11. Kapitel

Unser geliebter Bruder

Irgend jemand berührt die runzelvolle Hand des Advokaten, wie er im finstern Zimmer unentschlossen dasteht, und macht ihn auffahren: »Wer ist da!«

»Ich bin’s«, sagt der Alte vom Hause. Sein Atem berührt das Ohr Mr. Tulkinghorns. »Können Sie ihn nicht wecken?«

»Nein.«

»Was haben Sie mit Ihrer Kerze gemacht?«

»Sie ist ausgegangen. Hier ist sie.«

Krook nimmt sie, geht ans Feuer, bückt sich über die roten Kohlen und versucht den Docht anzuzünden. Die ersterbende Asche hat keine Glut mehr, und seine Bemühungen sind umsonst. Ebenso vergeblich sucht er seinen Mieter zu wecken; dann brummt er und geht hinunter in den Laden, um eine brennende Kerze zu holen. Aus irgendeinem Grunde erwartet Mr. Tulkinghorn seine Rückkehr nicht im Zimmer, sondern draußen auf der Treppe.

Endlich, endlich erhellt ein Licht die Wände, wie Krook langsam heraufkommt, die grünäugige Katze ihm auf den Fersen.

»Schläft der Mann immer so fest?« fragt der Advokat leise.

»Hi! Ich weiß nicht«, Krook schüttelt den Kopf und zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Ich weiß so gut wie nichts von seinen Gewohnheiten, außer, daß er sich fast ganz abschließt.«

So flüsternd treten sie beide ein. Wie das Licht hereinkommt, scheinen die großen Augen in den Fensterläden dunkler zu werden und sich zu schließen. Nicht so die Augen auf dem Bett.

»Gott sei uns gnädig«, ruft Mr. Tulkinghorn. »Er ist tot.«

Krook läßt die schwere Hand, die er ergriffen hat, so plötzlich los, daß der Arm an der Seite des Bettes herunterfällt. Die beiden sehen sich einen Augenblick an.

»Laufen Sie nach einem Doktor! Rufen Sie Miß Flite oben, Sir! Hier steht Gift beim Bett! Rufen Sie Flite, wollen Sie?« sagt Krook, der seine dürren Hände über der Leiche hält wie die Flügel eines Vampirs.

Mr. Tulkinghorn eilt hinaus und ruft: »Miß Flite! Flite! Schnell, kommen Sie schnell! Flite!«

Krook folgt ihm mit seinen Blicken und benützt die Gelegenheit, während er ruft, sich zu dem alten Mantelsack und wieder zurück zu schleichen.«

»Schnell, Flite, schnell! Zum nächsten Doktor! Schnell!« So schreit Mr. Krook die verrückte kleine Alte, seine Mieterin, an.

Im Nu erscheint sie und verschwindet und kehrt zurück, begleitet von einem Arzt, der sehr verdrießlich dreinschaut, weil man ihn beim Essen gestört hat, – einem Mann mit einer dicken, mit Schnupftabak bedeckten Oberlippe und einem breiten schottischen Akzent.

»Ei! Gott haab ihn seelig«, sagt der Arzt und sieht nach einer kurzen Untersuchung auf. »Der ischt so toot wie Pharao.«

Mr. Tulkinghorn, der neben dem alten Mantelsack steht, fragt, ob er schon lange tot sei.

»Schon lange, Ser«, sagt der Arzt. »Waahrscheinlich ischt er etwa drei Stunden toot.«

»Ungefähr so lange auch meiner Meinung nach«, bemerkt ein schwarzer junger Mann auf der andern Seite des Bettes.

»Sind Sie selbscht Meediziner, Ser?« fragt der Schotte.

Der schwarze junge Mann sagt: »Ja.«

»Nun, denn kann ich ja gehn. Denn bin ich hier gaar nichts nütze.«

Mit dieser Bemerkung macht der Arzt seiner kurzen Anwesenheit ein Ende und kehrt wieder zu seinem Essen zurück.

Der schwarze junge Mediziner leuchtet mit der Kerze wiederholt über das starre Gesicht und untersucht sorgfältig den Schreiber, der seine Ansprüche auf seinen Namen jetzt dadurch festgestellt hat, daß er wirklich »Niemand« geworden ist.

»Ich kenne den Mann sehr gut vom Sehen«, sagt er. »Er hat seit den letzten anderthalb Jahren Opium bei mir gekauft. Ist jemand von den Anwesenden mit ihm verwandt?« fragt er und mustert die drei um das Bett herumstehenden Personen.

»Ich war sein Hauswirt«, gibt Krook mürrisch zur Antwort und nimmt dem Arzt die hingehaltene Kerze aus der Hand. »Er sagte einmal zu mir, ich sei der nächste Verwandte, den er hätte.«

»Er ist an einer zu starken Dosis Opium gestorben. Daran ist kein Zweifel. Das ganze Zimmer riecht danach. Hier ist noch genug«, – der Arzt nimmt Mr. Krook einen alten Teetopf aus der Hand – »um ein Dutzend Menschen zu töten.«

»Meinen Sie, daß er es absichtlich getan hat?« fragt Krook.

»Die zu starke Dosis genommen?«

»Ja!« – Krook schmatzt fast mit den Lippen im Hochgenuß eines schauerlichen Interesses.

