16. Kapitel

»Toms Einöd«

Lady Dedlock ist ruhelos, sehr ruhelos. Die erstaunten »fashionablen Nachrichten« wissen kaum, wo ihrer habhaft werden. Heute ist sie in Chesney Wold, gestern war sie in ihrem Haus in der Stadt, morgen kann sie im Ausland sein, wenn überhaupt die »fashionablen Nachrichten« sich noch getrauen, irgend etwas vorauszusagen. Selbst Sir Leicester in seiner Galanterie kann nicht an ihrer Seite bleiben. Um so weniger, als sein getreuer Verbündeter in guten und bösen Tagen – die Gicht – in das alte eichengetäfelte Schlafzimmer in Chesney Wold eingezogen ist und ihn bei beiden Beinen gepackt hat.

Sir Leicester findet sich mit der Gicht wie mit einem lästigen Dämon ab. Aber immerhin wie mit einem Dämon adeligen Stammes.

Sämtliche Dedlocks in direkter männlicher Linie haben während eines Zeitraums, weit über Menschengedanken hinaus, die Gicht gehabt. Es läßt sich beweisen. Die Väter anderer Leute sind vielleicht an Rheumatismus gestorben oder haben sich an dem verdorbenen Blute des kranken Pöbels angesteckt, aber das Haus Dedlock hat dem nivellierenden Prozeß des Sterbens den Stempel des Exklusiven aufgedrückt, indem alle seine Mitglieder an ihrer eignen Familiengicht gestorben sind. Sie hat sich in dem illustren Geschlecht vererbt wie das Silber, die Gemälde oder die Besitzung in Lincolnshire. Sie zählt mit zu den Würden.

Sir Leicester ist vielleicht nicht ganz frei von der Ansicht, wenn er sie auch noch nie in Worte gefaßt hat, daß der Todesengel bei Vollzug seiner Pflichten die Schatten der Aristokratie möglicherweise anreden könnte: Mylords und Gentlemen, ich habe die Ehre, Ihnen wieder einen Dedlock vorzustellen, der laut Bescheinigung per Familiengicht soeben angekommen ist.

Daher überläßt Sir Leicester seine Familienbeine der Familienkrankheit, als ob er, Namen und Vermögen gemäß, diese Lehnspflicht mit übernommen habe. Er fühlt allerdings, daß man sich eine gewisse Freiheit herausnimmt, wenn man einen Dedlock auf den Rücken legt und ihn krampfhaft in die Extremitäten zwickt und sticht, aber er denkt: Wir haben uns das alle gefallen lassen; es gehört mit dazu; es ist seit einigen hundert Jahren ein stillschweigendes Übereinkommen, daß wir die Totengruft im Park nicht aus andern gemeineren Ursachen zieren sollen, und ich unterwerfe mich dieser Vereinbarung.

Und es nimmt sich sehr gut aus, wie er in einer Glut von Scharlach und Gold in der Mitte des großen Salons vor seinem Lieblingsbild von Mylady liegt, während breite Streifen Sonnenschein die lange Perspektive hinunter durch die endlose Reihe der Fenster hereinglänzen und mit den Schattenstreifen abwechseln. Draußen stehen die stattlichen Eichen seit Generationen in den Grund gewurzelt, der niemals die Pflugschar gefühlt hat und schon Jagdgebiet war, als Könige noch mit Schwert und Schild in die Schlacht und mit Bogen und Pfeil auf die Jagd ritten, und legen Zeugnis ab für seine Größe. Drinnen sagen seine von den Wänden herabblinkenden Ahnen: »Jeder von uns war hier einmal vorübergehend eine Wirklichkeit und ließ diesen gemalten Schatten seines Selbst zurück und verschmolz in Erinnerungen so traumhaft wie der ferne Schrei der Krähen, der dich jetzt in Schlaf lullt.« Und legen ebenfalls Zeugnis ab für seine Größe.

Und Sir Leicester ist heute sehr von seiner Bedeutung durchdrungen. Und wehe Boythorn oder jedem anderen frechen Wicht, der sich erkühnt, ihm einen Zoll Boden streitig zu machen.

Mylady weilt gegenwärtig bei Sir Leicester. Aber nur durch ihr Porträt vertreten. Sie selbst ist in die Stadt geflogen. Aber nicht mit der Absicht, dort zu bleiben. Sie wird bald wieder zurückfliegen, sehr zur Verwirrung der »fashionablen Nachrichten«.

