33. Kapitel


33. Kapitel

Mr. Smallweed mischt sich ein

Jetzt erscheinen die beiden um Rockaufschläge und Knopflöcher herum nicht sehr sauber aussehenden Herren, die schon der letzten Totenschau in der »Sonne« beiwohnten, mit erstaunlicher Schnelligkeit wieder – der emsige und findige Kirchendiener hat sie nämlich atemlos geholt –, stellen Nachforschungen in ganz Cook’s Court an, verschwinden im Gastzimmer der »Sonne« und schreiben mit gefräßigen kleinen Federn auf dünnes Papier. Sie notieren in stiller Nacht, die Nachbarschaft von Chancery-Lane sei um die Geisterstunde durch folgende höchst beunruhigende und schreckliche Entdeckung in die fürchterlichste Aufregung versetzt worden. Sie setzen voraus, daß man sich jedenfalls noch erinnern werde, welch peinliches Aufsehen vor einiger Zeit beim Publikum ein gewisser geheimnisvoller Todesfall, infolge Opiumgenusses, in dem ersten Stockwerk eines Hauses, das einem exzentrischen Individuum von hohem Alter und großer Trunksucht, namens Krook, gehörte, gemacht habe, und wie man durch ein höchst merkwürdiges Zusammentreffen von Umständen denselbigen Krook bei der Totenschau damals in der »Sonne«, einem guten Wirtshaus unmittelbar neben dem in Rede stehenden Hause auf der Westseite und im konzessionierten Besitz eines sehr achtbaren Wirtes, Mr. James George Bogsby, verhört habe. Sie erzählen so ausführlich wie möglich, daß schon einige Stunden vorher, am Abend, die Bewohner von Cook’s Court, wo sich der tragische Vorfall ereignet habe, einen sehr eigentümlichen Geruch verspürten. Der Geruch sei zuzeiten so stark gewesen, daß Mr. Swills, ein Coupletsänger in Mr. J. G. Bogsbys Etablissement, wie er unserm Berichterstatter persönlich erzählte, zu Miß M. Melvilleson, einer Dame von bemerkenswertem musikalischem Talent (ebenfalls bei Mr. J. B. Bogsby, für eine Reihe von Konzerten, besser gesagt, harmonischen Assemblees oder Meetings, engagiert), bemerkt habe, die auffallend unreine Atmosphäre griffe Sängerkehlen stark an, bei welcher Gelegenheit er sich des scherzhaften Ausdrucks bediente, er komme sich wie ein leerer Postschalter vor, denn er habe keine einzige Note in sich. Diesen Bericht Mr. Swills hätten zwei sehr intelligente verheiratete Frauen auf demselben Hof, namens Mrs. Piper und Mrs. Perkins, vollständig bestätigt. Beide hatten einen brenzlig stinkenden Geruch bemerkt und seien der Meinung gewesen, er käme aus des verunglückten Krooks Hause. Alles das schreiben die beiden Herren in einem Zuge nieder und schließen anläßlich der traurigen Katastrophe eine Art freundschaftliche Kompagnieschaft, und die jugendliche Bevölkerung des Hofs ist im Nu aus dem Bett und klettert die Läden der Wirtsstube der »Sonne« hinauf, um die Scheitel ihrer Köpfe zu sehen, während sie mit Schreiben beschäftigt sind.

Ganz Cook’s Court, alt und jung, schläft diese Nacht nicht, hat seine vielen Köpfe in Tücher gehüllt, wendet kein Auge von dem Unglückshaus und schwätzt unaufhörlich. Miß Flite hat man mit Todesmut aus ihrem Zimmer gerettet, als ob es in Flammen stünde, und ihr ein Bett in der »Sonne« angewiesen.

Die »Sonne« dreht für diese Nacht weder das Gas aus noch schließt sie die Türen, denn jede Art öffentlicher Aufregung gibt ihr zu verdienen und macht den Hof der Stärkung bedürftig. Seit der Totenschau damals hat das Haus nicht soviel Geschäfte in magenstärkenden Getränken oder Brandy mit heißem Wasser gemacht. Kaum hörte der Kellner von dem Vorfall, krempelte er seine Hemdsärmel bis an die Schultern in die Höhe und sagte: »Jetzt wird’s gleich damisch zu tun geben.«

Bei dem ersten Lärm ist Jung-Piper um die Feuerspritze geeilt und triumphierend in polterndem Galopp, hoch oben auf dem Phönix sitzend und sich mit äußerster Kraftanstrengung an dem Fabeltier festhaltend, umgeben von Helmen und Fackeln, zurückgekehrt.

Nach sorgfältiger Prüfung aller Ritzen und Spalten bleibt aber nur ein einziger Helm zurück und geht langsam mit einem der zwei Polizeimänner, die ebenfalls kommen mußten, vor dem Hause auf und ab. Jedermann in Cook’s Court, der einen Sixpence besitzt, zeigt ein unersättliches Verlangen, diesem Trio Gastfreundschaft in flüssiger Form anzubieten.

Mr. Weevle und sein Freund Mr. Guppy stehen innerhalb der Bar und dürfen in der »Sonne« alles bestellen, was an Getränken vorhanden ist. Nur dableiben sollen sie. »Das ist nicht die Zeit«, sagt Mr. Bogsby, »um mit Geld zu knickern«, obgleich er hinter dem Ladentisch sehr scharf aufs Geschäft sieht. »Bestellen Sie, meine Herren, bestellen Sie, und Sie sollen haben, was Sie nur mit Namen nennen können.«

So gebeten, nennen die beiden Gentlemen, und ganz besonders Mr. Weevle, so vielerlei mit Namen, daß es ihnen im Lauf der Stunden immer schwerer und schwerer wird, überhaupt noch etwas deutlich beim Namen nennen zu können. Aber immer noch erzählen sie jedem neuen Ankömmling mit irgendeiner kleinen Variation, was ihnen zugestoßen ist und was sie gesagt oder gesehen haben. Währenddessen klinkt einer der beiden Polizeimänner von Zeit zu Zeit die Türe auf und späht aus der Dunkelheit draußen herein. Nicht etwa, weil er Verdacht hat, sondern weil er auch gern wissen möchte, was die da drinnen erzählen.

So nimmt die Nacht ihren bleiernen Verlauf und findet den Hof in ungewohnten Stunden immer noch außer Bett, immer noch traktierend und traktiert werdend und immer noch sich benehmend wie ein Verein, der unerwartet eine kleine Erbschaft gemacht hat. Dann scheidet die Nacht endlich mit langsamem Schritt, und der Laternenmann macht seinen Rundgang und schlägt wie der Scharfrichter eines despotischen Märchenkönigs die kleinen Flammenköpfe ab, die sich angemaßt haben, die Finsternis zu schädigen. Dann muß der Tag kommen, ob er will oder nicht.

Und der Tag sogar, trotz seinem trüben Londoner Auge, kann erkennen, daß Cook’s Court die ganze Nacht durchwacht hat. Wie die Gesichter schläfrig auf Tischen ruhen, die Beine auf harten Dielen liegen anstatt in Betten, sehen selbst die Hausfassaden des Hofs müde und matt drein, und als die Nachbarschaft aufwacht und von dem Geschehnis erfährt, strömt sie, nur halb angekleidet, herbei, und die beiden Polizeidiener und der Feuerwehrhelm, äußern Eindrücken viel weniger zugänglich als der Hof, haben alle Hände voll zu tun, um nur die Tür freizuhalten.

»Gott im Himmel, meine Herren«, ruft Mr. Snagsby, der jetzt herankommt. »Was höre ich!«

»Ist alles wahr«, entgegnet einer der Polizeimänner, »alles wahr, aber, bitte, nicht stehenbleiben!«

»Du mein Gott, meine Herren«, sagt Mr. Snagsby, noch während er zurückgedrängt wird. »Ich war gestern abend noch zwischen zehn und elf Uhr an seiner Haustür und sprach mit dem jungen Mann, der dort wohnt.«

»Wirklich? Nun, dann werden Sie den jungen Mann hier daneben finden. Nicht stehenbleiben, nicht stehenbleiben, bitte.«

»Nicht verletzt, hoffentlich?« fragt Mr. Snagsby.

»Verletzt? Nein! Warum sollte er denn verletzt sein?«

Mr. Snagsby, ganz außerstande, diese oder irgendeine andere Frage bei seinem verstörten Gemütszustand zu beantworten, begibt sich in die »Sonne« und findet Mr. Weevle, bei Tee und Zwieback gähnend, sichtlich von der überstandenen Aufregung und vielem Tabakrauch erschöpft.

»Und Mr. Guppy auch«, stauntMr. Snagsby. »Gott, Gott, Gott! Wie ein Verhängnis scheint alles das. Und meine klei…« Die Fähigkeit zu reden verläßt Mr. Snagsby mitten in den Worten: meine kleine Frau, denn diese schwer geprüfte Dame zu dieser Morgenstunde in die »Sonne« treten und vor der Bierpumpe stehen zu sehen, wie der Geist der Anklage die Augen auf ihn gerichtet, macht ihn verstummen.

»Meine Liebe«, sagt Mr. Snagsby, als sich seine Zunge wieder löst, »willst du nicht etwas nehmen, ein wenig – um nicht durch die Blume zu sprechen – einen Tropfen Shrub?«

»Nein«, sagt Mrs. Snagsby.

»Meine Liebe, du kennst doch diese beiden Herren?«

»Ja«, sagt Mrs. Snagsby und nimmt mit steifer Kälte von ihrer Anwesenheit Notiz, Mr. Snagsby immer noch unablässig fixierend.

Der getreue Mr. Snagsby kann diese Behandlung nicht länger mehr ertragen. Er nimmt Mrs. Snagsby bei der Hand und führt sie beiseite zu einem an der Wand stehenden Faß.

»Mein kleines Frauchen, warum siehst du mich so an? Bitte, tu das doch nicht!«

»Ich kann nichts für meine Blicke«, ist die Antwort.

Mr. Snagsby entgegnet mit feinem Sanftmutshüsteln. »Wirklich nicht, meine Liebe?« und denkt nach. Dann hustet er seinen Besorgnishusten und sagt:

»Das ist ein schreckliches Geheimnis, meine Liebe«, immer noch ganz außer Fassung gebracht durch Mrs. Snagsbys unverwandten Blick.

»Schreckliches Geheimnis«, bestätigt Mrs. Snagsby.

»Mein kleines Frauchen«, fleht Mr. Snagsby kläglich. »Um Gottes willen, sprich nicht in diesem verbitterten Ton mit mir und sieh mich nicht immer so forschend an. Ich bitte und flehe dich an: Laß das! Gott im Himmel, du traust mir doch nicht am Ende gar zu, jemand bei seiner eigenen Selbstverbrennung mitgeholfen zu haben, meine Liebe.«

»Weiß ich nicht«, entgegnet Mrs. Snagsby.

Hastig seine unglückliche Lage überschauend, kommt es Mr. Snagsby jetzt fast auch so vor, als sei es wirklich nicht so ganz ausgeschlossen. Hat er doch mit soviel Geheimnisvollem, das in Beziehung zu diesem Hause steht, schon zu tun gehabt, daß vielleicht doch eine Mitschuld an dem gegenwärtigen Vorfall nicht so ganz ausgeschlossen ist. Er wischt sich kraftlos mit seinem Taschentuch die Stirn und schnappt nach Luft.

»Meine Liebe«, sagt er ganz unglücklich, »möchtest du mir nicht vielleicht sagen, warum du bei deinem doch sonst so überlegten und taktvollen Benehmen vor dem Frühstück in eine Weinkneipe kommst?«

»Warum bist du hier?« fragt Mrs. Snagsby.

»Liebe Frau, nur um Näheres über die Umstände des Unglücksfalls, der dem ehrenwerten – selbstverbrannten – Mann passiert ist, zu erfahren.« Mr. Snagsby hat eine Pause gemacht, um ein Stöhnen zu unterdrücken. »Ich hätte dir dann alles beim Frühstück erzählt.«

»Ja, ja, selbstverständlich! Sie erzählen mir bekanntlich alles, Mr. Snagsby!«

»Alles – mein klei…?«

»Es sollte mich freuen«, sagt Mrs. Snagsby, nachdem sie sich mit einem strengen finstern Lächeln an seiner Verwirrung geweidet hat, »wenn du mit mir nach Hause kommen wolltest. Ich glaube, Snagsby, du bist dort sicherer als anderswo.«

»Meine Liebe, da hast du allerdings recht; ich gehe sofort mit dir.«

Mr. Snagsby sieht sich ratlos in der Bar um, wünscht Mr. Weevle und Mr. Guppy einen guten Morgen, beteuert ihnen seine Freude, daß sie nicht verletzt sind, und geht mit Mrs. Snagsby fort. Noch ehe der Abend kommt, ist sein Zweifel, ob er nicht am Ende doch irgendwie für die Katastrophe, von der jetzt die ganze Nachbarschaft spricht, verantwortlich sei, infolge Mrs. Snagsbys hartnäckigem Festhalten an starren Blicken fast zur Gewißheit geworden. Sein Seelenleid ist so groß, daß er sich schon halb und halb mit dem Gedanken trägt, sich der Justiz zu stellen, um, wenn unschuldig, freigesprochen, im Falle der Schuld jedoch mit der äußersten Härte des Gesetzes bestraft zu werden.

Mr. Weevle und Mr. Guppy gehen nach eingenommenem Frühstück nach Lincoln’s-Inn, um durch einen kleinen Spaziergang um das Häuserviereck soviel wie möglich all die dunklen Spinnweben der verflossenen Nacht aus ihrem Kopf zu fegen.

»Es kann keine günstigere Zeit geben als die gegenwärtige, Tony«, beginnt Mr. Guppy, nachdem sie schweigend den Platz umschritten haben, »um über einen Punkt hinsichtlich dessen wir uns sobald wie nur möglich verständigen müssen, ein paar Worte zu sprechen.«

»Ich will dir etwas sagen, William Guppy«, entgegnet Mr. Weevle und sieht seinen Freund mit seinen übernächtigten Augen an. »Wenn es schon wieder so etwas wie eine Verschwörung ist, so sprich gefälligst nicht erst davon. Ich habe vorläufig genug und mag von solchen Dingen weiter nichts wissen. Am Ende fängst du nächstens selbst noch Feuer und fliegst mit einem Knall in die Luft.«

Diese Zumutung berührt Mr. Guppy so unangenehm, daß seine Stimme zittert, wie er in moralisierendem Ton anfängt: »Tony, ich hätte wirklich gedacht, was wir heute nacht erlebt haben, wäre für dich eine Lehre fürs ganze Leben, nie wieder anzüglich zu werden.«

Mr. Weevle entgegnet: »William, und ich glaubte, es würde für dich eine Lehre sein, nie wieder zu konspirieren, so lange du lebst«, worauf Mr. Guppy sagt:

»Wer konspiriert?«

»Mein Gott, du.«

»O nein, ich nicht.«

»Jawohl, du.«

»Wer sagt das?«

»Ich sage das.«

»So, so, du!«

»Ja, ich.«

Da beide in eine große Aufregung geraten sind, gehen sie eine Weile stumm nebeneinander her, um ihren Ärger ein wenig verrauchen zu lassen.

»Tony«, fängt Mr. Guppy wieder an. »Wenn du deinen Freund gefälligst aussprechen ließest, anstatt ihn anzufahren, kämen solche Mißverständnisse nicht vor. Aber du bist jähzornig und überlegst nicht. Trotzdem dir nichts fehlt, Tony, was das Auge erquickt.«

»Papperlapapp«, unterbricht ihn Mr. Weevle. »Sag geradeheraus, was du zu sagen hast.«

Da Mr. Guppy sieht, daß sein Freund mürrisch und irdisch gestimmt ist, gibt er den zarten Regungen seines Herzens nur durch den verletzten Ton Ausdruck, in dem er wieder anfängt:

»Tony, wenn ich sage, daß es einen Punkt gibt, über den wir uns sobald wie möglich verständigen müssen, so sage ich das ohne den geringsten Hinweis auf irgendwelche Verschwörungspläne, und mögen sie noch so unschuldiger Natur sein. Du weißt, daß wir Juristen bei allen Fällen vorerst feststellen müssen, wie die Zeugenaussagen zu lauten haben. Ist es wünschenswert oder nicht, daß wir uns über die Tatsachen bei dem Tod dieses unglücklichen alten Mo… Gentleman klar werden?« Mr. Guppy hatte Mogul sagen wollen, aber sich rechtzeitig zu Gentleman, als den gegebenen Verhältnissen besser angepaßt, entschlossen.

»Was für Tatsachen denn?«

»Die mit dem Vorfall in Verbindung stehenden Tatsachen! Sie sind«, – Mr. Guppy zählt sie an den Fingern ab – »was wir von seiner Lebensweise wußten, wann du ihn zuletzt sahst, in welchem Zustand er damals war, was wir entdeckten und wie es geschah.«

»Ja«, gibt Mr. Weevle zu. »Das sind so die Tatsachen.«

»Wir entdeckten das Unglück deshalb, weil er dir in seiner exzentrischen Weise um Mitternacht ein Rendezvous gegeben hat, um sich gewisse Schriften erklären zu lassen, wie schon früher öfter, weil er selbst nicht lesen konnte. Ich war des Abends auf Besuch bei dir, wurde von dir hinuntergerufen, – und so weiter. Da sich die Untersuchung bloß auf die näheren Umstände des Todesfalls zu erstrecken hat, ist es nicht notwendig, über diese Tatsachen hinauszugehen. Das wirst du mir wohl zugeben!«

»Ja«, entgegnet Mr. Weevle. »Ich glaube, es ist nicht notwendig.«

»Vielleicht hältst du das auch für eine Verschwörung«, sagt Guppy verletzt.

»Wenn es sich nicht um Schlimmeres handelt als das, nehme ich meine Worte zurück.«

»Nun, Tony«, Mr. Guppy nimmt wieder den Arm seines Begleiters und geht langsam mit ihm weiter, »möchte ich gern als dein Freund wissen, ob du schon jemals über die vielen Vorteile nachgedacht hast, die dir daraus erwachsen können, daß du dort wohnst.«

»Wie meinst du das?« fragt Tony und bleibt stehen.

»Ob du schon über die vielen Vorteile deines Dortwohnenbleibens nachgedacht hast?« wiederholt Mr. Guppy und geht mit ihm weiter.

»Wo, dort? Dort?« Mr. Weevle weist nach dem Hadern- und Flaschenladen.

Mr. Guppy nickt.

»Nicht um alles, was du mir überhaupt bieten könntest, möchte ich auch nur eine Nacht dort zubringen«, sagt Mr. Weevle und starrt seinen Freund entsetzt an.

»Ist das wirklich dein Ernst, Tony?«

»Mein Ernst? Sehe ich danach aus, als ob ich spaße«, sagt Mr. Weevle mit einem Schauer.

»Dann würde also die Möglichkeit oder, besser gesagt, die Wahrscheinlichkeit, auf immer im ungestörten Besitz der Habseligkeiten zu bleiben, die einem alleinstehenden alten Mann, der wahrscheinlich auf der ganzen Welt nicht einen einzigen Verwandten hatte, gehörten, oder die Gewißheit, je herauszukriegen, was er eigentlich dort aufgespeichert hat, bei dir gar nicht ins Gewicht fallen, wenn ich dich recht verstehe, Tony?« sagt Mr. Guppy und kaut ärgerlich an seinem Daumennagel.

»Gewiß nicht. So kaltblütig davon zu sprechen, man solle dort gar noch wohnen bleiben!« ruft Mr. Weevle entrüstet. »Wohn du doch dort.«

»O! Ich, Tony!« sagt Mr. Guppy besänftigend. »Ich habe nie dort gewohnt und könnte auch jetzt gar kein Logis dort bekommen, während du bereits Mieter bist.«

»Du sollst mir stets willkommen sein«, gibt sein Freund zur Antwort, »und – pfui Teufel – kannst dich dort häuslich einrichten.«

»Du willst also wirklich und wahrhaftig die Sache bei diesem Punkt aufgeben, wenn ich dich recht verstehe, Tony?«

»Du hast nie ein wahreres Wort in deinem ganzen Leben gesprochen«, bestätigt Tony im Tone felsenfester Überzeugung. »Ja, ich gebe es auf.«

Während sie noch sprechen, kommt eine Droschke in den Hof gefahren, und auf dem Bock derselben zeigt sich dem staunenden Publikum ein sehr hoher Zylinder. In der Kutsche selbst, und daher den Augen der Menge nicht so sichtbar, wohl aber zur Genüge den beiden Freunden, denn der Wagen macht fast unmittelbar vor ihnen Halt, sitzt das ehrwürdige Paar Mr. und Mrs. Smallweed in Begleitung ihrer Enkelin Judy. Die ganze Familie verrät in ihren Mienen Hast und Aufregung, und während der Zylinder mit Mr. Smallweed jr. darunter vom Bock steigt, steckt Mr. Smallweed senior den Kopf aus dem Fenster und kreischt Mr. Guppy zu: »Wie geht’s, wie geht’s, Sir?«

»Was Hühnchen und seine Familie zu so früher Morgenstunde hier wollen, möcht ich wirklich gerne wissen«, brummt Mr. Guppy und nickt seinem Vertrauten zu.

»Verehrtester!« ruft Großvater Smallweed, »möchten Sie mir nicht den Gefallen erweisen, Sie und Ihr Freund, und so außerordentlich gütig sein, mich in das Wirtshaus zu tragen, während Bart und seine Schwester ihre Großmutter nachbringen? Würden Sie wohl einem alten Mann die Freundlichkeit erweisen, Sir?«

Mr. Guppy wirft Tony einen Blick zu und wiederholt fragend:

»In das Wirtshaus in Cook’s Court?«

Dann schicken sie sich an, die ehrwürdige Bürde in die »Sonne« zu tragen.

»Hier haben Sie Ihr Fahrgeld«, sagt der Patriarch mit einem grimmigen Zähnefletschen zu dem Kutscher und droht ihm mit seiner ohnmächtigen Faust. »Wenn Sie sich unterstehen, einen Penny mehr zu verlangen, gehe ich zu Gericht. – Meine lieben jungen Herren, bitte, bitte, nur recht vorsichtig. Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Arme um den Hals lege. Ich werde Sie so wenig wie nur möglich drücken. O Gott, o Himmel, ach, meine Knochen!«

Es ist gut, daß die »Sonne« nicht weit ist, denn Mr. Weevle sieht ganz apoplektisch aus, ehe noch der halbe Weg zurückgelegt ist. Aber ohne weitere Verschlimmerung dieser Symptome, nur unter lautem Ächzen, was auf erschwertes Atmen schließen läßt, schleppt er seine Bürde, und der wohlwollende alte Herr wird wunschgemäß in der Gaststube der »Sonne« abgesetzt.

»O Gott!« krächzt Mr. Smallweed und sieht sich im Lehnstuhl atemlos um. »Gott im Himmel! Meine Knochen und mein Rücken! O Gott, diese Schmerzen! Setz dich doch nieder, du veitstanzender humpelnder Papagei, du! Setz dich doch nieder!«

Die Ursache dieser an Mrs. Smallweed gerichteten Aufforderung ist eine Schwäche der unglücklichen alten Dame, immer herumzuhumpeln und auf leblose Gegenstände loszufahren, wenn sie einmal auf den Beinen ist, wobei sie mit lautem Schnattern diese Art Hexentanz begleitet. Vielleicht ist ein Nervenleiden die Ursache dieser Demonstrationen oder irgendeine unergründliche blödsinnige Absicht der armen Alten. Augenblicklich benimmt sie sich so besonders lebhaft einem Windsor-Lehnstuhl, dem Gegenstück zu dem, in dem Mr. Smallweed sitzt, gegenüber, daß sie nicht eher zur Ruhe kommt, als bis ihre Enkelkinder sie hineinsetzen und darin festhalten. Währenddessen bedenkt sie ihr Herr und Gatte mit großer Zungengeläufigkeit mit dem Epitheton einer schweinsköpfigen Schnatterelster, das er erstaunlich oft wiederholt.

»Mein lieber Herr«, wendet sich Großvater Smallweed dann zu Mr. Guppy, »es hat sich hier ein Unglück ereignet. Haben Sie oder Ihr Freund davon gehört?«

»Davon gehört! Wir haben es doch entdeckt!«

»Sie haben es entdeckt! Sie beide haben es entdeckt! Bart! Sie haben es entdeckt!«

Die beiden Entdecker stieren die Smallweeds an, und diese geben das Kompliment zurück.

»Meine werten Freunde«, winselt Großvater Smallweed und streckt beide Hände aus. »Tausend Dank, daß Sie das traurige Amt übernommen haben, die Asche meines Schwagers zu entdecken.«

»Wie… Wieso?« stottert Mr. Guppy.

»Mrs. Smallweeds Bruder, mein lieber Freund, ihr einziger Verwandter. Wir standen nicht auf gutem Fuß miteinander, was jetzt sehr zu beklagen ist. Aber er wollte es nicht anders. Er konnte uns nicht leiden. Er war exzentrisch. Er war sehr exzentrisch. Wenn er nicht ein Testament hinterlassen hat, was wohl nicht wahrscheinlich ist, lasse ich mir eine Art Administrationsbewilligung ausstellen. Ich bin hergefahren, um nach meinem Eigentum zu sehen. Es muß versiegelt und beschützt werden. Ich bin hergefahren«, wiederholt Großvater Smallweed und krallt mit allen zehn Fingern in der Luft herum, »um die Hinterlassenschaft unter meine Obhut zu nehmen.«

»Ich dächte, Small«, sagt Mr. Guppy enttäuscht, »du hättest uns auch sagen können, daß Mr. Krook dein Onkel war.«

»Ihr habt beide so geheimnisvoll mit ihm getan, daß ich glaubte, es wäre euch am liebsten, wenn ich’s ebenso machte«, entgegnet der uralte Vogel mit einem unterdrückten Glitzern im Auge. »Übrigens war ich nicht besonders stolz auf ihn.«

»Und dann ging es Sie nichts an, ob er unser Onkel war oder nicht«, sagt Judy, ebenfalls mit einem Glitzern im Auge.

»Er hat mich in seinem Leben nie gesehen oder gekannt«, bemerkt Small. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich von dem Alten hätte sprechen sollen.«

»Nein. Er verkehrte nie mit uns, was sehr zu beklagen ist«, bestätigt der alte Herr. »Aber ich bin hergekommen, um die Hinterlassenschaft unter meine Obhut zu nehmen, die Papiere durchzusehen, die Hinterlassenschaft unter meine Obhut zu nehmen. Wir werden unsre Ansprüche beweisen. Die Dokumente sind in den Händen meines Anwalts. Mr. Tulkinghorn in Lincoln’s-Inn-Fields drüben ist so freundlich, mich zu vertreten, und unter seinen Füßen wächst kein Gras mehr, das kann ich Ihnen versichern. Krook war Mrs. Smallweeds einziger Bruder. Sie hatte keinen Verwandten als Krook, und Krook keine Verwandte als Mrs. Smallweed. Ich spreche von deinem Bruder, du Höllenschwefelkakerlak. Sechsundsiebzig Jahre alt war er.«

Mrs. Smallweed fängt unverzüglich an, mit dem Kopf zu wackeln und aufzuquieken: »Sechsundsiebzig Pfund, sieben Schilling, sieben Pence! Sechsundsiebzigtausend Sack Geld! Sechsundsiebzigtausend Millionen Paket Banknoten!«

»Möchte mir nicht jemand ein Quartseidel hergeben!« ruft voll Wut ihr Gatte, sich hilflos nach irgendeinem Wurfgeschoß umsehend. »Kann mir niemand einen Spucknapfreichen! Ist denn gar nichts Hartes oder Spitziges da, das man auf sie werfen könnte. Du Hexe, du Katze, Mistviech, Höllenschwefelkläffer!« Hier wirft Mr. Smallweed in überschäumender wuterfüllter Beredsamkeit in Ermanglung von etwas anderm tatsächlich Judy selbst nach ihrer Großmutter, das heißt, er stößt die liebliche Jungfrau mit aller Kraft, die er aufbieten kann, auf die alte Dame los und sinkt in seinem Stuhl zu einem Haufen zusammen.

»Schüttelt mich doch auf, irgendeiner!« sagt dann eine Stimme in dem schwarzen zappelnden Kleiderbündel, zu dem er zusammengesunken ist. »Ich bin hergekommen, um den Besitz in meine Obhut zu nehmen. Schütteln Sie mich und rufen Sie die Polizei daneben, damit ich alles auseinandersetzen kann. Mein Anwalt wird gleich hier sein, um die Hinterlassenschaft unter seine Obhut zu nehmen. Deportation oder Galgen für jeden, der sich untersteht, die Hinterlassenschaft anzurühren.«

Wie seine pflichtgetreuen Enkelkinder ihn aufrichten und mit ihm das gewohnte Wiederbelebungsverfahren mit Schütteln und Puffen vornehmen, wiederholt er immer noch wie ein Echo: »Die Hinterlassenschaft! Die – die Hinterlassenschaft – Hi-Hin-Hinterlassenschaft.«

Mr. Weevle und Mr. Guppy sehen einander an. Ersterer scheint die ganze Sache jetzt erst recht aufgegeben zu haben, letzterer macht ein enttäuschtes Gesicht, als habe er bis dahin immer noch eine leise Hoffnung gehegt. Aber gegen die Ansprüche der Familie Smallweed läßt sich nichts tun.

Mr. Tulkinghorns Schreiber kommt von seinem Pult in der Kanzlei herab, um der Polizei zu melden, daß Mr. Tulkinghorn für die Richtigkeit der Ansprüche der Nächstverwandten stehe und daß man zur gehörigen Zeit die Papiere und Habseligkeiten in gesetzlicher Form mit Beschlag belegen werde. Mr. Smallweed erhält sofort Erlaubnis, sein Verwandtschaftsrecht insoweit auszuüben, daß er eine Trauervisite in dem Haus machen darf. Er läßt sich in Miß Flites verlassnes Zimmer tragen und nimmt sich dort wie ein neu zu der Vogelsammlung hinzugekommener Aasgeier aus.

Das Lauffeuer von der Ankunft dieses unerwarteten Erben ist abermals segenspendend für die »Sonne«, da es Cook’s Court in seiner Aufregung erhält. Mrs. Piper und Mrs. Perkins meinen, es sei eine Ungerechtigkeit gegen den jungen Mann, wenn sich wirklich kein Testament vorfinden sollte, und man müßte ihm aus der Hinterlassenschaft ein anständiges Geschenk machen. Den ganzen Tag über spielen Jung-Piper und Jung-Perkins als Mitglieder des ruhelosen jugendlichen Kreises, der der Schrecken aller Fußgänger durch Chancery-Lane ist, hinter Brunnen und hinter dem Torweg Selbstverbrennung, und wildes Geheul und Gebrüll umtost ihre Leichen. Der kleine Swills und Miß M. Melwilleson lassen sich mit ihren Gönnern in leutselige Gespräche ein, denn sie fühlen, daß solch ungewöhnliche Vorfälle die Schranken zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Berufen verwischen. Mr. Bogsby erhebt »das Volkslied vom König Tod unter Beiwirkung sämtlicher musikalischer Kräfte des Ensembles zum großen harmonischen Clou der Woche« und zeigt auf dem Zettel an, »daß J.G.B, sich veranlaßt sehe, die beträchtlichen Mehrunkosten mit Rücksicht auf den allgemeinen Wunsch und in Hinblick auf den traurigen Vorfall der letzten Tage, der soviel Aufsehen gemacht hat, selbst zu tragen«.

Eins besonders beschäftigt den Hof angelegentlich. Nämlich, daß man bei dem Begräbnis an einem Sarg für einen Erwachsenen festzuhalten habe, wenn auch noch so wenig hineinzutun wäre. Des Leichenbesorgers Versicherung in der Bar der »Sonne«, daß ein »sechs Schuh langer« bereits bestellt sei, behebt die allgemeine Sorge, und man zollt Mr. Smallweeds Benehmen höchste Anerkennung.

Außerhalb des Hofs herrscht in allen möglichen Kreisen ebenfalls große Aufregung. Naturforscher und Männer der Wissenschaft wollen alle etwas sehen, und Wagen setzen Doktoren an der Ecke ab, die in derselben Absicht gekommen sind. Man hört mehr von entzündlichen Gasen und Phosphorwasserstoff sprechen, als es sich der Hof jemals hätte träumen lassen. Einige der Autoritäten, selbstverständlich die aufgeklärtesten, behaupten mit Entrüstung, daß der Verstorbne kein Recht hatte, so zu sterben. Sie betrachten des seligen Mr. Krooks Dickschädligkeit, mit der er zu seinem Ausgang aus der Welt einen solchen Nebenpfad gewählt hat, für höchst ungerechtfertigt und geradezu persönlich beleidigend. Es hilft nichts, daß andre Autoritäten sie an eine gewisse Untersuchung dieser Sorte von Todesfällen erinnern, die im sechsten Band der »Philosophischen Abhandlungen« abgedruckt ist, ferner an ein gewisses nicht ganz unbekanntes Buch über englische Gerichtsmedizin, an den Fall der italienischen Gräfin Cornelia Baudi, ausführlich erzählt von dem Stiftsgeistlichen Bianchini in Verona, der ein paar gelehrte Werke schrieb und zu seiner Zeit gelegentlich ein nicht ganz unvernünftiger Mann genannt worden sein soll, ferner an das Zeugnis der Herren Foderé und Mere, zweier unangenehmer und höchst lästiger Franzosen, die schon damals durchaus solchen Vorkommnissen auf die Grundursache kommen wollten, und endlich auf das unumstößliche Zeugnis Monsieur le Cats, des berühmten französischen Chirurgen, der die Rücksichtslosigkeit besessen hatte, in einem Hause zu wohnen, wo sich ein solcher Fall ereignete, und sogar einen Bericht darüber abzufassen.

Je weniger der Hof von all dem versteht, desto mehr gefällt es ihm und desto größeren Genuß findet er an den Vorräten in der »Sonne«.

Dann erscheint der Künstler einer illustrierten Zeitung mit einem bereits vorgezeichneten Vordergrund – nebst Figuren – für alles, vom Schiffbruch an der Küste von Cornwallis angefangen bis zu einer Revue im Hydepark oder einer Volksversammlung in Manchester, passend –und zeichnet von Mrs. Perkins eignem Zimmer aus, das dadurch für alle Zeiten unsterblich wird, Mr. Krooks Haus außerordentlich groß, sozusagen in Überlebensgröße, denn er macht einen wahren Tempel daraus. Ebenso entwirft er das Unglückszimmer, in das man ihm erlaubt hat, einen Blick zu werfen, ungefähr dreiviertel Meilen lang und fünfzig Meter hoch, worüber sich der Hof besonders freut.

Die ganze Zeit über wimmeln die beiden bereits erwähnten Herren mit den schäbigen Knopflöchern in jedem Hause herum, wohnen den gelehrten Disputationen bei, stecken überall die Nase hinein und machen lange Ohren. Beständig verschwinden sie dann wieder in das Gastzimmer der »Sonne« und schreiben mit den gefräßigen kleinen Federn auf dünnes Papier.

Endlich kommt der Totenbeschauer mit seinen Geschworenen, wie schon damals, nur hebt er diesen Fall als etwas Ungewöhnliches hervor und äußert – inoffiziell – gegen die Herren von der Jury: Das Haus nebenan, meine Herren, scheint ein Unglückshaus zu sein, aber so was kommt eben manchmal vor, und das sind Geheimnisse, die wir nicht erklären können. Sodann kommt der »sechs Schuh lange« aufs Tapet und wird sehr bewundert.

Bei alledem spielt Mr. Guppy eine höchst unbedeutende Rolle, außer bei Ablegung seiner Zeugenaussage. Vorläufig kann er sich vor dem geheimnisvollen Haus herumtreiben, wo er, zu seinem größten Ärger, Mr. Smallweed ein Vorhängschloß an der Tür befestigen sieht, was soviel bedeutet, daß er nicht mehr hinein darf. Aber ehe alles vorüber ist, das heißt, am Abend nach der Katastrophe, muß Mr. Guppy Lady Dedlock unbedingt berichten gehen.

