15. Kapitel

Bell Yard

Während unsres Aufenthaltes in London war Mr. Jarndyce beständig von der Schar der leicht erregbaren Damen und Herren umlagert, deren Unternehmungslust uns schon in Bleakhaus so in Erstaunen gesetzt hatte. Mr. Quale, der sich bald nach unsrer Ankunft vorstellen kam, kannte alle persönlich. Er schien die zwei glänzenden Beulen von Schläfen in alles hineinzustecken, was vorging, und sein Haar immer weiter und weiter zurückzubürsten, bis sogar die Wurzeln in nicht zu befriedigender Philantropie aus der Kopfhaut zu dringen schienen.

Um was es sich handelte, war ihm ganz gleich, aber ganz besonders bereitwillig zeigte er sich bei Anlässen, wo es darum ging, irgend jemandes Lobeshymne zu singen. Seine Hauptstärke schien in der Gabe zu liegen, andre rückhaltlos zu bewundern. Er konnte mit dem größten Genuß beliebig lang dasitzen und seine Schläfen im Glanze jedes beliebigen großen Lichtes baden. Als ich ihn das erste Mal ganz in Bewunderung der Mrs. Jellyby versunken gesehen, hatte ich geglaubt, sie sei der alles andre verdrängende Gegenstand seiner Verehrung. Aber bald entdeckte ich meinen Irrtum und fand, daß er der Schleppenträger und Herold für eine ganze Prozession von Leuten war.

Mrs. Pardiggle besuchte uns eines Tages wegen einer Subskription für irgend etwas – und mit ihr Mr. Quale. Was auch Mrs. Pardiggle sagte, Mr. Quale wiederholte es. Und wie er uns seiner Zeit Mrs. Jellyby vorgeführt hatte, führte er uns jetzt Mrs. Pardiggle vor.

Mrs. Pardiggle hatte ihrem beredten Freund Mr. Gusher einen Empfehlungsbrief an meinen Vormund mitgegeben. Mit Mr. Gusher kam abermals Mr. Quale. Mr. Gusher, ein sulzartig aussehender Herr mit einem schwitzenden Gesicht und Augen, die, für sein Vollmondantlitz viel zu klein, ursprünglich einem andern gehört zu haben schienen, war auf den ersten Blick nicht einnehmend; aber kaum hatte er sich gesetzt, fragte schon Mr. Quale Ada und mich ziemlich hörbar, ob er nicht ein großer Mann sei – was hinsichtlich seiner Aufgedunsenheit allerdings der Fall war, obgleich Mr. Quale Größe in geistiger Hinsicht meinte – und ob uns nicht der massive Bau der Stirn auffalle.

Kurz, wir hörten von Missionen jeder Gattung unter diesen Leuten sprechen, aber nichts kam uns nur halb so deutlich zum Bewußtsein, als daß es Mr. Quales Mission war, über jedes andern Mission in Ekstase zu geraten, und daß das offenbar die populärste Mission von allen war.

Mr. Jarndyce, in seiner Herzensgüte und immer von dem Wunsch beseelt, alles Gute, was in seiner Macht stand, zu tun, trat diesen Gesellschaften zwar bei, aber er gestand offen zu, daß sie ihm oft als eine recht unzulängliche Institution erschienen, in der die Wohltätigkeit sich in Form von Krämpfen betätige, wobei marktschreierische Philantropen und Spekulanten in billiger Berühmtheit, groß im Wort, ruhelos und eitel im Handeln, kriecherisch nach oben, lobhudelnd gegen einander und unduldsam gegen die, die gern im stillen die Schwachen vor dem Falle schützten, anstatt sie lärmend und mit großem Selbstlob ein wenig aufzuheben, wenn sie schon gefallen waren, – die christliche Barmherzigkeit wie eine Uniform zur Schau trugen.

Als Mr. Gusher ein Ehrengeschenk für Mr. Quale vorschlug, der früher bereits eins für ihn angeregt hatte, und anderthalb Stunden über dieses Thema vor einer Versammlung sprach, der zwei Knaben- und Mädchenklassen aus der Armenschule beiwohnten, die, ein lebendes Beispiel, an das Gleichnis vom Scherflein der Witwe erinnerten, aber nichtsdestoweniger aufgefordert wurden, ihre Halfpence zum Opfer zu bringen, glaubte ich wirklich, der Wind würde drei Wochen lang aus Osten wehen.

Ich erwähne dies, weil ich auf Mr. Skimpole zu sprechen kommen will. Es schien mir, als ob seine ungezwungene Kindlichkeit und Sorglosigkeit im Gegensatz zu allen diesen Leuten ein großer Lichtblick für meinen Vormund wären, der eben dieses Gegensatzes wegen um so bereitwilliger an ihn glaubte. Es mußte ihm Freude machen, unter so vielen Andersgearteten einen so vollkommen arglosen und aufrichtigen Menschen zu finden. Es täte mir leid, wenn ich damit vielleicht den Verdacht erwecken sollte, Mr. Skimpole habe dies durchschaut und sich politisch benommen. Ich habe ihn nie genügend kennengelernt, um das zu wissen. Wie er sich zu meinem Vormund benahm, so benahm er sich bestimmt gegen jedermann.

Er war nicht ganz wohl gewesen und hatte sich, obgleich er in London wohnte, bis dahin noch nicht bei uns blicken lassen. Eines Morgens aber erschien er in seiner gewöhnlichen gewinnenden Art und so heiter wie je.

»Also da bin ich«, sagte er.

