14. Kapitel

Anstand

Richard verließ uns schon am nächsten Abend, um seine neue Lebenslaufbahn anzutreten, und empfahl Ada vertrauensvoll meiner Obhut. Es rührte mich damals und rührt mich noch jetzt, wenn ich zurückdenke, wie sie selbst in jener ihr gesamtes Denken in Anspruch nehmenden Zeit meiner gedachten. Ich spielte eine Rolle in allen ihren Plänen für Gegenwart und Zukunft. Ich sollte Richard jede Woche getreulich über Ada berichten, die ihm jeden zweiten Tag zu schreiben versprach. Er wollte mich von allen seinen Erfolgen und Studien eigenhändig unterrichten; ich sollte sehen, wie entschlossen und ausdauernd er sei, sollte Adas Brautjungfer sein, wenn sie heirateten, später bei ihnen wohnen, alle Schlüssel im Hause bekommen, und sie wollten mich ganz und gar und auf ewig glücklich machen.

»Und wenn wir durch den Prozeß reich werden sollten, Esther, was doch sein kann…« fing Richard an, um seinen Luftschlössern die Krone aufzusetzen.

Ein Schatten flog über Adas Gesicht.

»Liebste Ada«, unterbrach sich Richard, »warum nicht?«

»Es wäre besser, der Prozeß erklärte uns gleich für arm«, meinte Ada.

»Oh, das weiß ich nun gerade nicht«, entgegnete Richard. »Aber jedenfalls wird er nichts gleich erklären. Er hat, Gott weiß, seit wieviel Jahren, überhaupt nichts erklärt.«

»Nur zu wahr«, sagte Ada.

»Ja, aber«, wendete Richard ein und sah ihr mehr in die Augen, als er auf ihre Worte hörte, »je länger er dauert, liebe Kusine, desto näher muß er seinem Ende sein. Ist das nicht ganz vernünftig?«

»Du mußt das am besten wissen, Richard. Aber ich fürchte, wenn wir auf den Prozeß bauen, macht er uns unglücklich.«

»Aber liebe Ada, wir bauen doch gar nicht darauf!« rief Richard fröhlich. »Wir sagen nur, wenn er uns reich machen sollte, haben wir nichts dagegen. Das Gericht ist durch feierlichen Richterspruch unser gestrenger alter Vormund, und wir müssen denken, daß das, was er uns zuspricht – wenn er uns überhaupt etwas zuspricht –, eigentlich unser gutes Recht ist. Wir haben nicht nötig, uns mit unserm Recht herumzuzanken.«

»Nein, aber es ist vielleicht besser, wir vergessen die Sache ganz und gar.«

»Also gut! Dann wollen wir sie ganz und gar vergessen. Begraben wir die ganze Geschichte. Mütterchen macht ein billigendes Gesicht dazu, und die Sache ist abgetan.«

»Mütterchens billigendes Gesicht«, sagte ich und blickte aus dem Koffer auf, in den ich seine Bücher einpackte, »war gar nicht sichtbar; aber sie billigt es und meint, es sei wirklich das beste so.«

»Also, die Sache ist abgemacht«, sagte Richard, begann aber sofort wieder auf ganz demselben Thema soviel Luftschlösser zu bauen, daß man die chinesische Mauer damit hätte besetzen können. Er schied von uns in zuversichtlicher Stimmung. Ada und ich, darauf gefaßt, ihn sehr zu vermissen, lenkten damit in eine wesentlich ruhigere Lebenslaufbahn ein.

Bei unsrer Ankunft in London hatten wir mit Mr. Jarndyce Mrs. Jellyby aufgesucht, sie aber nicht zu Hause getroffen. Sie war ausgegangen, zu einem Tee, und hatte Miß Jellyby mitgenommen. Es sollten dort verschiedne Reden gehalten und viele Briefe geschrieben werden über die Hauptvorzüge der Kaffeestrauchkultur für die Eingebornen in den Ansiedlungen von Borriobula-Gha.

Das bedeutete zweifellos einen Aufwand von Tinte und Federn, der den Freudenanteil ihrer Tochter an dem Feste zu nichts weniger als einem Feiertag machen mußte.

Da jetzt die Zeit gekommen war, wo Mrs. Jellyby zurückkommen sollte, hofften wir sie dies Mal zu treffen. Sie war jedoch wieder nicht zu Hause, da sie unmittelbar nach dem Frühstück in irgendwelchen Borriobula-Geschäften in eine Gesellschaft, genannt Zweighilfssubkomitee, London-Ost, nach Mile-End hatte gehen müssen. Da ich bei unserm ersten Besuch Peepy nicht gesehen hatte – er war nirgends zu finden gewesen, und die Köchin meinte, er sei wahrscheinlich mit dem Kehrichtmann fortgelaufen –, fragte ich jetzt wieder nach ihm. Die Austernschalen, mit denen er ein Haus gebaut hatte, lagen noch im Hausflur, aber er selbst war nirgends zu entdecken, und die Köchin meinte, er sei wahrscheinlich – »den Schafen nachgelaufen«. Als wir erstaunt fragten: »Den Schafen?« sagte sie: »O ja. Am Markttag läuft er ihnen manchmal bis vor die Stadt hinaus nach und kommt dann in einem schrecklichen Zustande wieder nach Hause.«

Ich saß am nächsten Morgen mit meinem Vormund am Fenster, und Ada schrieb eifrig – natürlich an Richard –, als Miß Jellyby angemeldet wurde und mit Peepy eintrat, den sie sich einigermaßen präsentabel zu machen bemüht hatte, indem sie ihm den Schmutz in die Winkel seines Gesichts und seiner Hände gewischt und das Haar begossen und mit den Fingern heftig frisiert hatte.

Alles, was das arme Kind an sich trug, war ihm entweder zu groß oder zu klein. Unter andern widerspruchsvollen Ornamenten hatte er einen Bischofshut und Baby-Fäustlinge an. Die Stiefel waren kleinere Ausgaben von Ackerknechtstiefeln, während seine Beine, so der Kreuz und Quer mit Schrammen und Kratzwunden bedeckt, daß sie wie Landkarten aussahen, unterhalb seiner sehr kurzen Plaidhose, die man mit einer Spitzenkante von ganz verschiednem Muster an jedem Bein besetzt hatte, vom Knie abwärts bloß waren. Die fehlenden Knöpfe an seinem Plaidfrack stammten offenbar von Mr. Jellybys Gehrock, denn sie waren aus Messing und viel zu groß. An verschiednen Stellen seiner Kleidung, wo sie hastig befestigt worden, offenbarten sich ganz merkwürdige Entartungen der Nähkunst, und dieselbe kundige Hand verriet sich an Miß Jellybys Kleidung. Ihre Erscheinung machte übrigens einen weitaus bessern Eindruck als früher, und sie sah wirklich sehr hübsch aus.

Sie fühlte offenbar recht gut, daß der arme kleine Peepy trotz all ihrer Bemühungen doch mißlungen war, und verriet dies durch den verzweifelten Blick, den sie beim Eintritt ins Zimmer zuerst ihm und dann uns zuwarf.

»O mein Gott«, brummte mein Vormund. »Scharfer Ost.«

Ada und ich hießen sie herzlich willkommen und stellten sie Mr. Jarndyce vor. Sie nahm Platz und sagte:

»Mama läßt sich bestens empfehlen und bittet, sie zu entschuldigen, da sie die Korrektur zu den Plänen lesen muß. Sie ist im Begriff, fünftausend neue Zirkulare zu versenden, und weiß, daß Sie das interessieren wird. Ich habe eins mitgebracht. Mama läßt sich empfehlen.«

Damit reichte sie ihm das Papier mit mürrischer Miene hin.