Das Haus in der Stadt ist nicht zu ihrem Empfange bereit, es ist eingewickelt und öde. Nur ein gepuderter Merkur gähnt untröstlich hinter einem Vorhallenfenster und bemerkte gestern abend zu einem andern Merkur seiner Bekanntschaft, der auch an gute Gesellschaft gewöhnt ist, wenn das so fortgehen sollte – und das sei unmöglich, denn ein Mann von seinem Geist könne das nicht ertragen und von einem Mann von seiner Figur könne man es nicht verlangen –, so bleibe ihm auf Ehre nichts übrig, als sich die Kehle abzuschneiden.

Was für eine Verbindung kann es zwischen dem Schloß in Lincolnshire, dem Haus in der Stadt, dem gepuderten Merkur und dem Treiben Jos, des Ausgestoßenen mit dem Besen, auf den der Lichtstrahl der Ewigkeit fiel, als er die Kirchhoftreppe fegte, geben? Was kann die vielen Menschen in den unzähligen Histörchen dieser Welt, die trotz tiefer unüberbrückbarer Kluft seltsamerweise doch zusammenkommen, miteinander verbinden? Jo kehrt seinen Straßenübergang den ganzen Tag, ohne etwas von unsichtbaren Verbindungen, wenn es überhaupt solche gibt, zu wissen. Von seinem Geisteszustand, wenn man ihm eine Frage vorlegt, pflegt er mit den Worten Zeugnis abzulegen: »Was weiß denn i?« Er weiß, daß es schwer ist, bei schmutzigem Wetter den Straßenübergang rein zu kehren, und noch viel schwerer, davon zu leben. Selbst das hat ihn niemand gelehrt. Er hat es von selbst herausgebracht. Jo lebt – das heißt, es ist ihm noch nicht gelungen, zu sterben – in einer ruinenhaften Gegend, die Menschen seines Standes unter dem Namen »Toms Einöd« bekannt ist.

Es ist eine schwarze pflasterlose Straße, gemieden von allen anständigen Leuten, wo einige freche Vagabunden sich der zusammengestürzten Häuser bemächtigt haben und sie teils selbst bewohnen, teils sie als Wohnungen – vermieten.

Nachts sind diese wackligen Höhlen ein Ameisenhaufen von Elend. Wie sich auf den Ruinen menschlicher Leiber Ungeziefer erzeugt, so haben diese Häuserruinen ein Gewimmel unflätigen Daseins ausgebrütet, das durch Lücken in Mauern und Brettern aus- und einkriecht, zahlreich wie die Maden sich zum Schlaf zusammendrängt, während der Regen hereintropft – und im Kommen und Gehen Fieber holt und bringt und in jeder Fußstapfe mehr Unheil sät, als Lord Coodle und Sir Thomas Doodle und Herzog von Woodle und all die vornehmen Herren in Amt und Würden bis hinab zu Zoodle in fünfhundert Jahren wieder gutmachen können, obgleich sie ausdrücklich dazu von Geburt bestimmt sind.

Zwei Mal kurz hintereinander soll man einen Krach gehört und eine Staubwolke, wie von der Explosion einer Mine, in »Toms Einöd« gesehen haben. Jedes Mal war ein Haus eingestürzt. Diese Unfälle gaben den Zeitungen Stoff und füllten ein paar Betten im nächsten Hospital. Die entstandenen Höhlen aber bleiben, und diese Wohnungen im Schutt sind nicht unbeliebt. Da mehrere andere Häuser ebenfalls dicht vor dem Einsturz stehen, so wird der nächste Krach in »Toms Einöd« voraussichtlich kolonisatorisch – sehr günstig wirken.

Diese prächtige Besitzung steht natürlich unter Sequester des Kanzleigerichts. Es wäre eine Beleidigung für den Scharfsinn eines Mannes, selbst mit nur einem halben Auge, das erst sagen zu müssen. Ob Tom – von »Toms Einöd« – der vom Volksmund erschaffene Repräsentant des ursprünglichen Klägers oder Beklagten in »Jarndyce kontra Jarndyce« ist oder ob Tom »wirklich ganz allein« hier wohnte, als der Prozeß die Straße verödete, bis andre Ansiedler ihm Gesellschaft zu leisten anfingen, oder ob die traditionelle Benennung ein Sammelname für einen Zufluchtsort ist, der von ehrenwerter Gesellschaft abgeschnitten und aus dem Bereich der Hoffnung gewiesen ist, weiß vielleicht niemand. Jo weiß es keinesfalls.