Er habe an der Galle gelitten, aber reiche Leute litten daran oft, und deshalb habe er sich eingeredet, er sei vermögend. Und das sei er in gewisser Hinsicht… In seinen großzügigen Absichten nämlich. Er habe seinen Arzt auf die verschwenderischste Weise beschenkt und sein Honorar stets verdoppelt und manchmal sogar vervierfacht. »Mein lieber Doktor«, habe er zu ihm gesagt, »Sie täuschen sich vollkommen, wenn Sie glauben, Sie behandelten mich umsonst. Ich überschütte Sie mit Geld – in Gedanken –, wenn Sie es nur wüßten«, und wirklich, sagte er, sei es ihm damit so ernst, daß er glaube, es käme ganz auf dasselbe heraus, ob er es in Wirklichkeit tue oder anders.

Wenn er die gewissen kleinen Metallscheiben oder die dünnen Papierzettel, auf die das Menschengeschlecht so großen Wert legt, dem Arzt in die Hand hätte drücken können, würde er es selbstverständlich getan haben. Da er sie nicht besäße, setze er den Willen für die Tat. Sehr gut! Wenn er es wirklich wolle, und sein Wille sei echt und wahr – und das sei er –, so scheine ihm das ebensogut wie Geld zu sein, um die Schuld zu tilgen.

»Vielleicht kommt das daher, weil ich den Wert des Geldes nicht kenne«, sagte er. »Aber ich habe das Gefühl. Es kommt mir so vernünftig vor! Mein Fleischer sagte eines Tages zu mir, er wolle seine kleine Rechnung bezahlt sehen. Es liegt eine hübsche unbewußte Poesie in der Natur dieses Mannes, daß er stets von einer kleinen Rechnung spricht, um uns beiden die Bezahlung als etwas Leichtes erscheinen zu lassen. Ich antwortete dem Fleischer: ‚Guter Freund, eigentlich sind Sie schon bezahlt, nur wissen Sie es nicht. Sie hätten sich dann gar nicht erst die Mühe zu machen brauchen, wegen der kleinen Rechnung hierher zu kommen. Sie sind doch eigentlich schon bezahlt.’«

»Aber angenommen«, fragte mein Vormund lachend, »er hätte das Fleisch auch nur im Geiste gebracht?«

»Mein lieber Jarndyce, Sie setzen mich in Erstaunen. Sie denken sich nur in die Lage des Fleischers. Ein Fleischer, mit dem ich einmal zu tun hatte, verfocht dieselbe Ansicht. Er sagte: ‚Sir, warum haben Sie jungen Lammsbraten zu achtzehn Pence das Pfund gegessen?‘ – ‚Warum ich jungen Lammsbraten zu 18 d. das Pfund gegessen habe, mein würdiger Freund?‘ sagte ich, natürlich erstaunt über die Frage. ‚Ich esse eben gern jungen Lammsbraten!‘ Das war soweit überzeugend. – ‚Gut, Sir‘, sagte er, ‚was, wenn ich auch nur vorgehabt hätte, das Lamm zu bringen, so wie Sie, das Geld zu bezahlen?‘ – ‚Guter Mann‘, sagte ich, ‚wir wollen die Sache besprechen wie vernünftige Menschen. Wie hätte das sein können, es war doch unmöglich. Sie hatten das Lamm und ich hatte das Geld nicht. Sie konnten vorhaben, das Lamm zu schicken, denn Sie hatten eins, ich konnte nicht beabsichtigen, das Geld zu zahlen, denn ich hatte keins !‘ Darauf wußte er kein Wort zu erwidern. Damit war die Sache erledigt.«

»Verklagte er Sie nicht?« fragte mein Vormund.

»Ja, er verklagte mich. Aber darin ließ er sich von der Leidenschaft leiten und nicht von der Vernunft. Übrigens, Leidenschaft. Das erinnert mich an Boythorn. Er schreibt mir, daß Sie und die Damen ihm einen kurzen Besuch in seiner Junggesellenwirtschaft in Lincolnshire versprochen hätten.«

»Er hat meine beiden Mädchen sehr gern«, bestätigte Mr. Jarndyce, »und ich habe auch in ihrem Namen zugesagt.«

»Die Natur vergaß bei ihm den mildernden Schatten, glaube ich«, bemerkte Mr. Skimpole, zu Ada und mir gewendet. »Ein wenig zu stürmisch – wie das Meer. Ein wenig zu wild – wie ein Stier, der sich in den Kopf gesetzt hat, alles für scharlachrot zu halten. Aber ich gestehe ihm so eine Art Schmiedehammerverdienst immerhin zu.«

Es würde mich wirklich gewundert haben, wenn die beiden viel von einander gehalten hätten; Mr. Boythorn, der allen Dingen soviel Wichtigkeit beilegte, und Mr. Skimpole, der sich überhaupt um nichts kümmerte. Außerdem war mir nicht entgangen, daß Mr. Boythorn mehr als ein Mal nahe daran gewesen war, seiner Meinung sehr stark Ausdruck zu verleihen, wenn auf Mr. Skimpole die Rede kam. Natürlich hatte ich mich einfach Adas Äußerung angeschlossen, er habe uns gefallen.

»Er hat mich eingeladen«, fuhr Mr. Skimpole fort. »Und wenn sich ein Kind solchen Händen anvertraut, wie es gegenwärtig der Fall ist, wo es die vereinte Zärtlichkeit zweier Engel als Wache neben sich sieht, so ist keine Gefahr dabei. Er erbietet sich, die Hin- und Herreise zu bezahlen. Ich vermute, es kostet Geld! Schillinge wahrscheinlich! Oder Pfunde? Übrigens: Coavinses! Sie erinnern sich doch an unsern Freund Coavinses, Miß Summerson?«

Er fragte mich, wie es ihm gerade in den Kopf kam, fröhlich und unbefangen und ohne die mindeste Verlegenheit.

»Gewiß.«

»Coavinses ist von dem großen Landvogt verhaftet worden. Er wird das Sonnenlicht nie mehr maßregeln.«

Ich war ordentlich betroffen, das zu hören, denn ich hatte mir bereits unwillkürlich das Bild des Mannes, wie er bei uns auf dem Sofa gesessen und sich die Stirne abgewischt, ins Gedächtnis zurückgerufen.