»Danke schön«, sagte mein Vormund. »Ich bin Mrs. Jellyby sehr verbunden. O Gott! Ist heute aber Ostwind!«

Wir machten uns mit Peepy zu schaffen, nahmen ihm seinen Geistlichenhut ab, fragten ihn, ob er uns noch kenne, und anderes mehr. Anfangs flüchtete er sich hinter seinen Ellbogen, ließ sich aber durch den Anblick von Baumkuchen erweichen und erlaubte mir, ihn auf den Schoß zu nehmen, wo er dann friedlich kauend sitzen blieb. Mr. Jarndyce hatte sich in das Ersatzbrummstübchen zurückgezogen, und so konnte Miß Jellyby die Unterhaltung mit ihrer gewohnten Schroffheit eröffnen.

»Es geht so schlecht wie je in Thavies Inn. Ich kann in meinem Leben nicht zur Ruhe kommen. Immer und immer Afrika! Es könnte mir nicht schlimmer gehen, wenn ich selber so ein Dingsda wäre – ein ‚Mensch und ein Bruder‘.«

Ich suchte nach Worten, um ihr etwas Tröstliches zu sagen.

»Ach, das hilft gar nichts, Miß Summerson! Obgleich ich Ihnen für Ihre freundliche Absicht dankbar bin. Ich weiß ganz gut, wie ich behandelt werde, und lasse mir das nicht ausreden. Sie ließen sich’s auch nicht ausreden, wenn Sie an meiner Stelle wären. Peepy, geh und spiel wildes Tier unter dem Piano.«

»Ich will nicht«, sagte Peepy.

»O du undankbarer, nichtsnutziger, hartherziger Junge!« rief Miß Jellyby mit Tränen in den Augen. »Nie wieder werde ich mir soviel Mühe geben, dich anzuziehen.«

»Ja, ja, ich will gehen, Caddy!« rief Peepy, der ein herzensgutes Kind war und den jetzt der Kummer seiner Schwester so rührte, daß er auf der Stelle folgte.

»Es ist kein Grund zu weinen«, entschuldigte sich die arme Miß Jellyby, »aber ich bin ganz abgerackert. Ich habe bis heute früh zwei Uhr Adressen für die neuen Zirkulare geschrieben. Ich hasse die ganze Geschichte so, daß mir schon beim Gedanken daran der Kopf weh tut, bis ich nicht mehr aus den Augen schauen kann. Und sehen Sie nur das arme Kind an! Haben Sie schon jemals eine solche Vogelscheuche gesehen?«

Glücklicherweise sich der Mängel seiner äußern Erscheinung nicht bewußt, saß Peepy auf dem Teppich und sah aus seiner Höhle hinter einem Pianobein friedlich hervor und aß seinen Kuchen.

»Ich habe ihn in die andre Ecke des Zimmers geschickt«, erklärte Miß Jellyby und rückte ihren Stuhl näher an uns heran, »damit er nicht hört, was wir miteinander sprechen. Diese Knirpse sind so gescheit. Ich wollte vorhin sagen, es geht wirklich bei uns schlimmer zu als je. Papa wird demnächst bankrott sein, und dann, hoffe ich, ist Mama zufrieden. Und wem werden wir es zu danken haben? Ma!«

Wir sagten, wir hofften, Mr. Jellybys Verhältnisse würden sich gewiß nicht so verschlimmert haben.

»Das ist alles sehr freundlich von Ihnen, aber hoffen nützt nichts«, entgegnete Miß Jellyby und schüttelte den Kopf. »Pa sagte mir erst gestern morgen – und er ist schrecklich unglücklich – daß er den Sturm diesmal nicht überstehen könnte. Es würde mich auch wirklich wunder nehmen. Wenn uns die Lieferanten all ihren Mist ins Haus schicken und das Gesinde macht, was es will, und ich keine Zeit habe, es besser einzurichten, selbst wenn ich es verstünde, und Ma sich um gar nichts kümmert, so möchte ich wissen, wie Pa den Sturm diesmal aushalten sollte. Ich erkläre, wenn ich Pa wäre, ich liefe davon.«

»Liebes Kind«, sagte ich lächelnd, »Ihr Papa denkt jedenfalls an seine Familie.«

»Ja, natürlich. Familie ist wunderschön, Miß Summerson, aber welche Bequemlichkeit bietet ihm seine Familie? Seine Familie besteht aus Rechnungen, Schmutz, Verschwendung, Lärm, Treppenhinunterfallen, Durcheinander und Herabgekommenheit. Seine kopfüber treibende Häuslichkeit ist von Samstag zu Samstag ein einziger großer Waschtag, nur wird dabei nichts gewaschen.«

Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden und wischte sich die Augen.

»Pa tut mir so leid, und ich bin so wütend auf Ma, daß ich keine Worte finden kann, um mich auszudrücken. Aber ich lasse es mir nicht länger gefallen, dazu bin ich entschlossen. Ich will nicht mein ganzes Leben lang ein Sklave sein und von Mr. Quale um mich werben lassen. Das könnte mir so passen, einen Philantropen zu heiraten. Als ob ich nicht schon genug von dem Zeug hätte.«

Ich muß zugeben, daß ich selbst recht böse auf Mrs. Jellyby war, als ich dieses vernachlässigte Mädchen vor mir sah und anhörte und wußte, wieviel bittere Wahrheit in allem war, was sie sagte.

»Wenn wir nicht so vertraut geworden wären, als Sie uns damals besuchten«, fuhr Miß Jellyby fort, »würde ich mich geschämt haben, heute hierher zu kommen, denn ich weiß, was für eine Figur ich in Ihrer beider Augen abgebe; aber ich habe mich entschlossen, Sie zu besuchen, zumal ich Sie wahrscheinlich nicht wiedersehen werde, wenn Sie nächstens wieder nach London kommen.«

Sie sagte dies so bedeutsam, daß Ada und ich einander einen Blick zuwarfen, ahnend, daß noch mehr kommen werde.

»Nein«, rief sie und schüttelte den Kopf. »Durchaus unwahrscheinlich. Ich weiß, ich kann mich auf Sie beide verlassen. Sie werden mich nicht verraten. Ich bin verlobt.«

»Ohne Wissen Ihrer Eltern?« fragte ich.

»Aber, du lieber Gott im Himmel, Miß Summerson«, rechtfertigte sie sich in leidenschaftlichem, aber keineswegs unfreundlichem Ton. » Kann es denn anders sein ? Sie wissen doch, wie Ma ist, und ich darf den armen Papa doch nicht dadurch noch unglücklicher machen, daß ich es ihm jetzt schon mitteile.«

»Aber wird es ihn denn nicht noch unglücklicher machen, wenn Sie ohne sein Wissen und seinen Willen heiraten?«

»Nein. Ich hoffe nicht. Ich würde alles aufbieten, es ihm bei mir behaglich zu machen, wenn er mich besuchte. Und Peepy und die andern könnten auch abwechselnd zu mir kommen, und dann würden sie doch ein wenig Aufsicht und Pflege haben.«

Die arme Caddy hatte wirklich ein liebevolles anhängliches Herz. Sie wurde immer weicher und weicher gestimmt, während sie uns das erzählte, und weinte so sehr, wie sie uns das kleine Bild einer ungewohnten Häuslichkeit ausmalte, daß es Peepy in seiner Höhle unter dem Piano tief ergriff und er sich laut jammernd auf dem Rücken wälzte. Erst, als ich ihn hervorholte, damit er seine Schwester küsse, ihn wieder auf den Schoß nahm und ihm zeigte, daß Caddy – die nur so tat – wieder lache, konnten wir ihn beruhigen, und selbst dann nur, indem wir ihm erlaubten, uns alle der Reihe nach am Kinn fassen und uns die Wangen streicheln zu dürfen. Da selbst das ihn noch nicht genügend stärkte, um es unter dem Piano auszuhalten, stellte ich ihn auf einen Stuhl, damit er aus dem Fenster schauen könnte, und Miß Jellyby hielt ihn an einem Bein fest und setzte ihre Erzählung wieder fort.