»Wos weiß denn i«, sagt Jo.

Es muß ein seltsamer Zustand sein, in Jos Haut zu stecken. Durch die Straßen zu schlottern, ohne die geheimnisvollen Symbole nur im Entferntesten zu begreifen, die über den Läden, an den Straßenecken und an Türen und Fenstern so häufig angebracht sind! Leute lesen zu sehen und Leute schreiben zu sehen, den Postboten Briefe abgeben zu sehen, ohne den mindesten Begriff von dieser Sache zu haben, dem kleinsten Schnörkel gegenüber stockblind und – taub zu sein. Wie merkwürdig, die anständigen Leute sonntags in die Kirche gehen zu sehen, die Gebetbücher in der Hand, und zu denken (vielleicht denkt Jo doch so hie und da einmal), was das wohl alles bedeuten möge. Und wenn es für jemanden etwas bedeutet, warum es für ihn nichts bedeutet. Herumgestoßen und vom Polizeimann verjagt zu werden und einzusehen, daß es vollkommen wahr zu sein scheint, daß man hier oder dort oder irgendwo anders nichts zu schaffen hat, und doch von dem Eindruck geplagt zu werden, trotzdem hier zu sein, von jedermann übersehen, bis man das Geschöpf geworden, das man jetzt ist.

Es muß ein seltsamer Zustand sein, nicht bloß hören zu müssen, daß man kaum ein menschliches Wesen ist – wie im Fall der Zeugniseinvernahme –, sondern es selbst einzusehen. Die Pferde, die Hunde und das Vieh vorübergehen zu sehen und zu begreifen, daß man an Unwissenheit zu ihnen gehört und nicht zu den höheren Wesen von gleicher menschlicher Gestalt, deren Gefühle man immer und überall verletzt.

Jos Ansichten von einem Kriminalprozeß oder einem Richter oder einem Bischof oder einer Regierung oder von dem für ihn so unschätzbaren Juwel, der Verfassung, müssen seltsam sein. Sein ganzes körperliches und geistiges Leben ist wunderbar seltsam. Sein Tod das Seltsamste von allem.

Jo verläßt »Toms Einöd« mit dem säumigen Morgen, der sich hierher immer verspätet, und kaut unterwegs sein schmutziges Stück Brot. Da er durch viele Straßen zu gehen hat und die Häuser noch nicht offen sind, setzt er sich zum Frühstück auf die Türschwelle der »Gesellschaft zur Verbreitung des Evangeliums im Ausland« und fährt mit dem Besen, wenn er fertig ist, zum Dank für die gewährte Gastfreundschaft darüber. Er bewundert die Größe des Gebäudes und fragt sich, wozu es da ist. Der arme Teufel hat keine Ahnung von der religiösen Rückständigkeit eines Korallenriffs im Stillen Ozean oder was es kostet, die frommen Seelen unter den Kokosnußpalmen und den Brotfruchtbäumen zu hüten. Er nimmt seinen Posten an seinem Straßenübergang ein und fängt an, ihn für den Tag frei zu kehren. Die Stadt erwacht, das große Ringelspiel beginnt sein tägliches Drehen und Wirbeln, all das unerklärliche Lesen und Schreiben, daß ein paar Stunden lang aufgehört hat, setzt von neuem an.

Jo und die anderen niedern Geschöpfe helfen sich durch den unverständlichen Wirrwarr, so gut sie können. Es ist Markttag. Die geblendeten Ochsen, grausam gestachelt und abgehetzt und nie geleitet, rennen hin, wohin sie nicht gehören, werden mit Knütteln wieder fortgetrieben und rennen mit rotglühenden Augen und Schaum vor dem Maul gegen steinerne Mauern, verletzen Unschuldige und verletzen sich selbst schwer. Ganz so wie Jo und seinesgleichen. Ganz genau so.