Aus diesem Grund erscheint der junge Mann namens Guppy mit bangem Herzen und zerknirscht vor Schuldbewußtsein, das Furcht und langes Wachsein in der »Sonne« erzeugt haben, im Stadtpalais gegen sieben Uhr abends und will mit Mylady sprechen. Der Merkur gibt zur Antwort, daß sie gerade zu einem Diner ausfahren will, und ob er denn nicht den Wagen vor der Tür stehen sehe?

Ja, er sieht den Wagen vor der Tür, wünscht aber dennoch Mylady zu sprechen.

Der Merkur ist geneigt, wie er voraussichtlich gleich einem Kameraden erklären wird, »dem jungen Mann eins zu geben«, aber er hat bestimmten Befehl. Deshalb meint er mürrisch, der junge Mann müsse wohl mit in die Bibliothek hinaufkommen. Dort läßt er ihn in dem großen, nicht übermäßig hellen Zimmer stehen, während er ihn anmeldet.

Mr. Guppy sieht sich nach allen Richtungen in der Dämmerung um und entdeckt das gewisse verkohlte, mit weißer Asche bestreute Stück Holz, das er nicht loswerden kann, in jeder Ecke. Gleich darauf hört er ein Rauschen. Ist es ein Geist? Nein, es ist kein Gespenst, sondern Fleisch und Blut, prachtvoll gekleidet.

»Ich habe Euer Gnaden um Entschuldigung zu bitten«, stammelt Mr. Guppy sehr niedergeschlagen. »Es ist dies eine sehr unpassende Zeit…«

»Ich sagte Ihnen, Sie könnten zu jeder Zeit kommen.« Mylady nimmt einen Stuhl und sieht ihn unverwandt an wie das letzte Mal.

»Danke verbindlichst, Euer Gnaden. Euer Gnaden sind sehr gütig.«

»Sie können Platz nehmen.« Ihr Ton ist durchaus nicht gütig.

»Ich weiß nicht, Euer Gnaden, ob es der Mühe wert ist, mich zu setzen und Sie aufzuhalten, denn ich – ich habe die Briefe, von denen ich neulich sprach, als ich die Ehre hatte, der Allergnädigsten meine Aufwartung zu machen, nicht bekommen.«

»Sind Sie bloß deswegen hier, um mir das zu sagen?«

»Bloß, um Ihnen das zu sagen, Euer Gnaden.« Mr. Guppy ist sehr deprimiert, sehr enttäuscht und befangen, aber der Glanz und die Schönheit Myladys bringen ihn noch um seinen Rest von Fassung. Sie kennt die Wirkung ihrer Erscheinung vollkommen. Sie hat sie zu gut studiert, um auch nur die geringste Spur ihres Eindrucks auf andre zu übersehen. Wie sie ihn so fest und kalt anblickt, fühlt er nicht bloß, daß er hoffnunglos hinsichtlich dessen, was sie sich denkt, führerlos im Dunkel tappt, sondern ihr auch sozusagen von Sekunde zu Sekunde weiter entrückt wird.

Sie will nicht sprechen, das ist klar. Also muß er anfangen.

»Kurz, Euer Gnaden«, sagt er zerknirscht wie ein reuiger Dieb, »die Person, von der ich die Briefe bekommen sollte, ist plötzlich gestorben und…«

Lady Dedlock vollendet ruhig den Satz: »und die Briefe sind mit ihr vernichtet?«

Mr. Guppy möchte nein sagen, wenn er könnte, aber er ist nicht imstande, sich zu verstellen.

»Ich glaube ja, Euer Gnaden.«

Ob er jetzt in ihrem Gesicht auch nur die leiseste Spur von Erleichterung sehen könnte? Nein, er könnte nichts derart sehen, selbst wenn ihre eisige Miene ihn nicht gänzlich aus der Fassung brächte.

Er stammelt ein paar ungeschickte Worte der Entschuldigung, daß der Plan fehlgeschlagen ist.

»Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?« fragt Lady Dedlock, nachdem sie ihn ruhig hat ausstottern lassen.

Mr. Guppy glaubt, das sei alles.

»Überlegen Sie sich wohl, ob Sie mir nichts weiter zu sagen haben, denn es ist das letzte Mal, daß Ihnen Gelegenheit dazu geboten ist.«

Mr. Guppy ist fest davon überzeugt.

»Das genügt. Ich erlasse Ihnen Ihre Entschuldigungen. Guten Abend.« Und Mylady klingelt dem Merkur, um den jungen Mann namens Guppy hinunterführen zu lassen.

Nun befindet sich im Hause zufällig in demselben Augenblick auch ein alter Mann namens Tulkinghorn. Und dieser alte Mann geht jetzt mit lautlosem Schritt zur Bibliothek und legt gerade die Hand auf die Türklinke, tritt ein und steht dem jungen Mann gegenüber, als dieser das Zimmer verläßt.

Ein Blick fliegt zwischen dem Alten und Mylady hin und her, und eine Sekunde lang geht der Vorhang, der immer über sein Gesicht gezogen ist, empor. Verdacht, scharf und heftig, blitzt in Mr. Tulkinghorns Auge auf. In der nächsten Sekunde ist alles wieder vorbei.

»Ich bitte um Verzeihung, Lady Dedlock. Ich bitte tausend Mal um Verzeihung. Es ist sehr ungewöhnlich, Sie zu dieser Stunde hier zu finden. Ich nahm an, das Zimmer sei leer. Ich bitte um Verzeihung.«

»Ach, bleiben Sie nur!« Sie ruft ihn nachlässig zurück. »Bitte, bleiben Sie nur. Ich fahre gerade zum Diner. Ich habe dem jungen Mann weiter nichts zu sagen.«

Fassungslos verbeugt sich der junge Mann beim Hinausgehen und hofft untertänigst, daß sich Mr. Tulkinghorn wohl befinde.

»Es macht sich«, sagt der Advokat und sieht Guppy unter den Augenbrauen hinweg an, obgleich er nicht nötig hat, noch einmal hinzusehen – er gewiß nicht. »Bei Kenge & Carboy, nicht wahr?«

»Bei Kenge & Carboy, Mr. Tulkinghorn. Mein Name ist Guppy, Sir.«

»Ja, richtig. Ich danke Ihnen, Mr. Guppy, es geht mir gut.«

»Sehr erfreut zu hören, Sir. Es kann Ihnen nicht zu gut gehen, Sir, zu Ehren unsres Standes.«

»Danke, Mr. Guppy.«

Mr. Guppy drückt sich hinaus.

Mr. Tulkinghorn, in seinem altmodischen stumpfen Schwarz, ein seltsamer Gegensatz zu Lady Dedlocks Glanz, geleitet sie die Treppe hinunter an den Wagen. Er kommt wieder zurück und reibt sich das Kinn. Reibt es sich im Lauf des Abends sehr oft.

34. Kapitel


34. Kapitel

Unter der Schraube

»Was mag das sein, möchte ich gern wissen?« sagt Mr. George. »Eine Platzpatrone oder eine scharfe? Brennt’s nur auf der Pfanne oder ist es ein Schuß?«

Ein Brief beschäftigt den Kavalleristen und scheint ihm gewaltiges Kopfzerbrechen zu machen. Er hält ihn mit ausgestrecktem Arm vor sich hin, hält ihn dicht vor die Augen, nimmt ihn in die rechte Hand, nimmt ihn in die linke Hand, liest ihn, den Kopf auf die Seite gelegt, liest ihn, den Kopf auf die andre Seite gelegt, zieht die Augenbrauen zusammen, zieht sie in die Höhe und kann doch nicht ins klare kommen. Er streicht den Brief mit seiner schweren Hand auf dem Tisch glatt, geht gedankenvoll in der Galerie auf und ab und steht dann und wann still, um das Schreiben abermals anzusehen. Selbst das nützt nichts. Ist es eine Platzpatrone oder eine scharfe? überlegt Mr. George immer noch.

Phil Squod ist mit einem Pinsel und einem Farbtopf im Hintergrund beschäftigt, die Schießscheiben weiß anzustreichen. Er pfeift sich dabei im Geschwindschrittempo eins.

»Phil!« Der Kavallerist winkt.

Phil kommt in seiner gewohnten Art näher und schiebt sich seitlich an der Wand entlang, wie wenn er vorhätte, anderswo hinzugehen, um dann wie zu einem Bajonettangriff auf seinen Kommandeur loszustürzen. Einzelne Spritzer weißer Farbe stechen grell von seinem schmutzigen Gesicht ab, und er kratzt sich seine einzige Augenbraue mit dem Stiel des Pinsels.

»Gib acht, Phil. Hör mal zu!«

»Zu Befehl, Kommandeur.«

»Sir. Ich erlaube mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, obgleich ich, wie Sie wohl wissen, gesetzlich dazu nicht verpflichtet bin, daß der Wechsel über 97 £ 4 sh. und 9 d. auf zwei Monate Ziel, von Mr. Matthew Bagnet auf Sie gezogen und von Ihnen akzeptiert, morgen fällig ist, und bitte Sie, die Tratte bei Vorkommen pünktlich zu honorieren.

Ihr
Josua Smallweed.«

»Was soll das bedeuten, Phil?«

»Unheil, Govner!«

»Wieso?«

»Ich glaube«, entgegnet Phil und folgt mit dem Pinselstiel nachdenklich einer Querfalte auf seiner Stirn, »daß allemal Unheil im Zuge ist, wenn einer Geld will.«

»Schau mal, Phil«, sagt der Kavallerist und setzt sich auf den Tisch. »Erstens und letztens habe ich, kann ich wohl sagen, die Hälfte mehr an Zinsen nach und nach, als das Kapital beträgt, bezahlt.«

Phil tritt ein paar Schritte seitlich zurück und schneidet ein saures Gesicht und gibt dadurch zu verstehen, daß ihm durch diesen Einwand die Sache nicht hoffnungsvoller zu werden scheint.

»Und zweitens, schau, Phil«, sagt der Kavallerist und weist solche voreiligen Schlüsse mit einer Handbewegung zurück. »Es war immer stillschweigend ausgemacht, daß der Wechsel prolongiert werden sollte, wie sie’s nennen, und er ist oft genug prolongiert worden. Was sagst du jetzt dazu?«

»Ich sage, ich glaube, damit ist’s jetzt aus.«

»So, meinst du? Hm! Ich bin so ziemlich derselben Meinung.«

»Josua Smallweed ist wohl der, den sie damals im Stuhl hierher getragen haben, Govner?«

»Jawohl.«

»Govner«, sagt Phil außerordentlich ernst, »er ist ein Blutegel von Natur, eine Schraube und ein Schraubstock in seinen Taten, eine Schlange, was seine Umschlingungen, und ein Hummer, was die Scheren betrifft.«

Nachdem Mr. Squod so ausdrucksvoll seine Ansichten geäußert und ein wenig gezögert hat, um zu sehen, ob man noch weiteres von ihm erwarte, begibt er sich wieder zu seiner Scheibe und deutet auf seine frühere musikalische Art kraftvoll an, daß er:
Kehret heim aus dem Feld,
Kehret heim aus dem Feld,
Heim zum Mädchen, das er verla-ha-ssen.

George hat den Brief zusammengelegt und tritt zu ihm.

»Es gibt schon einen Weg, die Sache abzumachen, Kommandeur«, sagt Phil und sieht seinen Herrn schlau an.

»Das Geld bezahlen, was? Ja, wenn ich das könnte.«

Phil schüttelt den Kopf. »Nein, Govner, nein. Etwas Besseres. Es gibt einen Weg. Sehen Sie: so«, sagt Phil mit einer hochkünstlerischen Schwenkung seines Pinsels.

»Einen Strich drüber machen?«

Phil nickt.

»Das wäre mir ein hübscher Ausweg! Weißt du, was dann aus den Bagnets werden würde? Weißt du, daß sie dann meine Schulden bezahlen müßten und zugrunde gerichtet wären. Du bist mir ein netter Kerl«, sagt der Kavallerist und sieht Phil entrüstet an. »Meiner Seel, ein netter Kerl, Phil!«

Phil, seine Scheibe auf dem Knie, will gerade ernstlich protestieren, wenn es auch nicht ohne viele allegorische Schwenkungen seines Pinsels und Glätten des weißen Randes mit dem Daumen abgeht, und beteuern, er habe die Bagnets ganz vergessen und würde keinem Mitglied dieser würdigen Familie auch nur ein Haar krümmen, als man draußen im Einlaß Schritte kommen und eine muntere Stimme fragen hört, ob George zu Hause sei. Mit einem Blick auf seinen Herrn humpelt Phil ein paar Schritte weit und sagt: »Hier ist der Govner, Mrs. Bagnet! Hier.«

Begleitet von ihrem Mann, erscheint die Alte.

Ist Mrs. Bagnet marschbereit, so ist sie immer mit einem grauen groben, und wenn auch sehr reinlichen, so doch sehr abgetragnen Tuchmantel ausgerüstet – demselben Kleidungsstück, von dem Mr. Bagnet damals sagte, es habe mit Mrs. Bagnet und einem Regenschirm zusammen die Reise aus fremden Weltteilen nach Hause gemacht.

Der Schirm ist ebenfalls ein unzertrennlicher Begleiter der guten Frau, wenn sie sich auf die Straße begibt. Er ist von keiner in diesem Leben bekannten Farbe und hat einen runzligen hölzernen Haken als Griff mit einem Stück Blech daran. Er ist bauchig und scheint sehr eines Schnürleibs zu bedürfen, eine Eigentümlichkeit, die wahrscheinlich daher kommt, daß er eine Reihe von Jahren zu Hause als Vorratskammer und auf Reisen als Handtasche gedient hat. Sie spannt ihn niemals auf, da sie das größte Zutrauen auf ihren schwergeprüften Mantel und seine geräumige Kapuze hat, und gebraucht ihn nur als Stock, um damit beim Einkaufen auf Fleischstücke oder Gemüsebündel zu deuten oder durch einen freundschaftlichen Stich die Aufmerksamkeit der Höker zu erregen. Auch ohne ihren Marktkorb, eine Art geflochtenen Brunnen mit zwei großen Deckeln, geht sie nie aus. Von diesen beiden getreuen Gefährten begleitet und das ehrliche sonnenverbrannte Gesicht unter einen großen Strohhut gebunden, erscheint jetzt Mrs. Bagnet, frisch und munter aussehend, in Georges Schießgalerie.

»Nun, George, alter Bursche«, sagt sie, »wie geht’s an diesem schönen Morgen?«

Sie schüttelt dem Galeriedirektor freundlich die Hände, holt tief Atem und setzt sich hin, um sich auszuruhen. Gewöhnt, auf Bagagewagen oder auf ähnlich bequemen Lagerstätten zu ruhen, hockt sie sich auf eine schmale Holzbank, schiebt den Hut zurück, löst seine Bänder, verschränkt die Arme und befindet sich dem Anschein nach höchst behaglich.

Unterdessen hat Mr. Bagnet seinem alten Kameraden und Mr. Squod die Hand geschüttelt. Mrs. Bagnet hat Phil bereits mit einem freundlichen Nicken und Lächeln bedacht.

»Na, George«, sagt Mrs. Bagnet heiter, »hier sind wir, Lignum und ich.« Sie gibt ihrem Mann oft diesen Namen, wahrscheinlich, weil sein Spitzname: »lignum vitae« im Regiment war, als sie ihn kennenlernte – wegen der besondern Härte und Zähigkeit seiner Physiognomie. – »Wir kommen bloß, um alles wegen der Bürgschaft in Ordnung zu bringen. Geben Sie den neuen Wechsel zum Unterschreiben her, George.«

»Ich wollte diesen Morgen zu euch kommen«, bemerkt der Kavallerist zögernd.

»Ja, wir dachten es uns, aber wir sind zeitig ausgegangen und ließen Woolwich zum Schutz seiner Schwestern zurück und zogen es vor, selber zu Ihnen zu kommen, wie Sie sehen. Lignum ist jetzt so angebunden und hat so wenig Bewegung, daß ein Spaziergang ihm nur gut tun kann. Aber was ist denn los, George?« unterbricht Mrs. Bagnet ihre fröhliche Rede. »Was machen Sie denn für ein Gesicht?«

»Ich – ich«, entgegnet der Kavallerist, »ich habe Verdruß gehabt, Mrs. Bagnet.«

Ihr rasches helles Auge errät augenblicklich die Wahrheit.

»George«, sagt sie und hält den Zeigefinger in die Höhe, »sagen Sie mir nicht, daß etwas mit der Bürgschaft Lignums nicht in Ordnung ist? Sagen Sie das nicht, George, von wegen unsrer Kinder!«

Der Kavallerist sieht sie mit verstörtem Gesicht an.

»George«, sagt Mrs. Bagnet, bewegt unruhig die Arme und schlägt sich gelegentlich mit der flachen Hand auf die Knie, »wenn Sie mit dieser Bürgschaft irgend etwas haben geschehen lassen oder Lignum im Stich gelassen haben oder uns der Gefahr aussetzen, gepfändet zu werden – und ich lese so etwas wie Pfändung auf Ihrem Gesicht, George, als ob es deutlich drauf geschrieben stünde –, so haben Sie etwas Schändliches getan und uns grausam enttäuscht. Ich sage Ihnen, grausam, George! So. Jetzt wissen Sie’s.«

Mr. Bagnet, für gewöhnlich unbeweglich wie ein Pumpenstock oder ein Laternenpfahl, legt seine breite rechte Hand auf seine Glatze, als ob er sie vor einem Regenguß schützen wolle, und sieht Mrs. Bagnet mit großer Unruhe an.

»George«, fährt die Alte fort, »ich hätte das nicht von Ihnen geglaubt. George, ich schäme mich für Sie! George, ich hätte nie geglaubt, Sie wären zu so etwas imstande. Ich wußte immer, daß Sie ein rollender Stein sind, der kein Moos ansetzt, aber ich hätte nie gedacht, daß Sie auch noch das bißchen Moos wegnehmen würden, von dem Bagnet und die Kinder leben sollen. Sie wissen, was für ein fleißiger solider Kerl er ist. Sie wissen, wie Quebec und Malta und Woolwich sind, und ich hätte nie gedacht, daß Sie das Herz haben könnten, uns das anzutun. Ach, George!« – Mrs. Bagnet nimmt ihren Mantel zusammen, um sich ihre Augen zu wischen, – »wie konnten Sie uns das antun?«

Als Mrs. Bagnet aufgehört hat, nimmt Mr. Bagnet die Hand vom Kopf, als sei jetzt der Regenguß vorüber, und sieht Mr. George an, der, kreideweiß geworden, mit schmerzlichem Gesicht den grauen Mantel und den Strohhut anstarrt.

»Mat«, sagt der Kavallerist mit gedämpfter Stimme zu seinem Kameraden, kann aber keinen Blick von dessen Frau wenden. »Es tut mir leid, daß ihr es euch so zu Herzen nehmt, denn ich hoffe, es wird nicht so schlimm ausgehen. Allerdings habe ich heute früh diesen Brief bekommen«, – er liest ihn vor – »aber ich hoffe, die Sache läßt sich noch in Ordnung bringen. Was Sie da von einem rollenden Stein sagen, so haben Sie freilich recht. Ich bin ein rollender Stein, und ich glaube wahrhaftig, ich bin nie jemandem in den Weg gerollt, um ihm den mindesten Nutzen zu bringen, aber es ist mir altem Vagabunden unmöglich, mehr von deiner Frau und deiner Familie zu halten, als ich es tue, Mat, und ich hoffe, ihr werdet mich mit Nachsicht beurteilen. Glaubt nicht, daß ich euch etwas verheimlicht habe. Ich habe den Brief erst vor einer Viertelstunde bekommen.«

»Alte«, murmelt Mr. Bagnet nach einer kurzen Pause, »willst du ihm nicht meine Meinung sagen?«

»Ach, warum hat er nicht Joe Pouchs Witwe in Nordamerika geheiratet! Dann wäre er nicht in alle diese Ungelegenheiten gekommen«, ruft Mrs. Bagnet halb lachend, halb weinend.

»Die Alte hat ganz recht«, nickt Mr. Bagnet. »Warum hast du’s nicht getan?«

»Ich hoffe, sie hat jetzt einen bessern Mann«, entgegnet der Kavallerist. »So oder so. Jedenfalls steh ich hier und bin nicht mit Joe Pouchs Witwe verheiratet. Was soll ich tun? Du siehst hier alles, was ich habe. Es gehört nicht mir, es gehört dir. Sag nur ein Wort, und ich verkaufe jedes Stück. Hätte ich hoffen können, dafür nur annähernd die Summe, die ich brauche, zu bekommen, hätte ich längst alles verklopft. Glaub nicht, daß ich dich oder die Deinigen in der Tinte lasse, Mat. Eher würde ich mich selbst verkaufen. Ich wünschte nur«, sagt der Kavallerist und schlägt sich verächtlich auf die Brust, »ich wüßte jemanden, der so einen alten abgelegten Kerl kaufte.«

»Alte«, murmelt Mr. Bagnet, »sag ihm weiter meine Meinung!«

»George«, lenkt die Alte ein. »Sie sind bei reiflicher Überlegung nicht so sehr zu tadeln. Außer, daß Sie überhaupt das Geschäft ohne Mittel angefangen haben.«

»Das hat mir übrigens ganz ähnlich gesehen«, bemerkt bußfertig der Kavallerist. »Ganz ähnlich. Das weiß ich.«

»Ruhig! Die Alte«, sagt Mr. Bagnet, »hat recht, in ihrer Art meine Meinung zu sagen. Hör weiter.«

»Und damals hätten Sie nie die Bürgschaft verlangen sollen, George, und auch nicht bekommen dürfen, wenn man sich alles jetzt ordentlich überlegt. Aber was einmal geschehen ist, läßt sich nicht mehr ändern. Sie handeln immer wie ein ehrenhafter und rechtschaffner Kerl, soweit es in Ihrer Macht liegt, wenn auch ein bißchen unüberlegt. Andererseits müssen Sie zugeben, daß es ganz natürlich ist, wenn wir mit einer solchen Sorge auf dem Hals ängstlich sind. Wollen wir also sagen, vergeben und vergessen, George! Kommen Sie, vergeben und vergessen!«

Mrs. Bagnet reicht ihm eine ihrer ehrlichen Hände und ihrem Gatten die andre. Mr. George erfaßt sie und hält sie fest und sagt:

»Ich versichere euch beiden, ich würde alles tun, um diese Verpflichtung loszuwerden. Aber was ich habe zusammenscharren können, habe ich gebraucht, um alle zwei Monate die Zinsen für den Wechsel zu zahlen. Phil und ich haben hier einfach genug gelebt. Aber die Galerie trägt nicht soviel, wie wir erwarteten, und ist –kurz, ist kein Eldorado. War es unrecht von mir, sie zu übernehmen? Ja, allerdings! Aber ich wurde gewissermaßen zu dem Schritt gedrängt und glaubte, es würde mich gesetzter machen und mir im Leben forthelfen. Wenn ihr versucht, zu vergessen, daß ich mich mit solchen Erwartungen trug, bin ich euch wirklich sehr dankbar – und recht, recht beschämt.«

Mit diesen Worten schüttelt Mr. George den beiden die Hände und macht dann in militärischer Haltung ein paar Schritte zurück, als habe er sein letztes Bekenntnis abgelegt und solle sofort mit allen militärischen Ehren erschossen werden.

»George, hör mich zu Ende an«, sagt Mr. Bagnet mit einem Blick auf seine Frau. »Alte, sprich weiter!«

Mr. Bagnet, der sich auf diese eigentümliche Weise zu Ende anhören läßt, hat nur zu bemerken, daß der Brief unverzüglich beantwortet werden müsse und es das ratsamste sei, wenn George und er selbst auf der Stelle zu Mr. Smallweed gingen, um in erster Linie allen Schaden vom Hause Bagnet, das das Geld nicht habe, fernzuhalten. Mr. George stimmt dem vollständig bei, setzt seinen Hut auf und ist bereit, mit Mr. Bagnet in das feindliche Lager zu marschieren.

»Sie dürfen das vorschnelle Wort einer Frau nicht übelnehmen«, sagt Mrs. Bagnet und klopft ihm auf die Schulter. »Ich vertraue Ihnen meinen alten Lignum an und bin überzeugt, daß Sie ihn heil durchbringen werden.«

Der Kavallerist entgegnet, das sei freundlich von ihr gesprochen und er werde Lignum auf irgendeine Weise schon durchbringen. Darauf geht Mrs. Bagnet mit ihrem Mantel, Korb und Regenschirm wieder mit fröhlichen Augen zu ihrer Familie nach Haus, und die Kameraden treten die hoffnungsreiche Sendung an, Mr. Smallweed zu erweichen.

Ob es in ganz England noch zwei Leute gibt, die mit weniger Aussicht auf Erfolg eine Verhandlung mit Mr. Smallweed zu Ende zu führen imstande wären, als Mr. George und Mr. Matthew Bagnet, ist mehr als fraglich. Auch, ob es trotz ihres kriegerischen Aussehens, ihrer breiten Schultern und ihres gewichtigen Schrittes im Reich zwei in Smallweedschen Geschäften ungeübtere und unschlauere Kinder geben könnte.

Wie sie mit großem Ernst durch die Straßen nach Mount-Pleasant schreiten, glaubt Mr. Bagnet, da er seinen Begleiter so nachdenklich dreinschauen sieht, in freundlicher Weise auf Mrs. Bagnets letzte Attacke zurückkommen zu müssen.

»George, du kennst die Alte. Sie ist so sanft und mild wie Milch. Aber rühr ihre Kinder an – oder mich –, und sie geht in die Luft – wie Schießpulver.«

»Das macht ihr nur Ehre, Mat.«

»George«, sagt Mr. Bagnet und blickt geradeaus, »die Alte kann nichts tun, was ihr nicht Ehre macht. Mehr oder weniger. Ich sage es nicht vor ihr. Disziplin muß sein.«

»Sie ist ihr Gewicht in Gold wert«, entgegnet der Kavallerist.

»In Gold? Ich will dir was sagen, George. Die Alte wiegt – hundertsechsundsiebzig Pfund. Ob ich dieses Gewicht – egal, in welchem Metall – für die Alte nähme? Nein. Warum nicht? Weil die Alte aus einem viel kostbareren Metall ist. Sie ist besser als alles Metall.«

»Du hast recht, Mat.«

»Als sie mich nahm – und den Ring annahm –, ließ sie sich bei mir und den Kindern anwerben – mit Herz und Kopf fürs Leben. Und sie hält treu zu ihrer Fahne, so daß, wenn einer gegen uns auch nur den Finger rührt, sie gleich bei der Hand ist – und unters Gewehr tritt. Wenn die Alte einmal übers Ziel schießt – so gelegentlich, aus Pflichteifer –, muß man ihr das verzeihen, George. Denn sie meint’s gut.«

»Gott behüte sie, Mat! Ich denke nur um so besser von ihr.«

»Da hast du recht«, sagt Mr. Bagnet enthusiastisch, aber ohne dabei auch nur einen Muskel seines Gesichts zu verziehen. »Denk dir die Verdienste der Alten – so hoch wie den Felsen von Gibraltar –, und du wirst immer noch zu niedrig von ihren Verdiensten denken. Aber ich erwähne es nie vor ihr. Disziplin muß sein.«

Unter solchen Lobeshymnen gelangen sie endlich nach Mount-Pleasant und an Großvater Smallweeds Haus. Die ewig unveränderliche Judy öffnet die Tür, mustert die beiden mit nicht besondrer Freundlichkeit, wohl aber mit einem boshaften Lächeln von Kopf bis Fuß, läßt sie draußen stehen und fragt das Orakel, ob sie sie einlassen soll. Das Orakel scheint seine Einwilligung gegeben zu haben, denn sie kehrt mit den Worten auf ihren Honiglippen zurück, sie könnten hereinkommen – wenn sie Lust hätten.

So huldreich empfangen, treten sie also ein und finden Mr. Smallweed, mit den Füßen im Schubkasten seines Lehnstuhls ruhend wie in einem Papierfußbad, und Mrs. Smallweeds Gesicht, von dem Kissen verdunkelt wie ein Vogel, der nicht singen soll.

»Mein lieber Mr. George«, sagt Großvater Smallweed und streckt seine beiden magern Arme sehnsüchtig aus. »Wie geht’s Ihnen? Wie geht’s Ihnen? Und wer ist unser Freund hier?«

»Das hier ist«, entgegnet George mit recht wenig versöhnlichem Ton, »ist Matthew Bagnet, der für mich, wie Sie wissen, gebürgt hat.«

»Oh, Mr. Bagnet? Ja, richtig!« Der Alte beschattet sich die Augen mit der Hand und sieht ihn an. »Hoffe, Sie befinden sich wohl, Mr. Bagnet! Ein schöner Mann, Mr. George. Militärisches Aussehen, Sir.«

Da man ihnen keine Stühle anbietet, holt Mr. George selbst einen für Bagnet und einen für sich. Sie setzen sich. Mr. Bagnet, als ob er nur in den Hüften ein Gelenk hätte.

»Judy«, sagt Mr. Smallweed, »bring die Pfeife.«

»Ich glaube, die junge Dame braucht sich die Mühe nicht zu machen«, unterbricht ihn Mr. George, »denn, um die Wahrheit zu sagen, ich bin heute zum Rauchen nicht aufgelegt.«

»So. Nicht?… Judy, bring die Pfeife!«

»Die Sache ist die, Mr. Smallweed, daß ich mich in einer nicht besonders angenehmen Gemütsverfassung befinde. Es scheint mir, Sir, als ob Ihr Freund in der City dumme Streiche machen will.«

»O Gott, nein«, sagt Großvater Smallweed. »Das tut er nie.«

»Wirklich nicht? Nun, das freut mich. Ich glaubte schon, es sei sein Werk. Das da. Dieser Brief hier.«

Großvater Smallweed lächelt scheußlich, als er den Brief erblickt.

»Was hat das zu bedeuten?« fragt Mr. George.

»Judy, hast du die Pfeife? Gib sie mir. – Sie fragen, was der Brief zu bedeuten hat, mein lieber Freund?«

»Ja. Hören Sie einmal, Mr. Smallweed«, drängt der Kavallerist und zwingt sich, dabei so ruhig und vertrauensvoll wie nur möglich auszusehen. Er hält den Brief in der Linken und läßt seine Faust auf dem Schenkel ruhen. »Es ist viel Geld zwischen uns hin- und hergegangen, und wir sitzen jetzt einander gegenüber und wissen beide recht gut, wie die Sache stillschweigend vereinbart war. Ich bin bereit, zu tun, was ich bisher immer getan habe und was regelmäßig geschehen ist, damit die Sache im Gang bleibt. Ich habe bisher noch nie einen Brief wie diesen von Ihnen bekommen, und es hat mich diesen Morgen etwas außer Fassung gebracht, weil mein Freund hier, Matthew Bagnet, der, wie Sie wissen, das Geld nicht hat…«

»Ich weiß es nicht«, sagt der Alte ruhig.

»Hol Sie der… Er hat es nicht –, ich sag es Ihnen doch.«

»O ja, Sie sagen es«, entgegnet Großvater Smallweed. »Aber ich weiß es nicht.«

»Na«, sagt der Kavallerist, seinen Ärger hinunterschluckend, »aber ich weiß es.«

»Ah, das ist ganz etwas andres«, meint Mr. Smallweed gut gelaunt. »Aber das ändert nichts an Mr. Bagnets Lage.«

Der unglückliche George machte die größten Anstrengungen, die Sache in Frieden abzutun, und geht auf Mr. Smallweeds Launen ein, bloß, um ihn freundlich zu stimmen.

»Das meine ich eben. Ganz wie Sie sagen, Mr. Smallweed. Hier ist Matthew Bagnet, und Sie können ihn beim Schopf packen, ob er das Geld nun hat oder nicht. Das nimmt sich nun seine gute Frau sehr zu Herzen, und ich leide auch drunter, denn während ich ein leichtsinniger Taugenichts bin, der mehr Schläge als Halfpence verdient, ist er ein solider Familienvater. Ich weiß nun recht gut, Mr. Smallweed«, der Kavallerist wird, wie er auf diese soldatische Weise von dem Geschäft spricht, immer zuversichtlicher, »daß ich von Ihnen nicht verlangen kann, obgleich wir in einer gewissen Art ganz gut miteinander stehen, meinen Freund Bagnet ganz aus dem Spiel zu lassen.«

»Mein Gott, Sie sind zu bescheiden. Verlangen können Sie alles, Mr. George.« Großvater Smallweed zeigt eine gewisse menschenfresserhafte Neigung zur Spaßhaftigkeit.

»Und Sie können es abschlagen, meinen Sie, nicht? Oder vielleicht nicht so sehr Sie als Ihr Freund in der City. Hahaha!«

»Hahaha!« lacht auch Großvater Smallweed in so hartem Ton und mit so ganz besonders grünen Augen, daß Mr. Bagnets natürliche Ernsthaftigkeit sich beim Anblick des verehrungswürdigen alten Herrn sehr vertieft.

»Kommen Sie«, sagt der sanguinische Mr. George. »Es freut mich, daß wir so gut aufgelegt sind. Ich möchte gern alles in Frieden abmachen. Hier sitzt mein Freund Bagnet, und hier bin ich. Wir wollen die Sache auf der Stelle in der gewohnten Weise abmachen, nicht wahr, Mr. Smallweed? Und Sie werden meinem Freund Bagnet und seiner Familie das Herz um vieles erleichtern, wenn Sie ihm sagen wollen, daß wir uns darüber verständigt haben.«

Hier ruft ein Gespenst mit schriller Stimme höhnisch aus: »Ach, du lieber Gott!« – wenn es nicht etwa gar die spaßhafte Judy ist, die zwar ganz stumm dasteht, als die Gäste sich erschrocken nach ihr umsehen, deren Lippen aber eben erst vor Hohn und Verachtung gezuckt haben.

Mr. Bagnets Ernsthaftigkeit vertieft sich noch mehr.

»Ich glaube, Sie fragten mich doch, Mr. George« – Großvater Smallweed, der die ganze Zeit über die Pfeife in der Hand gehalten hat, ist jetzt der Sprecher – »ich glaube, Sie fragten mich, was der Brief zu bedeuten habe?«

»Nun ja, das wollte ich wissen«, entgegnet der Kavallerist sorglos. »Aber es liegt mir nicht so gar viel daran, wenn nur jetzt alles in Ordnung ist.«

Mr. Smallweed tut, als ziele er nach dem Kopf des Kavalleristen, und zerschmettert die Pfeife dann plötzlich auf dem Boden in tausend Stücke.

»Das hat er zu bedeuten, mein lieber Freund. Zerschmeißen will ich Sie. Ich will Sie vernichten. Zu Staub. Scheren Sie sich zum Teufel!«

Die beiden Freunde springen auf und sehen einander an. Mr. Bagnets Ernsthaftigkeit hat jetzt ihren Höhepunkt erreicht.

»Scheren Sie sich zum Teufel!« wiederholt der Alte. »Ich mag nichts mehr von Ihrem Pfeifenrauchen und Ihrem Schwadronieren hören. Was, Sie wollen ein freier unabhängiger Dragoner sein? Sie? Gehen Sie zu meinem Advokaten – Sie wissen, wo er wohnt, Sie sind schon einmal dort gewesen – und beweisen Sie jetzt Ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Vielleicht, mein lieber Freund, haben Sie da noch eine Aussicht. Mach die Tür auf, Judy, und geleite diese Prahlhänse schön sanft hinaus. Ruf die Polizei, wenn sie nicht freiwillig gehen… Hinaus mit euch!«

Er kreischt die letzten Worte so laut, daß Mr. Bagnet seinem Kameraden die Hände auf die Schultern legt und ihn, ehe er sich noch von seinem Staunen erholen kann, eilig hinausschiebt. Triumphierend wirft Judy die Haustür zu. Ganz verwirrt bleibt Mr. George eine Weile davor stehen und starrt den eisernen Klopfer an. Mr. Bagnet geht, das Urbild der Ernsthaftigkeit, vor dem kleinen Wohnstubenfenster auf und ab wie eine Schildwache und wirft jedes Mal einen Blick hinein, als ob er sich irgend etwas überlege.