»Die Ursache war Ihr Besuch bei uns.«

Wir fragten natürlich: »Wieso?«

»Ich war mir meiner linkischen Manieren so bewußt geworden, daß ich mich entschloß, mich darin zu bessern und tanzen zu lernen. Ich sagte Ma, ich schämte mich über mich selbst und müßte tanzen lernen. Ma machte ihr maliziöses Gesicht und sah über mich hinweg, als ob ich Luft wäre, aber ich war fest entschlossen, Tanzstunden zu nehmen, und ließ mich daher in Mr. Turveydrops Tanzakademie in Newman-Street einschreiben.«

»Und dort war es, mein Kind…?« fing ich an.

»Ja, dort war es, und ich bin mit Mr. Turveydrop verlobt. Es gibt zwei Mr. Turveydrop – Vater und Sohn. Mein Mr. Turveydrop ist natürlich der Sohn. Ich wünschte nur, ich wäre besser erzogen und könnte ihm eine bessere Frau werden, denn ich habe ihn sehr gern.«

»Es tut mir wirklich sehr leid, daß Sie so reden«, sagte ich.

»Ich verstehe nicht, warum es Ihnen leid tun sollte«, erwiderte sie ein wenig ängstlich. »Aber ich bin nun einmal mit Mr. Turveydrop verlobt, so oder so, und er hat mich sehr gern. Er muß es selbst auch geheim halten, weil der alte Mr. Turveydrop mit im Geschäft ist und es ihm das Herz brechen oder ihn sonstwie niederschmettern könnte, wenn man es ihm unvorbereitet mitteilte. Der alte Mr. Turveydrop ist ein großer Gentleman – ein sehr großer Gentleman.«

»Weiß es seine Frau?«

»Des alten Mr. Turveydrops Frau, Miß Clare?« fragte Miß Jellyby erstaunt und riß die Augen auf. »Die gibt es doch gar nicht. Er ist Witwer.«

Hier wurden wir von Peepy unterbrochen, an dessen Beinchen seine Schwester jedes Mal unbewußt gerissen hatte wie an einem Klingelzug, wenn sie in Eifer geraten war, und er fing jetzt laut über sein Mißgeschick an zu jammern. Da er sich an mich um Hilfe wendete und ich nur zuzuhören brauchte, übernahm ich es, ihn zu halten. Miß Jellyby bat ihn mit einem Kuß um Verzeihung, versicherte ihm, daß es nicht absichtlich geschehen wäre, und fuhr dann fort.

»So liegen die Sachen. Wenn ich mir jemals einen Vorwurf machen muß, so trägt Ma die Schuld. Wir wollen heiraten, sobald wir können.

Und dann besuche ich Pa im Bureau und schreibe von dort an Ma. Es wird sie nicht sehr aufregen; ihr bin ich ja nur Feder und Tinte. Ein großer Trost ist«, seufzte sie, »daß, wenn ich verheiratet bin, ich niemals mehr etwas von Afrika hören werde. Der junge Mr. Turveydrop haßt es meinetwegen, und wenn der alte Mr. Turveydrop überhaupt weiß, daß es so ein Land gibt, ist es viel.«

»Das ist der Mr. Turveydrop, der ein so großer Gentleman ist, nicht wahr?«

»Ein sehr großer Gentleman, gewiß. Er ist überall wegen seines Anstandes berühmt.«

»Gibt er Unterricht?« fragte Ada.

»Nein. Er gibt nicht direkt Unterricht, aber seine Manieren sind fabelhaft.«

Nach vielem Zögern und Stocken brachte Caddy heraus, sie habe uns noch etwas anzuvertrauen und fühle, daß wir es wissen müßten, und hoffe, wir würden es nicht übel aufnehmen. Sie habe nämlich ihre Bekanntschaft mit Miß Flite, der kleinen verrückten Alten, erneuert und gehe frühmorgens zu ihr, um ihren Verlobten vor dem Frühstück ein paar Minuten zu sprechen – nur für ein paar Minuten. »Ich besuche sie auch noch zu andern Zeiten«, sagte sie, »aber Prince kommt dann nicht. Des jungen Mr. Turveydrops Vorname ist nämlich Prince; es ist eigentlich schade, denn er klingt wie ein Hundename, aber er hat ihn sich doch nicht selbst ausgesucht! Der alte Mr. Turveydrop hat ihn zur Erinnerung an den Prinzregenten so taufen lassen. Der alte Mr. Turveydrop verehrte den Prinzregenten so sehr wegen seines Anstandes. Ich hoffe, Sie verübeln es mir nicht, daß ich diese kleinen Besuche bei Miß Flite mache. Ich habe das arme Ding um ihrer selbst willen lieb, und auch sie hat mich gern. Wenn Sie den jungen Mr. Turveydrop sehen würden, so bin ich überzeugt, daß Sie gut von ihm denken müßten… Wenigstens weiß ich ganz gewiß, daß Sie nichts Böses von ihm denken würden. Ich gehe jetzt hin, um meine Tanzstunde zu nehmen. Ich darf Sie nicht bitten, Miß Summerson, mitzukommen…« – Caddy hatte dies alles mit feierlichem Ernst und bebender Stimme gesagt – »…aber wenn Sie es doch täten, würde es mich sehr, sehr freuen.«

Es traf sich, daß wir uns mit meinem Vormund verabredet hatten, gerade heute Miß Flite zu besuchen. Wir hatten ihm von unserm früheren Besuch bei ihr erzählt, und unsere Schilderungen schienen ihn sehr interessiert zu haben. Aber immer wieder war irgend etwas dazwischen gekommen, wenn wir hingehen wollten. Da ich mir genügend Einfluß auf Miß Jellyby zutraute, um sie von einem übereilten Schritt abhalten zu können, schlug ich ihr vor, daß sie und ich und Peepy nach der Tanzakademie gehen und dann meinen Vormund und Ada bei Miß Flite – deren Namen ich jetzt zum ersten Mal hörte – treffen wollten. Ich knüpfte daran die Bedingung, daß Miß Jellyby und Peepy nachher zum Essen mit uns nach Hause kommen sollten. Nachdem beide mit großer Freude auf diesen letzten Vertragspunkt eingegangen waren, putzten wir Peepy mit Hilfe einiger Stecknadeln, etwas Seife und Wasser und einer Haarbürste ein wenig heraus und lenkten unsere Schritte in die Newmanstreet, die ganz in der Nähe war.

Die Akademie befand sich in einem ziemlich verrußten Gebäude mit Büsten in allen Treppenfenstern an der Ecke einer Durchfahrt. In dem Hause wohnten noch, wie ich aus den Schildern an der Tür entnahm, ein Zeichenlehrer, ein Kohlenhändler und ein Lithograph. Auf dem Schilde, das durch seine Größe und seinen Platz alle andern überragte, las ich: Mr. Turveydrop.

Die Tür stand offen, und die Vorhalle war mit einem großen Piano, einer Harfe und verschiednen andern Musikinstrumenten verbarrikadiert, die alle fortgeschafft werden sollten und jetzt bei Tag einen etwas liederlichen Eindruck machten. Miß Jellyby sagte mir, daß die Akademie am Abend vorher zu einem Konzert gedient habe.