Eine Musikbande kommt und spielt. Jo hört zu. Dasselbe tut ein Hund – eines Viehtreibers Hund, der auf seinen Herrn vor einem Fleischerladen wartet und offenbar an die Schafe denkt, die ihm ein paar Stunden lang so viel Sorgen gemacht haben und die er jetzt glücklich los ist. Drei oder vier scheinen ihm besonders zu schaffen zu machen; er kann sich nicht entsinnen, wo er sie gelassen hat. Er läßt die Augen die Straße auf und ab schweifen, als erwarte er so halb und halb, sie dort verirrt zu finden. Plötzlich spitzt er die Ohren und weiß jetzt alles ganz genau. Er ist ein vollendeter Hundevagabund, an schlechte Gesellschaft und ordinäre Schenken gewöhnt, ein schrecklicher Hund für Schafe. Stets bereit, auf einen Pfiff über ihre Rücken zu springen und ihnen schnauzenweis die Wolle auszureißen, aber ein erzogener, gebildeter Hund, der seine Pflichten kennt und sie zu erfüllen weiß. Er und Jo hören der Musik zu. Wahrscheinlich mit demselben Grad von Genuß. Wahrscheinlich sind sie sich auch vollkommen gleich in der Art der Erinnerungen, in den traurigen oder freudigen Gedanken an übersinnliche Dinge. Aber sonst, – wie hoch steht das Tier über dem menschlichen Zuhörer!

Man lasse die Nachkommen der Hunde unbeaufsichtigt und wild herumlaufen wie Jo, und in wenigen Jahren werden sie so ausarten, daß sie selbst das Bellen verlernen, wenn auch nicht das Beißen.

Der Tag verändert sich, wie er dahinschleicht, und wird dunkel und regnerisch. Jo kämpft ihn durch bei seinem Straßenübergang mitten unter Kot und Rädern, Pferden, Peitschen und Regenschirmen und verdient sich kaum die Summe, um das ekelhafte Obdach in »Toms Einöd« zu erschwingen. Die Dämmerung sinkt herab. In den Läden fangen die Gasflammen an zu brennen. Der Laternenmann mit seiner Leiter läuft am Rand des Pflasters entlang.

Ein scheußlicher Abend bricht an.

In seiner Kanzlei sitzt Mr. Tulkinghorn und denkt nach über eine Eingabe an den nächsten Friedensrichter wegen eines Vorführungsmandats für morgen früh. Gridley, ein unzufriedner Prozessant, ist heute hier gewesen und hat aufbegehrt… Wir lassen uns nicht drohen, und der ungebärdige Kerl soll daran glauben. Von der Decke deutet die perspektivisch verkürzte Allegorie in Person eines unmöglichen kopfabwärts stürzenden Römers mit einem seiner zwei verrenkten linken Simsonarme aufdringlich nach dem Fenster. Warum sollte Mr. Tulkinghorn nicht auch so grundlos zum Fenster hinaussehen? Aber die Hand des Römers deutet doch immer hinaus. Warum soll also Mr. Tulkinghorn jetzt aus dem Fenster hinausschauen?

Und wenn er’s täte, was sähe er an der Frau, die vorübergeht? Es gibt Frauenzimmer genug auf der Welt, ist Mr. Tulkinghorns Ansicht – viel zu viel. Sie sind im Grund genommen an allem schuld, was darin verkehrt geht… Allerdings, wenn man schon einmal davon spricht, sie geben den Advokaten Beschäftigung. Was ist dabei, ein Frauenzimmer vorbei gehen zu sehen, selbst, wenn sie es heimlich tut. Sie haben immer Geheimnisse. Mr. Tulkinghorn weiß das ganz genau.

Aber sie gleichen nicht alle der Frau, die jetzt ihn und sein Haus hinter sich läßt, deren einfaches Kleid und vornehme Manieren miteinander so in Widerspruch stehen. Ihrer Kleidung nach könnte sie ein besserer Dienstbote sein. Ihrem Wesen und Gange nach, obgleich beide hastig und verstellt sind – soweit sie das auf den kotigen Straßen, die sie mit ungewohntem Fuß betritt, zuwege bringt –, ist sie eine vornehme Dame. Ihr Gesicht ist verschleiert, und trotzdem ist es immer noch verräterisch genug, um mehr als einen der Passanten zu veranlassen, sich rasch nach ihr umzusehen.

Sie wendet nie den Kopf. Dame oder Dienstmädchen, jedenfalls hat sie etwas vor. Sie wendet nie den Kopf, bis sie zu dem Straßenübergang kommt, wo Jo den Besen handhabt. Er tritt ihr in den Weg und bettelt sie an. Aber sie wendet nicht eher den Kopf, als bis sie über der Straße drüben ist. Dann winkt sie ihm kaum merklich und sagt: »Komm her!«

Jo folgt ihr ein paar Schritte in einen stillen Hof.