»Komm, Mat«, sagt endlich Mr. George, als er sich erholt hat. »Wir müssen es bei dem Advokaten versuchen. Nun, was sagst du zu diesem Schurken?«

Mr. Bagnet bleibt stehen, wirft einen Abschiedsblick in die Wohnstube und brummt mit einem Kopfnicken, das denen drin gelten soll: »Wenn meine Alte hier gewesen wäre, hätte ich ihm meine Meinung gesagt.«

Auf diese Art die Ursache seiner Nachdenklichkeit losgeworden, tritt er an des Kavalleristen Seite und marschiert mit ihm in gleichem Schritt, Schulter an Schulter, fort.

Als sie sich in Lincoln’s-Inn-Fields melden, ist Mr. Tulkinghorn beschäftigt und nicht zu sprechen. Er scheint durchaus nicht geneigt, sie vorzulassen. Und als sie eine volle Stunde gewartet haben und der Schreiber, als ihn die Klingel ruft, die Gelegenheit benützt, zu erwähnen, daß sie schon sehr lange draußen warteten, bringt er keine ermutigendere Botschaft zurück, als daß Mr. Tulkinghorn ihnen nichts zu sagen habe. Sie warten jedoch mit militärischer Ausdauer, und endlich schellt die Klingel, und der Klient, der so lange drin gewesen ist, tritt aus Mr. Tulkinghorns Zimmer.

Der Klient ist eine hübsche alte Dame. Niemand anders als die Haushälterin von Chesney Wold, Mrs. Rouncewell. Sie verläßt das Sanktuarium mit einem hübschen altmodischen Knicks und macht leise die Tür zu. Sie wird hier mit einer gewissen Auszeichnung behandelt, und der Schreiber tritt hinter seinem Pult hervor, um sie durch das Vorzimmer zu geleiten. Die alte Dame dankt ihm für seine Aufmerksamkeit und bemerkt dabei die beiden wartenden Kameraden.

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir, aber sind diese Herren nicht vom Militär?«

Da der Schreiber die beiden fragend ansieht und Mr. George, vertieft in einen Wandkalender über dem Kamin, sich nicht umsieht, antwortet Mr. Bagnet:

»Ja, Maam. Gewesen.«

»Hab mir’s gleich gedacht. Auf den ersten Blick. Das Herz geht mir auf, wie ich Sie so sehe, meine Herren. Es geht mir immer so. Gott behüte Sie, Gentlemen. Sie werden es einer alten Frau nicht übelnehmen, aber ich hatte einmal einen Sohn, der unter die Soldaten gegangen ist, einen hübschen prächtigen Jungen und gutherzig in seiner kecken Weise, wenn auch so manche Leute ihn bei seiner armen Mutter herabsetzen wollten. Ich bitte Sie um Entschuldigung, wenn ich Sie gestört habe, Sir. Gott behüte Sie, Gentlemen!«

»Gott behüte Sie ebenfalls, Maam«, erwidert ihr Mr. Bagnet in herzlichem Ton.

Es liegt etwas Rührendes in den Worten der alten Dame und in dem Zittern, das ihre ehrwürdige alte Gestalt durchläuft, aber Mr. George ist so vertieft in den Wandkalender, daß er sich erst umsieht, als sie fort und die Tür hinter ihr geschlossen ist.

»George«, flüstert ihm Mr. Bagnet mit seinem Baß zu, als er sich endlich von dem Kalender losreißt. »Nur nicht niedergeschlagen! Soldatenblut ist fröhlich Blut. Kopf hoch, mein Junge!«

Der Schreiber ist wiederum hineingegangen, um zu melden, daß sie noch immer da sind, und Mr. Tulkinghorn hat so laut, daß sie es hören können, in gereiztem Ton geantwortet: »Also sollen sie meinetwegen hereinkommen!« Darauf treten sie in das große Zimmer mit der gemalten Decke und sehen ihn vor dem Kamin stehen.

»Nun, was wollt Ihr denn eigentlich? Sergeant, ich sagte Ihnen schon neulich, daß mir Ihre Gesellschaft nicht paßt.«

Der Sergeant gibt zur Antwort – er ist in den letzten Minuten in seiner Redeweise und seiner ganzen Haltung viel schüchterner geworden als sonst –, daß er diesen Brief empfangen habe, deshalb bei Mr. Smallweed gewesen und von diesem hierher gewiesen worden sei.

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen«, entgegnet Mr. Tulkinghorn. »Wenn Sie Schulden machen, müssen Sie sie bezahlen oder die Folgen auf sich nehmen. Müssen Sie, um sich das sagen zu lassen, eigens hierherkommen?«

Der Sergeant muß leider gestehen, daß er das Geld nicht hat.

»Sehr gut! Dann muß der andre, dieser Mann da, wenn er es ist, für Sie bezahlen.«

Der Sergeant muß leider hinzufügen, daß der andre das Geld ebenfalls nicht habe.

»Nun gut, dann müssen Sie beide es zusammen bezahlen oder Sie werden beide verklagt und müssen die Folgen auf sich nehmen. Sie haben das Geld bekommen und müssen es wieder zurückzahlen. Sie können nicht andrer Leute Pfunde, Schillinge und Pence in die Tasche stecken und dann sich mir nichts dir nichts drücken.«

Der Advokat setzt sich in seinen Lehnstuhl und schürt das Feuer.

Mr. George hofft, er werde doch die Güte haben, zu…

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, Sergeant, daß mich das nichts angeht. Mir gefällt Ihr Umgang nicht, und ich will Sie nicht hier haben. Die Sache schlägt nicht in mein Fach, und ich habe nichts damit zu tun. Mr. Smallweed beliebt es, mir die Sache zuzuschieben, aber sie geht mich nichts an. Gehen Sie zu Melchisedek in Clifford’s-Inn.«

»Ich muß Sie um Entschuldigung bitten«, sagt Mr. George, »daß ich mich Ihnen noch so aufdränge. Es ist mir so unangenehm, wie es Ihnen nur sein könnte. Aber wollen Sie mir ein Wort unter vier Augen gestatten?«

Mr. Tulkinghorn steht, die Hände in den Taschen, auf und tritt in eine Fensternische.

»Also sprechen Sie. Ich habe nicht lange Zeit.«

Trotz seiner Maske vollkommener Gleichgültigkeit beobachtet er scharf den Kavalleristen und trägt Sorge, daß er mit dem Rücken gegen das Fenster steht und das Licht auf das Gesicht des andern fällt.

»Sehen Sie, Sir«, sagt Mr. George, »der Mann dort ist der andre, der in meine Angelegenheit unglücklicherweise mit verwickelt ist, nur nominell – nur nominell –, und ich muß vor allem verhindern, daß er meinetwegen in Ungelegenheit kommt. Er ist ein höchst ehrenwerter Mann und hat Frau und Kinder. Er stand früher bei der königlichen Artillerie…«

»Lieber Freund, die ganze königliche Artillerie ist mir höchst gleichgültig – Offiziere, Mannschaften, Protzkästen, Wagen, Pferde, Kanonen und Munition!«

»Schon möglich, Sir, aber mir liegt es sehr am Herzen, daß Bagnet und seine Frau und Familie nicht meinetwegen zu Schaden kommen. Wenn ich sie damit heil aus dieser Klemme herausbringen könnte, würde ich ohne weitere Bedingung das, was Sie neulich von mir haben wollten, herausgeben.«

»Haben Sie es mitgebracht?«

»Ich habe es bei mir, Sir.«

»Sergeant«, fährt der Advokat in seiner trocknen leidenschaftslosen Weise fort, die viel mehr als die größte Heftigkeit jede Hoffnung vernichtet. »Fassen Sie Ihren Entschluß, noch während ich mit Ihnen rede, denn es ist das letzte Mal. Wenn ich aufgehört haben werde, zu sprechen, ist die Sache abgetan, und ich will nichts weiter davon hören. Merken Sie sich das wohl. Wenn Sie wollen, können Sie auf einige Tage hier lassen, was Sie bei sich haben, wie Sie sagen. Sie können es auch gleich wieder mitnehmen, wenn Sie wollen. Im Fall Sie es hier lassen, kann ich soviel für Sie tun, daß die Angelegenheit wieder wie früher geregelt wird. Ich kann außerdem noch so weit gehen, Ihnen eine schriftliche Zusicherung zu geben, daß dem Bagnet dort nichts geschehen soll, bis man gegen Sie bis auf das Äußerste verfahren ist, daß alle Ihre Zahlungsmöglichkeiten erschöpft sein sollen, ehe der Gläubiger sich an ihn hält. Das heißt fast soviel, wie ihn ganz aus dem Spiel lassen. Sind Sie jetzt entschlossen?«

Der Kavallerist steckt die Hand in die Brusttasche und antwortet mit einem tiefen Seufzer:

»Ich muß es wohl sein, Sir.«

Sodann setzt Mr. Tulkinghorn die Brille auf, setzt sich hin und schreibt das Dokument, liest es Bagnet, der die ganze Zeit über die Decke angestarrt hat, langsam vor und erklärt es ihm. Der Artillerist legt wieder die Hand bei jedem neuen Regenbad von Worten auf seine Glatze und scheint die Alte sehr nötig zu haben, um eine Meinung zu äußern. Dann nimmt Mr. George aus der Brusttasche ein zusammengefaltetes Papier und legt es widerstrebend neben den Ellbogen des Advokaten.

»Es ist nur ein Brief mit Instruktionen, Sir. Der letzte, den ich von ihm bekam.«

Ein Mühlstein könnte sich ebensowenig verändern wie die Miene Mr. Tulkinghorns, als er jetzt den Brief aufmacht und ihn liest. Mit einem Gesicht, undurchdringlich wie der Tod selbst, faltet er ihn wieder zusammen und legt ihn in sein Pult.

Weiter hat er nichts zu sagen oder zu tun, nickt nur noch ein einziges Mal in seiner früheren kalten und unhöflichen Weise und sagt kurz:

»Sie können gehen. – Heda! Führen Sie die Leute hinaus!«

Der Schreiber öffnet ihnen die Tür, und sie begeben sich nach Mr. Bagnets Wohnung zum Essen.

Gekochtes Fleisch mit grünem Gemüse tritt heute an die Stelle von Schweinefleisch mit grünem Gemüse. Mrs. Bagnet verteilt wieder wie damals das Mahl und würzt es mit der besten Laune. Sie gehört zu der seltnen Art alter Frauen, die das Gute hinnehmen, ohne sich etwas Besseres zu wünschen, und aus jeder kleinen Stelle Dunkelheit noch Licht zu ziehen verstehen. Die dunkle Stelle ist dieses Mal die finstre Stirn Mr. Georges. Er ist ungewöhnlich nachdenklich und niedergeschlagen. Zuerst überläßt Mrs. Bagnet seine Aufheiterung den vereinigten Anstrengungen Quebecs und Maltas. Aber als sie merkt, daß die jungen Damen in dem heutigen Wauwau nicht den lustigen Wauwau von damals finden, gibt sie ihrer leichten Infanterie ein stummes Zeichen, sich zurückzuziehen, und gibt George Gelegenheit, sich auf dem offnen Terrain des häuslichen Herdes in aller Muße frei zu entwickeln.

Aber er tut es nicht. Er bleibt in geschlossener Schlachtordnung und ist umwölkt und bedrückt. Während des ganzen langen Reinigungsprozesses und Hin- und Herklapperns, wo er und Mr. Bagnet ihre Pfeifen bekommen, wird es nicht besser als während des Essens. Er vergißt zu rauchen, starrt ins Feuer, läßt die Pfeife ausgehen und erfüllt die Brust Mr. Bagnets dadurch, daß er zeigt, der Tabak mache ihm keine Freude, mit Unruhe und Schrecken.

Als daher Mrs. Bagnet endlich erscheint, gerötet von dem kalten Wasser, und sich zur Arbeit niedersetzt, gibt ihr ihr Gatte einen Wink, sie möge versuchen, der Sache auf den Grund zu kommen.

»Aber George«, sagt Mrs. Bagnet und fädelt ruhevoll ihre Nadel ein, »wie Sie heute wieder verstimmt sind!«

»Bin ich das? Keine gute Gesellschaft? Ja, ja. Ich fürchte wirklich, ich bin’s nicht.«

»Er ist gar nicht der Bluffy wie sonst, Mutter«, ruft die kleine Malta.

»Weil ihm nicht wohl ist, glaub ich«, setzt Quebec hinzu.

»Gewiß ist das ein schlechtes Zeichen, nicht wie sonst zu sein«, entgegnet der Kavallerist und küßt die Mädchen. »Aber es ist leider wahr. Die Kleinen haben immer recht.«

»George«, sagt Mrs. Bagnet und wendet keinen Blick von ihrer Arbeit. »Wenn ich denken sollte, Sie könnten etwas übelgenommen haben, was einer Soldatenfrau über die Zunge gerutscht ist – ich hätte sie mir gleich darauf am liebsten abgebissen –, so wüßte ich nicht, was ich jetzt sagen sollte.«

»Liebe gute Seele«, entgegnet der Kavallerist. »Schlagen Sie sich doch das aus dem Kopf.«

»Ich habe wirklich und wahrhaftig nur sagen wollen, daß ich Ihnen Lignum anvertraue und überzeugt sei, Sie würden ihn heil durchbringen. Und Sie haben ihn durchgebracht, und fein!«

»Ich danke Ihnen«, sagt George. »Es freut mich, daß Sie so eine gute Meinung von mir haben.«

Er schüttelt Mrs. Bagnets mit der Arbeit beschäftigte Hand am Gelenk und sieht ihr aufmerksam ins Gesicht. Sie näht ruhig weiter, und sein Blick fällt auf den jungen Woolwich, der auf seinem Stuhl in der Ecke sitzt.

Er winkt ihn heran. »Schau mal, mein Junge«, sagt er und streicht der Alten sanft das Haar aus der Stirn. »Siehst du, da ist eine Stirn voll Güte und voll Liebe zu dir! Strahlend vor Liebe zu dir, mein Junge. Ein wenig gebräunt von der Sonne und dem Wetter, weil sie deinem Vater überall hin gefolgt ist und für dich hat sorgen müssen, aber so frisch und gesund wie ein reifer Apfel auf dem Baum.«

Mr. Bagnets Züge drücken, soweit es das sein hölzernes Gesicht erlaubt, die größte Billigung und Beistimmung aus.

»Die Zeit wird kommen, mein Junge«, fährt der Kavallerist fort, »wo das Haar deiner Mutter ergraut ist und die Stirn voller Runzeln und Falten. Eine schöne alte Frau wird sie dann sein. Trag Sorge, solang du noch jung bist, daß du in jenen fernen Tagen sagen kannst: Ich bin nicht schuld, daß nur ein einziges Haar auf ihrem geliebten Haupt weiß geworden ist, und ich habe nicht eine einzige Gramesfalte in ihr Gesicht gezeichnet. Denn von all den vielen Dingen, an die du als Mann denken kannst, ist das eins der besten, Woolwich!«

Mr. George steht von seinem Stuhle auf und setzt den Knaben hinein. Dann sagt er hastig etwas, das so klingt wie:

»Ich will lieber meine Pfeife auf der Straße draußen rauchen.«

35. Kapitel


35. Kapitel

Esthers Erzählung

Ich lag mehrere Wochen krank darnieder, und mein gewohntes Tagewerk war mir eine weit in der Vergangenheit liegende Erinnerung geworden. Das war weniger der Wirkung der Zeit als vielmehr den Veränderungen infolge meiner Hilflosigkeit und der Untätigkeit im Krankenzimmer zuzuschreiben. Schon nach wenigen Tagen schien alles in eine weite Ferne gerückt zu sein, in der die verschiedenen Abschnitte meines Lebens, in Wirklichkeit durch Jahre voneinander getrennt, sich wenig oder gar nicht voneinander abhoben. Ich schien durch mein Kranksein über ein dunkles Meer gefahren zu sein und meine sämtlichen Erlebnisse, durch die große Entfernung wie in eins verschwommen, auf der Küste der gesunden Tage zurückgelassen zu haben.

Der Gedanke, meine Wirtschaftspflichten jetzt versäumen zu müssen, machte mir anfangs wohl große Sorge, trat aber dann soweit in den Hintergrund meiner Erinnerung wie die Zeiten in Greenleaf oder die Sommernachmittage, wo ich als Kind mit der Mappe unter dem Arm, begleitet von dem Schatten an meiner Seite, nach Hause zu meiner Patin ging.

Ich hatte vorher nie gewußt, wie kurz in Wirklichkeit das Leben ist und in welch kleinen Raum man es zusammendrängen kann.

Während ich gefährlich krank war, quälte dies Ineinanderschwimmen der Lebensabschnitte mein Gemüt außerordentlich. Zu gleicher Zeit ein Kind, ein heranwachsendes Mädchen und die kleine Hausfrau, als die ich so glücklich gewesen war, bedrückten mich nicht nur die Sorgen jeder einzelnen dieser Epochen, sondern auch das unaufhörliche vergebliche Bestreben, sie miteinander in Einklang zu bringen. Ich glaube, daß nur wenige, die nicht in einer solchen Lage gewesen sind, vollkommen verstehen können, was ich sagen will, oder sich von der quälenden Unruhe in mir eine Vorstellung machen können.

Aus demselben Grund fürchte ich mich fast, von der Zeit meiner Krankheit zu sprechen, wo ich mir einbildete, ich kletterte riesige Treppen hinauf, beständig bemüht, oben anzukommen, und stets von einem Hindernis daran verhindert, wie ein Wurm an einem Gartenzaun, und gezwungen, immer wieder von vorn anfangen zu müssen. Zuweilen wußte ich ganz genau, daß ich im Bett lag, sprach mit Charley, fühlte ihre Berührung und erkannte sie genau. Und doch hörte ich mich klagen : »O diese unendlichen Treppen, Charley – immer mehr und mehr –, bis zum Himmel hinauf in die Höhe getürmt.« Und dann fing ich wieder an zu klettern.

Ich fürchte mich, von jener schlimmen Zeit zu sprechen, wo sich irgendwo im unendlichen schwarzen Raum ein feuriges Band oder ein Flammenring oder ein Kreis von Sternen bewegte, von dem ich ein kleiner Teil war –; wo mein einziges Gebet war, von den übrigen getrennt zu werden, und es für mich eine so unbeschreibliche Qual und ein so unsägliches Elend bedeutete, ein Teil dieses grauenhaften Dinges zu sein.

Vielleicht werde ich um so weniger langweilig und verständlicher, je weniger ich von diesen Krankheitserinnerungen spreche. Ich rufe sie nicht zurück, um andre zu verstimmen oder weil es mich jetzt im mindesten angriffe, daran zurückzudenken. Es könnte nur sein, daß wir besser imstande wären, Linderung zu schaffen, wenn wir mehr von diesen seltsamen Heimsuchungen wüßten.

Die nun folgende Ruhe, der lange köstliche Schlaf, der selige Frieden, als ich vor Mattigkeit mich nicht mehr selbst quälen konnte und sogar die Nachricht von dem Herannahen des Todes mit keinem andern Gefühl aufgenommen hätte als dem des Mitleids mit den Zurückbleibenden – dieser Zustand ist vielleicht allgemeiner verständlich. Und in ihm befand ich mich, als ich vor dem Licht mit Schrecken zurückbebte, das mir eines Tages wieder in die Augen schimmerte, dann aber mit einer grenzenlosen Freude, die sich mit Worten nicht schildern läßt, begriff, daß ich wieder würde sehen können.

Ich hatte Ada Tage und Nächte an der Tür jammern hören und mir zurufen, ich sei grausam und habe sie nicht lieb. Ich hatte sie bitten und flehen hören, man möge sie hereinlassen, damit sie mich pflegen und trösten könnte, und wiederholt Charley daran erinnert, daß sie meinem Liebling nicht öffnen dürfe, selbst nicht, wenn ich im Sterben läge. Und Charley mit ihrer kleinen Hand und ihrem großen Herzen hat in dieser Zeit der Not treu bei mir ausgeharrt und standhaft die Tür verschlossen gehalten. Wie meine Augen besser wurden und das herrliche Licht jeden Tag herrlicher und voller auf mich schien, konnte ich allmählich selber die Briefe lesen, die mein Liebling mir jeden Morgen und Abend schrieb, konnte sie an meine Lippen drücken und an meine Wange legen. – Ich sah meine liebreiche sorgsame kleine Zofe im Zimmer herumgehen und alles aufräumen und hörte, wie sie wieder heiter durch das offne Fenster mit Ada sprach. Ich verstand jetzt, warum es so still im Hause war, und begriff die zarte Rücksicht, die mir alle dadurch bewiesen. Ich konnte wieder in der Seligkeit meines Herzens weinen und fühlte mich in meiner Mattigkeit so glücklich wie vielleicht noch niemals, während ich gesund und stark gewesen.

Allmählich kehrten meine Kräfte zurück. Ich mußte nicht mehr ruhig daliegen und zusehen, was für mich geschah, sondern war imstande, hie und da ein wenig mitzuhelfen, bis ich mich wieder nützlich machen und dem Leben wieder ein Interesse abgewinnen konnte. Wie deutlich erinnere ich mich noch an den herrlichen Nachmittag, als ich mit Kissen gestützt zum ersten Mal im Bett aufrecht saß, um mit Charley einen Freudentee zu trinken. Die Kleine, von frühester Kindheit an wie dazu auf die Welt gekommen, den Schwachen und Kranken zu helfen, war so glücklich und so geschäftig und unterbrach sich so oft in ihren Vorbereitungen, um ihren Kopf an meiner Brust ruhen zu lassen und mich zu liebkosen und unter Freudentränen auszurufen, sie sei so froh, so froh, daß ich endlich sagen mußte: »Charley, wenn du nicht aufhörst, muß ich mich wieder hinlegen, liebes Kind, denn ich bin schwächer, als ich dachte.«

So wurde denn Charley so ruhig wie ein Mäuschen und bewegte sich mit ihrem heitern Gesicht emsig in den beiden Zimmern hin und her, aus dem Schatten in den göttlichen Sonnenschein und aus dem Sonnenschein wieder in den Schatten, während ich ihr friedvoll zusah. Als alle ihre Vorbereitungen fertig waren und der hübsche Teetisch mit seinen kleinen delikaten Speisen, die meinen Appetit reizen sollten, seinem weißen Tischtuch und seinen Blumen – alles von Ada unten liebevoll und schön für mich arrangiert – neben meinem Bett stand, fühlte ich mich standhaft genug, Charley etwas zu sagen, das mich schon lange beschäftigt hatte.

Erst belobte ich sie wegen der Ordnung im Zimmer und machte ihr Komplimente wegen seines Aussehens. Es war so frisch, luftig, fleckenlos und sauber, daß ich kaum glauben konnte, ich hätte darin so lange krank gelegen. Das freute Charley, und ihr Gesicht glänzte noch mehr als vorher.

»Und doch, Charley«, sagte ich und sah mich um, »vermisse ich irgend etwas, an das ich gewohnt war.«

Die arme kleine Charley sah sich ebenfalls um, schüttelte schüchtern den Kopf und tat, als ob sie nichts entdecken könne.

»Hängen die Bilder alle wie früher?«

»Jawohl, alle, Miß.«

»Stehen die Möbel anders, Charley?«

»Außer, wo ich sie weggerückt habe, um mehr Platz zu haben, stehen sie noch alle wie früher, Miß.«

»Und doch vermisse ich irgend etwas Altgewohntes«, sagte ich. »Ah, jetzt weiß ich es, Charley. Es ist der Spiegel.«

Charley sprang vom Tisch auf, als ob sie etwas vergessen hätte, ging in das nächste Zimmer, und ich hörte sie draußen schluchzen.

Ich hatte schon oft daran gedacht und war jetzt meiner Sache gewiß. Ich konnte Gott danken, daß es mich jetzt nicht mehr erschütterte. Ich rief Charley zurück, und als sie kam – anfangs mit einem gezwungnen Lächeln, aber, wie sie näher trat, mit bekümmerter Miene –, schloß ich sie in meine Arme und sagte:

»Es liegt wenig daran, Charley. Ich glaube, ich kann auch ohne mein altes Gesicht recht gut auskommen.«

Ich erholte mich bald soweit, daß ich das Bett verlassen, im Lehnstuhl sitzen oder sogar, auf Charley gelehnt, schwindlig in das nächste Zimmer gehen konnte. Auch in diesem fehlte der Spiegel, aber was ich zu tragen hatte, war deshalb nicht schwerer zu tragen.

Mein Vormund hatte beständig darauf gedrungen, mich zu besuchen, und jetzt war kein Grund mehr, daß ich mir dieses Glück noch länger hätte versagen sollen. Er kam eines Morgens und wollte mich anfangs gar nicht aus seinen Armen lassen. Immer und immer wieder rief er: »Mein liebes, liebes Mädchen!«

Ich hatte längst gewußt, wie hätte es auch anders sein können, welchen tiefen Quell von Liebe und Edelsinn sein Herz barg, und mußte nicht all das geringfügige Leid bei dem Gedanken, eine Stelle in einem solchen Herzen einnehmen zu dürfen, in den Hintergrund treten? Sicherlich! sagte ich mir. Er hat mein Gesicht gesehen und ist sogar noch zärtlicher gegen mich als früher. Er hat mich gesehen und hat mich trotzdem noch lieber als ehedem. Worüber sollte ich da noch traurig sein!

Er setzte sich neben mich aufs Sofa und schlang seinen Arm um mich. Eine kleine Weile saß er so, mit der Hand vor dem Gesicht; aber als er sie sinken ließ, verrieten seine Mienen keine Erregung. Er sah fröhlich aus wie immer.

»Mein kleines Mütterchen«, sagte er, »was war das doch für eine traurige Zeit. Und noch dazu ist das Mütterchen unerbittlich gewesen.«

»Das hat so sein müssen, Vormund.«

»Sein müssen ?« wiederholte er liebreich. »Natürlich. Ja, du hast recht. Aber erstlich waren Ada und ich ganz und gar einsam und unglücklich, und dann ist deine Freundin Caddy beständig zu allen Zeiten gekommen, und alle im Haus waren elend und traurig, und sogar der arme Rick hat geschrieben – und noch dazu an mich – aus Sorge um dich.«

Ich hatte in Adas Briefen von Caddy gehört, aber nichts von Richard. Ich sagte ihm das.

»Nun ja, liebes Kind«, erklärte er mir. »Ich habe es für das Beste gehalten, ihr nichts zu sagen.«

»Du legtest Nachdruck darauf, daß er an dich geschrieben hat. Es ist doch ganz natürlich von ihm. Er hätte keinem bessern Freund schreiben können.«

»Er ist vielleicht andrer Meinung«, entgegnete mein Vormund. »Die Wahrheit ist, daß er an mich scheinbar nur widerwillig schrieb, und zwar nur in der Hoffnung, über dich Nachricht zu bekommen. Er schrieb kalt, stolz und gereizt. Aber wir müssen da Nachsicht üben, kleines Frauchen. Er ist nicht zu tadeln. ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ hat eben zu sehr auf ihn eingewirkt und läßt mich ihm in einem andern Licht erscheinen. Ich habe erfahren, wie oft der Prozeß so Schlimmes und noch viel Schlimmeres angerichtet hat. Wenn zwei Engel darein verwickelt wären, glaube ich, würde es sogar ihrem Charakter schaden.«

»Deinen Charakter, Vormund, hat es jedenfalls nicht verändert.«

»O doch, liebes Kind«, sagte er lachend. »Er hat aus Südwind Ostwind gemacht, ich weiß nicht, wie oft. Rick hegt Mißtrauen und Argwohn gegen mich, geht zu Advokaten, die ihn lehren, mir mit Verdacht zu begegnen. Er hört von einander widerstreitenden Interessen reden und Ansprüchen, die sich mit den seinen angeblich nicht vertragen, und was sonst noch alles. Weiß der Himmel, wenn ich sie für meinen Teil aufgeben könnte, aus diesem Wust von Zopfflechterei, der meinen unglücklichen Namen seit so langer Zeit trägt, herauskommen oder alles dadurch ein für alle Mal beseitigen könnte, ich würde es, weiß Gott, diese Stunde noch tun. Und lieber möchte ich dem armen Rick seinen ursprünglichen Charakter wiedergeben, als all das Geld zu besitzen, das die toten Prozessierenden, denen auf dem Rad des Kanzleigerichts Herz und Seele gebrochen worden sind, bei dem Generalrechnungsführer haben liegen lassen müssen, ohne auch nur einen Pfennig davon gehabt zu haben. Und glaube mir, liebes Kind, das wäre Geld genug, um eine Pyramide zum Andenken an die himmelschreiende Verkommenheit des Kanzleigerichts damit anzufüllen.«

»Ist es denn wirklich möglich, Vormund?« fragte ich erstaunt, »daß Richard argwöhnisch gegen dich sein kann?«

»Ach, meine Liebe, meine Liebe! Das schleichende Gift dieser Mißbräuche hat leider die Eigenschaft, solche Krankheiten wieder zu erzeugen, Richards Blut ist infiziert, und alles verliert in seinen Augen sein natürliches Aussehen. Nein, ihn trifft keine Schuld.«

»Aber es ist ein schreckliches Unglück, Vormund.«

»Es ist ein schreckliches Unglück, Mütterchen, in den Kreis der Einflüsse eines Prozesses wie ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ zu geraten. Ich kenne kaum ein größeres. Schritt für Schritt hat er sich verleiten lassen, sich auf dieses gebrechliche Rohr zu stützen, das seine Fäulnis seiner ganzen Umgebung mitteilt. Ich sage abermals aus ganzem Herzen, wir müssen mit dem armen Rick Geduld haben und dürfen ihm keinen Vorwurf machen. Was für eine Unzahl fröhlich schlagender Herzen gleich dem seinen habe ich nicht schon zu meiner Zeit unter demselben unheilvollen Einfluß anders werden sehen.«

Ich mußte dennoch meine Verwunderung und mein Bedauern aussprechen, daß meines Vormunds wohlwollende und uneigennützige Absichten so wenig Erfolg gehabt hatten.

»So dürfen wir heute noch nicht sprechen, Mütterchen«, erwiderte er heiter. »Ada ist, hoffe ich, glücklicher jetzt, und das ist schon viel. Ich glaubte, diese beiden jungen Leute und ich könnten Freunde sein, anstatt einander mißtrauende Feinde, und imstande, den Folgen des Prozesses die Stirn zu bieten und zu zeigen, wir wären zu stark für ihn. Aber das war zuviel verlangt, ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ war der Vorhang an Ricks Wiege.«

»Können wir denn nicht hoffen, Vormund, daß ihm ein wenig Erfahrung beweist, auf was für eine trügerische und elende Sache er baut?«

»Wir wollen das hoffen, liebe Esther, und wollen auch hoffen, daß die Lehre nicht zu spät kommt. Aber keinesfalls dürfen wir zu hart über ihn urteilen. Es gibt heutzutage sicherlich nur wenig erwachsne und gereifte und gewiß auch gute Menschen auf Erden, die, wenn sie als Klienten in diesen Gerichtshof kämen, nicht binnen drei Jahren, nein, binnen zwei, vielleicht sogar in einem Jahr ihren guten Charakter einbüßten. Wie können wir uns da über den armen Rick wundern?«

Ein so unglücklicher junger Mann kann anfangs nicht glauben – wie könnte es denn auch anders sein –, daß das Kanzleigericht wirklich so verkommen ist. Voll Aufregung und ewig hin und her geworfen, erwartet er von ihm, daß es etwas für seine Sache tue und zu einem Abschluß bringen werde. Es verschleppt, enttäuscht, martert und quält ihn, zerreibt stückweise seine sanguinischen Hoffnungen und seine Geduld, Faden um Faden, aber immer noch hofft er und klammert sich daran und findet die ganze übrige Welt trügerisch und hohl. »Ja, so ist es leider! Doch genug davon jetzt, liebes Kind!«

Mein Vormund war mir die ganze Zeit über und schon in meiner Kindheit eine Stütze gewesen, und sein liebreiches Wesen ergriff mich jetzt so sehr, daß ich meinen Kopf an seine Schulter legte, voll Liebe, als wäre er mein Vater. Ich faßte innerlich den Entschluß, Richard aufzusuchen, sobald ich wieder kräftig genug dazu sein würde, und mich zu bemühen, ihm die Augen zu öffnen.

»Wir haben, dächte ich, bessere Unterhaltungsthemen als dieses«, sagte mein Vormund, »bei so einem Freudenfest, wie es die Genesung meines geliebten Mütterchens ist. Und ich hatte den Auftrag, gleich mit dem ersten Wort eines derselben zu erwähnen. Wann soll dich Ada besuchen, liebes Kind?«

Ich hatte auch schon daran gedacht. Ein wenig in Verbindung mit dem Gedanken an den Spiegel, aber nicht viel –, wußte ich doch, daß mein Liebling durch mein entstelltes Gesicht nicht anders zu mir sein würde.

»Da ich Ada so lang habe entbehren müssen«, fing ich nach einer Weile an, »glaube ich, wäre es das beste, wenn ich noch ein bißchen auf meinem alten Entschluß beharrte und das Haus hier auf einige Zeit verließe, ehe ich sie wiedersehe. Wenn Charley und ich eine Wohnung auf dem Lande bezögen und ich eine Woche vorläufig dort wohnen könnte, um mich in der frischen Luft ein wenig zu erholen, glaube ich, würde es besser für uns sein.«

Ich hoffe, es war kein kleinlicher Wunsch von mir, daß ich mich selbst erst etwas mehr an mein verändertes Äußeres gewöhnen wollte, bevor ich dem lieben Kind, das ich mit so heißer Sehnsucht wiederzusehen wünschte, vor die Augen träte. Aber es ist die Wahrheit. Ich hegte wirklich diesen Wunsch und war überzeugt, daß mein Vormund mich verstehen werde.

»Unser verzognes kleines Frauchen«, sagte er, »soll, wenn sie schon so versessen drauf ist, ihren Willen haben, wenn es auch Tränen kosten wird. Da hätten wir zum Beispiel Boythorn. Der ritterliche Bursche hat mit so leidenschaftlichen Gelübden, wie sie vielleicht noch kein Papier je aufgenommen hat, bei Himmel und Erde geschworen, wenn du nicht zu ihm kämest und sein ganzes Haus bezögest, das er übrigens nur zu diesem Zweck bereits geräumt hat, wolle er es niederreißen und keinen Stein auf dem andern lassen.«

Und mein Vormund legte einen Brief in meine Hand, der nicht wie gewöhnlich mit: »Mein lieber Jarndyce« begann, sondern anfing:

»Ich schwöre, daß, wenn Miß Summerson nicht zu mir kommt und mein Haus bezieht, das ich heute um ein Uhr mittags für sie räume, usw. usw.«

und dann mit der größten Ernsthaftigkeit und den nachdrücklichsten Worten dieselbe Erklärung wiederholte. Wir mußten herzlich über den Brief lachen, so sehr wir auch Mr. Boythorns liebenswürdigen Vorschlag zu schätzen wußten, und kamen überein, daß ich ihm morgen früh einen Dankbrief schreiben und sein Anerbieten annehmen sollte. Es war mir höchst angenehm, denn von allen Orten, die ich mir hätte ausdenken können, war mir keiner so erwünscht als Chesney Wold.