Wir gingen die Treppe hinauf – es mußte früher ein recht schönes Haus gewesen sein, als es noch jemand obgelegen, es rein und sauber zu halten, und niemand, den ganzen Tag darin zu rauchen – und traten in Mr. Turveydrops großen Saal, der hinten an einen Pferdestall stieß und von Oberlicht erhellt wurde. Es war ein kahler, widerhallender Saal, der nach Stall roch, mit Rohrbänken an der Wand, die Wände in regelmäßigen Abständen mit gemalten Lyras und drei gläsernen Armleuchtern mit altmodischen Tropfen gleich Herbstblättern verziert. Mehrere junge Schülerinnen von dreizehn oder vierzehn Jahren bis zu zwei- oder dreiundzwanzig waren bereits versammelt, und ich sah mich unter ihnen nach ihrem Lehrer um, als Caddy mich in den Arm kniff und mich vorstellte: »Miß Summerson – Mr. Prince Turveydrop.«

Ich verneigte mich vor einem kleinen, blauäugigen, hübschen Mann von jünglingshaftem Aussehen mit in der Mitte gescheiteltem Flachshaar, das sich rings um seinen Kopf lockte. Er hielt eine Violine unter dem linken Arm und den Bogen in der Hand. Seine Tanzschuhe waren auffallend klein, und er legte ein unschuldiges, frauenhaftes Benehmen in einer gewissen liebenswürdigen Weise mir gegenüber an den Tag, das die eigentümliche Vorstellung in mir erweckte, er müsse seiner Mutter sehr ähnlich sehen und sie selbst sei nicht sehr hochgehalten oder gut behandelt worden.

»Ich schätze mich unendlich glücklich, Miß Jellybys Freundin kennen zu lernen«, sagte er und verbeugte sich tief vor mir. »Ich begann bereits zu fürchten«, fuhr er mit schüchterner Zärtlichkeit fort, »daß Miß Jellyby nicht mehr kommen werde, da der Unterricht schon begonnen hat.«

»Ich muß Sie bitten, mir das zugute zu halten und mich zu entschuldigen, da ich es war, die sie abgehalten hat, Sir.«

»O Gott«, sagte er.

»Und bitte, lassen Sie mich nicht die Ursache einer weiteren Verzögerung sein.«

Mit diesen entschuldigenden Worten zog ich mich auf einen Sitz zwischen Peepy, der, schon an die Situation gewöhnt, bereits einen Stuhl in der Ecke erklommen hatte, und einer alten Dame mit einem kritischen Blick zurück, deren zwei Nichten an den Tanzstunden teilnahmen und die sich sehr über Peepys Stiefel ärgerte. Prince Turveydrop klimperte sodann mit den Fingern in den Saiten seiner Fiedel, und die jungen Damen traten zum Tanze an. In diesem Augenblick erschien in einer Seitentür der alte Mr. Turveydrop, strahlend wie ein Gott.

Er war ein fetter alter Herr mit geschminktem Teint, falschen Zähnen, gefärbtem Backenbart und einer Perücke. Er trug einen Pelzkragen, und die Brust seines Fracks, dem nur ein Stern oder ein breites blaues Band fehlte, um vollständig zu sein, war auswattiert. Er war geschnürt, ausgestopft, hergerichtet und zusammengeschnallt, wie er es nur irgend aushalten konnte. Sein Halstuch drosselte ihn so, daß es ihm die Augen förmlich aus den Höhlen drängte, und sein Kinn und selbst seine Ohren waren so tief hineinversunken, daß es aussah, als müßte er aus dem Leim gehen, wenn er es ablegte. Unter dem Arm trug er einen großen, schweren Hut, der vom Kopf zum Rande zu sich abschrägte, und in der Hand ein Paar weiße Handschuhe, mit denen er ihn von Zeit zu Zeit abstaubte, wie er auf einem Beine ruhend in unübertrefflicher, hochschulteriger, ellbogengerundeter Eleganz dastand. Er hatte einen Stock, ein Augenglas, eine Schnupftabaksdose, er hatte Ringe, er hatte Manschetten, er hatte alles, nur keine Spur von Natur; er war nicht Jugend, er war nicht Alter, er war nichts als ein Modell unübertrefflichen Anstandes.

»Vater! Ein Besuch! Eine Freundin Miß Jellybys – Miß Summerson!«

»Ich fühle mich hochgeehrt durch Miß Summersons Anwesenheit«, begrüßte mich Mr. Turveydrop. Wie er mir eingeschnürt eine Verbeugung machte, schien fast das Weiße seiner Augen Falten zu bekommen.

»Mein Vater ist eine gefeierte Größe«, sagte der Sohn zu mir halblaut mit einem wahrhaft rührenden Glauben im Ton. »Man bewundert meinen Vater allgemein.«

»Fahre fort, Prince! Fahre fort!« sagte Mr. Turveydrop, mit dem Rücken gegen den Kamin und herablassend mit den Handschuhen winkend. »Fahre fort, mein Sohn!«

Auf diesen Befehl oder, besser gesagt, auf diese gnädige Erlaubnis nahm der Unterricht seinen Anfang. Prince Turveydrop spielte manchmal tanzend die Violine, manchmal stehend das Piano, manchmal summte er die Melodie mit dem bißchen Atem, das er noch übrig hatte, wenn er einer Schülerin Anweisungen gab, machte stets mit der Ungeschicktesten jeden Schritt und jeden Teil einer Tanzfigur gewissenhaft durch und war keinen Augenblick unbeschäftigt. Sein berühmter Vater tat gar nichts, sondern stand nur am Kamin, ein Bild vornehmen Anstandes.

»Er tut nämlich nie etwas anderes«, bemerkte die alte Dame mit dem kritischen Blick zu mir. »Und möchten Sie glauben, daß sein Name an der Türe steht?«

»Der Name seines Sohnes ist doch ganz derselbe«, sagte ich.

»Am liebsten ließe er seinem Sohn gar keinen Namen! Sehen Sie sich nur den Rock des jungen Turveydrop an!« – Der war allerdings recht gewöhnlich und fadenscheinig, fast schäbig. – »Aber der Herr Vater muß natürlich herausgeputzt und gestriegelt sein«, sagte die alte Dame, »wegen seines – Anstandes. Ich möchte ihn schon Anstand lehren. Ich möchte ihn schon zur Schau stellen – aber anderswo.«

Ich war begierig, mehr zu erfahren, und fragte daher: »Gibt er jetzt Unterricht in Anstand?«

»Jetzt!!« gab die alte Dame kurz zur Antwort. »Hat es nie getan.«

Nach einer kurzen Pause des Nachdenkens fragte ich, ob er vielleicht Fechtstunden gebe.

»Ich glaube nicht, daß er überhaupt fechten kann, Miß.«

Ich machte ein überraschtes und wißbegieriges Gesicht. Die alte Dame wurde mit jedem Wort erzürnter über den Meister des Anstands und erzählte mir gewisse Einzelheiten aus seinem Leben mit der lebhaftesten Versicherung, daß sie durchaus nicht übertreibe.

Er hätte eine sanfte kleine Tanzlehrerin mit einer leidlichen Kundschaft – er selbst habe in seinem Leben nie etwas anderes als Anstand gepflegt – geheiratet und sie zu Tode geplagt oder, gelinde gesagt, zugelassen, daß sie sich zu Tode plagte, um ihm das Geld für die Ausgaben zu verschaffen, die für seine Stellung unentbehrlich waren. Um seinen Anstand an den besten Vorbildern schulen zu können und die besten Modelle beständig vor Augen zu haben, habe er es für notwendig gefunden, alle öffentlichen Zusammenkunftsorte der modischen und vornehmen Welt zu frequentieren, zur fashionablen Zeit in Brighton zu sein und ein müßiges Leben in den allerbesten Kleidern zu führen. Um ihm das zu ermöglichen, habe sich die gutmütige kleine Tanzlehrerin geplagt und geschunden und würde sich heute noch plagen und schinden, wenn ihre Kräfte ausgereicht hätten, denn der Kernpunkt der Sache wäre gewesen, daß seine Frau, von seinem Anstand geblendet, trotz seiner unermeßlichen Selbstsucht an ihn geglaubt und auf ihrem Sterbebett ihn in den rührendsten Worten ihrem Sohne ans Herz gelegt hätte, als ob dieser ihm eine untilgbare Schuld abzuzahlen habe und nie mit zuviel Stolz und Ehrerbietung zu ihm aufsehen könnte. Der Sohn, der seiner Mutter Glauben geerbt und den Anstand seines Vaters stets vor Augen gehabt habe, sei mit diesen Ansichten aufgewachsen und arbeite jetzt im dreißigsten Lebensjahr zwölf Stunden täglich für ihn und blicke mit Verehrung auf zu dem alten eingebildeten Götzen.