»Das kann ich nicht sagen. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, da er gewohnt war, starke Dosen zu nehmen. Das kann niemand wissen. Er war sehr arm, vermute ich?«

»Das vermute ich auch. Sein Zimmer – macht nicht den Eindruck von Reichtum«, sagt Krook, der so aussieht, als habe er die Augen mit seiner Katze vertauscht, so gierig schweifen seine Blicke in der Stube umher. Aber ich bin nie hier gewesen, seit er eingezogen ist, und er war zu verschlossen, um mir etwas über seine Verhältnisse zu erzählen.«

»Ist er Ihnen Zins schuldig?«

»Sechs Wochen.«

»Er wird ihn nie bezahlen«, sagt der junge Arzt und nimmt seine Untersuchung wieder auf. »Es ist ganz außer Zweifel, daß er so tot ist wie Pharao, und nach seinem Körperzustand zu urteilen, möchte ich sagen, es ist ein Glück für ihn. Und doch muß er als junger Mann groß und schlank und ich sollte meinen hübsch gewesen sein.«

– Er sagt dies nicht ohne Gefühl, während er auf dem Rande der Bettstelle sitzt, das Gesicht dem Toten zugekehrt und die Hand auf die Herzgegend gelegt. –

»Ich erinnere mich, daß es mir schon früher einmal so vorkam, als sei etwas in seinem Auftreten, so abstoßend er sich auch benahm, was auf eine bessere Vergangenheit hindeutete. Wissen Sie etwas darüber?« fährt er fort und sieht sich um.

Krook antwortet: »Sie könnten ebensogut von mir verlangen, Ihnen die Damen zu beschreiben, deren Haar ich unten im Keller in Säcken habe. Ich weiß nicht mehr von ihm, als daß er anderthalb Jahre lang mein Mieter war und vom Abschreiben für Advokaten lebte – oder nicht lebte.«

Während dieses Zwiegesprächs hat Mr. Tulkinghorn abseits neben dem alten Mantelsack gestanden, die Hände auf dem Rücken und allem Anschein nach gleich unendlich fern von all den drei verschiedenen Arten von Teilnahme, die neben dem Bett an den Tag gelegt wurden – von dem Interesse des jungen Mannes an der Leiche als Arzt und seiner Teilnahme für den Verstorbenen als Mensch –, von des alten Mannes lüsternem Genuß an der Schrecklichkeit des Vorfalls – und von dem Grauen der verrückten kleinen Alten vor der Leiche. Sein unbewegliches Gesicht blieb so ausdruckslos wie das rostige Aussehen seiner Kleider. Er scheint die ganze Zeit über an nichts gedacht zu haben. Er hat weder Geduld noch Ungeduld, weder Aufmerksamkeit noch Zerstreutheit gezeigt. Nur die äußere Schale ist zu sehen gewesen. Ebensowenig hätte man auf den Ton eines Musikinstrumentes aus dem Gehäuse schließen können.

Er mischt sich jetzt hinein, redet den jungen Mann in seiner teilnahmslosen, geschäftsmäßigen Weise an.

»Ich kam einen Augenblick vor Ihnen hierher«, bemerkt er, »mit der Absicht, dem Verstorbenen, den ich als Lebenden nicht gekannt habe, einige Kopierarbeiten zu geben. Ich erfuhr seine Adresse von meinem Papierhändler Snagsby in Cook’s Court. Da niemand hier etwas von dem Toten weiß, wäre es vielleicht gut, nach Snagsby zu schicken. – Ah!« sagt er zu der verrückten kleinen Alten, die er oft im Kanzleigericht gesehen zu haben sich erinnert. »Ja, vielleicht holen Sie ihn«, sagt er, da sie sich in erschrecktem stummem Gebärdenspiel erbötig macht, den Papierhändler zu holen.

Während sie fort ist, gibt der Arzt die Untersuchung als hoffnungslos auf und deckt den Toten mit der Flickendecke zu. Mr. Krook und er wechseln ein paar Worte miteinander. Mr. Tulkinghorn spricht kein Wort und steht immer noch neben dem alten Mantelsack.

Mr. Snagsby erscheint in aller Eile in seinem grauen Kittel mit den schwarzen Schreibärmeln.

»Mein Gott, mein Gott!« sagt er. »Ist es also endlich dazu gekommen! Gott soll einen Menschen behüten!«

»Können Sie dem Hauswirt hier irgendeine Auskunft über den Unglücklichen geben, Snagsby?« fragt Mr. Tulkinghorn. »Er war angeblich mit seinem Zins im Rückstand. Und er muß doch begraben werden.«

»Hm, Sir«, meint Mr. Snagsby und läßt hinter seiner Hand ein verlegenes Hüsteln hören. »Ich wüßte wirklich nicht, welchen Rat ich geben könnte, außer, daß man nach dem Kirchendiener schicken sollte.«

»Ich spreche nicht von Rat«, lehnt Mr. Tulkinghorn ab. »Ich könnte ja selbst raten…«

»Niemand besser, Sir, selbstverständlich«, entschuldigt sich Mr. Snagsby mit seinem ehrerbietigen Husten.

»Ich meine, ob man nicht etwas über seine Verwandten oder woher er stammt oder über seine sonstigen Verhältnisse erfahren könnte?«

Mr. Snagsby schickt seiner Antwort einen allgemein versöhnlichen Husten voraus und sagt:

»Ich versichere Ihnen, Sir, ich weiß ebensowenig, woher er gekommen ist, als ich weiß…«

»Wohin er gegangen ist«, unterbricht ihn der Arzt, nachhelfend.

– Pause. –

Mr. Tulkinghorn sieht den Schreibmaterialienhändler an. Mr. Krook sieht mit offenem Munde von einem zum andern, erwartungsvoll, wer wohl jetzt etwas sagen werde.

»Was seine Verwandten betrifft, Sir«, fährt Mr. Snagsby fort, »wenn jemand zu mir spräche: Snagsby, hier liegen zwanzigtausend Pfund für Sie in der Bank von England bereit, wenn Sie mir auch nur einen von ihnen nennen, so könnte ich es nicht, Sir. Vor ungefähr anderthalb Jahren, soweit ich mich erinnern kann, und um die Zeit, wo er in den Althändlerladen hier eingezogen ist…«

»Um die Zeit war es«, bestätigt Krook mit einem Kopfnicken.