»Nun, kleine Hausfrau«, sagte mein Vormund und sah auf die Uhr, »meine Zeit wurde mir, ehe ich heraufkam, genau zugemessen und ist jetzt bis zur letzten Minute verstrichen. Du mußt dir vorläufig noch Ruhe gönnen. Ich habe nur noch eine Bitte. Die kleine Miß Flite faßte nämlich auf das Gerücht, daß du krank wärest, auf der Stelle den Entschluß, hierher zu wandern – zwanzig Meilen in Tanzschuhen, die arme Alte –, um sich nach dir zu erkundigen. Ein wahres Glück, daß wir zu Hause waren, sonst hätte sie unverrichteter Dinge wieder umkehren müssen.«

Die alte Verschwörung, mich glücklich zu machen! Jedermann schien dabei beteiligt zu sein!

»Wenn es dir nun nicht unangenehm ist, die harmlose kleine Alte einmal nachmittags vorzulassen, ehe du Boythorns sonst dem Untergang geweihtes Haus vor Zerstörung bewahren gehst, glaube ich, würdest du sie stolzer und zufriedener damit machen, als ich – trotzdem ich den ausgezeichneten Namen Jarndyce führe – in meinem ganzen Leben imstande wäre.«

Ich bezweifle nicht, daß er wußte, wie besänftigend und heilsam der Anblick des armen unglücklichen Geschöpfs zu jener Zeit auf mein Gemüt wirken werde. Ich fühlte es, noch während er mit mir sprach. Ich konnte ihm nicht herzlich genug versichern, wie bereit ich sei, sie zu empfangen. Ich hatte sie immer bemitleidet; vielleicht niemals so sehr wie jetzt. Ich war stets froh gewesen, sie in ihrem Unglück wenigstens einigermaßen trösten zu können; aber nie, nie halb so sehr wie jetzt.

Wir verabredeten also einen Tag, wo Miß Flite mit der Landkutsche zu uns kommen und mein Rekonvaleszentenmittagessen mit mir teilen sollte.

Als mein Vormund mich verließ, wendete ich auf meinem Lager mein Gesicht ab und betete zu Gott um Verzeihung, daß ich meine kleine Prüfung, von solchen Segnungen umgeben, nicht leichter trug. Die kindliche Bitte an jenem längst vergangnen Geburtstag, wo ich gelobt hatte, zufrieden, fleißig und treuen Herzens zu sein und Gutes zu erweisen, wann immer ich könnte, und mir Liebe zu erwerben, wenn es mir gelänge, kehrte mit einem vorwurfsvollen Gedanken an alles seitdem genoßne Glück und all die mir erwiesne Liebe in meine Seele zurück. Wenn ich jetzt schwach werden sollte, was hätten mir alle diese gnädigen Schickungen genützt? Ich wiederholte das alte kindische Gebet in seinen alten kindischen Worten und fand, daß es mir Frieden gab wie damals.

Mein Vormund besuchte mich von da an jeden Tag. Nach Verlauf einer Woche konnte ich in den beiden Zimmern herumgehen und hinter dem Vorhang hervor lange mit Ada sprechen. Aber ich zeigte mich ihr nie, denn ich hatte noch nicht den Mut dazu.

An dem festgesetzten Tag kam Miß Flite. Die arme kleine Alte eilte, ihr gewöhnliches würdevolles Benehmen ganz beiseite lassend, in mein Zimmer und rief, aus tiefstem Herzen schluchzend: »Meine liebe Fitz-Jarndyce!«, fiel mir um den Hals und küßte mich wohl zwanzig Mal.

»Mein Gott!« sagte sie und fuhr mit der Hand in ihren Strickbeutel. »Ich habe hier nichts als Dokumente, meine liebe Fitz-Jarndyce. Sie müssen mir ein Taschentuch leihen.«

Charley gab ihr eins, und das gute Geschöpf machte den reichlichsten Gebrauch davon, denn sie hielt es mit beiden Händen vor die Augen und weinte so die nächsten zehn Minuten lang.

»Aus Freude, meine liebe Fitz-Jarndyce«, versicherte sie dabei unaufhörlich. »Nicht etwa vor Schmerz. Vor Freude, Sie wieder gesund zu sehen. Vor Freude, die Ehre zu haben, Sie besuchen zu dürfen. Ich habe Sie noch viel lieber als den Kanzler. Obgleich ich regelmäßig den Gerichtssitzungen beiwohne. Übrigens, meine Liebe, da wir gerade von Taschentüchern sprechen…«

Sie fing einen Blick von Charley auf, die sie vorher von der Kutsche abgeholt hatte. Charley sah mich an und schien ein wenig beunruhigt.

»Ja, richtig«, sagte Miß Flite, »ja, richtig. Wahrhaftig! Im höchsten Grade indiskret von mir, darauf zu sprechen zu kommen. Meine liebe Miß Fitz-Jarndyce, unter uns gesagt, ich fürchte, ich bin manchmal ein wenig – zerstreut, wissen Sie.« – Sie deutete auf ihre Stirn – »Es ist weiter nichts.«

»Was wollten Sie mir denn sagen?« fragte ich lächelnd, denn ich sah, daß sie gern fortfahren wollte. »Sie haben mich neugierig gemacht, und ich lasse mich jetzt nicht so ohne weiteres abspeisen.«

Miß Flite sah in ihrem Dilemma Charley hilfesuchend an und freute sich dann über die Maßen, als Charley sagte: »Wenn Sie erlauben, Maam, aber es ist wohl am besten, Sie erzählen es selber.«

»Wie klug unsre junge Freundin ist«, sagte sie zu mir in ihrer geheimnisvollen Weise. »Winzig klein. Aber s-eh-r klug. Also, meine Liebe, eine hübsche kleine Anekdote. Weiter nichts. Aber ich halte sie für reizend. Wer, glauben Sie wohl, kam hinter uns her in der Landkutsche? Eine arme Person in einem höchst unmodischen Hut…«

»Jenny, wenn Sie erlauben, Miß«, erklärte Charley.

»Ganz richtig«, stimmte Miß Flite lebhaft bei. »Jenny. Jawohl. Und was erzählt sie unsrer jungen Freundin? Daß sich in ihrer Hütte eine verschleierte Dame nach dem Befinden meiner lieben Fitz-Jarndyce erkundigte und als kleines Andenken ein Taschentuch mitgenommen hat, bloß, weil es meiner liebenswürdigen Fitz-Jarndyce gehörte. Bloß deswegen nahm es die verschleierte Dame mit.«

»Wenn Sie erlauben, Miß«, erklärte mir Charley, als ich sie verwundert anblickte, »Jenny sagte, als ihr Kind starb, hätten Sie ein Taschentuch zurückgelassen. Sie hat es aufgehoben mit den andern kleinen Sachen. Ich glaube, wenn Sie erlauben, Miß, nicht nur, weil es das tote Kind zugedeckt hat, sondern weil es von Ihnen stammt.«

»Winzig klein«, flüsterte Miß Flite und machte allerhand merkwürdige Gesten vor ihrer Stirn, um auszudrücken, wie gescheit Charley sei. »Aber ausnehmend klug! Und so klar! Meine Liebe, sie drückt sich klarer aus als der beste Advokat, den ich jemals gehört habe.«

»Ja, Charley«, entgegnete ich. »Ich erinnere mich. Und weiter?«

»Ja, Miß, dies Taschentuch hat die Dame mitgenommen. Und Jenny wünscht, Sie wissen zu lassen, daß sie es nicht für einen Haufen Geld weggegeben hätte, aber die Dame hat es einfach genommen und Geld dafür hingelegt. Jenny kennt sie gar nicht, wenn Sie erlauben, Miß.«

»Wer mag das nur gewesen sein?«

»Meine Liebe«, meinte Miß Flite und brachte mit ihrer geheimnisvollen Miene ihre Lippen ganz nahe an mein Ohr. »Meiner Meinung nach – verraten Sie es unsrer kleinen Freundin nicht – war es des Lordkanzlers Gemahlin. Er ist verheiratet, müssen Sie wissen. Und wie ich höre, hat er ein Höllenleben bei ihr auszuhalten. Sie wirft Seiner Lordschaft Akten ins Feuer, meine Liebe, wenn er den Juwelier nicht bezahlen will.«

Ich machte mir damals nicht viel Gedanken über die unbekannte Dame und glaubte, es könnte vielleicht Caddy gewesen sein. Außerdem wurde meine Aufmerksamkeit ganz von meinem Besuch in Anspruch genommen. Von der Fahrt ganz durchgefroren und ausgehungert, hatte sie, als das Mittagessen aufgetragen wurde, einigen Beistand nötig, um sich zu ihrer Befriedigung mit einer jämmerlichen alten Schärpe und einem Paar sehr abgenutzter und oft geflickter Handschuhe, die, in Papier eingeschlagen, die Reise mitgemacht hatten, herauszuputzen. Ich hatte ihr außerdem bei dem Mahl, das aus einem Gericht Fisch, einem gebratenen Huhn, Gemüse, Madeira und Mehlspeise bestand, vorzulegen, und es war so hübsch anzusehen, wie sie es sich schmecken ließ und mit welchem Anstand und welcher Feierlichkeit sie sich dabei benahm, daß ich bald an weiter nichts dachte.

Als wir fertig waren und unser bescheidenes Dessert vor uns stand, mit Blumen geschmückt von den Händen meines Lieblings, war Miß Flite so heiter gestimmt und gesprächig, daß ich auf den Einfall kam, sie auf ihre eigne Lebensgeschichte zu bringen, denn ich wußte, daß sie immer gern von sich sprach.

Ich fing mit der Frage an: »Sie haben den Lordkanzler wohl schon viele Jahre besucht, Miß Flite?«

»Oh, viele, viele, viele Jahre, meine Liebe. Aber ich erwarte ein Urteil. Binnen kurzem.«

Selbst aus ihrem hoffnungsfreudigen Wesen blickte jetzt eine schmerzliche Spannung durch und ließ mich zweifeln, ob ich recht getan hätte, die Sache erwähnt zu haben. Ich nahm mir vor, lieber nicht mehr davon anzufangen.

»Mein Vater erwartete schon ein Urteil«, fuhr Miß Flite nach einer Weile fort. »Mein Bruder, meine Schwester, sie alle erwarteten ein Urteil. Dasselbe, das ich erwarte.«

»Sie sind alle…«

»Jaaaa. Tot natürlich, meine Liebe.«

Da ich sah, daß sie durchaus fortfahren wollte, hielt ich es für das Beste, doch auf das Thema einzugehen, anstatt ihm auszuweichen.

»Wäre es nicht vielleicht klüger«, sagte ich, »nicht länger auf dieses Urteil zu warten?«

»Natürlich, meine Liebe«, antwortete sie auf der Stelle, »wäre es das.«

»Und den Gerichtshof nicht länger mehr zu besuchen.«

»Ebenso natürlich. Es ist sehr aufreibend, immer auf etwas zu warten, das nie kommt, meine liebe Fitz-Jarndyce! Aufreibend bis auf die Knochen, versichere ich Ihnen.«

Sie zeigte mir einen Augenblick ihren Arm, der wirklich schrecklich abgezehrt aussah.

»Aber, meine Liebe«, fuhr sie geheimnisvoll fort, »der Ort übt eine schreckliche Anziehungskraft aus. Still! Erwähnen Sie nichts davon gegen unsre kleine Freundin, wenn sie hereinkommt. Es könnte sie erschrecken. Mit gutem Grund. Der Ort übt eine grausame Anziehungskraft aus. Sie können ihn nicht verlassen. Sie müssen auf etwas warten.«

Ich versuchte, ihr das auszureden. Sie hörte mich geduldig und lächelnd an, war aber gleich mit ihrer Antwort zur Hand.

»Jajaja! Sie denken so, weil ich etwas zerstreut bin. Seh-r absurd, so zerstreut zu sein, nicht wahr? Und seh-r konfus. Im Kopf. Es kommt mir so vor. Aber, meine Liebe, ich bin seit vielen Jahren dort und habe scharf acht gegeben. Es geht von dem Szepter und dem Siegel auf dem Tisch aus.«

»Wieso von dem Szepter und dem Siegel?« fragte ich.

»Sie saugen und ziehen! Sie ziehen die Leute an, meine Liebe. Ziehen den Frieden aus ihrer Seele. Den Verstand. Das gute Aussehen. Die guten Eigenschaften ziehen sie heraus. Ich habe gefühlt, wie sie mir sogar in der Nacht die Ruhe entzogen. Kalte und glitzernde Teufel.«

Sie tippte verschiedne Male auf meinen Arm und nickte mir gutmütig zu, als liege ihr wohl viel daran, mich zu überzeugen, daß ich aber keine Ursache habe, mich vor ihr zu fürchten, wenn sie mir so düstere und schreckliche Geheimnisse anvertraute.

»Warten Sie «, sagte sie, »ich will Ihnen meine eigne Geschichte erzählen. Ehe sie mich anzogen, die glitzernden Teufel, womit beschäftigte ich mich da? – Mit Tambourinspielen? Nein, Tambourarbeit allerdings. Ich und meine Schwester machten nämlich Tambourierstickerei. Unser Vater und unser Bruder waren Baumeister. Wir wohnten alle zusammen. Seh-r respektabel, meine Liebe. Zuerst zogen sie meinen Vater weg. Langsam. Die ganze Häuslichkeit zog es mit ihm. In wenigen Jahren war er ein mürrischer, verbitterter, bankrotter Mann, der für niemanden ein gutes Wort oder einen freundlichen Blick mehr hatte.

Früher war er so ganz anders gewesen, Fitz-Jarndyce! Es zog ihn ins Schuldgefängnis. Dort starb er. Dann zog es unsern Bruder – rasch – zur Trunksucht und Herabgekommenheit. Und Tod. Dann zog es meine Schwester. Still. Fragen Sie mich nicht, zu was. Dann wurde ich krank. Und darbte. Und ich hörte, wie schon oft vorher, daß all das das Werk des Kanzleigerichts sei. Als ich mich erholte, sah ich mir das Ungeheuer an. Und dann entdeckte ich, wie es war, und es zog mich, dort zu bleiben.«

Nach und nach, wie sie mit der kurzen Schilderung ihres Lebens fertig wurde, mit unterdrückter gepreßter Stimme sprechend, als stünde all das Leiden noch in frischer Erinnerung vor ihr, und zu Ende kam, nahm sie ihre gewohnte Miene liebenswürdiger Wichtigtuerei wieder an.

»Sie schenken mir nicht vollen Glauben, meine Liebe. Gut, gut. Eines Tages werden Sie es schon tun. Ich bin ein wenig zerstreut. Aber ich habe beobachtet. Ich habe manches neue Gesicht arglos in den Bereich des Einflusses des Szepters und des Siegels kommen sehen in diesen vielen Jahren. Meinen Vater. Meinen Bruder. Meine Schwester. Mich selbst. Ich höre Konversationskenge und alle übrigen zu den neuen Gesichtern sagen: Das ist die kleine Miß Flite. Oh, Sie sind zum ersten Mal hier? Da müssen wir Ihnen doch die kleine Miß Flite vorstellen! Sehr gut! Und ich bin über die Ehre natürlich sehr stolz. Und wir alle lachen. Aber, Fitz-Jarndyce, ich weiß, was vor sich geht. Ich weiß viel besser als sie, wann die Anziehungskraft zu wirken begonnen hat. Ich kenne die Zeichen, meine Liebe. Ich sah den Anfang bei Gridley. Und ich sah das Ende. Meine liebe Fitz-Jarndyce«, sagte sie wieder mit leiserer Stimme, »ich sah, wie es anfing bei unserm Freund, dem Mündel in Sachen Jarndyce. Sagen Sie doch, man solle ihn zurückhalten. Oder es wird ihn ins Verderben ziehen.«

Einige Augenblicke lang sah sie mich schweigend an, dann wurde ihre Miene langsam wieder ein Lächeln. Sie schien zu fürchten, sie habe mir zu trübe Dinge erzählt, und schien gleichzeitig den Zusammenhang zu verlieren, denn sie sagte höflich und nippte dabei an ihrem Glas Wein: »Ja, meine Liebe, wie ich schon sagte, ich erwarte ein Urteil. Binnen kurzem. Dann schenke ich meinen Vögeln die Freiheit wieder, wie Sie wissen, und verteile Güter.«

Ihre Anspielung auf Richard ergriff mich tief. Ihre verkümmerte Gestalt war trotz des unzusammenhängenden Sinns ihrer Rede ein furchtbares und trauriges Beispiel. Zum Glück für sie war sie jetzt wieder seelenvergnügt und wurde wieder ganz Lächeln und Nicken.

»Aber, meine Liebe«, sagte sie heiter und legte ihre Hand auf die meine, »Sie haben mir noch nicht wegen meines Arztes gratuliert. Wirklich, noch nicht ein einziges Mal.«

Ich mußte gestehen, daß ich nicht recht wußte, was sie meinte.

»Wegen meines Arztes, Mr. Woodcourt, meine Liebe, der so außerordentlich aufmerksam zu mir war! Obgleich er mir seine Dienste gratis zur Verfügung stellte. Bis der Tag des Gerichts kommt. Ich meine den Tag des Urteils, der den Zauber vernichtet, den Szepter und Siegel auf mich ausüben.«

»Mr. Woodcourt ist jetzt so weit weg«, sagte ich, »daß ich glaubte, eine solche Gratulation käme verspätet, Miß Flite.«

»Aber, mein Kind«, entgegnete sie, »ist es denn möglich, daß Sie nicht wissen, was geschehen ist?«

»Was denn? Ich weiß von nichts.«

»Es war doch in jedermanns Munde, meine liebe Fitz-Jarndyce. Und Sie wissen es wirklich nicht?«

»Nein. Sie vergessen, wie lange ich hier krank lag.«

»Sehr wahr. Meine Liebe, wirklich, sehr wahr. Ich muß mich selbst tadeln. Aber mein Gedächtnis ist mit allem andern aus mir herausgezogen worden von… Sie wissen schon. Seh-r starker Einfluß, nicht wahr? Ja, ja, meine Liebe. Dort im indischen Ozean hat ein schrecklicher Schiffbruch stattgefunden.«

»Mr. Woodcourt ist untergegangen!!!«

»Regen Sie sich nicht auf, meine Liebe. Er ist gerettet. Eine grauenerregende Szene. Der Tod in allen Gestalten. Hunderte von Toten und Sterbenden. Feuer, Sturm und Finsternis. Eine Menge von Ertrinkenden auf einen Felsen geworfen. Dort, und die ganze Zeit über, war mein lieber Arzt ein Held. Ruhig und tapfer in jeder Gefahr. Rettete vielen das Leben, klagte nie über Hunger und Durst, hüllte Nackte in seine eignen Kleider, übernahm die Führung, riet ihnen, was sie tun sollten, pflegte die Kranken, begrub die Toten und brachte die armen Überlebenden endlich in Sicherheit. Meine Liebe, die armen ausgehungerten Geschöpfe beteten ihn fast an. Sie fielen vor ihm auf die Knie und segneten ihn, als sie endlich gerettet wurden. Das ganze Land spricht davon. Warten Sie. Wo ist mein Dokumentenbeutel? Ich hab es mit. Und Sie sollen es lesen, Sie sollen es lesen.«

Und ich las die ganze herrliche Geschichte.

Wenn auch nur sehr langsam und unvollkommen damals, denn meine Augen waren so getrübt, daß ich die Worte nur schwer unterscheiden konnte, und ich weinte soviel, daß ich oft den langen Zeitungsausschnitt weglegen mußte. Ich fühlte mich so glücklich, den Mann gekannt zu haben, der so edle und tapfere Taten vollbracht, sein Ruhm erfüllte mich mit solcher Begeisterung, und ich bewunderte ihn so sehr wegen dessen, was er getan, daß ich die sturmgepeitschten Unglücklichen, die vor ihm auf die Knie gesunken waren und ihn als ihren Retter gesegnet hatten, beneidete. Ich selbst hätte vor ihm niederknien und ihn segnen mögen in meinem Entzücken, daß er sich so wahrhaft edel und tapfer benommen. Ich fühlte, daß niemand – weder Mutter, Schwester noch Gattin – ihn höher halten könnte als ich. Ja, als ich, das fühlte ich.

Die arme kleine Miß Flite schenkte mir den Bericht, und als sie bei herannahendem Abend aufstand, um sich zu verabschieden, um nicht die Rückfahrt mit der Landkutsche zu versäumen, sprach sie noch immer von dem Schiffbruch. Ich war meinerseits noch zu sehr außer Fassung, um ihn in allen seinen Einzelheiten zu begreifen.

»Meine Liebe«, sagte sie, als sie Schärpe und Handschuhe sorgfältig eingewickelt hatte, »mein wackerer Arzt sollte einen Titel bekommen. Jedenfalls wird das auch geschehen. Sie sind doch auch der Meinung?«

»Daß er gewiß einen verdiente, ja. Daß er einen bekommen wird, nein.«

»Warum nicht, Fitz-Jarndyce?« fragte sie etwas gereizt.

Ich erklärte ihr, es sei in England nicht Sitte, für verdienstvolle Taten in Friedenszeiten, wie bedeutend sie auch immer wären, Titel zu verleihen. Außer, gelegentlich, wenn diese Taten in der Aufhäufung irgendeiner großen Summe Geldes bestünden.

»Aber, Gott im Himmel«, sagte Miß Flite, »wie können Sie so etwas sagen! Sie wissen doch, meine Liebe, daß die größten Zierden Englands in Wissenschaft, Kunst, Humanität und Fortschritten aller Art adlig geworden sind. Blicken Sie um sich, meine Liebe. Jetzt müssen Sie ein wenig zerstreut sein, glaube ich, wenn Sie nicht wissen, daß das allein der Grund ist, weshalb in England der Adel nie aussterben wird.«

Ich fürchte, sie glaubte wahrhaftig, was sie sagte. Es gab Augenblicke, wo sie wirklich ganz verrückt war.

Und jetzt muß ich wohl das kleine Geheimnis verraten, das ich bis jetzt für mich zu behalten versucht habe. Ich hatte mir manchmal gedacht, Mr. Woodcourt liebe mich und würde, wenn er reicher gewesen wäre, es mir vielleicht vor seiner Abreise gesagt haben. Ich dachte mir manchmal, ich würde mich gefreut haben, wenn er es mir gesagt hätte. Aber wieviel besser war es jetzt, daß es nicht der Fall gewesen! Was hätte ich leiden müssen, wenn ich ihm hätte schreiben und sagen müssen, daß die armseligen Gesichtszüge, die er als die meinen gekannt, jetzt so verändert seien und daß ich ihn freiwillig seiner Verpflichtung gegen eine, die er nie gesehen, so verändert habe sie sich, entbinde. Oh, wieviel besser war es so! Nichts war jetzt ungeschehen zu machen, für mich keine Kette zu lösen, für ihn keine Kette zu schleppen, und ich konnte, so es Gott gefiel, meinen einfachen Weg auf dem Pfade der Pflicht verfolgen und er seinen besseren Weg auf der breiteren Straße gehen.

36. Kapitel


36. Kapitel

Chesney Wold

Charley und ich traten unsre Reise nach Lincolnshire nicht allein an. Mein Vormund hatte es sich nicht nehmen lassen, mich im Auge zu behalten bis zu unsrer sichern Ankunft in Mr. Boythorns Haus. So begleitete er uns, und wir waren zwei Tage unterwegs. Mir erschien jeder Lufthauch, jeder Duft, jede Blume und jedes Blatt, jeder Grashalm und jede vorüberziehende Wolke und alles in der Natur schöner und wunderbarer als je. Das war mein erster Gewinn, den ich aus meiner Krankheit zog. Wie wenig hatte ich verloren, wenn die ganze weite Welt so voller Wonnen für mich war!

Da mein Vormund gleich wieder zurückreisen wollte, vereinbarten wir bereits auf der Hinfahrt einen Tag, wo mein Liebling mich besuchen kommen sollte. Ich schrieb ihr einen Brief, den er ihr zu geben versprach, und er schied von uns eine halbe Stunde nach unsrer Ankunft an unserm Reiseziel. Es war ein schöner Frühsommerabend.

Hätte eine gute Fee für mich das Haus mit einem Wink ihres Zauberstabes gebaut und wäre ich eine Prinzessin und ihr Patenkind gewesen, hätte man mich darin nicht mehr ehren können. So viele Vorbereitungen hatte man für mich getroffen und überall eine so liebevolle Erinnerung an all die Kleinigkeiten, die ich liebte, an den Tag gelegt, daß ich mich wohl ein Dutzend Mal, von Rührung überwältigt, hätte hinsetzen können, ehe noch die Hälfte der Zimmer besichtigt war. Ich tat jedoch etwas Vernünftigeres. Ich führte nämlich Charley überall herum. Charleys Entzücken beruhigte mich, und nachdem wir einen Spaziergang im Garten gemacht und Charley ihr ganzes Vokabularium von Bewunderungsausdrücken erschöpft hatte, fühlte ich mich wieder stillglücklich. Es war mir ein großer Trost, nach dem Tee zu mir sagen zu können: Liebe Esther, ich glaube, du bist jetzt verständig genug, um dich hinzusetzen und einen Dankesbrief an deinen liebenswürdigen Wirt zu schreiben. Er hatte einen Bewillkommnungsbrief an mich zurückgelassen, der so sonnig war wie sein eignes Gesicht, und seinen Vogel meiner Obhut anvertraut, worin ich das höchste Zeichen seines Vertrauens sah. Ich schrieb ihm ein Billett nach London, erzählte ihm, was alle seine Lieblingspflanzen und Bäume machten und wie der wunderbarste aller Vögel mir mit seinem Gezirp auf gastfreundschaftlichste Weise die Honneurs des Hauses gemacht habe und jetzt, nachdem er zum unsäglichen Entzücken meiner kleinen Zofe auf meiner Schulter gesungen, in der gewöhnlichen Ecke seines Käfigs schlafen gegangen sei. Ob er dabei träume oder nicht, sei ich außerstande zu berichten.

Nachdem ich meinen Brief beendet und auf die Post geschickt hatte, blieb mir viel mit dem Auspacken und Ordnen meiner Sachen zu tun, und ich schickte deshalb Charley zeitig zu Bett, da ich ihrer diesen Abend nicht weiter bedürfe.

Ich hatte nämlich noch nicht in den Spiegel gesehen und auch meinen eignen nicht zurückverlangt. Deshalb wollte ich allein sein und sagte mir, wie ich jetzt in meinem Zimmer ungestört war: Esther, wenn du glücklich sein und ein Recht haben willst, zu beten, treu und wahr zu bleiben, mußt du jetzt Wort halten. Ich war fest entschlossen, es zu halten, aber ich setzte mich erst eine Weile hin, um mir all das Gute, das mir widerfahren, nochmals vor Augen zu führen.

Das Haar hatte man mir nicht abgeschnitten, obgleich es mehr als einmal gefährdet gewesen war. Es war noch lang und stark. Ich löste es, ließ es herunterfallen und trat vor den Toilettenspiegel. Man hatte ihn mit einem Musselinevorhang verhüllt. Ich zog die Gaze zurück. Ich hatte mich sehr verändert – ach, sehr, sehr. Anfangs war mir mein Gesicht so fremd, daß ich es fast mit den Händen bedeckt und wahrscheinlich zurückgefahren wäre, wenn ich vorher meine Gedanken nicht gesammelt hätte. Bald aber gewöhnte ich mich mehr daran und lernte dadurch die Größe der Veränderung nur noch genauer kennen.

Sie war nicht von der Art, wie ich sie erwartete. Ich war nie schön gewesen und hatte mich nie dafür gehalten, aber ich hatte doch ganz anders ausgesehen. Jetzt war alles verschwunden. Es gelang mir mit ein paar durchaus nicht bittern Tränen, mich damit abzufinden, und ich band mir das Haar für die Nacht auf und konnte mit wirklich dankbarem Herzen vor dem Spiegel stehen.

Eine Sache beunruhigte mich, und ich mußte lange darüber nachdenken, ehe ich einschlief. Ich hatte den Blumenstrauß von Mr. Woodcourt aufgehoben, die Blumen getrocknet und in ein Buch, das mir teuer war, gelegt. Niemand wußte das, selbst Ada nicht. Ich schwankte, ob ich recht täte, ein Geschenk aufzubewahren, das er früher einer andern gegeben – ob es edel gegen ihn war. Ich wollte selbst in den heimlichsten Tiefen meiner Seele edel gegen ihn sein, weil ich ihn einst hätte lieben und ihm mein Herz ganz widmen können. Endlich kam ich zu dem Schluß, daß ich es behalten dürfte, wenn auch nur als eine Erinnerung an etwas, das unwiderruflich vorüber war.

Ich stand absichtlich am nächsten Morgen zeitig auf, um vor dem Spiegel sitzen zu können, wenn Charley wie gewöhnlich auf den Zehenspitzen hereinkäme.

»O Gott, Miß!« rief sie und fuhr zurück, als sie mich so sah.

»Ja, Charley«, sagte ich und steckte mir ruhig das Haar auf. »Ich befinde mich ganz wohl dabei und fühle mich vollkommen glücklich.«

Ich sah, welche Last ihr von der Seele fiel. Aber bei mir war die Erleichterung noch bei weitem größer. Ich kannte jetzt das Schlimmste und hatte mein seelisches Gleichgewicht wiedergewonnen.

Von dem Wunsch erfüllt, noch vor Adas Ankunft ganz wieder bei Kräften und guter Laune zu sein, entwarf ich mit Charley eine Reihe von Plänen, die uns ermöglichen sollten, den ganzen Tag im Freien zu sein. Wir wollten vor dem Frühstück spazieren gehen und zeitig zu Mittag essen und dazwischen uns ebenfalls im Freien und nach dem Tee im Garten aufhalten, uns zeitig schlafen legen, jeden Hügel der Nachbarschaft besteigen und jeden Weg durch Gebüsch und Feld durchforschen. Was kräftigende Speisen und kleine Stärkungsmittel betraf, war Mr. Boythorns gutherzige Haushälterin beständig mit etwas zu essen oder zu trinken bei der Hand, und wenn es ihr zu Ohren kam, daß ich im Park ausruhe, gleich kam sie mir mit einem Korb nachgetrabt, und ihr freundliches Gesicht glänzte bei ihren Vorlesungen über die Wichtigkeit häufigen Essens. Dann war ein ausdrücklich für mich bestimmtes Pony da, ein dickes kleines Ding mit einem kurzen Hals und einer dicht über die Augen fallenden Mähne, das, wenn es wollte, so leicht und ruhig galoppieren konnte, daß es eine wahre Freude war. Schon nach ein paar Tagen kam es auf mich zu, wenn ich es rief, fraß mir aus der Hand und lief mir nach. Wir lernten uns so gut verstehen, daß, wenn es träge und etwas trotzköpfig mit mir einen schattigen Heckengang entlang trabte und ich ihm auf den Hals klopfte und sagte: »Stubbs, ich wundre mich, daß du nicht galoppierst, wo du doch weißt, wie gern ich das habe; mir scheint gar, du willst einschlafen«, es den Kopf komisch ein paar Mal schüttelte und sogleich in Galopp verfiel, wobei Charley immer stehen blieb und vor Freude in die Hände klatschte. Ich weiß nicht, wer dem Pony den Namen »Stubbs« gegeben hatte, aber er schien so natürlich zu ihm zu gehören wie sein zottiges Fell.

Einmal spannten wir es vor einen kleinen Wagen und fuhren triumphierend fünf Meilen weit die grünen Hecken entlang, aber plötzlich, gerade als wir es in den Himmel hoben, schien es übelzunehmen, daß es ein Kreis von Mücken, die schon auf dem ganzen Weg seine Ohren umschwirrten, so weit begleitet hatte, und es blieb stehen, offenbar, um darüber nachzudenken. Wie ich vermute, kam es zu der Ansicht, die Lage sei unerträglich, denn es weigerte sich standhaft, sich von der Stelle zu rühren, bis ich Charley die Zügel übergab, ausstieg und zu Fuß weiterging. Und da folgte es mir mit einer gewissen trotzigen Art von guter Laune, steckte mir den Kopf unter den Arm und rieb sich das Ohr an meinem Ärmel. Es nützte nichts, daß ich sagte: »Stubbs, ich bin, wie ich dich kenne, überzeugt, du wirst weitergehen, wenn ich mich in den Wagen setze.« Aber kaum war ich auch nur einen Schritt von ihm weg, blieb es wie eingewurzelt stehen, und wieder mußte ich wie zuerst vor ihm hergehen. Und in diesem Aufzug kehrten wir zur großen Freude der Dorfbevölkerung wieder nach Hause zurück.

Charley und ich hatten wirklich allen Grund, Chesney Wold das freundschaftlichste aller Dörfer zu nennen. Schon nach Verlauf einer Woche freuten sich die Leute so sehr, wenn wir vorbeikamen – und das geschah häufig genug im Lauf des Tages –, daß uns aus jeder Hütte freundliche Gesichter grüßten. Ich hatte schon früher viele von den Erwachsenen und fast alle Kinder kennengelernt, aber jetzt schien sogar der Kirchturm ein vertrautes und liebevolles Aussehen anzunehmen.

Unter meinen neuen Freundinnen befand sich auch eine uralte Frau, die in einem so kleinen Hüttchen, strohbedeckt und weißgetüncht, wohnte, daß der Fensterladen, wenn er aufgeklappt wurde, die ganze Vorderseite des Hauses bedeckte.

Diese Alte hatte einen Enkel auf der See, und ich schrieb einen Brief für sie an ihn und zeichnete oben drüber die Kaminecke, in der er aufgewachsen war und wo sein Stuhl noch auf seinem alten Fleck stand. Das ganze Dorf hielt das für das größte Kunstwerk der Welt, und als eine Antwort von Plymouth kam, worin er äußerte, daß er das Bild mit nach Amerika hinübernehmen und von dort wieder schreiben wollte, rechnete man mir all das Gute, das von rechtswegen dem Postamt gebührte, hoch an und schrieb alle Verdienste des ganzen Beförderungssystems mir zu. Das viele Spazierengehen in frischer Luft, das Spielen mit den Kindern, das Plaudern mit so vielen Leuten, die Besuche in den vielen Hütten, dazu noch der Unterricht für Charley und das tägliche Briefschreiben an Ada ließen mir kaum Zeit übrig, an den kleinen Verlust, den ich erlitten, zu denken. Und so war ich fast immer heiter. Wenn ich zuweilen doch daran denken mußte, ging es immer bald vorüber. Ich fühlte es tiefer, als ich hätte hoffen dürfen, als einmal ein Kind vor mir zu seiner Mutter sagte: »Warum ist die Dame jetzt nicht mehr so hübsch wie früher?« Aber als ich merkte, daß das Kind mich deshalb nicht weniger gern hatte und mit einer Art mitleidiger Zärtlichkeit mit seiner weichen Hand über mein Gesicht strich, war ich bald wieder beruhigt.

Die Luft wehte mich so frisch und erquickend an wie nur je, und die Farbe der Gesundheit kam nach und nach wieder. Charley sah prächtig aus, strahlend und rosig, und wir freuten uns beide, so lange der Tag war, und schliefen gesund die Nächte hindurch.

Einen Platz im Park von Chesney Wold, mit einer lieblichen Aussicht von einer erhöht stehenden Bank aus, hatte ich besonders gern. Die Waldung war dort gelichtet und ausgehauen, um den Ausblick zu verschönern, und die helle sonnige Landschaft dahinter schimmerte so wundervoll in der Ferne, daß ich wenigstens einmal des Tages dort rastete. Ein malerischer Teil des Herrschaftssitzes, der »Geisterweg« genannt, nahm sich von dieser Höhe herab sehr schön aus, und der unheimliche Name und die damit zusammenhängende alte Familiensage der Dedlocks, die mir Mr. Boythorn schon früher einmal erzählt hatte, verliehen der Landschaft neben ihren wirklichen Reizen etwas seltsam Geheimnisvolles. Nicht weit davon lag ein Abhang, auf dem die herrlichsten Veilchen wuchsen, und da es Charleys tägliches Vergnügen war, Blumen zu pflücken, gewann sie die Stelle so lieb wie ich selbst.