»Sein Nachfolger sagte es mir gestern. Er ist jetzt in meinem Hause – hat darauf Beschlag gelegt, so glaube ich, nennt er es. Er kam gestern zum Geburtstag meiner blauäugigen Tochter. Ich stellte ihm vor, das sei widersinnig und unpassend. ‚Wenn Sie eine Tochter mit blauen Augen hätten, würde es Ihnen gefallen, wenn ich uneingeladen zu ihrem Geburtstag käme?‘ fragte ich ihn. Aber er blieb doch.«

Mr. Skimpole lachte über diese liebenswürdige Absurdität und schlug einige Akkorde auf dem Piano an, an dem er saß.

»Und er sagte mir«, fuhr er fort und griff nach jedem Wort einen Akkord, »daß Coavinses… drei Kinder… keine Mutter… Und da Coavinses‘ Gewerbe – unpopulär ist, sind die kleinen Coavinses sehr schlimm daran…«

Mr. Jarndyce stand auf, fuhr sich durch die Haare und begann ruhelos im Zimmer auf und ab zu gehen. Mr. Skimpole spielte die Melodie eines von Adas Lieblingsliedern. Ada und ich blickten Mr. Jarndyce an und glaubten zu wissen, was in seiner Brust vorging.

Nachdem er auf und ab gegangen, still gestanden und verschiedne Male aufgehört hatte, sich den Kopf zu reiben, und immer wieder damit angefangen hatte, legte er die Hand auf die Tasten und wehrte Mr. Skimpole, weiterzuspielen.

»Ich mag das nicht, Skimpole«, sagte er gedankenvoll.

Mr. Skimpole, der bereits wieder an etwas ganz andres dachte, blickte überrascht auf.

»Der Mann war notwendig«, fuhr mein Vormund fort und ging in dem kleinen Raum zwischen Piano und Wand auf und ab und rieb sich das Haar am Hinterkopf in die Höh, daß es aussah, als habe es der Ostwind emporgeblasen. »Der Mann war notwendig. Wenn wir schon solche Berufe durch unsre Fehler oder durch unsern Mangel an Lebenserfahrung oder durch unsre Unfälle zur Notwendigkeit machen, so dürfen wir den Trägern derselben dann nichts nachtragen. Es war nichts Verwerfliches in seinem Beruf. Er ernährte seine Kinder damit. Man sollte sich da genauer erkundigen.«

»Ach so, Coavinses!« rief Mr. Skimpole, der endlich merkte, worum es sich handelte. »Nichts leichter. Ein Gang nach Coavinses‘ Hauptquartier, und Sie können alles erfahren, was Sie wünschen.«

Mr. Jarndyce nickte uns zu, die wir bloß auf das Signal warteten.

»Kommt! Wir wollen einmal hingehen, liebe Kinder. Warum nicht einmal auch dorthin.«

Wir waren rasch fertig und gingen aus, und Mr. Skimpole begleitete uns und hatte viel Vergnügen an der Expedition. Es sei ein Hauptspaß für ihn, sagte er, einmal seinerseits Coavinses suchen zu gehen, anstatt umgekehrt. Er führte uns zuerst nach Cursitor Street, Chancery-Lane, zu einem Haus mit vergitterten Fenstern, das er Coavinses‘ Raubschloß nannte. Wir klingelten, und ein unglaublich häßlicher Bursche kam aus einer Art Kanzleistube heraus und musterte uns über ein mit Spitzen versehenes Pförtchen hinüber.

»Was wünschen Sie?« fragte er und preßte sein Kinn zwischen zwei Stacheln.

»Es war ein Gerichtsvollzieher hier, der jetzt tot ist«, sagte Mr. Jarndyce.

»Ja. Nun, und?«

»Wir möchten gern seinen Namen wissen.«

»Hieß Necken«, sagte der Bursche.

»Und seine Adresse?«

»Bell Yard. Krämerladen linker Hand. Firma Blinder.«

»War er… Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll«, brummte mein Vormund. »War er fleißig?«

»Neckett? – Na, und ob. War immer auf der Lauer. Blieb auf seinem Posten an einer Straßenecke acht bis zehn Stunden lang in einem Strich, wenn er’s mal übernommen hatte.«

»Er hätte Schlimmeres tun können«, hörte ich meinen Vormund murmeln. »Er hätte es übernehmen können und dann faulenzen. Danke. Weiter brauch ich nichts zu wissen.«

Wir verließen den Burschen, der, den Kopf auf eine Seite geneigt, die Arme auf die Pforte gelegt, die Spitzen des Gitters streichelte, und gingen nach Lincoln’s-Inn zurück, wo Mr. Skimpole, der sich nicht näher an Coavinses herangetraut hatte, auf uns wartete. Dann gingen wir nach Bell Yard, einem schmalen Hof nicht weit davon.

Wir fanden bald den Krämerladen und in ihm eine gutmütig aussehende alte Frau, mit Wassersucht oder Asthma oder beiden Krankheiten zusammen behaftet.

»Necketts Kinder?« wiederholte sie meine Frage. »Jawohl, Miß. Drei Treppen hoch, wenn’s gefällig ist. Die Tür gerade der Treppe gegenüber.« Und sie reichte mir einen Schlüssel über den Ladentisch hinüber.

Ich sah den Schlüssel an und sah sie an; aber sie schien es für selbstverständlich zu halten, daß ich wisse, was ich damit zu tun habe. Da er nur für die Tür der Kinder bestimmt sein konnte, verließ ich den Laden, ohne weiter zu fragen, und ging die dunkle Treppe hinauf voran. Wir traten so leise wie möglich auf, aber da wir zu viert waren, machten wir doch einigen Lärm auf den alten Stufen, und als wir den zweiten Stock erreichten, entdeckten wir, daß wir einen Mann gestört hatten, der jetzt aus seiner Zimmertür schaute.