»Vor ungefähr anderthalb Jahren«, fährt Mr. Snagsby ermutigt fort, »kam er eines Morgens nach dem Frühstück in mein Geschäft, fand dort meine kleine Frau, legte ihr eine Probe seiner Handschrift vor und sagte ihr, er suche Abschreibearbeit zu bekommen. Und daß er – um nicht durch die Blume zu sprechen« – ein Lieblingsausdruck Mr. Snagsbys, wenn er keine Umstände machen und frei herausreden will – »und daß er sehr in Not sei. Meine kleine Frau hat für gewöhnlich keine besondere Vorliebe für Fremde, besonders – um nicht durch die Blume zu sprechen –, wenn sie etwas haben wollen. Aber irgend etwas an dem Mann mußte doch ihr Interesse erregt haben; ob er unrasiert war oder wild und ungekämmt aussah oder sonst etwas an sich hatte, was Damen interessiert, überlasse ich Ihnen zu beurteilen, aber sie nahm die Probe an und auch die Adresse. Meine kleine Frau hat kein gutes Ohr für Namen«, fährt Mr. Snagsby fort, nachdem er mit seinem rücksichtslosen Husten hinter der vorgehaltnen Hand zu Rate gegangen ist, »und sie verwechselte Nemo mit Nimrod. Sie hat sich deshalb angewöhnt, bei Tisch zu mir zum Beispiel zu sagen: Snagsby, hast du noch immer keine Arbeit für Nimrod? Oder: Snagsby, warum hast du die achtunddreißig Folioseiten in Sachen Jarndyce nicht Nimrod gegeben? Und so weiter. Auf diese Art bekam er nach und nach ziemlich regelmäßig Arbeit von uns, und das ist alles, was ich von ihm weiß, außer, daß er sehr rasch schrieb und sich aus Nachtarbeit nichts machte. Wenn man ihm zum Beispiel fünfundvierzig Folioseiten Mittwoch abends gab, hatte er sie schon Donnerstag früh fertig.« Mr. Snagsby schließt seine Rede mit einer höflichen Bewegung seines Hutes nach dem Bette hin, als wollte er hinzusetzen, – »was alles ohne Zweifel mein ehrenwerter Freund hier bestätigen würde, wenn es ihm sein Zustand erlaubte.«

»Möchten Sie nicht vielleicht nachsehen, ob Papiere da sind, die Licht in die Sache bringen könnten«, sagt Mr. Tulkinghorn zu Krook. »Man wird Totenschau halten und Sie wahrscheinlich danach fragen.«

»Nein, kann ich nicht«, antwortete der Alte plötzlich, die Zähne zusammenbeißend.

»Snagsby, durchsuchen Sie also einmal das Zimmer für ihn«, sagt Mr. Tulkinghorn. »Er könnte sonst leicht Unannehmlichkeiten haben. Da ich schon hier bin, will ich warten, wenn Sie schnell machen, und kann dann Zeugenschaft ablegen, daß alles richtig zugegangen ist, wenn es verlangt werden sollte.«

»Wenn Sie Mr. Snagsby die Kerze halten wollen, mein Freund, wird er bald sehen, ob etwas vorhanden ist.«

»Erstens einmal ist hier ein alter Mantelsack, Sir«, sagt Snagsby.

»Ja richtig!« Mr. Tulkinghorn scheint den Mantelsack nicht gesehen zu haben, obgleich er dicht daneben steht und weiß Gott sonst wenig genug im Zimmer ist.

Der Trödler hält das Licht, und der Papierhändler leitet die Untersuchung. Der Arzt lehnt an einer Ecke des Kaminsimses; Miß Flite steht zitternd auf der Türschwelle und lugt furchtsam ins Zimmer. Der gelehrte Advokat der alten Schule mit den glanzlosen schwarzen, mit Bändern am Knie zugebundnen Hosen, der langen schwarzen Weste, dem langärmeligen schwarzen Frack und dem ungestärkten weißen Halstuch mit der kleinen Schleife, die der Hochadel so gut kennt, steht genau auf demselben Fleck in der alten Stellung.

In dem Mantelsack finden sich ein paar wertlose Kleidungsstücke, ein Bündel Versatzscheine, diese Mautzettel auf dem Wege zur Armut, ein zerknittertes Blatt Papier, das nach Opium riecht und ein paar hingekritzelte Notizen aufweist, zum Beispiel: An dem und dem Tage soviel Gran genommen, an dem und dem so und so viel Gran mehr. Die Notizen sind vor längerer Zeit niedergeschrieben, wohl mit der Absicht, sie regelmäßig fortzusetzen. Aber bald sind sie abgebrochen worden. Es finden sich ein paar schmutzige Fetzen von Zeitungen, lauter Totenschauberichte. Weiter nichts. Sie suchen im Wandschrank und in der Schublade des tintenbespritzten Tisches. Auch nicht ein Stückchen eines alten Briefs oder sonst ein Anhaltspunkt ist zu entdecken. Der junge Arzt untersucht die Kleider des Schreibers. Weiter nichts als ein Messer und einige Halfpence kommen zum Vorschein. Mr. Snagsbys Rat ist schließlich doch der praktischste, und der Kirchendiener muß geholt werden.

Die kleine verrückte Alte holt daher den Kirchspieldiener, und die übrigen verlassen das Zimmer.

»Die Katze darf nicht hier bleiben«, sagt der Arzt. »Das geht nicht.«

Mr. Krook jagt sie vor sich hinaus, und sie schleicht verstohlen die Treppe hinab, richtet ihren schlanken Schweif auf und leckt sich die Lippen.