Ich kam nie in die Nähe des Hauses und hatte auch keine Veranlassung dazu. Die Familie war nicht anwesend, wie ich schon bei meiner Ankunft gehört hatte, und wurde auch nicht erwartet. Immerhin empfand ich eine gewisse Neugierde und ein Interesse für das Gebäude. Ich saß oft auf der Bank, malte mir aus, wie wohl das Haus eingerichtet wäre, und hätte gern gewußt, ob wirklich, wie die Sage erzählt, ein menschlichen Tritten ähnlicher Schall auf dem einsamen Geisterweg widerhalle. Das unbeschreibliche Gefühl, das Lady Dedlock in mir erweckt hatte, mag wohl dazu beigetragen haben, daß ich mich selbst während ihrer Abwesenheit von dem Hause fern hielt. Ich weiß es nicht gewiß, glaube aber, daß das der Grund war, der mich abschreckte, in die Nähe des Hauses zu gehen.

Eines Tages nun, nach einem langen Spaziergang, ruhte ich wieder auf meinem Lieblingsplatz aus, und Charley suchte Veilchen in meiner Nähe. Ich richtete wie gewöhnlich meinen Blick auf den sich in weiter Ferne in tiefem Schatten von Mauerwerk hinziehenden Geisterweg und malte mir die weibliche Gestalt aus, die dort angeblich spuken sollte, als ich wahrnahm, daß sich mir in Wirklichkeit eine Gestalt durch das Gehölz näherte. Der Ausblick war so von Laub verfinstert, und die auf dem Erdboden sich abmalenden Schatten der Zweige wirkten auf das Auge so verwirrend, daß ich sie anfangs nicht erkennen konnte, aber ganz allmählich zeigte es sich, daß es eine Dame war. – Und zwar Lady Dedlock! Sie war allein und näherte sich der Bank, wie ich mit Erstaunen bemerkte, in viel rascherem Schritt, als ich sie sonst je hatte gehen sehen.

Ihr unerwartetes Näherkommen versetzte mich in große Aufregung, und ich wäre gern aufgestanden, um meinen Spaziergang fortzusetzen, aber ich konnte nicht. Ich war wie gebannt. Nicht so sehr durch ihre aufgeregt flehende Gebärde, ihr rasches Näherkommen, ihre ausgestreckten Hände und die ganze Veränderung in ihrem sonst so stolzen selbstbeherrschten Wesen, als durch ein Etwas in ihrem Gesicht, nach dem ich geschmachtet und von dem ich geträumt hatte, als ich noch ein kleines Kind gewesen – von einem Etwas, das ich noch in keinem Gesicht gesehen.

Mir wurde ganz bang und schwach, und ich rief Charley. Lady Dedlock blieb sofort stehen und zeigte augenblicklich wieder ihre alte Haltung und ihre eisige Miene.

»Miß Summerson, ich fürchte, ich habe Sie erschreckt«, sagte sie und kam jetzt langsamer auf mich zu. »Sie können wohl kaum schon wieder bei Kräften sein. Ich weiß, daß Sie sehr krank gewesen sind. Es ist mir sehr zu Herzen gegangen, als ich es hörte.«

Ich hätte meine Augen ebensowenig von ihrem bleichen Gesicht wegwenden als von der Bank aufstehen können. Sie reichte mir ihre Hand, deren Eiseskälte mit der gezwungnen Fassung in ihrem Gesicht so im Widerspruch stand, daß mich der Bann noch mehr überwältigte. Ich kann nicht sagen, was für Gedanken mir durch den Kopf wirbelten.

»Aber Sie erholen sich jetzt wieder?« fragte sie freundlich.

»Vor einem Augenblick war mir noch ganz wohl, Lady Dedlock.«

»Ist dies Ihre junge Begleiterin?«

»Ja.«

»Möchten Sie sie nicht vorausschicken und mit mir Ihren Heimweg machen?«

»Charley«, sagte ich, »trag deine Blumen nach Hause. Ich werde gleich nachkommen.«

Mit ihrem besten Knicks band sich Charley errötend ihren Hut fest und entfernte sich. Als sie fort war, setzte sich Lady Dedlock neben mich auf die Bank.

Ich habe keine Worte, um meinen Gemütszustand zu beschreiben, als ich in ihrer Hand mein Taschentuch sah, mit dem ich die Leiche des Kindes in der Zieglerhütte zugedeckt hatte.

Ich blickte sie an. Aber ich konnte sie nicht sehen, ich konnte nicht Atem holen. So wild und ungestüm klopfte mein Herz, daß es mir vorkam, als wolle sich mein Leben von mir losreißen. Aber als sie mich an ihre Brust riß, mich mit heißen Tränen küßte, mich bedauerte, mich wieder zu mir selber brachte, dann vor mir auf die Knie fiel und mir zurief: »Mein Kind, mein Kind, ich bin deine verworfne unglückselige Mutter, oh, versuche mir zu vergeben…« als ich sie so zu meinen Füßen in ihrer großen Seelenqual liegen sah, fühlte ich mitten durch den Strom all dieser Gefühle ein Jauchzen der Dankbarkeit gegen die göttliche Vorsehung, daß ich jetzt so verändert war und durch keine Spur von Ähnlichkeit ihre Schande verraten konnte, gehen. Niemand hätte jetzt auch nur entfernt an einen nahen Verwandtschaftsgrad zwischen uns denken können.

Ich hob meine Mutter auf und bat und flehte sie an, sich nicht solcher Betrübnis hinzugeben und sich so vor mir zu demütigen. Ich tat es in gebrochenen, unzusammenhängenden Worten, denn außer daß ich furchtbar aufgeregt war, erschreckte es mich, sie vor mir knien zu sehen. Ich sagte ihr oder versuchte es vielmehr, daß, wenn mir, ihrem Kinde, es überhaupt zukäme, von Verzeihen zu reden, ich ihr schon viele, viele Jahre vergeben hätte. Ich sagte ihr, daß mein Herz vor Liebe zu ihr überströme, vor einer natürlichen Liebe, die nichts längst Vergangenes verändert habe oder irgend etwas je verändern könne. Es käme nicht mir, die ich jetzt zum ersten Mal an der Brust meiner Mutter läge, zu, sie dafür zur Rechenschaft zu ziehen, daß sie mir das Leben gegeben, sondern daß es meine Pflicht sei, sie zu segnen und sie aufzunehmen, ob auch die ganze Welt sich von ihr abwende, und daß ich sie nur um Erlaubnis bitten könne, das tun zu dürfen.

Ich hielt meine Mutter umarmt und sie mich, und in der schweigenden Waldung, in der stillen Ruhe des Sommertags schien es außer unser beider stürmisch klopfenden Herzen nichts zu geben, was nicht von Frieden erfüllt war.

»Mich zu segnen und mich aufzunehmen!« stöhnte meine Mutter. »Dazu ist es viel zu spät! Ich muß meinen dunkeln Weg allein gehen, und er wird mich führen, wohin er will. Von Tag zu Tag, manchmal von Stunde zu Stunde, sehe ich nicht den nächsten Schritt vor meinen schuldigen Füßen. Das ist die irdische Strafe, die ich auf mich geladen habe. Ich muß sie tragen und sie verbergen.«

Wie sie jetzt daran dachte, hüllte sie sich unwillkürlich wieder in die Miene stolzer Gleichgültigkeit wie in einen Schleier, aber nur einen Augenblick.

»Ich muß dieses Geheimnis verbergen, wenn es überhaupt möglich ist, nicht bloß um meinetwillen. Ich habe einen Gatten, ich unglückliches und Schande bringendes Geschöpf!«

Sie sprach diese Worte fast mit einem unterdrückten Schrei der Verzweiflung, der schrecklicher war, als wenn sie ihrer Leidenschaft freien Lauf gelassen hätte. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, schauderte in meiner Umarmung zusammen, als wollte sie vermeiden, daß ich sie berühre. Ich konnte sie mit all meiner Überredungskunst und meinen Liebkosungen nicht bewegen, aufzustehen. »Nein, nein, nein«, sagte sie, nur so könne sie mit mir sprechen, überall sonst müsse sie stolz und hochmütig sein. Hier in den einzigen natürlichen Minuten ihres Lebens wolle sie sich demütigen und sich schämen.

Sie erzählte mir, sie sei während meiner Krankheit fast wahnsinnig geworden. Erst vor nicht langer Zeit habe sie erfahren, daß ihr Kind noch lebe. Vorher habe sie nicht ahnen können, daß ich ihre Tochter sei. Sie wäre mir hierher gefolgt, um nur ein einziges Mal in ihrem Leben mit mir zu sprechen. Wir könnten nie zusammen kommen, nie miteinander verkehren, vielleicht von dieser Zeit an nie wieder auf Erden ein Wort miteinander sprechen. Sie übergab mir einen Brief, den sie nur für mich geschrieben hatte, und sagte mir, wenn ich ihn gelesen haben würde und vernichtet – nicht sowohl um ihretwegen, denn sie verlange für sich nichts mehr, als um ihres Gatten und meinetwillen –, müßte ich sie für immer als gestorben betrachten. Wenn ich glauben könnte, daß sie in der Seelenqual, in der ich sie jetzt sähe, mich mit der Liebe einer Mutter umfange, so bäte sie mich, es zu tun. Denn dann würde ich bei der Erinnerung daran, was sie gelitten, mit größerer Barmherzigkeit an sie denken können. Sie habe sich selbst über alle Hoffnung und Hilfe hinausbegeben. Ob sie ihr Geheimnis bis zum Tode bewahren könne oder ob es entdeckt und damit Schmach und Schande auf den Namen, den sie angenommen, bringen werde, sei ihr beständiger Gedanke in ihrer seelischen Einsamkeit. Keine Liebe könne sich ihr nahen und kein menschliches Geschöpf ihr die mindeste Hilfe leisten.

»Aber ist das Geheimnis vorläufig sicher?« fragte ich. »Ist es jetzt sicher, liebste Mutter?«

»Nein. Es war schon dicht daran, entdeckt zu werden. Durch einen Zufall nur wurde es noch gerettet. Ein andrer Zufall kann es verraten –morgen –, jeden Tag.«

»Fürchtest du eine bestimmte Person?«

»Still! Zittre und weine nicht so meinetwegen. Ich bin diese Tränen nicht wert«, sagte meine Mutter und küßte mir die Hände. »Ja, eine Person fürchte ich sehr.«

»Einen Feind?«

»Mein Freund ist er nicht. Er ist zu leidenschaftslos, um das eine oder das andre zu sein. Es ist Sir Leicester Dedlocks Advokat – mechanisch treu, ohne Anhänglichkeit und sehr erpicht auf den Gewinn, das Privilegium und den Ruf, der Herr der Geheimnisse großer Häuser zu sein.«

»Hat er Verdacht geschöpft?«

»Sogar sehr.«

»Aber nicht gegen dich?« fragte ich voll Unruhe.

»Ja. Er ist immer wachsam und beständig in meiner Nähe. Ich kann ihn vielleicht auf einem Punkt festhalten, aber ihn nie abschütteln.«

»Hat er so wenig Erbarmen oder Mitleid?«

»Er kennt weder das, noch Haß. Ihm ist alles gleichgültig, außer seinem Beruf. Sein Beruf ist die Entdeckung von Geheimnissen und der unumschränkte Besitz der Macht, die sie ihm verleihen.«

»Kannst du dich ihm nicht anvertrauen?«

»Ich werde es nie versuchen. Der finstre Weg, den ich seit so vielen Jahren gegangen bin, mag führen, wohin er will. Ich folge ihm bis zum Ende, was es auch immer sein mag. Es kann nahe, es kann entfernt liegen. So lange der Weg dauert, wird mich nichts davon abbringen.«

»Liebe Mutter, so entschlossen bist du?«

»Ich bin entschlossen. Ich habe lange Torheit mit Torheit, Hochmut mit Hochmut, Verachtung mit Verachtung, Trotz mit Trotz überboten und viele Eitelkeiten mit noch größeren überlebt und will auch diese Gefahr überleben und übersterben, wenn ich kann. Sie hat mich fast so grauenhaft eingeschlossen, wie diese Waldungen von Chesney Wold das Haus dort ringsum, aber mein Weg durch sie bleibt derselbe. Ich habe bloß einen. Ich kann bloß einen haben.«

»Mr. Jarndyce…«, fing ich an, aber meine Mutter unterbrach mich heftig.

»Hegt er Argwohn?«

»Nein. Nein, gewiß nicht. Verlaß dich darauf, er ahnt nichts.« Und ich teilte ihr mit, wieweit er meine Jugendgeschichte kenne und was er mir von ihr erzählt hatte. »Aber er ist so gut und verständig«, setzte ich hinzu, »daß er vielleicht, wenn er wüßte…«

Meine Mutter, die bis dahin ihre Stellung nicht im mindesten verändert hatte, unterbrach mich und legte mir die Hand auf den Mund.

»Vertraue ihm ganz«, sagte sie nach einer kleinen Weile. »Du hast meine Erlaubnis dazu – eine armselige Mitgift von einer solchen Mutter für ihr schwer gekränktes Kind –, aber sage mir nichts davon. Selbst jetzt besitze ich noch eine Spur von Stolz.«

Meine Aufregung und mein Schmerz waren so groß, daß ich meine Worte kaum selbst verstehen konnte, und jeder Satz, den meine Mutter gesprochen, hatte einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, daß ich ihr auseinandersetzte oder es wenigstens versuchte, ich habe nur gehofft, Mr. Jarndyce, der wie der beste Vater an mir gehandelt, könne vielleicht imstande sein, ihr einigermaßen mit Rat und Hilfe beizustehen. Aber meine Mutter sagte, es sei unmöglich. Niemand könne ihr helfen. Durch die Wüste, die vor ihr läge, müsse sie ganz allein gehen.

»Mein Kind, mein Kind!« sagte sie. »Jetzt zum letzten Mal! Ich küsse dich zum letzten Mal, umarme dich zum letzten Mal. Wir werden uns nie wiedersehen. Um die Hoffnung aufrecht zu erhalten, das tun zu können, wonach ich strebe, muß ich so bleiben, wie ich schon so lange gewesen bin. Das ist mein Lohn und mein Verhängnis. Wenn du von Lady Dedlock hörst, von der glänzenden, beneideten, umschmeichelten Lady, so denke daran, daß deine unglückliche, schuldbeladne Mutter sich unter dieser Maske verbirgt. Denke, daß sie in Wirklichkeit leidet und in nutzloser Reue den Rest von Zärtlichkeit und Wahrheit, dessen sie noch fähig ist, in ihrer Brust ersticken muß. Dann verzeihe ihr, wenn du kannst, und flehe den Himmel an, ihr zu vergeben.«

Wir hielten uns noch eine kleine Weile in den Armen, aber sie war so stark, daß sie meine Hände wegnehmen, wieder auf meine Brust legen, sich mit einem letzten Kuß von mir losreißen und wieder zurück durch den Wald gehen konnte.

Ich war allein. Ruhig und still unter mir in Sonnenschein und Schatten lag das alte Haus mit seinen Terrassen und Türmchen, das, wie ich es zum ersten Mal gesehen, ein so ruhevoller Frieden zu umschweben schien, das aber jetzt wie ein erbarmungsloser Zeuge des Jammers meiner Mutter aussah. In meiner Betäubung und einer Schwäche und Hilflosigkeit, wie ich sie kaum in der schlimmsten Zeit meiner Krankheit empfunden, kam mir die Notwendigkeit, mich gegen die Gefahr einer Entdeckung und selbst des leisesten Verdachtes sichern zu müssen, zu Hilfe. Ich tat mein möglichstes, um Charley zu verbergen, daß ich geweint hatte, und zwang mich, an die Verpflichtung, vorsichtig und gesammelt zu erscheinen, wie an ein mir anvertrautes heiliges Gut zu denken. Es bedurfte einiger Zeit, ehe es mir gelang, meine Schmerzensausbrüche zurückzudrängen, aber nach ungefähr einer Stunde befand ich mich besser und fühlte, daß ich heimkehren könnte.

Ich ging sehr langsam auf unser Haus zu und sagte Charley, die an der Gartenpforte nach mir Ausschau hielt, ich hätte mich verleiten lassen, meinen Spaziergang, nachdem mich Lady Dedlock verlassen, fortzusetzen, fühlte mich jetzt sehr müde und wolle mich hinlegen.

In der Stille meines Zimmers las ich den Brief und ersah daraus aufs deutlichste – und das tat mir wohl –, daß meine Mutter mich wissentlich nie verlassen hatte. Ihre ältere und einzige Schwester, meine Patin, hatte, als man mich als tot auf ein Bett gelegt, wahrscheinlich Lebenszeichen in mir entdeckt, mich in ihrem finster strengen Pflichtgefühl, ohne mein Lebenbleiben weiter zu wünschen oder zu wollen, insgeheim auferzogen und seit dem Tag meiner Geburt das Antlitz meiner Mutter nie wiedergesehen.

Welch seltsame Stellung nahm ich in dieser Welt ein. Meine Mutter hatte bis vor kurzer Zeit noch gewähnt, ich habe nie geatmet, sei längst begraben, habe nie zu den Lebenden gezählt und nie einen Namen getragen.

Als sie mich das erste Mal in der Kirche erblickt, wäre ich ihr aufgefallen, und sie hätte an das kleine Wesen denken müssen, das jetzt wohl so ähnlich wie ich hätte aussehen müssen. Was der Brief mir weiter sagte, will ich vorläufig nicht niederschreiben.

Meine erste Sorge war, ihn zu verbrennen und sogar die Asche zu vernichten. Dabei beschlich mich der Gedanke, es sei besser, ich wäre überhaupt nie am Leben geblieben – besser für viele Leute, wenn ich nie geatmet hätte. Es flößte mir Schrecken ein, daß ich meiner Mutter und einem stolzen Familiennamen möglicherweise Gefahr und Schande bringen könnte. Ich fühlte mich so verwirrt und erschüttert, daß ich zu glauben anfing, es sei vom Schicksal bestimmt gewesen, daß ich bei meiner Geburt hätte sterben sollen, und, daß ich noch lebe, sei unrecht.

So waren die Gefühle, die mich erfüllten.

Erschöpft schlief ich ein und weinte beim Aufwachen, bei dem Gedanken, mit meiner Last von Sorgen wieder in der Welt sein zu müssen. Es flößte mir ein Grauen ein, wenn ich wieder an die dachte, gegen die ich ein lebendiges Zeugnis war, und an den Besitzer von Chesney Wold – und an die neue schreckliche Bedeutung der alten Worte, die jetzt wie eine am Ufer zerschellende Woge in mein Ohr klangen: »Deine Mutter, Esther, ist deine Schande, und du bist die ihre. Die Zeit wird kommen, und früh genug, wo du das besser verstehen und auch fühlen wirst, wie es ein Weib nur fühlen kann.«

Und wieder erwachten die Worte in meinem Hirn: »Bete täglich, daß die Sünden anderer nicht auf dein Haupt kommen mögen.«

Das, was mich umfing, vermochte ich nicht mehr zu entwirren, und es kam mir vor, als ob alle Schmach und Schande an mir läge und jetzt die Heimsuchung über mich gekommen sei.

Der Tag verschwamm in einen düstern, trüben Abend, und immer noch kämpfte ich mit meinem Gram. Ich ging allein aus, ging eine kleine Weile im Park spazieren und beobachtete die dunkeln, auf die Bäume fallenden Schatten und den flatternden Flug der Fledermäuse, die mich manchmal fast streiften. Zum ersten Mal fühlte ich mich nach dem Schlosse hingezogen. Vielleicht wäre ich nicht in seine Nähe gekommen, wenn ich gefaßter gewesen wäre. Aber so lenkte ich in den Pfad ein, der dicht daran vorbeiführte.

Ich wagte nicht, stehen zu bleiben oder aufzublicken, aber ich ging an dem Terrassengarten mit seinen reichen Düften und seinen breiten Gängen, den wohlgepflegten Beeten und dem geschornen Rasen vorüber. Ich sah, wie schön und ernst er war, wie an den alten steinernen Balustraden und Brustlehnen und den breiten Treppen mit den niedrigen Stufen Zeit und Wetter genagt hatten, wie Moos und Efeu sie und das alte steinerne Piedestal der Sonnenuhr umwucherten, und ich hörte das Plätschern der Springbrunnen. Dann führte mich der Weg an langen Reihen dunkler Fenster vorüber, unterbrochen von bezinnten Türmen und Pforten in exzentrischen Formen, wo alte steinerne Löwen und groteske Ungeheuer vor dunkeln schattigen Höhlen sich aufbäumten und, mit Wappenschildern in den Klauen, das Abendgrauen anfletschten. Von da ging der Pfad unter einem Torweg hinweg über einen Hof mit dem Haupteingang und an den Stallungen vorbei. Tiefe Stimmen lebten im Rauschen des Windes auf, in der dicken, sich an einer hohen roten Ziegelmauer hinaufschlingenden Efeudecke, in dem leisen Ächzen des Wetterhahns, im Bellen der Hunde und in dem langsamen Dröhnen einer Uhr. Ein süßer Geruch von den rauschenden Linden traf mich, und ich wendete mich, wie der Pfad sich dahinwand, nach der Südfront, und über mir erblickte ich die Balustrade des Geisterwegs und ein helles Fenster. Vielleicht war es das meiner Mutter.

Der Weg war hier gepflastert wie die über mir befindliche Terrasse, und meine Schritte, bisher unhörbar gewesen, hallten jetzt laut auf den steinernen Platten wider. Ich blieb nirgends stehen, um mir etwas zu betrachten, aber ich sah alles beim Vorübergehen. Ich eilte rasch weiter und wäre in wenigen Augenblicken an dem erhellten Fenster vorbeigekommen, da brachte mich der Widerhall meiner Schritte plötzlich auf den Gedanken, in der Sage vom »Geisterweg« könne eine schreckliche Wahrheit liegen. Ich selbst könne bestimmt sein, Unglück über das stolze Haus zu bringen, und meine eignen warnenden Schritte spukten jetzt darin. Von einem Grauen vor mir selbst erfaßt, das mein Blut gerinnen machte, entfloh ich vor mir selbst und eilte auf dem Weg zurück, den ich gekommen, und schöpfte erst wieder Atem, als ich das Haus des Pförtners erreichte und in schweren schwarzen Massen der Park hinter mir lag.

Erst als ich in meinem Zimmer wieder für die Nacht allein war, bekümmert und unglücklich, wurde mir klar, wie unrecht und undankbar ich war. Ein Brief von meinem Herzensliebling, der morgen kommen wollte, wurde mir übergeben. Ein heiterer Brief voll so liebreicher Vorfreude, daß ich hätte von Stein sein müssen, wenn er mich nicht gerührt hätte. Auch mein Vormund schrieb, er bäte das Mütterchen, wenn ich es vielleicht irgendwo treffen sollte, zu grüßen und ihm zu sagen, wie jämmerlich sie sich ohne mich befunden hätten. Die Wirtschaft ginge aus allen Fugen, und niemand sonst könne die Schlüssel führen – jeder im Hause erkläre, es sei ganz verändert, und alle drohten mit Rebellion, wenn ich nicht bald zurückkäme. Die beiden Briefe führten mir vor Augen, wieweit über Verdienst man mich liebe und wie glücklich ich mich fühlen müsse. Das brachte mich darauf, über mein ganzes vergangenes Leben nachzudenken, und – was schon längst hätte geschehen sollen –ich kam in eine bessere Stimmung.

Ich sah recht gut ein, daß es nicht meine Bestimmung hatte sein können, zu sterben, sonst hätte ich nicht gelebt – um nicht zu sagen, sonst wäre ich nie für ein so glückliches Leben aufgespart worden. Ich erkannte, wieviel Umstände für mein Wohlergehen zusammen gewirkt hatten, und daß, wenn die Sünden der Väter manchmal an ihren Kindern heimgesucht würden, dies Wort nicht die Bedeutung haben könnte, die ich ihm heute morgen unterlegt. Ich begriff, daß ich an meiner Geburt ebensowenig schuld war wie die Königin an der ihren und von dem Vater im Himmel nicht für meine Geburt bestraft worden sein könnte, ebensowenig wie eine Königin dafür belohnt werden würde. Die erschütternden Ereignisse des heutigen Tages müßten mich belehren, daß ich sogar so bald schon einen mildernden Trost in der über mich gekommenen Veränderung finden könnte. Ich fühlte mich bestärkt in meinen alten Entschlüssen und flehte um Kraft und schüttete mein Herz aus in einer Bitte für meine unglückliche Mutter und mich und fühlte, daß der finstere Schatten von heute morgen zu schwinden begann. Er quälte mich nicht im Schlaf, und als das Licht des kommenden Tages mich weckte, war er verschwunden.

Mein Liebling sollte um fünf Uhr nachmittags ankommen. Ich wußte die Zwischenzeit nicht besser zu verbringen, als durch einen langen Spaziergang die Straße entlang, die sie kommen mußte. So machten denn Charley und ich und Stubbs – Stubbs diesmal gesattelt, denn nach unsern Erfahrungen spannten wir ihn nie wieder ein – einen langen Ausflug auf diesem Weg und wieder zurück. Dann hielten wir große Umschau in Haus und Garten, um nachzusehen, ob alles in bestem Zustand sei, und hielten den Vogel als wichtigen Bewohner des Hauses bereit. Es mußten noch mehr als zwei Stunden vergehen, ehe sie ankommen konnte, und die Zwischenzeit erschien mir sehr lang, da ich wegen meines veränderten Aussehens voll banger Unruhe war. Ich liebte mein Herzenskind so sehr, daß ich in großer Sorge war, welchen Eindruck es auf sie machen würde.

Wird sie wohl vorbereitet sein? dachte ich. Bei meinem Anblick nicht erschrecken und sich abgestoßen fühlen? Wird sie sich nicht vielleicht erst wieder von neuem an mich gewöhnen müssen?

Ich kannte das offenherzige reizende Gesicht meines Lieblings zu gut, als daß ich nicht schon im voraus hätte gewiß sein müssen, sie würde den ersten Eindruck nicht vor mir verbergen können. Und ich überlegte mir, ob ich dann ganz für mich würde einstehen können, wenn es, wie es doch so wahrscheinlich war, wechselnde Empfindungen verraten sollte.

Ja! Ich glaubte, ich werde es imstande sein. Nach der letzten Nacht glaubte ich es. Aber warten und warten und hoffen und harren und denken und grübeln sind eine schlimme Sache, und so beschloß ich denn, ihr wieder auf der Straße entgegenzugehen.

Daher sagte ich zu Charley: »Charley, ich gehe allein auf der Straße spazieren, bis sie kommt.« Und da Charley stets im höchsten Maße alles billigte, was ich für gut fand, blieb sie zu Hause und ließ mich gehen.

Aber als ich an den zweiten Meilenstein kam, hatten mich die öfters in der Ferne aufsteigenden Staubwolken so wiederholt in Aufregung versetzt, trotzdem ich mir sagte, es könne die Kutsche noch nicht sein, daß ich wieder umzukehren und nach Hause zu gehen beschloß. Und dann war mir so bange, die Kutsche möchte am Ende hinter mir herkommen, daß ich den größten Teil des Weges lief, um mich nicht einholen zu lassen.

Wieder sicher zu Hause, hielt ich mir vor, was für Dummheiten ich gemacht hatte. Jetzt war ich ganz erhitzt, und die Situation war schlimmer anstatt besser.

Endlich – ich glaubte, es sei noch mindestens eine Viertelstunde Zeit –rief mir Charley plötzlich zu: »Da kommt sie, Miß! Da ist sie schon!«

Fast ohne es zu wollen, lief ich die Treppe hinauf in mein Zimmer und versteckte mich hinter der Tür. Und da stand ich zitternd, selbst noch, als ich meinen Liebling die Treppe heraufkommen und rufen hörte: »Esther, meine liebe gute Esther, wo steckst du denn? Mütterchen! Kleines altes Mütterchen!«

Sie kam hereingerannt und wollte wieder hinauslaufen, als sie mich erblickte. Ach, mein Engel, mein Liebling! Der alte teuere Blick! Lauter Liebe, Zärtlichkeit und Zuneigung. Nichts sonst darin, nein, nichts, nichts.

Ach, wie glücklich fühlte ich mich, wie ich auf dem Fußboden saß und neben mir mein süßes liebes Kind, das seine liebliche Wange an mein durch Narben entstelltes Gesicht schmiegte, es mit Tränen und Küssen bedeckte, mich hin- und herwiegte wie ein Baby, mich bei jedem erdenklichen Kosenamen rief und an ihr zärtliches Herz drückte.

37. Kapitel


37. Kapitel

Jarndyce kontra Jarndyce

Wenn das Geheimnis, das ich zu bewahren hatte, nur mich betroffen hätte, würde ich es Ada anvertraut haben, bevor wir noch lange beisammen gewesen wären, so aber fühlte ich mich nicht einmal berechtigt, es meinem Vormund mitzuteilen, außer im äußersten Notfall. Es war eine schwere Bürde für mich, es so allein tragen zu müssen, aber meine Verpflichtung stand klar vor mir, und glücklich in der Liebe meines Herzenskindes, bedurfte ich keiner Ermutigung, stark zu bleiben. Oft, wenn sie schlief und alles ruhig war, erhielt mich die Erinnerung an meine Mutter wach, und ich fühlte mich tief bekümmert. Aber nie mehr wurde ich ein zweites Mal schwach, und Ada fand mich, wie sie sagte, so wie je. Sie berührte die Veränderung nicht, von der ich genug gesagt habe, und wenn ich es vermeiden kann, auch weiter nicht mehr zu erwähnen gedenke.

Sehr schwer wurde es mir, an diesem Abend ganz gefaßt zu erscheinen. Ada fragte mich, während wir arbeiteten, ob die Familie auf ihrem Landsitz sei, und als ich antworten mußte, ja, ich glaubte es, denn Lady Dedlock habe vorgestern mit mir im Park gesprochen, war es mir noch schwerer, auf die Frage, was sie denn gesagt habe, nur zur Antwort zu geben, sie wäre sehr gütig und teilnehmend gewesen. Ada gab zu, daß sie schön und elegant sei, machte aber einige Bemerkungen über ihr stolzes Wesen und ihre hochmütige abweisende Miene. Ohne es zu wissen, kam mir Charley zu Hilfe, indem sie uns erzählte, Lady Dedlock habe nur zwei Nächte auf dem Landsitz verbracht, um bei einer andern großen Familie in der nächsten Grafschaft einen Besuch zu machen, und sei zeitig am andern Morgen, nachdem sie mit mir an unserm Lieblingsplatz gesprochen, wieder weitergereist. Charley machte das Sprichwort, daß kleine Eimer stets große Ohren haben, zur Wahrheit, denn sie erfuhr immer an einem Tag mehr als ich in einem Monat.

Wir sollten vier Wochen in Mr. Boythorns Haus bleiben. Mein Liebling war kaum acht schöne Tage dagewesen, soweit ich mich erinnere, als eines Abends, nachdem wir dem Gärtner beim Blumenbegießen geholfen hatten und gerade die Lichter angezündet worden waren, Charley mit höchst wichtiger Miene hinter Adas Stuhl auftauchte und mir geheimnisvoll winkte, hinauszukommen.

»O, wenn Sie erlauben, Miß«, flüsterte sie mit so runden und großen Augen wie nur möglich. »Es verlangt Sie jemand im Wirtshaus zu sprechen.«

»Wer kann mich denn im Wirtshaus sprechen wollen, Charley?«

»Ich weiß nicht, Miß«, entgegnete Charley, streckte den Kopf vor und faltete ihre Hände über ihrem kleinen Schürzenbund, was sie stets tat, wenn sie im Hochgenuß eines Geheimnisses oder einer vertraulichen Mitteilung schwelgte. »Aber es ist ein Herr, Miß. Er läßt sich Ihnen empfehlen und Sie bitten, zu kommen, ohne jemandem etwas davon zu sagen.«

»Wer läßt sich empfehlen, Charley?«

»Er tut’s, Miß«, entgegnete Charley, deren grammatikalische Kenntnisse gewiß Fortschritte, aber nicht allzuschnelle, machten.

»Und wie kommst du dazu, die Botschaft zu überbringen, Charley?«

»Ich bin nicht der Bote, wenn Sie erlauben, Miß«, rechtfertigte sich meine kleine Zofe. »Es war W. Grubble, Miß.«

»Und wer ist denn W. Grubble, Charley?«

»Mister Grubble, Miß. Kennen Sie ihn denn nicht, Miß? ‚Gasthaus zum Dedlock-Wappen, ausgeübt von W. Grubble‘.«

Charley sagte die Worte her, als ob sie die Firmatafel langsam abbuchstabierte.

»Ah, der Wirt, Charley?«

»Ja, Miß. Wenn Sie erlauben, Miß, seine Frau ist eine sehr schöne Dame, aber sie hat sich einmal den Knöchel gebrochen und ist nie mehr wieder grade geworden. Ihr Bruder ist der Sägemüller, den sie eingesteckt haben, Miß, und sie glauben, er wird sich mit Bier noch einmal ganz und gar zu Tode trinken«, sagte Charley.

Da ich nicht wußte, um was es sich handeln könne, und jetzt sehr leicht in Schrecken zu versetzen war, hielt ich es für das Beste, sogleich selbst hinzugehen. Ich ließ mir von Charley rasch Hut, Schleier und meinen Schal holen und ging dann die kleine holprige Straße hinab, wo ich ebenso zu Hause war wie in Mr. Boythorns Garten.

Mr. Grubble stand in Hemdsärmeln an der Tür seines äußerst saubern kleinen Gasthauses und wartete auf mich. Als er mich kommen sah, nahm er seinen Hut mit beiden Händen ab und trug ihn wie ein schweres eisernes Gefäß vor mir her durch den sandbestreuten Garten in sein bestes Zimmer, eine hübsche, mit Teppichen belegte Stube mit mehr Blumenstöcken darin, als gerade nötig gewesen wären, einem kolorierten Kupferstich, die Königin Karoline darstellend, verschiednen Muscheln und einer ziemlichen Anzahl Teebretter, zwei ausgestopften Fischen in Glaskästen und einem seltsamen Ei oder Kürbis – oder was es sonst war, was da von der Ecke herabhing. Ich kannte Mr. Grubble vom Ansehen recht gut, denn er pflegte oft an seiner Haustür zu stehen. Er war ein freundlich aussehender untersetzter Mann von mittleren Jahren und schien sich einzubilden, ohne Hut und Stulpenstiefel nie passend angezogen zu sein. Einen Rock dagegen trug er nur in der Kirche.

Er putzte den Docht der Kerze, trat ein paar Schritte zurück, um zu sehen, ob sie gut brenne, und verschwand aus dem Zimmer, mir ganz unerwartet, denn ich wollte ihn gerade fragen, wer nach mir geschickt habe. Die Tür der gegenüberliegenden Stube ging jetzt auf, und ich hörte einige Stimmen, die mir bekannt vorkamen, aber sogleich verstummten. Ein rascher leichter Schritt näherte sich dem Zimmer, in dem ich wartete, und wer stand vor mir?

Richard!

»Meine liebe Esther!« rief er. »Meine Herzensfreundin!«

Er war so zärtlich und innig, daß ich in der ersten Überraschung, erfreut über seine brüderliche Begrüßung, kaum Atem genug finden konnte, ihm zu sagen, daß sich Ada wohl befinde.

»Sie erraten immer meine innersten Gedanken – sind immer dasselbe liebe Mädchen.« Er führte mich zu einem Stuhl und setzte sich neben mich.

Ich schlug meinen Schleier ein wenig zurück.

»Immer dasselbe liebe Mädchen«, wiederholte er genau so herzlich wie vorhin.

Ich schlug den Schleier ganz zurück, legte meine Hand auf seinen Arm, sah ihn an und sagte ihm, wie dankbar ich ihm für sein freundliches Willkommen sei und wie sehr es mich freue, ihn wiederzusehen; –innerlich froh auch wegen des in meiner Krankheit gefaßten Entschlusses, den ich ihm sogleich mitteilte.

