und unmittelbar über einem in dem dichten Blättergewirr erklingt ganz plötzlich das Lied eines unsichtbaren Sängers. Weither von einem zweiten Wipfel kommt die Antwort, und noch tiefer im Herzen des Waldes hockt, schwingt und singt ein dritter Musikant. So kauern rings auf der ganzen Insel die Palmweinzapfer auf ihrem schwanken Sitz, lassen sich vom Winde schaukeln und spähen nach dem Meere aus, wo sie das Auftauchen der Segel beobachten und ungeheuren Vögeln gleich ihren Morgengesang anstimmen. Sie singen mit einer gewissen bacchantischen Lust und Freude; die Fülle von Klang und artikulierter Melodie strömt überraschend von den Gipfeln nieder, von dorther, wo man nur das Gezwitscher der Vögel erwartet, und doch sind auch diese Lieder nicht viel mehr als ein Gezwitscher. Die Worte sind uralt, vergessen und geheiligt; nur wenige verstehen sie noch, keiner wohl von Grund auf, aber es hieß, die Zapfer »beteten um guten Palmwein und sängen von ihren alten Fehden.« Und das Gebet wird auch erfüllt. Wenn einem die schäumende Schale ins Haus gebracht wird, erhält man ein Getränk, das sich eines Dankgebets wohl lohnt. Den ganzen Vormittag über darf man immer wieder kommen, um zu kosten; es funkelt, wird stärker und wächst sich zu einem neuen, nicht minder köstlichen Trank aus. Im Laufe des Tages nimmt die Gärung zu und gewinnt an Säure; nach zwölf Stunden ist sie zur Brothefe geworden, in zwei Tagen zu einem teuflischen Rauschmittel, das die Menschen zu Verbrechen treibt. Die Männer haben ausgesprochenen Arabertyp, häufig mit Bart oder Schnurrbart. Manche tragen die buntesten Kleider, manche Arm- und Beinringe, und alle stolzieren hidalgogleich einher und nehmen Begrüßungen hoheitsvoll entgegen. Das Haar wird von den Gigerln beiderlei Geschlechts in einem krausen, turbangleichen Schopf getragen, und ein den Dolchen der Japaner ähnlicher, spitzer Pfeil wird an Stelle des Kamms herausfordernd in die Frisur gesteckt. Die Weiber blicken unter diesem Haarwust kokett hervor: was Frauenschönheit betrifft, kann sich die Rasse zwar keineswegs mit den Tahitiern vergleichen, und ich bezweifle, ob der Durchschnitt ein hoher ist, trotzdem waren mit die hübschesten Mädchen und stattlichsten Weiber, die ich je gesehen habe, Gilbertinerinnen. Butaritari ist als kommerzieller Mittelpunkt der ganzen Gruppe europäisiert; ein loses, farbiges Gewand oder ein feines weißes Hemd, letzteres nur für den Abend, ist jetzt die gebräuchlichste Kleidung; der billige, mit Blumen, Früchten und Bändern überladene importierte Hut ist leider auch nicht unbekannt, und das charakteristischste Frauenkleid der Gilbertinseln ist nicht mehr Allgemeingut. Dieses heißt »Ridi« und besteht aus einem kurzen Röckchen oder Gürtel aus geräucherten Kokosnußblättern, die geteertem Bindfaden nicht unähnlich sind: das untere Ende reicht knapp bis zum Oberschenkel, das obere hängt so tief über den Hüften, daß es dort nur zufällig zu haften scheint. Ein einziges Niesen und man glaubt, die Dame stände nackt da. »Das verwegene, haarschmale Ridi« hatten wir es getauft; und in dem Konflikt, der gegenwärtig um die Weiberkleidung tobt, hat es das Unglück, beiden Seiten zu mißfallen. Die Prüden verdammen es als ungenügend, die Weltlicheren finden es an sich unschön. Und doch muß eine hübsche Gilbertinerin, will sie sich von ihrer besten Seite zeigen, in jenem Kostüm gehen. In ihm oder auch ganz nackt bewegt sie sich mit der unvergleichlichen Freiheit, Grazie und Lebendigkeit, die die Poesie Mikronesiens bilden, während der Reiz in Kleider gepackt sofort vergeht und sie sich wie eine Engländerin dreht und windet.