»Gute Nacht«, sagt Mr. Tulkinghorn und geht heim zu Allegorie und Grüblerei.

Um diese Zeit hat sich die Nachricht von dem Todesfall im Hofe verbreitet. Es sammeln sich Gruppen seiner Bewohner, um die Sache zu besprechen, und die Vorposten der Beobachtungsarmee, die hauptsächlich aus Jungen besteht, werden bis zu Mr. Krooks Fenster vorgeschoben, das sie dicht umlagern. Ein Polizeidiener ist bereits in das Zimmer hinauf und wieder bis zur Tür hinuntergegangen, steht da wie ein Turm und läßt sich nur gelegentlich herab, die Jungen tief unten zu seinen Füßen anzublicken. Und jedes Mal, wenn er sie ansieht, weichen sie scheu zurück.

Mrs. Perkins, die seit Wochen mit Mrs. Piper kein Wort gesprochen hat, weil der kleine Perkins dem kleinen Piper eins auf den Kopf gegeben hat, knüpft bei dieser aussichtsreichen Gelegenheit den freundschaftlichen Verkehr wieder an. Der Schankkellner an der Ecke, eine Art privilegierter Amts-Amateur, da er offizielle Lebenskenntnis besitzt und gelegentlich mit Betrunkenen zu tun hat, tauscht vertraulich Ansichten mit dem Polizeidiener und hat das Aussehen eines unbesiegbaren Jünglings, dem Konstablerstäbe und Polizeistationen nichts anhaben können.

Die Leute reden miteinander über die Gasse hinweg aus den Fenstern, und barhäuptige Späher kommen aus Chancery-Lane herbeigelaufen, um zu sehen, was es gibt. Die allgemeine Ansicht scheint zu sein, es sei ein Glück, daß wider Erwarten die Reihe nicht an Mr. Krook zuerst kam, aber es mischt sich ein wenig natürliche Enttäuschung hinein.

Inmitten dieser Aufregung erscheint der Kirchspieldiener.

Der Kirchspieldiener, obgleich allgemein in der Nachbarschaft für eine lächerliche Institution gehalten, genießt für den Augenblick eine gewisse Popularität, wenn auch nur als Person, die die Leiche ansehen darf. Der Polizeidiener sieht in ihm einen schwachsinnigen Zivilisten, ein Überbleibsel aus dem barbarischen Zeitalter der Nachtwächter, aber er läßt ihn ein wie etwas, das geduldet werden muß, bis die Regierung es abschafft. Die allgemeine Aufregung erreicht ihren Höhepunkt, als das Gerücht von Mund zu Mund geht, der Kirchspieldiener sei eingetroffen und hineingegangen.

Bald darauf kommt der Kirchspieldiener wieder heraus, und wieder steigt die Aufregung, die mittlerweile ein wenig abgeflaut war. Man vernimmt, daß er für die morgige Totenschau Zeugen sucht, die dem Beamten und den Geschwornen Auskunft über den Verstorbenen geben können. Er wird auf der Stelle an unzählige Leute gewiesen, die ihm nicht das mindeste zu sagen imstande sind. Er wird dadurch noch dümmer gemacht, daß man ihm beständig wiederholt, Mrs. Greens Sohn sei selbst Advokatenschreiber gewesen und habe den Toten besser gekannt als irgend jemand sonst.

Der Sohn von Mrs. Green befindet sich jedoch, wie sich bei näherer Nachfrage herausstellt, gegenwärtig an Bord eines Schiffes, das vor drei Monaten nach China unter Segel ging, das man aber vermutlich nach einer Eingabe an die Admiralitätschaft telegraphisch erreichen könnte.

Freund Kirchspieldiener geht in die verschiednen Läden und Gassenzimmer, fragt die Einwohner aus, schließt vor allen Dingen jedes Mal die Tür und erbittert durch langes Wartenlassen und alles umfassende Blödheit das Publikum. Der Polizeidiener lächelt den Schankkellner an. Das Publikum verliert das Interesse, und allgemeine Teilnahmslosigkeit fängt an einzutreten. Es verhöhnt den Kirchspieldiener, und schrille jugendliche Stimmen werfen ihm vor, einen Knaben gekocht zu haben; Chöre singen Fragmente eines Gassenliedes, das ebenfalls davon handelt und besagt, daß sie aus dem Knaben Suppe für das Armenhaus gekocht hätten. Der Polizeidiener sieht sich zuletzt genötigt, dem Gesetz zu Hilfe zu kommen und einen der Sänger zu ergreifen. Da die übrigen ausreißen, läßt er ihn unter der Bedingung, sofort aufzuhören und zu verduften – sonst! –, wieder los. Der Sänger kommt der Aufforderung augenblicklich nach. So legt sich die Aufregung, und der unerschütterliche Polizeimann, den ein wenig Opium mehr oder weniger kalt läßt, mit dem lackierten hohen Hut, der hohen Halsbinde, dem steifen Überrock, dem ledernen Gürtel und Armband und seiner ganzen übrigen Kriegsausrüstung schreitet langsam seines Weges mit schwerem Tritt. Er schlägt die Flächen seiner weißen Handschuhe gegeneinander und bleibt dann und wann an einer Straßenecke stehen, um sich nach Unglücksfällen umzusehen: Vom verlorenen Sohn aufwärts bis zum Mord.

Unter dem Schutze der Nacht flattert der schwachsinnige Kirchspieldiener in Chancery-Lane mit seinen Vorladungen herum, in denen der Name jedes Geschwornen falsch und nur sein eigner, den aber niemand lesen kann oder will, richtig geschrieben ist.