»Meine Liebe«, sagte Richard, »auch für mich gibt es niemanden, mit dem es mich mehr zu sprechen verlangte, als Sie, denn ich möchte, daß Sie mich ganz verstehen.«

»Und ich möchte, Richard«, sagte ich und schüttelte den Kopf, »daß Sie vor allem noch eine andre Person verstehen lernten.«

»Da Sie so direkt auf John Jarndyce anzuspielen scheinen«, sagte Richard, »kann ich wohl annehmen, daß Sie niemand anderen meinen?«

»Natürlich meine ich ihn.«

»Dann kann ich gleich sagen, daß mich das freut, denn gerade in dieser Hinsicht liegt es mir am meisten am Herzen, verstanden zu werden. Von Ihnen, verstehen Sie recht: von Ihnen, liebe Esther. Mr. Jarndyce oder Mr. Sonstjemand bin ich keine Rechenschaft schuldig.«

Es schmerzte mich, daß er diesen Ton anschlug, und äußerte mich in diesem Sinne.

»Gut, gut, liebe Esther. Wir wollen davon jetzt nicht weiter sprechen«, sagte Richard. »Ich möchte mit Ihnen am Arm in Ihrem Landhaus hier erscheinen und meine reizende Kusine überraschen. Ich hoffe, Ihre Gewissenhaftigkeit John Jarndyce gegenüber verbietet Ihnen das nicht?«

»Lieber Richard, Sie wissen, Sie würden in seinem eignen Haus ebenso herzlich willkommen sein. Es würde Ihnen ein Vaterhaus sein, wenn Sie es nur so betrachten wollten. Und Sie sind hier wie dort gleich herzlich willkommen.«

»Sie sprechen wie die beste aller kleinen Hausfrauen!« rief Richard heiter.

Ich fragte ihn, wie ihm sein neuer Beruf gefalle.

»Ganz gut, danke«, sagte er. »Nichts auszusetzen. Vorderhand ist er so gut wie jeder andre. Ich weiß nicht, ob ich mich sehr um ihn kümmern werde, wenn ich erst einmal im reinen bin, aber dann kann ich ja mein Patent verkaufen und… Aber sprechen wir jetzt nicht von dem ganzen Trödel.«

So jung und schön, in jeder Hinsicht so das vollkommene Gegenteil von Miß Flite und doch ihr so schrecklich ähnlich, als jetzt ein gequälter, von Ungeduld verzehrter Ausdruck sein Gesicht überflog.

»Ich bin soeben auf Urlaub in London, Esther.«

»Nein, wirklich?«

»Ja! Ich bin herübergereist wegen meiner – Kanzleigerichtsangelegenheit, ehe die langen Ferien anfangen, um nachzusehen, wie sie steht«, sagte Richard mit einem gezwungen unbefangnen Lächeln. »Ich versichere Ihnen, wir fangen jetzt wirklich an, mit dem langwierigen Prozeß vorwärts zu kommen.«

Ich schüttelte bedenklich den Kopf.

»Sie meinen, es ist kein angenehmes Gesprächsthema?« Wieder flog derselbe Schatten wie vorhin über sein Gesicht. »Wir wollen für heute abend die Sache ganz und gar fallen lassen… Weg damit. Wen, denken Sie wohl, habe ich mitgebracht?«

»War das Mr. Skimpoles Stimme vorhin?«

»Erraten! Das ist der richtige Mann für mich! Er tut mir wohler als jeder andre Mensch. Was für ein bezauberndes Kind er doch ist.«

Ich fragte Richard, ob jemand wisse, daß sie beide zusammen hierhergereist wären.

»Nein, niemand.« Richard hätte einen Besuch bei dem lieben alten Knaben gemacht – so nannte er Mr. Skimpole –, und der »liebe alte Knabe« hätte ihm unsern Aufenthalt mitgeteilt, es sich in den Kopf gesetzt, uns zu besuchen, und Lust bekommen, ihn zu begleiten, und so sei er denn hier.

»Er ist – ohne die nicht unbedeutenden Kosten, die er einem macht, einzubeziehen – dreifach sein Gewicht in Gold wert. Er ist so ein fideler Kerl. Kein Funken Eigennutz in ihm. Ein frisches jugendliches Herz.«

Ich sah zwar gerade keinen Beweis von Mr. Skimpoles Uneigennützigkeit in dem Umstand, daß er sich seine Reisekosten von Richard bezahlen ließ, aber ich machte weiter keine Bemerkung darüber.

Er kam jetzt selbst herein, und das gab unserm Gespräch eine andere Wendung. Er war entzückt, mich zu sehen, sagte, er hätte meinetwegen zuweilen während sechs Wochen Tränen der Freude und Teilnahme vergossen, wäre nie so glücklich gewesen, als wie er von meiner Genesung gehört habe, und finge jetzt an, einzusehen, warum in der Welt Gutes mit Schlimmem gemischt sei. Er fühle, daß er die Gesundheit um so höher schätze, wenn jemand anders krank sei, und sagte, er wisse durchaus nicht, ob es nicht im Schöpfungsplan läge, daß A. schielen müsse, um B. wegen seines eignen geraden Blickes glücklich zu machen, oder daß C. ein hölzernes Bein habe, um D. zufriedener mit seinem eignen aus Fleisch und Blut in einem seidnen Strumpf zu machen.

»Meine liebe Miß Summerson. Hier haben Sie unsern Freund Richard zum Beispiel. Er ist erfüllt von herrlichen Zukunftsträumen, die er aus der Nacht des Kanzleigerichtshofs heraufbeschwört. Ist das nicht herrlich, begeisternd und voller Poesie? In alten Zeiten wurden die Wälder und Einöden für den Schäfer durch die Pfeifen des Pan und den Tanz der Nymphen belebt und erhellt. Unser idyllischer Richard, dieser Schäfer der Gegenwart, bringt heitere Fröhlichkeit in die schläfrigen Advokatenkanzleien, indem er die Nymphe Fortuna und ihr Gefolge nach den melodischen Noten eines Urteils vor dem Richterstuhl tanzen läßt. Das ist doch wirklich erfreulich, das müssen Sie doch selbst sagen! Irgendein bärbeißiger, sauertöpfischer Kerl wird vielleicht einwenden: Was, einen Nutzen sollen alle diese Mißbräuche unsrer Gerichtshöfe auch noch haben? Wie können Sie so etwas verteidigen! Und ich antworte darauf: Mein bärbeißiger Freund, ich verteidige sie nicht, aber sie sind mir sehr angenehm. Ich habe einen Freund, einen jungen Schäfer, der sie in etwas für meine Einfalt geradezu Faszinierendes verwandelt. Ich sage nicht, daß sie erwiesenermaßen zu diesem Zweck existieren – aber es könnte vielleicht doch sein… Sie müssen bedenken, daß ich unter euch weltgesinnten Brummbären ein Kind bin und mich überdies nicht verpflichtet fühle, euch oder mir wegen irgend etwas Rechenschaft zu geben.«

Es wurde mir sofort klar, daß Richard kaum irgendeinen schlimmeren Freund hätte finden können als gerade diesen. Es machte mir große Sorge, daß er noch dazu zu einer Zeit, wo er eines festen Vorsatzes und Zieles am meisten bedurft hätte, diesen gewinnenden Leichtsinn, dieses jederzeit bereite Wegschieben unangenehmer Dinge vor Augen hatte. Ich glaubte mir wohl erklären zu können, warum ein fester Charakter wie der meines Vormunds – in der Welt erfahren und überdies gezwungen gewesen, die unglückseligen Verschleppungen des Familienunglücks mit anzusehen – einen so großen Trost in Mr. Skimpoles Offenherzigkeit hinsichtlich seiner Schwächen und seines Zurschautragens harmloser Aufrichtigkeit fand, aber ich konnte doch nicht so ganz davon durchdrungen sein, daß Mr. Skimpoles Wesen vollständig uneigennützig sei.

Sie gingen beide mit mir nach Hause, und nachdem Mr. Skimpole uns am Gartentor verlassen hatte, trat ich leise mit Richard ein und sagte:

»Liebe Ada, ich habe einen Herrn mitgebracht, der dich besuchen will.«

Es war nicht schwer, in ihrem errötenden erschrockenen Gesicht zu lesen. Sie liebte ihn innig, und er wußte es, und ich wußte es. Es war eine durchsichtige Sache, dieses »Einander-nur-Vetter-und-Kusine-Sein«.

Ich machte mir fast Vorwürfe, in meinem Argwohn engherzig zu sein, aber ich fühlte mich doch nicht so ganz sicher, ob Richard Ada ebenso innig liebte wie sie ihn. Er bewunderte sie sehr – das hätte jeder tun müssen – und würde, glaube ich wohl sagen zu dürfen, sein jugendliches Verlöbnis mit Stolz und Freude erneuert haben, wenn er nicht gewußt hätte, wie fest sie das ihrem Vormund gegebne Versprechen gehalten haben würde.

Dennoch quälte mich der Gedanke, daß der ihn beherrschende Einfluß sich sogar bis hierher erstreckte, daß er hier wie in allem andern das Beste aufschöbe, bis ihm ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ nicht mehr auf der Seele liege. Was Richard ohne diesen geistigen Mehltau hätte sein können, entzieht sich wohl für immer meinen Blicken.

Er sagte Ada in seiner offensten Weise, er sei nicht gekommen, um die mit Mr. Jarndyce – wie er sagte, zu blind und vertrauensvoll – vereinbarten Bedingungen heimlich zu verletzen, sondern sei öffentlich gekommen, um sie und mich zu sehen und sich wegen seiner gegenwärtigen Stellung zu Mr. Jarndyce zu rechtfertigen. Da das alte Kind uns gleich stören kommen werde, bäte er mich, für morgen eine Stunde, wo er ohne Rückhalt mit mir sprechen und sich rechtfertigen könne, zu bestimmen. Ich schlug ihm einen Spaziergang im Park für sieben Uhr früh vor, und er ging darauf ein.

Mr. Skimpole erschien bald darauf und erheiterte uns eine Stunde lang. Er legte ein besonderes Verlangen an den Tag, die kleine Coavinses, wie er Charley nannte, zu sehen, und erzählte ihr mit der Miene eines Patriarchen, daß er ihrem seligen Vater soviel Beschäftigung, wie nur in seiner Macht gestanden, gegeben habe, und wenn einer ihrer kleinen Brüder sich beizeiten demselben Beruf zuwenden würde, er immer noch imstande zu sein hoffe, ihm ziemlich viel zu tun zu geben.

»Denn man fängt mich stets mit den gleichen Netzen«, sagte er und sah uns über ein Glas Wein mit Wasser mit strahlendem Gesicht an. »Und ich werde jedesmal wieder ausgelöst. Irgend jemand zahlt immer für mich. Ich selbst kann es nicht, das wissen Sie, denn ich habe nie Geld. Durch irgend jemandes Hilfe komme ich immer wieder frei. Wenn Sie mich aber fragen, wer der Jemand ist, könnte ich es Ihnen auf mein Wort nicht sagen. Wir wollen auf dieses Jemands Gesundheit trinken. Gott segne ihn!«

Richard verspätete sich ein wenig am Morgen, aber ich hatte nicht lange auf ihn zu warten, und wir gingen zusammen in den Park. Die Luft war hell und taufrisch, und kein Wölkchen stand am Himmel. Die Vögel sangen entzückend, die funkelnden Tropfen im Farnkraut, auf Gras und Laub, waren herrlich anzusehen, und der Reichtum des Waldes schien sich seit gestern verzwanzigfacht zu haben, als ob die Natur in der stillen Nacht emsiger als je für die Herrlichkeit des Tages vorgesorgt hätte.

»Es ist ein reizender Ort«, sagte Richard und sah sich um. »Nichts von dem Streit und dem Unfrieden von Prozessen.«

– Aber andrer Kummer war hier! –

»Ich will Ihnen was sagen, liebes Mütterchen. Wenn ich meine Angelegenheiten erst einmal in Ordnung gebracht habe, glaube ich, ich ziehe hierher und setze mich zur Ruhe.«

»Wäre es nicht besser, sich jetzt zur Ruhe zu setzen?«

»Jetzt zur Ruhe zu kommen oder überhaupt etwas Definitives zu tun, ist nicht so leicht. Kurz, es ist unmöglich. Mir wenigstens.«

»Warum?«

»Sie wissen, warum, Esther. Wenn Sie in einem unausgebauten Hause wohnten, das jeden Tag ein neues Dach bekommen oder vom Giebel bis zum Grund eingerissen und wieder neu aufgebaut werden kann – morgen, übermorgen, nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr –, würde es Ihnen auch schwerfallen, sich zur Ruhe zu setzen oder ins Geleise zu kommen. So geht es mir. Jetzt!! Es gibt kein Jetzt für uns Prozeßparteien.«

Ich hätte fast an die Anziehungskraft glauben können, von der meine arme geisteskranke Freundin in Bleakhaus gesprochen hatte, als ich jetzt wieder Richards verfinsterten Blick von gestern abend sah. Schrecklicher Gedanke, aber es lag auch etwas darin von dem Schatten des unglücklichen Gridley.

»Mein lieber Richard«, wendete ich ein, »das ist ein schlechter Anfang für unsre Unterredung.«

»Ich wußte, daß Sie das sagen würden, Mütterchen.«

»Und nicht ich allein, lieber Richard, war es, die Sie einmal warnte, nie eine Hoffnung oder eine Erwartung auf diesen Familienfluch zu gründen!«

»Da kommen Sie wieder auf John Jarndyce zurück«, unterbrach mich Richard ungeduldig. »Nun gut. Früher oder später müssen wir sowieso darauf kommen, denn auf ihn bezieht sich alles, was ich zu sagen habe, und es ist vielleicht am besten, wir sprechen gleich davon. Meine liebe Esther, wie können Sie nur so blind sein! Sehen Sie denn nicht, daß er als Mitbeteiligter ein Interesse daran haben muß, daß ich nichts von dem Prozesse weiß und mich möglichst wenig darum kümmere?«

»Richard!« drang ich in ihn. »Ist es denn möglich, daß Sie Mr. Jarndyce jemals gesehen, ihn sprechen gehört haben, jemals in seinem Hause gewohnt und ihn gekannt haben und es dennoch über sich bringen können, selbst mir gegenüber und an diesem einsamen Ort, wo uns niemand hört, einen so unwürdigen Verdacht auszusprechen!«

Er errötete tief, als ob er in seiner angebornen natürlichen Hochherzigkeit einen Gewissensbiß empfinde. Er schwieg eine kleine Weile, ehe er mit gepreßter Stimme zur Antwort gab:

»Esther, ich bin überzeugt, Sie halten mich nicht für einen niedrig denkenden Menschen und wissen, ich fühle wie Sie, daß Argwohn und Mißtrauen schlimme Eigenschaften in so jungen Jahren wie den meinen sind.«

»Gewiß«, versicherte ich, »gewiß.«

»Sie sind ein liebes Mädchen, wie immer, und trösten mich. Ich hätte überhaupt in dieser ganzen Angelegenheit ein bißchen Trost nötig, denn sie ist selbst im besten Fall eine schlimme Sache, wie ich Ihnen nicht erst zu sagen brauche.«

»Das weiß ich, Richard, das weiß ich so gut – was soll ich nur sagen –so gut wie Sie.«

»Kommen Sie, Schwester«, sagte Richard ein wenig heiterer. »Seien Sie jetzt unparteiisch. Wenn ich das Unglück habe, unter dem Einfluß des Prozesses zu stehen, so hat er’s doch auch. Wenn es mich ein wenig durcheinander gebracht hat, so ist es doch bei ihm ebenso der Fall. Ich sage ja nicht, daß er – abgesehen davon – nicht ein ehrenwerter Mann sei. Ich bin überzeugt, daß er es ist. Aber es steckt jedermann an. Sie wissen selbst, daß es jedermann ansteckt. Sie haben das fünfzigmal von ihm selber gehört. Warum sollte denn gerade er davon frei sein.«

»Weil«, sagte ich, »weil er ein ungewöhnlicher Charakter ist und sich mit Festigkeit außerhalb des Zauberkreises gehalten hat, Richard.«

»Ach, weil und weil!« entgegnete Richard in seiner lebhaften Weise. »Ich weiß wirklich nicht, mein liebes Mütterchen, ob es nicht bloße Klugheit und Vorsichtigkeit von ihm ist, die Maske solcher Gleichgültigkeit aufzusetzen. Andre dabei beteiligte Parteien werden vielleicht dadurch gleichgültiger gegen ihre eignen Interessen. Leute können wegsterben und Einzelheiten in Vergessenheit geraten – kurz, viele Dinge ruhig geschehen, die recht gelegen kommen.«

Richard tat mir so leid, daß ich ihm keinen Vorwurf mehr machen konnte, selbst nicht mit einem Blick. Ich erinnerte mich daran, wie nachsichtig und ohne Bitterkeit mein Vormund von ihm gesprochen hatte.

»Esther«, fing Richard wieder an, »Sie dürfen nicht etwa glauben, ich sei hierher gekommen, um John Jarndyce heimlich anzuklagen. Ich bin nur gekommen, um mich zu rechtfertigen. Was ich sage, ist: Alles war recht gut und schön, und wir kamen aufs beste miteinander aus, solange ich noch ein Knabe war und mich um den Prozeß ganz und gar nicht kümmerte. Kaum aber fing ich an, ein Interesse daran zu finden und ihm nachzugehen, wurde die Sache anders. Da entdeckte John Jarndyce, Ada und ich müßten unser Verhältnis lösen und paßten nicht für einander, wenn ich meinen höchst tadelnswerten Weg nicht verließe. Und das zu tun, fällt mir nun, liebe Esther, nicht ein. Ich will John Jarndyces Gunst nicht unter diesen unbilligen Bedingungen genießen, die er durchaus kein Recht hat, mir vorzuschreiben. Aber ob es ihm nun gefallen oder mißfallen mag, jedenfalls werde ich meine und Adas Rechte aufrecht erhalten. Ich habe viel darüber nachgedacht und bin endlich zu diesem Schluß gekommen.«

Armer lieber Richard! Allerdings hatte er darüber sehr viel nachgedacht. Sein Gesicht, seine Stimme und sein ganzes Benehmen verrieten das deutlich.

»Ich sage offen und ehrlich und habe ihm bereits darüber geschrieben, daß wir uneins sind und daß es besser ist, wir sind es offen als heimlich. Ich danke ihm für seinen guten Willen und seinen Schutz, und er geht seinen Weg und ich den meinen. Tatsache ist nun einmal, daß unsre Wege nicht dieselben sind. Nach einem der strittigen Testamente soll ich viel mehr bekommen als er. Ich will nicht behaupten, daß gerade dieses Testament gerichtlich bestätigt werden müsse, aber es hat gerade soviel Aussicht darauf wie die andern.«

»Lieber Richard. Ich habe schon von Ihrem Brief an ihn gehört. Er erwähnte ihn ohne ein böses oder erzürntes Wort.«

»Wirklich?« entgegnete Richard, ein wenig besänftigt. »Da freut es mich, daß ich sagte, er sei ein ehrenhafter Mann, außerhalb dieser ganzen unglückseligen Geschichte. Ich sagte das immer und habe nie daran gezweifelt. Ich weiß wohl, liebe Esther, meine Ansichten werden Ihnen ungerecht erscheinen und auch Ada, wenn Sie ihr erzählen, was wir miteinander gesprochen haben, aber wenn Sie die Prozeßakten so durchgenommen hätten, wie ich bei Kenge, wenn Sie wüßten, was für eine Unmasse von Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen, Verdächtigungen und Gegenverdächtigungen in ihnen steckt, so würden Sie mich in meiner jetzigen Ansicht geradezu für gemäßigt halten.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Aber glauben Sie denn, daß in diesem Wust von Papieren viel Wahrheit und Gerechtigkeit steckt, Richard?«

»Wahrheit und Gerechtigkeit steckt irgendwo in dem Prozeß, Esther –«

»– oder war vor langer Zeit einmal darin«, sagte ich.

»Ist – ist darin – muß doch irgendwo darin stecken«, fuhr Richard ungeduldig fort, »und endlich einmal an den Tag kommen. Aber Ada mir als Lockvogel hinzustellen, um mich abzulenken, ist nicht der richtige Weg, die Wahrheit an den Tag zu bringen. Sie sagen, der Prozeß habe mich verändert. John Jarndyce sagt, er verändere jeden, der daran teil hat, habe es getan und werde es immer tun. Ein um so größeres Recht habe ich dann, alles aufzubieten, was ich nur kann, um ihn zu Ende zu bringen.«

»Alles, was Sie können, Richard! Aber glauben Sie nicht, daß in diesen vielen Jahren andre nicht auch schon getan haben, was sie konnten? Sind die Schwierigkeiten geringer geworden, bloß, weil es so vielen fehlgeschlagen ist?«

»Es kann nicht ewig dauern«, rief Richard mit einer heftig aufflammenden Wildheit, die wieder die traurige Erinnerung an Gridley in mir wachrief. »Ich bin jung, und es ist mir ernst. Und Energie und festes Wollen haben schon manches Wunder getan. Andre haben sich nur mit halber Kraft darauf geworfen. Ich widme mich der Sache mit Leib und Seele. Ich mache sie zu meinem Lebenszweck.«

»Um so schlimmer, lieber Richard, ach, nur um so schlimmer.«

»Nein, nein, nein, haben Sie keine Angst um mich!« antwortete er mit großer Innigkeit. »Sie sind ein liebes, gutes, kluges, ruhiges, prächtiges Mädchen, aber Sie sind in Vorurteilen befangen. Ich komme damit wieder auf John Jarndyce. Ich sage Ihnen, meine gute Esther, als wir miteinander auf dem Fuß standen, den er für so angemessen fand, standen wir nicht auf dem natürlichen Fuß.«

»Halten Sie denn Zwist und Feindschaft für natürliche Verhältnisse, Richard?«

»Nein, das sage ich nicht. Ich meine nur, daß die ganze Angelegenheit uns in eine schiefe Lage drängt, in der natürliche Verhältnisse ein Unding sind. Wieder ein Grund mehr, die Sache nach Möglichkeit zu beschleunigen. Wenn alles vorbei sein wird, entdecke ich vielleicht, daß ich mich in John Jarndyce geirrt habe. Mein Kopf wird möglicherweise klarer sein, wenn ich den Prozeß einmal los bin, und dann stimme ich vielleicht dem bei, was Sie mir heute gesagt haben. – Sehr gut. Dann werde ich das mit Freude anerkennen und ihm Abbitte leisten.«

– Also alles in eine phantastische Ferne gerückt, und bis dahin Verwirrung und Unklarheit! –

»Vertrauteste meiner Seele! Meine liebe, liebe Esther, ich wünsche, daß meine Kusine Ada einsieht, daß ich hinsichtlich John Jarndyce nicht voreingenommen, launenhaft oder trotzköpfig bin, sondern zielbewußt vorgehe und die Vernunft auf meiner Seite habe. Ich möchte gern, daß Sie bei ihr für mich sprechen. Sie hat eine große Verehrung für ihren Vetter John, und ich weiß, Sie werden den von mir gewählten Weg in milderem Licht darstellen, selbst, wenn Sie ihn nicht billigen, und – kurz – ich möchte mich einem so vertrauensvollen Herzen wie dem Adas nicht im Lichte eines streitsüchtigen und argwöhnischen Charakters zeigen.«

Ich sagte ihm, er sei in diesen letzten Äußerungen mehr wieder der alte Richard gewesen als in all dem, was er vorher geäußert habe.

»Nun ja«, gestand Richard, »da mögen Sie recht haben, Esther. Es kommt mir fast selbst so vor. Aber ich werde mit der Zeit imstande sein, mich offen zu geben. Dann wird alles ins Geleise kommen, haben Sie keine Angst.«

Ich fragte, ob das alles sei, was ich Ada sagen sollte.

»Nicht ganz. Es ist meine Pflicht, ihr nicht zu verschweigen, daß John Jarndyce meinen Brief in seiner gewohnten Art beantwortet hat, mich als ‚lieber Rick‘ angeredet, mir meine Meinungen auszureden versucht und mir gesagt hat, daß er deshalb zu mir nicht anders sein werde. Das alles ist recht schön und gut, ändert aber die Sache selbst nicht. Ich wünsche auch, Ada wissen zu lassen, daß ich für ihre Interessen so gut wie für die meinen sorge – denn ihr und mein Interesse decken sich –, und hoffe, sie werde mich, wenn vielleicht unbestimmte Gerüchte ihr zu Ohren kommen sollten, nicht für leichtsinnig oder unbedacht halten. Ich richte im Gegenteil mein ganzes Augenmerk auf die Beendigung des Prozesses und arbeite stets auf dieses Ziel hin. Da ich inzwischen mündig geworden bin und diesen Schritt nun einmal getan habe, so halte ich mich jeder Verantwortlichkeit gegenüber John Jarndyce zwar für ledig, aber da Ada immer noch Kanzleigerichtsmündel ist, verlange ich die Erneuerung unsres Verlöbnisses vorläufig noch nicht von ihr. Wenn sie frei und selbständig handeln kann, werde ich wieder mir selbst gehören, und ich glaube, wir werden dann in ganz andern materiellen Verhältnissen sein.

Wenn Sie ihr das alles in Ihrer rücksichtsvollen Weise sagen wollten, würden Sie mir einen großen Freundschaftsdienst erweisen, liebe Esther, und ich werde mich mit ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ mit noch größerer Energie herumschlagen. Natürlich verlange ich nicht, daß in Bleakhaus etwas geheimgehalten wird.«

»Richard«, sagte ich, »Sie schenken mir großes Vertrauen, und doch, fürchte ich, werden Sie keinen Rat von mir annehmen?«

»In dieser Angelegenheit unmöglich, meine liebe Esther. In jeder andern mit der größten Bereitwilligkeit.«

– Als ob in seinem Leben noch eine andre existierte! Als ob seine ganze Laufbahn und sein Charakter nicht eine einzige Farbe angenommen hätten! –

»Aber eine Frage darf ich Ihnen doch vorlegen, Richard?«

»Ich dächte ja«, sagte er lachend. »Ich wüßte nicht, wer es sonst tun könnte, wenn nicht Sie.«

»Sie sagten vorhin, daß Sie kein geordnetes Leben führten.«

»Wie kann ich denn das, liebe Esther, wenn nichts im Geleise ist?«

»Haben Sie wieder Schulden gemacht?«

»Natürlich«, sagte Richard, ganz erstaunt über meine Einfalt.

»Ist das so natürlich?«

»Gewiß, liebes Kind. Ich kann mich einer Sache ohne Geldkosten doch nicht vollständig widmen. Sie vergessen oder vielmehr wissen nicht, daß, mag jetzt dieses oder jenes Testament bestätigt werden, Ada und ich jedenfalls etwas bekommen müssen. Es kann sich nur um die größere oder die kleinere Summe handeln. Ganz durchzufallen ist ausgeschlossen. Beruhigen Sie sich, meine prächtige Esther«, sagte Richard, dem ich wirklich Spaß zu machen schien, »ich werde schon gut durchkommen! Ich werde mir schon einen Weg bahnen, meine Liebe.«

Ich sah die Gefahr, in der er schwebte, so deutlich, daß ich ihn in Adas und meines Vormunds und meinem eignen Namen aufs dringendste beschwor, ihn warnte und ihm einige seiner Irrtümer klar zu machen versuchte. Alles, was ich ihm sagte, hörte er mit Geduld und Sanftmut an, aber es prallte von ihm ab, ohne den mindesten Eindruck hervorzubringen. Nach der Art, wie er meines Vormundes Brief aufgenommen hatte, konnte ich mich darüber eigentlich nicht wundern, aber jedenfalls beschloß ich, auch noch Adas Einfluß auf ihn wirken zu lassen.

Als wir daher auf unserm Spaziergang das Dorf erreichten und ich zum Frühstück nach Hause kam, bereitete ich Ada auf alles, was ich ihr mitzuteilen hatte, vor, und stellte ihr vor Augen, wie sehr wir zu befürchten hätten, daß Richard sich selbst verlieren und sein ganzes Leben zwecklos vergeuden könnte. Natürlich machte sie das sehr bekümmert, aber sie hoffte, viel zuversichtlicher als ich, daß er seine Irrtümer rechtzeitig einsehen werde.

– Es war so natürlich und liebevoll von meinem Herzensschatz. –

Dann setzte sie sich hin und schrieb ihm folgenden Brief:

Liebster Vetter!

Esther hat mir alles mitgeteilt, was Du ihr diesen Morgen gesagt hast. Ich schreibe Dir jetzt, um auf das dringlichste alles, was sie Dir vorgehalten hat, selbst zu wiederholen und Dich wissen zu lassen, wie fest ich überzeugt bin, daß Du früher oder später in unserm Vetter John ein Muster von Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Herzensgüte erkennen wirst. Es wird Dir noch einmal bitter leid tun, ihm, wenn auch unabsichtlich, so unrecht getan zu haben.

Ich weiß nicht recht, wie ich das, was ich Dir jetzt sagen möchte, schreiben soll, aber ich hoffe, Du wirst es so auffassen, wie ich es meine. Ich fürchte fast, liebster Vetter, daß Du Dir zum Teil meinetwegen für die Zukunft so viel Sorge machst – und damit natürlich auch mir. Im Falle das so sein sollte, bitte ich Dich auf das ernstlichste und flehentlichste, davon abzulassen. Du könntest nichts für mich tun, was mich halb so glücklich machen würde, als daß Du dem unheilvollen Schatten, in dem wir beide geboren sind, auf ewig den Rücken kehrtest. Sei mir nicht böse, daß ich Dir das sage. Bitte, bitte, lieber Richard, tue es um meinet – und um deinetwillen. Schon aus natürlicher Abneigung gegen die Sorgenquelle, die mit schuld war, daß wir schon in frühester Jugend Waisen wurden, bitte, bitte, sage Dich auf ewig davon los. Wir haben wahrhaftig Grund, zu wissen, daß nichts Gutes und keine Hoffnung aus dieser Quelle kommt. Nur Kummer und Sorgen.

Liebster Vetter, ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß Du selbstverständlich ganz frei bist. Aller Wahrscheinlichkeit nach wirst Du einmal ein Mädchen finden, das Du viel mehr lieben wirst als Deine erste flüchtige Jugendneigung. Laß mich Dir sagen, daß ich Deinem Schicksal viel lieber in die weite Welt folgen – und wäre es noch so bescheiden und armselig – und Dich in der Erfüllung Deiner Pflicht und im Verfolgen des von Dir erwählten Weges glücklich sehen, als hoffen würde, mit Dir auf Kosten öder Jahre martervollen Wartens und gleichgültig gegen jedes andre Lebensziel dereinst reich zu sein, wenn das überhaupt möglich wäre. Du wirst Dich vielleicht wundern, daß ich das bei meiner geringen Lebenserkenntnis und Erfahrung so zuversichtlich ausspreche, aber im innersten Herzen fühle ich, daß ich recht habe.

Stets verbleibe ich, liebster Vetter,
Deine Dich zärtlich liebende
Ada.

Dieses Briefchen brachte Richard sehr bald zu uns. Aber es machte nur einen sehr geringen, wenn überhaupt einen Eindruck auf ihn.

»Wir wollen unparteiisch versuchen«, sagte er, »wer recht und wer unrecht hat.« Er wollte es uns zeigen – wir sollten schon sehen. Er war begeistert und voller Glut, als ob Adas Zärtlichkeit ihn ansporne, aber ich konnte nur seufzend hoffen, der Brief möchte, wenn er ihn später nochmals läse, einen stärkeren Eindruck auf ihn machen, als es offenbar jetzt der Fall gewesen.

Da er den Tag über bei uns bleiben wollte und für den nächsten Morgen Plätze in der Landkutsche bestellt hatte, suchte ich Gelegenheit, mit Mr. Skimpole zu sprechen. Da wir uns viel im Freien aufhielten, ergab sich das leicht, und ich deutete ihm zart an, es sei eine Sache der Verantwortlichkeit, Richard vor unnötigen Ausgaben zurückzuhalten.

»Verantwortlichkeit, meine liebe Miß Summerson?« griff Mr. Skimpole das Wort mit seinem gewinnendsten Lächeln auf. »Ich bin für so etwas der allerungeeignetste Mensch auf der Welt. Ich war nie in meinem Leben verantwortlich. Ich kann es nicht sein.«

»Ich fürchte, jedermann ist verpflichtet, es zu sein«, wendete ich schüchtern ein, da er soviel älter und gescheiter war als ich.

»Wirklich?« sagte Mr. Skimpole mit drolligem Erstaunen über meinen lichtvollen Einwand. »Aber jedermann ist doch nicht verpflichtet, zahlungsfähig zu sein? Ich bin es zum Beispiel nicht. Ich war es nie. Sehen Sie her, meine liebe Miß Summerson.« Er nahm eine Handvoll loses Kupfer- und Silbergeld aus der Tasche. »Hier ist soundsoviel Geld. Ich habe keine Idee, wieviel es ist. Ich bin in der Kunst des Zählens nicht bewandert. Sagen wir vier Schilling und neun Pence – sagen wir vier Pfund und neun Schilling. Jemand behauptet nun, ich wäre viel mehr schuldig als das. Ich glaube das gern. Ich glaube, ich bin soviel schuldig, als gutmütige Leute mir borgen wollen. Wenn sie nicht aufhören, das zu tun, warum sollte ich mich weigern. Da haben Sie Harold Skimpole im kleinen. Wenn das Verantwortlichkeit ist, so bin ich verantwortlich.«

Die vollkommene Unbefangenheit, mit der er das Geld wieder einsteckte und mich mit einem Lächeln auf seinem geistvollen Gesicht ansah, als ob er mir eine Anekdote von irgendeinem andern erzählt hätte, machte auf mich fast den Eindruck, als ob ihn wirklich die Sache nicht das geringste anginge.

»Wenn Sie schon von Verantwortlichkeit sprechen«, fing er wieder an, »so möchte ich Ihnen sagen, daß ich noch nie das Glück gehabt habe, jemanden zu kennen, der so erfrischend verantwortlich ist wie Sie. Sie erscheinen mir wie der wahre Probierstein der Verantwortlichkeit. Wenn ich Sie, meine liebe Miß Summerson, so beschäftigt sehe, das ganze kleine geordnete System, dessen Mittelpunkt Sie selbst sind, tadellos in Gang zu erhalten, so fühle ich eine Neigung, mir zu sagen – und sage es wirklich sehr oft –: das ist wahres Verantwortlichkeitsgefühl.«

Nach solchen Äußerungen fiel es mir schwer, ihm zu erklären, was ich meinte, aber ich ging doch so weit zu sagen, daß wir alle hofften, er werde Richard in seiner jetzigen falschen Lebensansicht nicht bestärken, sondern eher davon abzubringen suchen.

»Wie gern täte ich’s, wenn ich könnte«, gab er zur Antwort. »Aber, meine liebe Miß Summerson, mir liegt alle Künstelei und Verstellung fern. Wenn er mich bei der Hand nimmt und nach einer lustigen Jagd nach dem Glück durch Westminster-Hall führt, muß ich ihm doch folgen. Wenn er sagt: ‚Skimpole, schließen Sie sich dem Tanz an‘, muß ich mich ihm anschließen. Der gesunde Menschenverstand würde das nicht tun, ich weiß. Aber ich habe keinen gesunden Menschenverstand.«

»Es ist ein großes Unglück für Richard«, gab ich ihm zu bedenken.