»Zu Gridley wollen Sie wohl«, sagte er und fixierte uns zornig.

»Nein, Sir. Wir gehen höher hinauf.«

Er sah Ada und Mr. Jarndyce und Mr. Skimpole der Reihe nach, wie sie vorübergingen und mir folgten, mit demselben zornigen Blick an. Mr. Jarndyce wünschte ihm guten Tag.

»Guten Tag!« antwortete er kurz und barsch.

Er war ein langer blasser Mann mit sorgenschwerem Haupt, auf dem nur noch sehr wenig Haar war, mit tief gefurchtem Gesicht und hervorstehenden Augen. Er hatte ein kampfbereites Aussehen und ein heftiges reizbares Wesen, das für mich, wenn ich dabei an seine Gestalt dachte, die trotz vorrückenden Alters noch groß und kräftig war, etwas Beunruhigendes hatte. Er hielt eine Feder in der Hand, und als ich im Vorbeigehen einen Blick durch die halb offene Tür warf, sah ich, daß die Stube voll Papier lag.

Wir ließen ihn stehen und gingen in den obersten Stock. Ich klopfte an die Tür, und eine dünne, helle Kinderstimme rief drinnen: »Es ist zugesperrt. Mrs. Blinder hat den Schlüssel.«

Ich sperrte auf und öffnete die Tür.

In einem ärmlichen Zimmer mit abgeschrägten Wänden und nur sehr spärlichem Hausrat fanden wir einen kleinen Knaben, der ein schweres Kind von ungefähr achtzehn Monaten herumschleppte. Geheizt war nicht, trotz der großen Kälte. Beide Kinder waren in ein paar armselige Tücher und Kragen zum Schutz gegen die niedere Temperatur gewickelt. Aber die Umhüllungen wärmten sie so wenig, daß ihre Nasen rot und sie selbst ganz runzlig vor Kälte aussahen, wie der Knabe auf und ab ging und das Kleine, das den Kopf auf seiner Schulter ruhen ließ, auf dem Arm wiegte.

»Wer hat euch denn hier eingeschlossen?« fragten wir unwillkürlich.

»Charley«, sagte der Knabe, blieb stehen und starrte uns an.

»Ist Charley dein Bruder?«

»Nein. Meine Schwester Charlotte. Vater nannte sie Charley.«

»Seid ihr euer noch mehr außer Charley?«

»Ich«, sagte der Junge, »und Emma«, und streichelte dabei das Mützchen der Kleinen. »Und Charley.«

»Wo ist Charley jetzt?«

»Waschen gangen«, sagte der Junge, fing wieder in der Stube an auf und ab zu gehen und brachte bei seinem Bestreben, uns dabei immerwährend anzusehen, das Mützchen in gefährliche Nähe des Bettpfostens.

Wir sahen noch einander und die beiden Kinder ratlos an, als ein sehr kleines Mädchen, der Gestalt nach selbst noch ein Kind, aber klug und älter aussehend im Gesicht – und auch ganz hübsch –, mit einem viel zu großen hausfrauenhaften Hut auf dem Kopf und ihre bloßen Arme mit einer ebensolchen Schürze abtrocknend, hereintrat. Ihre Finger waren weiß und runzlig vom Waschen, und der Seifenschaum, den sie von ihren Armen abwischte, rauchte noch. Man hätte sie ganz gut für ein Kind halten können, das Waschen spielte und eine arme Arbeitsfrau gut nachahmte. Sie war irgendwoher aus der Nachbarschaft gekommen und mußte sich sehr geeilt haben, denn sie war ziemlich außer Atem und konnte anfangs, wie sie keuchend und sich die Arme abwischend dastand und uns ruhig ansah, kaum sprechen.

»Oh, da ist Charley«, rief der Junge.

Das Kleine streckte der Schwester die Arme entgegen und wollte von ihr genommen sein. Das Mädchen nahm es mit einer frauenhaft gesetzten Zärtlichkeit, die gut zu der Schürze und dem Hut paßte, und blickte uns über das Köpfchen, das sich zärtlich an sie schmiegte, hinweg an.

»Sollte man so etwas für möglich halten«, flüsterte mein Vormund, als wir dem Mädchen einen Stuhl hinschoben und sie aufforderten, sich mit ihrer Bürde niederzusetzen, wobei der Junge immer dicht bei ihr blieb und sich an ihrer Schürze festhielt. »Ist es denn möglich, daß dieses Kind für die übrigen arbeitet? Seht das an! Um Gottes willen, seht euch das an.«

Es war wirklich ein seltsamer Anblick, diese drei Kinder, dicht zusammengedrängt und zwei von ihnen auf das dritte angewiesen und dieses selbst noch so jung und doch von einem gereiften und gesetzten Benehmen, das seltsam von der kindlichen Gestalt abstach, zu sehen.