»Das Air, das sich der Kerl gibt!« sagte die alte Dame und schüttelte in sprachloser Entrüstung den Kopf gegen den alten Mr. Turveydrop, dem diese Huldigung ganz und gar entging, da er gerade seine engen Handschuhe anzog. »Er bildet sich wahrscheinlich ein, er gehöre zum Adel, und tut so herablassend gegen den Sohn, daß man ihn für den trefflichsten aller Väter halten möchte, während er ihn in Wirklichkeit jämmerlich ausnützt. O!« sagte die alte Dame mit unendlicher Heftigkeit, »beißen möchte ich dich!«

Die Sache belustigte mich eigentlich, obgleich ich aus der Erzählung wirkliche Teilnahme heraushörte. Es war schwer, an der Wahrheit des Gehörten zu zweifeln, wenn man Vater und Sohn vor sich sah. Meine Augen schweiften noch von dem jungen Mr. Turveydrop, der sich so abmühte, zu dem alten Mr. Turveydrop, der sich lediglich auf die Schaustellung seiner Allüren beschränkte, als letzterer zu mir trat und mich ins Gespräch zog.

Er fragte mich, ob ich London das Glück und die Auszeichnung angedeihen lassen wollte, hier zu leben. Ich hielt es nicht für notwendig, zu erwidern, ich wisse recht wohl, daß das durchaus keine Auszeichnung bedeute, sondern sagte ihm bloß, wo ich wohnte.

»Eine so reizende und vollendete Dame«, sagte er, indem er seinen rechten Handschuh küßte und dann mit ihm auf die Schülerinnen deutete, »wird die Mängel hier mit Nachsicht beurteilen. Wir tun, was wir können, um Politur zu geben – Politur – Politur!«

Er setzte sich neben mich und gab sich offenbar Mühe, die Haltung seines erlauchten Modells auf dem Kupferstich über dem Sofa nachzuahmen. Und wirklich, es gelang ihm so ziemlich.

»Politur – Politur – Politur«, wiederholte er, nahm eine Prise und schnippte leise mit den Fingern. »Aber wir sind nicht – wenn ich so zu einer Dame, in der sich Natur und Kunst so anmutig vereinen, sprechen darf«, sagte er mit einer hochschultrigen Verbeugung und zog dabei die Brauen in die Höhe und schloß die Augen. »Wir sind nicht mehr, was wir früher im Punkte des Anstands waren.«

»Wirklich, meinen Sie, Sir?«

»Wir sind entartet.« Er schüttelte den Kopf, soweit ihm das seine Halsbinde erlaubte. »Eine alles nivellierende Epoche ist der Entwicklung des Anstandes nicht förderlich. Sie begünstigt das Vulgäre. Ich bin vielleicht ein wenig parteiisch. Es schickt sich vielleicht nicht für mich, wenn ich sage, daß man mich seit Jahren den Gentleman Turveydrop nennt – oder daß Seine königliche Hoheit mir die Ehre erwies, zu fragen, als ich den Hut zog, während sie aus dem Pavillon in Brighton – übrigens ein prächtiges Gebäude! – fuhr: Wer ist das? Wer zum Teufel ist das? Warum kenne ich ihn nicht? Warum hat er nicht dreißigtausend Pfund jährlich?… Aber das sind Anekdoten – in aller Mund, Maam, und hie und da immer noch unter den obern Zehntausend Gesprächsthema.«

»In der Tat?«

Er antwortete mit seiner hochschultrigen Verbeugung:

»Wenn von dem, was von Anstand noch übrig ist, die Rede ist. England – o mein Vaterland – ist sehr entartet und sinkt von Tag zu Tag. Es sind nicht viel Gentlemen mehr übrig geblieben. Unser sind nur noch wenige. Nach uns sehe ich nichts kommen als ein Geschlecht von Webern.«

»Man sollte doch glauben, daß das Geschlecht der Gentlemen hier wenigstens nicht ausgestorben ist«, sagte ich.

»Sie sind sehr gütig«, lächelte er, wieder mit einer hochschultrigen Verbeugung. »Belieben zu schmeicheln. Aber nein… nein! Ich bin nie imstande gewesen, meinem armen Jungen diesen Teil seiner Kunst einzuimpfen. Der Himmel sei vor, daß ich über mein liebes Kind etwas Nachteiliges sagen sollte, aber er hat keine – keine – Allüren.«

»Er scheint aber ein vortrefflicher Lehrer zu sein.«

»Verstehen Sie mich recht, meine Gnädige, er ist ein vortrefflicher Lehrer. Alles, was man sich aneignen kann, hat er sich angeeignet. Alles, was man lehren kann, kann er lehren, aber es gibt gewisse Dinge…« Er nahm abermals eine Prise und verbeugte sich wieder, als ob er hinzusetzen wollte: »Das da zum Beispiel.«

Ich warf einen Blick in den Saal, wo Miß Jellybys Verlobter, jetzt die Schülerinnen einzeln vornehmend, sich ärger plagte als je.

»Mein liebenswürdiges Kind«, murmelte Mr. Turveydrop und richtete sich die Halsbinde.

»Ihr Sohn ist unermüdlich.«

»Das von solchen Lippen zu hören, ist ein Lohn für mich. In mancherlei Hinsicht tritt er in die Fußstapfen seiner seligen Mutter. Sie war voll Hingebung und Aufopferung. Ja, die Frauen, die lieblichen Frauen«, sagte er mit einer widerwärtigen Galanterie. »Man kann sie nicht genug hochhalten.«

Ich stand auf und ging zu Miß Jellyby, die jetzt ihren Hut aufsetzte. Da die für eine Lektion festgesetzte Zeit reichlich um war, fand ein allgemeines Hutaufsetzen statt. Wann je Miß Jellyby und der unglückliche Prince Gelegenheit gefunden haben mochten, sich miteinander zu verloben, weiß ich nicht, aber jedenfalls fanden sie jetzt keine, auch nur ein Dutzend Worte miteinander zu sprechen.

»Lieber Sohn«, fragte Mr. Turveydrop herablassend, »weißt du, wie spät es ist?«

»Nein, Vater!«

Der Sohn hatte keine Uhr. Der Vater zog eine schöne goldne mit einer Miene, die der Menschheit zum Beispiel dienen konnte, heraus.

»Mein Sohn, es ist zwei Uhr. Vergiß nicht deine Stunde in Kensington um drei.«

»Da habe ich noch Zeit genug, Vater«, sagte Prince. »Ich kann ein paar Bissen Mittagbrot im Stehen essen und dann gleich gehen.«

»Mein lieber Junge«, entgegnete der Vater, »da mußt du aber rasch machen. Kalten Hammelbraten findest du auf dem Tisch.«

»Ich danke, Vater. Gehst du jetzt, Vater?«

»Ja, mein Sohn. Vermutlich.« Mr. Turveydrop schloß die Augen und zog die Schultern in die Höhe. »Ich muß mich jetzt wie gewöhnlich in der Stadt zeigen.«

»Wäre es nicht am besten, du diniertest irgendwo außer Haus, Vater?«

»Ja, liebes Kind, das beabsichtige ich auch. Ich werde mein kleines Mahl im französischen Restaurants in der Opera-Kolonnade einnehmen.«

»Das ist recht. Adieu Vater!« sagte Prince und schüttelte ihm die Hand.