Gegen Abend wurde der Aufzug immer prächtiger. Die Männer brachen in alle Farben des Regenbogens oder sagen wir der Handelsniederlassung aus – und Männer sowohl wie Weiber begannen, mit frischen Blumen geschmückt und parfümiert einherzuschlendern. Ihre Lieblingsblume sind kleine weiße Blüten, die mitunter einzeln wie winzige Sternchen in das Frauenhaar gesät, mitunter auch zu dicken Kränzen geflochten werden. Bei Anbruch der Nacht begann die Menge sich zu verdichten, und das Trippeln und Schlürfen nackter Füße hörte nicht mehr auf; die Spaziergänger waren meistens ernst, selbst die Kinder verhielten sich ruhig, von Zeit zu Zeit nur wurde das Schweigen durch ein Gekicher und Gelaufe der Mädchen unterbrochen. Um neun schlug von der Kathedrale die Stunde des Schlafengehens, und das Leben der Stadt versiegte. Um vier Uhr morgens wird das Zeichen in der Dunkelheit wiederholt, und die unschuldigen Schläfer erhalten ihre Freiheit zurück, doch in den sieben Stunden, die dazwischen liegen, müssen alle – ich wollte eben sagen, hinter Schloß und Riegel sein, wo doch Türen und selbst Wände hier eine Ausnahme sind – sagen wir also, sich unter ihr luftiges Dach hinter die Zelte ihrer Moskitonetze geflüchtet haben. Hat einer einen notwendigen Gang zu machen, läßt sich ein Unterwegssein nicht verschieben, so muß sich der Betreffende von weitem schon der Polizei durch eine ungeheure Fackel aus Kokos kenntlich machen, die sich wie ein wanderndes Leuchtfeuer von Haus zu Haus bewegt. Einzig die Polizei selbst darf im Dunkeln gehn und schleicht des Nachts auf der Suche nach Übeltätern umher. Ich haßte ihr heimtückisches Wesen von Herzen; besonders der Polizeihauptmann, ein schlauer alter Kerl in Weiß, umlauerte allnächtlich so standhaft unser Hauptquartier, daß ich ihn am liebsten verdroschen hätte; aber der Schelm genoß ja Immunität.
Keiner der erwähnten elf Handelsleute kam je in die Stadt, kein Kapitän ging in der Lagune je vor Anker, ohne daß wir ihn nicht innerhalb der nächsten Stunde bei uns sahen. Das hatten wir unserer Lage zwischen Laden und Bar zu verdanken – Sanssouci war letztere genannt. Mr. Rick war nicht nur der Geschäftsführer von Wightman Brothers, sondern auch der Konsularagent der Vereinigten Staaten; Mrs. Rick war die einzige Weiße auf der ganzen Insel, ja, außer ihr befand sich nur noch eine weiße Frau im ganzen Archipel; ihr Haus mit seinen kühlen Veranden, Bücherregalen und bequemen Möbeln hatte seinesgleichen nicht zwischen Jaluit und Honolulu. Folglich sprach ein jeder vor, der mit ihnen nicht gerade in irgendeinen Südseestreit über einen Cent mehr oder weniger pro Pfund Kopra oder über ein paar Hühner verwickelt war. Selbst diese Leute aber pflegten, wenn sie nicht von Norden her erschienen, gar bald im Süden aufzutauchen, wo das »Sanssouci« sie wie mit Stricken an sich zog. Auf einer Insel mit einer Bevölkerung von insgesamt zwölf Weißen dürften zwei Schenkstuben eigentlich als überflüssig erscheinen: aber jedes Töpfchen hat sein Deckelchen, und die doppelten Annehmlichkeiten von Butaritari erfreuten sich bei Kapitän und Mannschaft der Schiffe, die dort anlegten, einer großen Popularität. Man war stillschweigend übereingekommen, »The Land we Live in« dem Vorderschiff zu überlassen und