»Sind Sie wirklich der Meinung?« entgegnete Mr. Skimpole. »Sagen Sie das nicht! Nehmen wir an, er trifft auf der Straße den leibhaftigen gesunden Menschenverstand, einen vortrefflichen Mann, Runzeln im Gesicht, fürchterlich praktisch. Kleingeld für eine Zehnpfundnote in jeder Tasche, ein liniertes Rechenbuch in der Hand, kurz, sagen wir gleich, in jeder Hinsicht einem Steuereinnehmer gleichend. Unser lieber Richard, sanguinisch, enthusiastisch, Hindernisse überspringend, von Poesie übervoll wie eine junge Knospe, sagt zu diesem höchst respektablen Gefährten: ‚Ich sehe eine goldne Aussicht vor mir, sie ist heiter, wunderschön und freudig. Ich springe einfach über die öde Landschaft, die dazwischen liegt, hinweg, um die goldne Aussicht zu erreichen.‘ Der respektable Gefährte schlägt ihn sofort mit dem linierten Rechenbuch zu Boden, sagt ihm in seiner prosaischen Weise, er sehe nichts derart, beweist ihm, daß es nichts ist als Advokatenhonorare, Betrug, Roßhaarperücken und schwarze Talare. Sie müssen zugeben, daß das eine schmerzliche Enthüllung ist, allerdings verständig in letzter Linie, was ich gar nicht bezweifle, aber unangenehm. So etwas liegt mir nicht. Ich besitze kein liniertes Rechenbuch und habe kein steuereinsammelndes Element in der Zusammensetzung meiner Seele. Ich bin in keiner Hinsicht respektabel und verlange es nicht zu sein. Sonderbar vielleicht, aber es ist so.«

Es war unnütz, darüber noch ein Wort zu verlieren, und so schlug ich denn vor, uns Ada und Richard, die ein wenig vorausgegangen waren, anzuschließen, und gab Mr. Skimpole verzweifelt auf.

Er hatte im Lauf des Morgens sich das Schloß angesehen und beschrieb während unsres Spaziergangs sehr launig die Familienporträts. Es befänden sich unter den seligen Ladies Dedlock, erzählte er uns, so schauderhafte Schäferinnen, daß die friedlichen Hirtenstäbe in ihren Händen wie Angriffswaffen aussähen. Sie hüteten ihre Herden in Steifleinen und Puder und legten sich, nur um das Bürgervolk zu erschrecken, Schönheitspflästerchen auf, wie sich die Häuptlinge wilder Stämme für den Kriegspfad bemalten. Unter den Bildern befände sich eines von Sir Dedlock, Numero Soundsoviel, mit einer Schlacht im Hintergrund, einer auffliegenden Mine, Rauchwolken, flammenden Blitzen, einer brennenden Stadt und einem erstürmten Fort. Alles das sei zwischen den Hinterbeinen seines Pferdes zu sehen, wahrscheinlich um zu zeigen, wie wenig sich ein Dedlock aus solchen Kleinigkeiten mache. Das ganze Geschlecht, sagte er, sei im Leben das gewesen, was er ausgestopfte Menschen nenne – eine zahlreiche Kollektion mit Glasaugen, in der jeweilig modernsten Haltung auf verschiedenen Zweigen und Stengeln des Stammbaumes sitzend, sehr korrekt, ganz ohne Leben und immer in Glaskästen. Der Name Dedlock und jede Anspielung darauf bedrückte mich, und ich fühlte mich förmlich erleichtert, als Richard das Thema unterbrach, indem er mit einem Ausruf des Erstaunens einem Fremden entgegeneilte, der langsam auf uns zukam.

»Mein Gott!« rief Mr. Skimpole. »Vholes.«

Wir fragten, ob der Herr ein Freund Richards sei.

»Freund und juristischer Beirat«, erklärte Mr. Skimpole. »Ich versichere Ihnen, liebe Miß Summerson, wenn Sie gesunden Menschenverstand, Verantwortlichkeitssinn und Respektabilität in einem Mann vereinigt haben wollen, kurz, wenn Sie einen Mustermenschen haben wollen, dann ist Vholes der Mann.«

Wir sagten, wir hätten nicht gewußt, daß Richard den Rechtsbeistand eines Herrn dieses Namens genieße.

»Als er seine juristischen Kinderschuhe austrat«, entgegnete Mr. Skimpole, »machte er sich von unserm Freund, dem Konversationskenge, los und schloß sich, glaube ich, Vholes an. Das heißt, ich weiß es, denn ich führte ihn bei Vholes ein.«

»Kannten Sie ihn schon lange?« fragte Ada.

»Vholes? Meine liebe Miß Clare, ich war mit ihm auf dieselbe Weise wie schon mit mehreren Herren seines Fachs bekannt geworden. Er hat mich einmal in sehr gewinnender höflicher Weise behandelt. Ich glaube, er beantragte eine Exekution, wie es die Leute nennen, gegen mich. Irgend jemand war so gut, zu vermitteln und das Geld zu bezahlen. – Irgendeine Summe plus vier Pence war der Betrag –, ich habe vergessen, wieviel Pfund und Schillinge, aber ich weiß noch, die Summe endete mit vier Pence, und es kam mir damals noch so komisch vor, daß ich jemand vier Pence schuldig sein sollte. Kurz nach diesem Vorfall machte ich sie miteinander bekannt. Vholes bat mich darum, und ich tat es. Jetzt, wo ich weiter darüber nachdenke« – er sah uns mit seinem offenherzigsten Lächeln an, als ob er eine große Entdeckung gemacht habe – »frage ich mich, hat mich Vholes vielleicht bestochen? Er gab mir etwas und nannte es Provision. War es eine Fünfpfundnote? Ich glaube fast, es war eine Fünfpfundnote.«

Von weiteren Äußerungen über diesen Punkt hielt ihn Richards Rückkunft ab, der jetzt aufgeregt wieder zu uns trat und hastig Mr. Vholes vorstellte, einen blassen Mann mit schmalen Lippen, die aussahen, als seien sie eiskalt, hie und da einen roten Pickel auf dem Gesicht, von langer dürrer Gestalt, ungefähr fünfzig Jahre alt, engbrüstig und von gebückter Haltung. Ganz schwarz gekleidet, sogar die Handschuhe schwarz, und bis ans Kinn zugeknöpft, war an ihm nichts so merkwürdig wie sein lebloses Wesen und eine gewisse langsame starre Art, Richard anzublicken.

»Ich hoffe, ich störe Sie nicht, meine Damen«, sagte Mr. Vholes, und dabei bemerkte ich, daß er noch etwas Seltsames an sich hatte, nämlich eine merkwürdige Angewohnheit, in sich hineinzusprechen. »Ich habe mit Mr. Carstone verabredet, ihn stets auf dem laufenden zu erhalten, wenn der Lordkanzler seinen Prozeß auf die Tagesordnung setzt, und da mich nun einer meiner Schreiber gestern abend nach Postschluß benachrichtigte, der Fall werde unerwarteterweise morgen drankommen, nahm ich heute in aller Frühe einen Platz in der Landkutsche, um mit ihm in konferieren.«

»Ja«, sagte Richard mit gerötetem Gesicht und warf einen triumphierenden Blick auf Ada und mich. »Wir betreiben diese Sachen jetzt nicht mehr in der alten langsamen Weise. Jetzt heißt’s vorwärts. – Mr. Vholes, wir müssen ein Fuhrwerk mieten, um zur Poststation hinüberzufahren, damit wir heute abend die Kutsche noch treffen und in die Stadt kommen.«

»Ganz wie Sie wünschen, Sir«, entgegnete Mr. Vholes. »Ich stehe ganz zur Verfügung.«

»Warten Sie mal«, – Richard sah auf die Uhr, »Wenn ich jetzt zum Wirtshaus hinunterlaufe und meinen Mantelsack schnüren lasse, ein Gig oder eine Chaise bestelle oder was wir sonst bekommen können, bleibt uns noch eine ganze Stunde. Ich bin zum Tee wieder da. Ada und Sie, Esther, würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein, Mr. Vholes während meiner Abwesenheit zu bewirten?«

In seiner Hast war er schon fort, und wir verloren ihn bald in der Abenddämmerung aus dem Gesicht und gingen mit Mr. Vholes dem Hause zu.

»Ist Mr. Carstones Anwesenheit morgen notwendig, Sir?« fragte ich. »Kann sie von Nutzen sein?«

»Nein, Miß«, entgegnete Mr. Vholes. »Ich wüßte nicht, wie.«

Ada und ich sprachen unser Bedauern aus, daß Richard uns also nur verlassen sollte, um sich morgen enttäuscht zu sehen.

»Mr. C. hat es sich zum Prinzip gemacht, selbst seine Interessen überwachen zu wollen«, erklärte Mr. Vholes. »Und wenn ein Klient ein Prinzip aufstellt, und es ist nicht unmoralisch, so ist es meine Pflicht, danach zu handeln. Ich wünsche im Geschäft exakt und offen zu sein. Ich bin Witwer mit drei Töchtern – Emma, Jane und Karoline – und habe nur den Wunsch, meinen Lebenspflichten so zu genügen, daß ich ihnen einen geachteten Namen hinterlasse. – Übrigens, das ist wirklich ein sehr hübscher Aussichtspunkt hier, Miß.«

Da die Bemerkung mir galt, denn er ging neben mir, stimmte ich bei und wies noch auf andre Hauptreize der Landschaft hin.

»Es liegt mir ob«, sagte Mr. Vholes, »einen greisen Vater im Tal von Taunton zu unterstützen, seiner Heimat, und bin ein großer Bewunderer von Landschaften. Ich hatte keine Ahnung, daß die Gegend hier so reizvoll ist.«

Um die Konversation im Gang zu erhalten, fragte ich Mr. Vholes, ob er wohl gern auf dem Lande leben würde.

»Da berühren Sie eine zarte Saite in meinem Herzen, Miß. Meine Gesundheit ist nicht besonders gut – meine Verdauung hat sehr gelitten –, und wenn ich nur auf mich Rücksicht zu nehmen hätte, würde ich mich auf das Land zurückziehen, zumal mich Geschäftssorgen stets abgehalten haben, viel in Gesellschaft zu verkehren, und vor allem in Damengesellschaft, an der mir stets am meisten lag. Aber da ich drei Töchter habe – Emma, Jane und Karoline – und außerdem meinen greisen Vater, kann ich nicht an mich selbst denken. Allerdings brauche ich meine geliebte Großmutter, die in ihrem hundertzweiten Jahr starb, nicht mehr zu unterstützen, aber immerhin bleibt mir noch genug zu tun, die Mühle stets in Gang zu erhalten.« – Man mußte wegen seiner Angewohnheit, in sich hineinzusprechen, und seiner merkwürdig leblosen Weise aufmerksam zuhören, wenn man ihn verstehen wollte. –

»Sie müssen entschuldigen, daß ich meine Töchter erwähnte. Es ist meine schwache Seite. Ich wünsche den armen Mädchen ein, wenn auch bescheidenes, so doch unabhängiges Einkommen sowie einen guten Namen zu hinterlassen.«

Wir erreichten jetzt Mr. Boythorns Haus, wo der gedeckte Teetisch unser bereits wartete. Kurz darauf kam auch Richard wieder, ruhelos und in Eile, und beugte sich über Mr. Vholes‘ Stuhl und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mr. Vholes antwortete laut – das heißt, was man bei ihm laut nennen konnte –: »Sie wollen mich selbst kutschieren, Sir? Ganz wie Sie wünschen. Ich bin stets zu Ihren Diensten.«

Aus den hierauf folgenden Gesprächen entnahmen wir, daß Mr. Skimpole bis zum Morgen dableiben sollte, um die bereits bezahlten Rückplätze für sich allein zu benützen. Da Ada und ich wegen Richard bekümmert waren und es uns leid tat, so von ihm zu scheiden, gaben wir so deutlich, wie es die Höflichkeit erlaubte, zu verstehen, wir möchten Mr. Skimpole im Wirtshause lassen und uns zurückziehen, sobald Richard und Mr. Vholes fortgefahren sein würden.

Da Richards Lebhaftigkeit uns alle mitriß, gingen wir zusammen nach dem Hügel auf der Höhe des Dorfes, wohin er das Gig bestellt hatte, und fanden dort einen Mann mit einer Laterne bei dem dürren Falb, der vor den Wagen gespannt war, stehen.

Ich werde nie vergessen, wie die beiden im Laternenschimmer nebeneinander saßen. Richard, ganz Feuer und Flamme, mit den Zügeln in der Hand, Mr. Vholes, totenstill, in schwarzen Handschuhen, bis zum Kinn zugeknöpft und ihn ansehend wie eine Beute, die er mit seinem Zauber umstrickte. Vor mir steht das ganze Bild der warmen dunkeln Sommernacht, das Wetterleuchten, die staubige Landstraße, von Hecken und hohen Bäumen umsäumt, und das dürre fahle Pferd mit den gespitzten Ohren.

So fuhren sie fort zur Verhandlung ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘.

Mein Liebling sagte mir diese Nacht, ob Richard in Zukunft glücklich oder unglücklich, von Freunden umgeben oder verlassen sein würde, könne für sie nur insofern einen Unterschied machen, als daß, je mehr er eines treuen Herzens bedürfen sollte, desto mehr Liebe das ihre für ihn haben werde. Immer und zu allen Zeiten werde sie an ihn und nie an sich selbst denken, nie an ihr eignes Wohl, wenn sie das seine würde fördern können.

Und hielt sie Wort?

Ich blickte im Geiste die vor mir sich hinziehende Lebensstraße entlang, auf der das Ende der Reise bereits in der Ferne sichtbar wird, und treu und gut über dem toten Meer des Kanzleigerichtsprozesses und allen seinen mit Asche gefüllten Früchten, die es ans Ufer wirft, glaube ich meinen Liebling zu sehen.

25. Kapitel


25. Kapitel

Mrs. Snagsby auf der Lauer

Mißstimmung herrscht in Cook’s Court, Cursitor Street. Schwarzer Verdacht wohnt in diesen friedlichen Regionen. Die Cook’s Courter sind wohl in ihrer gewöhnlichen Gemütsverfassung, aber Mr. Snagsby ist nicht mehr derselbe, und seine kleine Frau weiß es.

‚Toms Einöd‘ und Lincoln’s-Inn-Fields bleiben wie ein paar widerspenstige Durchgeher vor den Wagen von Mr. Snagsbys Phantasie gespannt. Mr. Bucket kutschiert, und drin sitzen Jo und Mr. Tulkinghorn, und das ganze Gefährt saust in wildem Jagen um das Zifferblatt herum. Selbst in der kleinen Küche auf die Gasse heraus, wo die Familie zu speisen pflegt, rasselt sie in scharfem Trab vom Eßtisch weg, wenn Mr. Snagsby im Anschneiden der Hammelkeule innehält und an die Küchenwand starrt.

Mr. Snagsby findet sich in seinem Kopf nicht mehr zurecht. Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Aber was daraus werden soll, wann und aus welchem Winkel es ungeahnt hervortreten wird, ist das verwirrende Rätsel seines Lebens. Seine dunklen Eindrücke von den Talaren und Krönchen, den Sternen und Ordensbändern, die durch die Stauboberfläche von Mr. Tulkinghorns Kanzlei schimmern, seine Ehrfurcht vor den Geheimnissen dieses besten und verschlossensten aller seiner Kunden, den sämtliche Inns, ganz Chancery-Lane und die juristische Nachbarschaft mit Scheu betrachten, seine Erinnerung an den Detektiv Mr. Bucket mit seinem langen Zeigefinger und seinem vertraulichen Getue, dem man weder entgehen noch etwas abschlagen kann, festigen in ihm die Überzeugung, daß er an einem gefährlichen Geheimnis teilhat, ohne zu wissen, was es ist.

Und es ist die schreckliche Eigentümlichkeit dieser Lage, daß zu jeder Stunde, bei jedem Aufgehen der Ladentür, bei jedem Klingeln, bei jeder Ankunft eines Boten oder eines Briefes das Geheimnis Feuer fangen, explodieren und irgend jemanden in die Luft sprengen kann. Wen, weiß Mr. Bucket allein.

Wenn daher ein Unbekannter, wie es doch oft geschieht, in den Laden tritt und fragt: Ist Mr. Snagsby da? oder sonst etwas Unschuldiges, so klopft Mr. Snagsbys Herz laut in seiner schuldbeladenen Brust. So sehr irritieren ihn solche Fragen, daß, wenn Knaben sie stellen, er über den Ladentisch hinweg ihnen eins hinter die Ohren gibt und die Schlingel fragt, was sie damit sagen wollen und warum sie nicht gleich mit allem herausrücken. Weniger irdisch greifbare Männer und Jungen stören beständig Mr. Snagsbys Schlummer und jagen ihn mit rätselhaften Fragen in Furcht, so daß, wenn sich der Hahn in der kleinen Milchwirtschaft in Cursitor Street in seiner gewohnten zwecklosen Weise über den Morgen ausläßt, Mr. Snagsby sich im Stadium des Alpdruckes befindet, bis seine kleine Frau ihn wachrüttelt und sagt: Was hat der Mann nur!

Die kleine Frau selbst trägt nicht wenig zu seiner Qual bei. Zu wissen, daß er immer ein Geheimnis vor ihr verbirgt, unter allen Umständen einen schmerzenden Zahn vor ihr zu verheimlichen hat, den sie ihm stets mit schlauer Begier herauszudrehen bereit ist, gibt Mr. Snagsby seiner Frau gegenüber ganz das Aussehen eines Hundes, der etwas angestellt hat und dem Auge seines Herrn ausweicht. Alle diese kleinen Anzeichen entgehen Mrs. Snagsbys scharfem Blick keineswegs. Snagsby hat etwas auf dem Herzen, sagt sie sich. Und so hält der Argwohn in Cook’s Court, Cursitor Street, seinen Einzug. Vom Argwohn zur Eifersucht findet Mrs. Snagsby den Weg so leicht wie von Cook’s Court nach Chancery-Lane. Und so hält die Eifersucht in Cook’s Court, Cursitor Street, ihren Einzug. Einmal dort – gelauert hat sie immer in der Gegend –, rumort sie rastlos in Mrs. Snagsbys Brust, treibt sie bei Nacht, Mr. Snagsbys Taschen zu untersuchen, Mr. Snagsbys Briefe heimlich zu lesen, im stillen das Hauptbuch und Journal, die kleine und die große Kasse und den Dokumentenschrank zu durchforschen, am Fenster zu lauern, hinter Türen zu horchen und beständig das und jenes mit den unrichtigen Enden zusammenzuknüpfen.

Mrs. Snagsby liegt so beständig auf der Lauer, daß das Haus vor lauter Dielenknistern und Kleiderrascheln einen ganz gespensterhaften Eindruck macht. Die »Stifte« glauben, es müsse jemand in alten Zeiten hier ermordet worden sein. In Gusters Kopf spuken Bruchstücke legendenhafter Ideen, daß unter dem Keller Geld vergraben sei und von einem weißbärtigen Alten bewacht werde, der vor siebentausend Jahren nicht erlöst werden könne, weil er das Vaterunser einmal rückwärts gebetet habe.

Wer war Nimrod? fragt sich Mrs. Snagsby immer wieder. Wer war die Dame – diese »Person« ? Und wer ist der Junge? Da Nimrod so tot ist wie der gewaltige Jägersmann, dessen Namen Mrs. Snagsby für ihre Zwecke mit Beschlag belegt hat, und die »Dame« nicht herbeizuschaffen ist, lenkt sich der Blick ihres Geistes vorderhand mit verdoppelter Wachsamkeit auf den Jungen.

Wer ist dieser Junge? fragt sich Mrs. Snagsby tausend und ein Mal. Wer ist dieser…? Und da geht ihr plötzlich ein Licht auf.

Er hat keinen Respekt vor Mr. Chadband! Nein, den hat er nicht und kann ihn auch nicht haben! Natürlich kann er keinen haben unter solchen ansteckenden Verhältnissen! Mr. Chadband hat ihn eingeladen – Mrs. Snagsby hat es mit eignen Ohren gehört –, wiederzukommen, um zu erfahren, wo Mr. Chadband predige. Und er ist nicht gekommen! Warum ist er nicht gekommen? Weil man es ihm verboten hat! Wer hat es ihm verboten? Wer? Haha! Mrs. Snagsby sieht plötzlich klar.

Aber zum Glück – und Mrs. Snagsby schüttelt grimmig den Kopf und lächelt grimmig – hat Mr. Chadband gestern den Knaben auf der Straße getroffen, und Mr. Chadband hat diesen Knaben, über den er zur Erbauung einer auserlesenen Gemeinde zu predigen wünscht, ergriffen und ihm gedroht, ihn der Polizei zu übergeben, wenn er nicht sage, wo er wohne, und sich nicht morgen seinem Versprechen gemäß in Cook’s Court einfinde. Mor-gen a-bend! wiederholt Mrs. Snagsby des Nachdrucks wegen mit grimmigem Lächeln und Kopfschütteln, und morgen abend wird der Junge kommen, und morgen abend wird Mrs. Snagsby ein Auge auf ihn und noch eine andere gewisse Person haben. O, du magst schon eine hübsche Weile deine Schleichwege gehen, sagt Mrs. Snagsby mit Stolz und Verachtung, aber mich betrügst du nicht!

Mrs. Snagsby hängt es nicht an die große Glocke, was sie sich denkt, sondern schweigt über ihre Pläne und behält ihr Geheimnis für sich.

Morgen kommt. Die schmackhaften Vorbereitungen für die Ölmühle kommen, und der Abend kommt. Es kommt Mr. Snagsby in seinem schwarzen Rock. Es kommen die Chadbands, wenn das »Gefäß« genügend leer ist. Es kommen die »Stifte« und Guster, um sich erbauen zu lassen. Es kommt endlich mit hängendem Kopf und schlottrigem Gang, in der schmutzigen Hand die Pelzmütze, die er rupft wie einen Vogel, den er roh verzehren will, Jo, der Schmier-Ober, den Mr. Chadband bessern will.

Mrs. Snagsby wirft einen wachsamen, aber verstohlenen Blick auf Jo, wie ihn Guster jetzt in das kleine Staatszimmer führt. Er sieht Mr. Snagsby beim Eintreten an. Aha! Warum sieht er Mr. Snagsby an ? – Mr. Snagsby sieht ihn an. Warum tut er das?

Mrs. Snagsby weiß sofort alles. Warum denn sonst wechseln diese beiden einen Blick miteinander, warum denn sonst ist Mr. Snagsby so verlegen und hustet einen Signalhusten hinter seiner Hand, als, weil es klar wie Kristall ist, daß Mr. Snagsby der – Vater dieses Knaben ist.

»Friede sei mit euch, meine Freunde!« salbadert Chadband, steht auf und wischt sich die Ölabsonderungen von seinem Reverendgesicht ab. »Friede sei mit uns! Meine Freunde, warum mit uns? Weil«, sagt er mit seinem fetten Lächeln, »weil er nicht gegen uns sein kann, weil er für uns ist; weil er nicht verhärtet, sondern weil er erweicht; weil er nicht Krieg führt wie der Habicht, sondern zu uns kommt wie die Taube. Deshalb, meine Freunde, sei Friede mit uns! Du, menschlicher Knabe, tritt vor!«

Mr. Chadband streckt die aufgedunsene Pfote aus, legt sie auf Jos Arm und überlegt sich, wo er ihn hinsetzen solle. Jo, sehr argwöhnisch in bezug auf die Absichten Seiner Ehrwürden und keineswegs sicher, ob man nicht etwa eine schmerzliche Operation an ihm vornehmen wolle, brummt: »Lassen S mi gehn. I hab Eahna nix tan. Lassen S mi gehn.«

»Nein, mein junger Freund«, sagt Chadband salbungsvoll. »Ich lasse dich nicht. Und warum? Weil ich einsammle die Ernte; weil ich mich mühe und plage; weil du mir überliefert bist und ein köstlich Werkzeug geworden in meiner Hand. Meine Freunde, möge ich mich dieses Werkzeugs bedienen zu eurem Besten, zu eurem Nutzen, zu eurem Gewinn, zu eurer Wohlfahrt, zu eurer Bereicherung! Mein junger Freund, setze dich auf diesen Stuhl.«

Sichtlich von dem Gedanken beherrscht, daß Seine Ehrwürden ihm die Haare schneiden wolle, schützt sich Jo den Kopf mit beiden Armen und läßt sich nur mit großer Mühe und unter vielem Sträuben hinsetzen.

Als man ihn endlich wie eine Modellpuppe zurechtgerückt hat, zieht sich Mr. Chadband hinter den Tisch zurück, hält seine Bärentatze empor und spricht:

»Meine Froinde!«

Das ist das Signal für die ganze Zuhörerschaft, die Ohren aufzumachen. Die »Stifte« kichern in sich hinein und stoßen sich mit den Ellbogen. Guster verfällt in einen Zustand leeren Vorsichhinstierens, zusammengesetzt aus atemloser Bewunderung Mr. Chadbands und Mitleid mit dem armen freundlosen Ausgestoßnen, dessen Lage sie tief ergreift.

Mrs. Snagsby legt schweigend Pulverminen.

Mrs. Chadband setzt sich mit finsterer Miene an den Kamin und wärmt sich die Knie. Sie findet, daß dies das Zuhören erleichtert.

Mr. Chadband hat die übliche Kanzelpredigergewohnheit, ein Mitglied der Gemeinde zu fixieren und mit fettigem Wohlwollen seine Argumente insbesondere an diese Person zu richten. Von dem Angeredeten wird in solchen Fällen gewöhnlich erwartet, daß er sich zu gelegentlichem Stöhnen, Seufzen, Ächzen oder andern hörbaren Äußerungen des Innenlebens aufschwingt. Diese Äußerung der Seele pflegt dann von einer ältlichen Dame im nächsten Kirchenstuhl zumeist wiederholt zu werden, geht dann wie beim Pfänderspiel im Kreise der leichter gärbaren Sünder unter den Anwesenden herum, erfüllt den Zweck des parlamentarischen »Hört, hört!« und erhält den Prediger in Volldampf.

Aus bloßer Gewohnheit also hat Mr. Chadband bei den Worten »Meine Froinde!« sein Auge auf Mr. Snagsby geheftet und richtet an den armen Schreibmaterialienhändler, dem die Sterne sichtlich übel wollen und der schon verlegen genug ist, unmittelbar seine Rede.

»Meine Freunde!« beginnt Chadband. »Wir haben hier unter uns einen Ungesalbten, einen Heiden, einen Bewohner der Zelte von ‚Toms Einöd‘, einen, der da herumschweift auf Erden. Meine Freunde, wir haben hier unter uns« – Mr. Chadband nestelt das Argument mit seinem schmutzigen Daumennagel auf, wirft ein öliges Lächeln auf Mr. Snagsby, als wolle er sagen, er werde ihn sofort logisch zu Fall bringen, wenn er nicht schon sowieso am Boden liege – »haben hier unter uns einen Bruder und einen Knaben. – Ohne Eltern, ohne Verwandte, ohne Vieh und Herden, ohne Gold und Silber und Edelgestein. Aber, meine Freunde, warum sage ich, daß er dieser Besitztümer ermangelt? Warum? Warum ermangelt er ihrer?« Mr. Chadband wirft die Frage auf, als lege er Mr. Snagsby ein ganz neues ungemein geistreiches Rätsel vor und bäte ihn, nur ja nicht an der Auflösung zu verzweifeln.

Mr. Snagsby, sehr verwirrt von dem Sphinxblick, den sein kleines Frauchen bei den Worten »ohne Eltern« auf ihn wirft, läßt sich zu der bescheidnen Bemerkung verleiten:

»Ich weiß es wirklich nicht, Sir.«

Diese Unterbrechung macht Mrs. Chadband finster aufblicken, und Mrs. Snagsby ruft: »Es ist eine Schande.«

»Ich höre eine Stimmö«, sagt Chadband. »Ist es eine demütige Stimmö, meine Freunde? Ich fürchte nicht, wiewohl ich es hoffen möchte.«

Hörbares Räuspern Mr. Snagsbys.

»…Die da saget, ich weiß es nicht. Und nun will ich euch sagen, warum. Ich sage, dieser Bruder, der da stehet vor uns, ermangelt der Eltern, ermangelt der Verwandten, ermangelt des Viehs und der Herden, ermangelt des Silbers, des Goldes und jeglichen Geschmeides, weil er des Lichtes entbehrt, das da niederscheinet auf einige von uns. Was ist das für ein Licht? Was ist es? Ich frage euch, was ist das für ein Licht?«

Mr. Chadband legt den Kopf zurück und hält inne, aber Mr. Snagsby geht nicht noch einmal auf den Leim.

Mr. Chadband lehnt sich über den Tisch hinüber und bohrt, was er noch zu sagen hat, mit dem bereits erwähnten Daumennagel in Mr. Snagsby hinein.

»Es ist«, erläutert Chadband, »der Strahl der Strahlen, die Sonne der Sonnen, der Mond der Monde, der Stern der Sterne. Es ist das Licht der Waharheit.«

Mr. Chadband richtet sich wieder auf und sieht Mr. Snagsby triumphierend an, als wolle er sich vergewissern, wie seinem Opfer jetzt zumute sei.

»Der Waharheit«, wiederholt Mr. Chadband mit einem neuen Lanzenstich. »Saget mir nicht, daß sie nicht sei die Leuchte der Leuchten. Ich sage euch, sie ist es. Ich sage euch millionenmal, sie ist es. Sie ist es. Ich sage euch, daß ich es euch verkündigen werde, ob ihr da wollet oder nicht. Ja, je weniger ihr wollet, desto lauter will ich es euch verkünden mit Drommetenzungen. Ich sage euch, locket ihr dagegen, werdet ihr fallen, werdet ihr stürzen, werdet ihr zerschlagen, werdet ihr zerbrochen, werdet ihr zermalmet zu Stahub.«

Der kühne Redeflug, von Mr. Chadbands Anhängern wegen seiner Gewaltigkeit ungemein bewundert, macht Seiner Ehrwürden nicht nur unangenehm warm, sondern stellt auch den unschuldigen Mr. Snagsby als einen entschiedenen Feind der Tugend, erzgestirnt und hartherzig, dar, und deshalb gerät der unglückliche Schreibmaterialienhändler noch mehr außer Fassung, als er ohnehin schon ist.

Und da gibt ihm Mr. Chadband zufällig den Gnadenstoß.

»Meine Freunde«, beginnt er wieder, nachdem er seine fette Stirn eine Weile betupft hat – und sie dampft so sehr, daß sein Taschentuch, das nach jedesmaligem Tupfen ebenfalls dampft, daran anzubrennen scheint –, »um den Gegenstand, an dem wir nach unsern bescheidenen Gaben uns zu erbauen trachten, weiter zu verfolgen, wollen wir im Geiste der Liebe fragen: Was ist die Waharheit, von der ich gesprochen habe? Denn, meine jungen Freunde«, wendet er sich an die »Stifte« und Guster, zu deren großer Bestürzung, »wenn mir der Arzt sagt, daß Calomel oder Kastoröl gut für mich seien, so werde ich natürlich fragen, was ist Calomel, und was ist Kastoröl? Ich werde mich darüber vergewissern, ehe ich eins der Mittel oder beide einnehme. Nun, meine jungen Freunde, was ist also diese Waharheit? Erstlich im Geiste der Liebe, was ist die gewöhnliche Art der Waharheit?… Die Werktagswaharheit – sozusagen –, meine jungen Freunde? Ist sie Hintergehung?«

Hörbares Räuspern Mr. Snagsbys.

»Ist sie Verheimlichung?«

Mrs. Snagsby erschauert förmlich vor stummer Verneinung.

»Ist sie heimliches Vorenthalten?«

Ein langes entschiedenes Kopfschütteln Mrs. Snagsbys.

»Nein, meine Freunde, sie ist keins von alledem. Keiner dieser Namen ist ihr echter. Als dieser jetzt unter uns weilende junge Heide, der jetzt, mit dem Siegel der Gleichgültigkeit und Verworfenheit auf seinen Augenlidern, schläft, meine Freunde (wecket ihn nicht, auf daß ich seinetwegen kämpfe und ringe und den Sieg gewinne), als dieser verstockte junge Heide uns eine Geschichte von einem Hahn und einem Stier und einer Dame und einem Sovereign erzählte, war das die Waharheit? Nein. Oder, wenn sie es zum Teil war, war sie es ganz vollständig? Nein, meine Freunde, nein!«

Mr. Snagsby müßte ganz anders beschaffen sein, wenn er den Blick seiner kleinen Frau aushalten sollte, wie er sich jetzt durch die Fenster seiner Seele in sein tiefstes Inneres bohrt.

»Oder, meine jungen Freunde«, fährt Mr. Chadband fort, klettert bis zum tiefsten Niveau der Auffassungskraft der »Stifte« herab und lächelt fett und demütig mit der Miene eines Mannes, der eine hohe Treppe hinuntersteigt, »wenn der Herr dieses Hauses in die Stadt ginge, einen Aal sähe und zurückkehrte, um die Herrin dieses Hauses zu sich zu berufen und ihr zu sagen: Sarah, freue dich mit mir, denn ich habe einen Elefanten gesehen! Wäre das die Waharheit?«

Mrs. Snagsby bricht in Tränen aus.

»Oder nehmen wir an, meine jungen Freunde, daß er einen Elefanten gesehen hätte und heimkehrte und sagte: Siehe, die Stadt ist öde, wahrlich, ich habe nur einen Aal gesehen! Wäre das die Waharheit?«

Mrs. Snagsby schluchzt laut.

»Oder nehmen wir an, meine jungen Freunde«, sagt Chadband, bei dem Tone angeregt, »daß die unnatürlichen Eltern dieses schlummernden Heiden – denn Eltern hat er ohne Zweifel gehabt –, nachdem sie ihn den Wölfen und den Geiern und den wilden Hunden und den jungen Gazellen und den Schlangen hingeworfen, in ihre Wohnung zurückkehrten und sich erfreuten an ihren Pfeifen und ihren Fleischtöpfen und ihrem Flötenspiel und ihren Tänzen und ihrem Gerstensaft und des Schlächters Fleisch und Geflügel – wäre das die Waharheit?«

Mrs. Snagsby antwortet damit, daß sie eine Beute von Krämpfen wird; nicht eine widerstandslose Beute, sondern eine weinende und schluchzende, so daß Cook’s Court von ihrem Jammergeschrei widerhallt. Endlich wird sie kataleptisch und muß die schmale Treppe umständlich wie ein Piano hinaufgetragen werden. Nach unaussprechlichen Leiden, die die größte Bestürzung hervorbringen, melden Eilboten aus dem Schlafzimmer, daß sie frei von Schmerzen, aber noch sehr angegriffen sei. Mr. Snagsby, den man bei diesem Klaviertransport an die Wand gedrückt und auf die Füße getreten und dadurch sehr verschüchtert hat, wagt sich jetzt wieder hinter der Tür des Staatszimmers hervor.

Die ganze Zeit über ist Jo dort, wo er aufgewacht ist, stehen geblieben, hat beständig seine Mütze gerupft und Pelzstückchen in den Mund gesteckt. Er spuckt sie mit reuevoller Miene aus, denn er begreift, daß er von Natur ein unverbesserliches verworfenes Geschöpf ist, dem jeder Versuch, wach zu bleiben, fehlschlägt.

Aber doch ist es möglich, Jo, daß es selbst für so vertierte Gemüter wie dich eine Geschichte gibt, die von Taten handelt, so ergreifend für das Menschenherz, daß sie selbst dich wach erhalten und belehren könnte, wenn sie dir die Chadbands nur ohne Schwulst und schlicht erzählen wollten.

Aber Jo hat nie von einer solchen Historie und solchen Büchern gehört. Seine Verfasser und Reverend Chadband gelten ihm gleich; nur, daß er Ehrwürden Chadband kennt und lieber eine Stunde weit weglaufen möchte, als ihn noch fünf Minuten länger reden zu hören.

»Es hat kan Zweck, no länger zwarten«, sagt Jo. »Mr. Snagsby redet eh nix heit abend.« Und er schlottert die Treppe hinunter.