»Adieu, mein Sohn. Gott segne dich!«

Mr. Turveydrop sprach diese Worte fast in einem frommen Ton, die seinen Sohn, der beim Abschied so ehrerbietig und so stolz auf ihn war, daß es mir fast wie eine Unfreundlichkeit vorgekommen wäre, wenn man nicht unumschränkt ebenfalls an seinen Vater geglaubt hätte, sehr zu freuen schienen.

Die wenigen Augenblicke, die Prince dem Abschiednehmen von uns widmen konnte – und vorzüglich von einer von uns, wie ich als Mitwisserin sehr gut merkte –, vermehrten den günstigen Eindruck, den sein harmlos kindliches Benehmen auf mich gemacht hatte. Er gefiel mir sehr, und ich sah fast mit einem Mitleid, das mich beinahe noch mehr gegen seinen Vater aufbrachte als die alte Dame mit dem kritischen Blick, wie er seine kleine Violine in die Tasche steckte – und mit ihr seinen Wunsch, noch ein klein wenig mit Caddy beisammen bleiben zu können – und resigniert zu seinem kalten Hammelfleisch und zu seiner Tanzlektion in Kensington ging.

Der alte Mr. Turveydrop öffnete uns die Zimmertür und verneigte sich vor uns mit einer Grandezza, die, wie ich anerkennen muß, seinen glänzenden Allüren durchaus würdig war. In demselben Stil stolzierte er gleich darauf an der andern Seite der Straße vorüber und schlug den Weg nach dem aristokratischen Viertel der Stadt ein, wo er sich unter den wenigen noch lebenden Gentlemen zeigen wollte.

Eine Zeitlang war ich so in Gedanken über das in Newmanstreet Gehörte und Gesehene verloren, daß ich gänzlich außerstande war, mit Caddy zu sprechen oder dem, was sie mir erzählte, meine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Besonders, als ich mich innerlich fragte, ob es jemals andre Gentlemen als Tanzlehrer gegeben habe, die nur von Anstand gelebt und ihren Ruhm darauf begründet hätten. Das verwirrte mich so sehr und enthüllte mir die Möglichkeit der Existenz so vieler Mr. Turveydrops, daß ich zu mir sagte: »Esther, weg mit diesen Gedanken. Du mußt jetzt auf Caddy hören.« Und das tat ich, und wir plauderten den ganzen Weg bis Lincoln’s-Inn.

Sie erzählte mir, ihres Verlobten Erziehung sei so vernachlässigt worden, daß es ihr manchmal schwer falle, seine Briefe zu entziffern. Sie sagte, wenn er wegen seiner Orthographie nicht so ängstlich wäre und sich weniger Mühe damit gäbe, täte er besser, aber er brächte oft so viel unnötige Buchstaben in kurzen Wörtern an, daß sie manchmal ganz ihr englisches Aussehen verlören.

»Er tut es in der besten Absicht«, bemerkte sie. »Aber es hat nicht die Wirkung, die er beabsichtigt; der arme Junge.«

Sie erging sich sodann in Erklärungen, daß man von ihm doch auch keine Bildung verlangen könne, da er sein ganzes Leben in der Tanzschule zugebracht und nichts andres getan habe als lehren und sich abplagen, sich abplagen und lehren von morgens früh bis abends spät! Und was läge schließlich daran! Sie könne Briefe genug für beide schreiben, sie habe es auf ihre Kosten erfahren, und es sei viel besser für ihn, liebenswürdig als gelehrt zu sein.

»Übrigens bilde ich mir auch nicht ein, ein gebildetes Mädchen zu sein, das ein Recht hätte, darüber die Nase zu rümpfen«, sagte sie. »Ich weiß wahrhaftig selbst wenig genug, dank meiner Erziehung.«

»Etwas muß ich Ihnen noch erzählen, solange wir allein sind«, fuhr sie unterwegs fort, »was ich Ihnen nicht gern gesagt hätte, bevor Sie Prince gesehen haben, Miß Summerson! Sie wissen, wie es bei uns zu Hause zugeht. Bei uns etwas lernen zu wollen, was für mich als Princes Frau von Nutzen sein könnte, ist unmöglich. Bei uns herrscht ein solches Durcheinander, daß es einfach nicht geht. Und ich war immer noch mehr entmutigt, wenn ich es versucht habe. So übe ich mich jetzt ein wenig … bei wem glauben Sie wohl?… bei der armen Miß Flite! Ganz früh am Morgen helf ich ihr das Zimmer aufräumen und die Vögel besorgen; dann koche ich ihr den Kaffee – sie hat es mich natürlich lehren müssen –, und ich habe ihn so gut kochen gelernt, daß Prince behauptet, es sei der allerbeste, den er jemals gekostet hat, und würde sogar den alten Mr. Turveydrop, der hinsichtlich Kaffee sehr eigen ist, in Entzücken versetzen. Ich kann auch kleine Puddings machen und weiß schon, wie man einen Hammelrücken, Tee und Zucker und Butter und andre zum Haushalt gehörige Dinge einkauft. Mit der Nadel bin ich noch nicht besonders geschickt«, sie warf einen Blick auf die Ausbesserungen an Peepys Frack, »aber vielleicht kann ich mich darin noch vervollkommnen. Seit ich mit Prince verlobt bin und mich mit allen diesen Dingen beschäftige, glaube ich besser aufgelegt und Ma gegenüber versöhnlicher gestimmt zu sein. Heute morgen packte es mich wieder, als ich Sie und Miß Clare so nett und hübsch aussehen fand und mich über Peepy und mich selbst schämen mußte, aber im großen ganzen, glaube ich, bin ich besserer Laune als früher und versöhnlicher gegenüber Ma.«

Es rührte mich tief, zu hören, wie sehr sich das arme Mädchen bemühte.

»Liebe Caddy«, sagte ich, »ich fühle mich sehr zu Ihnen hingezogen und hoffe, wir werden bald die besten Freundinnen sein.«

»Ach wirklich?« rief Caddy. »Wie glücklich mich das machen würde.«

»Liebe Caddy, wir wollen gleich von jetzt an Freundinnen und du und du sein und recht oft über diese Sachen plaudern und versuchen, uns darin zurechtzufinden, ja?«

Caddy war außer sich vor Freude. Ich sagte ihr in meiner altmodischen Weise alles Mögliche, um sie zu trösten und zu ermutigen, und hätte es an diesem Tage nicht übers Herz gebracht, etwas Nachteiliges über den alten Mr. Turveydrop zu sagen.

Wir hatten jetzt Mr. Krooks Haus erreicht und sahen den Privateingang offen stehen. Am Türpfosten klebte ein Zettel des Inhalts, daß im zweiten Stock ein Zimmer zu vermieten sei. Caddy erzählte mir, während wir die Treppe hinaufgingen, man habe einen plötzlichen Todesfall im Hause gehabt und Totenschau, und unsre kleine Freundin sei vor Schrecken krank geworden.

Da Tür und Fenster des leeren Zimmers offen standen, blickten wir hinein. Es war das Zimmer mit der dunkeln Tür, auf die Miß Flite bei meiner letzten Anwesenheit im Haus so geheimnisvoll meine Aufmerksamkeit gelenkt hatte.

– Was für ein trauriger und unwohnlicher Raum es war; ein düsterer, trauervoller Ort, der in mir ein seltsames Gefühl von Leid und sogar von Furcht erweckte. –

»Du siehst blaß aus«, sagte Caddy, als wir heraustraten. »Ist dir kalt?«

– Mich hatte tatsächlich im Zimmer ein Schauer überlaufen.