Nachdem die Vorladungen verteilt und die Zeugen benachrichtigt sind, begibt sich der Kirchspieldiener zu Mr. Krook, um hier einige Armenhausbewohner, die er bestellt hat, zu erwarten. Sie erscheinen bald darauf; er führt sie die Treppe hinauf, wo sie für die großen Augen in den Fensterläden etwas Neues zum Anstarren hinsetzen: Die letzte irdische Behausung für »Niemand«, – die letzte Behausung für jeden Sterblichen. Und die ganze Nacht hindurch steht der Sarg neben dem alten Mantelsack; und die einsame Gestalt auf dem Bett, die fünfundvierzig Jahre auf dem Pfad des Lebens gewandelt, liegt dort und hat nicht mehr Spur, die zu einer Entdeckung führen könnte, hinterlassen als ein ausgesetztes Kind.

Am nächsten Tag ist alles lebendig im Hof. Es ist wie ein Jahrmarkt, wie Mrs. Perkins in dickster Freundschaft mit Mrs. Piper in vertraulichem Gespräch zu dieser vortrefflichen Frau äußert. Der Totenbeschauer wird in dem Saal im ersten Stock der »Sonne« sitzen, wo sich zwei Mal wöchentlich die harmonische Gesellschaft versammelt und ein Herr von großem künstlerischem Ruf einen Lehnstuhl ausfüllt, vis à vis dem kleinen Swills, dem komischen Sänger, der, nach dem Zettel im Fenster zu schließen, hofft, daß sich seine Freunde um ihn scharen und »ein Talent ersten Ranges« unterstützen werden.

Die »Sonne« bestrahlt an diesem Morgen ein einträgliches Geschäft. Selbst Kinder bedürfen bei der allgemeinen Aufregung so sehr der Stärkung, daß ein Pastetenbäcker, der an der Ecke des Hofes einen fliegenden Laden errichtet hat, sagt, seine Likörbonbons gingen weg wie Rauch. In der Zwischenzeit zeigt der Kirchspieldiener, der zwischen Mr. Krooks Ladentür und dem Tor der »Sonne« hin und her spukt, die seiner Obhut anvertraute Sehenswürdigkeit ein paar diskreten Günstlingen, die sich ihm dafür mit einem Glas Ale oder dergleichen erkenntlich erweisen.

Zur festgesetzten Stunde erscheint der Totenbeschauer, von den Geschworenen erwartet und von einer Salve rasselnder Kegel aus der guten, trocknen Kegelbahn der »Sonne« begrüßt. Der Totenbeschauer besucht mehr Wirtshäuser als irgendein lebender Mensch. Der Geruch von Sägespänen, Bier, Tabakrauch und Branntwein ist ihm in seinem Beruf untrennbar geworden vom Tode, auch in seiner schrecklichsten Gestalt. Der Kirchspieldiener und der Wirt geleiten ihn in den Saal der »Harmonischen Gesellschaft«, wo er seinen Hut auf das Klavier legt und in einem Präsidenten-Lehnstuhl Platz nimmt – am obern Ende einer langen Tafel, die sich aus vielen aneinandergeschobenen kleinen Tischen zusammensetzt und verziert ist mit klebrigen Ringen, von Gläsern und Krügen herrührend, in endloser Verschlingung. Genau soviel Geschworne, als sich um die lange Tafel zusammendrängen können, sitzen dort. Die übrigen finden Platz mitten unter Spucknäpfen und Pfeifenständern oder lehnen am Klavier. Über dem Kopf des Totenbeschauers hängt ein kleiner eiserner Kranz, der Griff eines Klingelzugs, und im Laien erweckt er den Anschein, als sollte der Vorsitzende des Gerichtshofs im nächsten Augenblick gehängt werden.

»Man verlese und beeidige die Geschwornen!«

Während diese Zeremonie vor sich geht, macht der Eintritt eines kleinen, dicken Mannes mit einem mächtigen Hemdkragen, Triefaugen und einer roten Nase, der bescheiden an der Tür unter dem Publikum Platz nimmt, aber dennoch in dem Saale ganz zu Hause zu sein scheint, einiges Aufsehen. Ein allgemeines Flüstern verrät, daß es der kleine Swills ist. Man hält es nicht für unwahrscheinlich, daß er heute abend vor der »Harmonischen Versammlung« den Totenbeschauer kopieren wird.

»Also, meine Herren…« fängt der Vorsitzende an.

»Ruhe, Ruhe!« ruft der Kirchspieldiener. Er ruft es nicht dem Vorsitzenden zu, aber es klingt fast so.

»Also, meine Herren«, beginnt der Totenbeschauer von neuem, »Sie sind hier zusammengetreten, um über die Todesart einer gewissen Person die Tatsachen festzustellen. Sie werden Zeugenaussagen über die diesen Todesfall begleitenden Umstände hören und Ihren Wahrspruch nach den – Kegeln gibt’s heute nicht, die Kegelbahn ist augenblicklich zu sperren, Kirchendiener! – nach den Zeugenaussagen und nach nichts anderm fällen. Zuerst haben wir die Leiche zu besichtigen.«

»Platz da, Platz!« ruft der Kirchspieldiener.

Alle verlassen in Prozession wie ein langgestreckter Leichenzug den Saal und begeben sich zur Besichtigung in Mr. Krooks zweiten Stock in das Hinterzimmer. Ein paar der Geschwornen verlassen es blaß und hastig auf der Stelle wieder. Der Kirchspieldiener ist eifrig bemüht, daß zwei um Ärmelaufschläge und Knopflöcher herum nicht sehr sauber aussehende Herren, für die er schon im Saal der »Harmonischen Gesellschaft« neben dem Totenbeschauer ein besonderes Tischchen hingestellt hat, alles genau zu sehen bekommen. Sie sind nämlich die öffentlichen Berichterstatter über solche Untersuchungen – nach der Zeile –, und auch er ist der allgemeinen menschlichen Schwäche unterworfen, zu hoffen, gedruckt zu lesen, was Mooney, der tätige und scharfsinnige Kirchspieldiener des Distriktes, alles gesagt und getan hat. Er wünscht sich innerlich, den Namen Mooney in dem vertraulichen Ton erwähnt zu lesen wie in letzter Zeit den Namen des Henkers.