»Wie alt bist du, Charley?«

»Dreizehn vorbei, Sir.«

»Wirklich! Ein hohes Alter!« sagte mein Vormund. »Wirklich ein hohes Alter, Charley!«

– Ich kann die Zärtlichkeit, mit der er zu dem Kinde sprach, nicht beschreiben; halb scherzend und dadurch nur noch mitleidiger und betrübter. –

»Und du bist ganz allein mit diesen Kleinen, Charley?«

»Ja, Sir«, antwortete das Kind und sah ihm offenherzig und vertrauensvoll ins Gesicht, »seit der Vater tot ist.«

»Und wovon lebst du, Charley?… Nun, Charley«, fragte mein Vormund und wendete einen Augenblick das Gesicht ab. »Wovon lebst du?«

»Seit der Vater starb, bin ich auf Arbeit gegangen. Heute bin ich auf Wäsche.«

»Aber Gott im Himmel, Charley, du bist ja nicht groß genug, um auf das Faß hinaufzureichen.«

»In Holzschuhen doch, Sir«, sagte das Kind rasch. »Ich habe ein Paar sehr hohe von der Mutter.«

»Und wann ist die Mutter gestorben?… Arme Mutter!«

»Die Mutter starb gleich nach Emmas Geburt«, sagte das Kind und sah das Gesichtchen an ihrer Brust an. »Der Vater sagte, ich sollte ihr eine Mutter sein, so gut ich könnte. Und so versuchte ich es. Ich habe zu Haus gearbeitet und das Reinmachen und Kinderwarten und Waschen besorgt, schon lange, bevor ich außer Haus arbeiten ging. Und daher kann ich’s jetzt. Sehen Sie nicht, Sir?«

»Und arbeitest du oft außer Haus?«

»So oft ich kann«, Charley sah auf und lächelte, »weil ich Sixpences und Schillinge verdienen muß.«

»Und schließt du immer die Kleinen ein, wenn du ausgehst?«

»Damit ihnen nichts geschieht, Sir, wissen Sie, Sir. Mrs. Blinder kommt manchmal nachsehen, und manchmal kommt Mr. Gridley herauf, und zuweilen kann ich selbst auch herüberlaufen, und sie können miteinander spielen, und Tom fürchtet sich nicht, wenn man absperrt, nicht wahr, Tom?«

»Nein«, sagte Tom tapfer.

»Und wenn es finster wird, scheinen unten im Hof die Laternen ganz hell herauf – ganz hell. Nicht wahr, Tom?«

»Ja, Charley«, sagte Tom, »fast ganz hell.«

»Und dann ist er so verläßlich wie Gold«, sagte das kleine Geschöpf in einer mütterlichen, frauenhaften Weise. »Und wenn Emma müde ist, legt er sie ins Bett, und wenn er selbst müde ist, geht er auch ins Bett, und wenn ich nach Hause komme und die Kerze anzünde und einen Bissen zu Abend esse, steht er wieder auf und ißt mit. Nicht wahr, Tom?«

»O ja, Charley«, sagte Tom. »Das tu ich.« Und er verbarg sein Gesicht, entweder von dieser Erinnerung an die große Freude seines Lebens oder von Dankbarkeit und Liebe zu Charley, die ihm sein Alles war, überwältigt, in den Falten ihres dürftigen Kleides, und sein Lachen ging in Weinen über.

Das erste Mal seit unserm Eintreten sahen wir eine Träne bei einem dieser Kinder.

Die kleine Waise hatte von Vater und Mutter gesprochen, als ob die Notwendigkeit, mutig zu sein und ihr kindliches Selbstbewußtsein, arbeiten zu können, und ihr rühriges, geschäftiges Wesen jeden Schmerz um den erlittenen Verlust erstickt hätten. Aber jetzt, als Tom weinte, sah ich eine Träne ihr Gesicht herabrinnen, wenn sie auch ruhig dasaß und uns still ansah.

Ich stand mit Ada am Fenster und tat, als betrachtete ich die Dächer und die rauchgeschwärzten Schornsteine und die kümmerlichen Blumen und die Vögel in den kleinen Käfigen vor den Fenstern der Nachbarn, als ich entdeckte, daß Mrs. Blinder, die wahrscheinlich die ganze Zeit dazu gebraucht hatte, die Treppen hinaufzusteigen, aus dem Laden unten heraufgekommen war und mit meinem Vormund sprach.

»Es ist weiter nichts daran. Ich lasse ihnen nur den Zins nach, Sir«, keuchte sie. »Wer möchte denn etwas von ihnen nehmen!«

»Schon gut, schon gut«, sagte mein Vormund zu uns beiden. »Es ist genug, daß einmal die Zeit kommen wird, wo diese gute Frau sieht, daß sehr viel daran war und daß das, was sie an den Geringsten von diesen getan –!… Aber wird das Kind das aushalten können?« setzte er nach einer kurzen Pause hinzu.

»Oh, ich glaube schon«, sagte Mrs. Blinder, schwer und asthmatisch atmend. »Sie ist so anstellig wie nur irgendeine. O mein Gott, Sir, Sie hätten sie nur sehen sollen, wie sie nach dem Tod der Mutter die beiden Kinder wartete! Der ganze Hof sprach davon. Und Sie hätten sie nur sehen sollen, wie er krank wurde! Es war das reinste Wunder! ‚Mrs. Blinden, sagte er mir noch kurz vor seinem Tod- er lag dort –, ‚Mrs. Blinder, was auch mein Beruf gewesen sein mag, ich habe gestern nacht in diesem Zimmer einen Engel neben meinem Kind gesehen, und ich lege sein Schicksal in die Hände unsres Vaters im Himmel.’«

»Hatte er keinen andern Beruf?« fragte mein Vormund nach einer Pause.