Wir waren bei unsern Gesprächen so langsam gegangen, daß mein Vormund und Ada schon vor uns angekommen waren. Wir fanden sie in Miß Flites Dachstübchen. Sie besahen sich die Vögel, während ein Arzt, der so gutherzig war, Miß Flite mit großer Teilnahme und Sorgfalt zu behandeln, freundlich mit ihr am Kamin sprach.

»Meine ärztliche Behandlung ist zu Ende«, sagte er und trat vor. »Miß Flite befindet sich bereits viel besser und kann morgen wieder im Gericht erscheinen, wenn ihr soviel daran liegt. Wie ich höre, hat man sie dort sehr vermißt.«

Miß Flite nahm das Kompliment wohlgefällig auf und machte uns einen gemeinsamen Knicks.

»Sehr geehrt, abermals die Mündel in Sachen Jarndyce bei mir zu sehen!« sagte sie. »Se-hr glücklich, Jarndyce von Bleakhaus unter meinem bescheidnen Dach zu empfangen!« Sie knickste. »Meine liebe Fitz-Jarndyce«, – diesen Namen hatte sie sich für mich ausgedacht – »seien Sie mir doppelt willkommen.«

»Ist sie sehr krank gewesen?« fragte Mr. Jarndyce den Arzt. Sie antwortete selbst, obgleich mein Vormund nur leise flüsternd gesprochen hatte.

»Oh, entschieden unpäßlich! Oh, sehr unpäßlich«, sagte sie vertraulich. »Kein Schmerz, Sie verstehen… Aufregung! Nicht so sehr körperlich, als nervös – nervös! Die Sache ist«, erklärte sie uns mit unterdrückter, bebender Stimme, »wir hatten einen Todesfall hier. Es war Gift im Hause. Ich bin solchen schrecklichen Dingen gegenüber außerordentlich empfindlich. Es entsetzte mich. Nur Mr. Woodcourt weiß, wie sehr. Mein Arzt, Mr. Woodcourt«, stellte sie mit großer Förmlichkeit vor, »die Mündel in Sachen Jarndyce – Jarndyce von Bleakhaus – Fitz-Jarndyce.«

»Miß Flite«, sagte Mr. Woodcourt mit ernster, wohlwollender Stimme, als wende er sich an sie, während er zu uns sprach und seine Hand sanft auf ihren Arm legte. »Miß Flite beschreibt ihre Krankheit mit ihrer gewohnten Akkuratesse. Ein Vorfall im Hause hat sie erschüttert, der eine stärkere Person als sie hätte stark mitnehmen müssen. Und sie wurde vor lauter Aufregung und Trübsal krank. In der ersten Hast der Entdeckung brachte sie mich hierher. Leider zu spät, um dem Unglücklichen noch helfen zu können. Ich habe mich für diese Enttäuschung dadurch entschädigt, daß ich seitdem hierher kam und ihr ein wenig nützlich gewesen bin.«

»Der freundlichste Arzt vom ganzen Kollegium«, wisperte mir Miß Flite zu. »Ich erwarte ein Urteil am Tag des Gerichts. Und dann werde ich Güter verschenken.«

»Miß Flite wird in ein paar Tagen wieder gesund und wohlauf sein«, sagte Mr. Woodcourt und sah sie mit einem prüfenden Lächeln an. »Mit andern Worten, wieder ganz auf dem Damm. Haben Sie gehört, welches Glück sie gehabt hat?«

»Ein ganz außerordentliches Glück«, bestätigte Miß Flite mit strahlendem Gesicht. »Denken Sie nur, jeden Samstag übergibt mir Konversations-Kenge oder Guppy – bei Konversations-K. – ein Kuvert mit Schillingen – mit Schillingen! Ja, ja, Sie dürfen mir’s glauben! Immer die gleiche Anzahl ist im Kuvert. Immer einer für jeden Tag in der Woche. Jetzt wissen Sie es. Und gerade zur rechten Zeit gekommen, nicht wahr? Jaaaa! Woher, glauben Sie wohl, kommen diese Kuverts? Das ist die große Frage. Natürlich. Soll ich Ihnen sagen, was ich glaube? Ich glaube«, sie trat mit einem schlauen Blick zurück und hielt den rechten Zeigefinger höchst bedeutsam in die Höhe, »daß der Lordkanzler in Hinblick auf die Länge der Zeit, wo das Große Siegel geöffnet ist – denn es ist schon sehr lange geöffnet –, das Geld schickt. Bis das Urteil, das ich erwarte, erfolgt. Das ist sehr anerkennenswert, sehen Sie. Auf diese Weise einzugestehen, daß der Prozeß sich wirklich etwas langsam für das irdische Leben abwickelt. So zartfühlend! Als ich neulich im Gerichtssaal war – ich wohne den Sitzungen regelmäßig bei mit meinen Dokumenten –, stellte ich ihn zur Rede, und er gestand fast. Das heißt, ich lächelte ihn von meiner Bank aus an und er lächelte mich von seiner Bank aus an. Aber ist es nicht ein großes Glück, wie? Und meine junge Freundin verwendet das Geld für mich so vorteilhaft. Oh, ich versichere Ihnen, außerordentlich vorteilhaft!«

Sie hatte sich an mich gewendet, und ich wünschte ihr Glück und weitere Vermehrung ihres Einkommens und eine recht lange Dauer desselben. Ich brauchte mir nicht den Kopf zu zerbrechen, aus welcher Quelle es kam und wer so menschenfreundlich war. Mein Vormund stand vor mir und besah sich die Vögel, und ich brauchte nicht weit zu suchen.

»Und wie heißen die kleinen Burschen, Maam?« fragte er mit seiner sympathischen Stimme. »Haben sie Namen?«

»Ich kann für Miß Flite bejahen«, sagte ich, »denn sie versprach uns neulich, sie uns zu nennen. – Ada, weißt du noch?«

Ada erinnerte sich noch sehr gut.

»So, tat ich das?« sagte Miß Flite. »Halt! Wer ist dort an meiner Tür? Was horchen Sie an meiner Tür, Krook?«

Der Alte stieß die Türe auf und erschien, die Pelzmütze in der Hand, begleitet von seiner Katze, auf der Schwelle.

»Ich hab nicht gehorcht, Miß Flite. Ich wollte eben klopfen, aber Sie geben so scharf acht.«

»Jagen Sie Ihre Katze hinaus. Fort!« rief die alte Dame heftig aus.

»Bah, bah. Es besteht keine Gefahr, meine Herrschaften«, beruhigte sie Mr. Krook und sah uns alle der Reihe nach lange und scharf an. »Sie wird, wenn ich hier bin, auf die Vögel nicht losgehen – wenn ich sie nicht hetze.«

»Sie müssen meinen Hauswirt entschuldigen«, flüsterte Miß Flite mit würdevoller Miene. »Ver-, ganz ver-! Was wollen Sie denn, Krook? Sie sehen doch, daß ich Gesellschaft habe.«

»Hi«, sagte der Alte. »Sie wissen, ich bin der ‚Kanzler‘.«

»Nun, und? Was weiter?«

»Daß dem Kanzler«, kicherte der Alte, »ein Jarndyce unbekannt bleiben sollte, wäre seltsam, nicht wahr, Miß Flite? Darf ich mir nicht die Freiheit nehmen? Ihr Diener, Sir. Ich kenne ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ fast so genau wie Sie selbst, Sir. Ich kannte den alten Squire Tom, Sir, aber soviel ich mich erinnern kann, habe ich Sie noch nie gesehen. Nicht einmal im Gerichtshof. Und ich bin doch unendlich oft im Lauf des Jahres dort.«

»Ich gehe nie hin«, entgegnete Jarndyce. »Ich würde lieber – ich weiß nicht wohin gehen.«

»Wirklich?« grinste Krook. »Sie sind schlecht auf meinen vornehmen und gelehrten Bruder zu sprechen, Sir; wenn das auch vielleicht bei einem Jarndyce ganz natürlich ist. Ein gebranntes Kind, Sir!… Was, Sie sehen sich die Vögel meiner Mieterin an, Mr. Jarndyce?« Er war ganz langsam immer weiter ins Zimmer hereingekommen und berührte jetzt meinen Vormund mit dem Ellbogen und sah ihm mit seinen bebrillten Augen scharf ins Gesicht.