Der kleine Swills wartet im Saal auf die Rückkehr des Totenbeschauers und der Geschwornen. Auch Mr. Tulkinghorn wartet. Mr. Tulkinghorn wird mit Ehrfurcht begrüßt und in die Nähe des Totenbeschauers gesetzt. Zwischen diesen hohen Gerichtsbeamten ein Zimmerkegelspiel und eine Kohlenkiste. Die Untersuchung wird fortgesetzt. Die Geschworenen erfahren, wie der Gegenstand ihrer Untersuchung gestorben ist. Über ihn selbst erfahren sie nichts.

»Ein angesehener Advokat ist hier, meine Herren«, sagt der Totenbeschauer, »der, wie ich höre, zufällig anwesend war, als man die Leiche entdeckte; aber er könnte nur wiederholen, was Sie bereits von dem Arzt, dem Hauswirt, der Mieterin im obern Stock und dem Schreibmaterialenhändler gehört haben, und wir brauchen ihn daher nicht weiter zu inkommodieren. Ist sonst noch jemand hier, der eine Auskunft geben könnte?«

Mrs. Perkins schiebt Mrs. Piper vor. Mrs. Piper wird vereidigt.

»Anastasia Piper, meine Herren, verheiratete Frauensperson. Nun, Mrs. Piper, was haben Sie uns über die Sache zu sagen?«

Mrs. Piper hat sehr viel zu sagen. Besonders in Klammer und ohne jede Interpunktion, kann aber nicht viel Auskunft geben. Mrs. Piper wohnt im Hof (wo ihr Mann Schreiner ist) und es ist seit langer Zeit den Nachbarn wohl bekannt (es war zwei Tage nach dem Tage wo Alexander James Piper der jetzt achtzehn Monate vier Tage alt ist die Nottaufe erhielt weil er aufgegeben war so sehr litt das arme Kind an Krämpfen) daß der Kläger – so nennt immer wieder Mrs. Piper den Verstorbenen sich angeblich dem Teufel verkauft haben sollte. Das Gerücht sei wahrscheinlich entstanden weil der Kläger danach ausgschaut hat. Der Kläger habe immer fuchtig und grimmig ausgschaut und sie habe immer gesagt man dürfe ihn nicht frei herumgehen lassen weil manche Kinder furchtsam sind (und wenn man ihr nicht glaube so solle man Mrs. Perkins fragen die hier ist und die bestätigen kann daß sie und ihr Mann und ihre Familie niemals keine Unwahrheit nicht spricht) sie habe gesehen wie die Kinder den Kläger geneckt und gequält haben (denn Kinder sind Kinder und man kann nicht von ihnen erwarten besonders wenn sie munter und lebhaft sind daß sie sich wie Methuselers benehmen) deswegen und wegen seines finstern Aussehens habe sie oft geträumt daß er eine Axt aus der Tasche gezogen habe um damit Johnny den Kopf zu spalten aber das Kind kenne keine Furcht nicht und habe ihn oft dicht auf dem Fuß noch ausgespottet. In Wirklichkeit habe sie jedoch niemals den Kläger eine Axt aus der Tasche ziehen sehen. Im Gegenteil. Er sei rasch gegangen wenn ihm die Kinder nachliefen oder nachschrien als ob er Kinder nicht gern hätte und sie habe ihn nie mit einem Kind oder Erwachsenen nicht sprechen sehen ausgenommen mit dem Jungen was den Übergang unten im Gäßchen an der Ecke kehrt. Wenn er hier wäre müsse er selbst sagen daß man ihn oft mit ihm habe sprechen sehen.

Der Totenbeschauer fragt: »Ist der Junge hier?«

»Nein, Sir, er ist nicht hier«, sagt der Kirchspieldiener.

»Gehen Sie ihn holen.«

Während der Abwesenheit des emsigen und erfahrenen Dieners unterhält sich der Totenbeschauer mit Mr. Tulkinghorn.

»Hier ist der Junge, meine Herren.«

Hier ist er, schmutzbedeckt, ganz heiser, sehr zerlumpt.

»Nun, Junge!… Aber halt, einen Augenblick. Vorsicht. Der Knabe muß erst anderweitig verhört werden.«

Name? Jo. Hat keinen andern, soviel er weiß. Weiß nicht, daß jeder Mensch zwei Namen hat. Hat niemals von so was gehört. Weiß nicht, daß Jo die Abkürzung für einen längern Namen ist. Glaubt, daß er lang genug für ihn ist. Findet nichts daran auszusetzen. Kann er ihn buchstabieren? Nein. Er kann ihn nicht buchstabieren. Hat keinen Vater, keine Mutter, keine Freunde. Ist nie in der Schule gewesen – was ist dös, Elternhaus?? – Weiß, daß ein Besen ein Besen ist, und weiß, daß es eine Sünde ist, zu lügen. Erinnert sich nicht, wer ihm das von dem Besen und der Lüge gesagt hat, aber er weiß beides. Kann nicht genau sagen, was mit ihm nach dem Tode geschehen wird, wenn er den Herren hier eine Lüge sagt, aber er glaubt, daß es ihm zur Strafe sehr schlecht gehen wird und daß ihm dös dann recht gschiecht… Und deshalb will er die Wahrheit sagen.

»Damit kommen wir zu nichts, meine Herren«, sagt der Totenbeschauer und schüttelt melancholisch den Kopf.