»Nein, Sir. Er war bloß Gerichtsvollzieher. Als er hier einzog, wußte ich es noch nicht, und ich gestehe, als ich es erfuhr, kündigte ich ihm. Die Leute im Hofe mochten ihn nicht. Die andern Mieter mieden ihn. Es ist kein anständiges Gewerbe, und die meisten Leute hielten sich darüber auf. Mr. Gridley war sehr gegen ihn, und das ist ein guter Mieter, wenn er auch seine Eigenheiten hat.«

»So kündigten Sie ihm?«

»Ich kündigte ihm. Aber als die Zeit um war und ich nichts Schlimmes an ihm bemerkte, bekam ich so meine Bedenken. Er war pünktlich und fleißig, tat, was er mußte«, sagte Mrs. Blinder und ließ dabei zufällig ihr Auge auf Mr. Skimpole ruhen. »Und es ist immerhin etwas in dieser Welt, wenn man das tut.«

»Und Sie behielten ihn dann doch?«

»Nun ja. Ich sagte ihm, wenn er sich mit Mr. Gridley einigen könnte, so wollte ich es mit den andern Mietern in Ordnung bringen und würde nichts darauf geben, was die im Hof dazu sagten. Mr. Gridley gab seine Einwilligung – etwas barsch -, aber er gab sie. Mr. Gridley war immer barsch gegen ihn, aber er ist seitdem gut gegen die Kinder gewesen. Man lernt jemand nie eher kennen, als bis man ihn auf die Probe gestellt hat.«

»Sind viele Leute gut zu den Kindern gewesen?«

»Na, es geht, Sir. Wenn nur der Beruf ihres Vaters ein andrer gewesen wäre! Der Polizist gab eine Guinee, und die andern Beamten schossen eine kleine Summe zusammen. Einige Nachbarn im Hof, die immer Witze gemacht und auf die Tasche geklopft haben, wenn er vorbeiging, machten eine kleine Subskription… Und so… Na, es war nicht so schlimm. Ähnlich geht’s mit Charlotte. Manche wollen sie nicht beschäftigen, weil sie das Kind eines Gerichtsvollziehers ist, und andre, die sie beschäftigen, werfen es ihr vor, und andre rechnen sich’s hoch an, wenn sie ihr trotzdem Arbeit geben, und bezahlen sie deshalb schlechter und verlangen mehr von ihr. Aber sie ist geduldiger als andre und ist auch geschickt und immer willig und arbeitet gern, soweit es ihre Kräfte zulassen, und noch mehr. Im ganzen ist’s nicht so schlimm, wenn’s auch besser sein könnte.«

Mrs. Blinder, von der langen Rede erschöpft, setzte sich nieder, um wieder frischen Atem zu holen.

Mr. Jarndyce wendete sich zu uns, um mit uns zu sprechen, als ihn der unvorbereitete Eintritt des Mannes, den wir bereits auf der Treppe gesehen, unterbrach.

»Ich weiß nicht, was Sie hier zu tun haben, meine Damen und Herrn«, sagte Mr. Gridley in einem Ton, als ob er über unsre Anwesenheit grolle, »aber Sie werden schon entschuldigen, daß ich eintrete. Ich komme nicht, um herumzuglotzen. Nun Charley? Nun Tom? Nun Kleines? Wie geht’s euch heute?«

Er beugte sich liebkosend über die Gruppe, und offenbar betrachteten ihn die Kinder als Freund, obgleich sein Gesicht sein finsteres Aussehen beibehielt und sein Benehmen gegen uns so grob wie möglich war. Mein Vormund bemerkte und respektierte es.

»Gewiß wird niemand aus bloßer Neugierde hierherkommen«, sagte er mild.

»Schon möglich, Sir«, gab der Mann zur Antwort, nahm Tom auf sein Knie und winkte Mr. Jarndyce ungeduldig mit der Hand ab. »Ich brauche mich nicht mit Damen und Herrn herumzustreiten. Ich habe für ein Menschenleben genug Streit: gehabt.«

»Sie haben wahrscheinlich Grund genug, heftig und reizbar zu sein«, sagte Mr. Jarndyce.

»Da hat man’s wieder!« rief der Mann wütend. »Ich bin streitsüchtig. Ich bin jähzornig. Natürlich! Ich bin nicht höflich.«

»Nicht besonders.«

»Sir!« sagte Gridley, setzte das Kind nieder und trat an meinen Vormund heran, als wollte er ihm einen Schlag versetzen. »Wissen Sie vielleicht etwas vom Kanzleigericht?«

»Vielleicht, zu meinem Kummer.«

»Zu Ihrem Kummer?« Gridley mäßigte seinen Zorn. »Ja, dann! Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin nicht höflich, ich weiß… Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, fuhr er mit erneuter Heftigkeit fort. »Seit fünfundzwanzig Jahren röstet man mich auf glühendem Eisen, und ich habe mir’s abgewöhnt, auf Samt zu gehen. Gehen Sie einmal in den Kanzleigerichtshof und fragen Sie, was einer von den ständigen Witzen ist, mit denen sie ihr Geschäft dort manchmal aufheitern, und sie werden Ihnen sagen, daß es der ‚Mann aus Shropshire‘ ist. Ich«, sagte er und schlug sich leidenschaftlich mit der Faust in die offene Hand. »Ich bin der Mann aus Shropshire!«

»Ich glaube, ich und meine Familie haben ebenfalls die Ehre gehabt, demselben löblichen Institut eine Unterhaltung zu verschaffen«, sagte mein Vormund gelassen. »Vielleicht haben Sie auch meinen Namen gehört?… Jarndyce.«

»Mr. Jarndyce!« rief Gridley aus und begrüßte meinen Vormund mit bäurischer Rauheit. »Sie tragen Ihr Unrecht ruhiger, als ich es imstande bin. Mehr als das. Ich sage Ihnen – und sag es diesem Gentleman und diesen jungen Damen hier, wenn das Ihre Freunde sind –, ich würde verrückt werden, wenn ich es anders trüge, als ich es tue. Nur, indem ich mein Unrecht anders trage als Sie, kann ich es aushalten, ohne verrückt zu werden. Nur, wenn ich mich darüber ärgere und innerlich gifte und leidenschaftlich die Gerechtigkeit heische, die mir doch nie wird, kann ich meine fünf Sinne beisammenbehalten. Nur dadurch!« wiederholte er in einer gewissen einfachen bäurischen Weise und mit großer Heftigkeit. »Sie werden natürlich sagen, ich solle mich nicht so aufregen. Ich sage Ihnen aber, daß ich nicht anders kann, wenn ich Unrecht leide. Ich muß es tun. Es bleibt mir nur die Wahl zwischen dem und dem Versinken in das blödsinnige ewige Lächeln der armen kleinen verrückten Alten, die im Gerichtssaal herumspukt. Wenn ich es ein einziges Mal geduldiger trüge, würde ich blödsinnig.«

Seine Leidenschaftlichkeit und Hitze und die Art, wie sich seine Mienen verzerrten, und die gewaltsamen Gebärden, mit denen er seine Worte begleitete, boten einen höchst peinlichen Anblick.