das Sanssouci für das Achterdeck zu reservieren. So aristokratisch waren meine Neigungen und so groß meine Furcht vor Mr. Williams, daß ich das erstgenannte Lokal niemals betreten habe; dagegen verbrachte ich in dem anderen, das den Klub oder das Kasino der Insel darstellte, alle meine Abende. Der Raum selbst war klein, aber adrett möbliert; nachts, wenn die Lampe angezündet war, funkelte das Glas und leuchteten die bunten Bilder an den Wänden wie ein geschmücktes Theater zur Weihnachtszeit. Die Bilder waren Plakate, die Gläser grob genug, die ganze Tischlerarbeit dilettantisch, die Wirkung jedoch, die das Ganze hier auf dieser wüsten Insel erweckte, war die eines unermeßlichen Luxus und unbeschreiblicher Wohlhabenheit. Hier wurden Lieder gesungen, Geschichten erzählt, Taschenspielerkunststücke zum besten gegeben und Spiele gespielt. Die beiden Ricks, wir selbst, Tom, der norwegische Barkeeper, ein oder zwei Schiffskapitäne und vielleicht drei oder vier Händler, die in ihren Booten oder zu Fuß herübergekommen waren, machten für gewöhnlich die Gesellschaft aus. Die Händler, von Haus aus alle für den Seemannsberuf bestimmt, sind komisch, stolz auf ihr neues Geschäft. »Wir Südseekaufleute« ist der Titel, den sie sich am liebsten geben. »Wir sind hier alle Seeleute« – »Kaufleute, bitte« – »Südseekaufleute« – so begann immer wieder die Konversation, die für sie niemals an Reiz zu verlieren schien. Wir empfanden sie samt und sonders als schlichte, freundliche, lustige, tapfere und gefällige Menschen und erinnern uns trotz der langen Zeit, die inzwischen verstrichen ist, mit Vorliebe an die Kaufleute von Butaritari. Zwar gab es auch hier ein schwarzes Schaf. Ich will von ihm an dieser Stelle erzählen, obwohl das eigentlich gegen meine Regel ist; aber in diesem Falle fühle ich mich nicht verpflichtet, irgendwelche Diskretion zu bewahren, denn der Mann stellt den Typ einer bestimmten Klasse von Schurken dar, die früher einmal die ganze Südsee in Verruf brachten und sich heute nur ganz vereinzelt auf den entlegenen Inseln Mikronesiens aufhalten. Am Strande von Butaritari genoß er die Bezeichnung eines »vollkommenen Gentleman, wenn nüchtern«, aber ich habe ihn niemals anders als betrunken gesehen. Die wenigen abstoßenden und barbarischen Eigenschaften des Mikronesiers hatte er mit der Geschicklichkeit eines Sammlers herausgefischt und auf den Grund und Boden seiner eigenen Gemeinheit verpflanzt. Man hat ihn bereits des Meuchelmords bezichtigt und freigesprochen; seither hat er jedoch mit der Tat geprunkt, was mich allerdings glauben macht, daß er tatsächlich unschuldig war. Seine Tochter ist durch seine versehentliche Grausamkeit entstellt, denn er hatte seine Frau verstümmeln wollen, und in der Dunkelheit sowie in dem tollen Rausche des genossenen Kokosschnapses war er an das falsche Opfer geraten. Seitdem ist seine Frau in den Busch entwichen und zu den Eingeborenen geflohen, und die Forderungen des Gatten nach ihrer gewaltsamen Zurückführung stoßen auf taube Ohren. Sein Geschäft besteht in der Hauptsache darin, die Eingeborenen zum Trinken anzureizen und ihnen dann das Strafgeld hierfür als lukrative Hypothek vorzuschießen. »Respekt vor den Weißen« ist das dritte Wort dieses Mannes: »Was dieser Insel fehlt, ist der Respekt vor den Weißen«. Während meines dortigen Aufenthalts traf er eines Tages auf dem Wege nach Butaritari mit seiner Frau zusammen, die im Busch mit einigen Eingeborenen verborgen lag, und wollte sich auf sie stürzen, als ihre Begleiter ihre Messer zogen, worauf der Gatte erwiderte: »Ist das der schuldige Respekt vor den Weißen?