»Glauben Sie nicht, daß wir seine Aussage anhören sollen, Sir?« fragt ein aufmerksamer Geschworner.

»Ausgeschlossen. Sie haben den Knaben doch selbst gehört. ‚Weiß ich nicht genau‘ können wir nicht brauchen. In einem Gerichtshof können wir mit dergleichen nichts anfangen, meine Herren. Schreckliche Herabgekommenheit. Schaffen Sie den Jungen weg.«

Der Knabe tritt ab zur großen Erbauung der Zuhörerschaft – besonders des kleinen Swills, des komischen Sängers.

»Nun, sind noch andre Zeugen da?«

Es sind keine andern Zeugen da.

»Also, meine Herren! Hier ist ein unbekannter Mann infolge Genusses einer zu großen Menge Opium tot aufgefunden worden. Er ist überwiesen, seit anderthalb Jahren aus Gewohnheit Opium in großen Mengen genossen zu haben. Wenn Sie aus den Zeugenaussagen schließen zu dürfen glauben, daß er Selbstmord begangen hat, so haben Sie dementsprechend Ihren Wahrspruch zu fällen. Wenn Sie meinen, es handle sich um einen Zufall, so haben Sie ein dementsprechendes Verdikt zu fällen.«

Man fällt das entsprechende Verdikt. Selbstmord aus Zufall. Kein Zweifel.

»Meine Herren, Sie sind entlassen. Guten Nachmittag.«

Während der Totenbeschauer seinen Überrock zuknöpft, geben er und Mr. Tulkinghorn dem zurückgewiesenen Zeugen in einer Ecke eine Privataudienz. Dieses allen menschlichen Liebreizes bare Geschöpf weiß nur, daß der Tote, den es an seinem gelben Gesicht und schwarzen Haar soeben erkannt hat, manchmal von den Kindern auf der Straße verhöhnt und verfolgt wurde. An einem kalten Winterabend, als es in einem Torwege nicht weit von seinem Straßenübergang vor Kälte zitternd gekauert, habe sich der Mann nach ihm umgesehen, es ausgefragt und erfahren, daß es keinen Freund auf der Welt habe. Darauf hätte er gesagt: Ich auch nicht. Nicht einen! und hätte ihm Geld zu einem Abendessen und einem Obdach für die Nacht gegeben.

Seitdem hätte der Mann oft mit ihm gesprochen und ihn gefragt, ob er in der Nacht schlafen könnte, wie er Kälte und Hunger vertrüge und ob er sich den Tod wünsche, und ähnliche seltsame Fragen. Und manchmal hätte er im Vorbeigehen zu ihm gesagt: »Ich bin heute so arm wie du, Jo.« Wenn er aber Geld gehabt, habe er immer welches gegeben – und sehr gern. (Wie der Knabe fest überzeugt sei.)

»Er war sehr gut gegen mich.« Jo wischt sich mit dem zerlumpten Ärmel die Augen. »Wann i n so als a Toter daliegen siech, möcht i, er könnts hören. Er war immer so gut gegen mich.«

Wie er die Treppe hinunterschlottert, drückt ihm Mr. Snagsby, der im Hinterhalt auf ihn wartet, eine halbe Krone in die Hand.

»Wenn ich einmal mit meiner kleinen Frau – ich meine mit einer Dame – an deinem Straßenübergang vorbeikomme«, sagt Mr. Snagsby, den Finger an der Nase, »dann kennst du mich nicht, hörst du!«

Die Geschworenen bleiben noch eine Zeitlang in ernstem Gespräch in der Nähe der »Sonne«. Später findet man ein halbes Dutzend von ihnen in eine Wolke von Tabakqualm gehüllt, die das Gastzimmer der »Sonne« durchräuchert; zwei trollen nach Hampstead und vier kommen überein, da halber Preis ist, ins Theater zu gehen und den Abend mit Austern zu beschließen. Der kleine Swills wird allerseits traktiert. Gefragt, was er von der Verhandlung halte, nennt er sie einen »krumpen Start« – er ist berühmt wegen seines Witzes. Der Wirt der »Sonne« empfiehlt den kleinen Swills, als er sieht, wie populär er ist, höchlichst den Geschworenen und dem Publikum und beteuert, daß er in charakteristischen Liedern nicht seinesgleichen habe und für seine Charaktergarderobe einen ganzen Wagen brauche.

So verschmilzt allmählich die »Sonne« in die schattige Nacht und strahlt gewaltig im Gaslicht. Die Stunde der Harmonischen Gesellschaft naht. Der Gentleman mit dem hohen künstlerischen Ruf setzt sich in den Präsidentenstuhl vis à vis dem kleinen Swills mit dem roten Gesicht; seine Freunde scharen sich um sie und unterstützen das Talent ersten Ranges. Im Zenit des Abends sagt der kleine Swills:

»Gentlemen, wenn Sie mir erlauben, will ich eine kurze Beschreibung einer wirklichen Szene aus dem Löben, deren Zeuge ich heute war, versuchön.« Großer Beifall und Ermunterung werden ihm. Er verläßt das Zimmer als Swills und kommt als Totenbeschauer wieder herein und sieht ihm nicht im geringsten ähnlich; er beschreibt die Totenschau mit Zwischenspiel auf dem Pianoforte mit dem Refrain: Tippy toi li doll, tippy toi lo doll, tippy toi li doll, Dee! den er dem Totenbeschauer in den Mund legt.

Das Klaviergeklimper schweigt endlich, und die harmonischen Freunde sinken in ihre Kissen.

Ruhe herrscht um den Einsamen, der jetzt in seiner letzten irdischen Behausung liegt, bewacht während der paar stillen Nachtstunden von den riesigen Augen der Fensterläden. Wenn die Mutter, an deren Busen der Verlassene einst als Kind geruht, die Augen empor zu ihr gerichtet und das weiche Händchen, kaum wissend, wie es den Nacken, zu dem es emporstrebte, umfassen sollte, ihn mit prophetischem Blick hier hätte liegen sehen können, wie unmöglich wäre ihr die Vision erschienen.