»Mr. Jarndyce«, sagte er, »bedenken Sie meinen Fall. So wahr ein Himmel über uns ist, ich rede die Wahrheit. Ich bin einer von zwei Brüdern. Mein Vater, ein Landmann, machte ein Testament und vermachte das Gut und das Inventar und so weiter meiner Mutter für Lebenszeit. Nach dem Tode meiner Mutter sollte alles an mich fallen mit Ausnahme eines Legates von dreihundert Pfund, das ich meinem Bruder auszahlen sollte. Meine Mutter starb. Kurz darauf verlangte mein Bruder sein Legat. Ich und ein paar Verwandte waren der Ansicht, daß er einen Teil davon schon in Kost und Wohnung und anderweitig erhalten hätte. Jetzt geben Sie acht! Darum handelte es sich und um weiter nichts. Niemand bestritt das Testament. Es handelte sich nur darum, ob ein Teil der dreihundert Pfund bereits gezahlt sei oder nicht. Um das festzustellen, reichte mein Bruder eine Klage ein, und ich mußte an das verfluchte Kanzleigericht gehen, weil mich das Gesetz verhinderte, etwas andres zu tun. Siebzehn Personen wurden zu Beklagten in diesem einfachen Prozeß gemacht. Zuerst zog es sich zwei Jahre hin. Dann ruhte das Verfahren zwei Jahre lang, während der Vorsitzende – der Kopf soll ihm abfaulen! – Nachforschungen anstellte, ob ich – meines Vaters Sohn sei, worüber kein sterbliches Wesen je den leisesten Zweifel erhoben hatte. Dann entdeckte er, daß wir noch nicht genug Beklagte wären – man denke, wir waren ja nur siebzehn – und daß noch einer dazukommen müsse, den wir ausgelassen hätten. Und dann fing die Sache wieder von vorne an. Die Kosten betrugen damals schon – als es kaum erst losging – dreimal soviel als das Legat. Mein Bruder hätte seine Ansprüche mit Freuden hingegeben, nur, um nicht noch mehr Kosten bezahlen zu müssen. Mein ganzes mir von meinem Vater hinterlassenes Grundstück ist auf die Kosten draufgegangen. Der immer noch unentschiedene Prozeß ist in einem Schlund von Verfall, Ruin und Verzweiflung wie alles, was damit in Verbindung steht, versunken… Und hier stehe ich heute noch. In Ihrem Prozeß, Mr. Jarndyce, handelt es sich um viele Tausende und bei mir um Hunderte. Ist meiner weniger schwer zu ertragen oder schwerer, da meine ganze Existenz auf dem Spiele stand und schmählich dadurch vernichtet worden ist?«

Mr. Jarndyce versicherte ihn seiner herzlichsten Teilnahme und sagte, daß er seinerseits durchaus kein Monopol beanspruche, unter diesem unglaublichen System Unrecht gelitten zu haben.

»Da haben wir’s wieder«, rief Mr. Gridley mit unverminderter Leidenschaftlichkeit. »Das System! Auf allen Seiten heißt es, es sei das System. Nach den Personen solle man nicht fragen. Es ist das System. Ich darf nicht in den Gerichtssaal gehen und sagen: Mylord! Ich möchte von Ihnen wissen, bin ich im Recht oder im Unrecht? Entschließen Sie sich doch endlich, mir zu sagen, es ist so oder so, und ich sei jetzt entlassen. Mylord weiß natürlich von nichts. Er sitzt dort, um das System zu handhaben. Ich darf nicht zu Mr. Tulkinghorn, dem Solicitor in Lincoln’s-Inn-Fields, gehen und ihm sagen, wenn er mich durch seine Ruhe und Gleichgültigkeit wütend macht – was sie alle tun, denn sie gewinnen dabei, während ich verliere –, ich darf nicht zu ihm sagen, ich will eine Entschädigung dafür haben, daß man mich zugrunde gerichtet hat durch gesetzliche Mittel oder durch Schwindel! Er ist nicht verantwortlich. Es ist das System! Aber wenn ich ihnen nicht noch etwas antue – dann…! Ich weiß nicht, was noch geschieht, wenn ich einmal die Besinnung verliere! Ich werde die betreffenden Werkzeuge dieses Systems Angesicht zu Angesicht vor dem ewigen Richterstuhl anklagen.«

Seine Leidenschaftlichkeit war schrecklich. Ich würde nie eine solche Wut für möglich gehalten haben, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.

»Ich bin fertig«, schloß Gridley, setzte sich nieder und trocknete sich die Stirn. »Mr. Jarndyce, ich bin fertig. Ich bin heftig, ich weiß, oder sollte es wenigstens wissen. Ich habe gesessen wegen Beleidigung des Gerichtshofs. Ich habe gesessen wegen gefährlicher Drohung gegenüber dem Solicitor. Ich war in alle möglichen Ungelegenheiten verwickelt und werde es wieder sein. Ich bin der Mann aus Shropshire, und manchmal gehe ich ihnen doch ein wenig über den Spaß, –wenn sie es auch für einen Jux gehalten haben, mich einzusperren, mich in Haft vor die Schranken zu stellen; und so weiter. Ich täte besser, sagen sie, wenn ich mich mehr beherrschte. Und ich sage ihnen, daß, wenn ich mich beherrschte, ich blödsinnig werden müßte… Ich glaube, ich war früher gutmütig. Die Leute in meiner Heimat sagen, sie hätten mich noch so gekannt. Aber jetzt muß ich mir Luft machen, oder meine fünf Sinne gehen aus dem Leim. ‚Es wäre viel besser für Sie, Mr. Gridley‘, sagte vorige Woche der Lordkanzler zu mir, ‚wenn Sie, anstatt Ihre Zeit hier zu vertrödeln, sich unten in Shropshire nützlich beschäftigen‘