« In einem frühen Stadium unserer Bekanntschaft bezeugten wir ihm unseren Respekt vor dieser Art von Weißen damit, daß wir ihm das Betreten unseres Grundstücks bei Gefahr seines Lebens verboten. Von da ab lungerte er oft in der Nachbarschaft herum; sein bleiches, bildhübsches Gesicht (das ich jedoch nur mit Widerwillen anzuschauen vermochte) spähte zu allen möglichen Tageszeiten über unseren Zaun, und einmal rächte er sich aus sicherer Entfernung dadurch, daß er uns ein landläufiges mikronesisches Schimpfwort an den Kopf warf, das unseren Ohren gänzlich harmlos, in seinem englischen Munde jedoch unglaublich deplaziert klang.
Unser Grundstück, um das dieses Muster an vielseitiger Verkommenheit herumschlich, war ziemlich ausgedehnt. In der einen Ecke stand eine Laube mit einem rohen Brettertisch. Hier war vor kurzem erst der vierte Juli mit denkwürdigen, an anderer Stelle noch zu schildernden Folgen festlich begangen worden. Hier nahmen wir unsere Mahlzeiten ein, hier bewirteten wir auch den König und die Notabeln von Makin. In der Mitte der Einfriedung lag das Haus mit seinen nach beiden Seiten gehenden Veranden und mit drei Räumen im Innern. Auf der Veranda spannten wir unsere Schiffshängematten auf, dort arbeiteten wir am Tage, dort schliefen wir des Nachts. Drinnen befanden sich Betten, Stühle, ein runder Tisch, eine elegante Hängelampe und die Porträts der königlichen Familie von Hawaii. Die Königin Viktoria besagt gar nichts; Kalakaua und Mrs. Bishop lassen immerhin allerhand Vermutungen aufkommen: die Wahrheit ist, wir waren unrechtmäßige Bewohner des Pfarrhauses. Am Tage unserer Ankunft war Maka nicht zugegen; ein treuloser Hausverwalter schloß uns Tür und Tore auf; und der liebe, gute, strenggläubige Mann, der geschworene Feind von Alkohol und Tabak, kehrte zurück, um seine Veranda mit Zigaretten übersät und sein Wohnzimmer von Flaschen verunziert zu finden. Er stellte nur eine einzige Bedingung – den runden Tisch, den er bei der Zelebrierung des Abendmahls zu benutzen pflegte, bat er, von Alkohol zu verschonen; im übrigen beugte er sich in allem vor der vollendeten Tatsache, weigerte sich, einen Mietzins zu nehmen, zog sich in ein gegenüberliegendes Eingeborenenhaus zurück und suchte, eigenhändig rudernd, die obskursten Winkel der Insel nach Nahrungsmitteln für uns ab. Er machte Schweine für uns ausfindig – nirgends sonst haben wir jemals ein Schwein hier zu Gesicht bekommen – und schleppte Geflügel und Taro für uns heran; als wir unser Fest für König und Adel veranstalteten, verschaffte er uns den Proviant und überwachte in eigener Person das Kochen; er war es auch, der das Tischgebet sprach, der des Königs Gesundheit ausbrachte und der den Toast in ein echt englisches Hip-Hip-Hurra ausklingen ließ. In seinem ganzen Leben hat er niemals eine glücklichere Idee gehabt: das Fettherz des dicken Königs hüpfte ihm bei diesem Laut vor Wonne im Busen.