»Es ist eine ihrer Wunderlichkeiten, daß sie niemals die Namen dieser Vögel nennt, wenn sie es vermeiden kann. Aber jeder einzelne hat seinen Namen!« Er sagte das leise flüsternd. »Soll ich sie herzählen, Flite?« fragte er dann laut, zwinkerte uns zu und deutete auf sie, während sie sich hastig abwendete und sich stellte, als kehre sie den Herd.

»Wenn Sie wollen«, gab sie hastig zur Antwort.

Der Alte warf uns wieder einen Blick zu, spähte zu den Käfigen hin und ging dann die Liste durch.

»Hoffnung, Freude, Jugend, Friede, Ruhe, Leben, Staub, Asche, Verschwendung, Mangel, Ruin, Verzweiflung, Wahnsinn, Tod, List, Torheit, Faselei, Perücke, Pergament, Plunder, Präzedenz, Jargon, blauer Dunst und Larifari – das ist die ganze Reihe. Alle von meinem vornehmen und gelehrten Bruder zusammen in einen Käfig gesperrt.«

»Ein böser Wind!« murmelte mein Vormund.

»Wenn mein vornehmer und gelehrter Bruder das Urteil fällt, sollen sie freigelassen werden«, sagte Krook und zwinkerte uns wieder zu. »Und dann«, setzte er flüsternd und zähnefletschend hinzu, »wenn das geschieht – es geschieht natürlich nie –, dann werden sie von den andern Vögeln, die niemals in Gefangenschaft gewesen sind, totgebissen.«

»Wenn jemals Ostwind war«, sagte mein Vormund und stellte sich, als sähe er zum Fenster hinaus nach der Wetterfahne, »so haben wir heute welchen.«

Es wurde uns außerordentlich schwer, wegzukommen. Nicht Miß Flite hielt uns auf – das kleine Geschöpf war so verständig in der Berücksichtigung der Wünsche andrer wie nur möglich –, Mr. Krook tat es. Er schien sich gar nicht von Mr. Jarndyce losmachen zu können. Wenn er an ihn angekettet gewesen wäre, hätte er sich kaum dichter an ihn halten können.

Er schlug uns vor, uns seinen Kanzleigerichtshof und das seltsame Durcheinander, das er enthielt, zu zeigen.

Während der ganzen Besichtigung, die er geflissentlich in die Länge zog, blieb er immer dicht neben Mr. Jarndyce und hielt ihn unter allen möglichen Vorwänden auf, bis wir voraus waren, als quäle ihn eine Neigung, von irgendeinem Geheimnis zu sprechen, ohne daß er sich entschließen könnte, davon anzufangen. Ich kann mir kein Gesicht und kein Benehmen denken, das einen deutlicheren Ausdruck von Vorsicht und Unentschlossenheit und dem beständigen Drange trug, irgend etwas, was ihm auf der Zunge lag, zu sagen, als Mr. Krooks Gesicht und Benehmen an diesem Tag.

Ununterbrochen belauerte er meinen Vormund. Er wendete kein Auge von ihm. Wenn er neben ihm ging, betrachtete er ihn mit der Schlauheit eines alten, weißhaarigen Fuchses. Wenn er vorausging, sah er sich um nach ihm. Standen wir still, pflanzte er sich ihm gegenüber auf und fuhr mit der Hand immer wieder langsam über den offenen Mund mit dem seltsamen Ausdruck eines gewissen Machtbewußtseins, rollte die Augäpfel in die Höhe und runzelte die grauen Augenbrauen, bis sie zusammenzustoßen schienen. Jede Linie im Gesicht meines Vormunds schien er zu studieren.

Endlich, nachdem wir überall im Hause gewesen waren, immer von der Katze begleitet, und den ganzen kuriosen Vorrat von allerlei Waren gesehen hatten, führte er uns in den rückwärtigen Teil des Ladens. Hier bemerkten wir auf einem aufrechtstehenden leeren Fasse eine Tintenflasche, ein paar alte Federstümpfe und einige schmutzige Theaterzettel. An die Wand waren mehrere großgedruckte Alphabete in verschiednen Kurrentschriften geklebt.

»Was machen Sie hier?« fragte mein Vormund.

»Versuche lesen und schreiben zu lernen.«

»Und wie kommen Sie damit zurecht?«

»Langsam. Schlecht«, gab Mr. Krook ungeduldig zur Antwort. »Es ist schwer in meinen Jahren.«

»Sie würden sich leichter tun, wenn Sie sich von jemand unterrichten ließen.«

»Ja, aber man könnte es mich absichtlich falsch lehren«, entgegnete der Alte mit einem sonderbar argwöhnischen Aufleuchten in seinen Augen. »Ich weiß nicht, was ich dabei verloren habe, daß ich es nicht früher gelernt habe. Ich möchte jetzt nicht gern dadurch zu Schaden kommen, daß mich’s einer falsch lehrte.«

»Falsch?« fragte mein Vormund mit seinem gutgelaunten Lächeln. »Bitte Sie, wer sollte das tun!«

»Ich weiß es nicht, Mr. Jarndyce von Bleakhaus«, gab der Alte zur Antwort, schob sich die Brille auf die Stirn hinauf und rieb sich die Hände. »Ich glaube nicht gerade, daß es jemand tun würde… Aber ich traue doch lieber mir selbst als einem andern.«

Diese Antworten und sein ganzes Wesen waren seltsam genug, um meinem Vormund Anlaß zu geben, während wir durch Lincoln’s-Inn schritten, Mr. Woodcourt zu fragen, ob Mr. Krook wirklich, wie seine Mieterin behauptete, verrückt sei. Der junge Arzt sagte, er habe durchaus keinen Grund, das anzunehmen. Krook sei nur außerordentlich mißtrauisch wie die meisten ungebildeten Leute und gewöhnlich mehr oder weniger von Gin berauscht. Er trinke ihn in großen Mengen und er und sein Ladenstübchen röchen sehr stark danach, wie wir selbst wohl schon bemerkt hätten, aber für verrückt halte er ihn keineswegs.

Auf dem Nachhauseweg gewann ich mir Peepys Liebe so sehr durch das Geschenk einer Windmühle und zweier Mehlsäcke, daß er sich von niemand anders Hut und Handschuhe abnehmen lassen und beim Essen nur neben mir sitzen wollte. Caddy saß zwischen mir und Ada, der wir die ganze Geschichte unsres Freundschaftsbündnisses gleich nach unsrer Heimkehr mitteilten.

Wir nahmen uns Caddys und auch Peepys so sehr an, daß sie vor Freude strahlten. Mein Vormund nahm an unsrer Fröhlichkeit teil, und wir alle waren heiter und lustig, bis spät abends Caddy in einer Droschke nach Hause fuhr, auf dem Schoße den fest schlafenden Peepy, der immer noch die Windmühle umklammerte.

Ich habe zu erwähnen vergessen – zum mindesten nicht erwähnt –, daß Mr. Woodcourt derselbe dunkelhaarige junge Chirurg war, den wir bereits bei Mr. Badger getroffen –, daß Mr. Jarndyce ihn zu Tisch eingeladen und er die Einladung angenommen hatte, – und auch, daß, als alle fort waren und ich Ada aufforderte: »Nun, Liebling, laß uns ein wenig von Richard plaudern«, sie gelacht und gesagt hatte…

Aber ich glaube, es kommt nicht auf das an, was mein Liebling gesagt hat. Sie war doch immer scherzhaft aufgelegt.