»Bist du der Bursche, von dem ich in den Zeitungen gelesen habe?« fragt sie hinter ihrem Schleier hervor.

»Was woaß denn i von Zeitungen«, sagt Jo und starrt verdrossen den Schleier an. »Ich woaß überhaupt von nix.«

»Bist du bei der Totenschau vernommen worden?«

»Was woaß denn i von… Wo mi der Kirchendiener hingnommen hat, meinens?« sagt Jo. »Hat der, von was Sie reden, Jo gheißen?«

»Ja.«

»Dös bin i.«

»Komm weiter herein.«

»Sie meinen von wegen den Mann?« fragt Jo und folgt ihr. »Der wo jetzt tot is?«

»St! Sprich nicht so laut. Ja. Sah er wirklich, als er noch lebte, so sehr arm und krank aus?«

»No na, was denn!« sagt Jo.

»Sah er aus wie – nicht wie du?« fragt die Frau mit einem Schauder.

»No na, so schlecht net. I bin a Regulärer. Sie haben ihn leicht net kennt?«

»Wie kannst du glauben, daß ich ihn gekannt habe?«

»Tschuldigens, gnä Fräuln«, sagt Jo unterwürfig, denn selbst in ihm hat sich der Argwohn geregt, daß sie eine Dame ist.

»Ich bin keine Dame. Ich bin ein Dienstmädchen.«

»A feins Dienstmädel«, meint Jo, ohne etwas Beleidigendes sagen zu wollen, nur um seiner Bewunderung Ausdruck zu verleihen.

»Schweig und hör zu! Sprich nicht zu mir und stell dich weiter weg von mir! Kannst du mir alle die Orte zeigen, die in dem Bericht, den ich gelesen habe, erwähnt waren, den Ort, für den er schrieb, den Ort, wo er starb, den Ort, wo du hingeholt wurdest, und den Ort, wo er begraben liegt? Weißt du, wo er begraben liegt?«

Jo antwortet mit einem Nicken. Er hat auch bei der Erwähnung der andern Orte jedes Mal genickt.

»Geh vor mir her und zeige mir all diese schrecklichen Orte. Bleib bei jedem stehen und sprich nicht mit mir, außer, wenn ich dich frage. Sieh dich nicht um. Tue, was ich dir sage, und ich will dich gut bezahlen.«

Jo paßt scharf auf die Worte auf, während sie spricht, murmelt sie lautlos nach, in den Besenstiel, auf den er sich lehnt, hinein, weil sie ihm so schwer vorkommen, schweigt, um sich ihre Bedeutung zu überlegen, kommt zu einem zufriedenstellenden Resultat und nickt mit dem zottigen Kopf.

»Stocken mer uns. An Flins, verstengans? An Stutz brennen.«

»Was meint das scheußliche Geschöpf!« ruft das Dienstmädchen aus und tritt erschrocken zurück.

»Flinserln brennen – an Stutz«, sagt Jo.

»Ich verstehe dich nicht. Geh vor mir her! Ich will dir mehr Geld geben, als du je in deinem Leben besessen hast.«

Jo spitzt die Lippen zu einem Pfeifen, fährt sich einmal durch das zottige Haar, nimmt den Besen unter den Arm und zeigt den Weg. Leicht und geschickt geht er mit seinen bloßen Füßen über die harten Steine, durch Kot und Schmutz.

Cook’s Court!

Jo bleibt stehen.

Eine Pause.

»Wer wohnt hier?«

»Der, wo ihn hat schreiben lassen und mir an halben Stutz geben hat«, sagt Jo flüsternd, ohne sich umzusehen.

»Weiter!«

Krooks Haus. Jo bleibt wieder stehen. Eine längere Pause.

»Wer wohnt hier?«

»Er hat hier gewohnt«, antwortet Jo wie vorhin. Nach einem Schweigen ertönt die Frage: »In welchem Zimmer?«

»Dort oben, hint hinaus. Sie könnens Zimmer vom Eck aus segn. Da drobn! Dort habens n aufbahrt. Dort is s Wirthaus, wos mich hingholt habn.«

»Weiter!«

Bis zum nächsten Ort ist ein weiterer Weg, aber Jo, der seinen Verdacht hat fallen lassen, hält sich genau an die vereinbarten Bedingungen und sieht sich nicht um. Durch allerlei kleine Gassen voll dampfenden Unrats aller Art erreichen sie einen kleinen Tunnel von einem Hof, und eine Gaslampe brennt an dem eisernen Gittertor.