Alles in allem bin ich niemals einem liebenswerteren Geschöpf begegnet als diesem Pastor von Butaritari: seine Freude und Güte, seine vornehme, menschenfreundliche Natur quollen bei jedem Wort, bei jeder Geste hervor. Er liebte es, zu übertreiben, im Moment irgendeine Rolle zu Tode zu hetzen, seine Lungen und Muskeln zu üben, mit seinem ganzen Körper zu reden und zu lachen. Er besaß die morgendliche Heiterkeit von Vögeln oder von sehr gesunden Kindern, und sein Humor wirkte ansteckend. Wir waren die allernächsten Nachbarn und kamen tagtäglich zusammen, trotzdem dauerten unsere Begrüßungen immer minutenlang – wir schüttelten uns die Hände, klopften uns auf die Schulter, sprangen dabei wie zwei Hanswurste herum und lachten uns tot über irgendeinen Scherz, der selbst in einem Kindergarten kaum schwache Heiterkeit erregt haben würde. Und ob es auch fünf Uhr früh war, wenn die Palmweinzapfer eben an uns vorübergezogen waren, wenn die Straße noch leer vor unseren Augen lag und der Schatten der Insel weit in die Lagune hinausragte: seine überschäumend gute Laune genügte, um mich den ganzen Tag über vergnügt zu machen.
Trotzalledem habe ich stets eine gewisse geheime Melancholie in Maka vermutet; diese jubelnde Heiterkeit ließ sich unmöglich dauernd aufrechterhalten. Außerdem war er lang, hager, runzelig, knorrig und leicht ergraut, und sein Sonntagsgesicht war förmlich saturnisch zu nennen. An jenem Tage marschierten wir in einer Prozession zur Kirche oder (wie ich sie stets nennen werde) zur Kathedrale: voran Maka (ein schwarzer Fleck in der glühenden Landschaft) in Zylinder, schwarzem Gehrock und langen schwarzen Hosen, Gesangbuch und Bibel unter dem Arm und ehrfürchtigen Ernst auf seinem Gesicht; neben ihm Maria, seine Gattin, eine ruhige, kluge und stattliche, ältere Frau in gesetzter, dunkler Kleidung; ich selber hinterdrein, voll seltsamer und rührender Gedanken. Vor langer, langer Zeit war ich beim Klang der Glocken, beim Rauschen der Bäche und bei dem Gezwitscher der Vögel so durch ein schottisches Hochlandstal gezogen, so hatte ich Sonntag für Sonntag den Pfarrer begleitet, in dessen Haus ich damals wohnte, und die Ähnlichkeit wie die Verschiedenheit, die vielen Jahre, die vielen Tode, die dazwischen lagen, rührten mich bis in alle Tiefen. Die Gemeinde in der großen, dämmrigen Palmbaum-Kathedrale zählte knapp dreißig Menschen, die Männer alle auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite, ich selbst (eine große Vergünstigung) unter den Frauen, und die wenigen Mitglieder der Mission eng zusammengedrängt aus der erhöhten Plattform, ein verlorenes Häuflein in jenem großen, runden Gewölbe. Der Bibeltext des betreffenden Tages wurde antiphonisch vorgelesen, die Gemeinde katechisiert, ein blinder Jüngling wiederholte allwöchentlich eine lange Reihe Psalmen, Kirchenlieder wurden gesungen – in meinem Leben habe ich nie wieder so schlecht singen hören – und die Predigt begann. Zu sagen, daß ich nichts davon verstand, wäre eine Unwahrheit gewesen; es gab gewisse Stellen, die ich jedesmal mit Sicherheit erwartete: das Wort Honolulu, den Namen Kalakaua, den Ausdruck »Käpt’n-Kriegsschiff«, die Bezeichnung Schiff, und dann folgte unfehlbar die Beschreibung eines Unwetters auf See; nicht selten wurde ich auch durch den