‚Mylord, Mylord, das weiß ich selbst‘, sagte ich zu ihm. ‚Und noch viel besser wäre es für mich gewesen, wenn ich den Namen Ihres hohen Amtes nie gehört hätte, aber leider kann ich die Vergangenheit nicht ändern, und deshalb muß ich hier sein…‘ Außerdem«, setzte Gridley mit einem Wutausbruch hinzu, »will ich mich zu ihrer Schande immer im Gerichtshof sehen lassen. Bis zuletzt. Wenn ich wüßte, wann ich sterben muß, und ich könnte mich hintragen lassen und noch ein Wort sprechen, würde ich ihnen zurufen: Ihr habt mich hierhergebracht und weggeschickt, viele, viele Male. Jetzt schickt mich das letzte Mal hinaus, mit den Füßen voraus.«

Sein Gesicht hatte sich offenbar seit vielen Jahren so an seinen streitsüchtigen Ausdruck gewöhnt, daß es sich selbst jetzt, wo er innerlich ruhiger war, nicht glättete.

»Ich kam her, um die Kleinen eine Stunde herunter in mein Zimmer zu nehmen und sie dort ein wenig spielen zu lassen«, sagte er und ging wieder zu ihnen. »Du fürchtest dich doch nicht vor mir, Tom, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Tom. »Mit mir sind Sie nie böse.«

»Da hast du recht, Kind. Du gehst wieder an die Arbeit, Charley ? Ja? Also komm, Kleiner!« Er nahm das Jüngste auf den Arm, und es ließ es sich gern gefallen. »Ich sollte mich gar nicht wundern, wenn – wir einen Pfefferkuchensoldaten unten fänden. Wir wollen ihn einmal suchen gehen.«

Er grüßte Mr. Jarndyce wieder in seiner früheren derben Weise, der es nicht an einer gewissen Achtung fehlte, dann verbeugte er sich flüchtig gegen uns und ging die Treppe hinunter in sein Zimmer.

Zum ersten Mal nach seiner Ankunft fing Mr. Skimpole jetzt wieder in seiner gewohnten lustigen Weise an zu plaudern. Er sagte, es sei wirklich ein angenehmer Anblick, zu sehen, wie sich die Dinge so ganz von selbst ihrem Zweck anpaßten. Hier sei z. B. dieser Mr. Gridley, ein Mann von kräftigem Willen und erstaunlicher Energie, und er könne sich leicht vorstellen, wie dieser Gridley sich Vorjahren im Leben nach etwas umgesehen habe, um seiner überströmenden Kampfeslust Luft zu machen, als ihm der Kanzleigerichtshof in den Weg gekommen sei und ihn genau mit dem versorgt habe, was er brauchte. Von jetzt an seien sie unzertrennlich voneinander. Wer weiß, vielleicht wäre er ein großer General geworden, der allerlei Städte in die Luft gesprengt hätte, oder ein großer Politiker, beschlagen in jedem Zweige parlamentarischer Redekunst. Aber so seien er und der Kanzleigerichtshof auf die angenehmste Weise miteinander bekannt geworden, und niemand führe schlechter dabei; und Gridley sei sozusagen von dieser Stunde an versorgt… Man sehe einmal Coavinses an. Welch prächtiges Beispiel liefere der arme Coavinses, der Vater dieser reizenden Kinder, in gleicher Hinsicht! Er, Mr. Skimpole, habe manchmal selbst über das Dasein Coavinses‘ gemurrt. Coavinses sei ihm im Wege gewesen. Er habe Coavinses wahrhaftig gern missen mögen. Es habe Zeiten gegeben, wo er, wenn er Sultan gewesen wäre und sein Großvezier hätte ihn eines Morgens gefragt: Was verlangt der Beherrscher der Gläubigen von der Hand seines Sklaven ? – sich vielleicht zu der Antwort verstiegen haben würde: »Den Kopf des Coavinses«. Aber wie stelle sich jetzt die Sache dar?

Die ganze Zeit über habe er einem höchst verdienstvollen Mann Beschäftigung gegeben, sei Coavinses‘ Wohltäter gewesen und habe es ihm tatsächlich ermöglicht, diese reizenden Kinder so trefflich zu erziehen. Daher habe ihm eben jetzt das Herz höher geschlagen, und die Tränen seien ihm in die Augen getreten, als er sich im Zimmer umgesehen und gedacht habe: Ich war eigentlich Coavinses‘ Gönner, und seine kleinen Lebensfreuden waren mein Werk.

Die leichte Weise, mit der er diese phantastischen Saiten berührte, hatte etwas so Gewinnendes, und er war ein so fröhliches Kind gegenüber den so viel ernsteren wirklichen Kindern, daß auch mein Vormund über ihn lächeln mußte, als er sich nach einem kleinen Privatgespräch mit Mrs. Blinder wieder zu uns wandte.

Wir küßten Charley und nahmen sie mit die Treppe hinunter und blieben vor dem Hause stehen, um sie zu ihrer Arbeit laufen zu sehen. Ich weiß nicht, wohin sie ging, aber wir sahen sie, das kleine Geschöpf mit dem Hut und der Schürze einer Hausfrau, durch den gedeckten Flur hinten im Hofe laufen und in dem Kampfgetümmel und Lärm der Stadt wie einen Tautropfen im Ozean verschwinden.