»Dort habns n hinglegt«, sagt Jo, hält sich an die Gitterstäbe und sieht hinein.

»Wo? – Gott, welche Stätte des Grauens«

»Dorten!« Jo deutet mit dem Finger hin. »Dorten drübn. Bei dem Knochenhaufen und bei dem Küchenfenster dorten. Sie habn n obenauf glegt. Sie habn drauftreten müassen, bis n habn dringhabt. I könnt n außerfegen mit in Besen, wanns Tor offen war. Drum glaub i, spirrns es ab«, sagt er und rüttelt an dem Gitter. »Sis immer zuagspirrt. Sehgns die Ratten dort!« ruft er aufgeregt. »Hui! Sehgns! Dort laufts! Ho! in d Erd eini.«

Das Dienstmädchen weicht schaudernd in eine Ecke zurück, in die Ecke des scheußlichen Torwegs, der mit seinen giftigen Ausdünstungen ihr Kleid beschmutzt, und streckt beide Hände vor und sagt Jo leidenschaftlich, er solle ihr nicht zu nahe kommen; denn sie ekelt sich vor ihm. So bleibt sie einige Augenblicke. Jo steht vor ihr mit aufgerissnem Mund und starrt sie immer noch an, als sie sich bereits erholt hat.

»Ist dieser grauenhafte Ort geweihter Boden?«

»Was woaß denn i von gweihtn Boden«, sagt Jo, der sie immer noch anstarrt.

»Ist er eingesegnet?«

»Was is er?« fragt Jo in fassungslosem Erstaunen.

»Ist er eingesegnet?«

»I bin gsegnt, wann is woaß«, sagt Jo und stiert sie noch mehr an als vorhin, »aber i möcht glaubn, na. Eingsegnet!!« wiederholt Jo, in seinem Innern stark beunruhigt. »Eingsegnt! S werd eam net viel gholfn habn. Eingsegnet? I glaub ender s Gegenteil. Aber was woaß denn i.«

Das Dienstmädchen achtet nicht auf das, was er gesagt hat, und ist ganz geistesabwesend. Sie zieht den Handschuh aus, um ein Geldstück aus ihrer Börse zu nehmen. Jo beobachtet stumm, wie weiß und klein die Hand ist und was das für ein feines Dienstmädchen sein muß, das so funkelnde Ringe trägt. Sie läßt ein Geldstück in seine Hand fallen, ohne sie zu berühren, und schaudert, wie sie ihm mit den Fingern zu nahe kommt. »Jetzt«, setzt sie hinzu, »zeig mir die Stelle noch ein Mal.«

Jo fährt mit dem Besenstiel durch die Gitterstäbe und deutet mit äußerster Sorgfalt auf die Stelle. Endlich blickt er zur Seite, um zu sehen, ob er sich verständlich gemacht hat, und findet sich allein.

Sein erstes ist, das Geldstück an die Gaslaterne zu halten. Dann ist er ganz überwältigt von der Entdeckung, daß es gelb ist. – Gold! Sein nächstes, mit den Zähnen in den Rand zu beißen, um zu sehen, ob es echt ist. Dann steckt er es der Sicherheit wegen in den Mund und kehrt die Stufe und den Gang mit größter Sorgfalt. Wie er damit fertig ist, macht er sich nach »Toms Einöd« auf den Weg, bleibt im Licht zahlloser Gaslaternen stehen, um das Goldstück hervorzuholen, und immer wieder muß er, um zu prüfen, ob es echt ist, in den Rand beißen.

Dem gepuderten Merkur fehlt es heute abend nicht an Gesellschaft, denn Mylady geht zu einem großen Diner und auf drei oder vier Bälle.

Sir Leicester kann nicht still sitzen unten in Chesney Wold, weil er keine bessere Gesellschaft als die Gicht hat. Er beklagt sich bei Mrs. Rouncewell, der Regen prassele so eintönig auf die Terrasse, daß er nicht einmal am Kamin seines eignen behaglichen Ankleidezimmers die Zeitung lesen könne.

»Sir Leicester hätte besser getan, die andre Seite des Hauses zu versuchen«, sagt Mrs. Rouncewell zu Rosa. »Sein Ankleidezimmer liegt auf Myladys Flügel, und diese ganzen langen Jahre waren die Schritte auf dem Geisterweg nicht so deutlich zu hören wie heute.«