Namen meiner eigenen Monarchin belohnt. Der Rest war nichts als Geräusch in meinen Ohren, ein Schweigen der Gedanken: eine unendliche Öde und Langeweile, die durch die Hitze, einen harten Stuhl und den Anblick der glücklicheren Heiden draußen auf dem Anger noch unerträglicher gemacht wurde. Der Schlaf senkte sich auf meine Glieder und auf meine Augen, er summte mir in den Ohren, er herrschte unumschränkt in der dämmrigen Kathedrale. Die Gemeinde rührte und rekelte sich; sie seufzte, sie stöhnte laut, sie stieß bei jeder Note im Gesang ein Gähnen aus, wie man mitunter einen Hund gähnen hört, wenn er den tiefsten, bittersten Grad der Langeweile erreicht hat. Vergeblich donnerte der Pastor auf den Tisch; vergeblich redete er einzelne Mitglieder direkt mit Namen an. Ich selbst war vielleicht ein wirksameres Stimulans; zum mindesten ein alter Herr schien aus meinen erfolgreichen Kämpfen gegen den Schlummer – ich hoffe wenigstens, daß sie erfolgreich waren – Trost und Unterhaltung zu schöpfen. Er weidete sich nämlich starren, herausfordernden Blicks – wenn er nicht gerade Fliegen fing oder seinen Nachbarn einen Streich spielte – an den verschiedenen Stadien meiner Qual; und einmal, als der Gottesdienst seinem Ende zuging, zwinkerte er mir sogar frech vom anderen Ende der Kirche aus zu.
Ich muß, während ich diesen Gottesdienst schildere, lächeln; und doch fehlte ich niemals dabei – aus Respekt für Maka, voller Bewunderung für seinen heiligen Ernst, seine brennende Energie, das Feuer seiner begeisterten Augen, die Aufrichtigkeit und die vielen Modulationen seiner Stimme. Ihn so mit seinen schwachen Kräften unermüdlich ein totes Pferd antreiben und ein kaltes Feuer anfachen sehen, bedeutete eine gute Lehre in Willensstärke und Beharrlichkeit. Es ist die Frage, ob die Ergebnisse bei einer besseren Unterstützung der Mission und einer Entlastung Makas von anderen Geschäften nicht hätten besser sein können. Ich persönlich glaube es nicht. Ich glaube, nicht Vernachlässigung, sondern allzu große Strenge hat seine Gemeinde so geschmälert, jene Strenge, die einstmals eine Revolution erzeugte und die der Außenstehende heute an einem sonst so lebensfreudigen, liebenswürdigen Mann mit Staunen wahrnimmt. Kein Lied, kein Tanz, kein Tabak, kein Alkohol, nichts, was das Leben leichter macht – nur Arbeit und Gottesdienst – das ist der Ausdruck, der auf seinem Gesicht zu lesen ist; das Gesicht ist das Antlitz des polynesischen Esau, doch die Stimme ist die Jakobs und stammt aus einer anderen Welt. Auch im besten Falle ist ein Missionar aus Polynesien auf den Gilbertinseln ein fremder Gast, kommt er doch aus einem Lande, wo wüste Unkeuschheit herrscht, in ein Land der strengsten Moral, aus einer Gegend, die unter dem Alpdruck ihrer Schreckgespenster seufzt, in einen Bezirk, der den Schrecken der Finsternis mit relativem Mut ins Gesicht sieht. Jener Gedanke kam mir eines Morgens mit unauslöschlicher Klarheit, als ich zufällig bei hellem Mondschein die ganze Stadt in Dunkelheit getaucht vor mir liegen sah und beobachtete, wie treulich noch die Lampe neben des Missionars Bette brannte. Maka und seinen Landsleuten gegenüber bedarf es weder des Gesetzes noch des Feuers noch wachsamer Polizisten, um sie davon abzuhalten, ohne Licht im Dunkeln zu wandeln.