Wenn in schöneren Tagen das jetzt erloschene Feuer in seiner toten Brust einst für ein Weib glühte, das sein Bild im Herzen trug, wo ist dieses Herz in dieser Stunde, wo seine Asche die letzte Nacht über der Erde weilt?

Bei Mr. Snagsby in Cook’s Court herrscht heute nacht keine Ruhe. Dort mordet Guster den Schlaf, indem sie, wie Mr. Snagsby selbst zugibt – um nicht durch die Blume zu sprechen –, nicht ein Mal, sondern zwanzig Mal in Krämpfe fällt. Die Ursache ist, daß Guster ein empfindsames Herz und ein empfängliches Etwas im Busen trägt, das ohne Tooting und ihren Schutzheiligen vielleicht zur Einbildungskraft ausgewachsen wäre. Sei dem, wie es wolle, Mr. Snagsbys Bericht über die Totenschau hat zur Teezeit einen so überwältigenden Eindruck auf sie gemacht, daß sie um die Stunde des Abendessens, einen fliegenden holländischen Käse voraussendend, in die Küche stürzt und einen Anfall von ungewöhnlicher Dauer bekommt, der nur aufhört, um sogleich wieder von neuem anzufangen, wobei sie die kurzen Zwischenräume dazu benützt, Mrs. Snagsby in rührendem Tone zu bitten, ihr nicht zu kündigen, wenn sie wieder zu sich käme, und mit Aufforderungen an das ganze Haus ausfüllt, sie auf die Steinfliesen zu legen und ruhig zu Bett zu gehen. Und Mr. Snagsby sagt, als er endlich den Hahn in der kleinen Milchwirtschaft in Cursitor Street in seine selbstlose Ekstase über das Erscheinen des Tageslichts ausbrechen hört, mit einem langen Atemzuge, obgleich er sonst der geduldigste aller Menschen ist:

»Mistviech, ich hoffte schon, du seist tot.«

Warum der enthusiastische Vogel sich in so unerhörter Weise anstrengt, über etwas zu krähen, was für ihn nicht von der mindesten Bedeutung sein kann, ist schließlich seine Sache. Krähen doch auch Menschen bei verschiedenen öffentlichen Triumphgelegenheiten, ohne daß es sie etwas angeht. Jedenfalls, und das genügt, der Tag bricht an, der Morgen und der Mittag kommen.

Der Emsige und Erfahrene, der in dieser Eigenschaft richtig in der Morgenzeitung gestanden hat, erscheint mit seinem Gefolge von Armenhausbewohnern bei Mr. Krook und geleitet die Leiche unsres dahingeschiedenen lieben Bruders auf einen rings von Häusern umgebenen, pesthauchenden und leichenüberfüllten Kirchhof, wo den Leibern unsrer noch nicht dahingeschiedenen geliebten Brüder und Schwestern bösartige Krankheiten mitgeteilt werden, dieweil unsre andern gewissen geliebten Brüder und Schwestern, die sich auf Amtshintertreppen herumtreiben und leider noch nicht von uns geschieden sind, es sich sehr wohl sein lassen.

In ein abscheuliches Stück Boden, der einen Türken mit Grauen erfüllen, über den ein Kaffer schaudern würde, bringen sie unsern dahingeschiedenen lieben Bruder, auf daß er ein christliches Begräbnis empfange.

Wo Häuser von allen Seiten herabsehen, außer wo ein kleiner Tunnel von einem Hofe aus nach dem eisernen Gitter seinen Schlund öffnet, wo jede Verkommenheit des Lebens dicht neben den Toten und jedes giftige Element des Todes dicht neben dem Leben sich die Hand reichen, da versenken sie unsern lieben Bruder einen oder zwei Fuß tief in die Erde. Hier säen sie ihn in Fäulnis, damit er in Fäulnis wieder auferstehe als rächendes Gespenst am Krankenbett; ein beschämendes Zeugnis für künftige Zeiten, wie Zivilisation und Barbarei auf dieser prahlerischen Insel Arm in Arm gingen.

Komm, Nacht! Komm, Finsternis! Ihr könnt auf einem solchen Platz wie diesem nicht zu bald kommen und nicht lange genug bleiben! Kommt, ihr flackernden Lichter in den Fenstern scheußlicher Häuser und ihr Missetäter dahinter! Recht so, Gasflamme, daß du so trag über dem Eisengitter brennst, auf das die vergiftete Luft ihre schlüpfrige Hexensalbe niederschlägt! Ganz gut, daß du jedem Vorübergehenden zurufst: Sieh her!

Bei Einbruch der Dunkelheit kommt schlotternden Ganges eine Gestalt in den Tunnelhof geschlichen, an die Außenseite des eisernen Gittertors. Sie faßt das Tor mit den Händen und schaut zwischen den Stäben hindurch und bleibt so stehen eine kleine Weile lang.

Mit einem alten Besen, den sie auf der Schulter trägt, kehrt sie die Stufe und fegt den Torweg rein. Sie tut das sehr geschäftig und geschickt, blickt wieder eine kleine Weile hinein und geht dann.

Jo, bist du’s? Gut, gut! Wenn du auch ein zurückgewiesener Zeuge bist, der »nicht genau sagen kann«, was mit ihm eine mächtigere Hand als die der Menschen vorhat, steckst du doch nicht ganz in irdischer Finsternis. Es ist etwas wie ein ferner Lichtstrahl in der Begründung, die du murmelnd dafür angibst:

»Er is immer so gut gegen mich gwesen.«