Aber unten steht die mildtätige Guster, hält sich am Geländer der Küchentreppe fest, um gegen einen herannahenden Krampfanfall, den Mrs. Snagsbys Gekreisch geweckt hat, anzukämpfen. Sie reicht ihr eigenes Abendbrot – Butterschnitt und Käse – Jo hin und wagt ein paar Worte an ihn zu richten.

»Hier hast du was zum Essen, armer Bub.«

»Dank schön, Mum«, sagt Jo.

»Hast an Hunger?«

»Damisch«, sagt Jo.

»Was ist aus deinem Vater und deiner Mutter geworden?«

Jo hält mitten im Abbeißen inne und sieht ganz versteinert aus, denn der Waisenschützling des christlichen Heiligen, dessen Schrein in Tooting steht, hat ihm auf die Schulter geklopft. Das erste Mal in seinem Leben, daß eine anständige Hand ihn so berührt hat.

»I hab nie nix von ihnen ghört«, sagt Jo.

»Und ich von meinen auch nicht«, ruft Guster. Sie unterdrückt einige Krampfsymptome, da verscheucht sie plötzlich etwas, und sie entschwindet auf der Kellertreppe.

»Jo«, flüstert der Schreibmaterialienhändler leise, während der Junge noch zögernd auf der Treppe steht.

»Da bin i, Mr. Sangsby.«

»Ich wußte nicht, daß du schon fort bist… Hier hast du wieder eine halbe Krone, Jo. Du hast es gut gemacht, daß du nichts von der Dame von neulich abends sagtest. Es könnte Unannehmlichkeiten verursachen. Du kannst nicht verschwiegen genug sein, Jo.«

»I bin a Ghauter, Master.«

»Also gute Nacht.«

Ein geisterhafter Schatten in Unterrock und Nachtmütze folgt dem Papierhändler in das Zimmer, aus dem er gekommen ist, und gleitet höher hinauf. Und von nun an, mag Mr. Snagsby gehen, wohin er will, begleitet ihn noch ein andrer Schatten als sein eigner, kaum weniger fest an seine Fersen geheftet, kaum weniger ruhig, kaum weniger geräuschlos als sein eigner. Und in welche Geheimnisatmosphäre sein eigner Schatten auch treten mag, von nun an mögen sich alle an dem Geheimnis Beteiligten in acht nehmen. Die wachsame Mrs. Snagsby liegt auf der Lauer. Bein von seinem Bein, Fleisch von seinem Fleisch, Schatten von seinem Schatten.

26. Kapitel


26. Kapitel

Scharfschützen

Der Wintermorgen, der mit trüben Augen und fahlem Gesicht auf die Umgebung von Leicester-Square herabsieht, findet die Schläfer noch alle in ihren Betten. Viele von ihnen sind auch in der hellsten Jahreszeit keine Frühaufsteher, sind Nachtvögel, die schlafen, wenn hoch am Himmel die Sonne steht, sind wach und beutegierig, wenn die Sterne scheinen. Hinter schmutzig grauen Vorhängen im Obergeschoß und im Dachstübchen, mehr oder weniger unter falschem Namen, falschem Haar, falschen Titeln, falschem Schmuck und falschen Vorgeschichten, liegt eine Kolonie Briganten in ihrem ersten Schlaf.

Herren, die aus persönlicher Erfahrung von fremden Galeeren und heimischen Tretmühlen erzählen könnten, Spione starker Regierungen, die ewig vor Schwäche und elender Furcht zittern, Bankerottiers, Feiglinge, Renommisten, Spieler, Schwindler und falsche Zeugen, einige unter der schmutzigen Hülle mit der Brandmarke gezeichnet, alle mit mehr Grausamkeit im Herzen als Nero und mit mehr Verbrechen beladen, als im Kerker von Newgate zu finden sind. So schlecht der Teufel in Barchent und Fuhrmannskittel auch sein kann, schlauer, gefühlloser und unerträglicher ist er, wenn er eine Busennadel trägt, sich einen Gentleman nennt, auf eine Karte oder eine Farbe setzt, ein paar Partien Billard spielt oder etwas von Wechseln oder Schuldverschreibungen versteht. Und in dieser Gestalt findet ihn Mr. Bucket, wenn er will, überall in den Nebengassen von Leicester-Square.

Aber der Wintermorgen bedarf seiner nicht und weckt ihn nicht. Er weckt Mr. George in der Schießgalerie und seinen Gehilfen. Sie stehen auf, rollen ihre Matratzen zusammen und verstauen sie. Nachdem Mr. George sich vor einem winzig kleinen Spiegel rasiert hat, marschiert er barhäuptig und mit bloßer Brust hinaus an die Pumpe im kleinen Hof und kehrt bald zurück, glänzend vom Reiben, vom Regen, von gelber Seife und schneidend kaltem Wasser. Wie er sich mit einem großen Frottiertuch abreibt und dabei wie eine Art eben an die Oberfläche gekommener militärischer Tauchervogel prustet, lockt sich sein krauses Haar immer dichter an seinen sonnenverbrannten Schläfen, je mehr er es reibt, so daß es aussieht, als könne man es bestenfalls nur mehr mit einem eisernen Rechen oder einem Striegel in Ordnung bringen. Und wie er reibt und pustet und poliert und schnaubt und den Kopf von einer Seite auf die andre wendet, um sich besser die Kehle zu reinigen, und mit vorgebeugtem Körper dasteht, um keine Tropfen auf seine martialischen Beine kommen zu lassen, sieht sich Phil, der vor dem Kamin kniet, um Feuer zu machen, um, als wäre es für ihn Wäsche genug, wenn er dem allen bloß zusähe, und hinreichend Stärkung für einen Tag, die von seinem Herrn weggeworfene überflüssige Gesundheit magnetisch anzuziehen.

Als Mr. George trocken ist, beginnt er seinen Kopf mit zwei harten Bürsten zugleich so unbarmherzig zu bearbeiten, daß Phil, der, die Galerie auskehrend, mit der Schulter an der Wand entlangrutscht, vor Mitgefühl mit den Augen zwinkert.

Auf diese Abbürstung folgt der verschönernde Teil der Toilette, der bald zu Ende ist. Dann stopft sich Mr. George die Pfeife, zündet sie an und marschiert, wie er es gewohnt ist, rauchend auf und ab, während Phil in einem gewaltigen Dunstkreis von heißen Semmeln und Kaffee das Frühstück zurecht macht. Er raucht ernst und marschiert langsam auf und ab. Vielleicht ist diese Morgenpfeife dem Andenken Gridleys in seinem Grabe gewidmet.

»Also du hast diese Nacht vom Lande geträumt, Phil«, sagt der Inhaber der Schießgalerie, nachdem er einige Mal stumm auf und nieder geschritten ist. Phil hatte es nämlich im Tone der Überraschung, als er aus dem Bette stieg, erwähnt.

»Ja, Govner.«

»Wie hat’s ausgesehen?«

»Ich weiß nicht recht, wie’s ausgesehen hat, Govner«, sagt Phil nachdenklich.

»Woher wußtest du, daß es auf dem Lande war?«

»Von wegen dem Gras, glaub ich, und den Schwänen drauf«, sagt Phil nach weiterer Überlegung.

»Was haben die Schwäne auf dem Grase gemacht?«

»Haben’s gefressen vermutlich.«

Mr. George setzt seinen Marsch und der Diener die Bereitung des Frühstücks fort. Es bedürfte eigentlich keiner sehr langen Vorbereitung, denn es besteht bloß aus dem Auftragen sehr einfacher Frühstücksrequisiten für zwei Personen, dem Rösten einer Scheibe Schinken an dem Feuer des rostigen Herdes. Aber da Phil sich bei jedem Gegenstand, den er braucht, einen beträchtlichen Teil an der Galerie entlangschieben muß und nie zwei Sachen auf einmal bringt, dauert es ziemlich lange.

Endlich ist das Frühstück fertig, wie Phil meldet. Mr. George klopft die Pfeife an der Herdwand aus, stellt sie in eine Ecke und setzt sich zum Essen hin. Als er zugelangt hat, folgt Phil seinem Beispiel. Er sitzt am äußersten Ende des kleinen länglichen Tisches und hält den Teller auf den Knien. Entweder aus Bescheidenheit oder um seine pulvergeschwärzten Hände zu verstecken oder weil es seine natürliche Art ist, so zu essen.

»Auf dem Lande!« sagt Mr. George wieder und hantiert mit Messer und Gabel. »Ich glaube, du hast überhaupt noch nie das Land gesehen.«

»Ich hab die Sümpf ein Mal gsehn«, sagt Phil und verzehrt zufrieden sein Frühstück.

»Was für Sümpfe?«

»Die Sümpf, Kommandeur.«

»Wo sind sie?«

»Ich weiß nicht, wo sie sind, aber gsehn hab ich’s, Govner, flach sinds gwesn und neblig.«

Gouverneur und Kommandeur sind für Phil Worte von gleichem Wert, drücken beide dieselbe Achtung und Ehrerbietung aus und dürfen nur auf Mr. George angewendet werden.

»Ich bin auf dem Lande geboren, Phil.«

»Was S net sagen, Kommandeur!«

»Ja, und dort aufgewachsen.«

Phil zieht seine einzige Augenbraue in die Höhe und schlingt, nachdem er seinen Herrn ehrerbietig angestarrt hat, um sein Interesse auszudrücken, einen großen Schluck Kaffee hinunter.

»Es gibt keinen Vogel, den ich nicht an der Stimme kenne«, sagt Mr. George. »Es gibt wenig Blätter oder Beeren in England, deren Namen ich nicht wüßte. Nicht viele Bäume, auf die ich nicht heute noch klettern könnte, wenn es darauf ankäme. Ich war zu meiner Zeit ein echter Bursch vom Lande. Meine gute Mutter wohnte auf dem Lande.«

»Sie muß eine schöne alte Dame gewesen sein, Govner.«

»Jawohl. Und doch noch nicht besonders alt vor fünfunddreißig Jahren. Aber ich möchte wetten, daß sie mit neunzig Jahren sich fast noch so gerade halten und so breit über die Schultern sein würde wie ich.«

»Starb sie mit neunzig Jahren, Govner?«

»Nein!… Bah! Mag sie in Frieden leben, und Gott segne sie! Möcht wissen, was mich Bauernburschen und fortgelaufne Taugenichtse heut angehen! Du natürlich hast mich draufgebracht. Also du hast nie das Land gesehen, Sümpfe und Träume ausgenommen. Was?«

Phil schüttelt den Kopf.

»Möchtest du’s sehen?«

»N-nein. Ich glaub eigentlich nicht.«

»Die Stadt genügt dir, was?«

»Ja, sehen Sie, Kommandeur«, sagt Phil, »ich kenn weiter nichts und weiß nicht, ob ich nicht für Neuheiten zu alt bin.«

»Wie alt bist du eigentlich, Phil?« fragt der Kavallerist und hebt die rauchende Untertasse zum Munde.

»Es ist etwas mit einem Achter drin. Achtzig kann’s nicht sein, achtzehn auch nicht. Es muß so zwischen beiden sein.«

Mr. George setzt langsam die Tasse hin, ohne einen Schluck getan zu haben, und will gerade zu lachen anfangen, da sieht er, daß Phil an seinen schmutzigen Fingern zählt.

»Was, zum Donnerwetter, Phil…«

»Ich war gerade acht Jahre«, erklärt Phil, »nach der Gemeindehausrechnung, als ich mit dem Kesselflicker fortlief. Ich sollte was holen und sah ihn vor einem alten Haus ganz behaglich allein an einem Feuer sitzen, und er sagte: ‚Du gingst wohl gern mit mir, Bürschchen ?‘ Ich sag ja, und er und ich und das Feuer sind zusammen nach Clerkenwell gegangen. Das war am ersten April. Ich konnte bis zehn zählen, und als der erste April wiederkam, sagte ich zu mir: Na, alter Bursche, jetzt bist du eins und eine Acht darin. Als wieder der erste April kam, sagte ich: Jetzt, alter Junge, bist du zwei und eine Acht dann. Mit der Zeit kam ich zu zehn und eine Acht darin und dann zu zwei Zehnern und eine Acht darin. Höher hinauf konnte ich’s nicht mehr bewältigen, aber ich weiß immer, daß eine Acht darin war.«

»So!« sagt Mr. George und macht sich wieder über sein Frühstück her. »Und wo ist der Kesselflicker?«

»S Trinken hat ihn ins Spital gebracht, Govner, und das Spital in – einen Glaskasten, hab ich mir sagen lassen«, gibt Phil geheimnisvoll zur Antwort.

»Auf diese Weise bist du avanciert – hast das Geschäft übernommen, Phil?«

»Ja, Kommandeur, das Geschäft übernommen. So, wie’s eben war. Es war nicht viel daran. Um Saffronhill, Hattongarden, Clerkenwell, Smiffield und daherum gibt’s nur arme Leut, die die Kessel abnützen, bis nichts mehr dran zu flicken ist. Die meisten der herumziehenden Kesselflicker kamen zu uns und wohnten bei uns. Das war der Hauptverdienst von meinem Meister. Aber zu mir kamen sie nicht. Ich war nicht wie er. Er hat ihnen so schön vorgsungen. Ich konnte das nicht. Er konnte ihnen etwas vorspielen auf jedem Topf, ob er jetzt aus Eisen oder Zinn war. Ich konnte nie etwas andres mit einem Topf anfangen, als ihn flicken oder drin kochen – ich hab nie einen Ton Musik in mir gehabt. Und dann war ich zu häßlich, und ihre Weiber beschwerten sich über mich.«

»Die haben’s nötig gehabt! In der Herde wärst du schon auch noch mit durchgerutscht, Phil«, sagt der Kavallerist mit einem freundlichen Lächeln.

»Nein, Govner«, entgegnet Phil mit Kopfschütteln. »O nein, bestimmt nicht. Ich war noch so ziemlich passabel, als ich zum Kesselflicker kam, wenn ich mich damit auch nicht brüsten konnte, aber ich mußte immer schon als Junge das Feuer anblasen und verdarb mir die Haut und versengte mir das Haar und mußte den Rauch schlucken. Und dann hatte ich von Natur aus Pech, hab mich immer an heißem Eisen verbrannt und mich auf die Art gezeichnet, und dann hab ich immer, als ich älter wurde, mit dem Kesselflicker Streit gehabt, so oft er betrunken war, und mich herumprügeln müssen. Und besoffen war er immer. Daher hat es mit meiner Schönheit schon damals sehr windig ausgesehen. Und seitdem bin ich ein Dutzend Jahre in einer dunkeln Schmiede beschäftigt gewesen, wo die Leute Schindluder mit mir getrieben haben, und bei einem Unglücksfall in einer Gasanstalt verbrannt worden und bei einem Feuerwerksgeschäft beim Böllerfüllen zum Fenster hinausgeflogen. Jetzt bin ich so häßlich, daß man mich auf dem Jahrmarkt zeigen könnte.«

Phil sieht trotz dieses Zustandes ganz zufrieden aus und fragt um Erlaubnis, ob er noch eine Tasse Kaffee trinken dürfe. Während er sie schlürft, sagt er: »Nach der Explosion bei dem Feuerwerker hab ich Sie das erste Mal gesehen, Kommandeur. Erinnern Sie sich noch?«

»Gewiß, Phil, du gingst im Sonnenschein spazieren.«

»Schob mich an der Wand hin, Govner.«

»Jawohl, Phil, mit der Schulter…«

»In einer Nachtmütze!« ruft Phil ganz aufgeregt aus.

»In einer Nachtmütze…«

»Und humpelte an ein paar Krücken!« ruft Phil noch aufgeregter.

»Mit ein paar Krücken – da…«

»Da blieben Sie stehen, erinnern Sie sich!« ruft Phil aus, setzt seine Tasse hin und nimmt hastig den Teller vom Knie. »Und sagten zu mir: ‚Was, Kamerad, du bist im Krieg gewesen !‘ Ich sagte nicht viel zu Ihnen, Kommandeur, denn ich war ganz überrascht, daß ein so starker und gesunder Mann wie Sie stehen blieb und einen hinkenden Knochenhaufen wie mich ansprach. Aber Sie fragten mich und sagten es so herzlich heraus, daß es grad war wie ein Glas von was Heißem: ‚Was ist dir zugestoßen? Du bist bös dabei weggekommen. Was fehlt dir, alter Knabe? Kopf hoch und alles frisch erzählt!‘

Kopf hoch! Mich frischte es ordentlich auf, und dann haben Sie etwas gesagt, und ich hab etwas gesagt, und dann haben wir lang miteinander gesprochen, und so bin ich jetzt hier, Kommandeur. Hier bin ich, Kommandeur!« ruft Phil, der von seinem Stuhl aufgesprungen ist und jetzt anfängt, sich auf ganz unerklärliche Weise seitwärts fortzubewegen. »Wenn man ein Ziel braucht oder es dem Geschäft von Nutzen ist, sollen die Kunden mich nur ruhig als Scheibe verwenden. Meiner Schönheit können sie weiter nicht mehr schaden. Mir ist alles gleich. Nur heran! Wenn sie einen brauchen, um auf ihn loszuboxen, sollen sie losboxen. Sie können mir ruhig auf den Kopf hauen. Mir ist’s gleich. Wenn sie einen Leichtgewichtler brauchen, um ihn nach Cornwall-, Devonshire- oder Lancashire-Weise zu werfen, sollen sie mich werfen. Macht nichts. Ich bin mein ganzes Leben lang auf jede Weise geworfen worden.«

Mit dieser unerwarteten Rede, die er sehr energisch vorbringt, und mit den verschiednen Leibesübungen angepaßten Gebärden begleitet, schiebt sich Phil Squod mit der Schulter an drei Seiten der Galerie herum und wendet sich dann plötzlich gegen seinen Kommandeur und vollführt mit dem Kopf einen Stoß nach ihm, um damit seine volle Hingebung im Dienst anzudeuten. Dann fängt er an, das Frühstück wegzuräumen.

Mr. George hat heiter gelacht und ihm auf die Schulter geklopft. Jetzt hilft er ihm beim Wegräumen und bringt dann mit ihm die Galerie für das Geschäft in Ordnung. Er macht ein paar Übungen mit Hanteln durch. Dann wiegt er sich, schließt daraus, daß er zuviel Fleisch ansetze, und schreitet mit großem Ernst an eine Übung im Säbelschwingen. Unterdessen hat sich Phil an seinen Arbeitstisch gesetzt, schraubt Gewehre auseinander und zusammen, putzt und feilt und bläst in kleine Löcher und wird immer schwärzer dabei und hantiert aufs emsigste mit allen möglichen Waffenbestandteilen.

Herr und Diener hören endlich im Gange, wo es so stark hallt, Tritte, die die Ankunft seltener Gäste verraten. Die Schritte kommen der Galerie immer näher, und endlich tritt eine Gruppe auf die Schwelle, die auf den ersten Anblick zu keinem andern Tag im Jahr als dem fünften November, dem Datum der großen Verschwörung, zu passen scheint.

Sie besteht aus einer hinfälligen und häßlichen Gestalt auf einem von zwei Trägern getragnen Stuhl und einem daneben hergehenden hagern Frauenzimmer mit einem Gesicht wie eine halbverhungerte Maske. Sie sieht aus, daß man jeden Augenblick von ihr die Verse zur Erinnerung an die Zeit, wo sie ganz England in die Luft sprengen wollten, zu hören erwarten würde, wenn sie die Lippen nicht so fest und trotzig zusammenbisse. Der Stuhl wird hingesetzt, und die darin liegende Gestalt, die bis jetzt nur gekeucht hat: »O Gott, o Gott!« fügt hinzu: »Wie geht’s, mein lieber Freund, wie geht’s?« und Mr. George erkennt in der Prozession den auf einer Spazierfahrt begriffenen würdigen Mr. Smallweed, begleitet von seiner Enkelin Judy als Leibwache.

»Mr. George, mein lieber Freund«, ruft Großvater Smallweed und nimmt seinen rechten Arm von dem Halse eines seiner Träger, den er auf dem Herweg fast erwürgt hat. »Wie geht’s? Sie sind wohl sehr überrascht, mich zu sehen, mein lieber Freund?«

»Ich würde über Ihren Freund in der City kaum weniger überrascht sein.«

»Ich gehe sehr selten aus«, keucht Mr. Smallweed. »Ich bin seit vielen Monaten nicht herausgekommen. Es ist unbequem und teuer. Aber ich sehnte mich so sehr, Sie zu sehen, lieber Mr. George. Wie geht es Ihnen?«

»Recht gut«, sagt Mr. George. »Ich hoffe, Ihnen auch?«

»Es kann Ihnen nie zu gut gehen, mein lieber Freund.« Mr. Smallweed ergreift seine beiden Hände. »Ich habe meine Enkelin Judy mitgebracht. Sie ließ sich’s nicht nehmen. Sie sehnte sich auch so sehr, Sie zu sehen.«

»Hm! Anmerken tut man ihr nichts«, brummt Mr. George.

»So nahmen wir also eine Droschke und setzten einen Stuhl hinein, und unten an der Straßenecke hoben sie mich aus dem Wagen und in den Stuhl und trugen mich hierher, damit ich meinen lieben Freund in seinem eignen Geschäft besuchen könnte! Das ist der Kutscher«, sagt Großvater Smallweed und deutet auf den Mann, der der Gefahr des Erwürgens ausgesetzt war und sich, seine Luftröhre befühlend, jetzt entfernt.

»Er bekommt nichts extra. Es ist im Fahrgeld mit einbegriffen. Den andern Mann da nahmen wir auf der Straße für eine Finte Bier. Das kostet zwei Pence. Judy, gib dem Mann zwei Pence. Ich wußte nicht, daß Sie selbst einen Gehilfen hier haben, lieber Freund, sonst hätten wir den Mann gespart.«

– Großvater Smallweed richtet dabei einen ziemlich erschrockenen Blick auf Phil und läßt ein halbunterdrücktes »O Gott, o Gott!« hören. Seine Besorgnis ist anscheinend nicht grundlos, denn Phil, der die Erscheinung in dem schwarzen Samtkäppchen noch nie gesehen hat, steht mit einer Flinte in der Hand starr da wie ein Jäger, der Mr. Smallweed wie einen häßlichen alten Vogel vom Krähengeschlecht soeben herunterzuschießen im Begriff steht. –

»Judy, mein Kind, gib dem Mann seine zwei Pence. Es ist schrecklich viel für die kleine Arbeit.«

Der Mann, eines jener merkwürdigen Exemplare menschlicher Pilze, die in den westlichen Straßen Londons ganz plötzlich aus dem Boden schießen können, in alte rote Jacken gekleidet sind und sich mit der Mission, Pferde zu halten und Kutscher zu holen, mit Vorliebe betrauen lassen, nimmt seine zwei Pence ohne besonderes Entzücken in Empfang, wirft das Geld in die Luft, fängt es wieder auf und entfernt sich.

»Mein lieber Mr. George«, sagt Großvater Smallweed, »möchten Sie nicht so gut sein und mich ans Feuer tragen helfen? Ich bin an Wärme gewöhnt und bin ein alter Mann und fröstle leicht. – O Gott!«

Der Ausruf entfährt dem würdigen Herrn infolge der Plötzlichkeit, mit der Mr. Squod wie ein diensteifriger Gnom ihn samt dem Stuhl in die Höhe hebt und dicht am Herd niedersetzt.

»O Gott«, sagt Mr. Smallweed keuchend. »O mein Gott! O Gott im Himmel! Mein lieber Freund, Ihr Gehilfe ist furchtbar stark und – so rasch. O Gott, ist der rasch! Judy, zieh mich ein bißchen zurück. Es verbrennt mir die Beine.«

Das stimmt, wie alle Anwesenden an dem Geruch der versengten Wollstrümpfe des alten Herrn merken.

Nachdem ihn die sanfte Judy ein wenig vom Feuer weggezogen, wie gewöhnlich zurechtgeschüttelt und sein Auge von dem schwarzsamtenen Lichtauslöscher befreit hat, sagt er abermals: »O Gott, o Gott!«, sieht sich um, begegnet Mr. Georges Blick und streckt ihm wieder seine beiden Hände hin.

»Mein lieber Freund, wie froh bin ich, Sie zu sehen! Und das ist Ihr Geschäftslokal? Ein entzückender Ort! Ein wahres Bild! – Es kommt doch nicht vor, daß hier manchmal etwas zufällig losgeht, mein lieber Freund?« setzt Großvater Smallweed plötzlich sehr besorgt hinzu.

»Nein, nein, haben Sie keine Angst.«

»Und Ihr Gehilfe? Er – o Gott – läßt doch nichts losgehen, auch nicht unabsichtlich. Wie, mein lieber Freund?«

»Er hat noch niemanden verletzt als sich selbst«, sagt Mr. George lächelnd.

»Aber es könnte doch geschehen, wissen Sie. Er scheint sich sehr oft verletzt zu haben und könnte doch auch andre verletzen«, wendet der alte Herr ein. »Er braucht es ja nicht mit Absicht zu tun. Oder vielleicht gelegentlich doch mit Absicht. Was kann man wissen. Mr. George, möchten Sie ihm nicht befehlen, diese höllischen Feuerwaffen liegenzulassen und wegzugehen?«

Einem Wink des Kavalleristen gehorsam, begibt sich Phil mit leeren Händen an das andre Ende der Galerie. Mr. Smallweed ist jetzt beruhigt und fängt an, sich die Schenkel zu reiben.

»Und Sie befinden sich also wohl, Mr. George?« fragt er den Kavalleristen, der mit dem Säbel in der Hand Front vor ihm macht. »Das Geschäft geht gut, so Gott will?«

Mr. George antwortet mit einem kühlen Nicken und setzt hinzu: »Also los endlich! Um das zu sagen, sind Sie doch nicht hergekommen.«

»Sie sind so spaßig, Mr. George«, entgegnet der ehrwürdige Greis. »Sie sind so ein guter Gesellschafter.«

»Haha! Aber los endlich.«

»Mein lieber Freund!… Aber das Schwert funkelt schrecklich und sieht so scharf aus. Es könnte jemanden zufällig schneiden. Es macht mich schaudern, Mr. George. Verflucht soll er sein«, sagt der vortreffliche alte Herr heimlich zu Judy, als der Kavallerist ein paar Schritte weggeht, um den Säbel aufzuhängen. »Er ist mir Geld schuldig und könnte auf den Einfall kommen, seine Rechnung in diesem Mörderloch zu begleichen. Ich wollte, deine Höllengroßmutter wäre hier und er rasierte ihr den Kopf ab.«

Mr. George kommt zurück, verschränkt die Arme, sieht auf den Alten herab, der mit jedem Augenblick tiefer in seinen Stuhl versinkt, und sagt ruhig: »Nun also?«

»Ha!« ruft Mr. Smallweed und reibt sich die Hände mit schlauem Kichern. »Ja. Nun also. Nun also, was jetzt, mein lieber Freund?«

»Eine Pfeife«, sagt Mr. George, setzt sich höchst gelassen in seinen Stuhl in der Kaminecke, nimmt seine Pfeife vom Rost, stopft sie und zündet sie an und beginnt friedlich zu rauchen.

Das bringt Mr. Smallweed aus der Fassung. Er findet es so schwer, auf sein Thema zu kommen, und gerät darüber so in Aufregung, daß er mit seinen klauenartigen Fingern mit ohnmächtiger Rachgier, als wolle er Mr. Georges Gesicht zerfleischen, in der Luft herumfährt. Die Nägel des vortrefflichen alten Herrn sind lang und bleifarben, seine Hände mager und dickaderig und seine Augen grün und wäßrig. Und da er außerdem, während er so in der Luft herumfuchtelt, immer tiefer in seinem Stuhl zu einem gestaltlosen Bündel zusammensinkt, bietet er selbst den abgehärteten Augen Judys ein so scheußliches Schauspiel dar, daß diese Jungfrau, wenn auch nicht mit der Glut kindlicher Liebe, auf ihn zustürzt und ihn so aufrüttelt und ihm am Körper herumklopft und ihn pufft, daß er in seinem Jammer Töne wie die Ramme eines Pflasterers hören läßt.

Als Judy ihn durch diese Mittel wieder in seinem Stuhl, in dem er jetzt mit weißem Gesicht und blauer Nase, aber immer noch in die Luft krallend, dasitzt, aufgerichtet hat, streckt sie ihren dünnen Zeigefinger aus und sticht damit Mr. George in den Rücken. Als der Kavallerist aufblickt, sticht sie auf dieselbe Weise nach ihrem geschätzten Großvater und starrt, nachdem sie so die Unterhaltung eingeleitet hat, streng ins Feuer.

»Ui, ui! O, o! U-u-uff«, schnattert Großvater Smallweed, seine Wut in sich hineinschlingend. »Mein lieber Freund.«

»Ich will Ihnen was sagen, wenn Sie mit mir reden wollen, müssen Sie geradeheraus sprechen. Ich bin einer von den Ungehobelten und nicht gewohnt, wie die Katze um den Brei herumzugehen. Ich bin das nicht gewohnt. Ich bin nicht gescheit genug dazu. Es paßt mir nicht. Wenn Sie mich so umschlängeln«, sagt der Kavallerist und steckt die Pfeife wieder zwischen die Zähne, »verdammt, ob es mir nicht vorkommt, als ob ich ersticken müßte.«

Und er dehnt seine breite Brust aus, so weit er kann, als wolle er sich versichern, daß er noch nicht erwürgt ist.

»Wenn Sie gekommen sind, um mir einen freundschaftlichen Besuch zu machen, bin ich Ihnen dafür verbunden. Wie befinden Sie sich? Wenn Sie gekommen sind, um nachzusehen, wie’s mit meinem Besitz steht, dann sehen Sie sich um: Sie sind willkommen. Wenn Sie was zu sagen haben, dann reden Sie.«

Die rosige Judy versetzt, ohne ihren Blick vom Feuer abzuwenden, ihrem Großvater einen gespensterhaften Stoß.

»Sie sehen, es ist auch ihre Meinung. Aber warum zum Teufel setzt sich das Mädchen nicht wie jeder andre Christenmensch?« fragt Mr. George, die Augen nachdenklich auf Judy geheftet. »Ich kann’s nicht begreifen.«

»Sie bleibt neben mir, um auf mich acht zu geben«, erklärt Großvater Smallweed. »Ich bin ein alter Mann, mein lieber Mr. George, und brauche Beistand. Ich kann meine Jahre noch tragen. Ich bin kein Höllenteufelplapperpapagei.« Er knurrt und sieht sich unwillkürlich nach dem Kissen um. »Aber ich brauche Beistand, mein lieber Freund.«

»Gut«, entgegnet der Kavallerist und dreht seinen Stuhl so, daß er dem Alten ins Gesicht sieht. »Nun, also?«

»Mein Freund in der City, Mr. George, hat ein kleines Geschäftchen mit einem Schüler von Ihnen gemacht.«

»Hat er das? Tut mir leid zu hören.«

»Ja, Sir.« Großvater Smallweed reibt sich die Schenkel. »Er ist ein hübscher junger Soldat jetzt, Mr. George, und heißt Carstone. Freunde sind für ihn eingesprungen und haben alles ehrlich bezahlt.«

»So, taten sie das! – Meinen Sie, Ihr Freund in der City würde einen guten Rat annehmen?«

»Ich glaube wohl, mein lieber Freund. Von Ihnen?«

»Dann rate ich ihm, keine weiteren Geschäfte mehr in dieser Richtung zu machen. Es schaut nichts mehr dabei heraus. Der junge Herr ist, soviel ich weiß, mit der Nase an der Wand angekommen.«

»Nein, nein, mein lieber Freund, o nein, Mr. George. Nein, nein, nein, Sir«, wendet Großvater Smallweed ein und reibt sich listig seine dürren Schenkel. »Noch nicht ganz, glaube ich. Er hat gute Freunde und ist gut für seine Gage und ist gut für den Verkaufspreis seines Patents und ist gut für seine Aussichten in einem Prozeß und ist gut für seine Chancen auf eine Heirat und… O, wissen Sie, Mr. George, ich glaube, mein Freund würde den jungen Herrn noch immerhin für ganz gut halten«, sagt Großvater Smallweed, schiebt das Sammetkäppchen in die Höhe und kratzt sich hinter dem Ohr wie ein Affe.

Mr. George, der die Pfeife weggelegt hat und einen Arm auf der Stuhllehne ruhen läßt, trommelt mit dem rechten Fuß auf den Fußboden, als fände er keinen besondern Gefallen an der Wendung, die das Gespräch genommen hat.

»Aber, um von einem Thema auf das andre überzugehen, um die Unterhaltung avancieren zu lassen, wie ein Spaßvogel wie Sie sagen würde, um von dem Fähnrich auf den Kapitän zu kommen, Mr. George…«

»Was meinen Sie damit?« fragt Mr. George und hält mit gerunzelter Stirn inne, sich in der Erinnerung seinen Schnurrbart zu streichen. »Auf was für einen Kapitän?«

»Auf unsern Kapitän. Auf den Kapitän, den wir kennen. Kapitän Hawdon.«

»So, so. Um den handelt sich’s!« Mr. George läßt ein leises Pfeifen hören, während Großvater und Enkelin ihn scharf ansehen. »Das ist’s also. Nun, was ist’s damit? Los. Ich habe nicht Lust, mich länger ersticken zu lassen. Reden Sie!«

»Mein lieber Freund«, entgegnet der Alte, »man wendete sich gestern an mich – Judy, schüttle mich ein bißchen auf –, man hat sich gestern an mich wegen des Kapitäns gewendet, und ich bin immer noch der Ansicht, daß der Kapitän nicht tot ist.«

»Blech!« bemerkt Mr. George.

»Was sagten Sie, lieber Freund?« forscht der Alte, die Hand am Ohr.

»Blech!«

»Ho!« sagt Großvater Smallweed. »Mr. George, Sie können selbst meine Meinung nach den mir gestellten Fragen und den dafür angegebnen Gründen beurteilen. Also was, meinen Sie, will der Advokat denn dann, der immer bei mir nachforscht?«

»Ein Geschäft machen.«

»Nichts derart.«

»Dann kann er kein Advokat sein«, sagt Mr. George und verschränkt die Arme mit einer Miene größter Entschlossenheit.

»Mein lieber Freund, er ist Advokat, und zwar ein sehr berühmter. Er wünscht Kapitän Hawdons Handschrift zu sehen. Er will sie nicht behalten. Er wünscht sie bloß zu sehen und mit einer in seinem Besitz befindlichen Handschrift zu vergleichen.«

»Nun, und?«

»Nun, Mr. George, da er sich zufällig an die Zeitungsnotiz, die Kapitän Hawdon betraf, erinnerte, forschte er nach und kam zu mir – gerade wie Sie, mein lieber Freund. Geben Sie mir die Hand. Ich freute mich so sehr an jenem Tag, daß Sie kamen. Wir hätten nie Freundschaft geschlossen, wenn Sie mich nicht damals besucht hätten.«

»Nun, und, Mr. Smallweed?« fragt Mr. George wiederum und tut die Zeremonie des Händeschüttelns mit einer gewissen Steifheit ab.

»Ich besaß kein Schreiben von ihm. Ich hatte nichts als eine Unterschrift. Hölle, Pest und Hungersnot, Schlacht, Mord und Schlagfluß sollen über ihn kommen«, sagt der Alte und macht einen Fluch aus seinen bruchstückweisen Erinnerungen an ein Gebet und zaust sein Samtkäppchen wütend zwischen den Händen. »Ich glaube, ich habe eine halbe Million von seinen Unterschriften. Aber Sie«, fährt er fort und gewinnt atemlos seinen milderen Ton wieder, wie ihm Judy das Käppchen wieder auf seinen kahlen Kopf setzt, »aber Sie, mein lieber Mr. George, besitzen wahrscheinlich einen Brief oder ein Papier, das unsern Zweck erfüllt. Alles wäre geeignet. Nur muß es von seiner Hand geschrieben sein.«

»Etwas von seiner Hand Geschriebenes?« überlegt der Kavallerist. »Möglich, daß ich etwas habe.«

»Mein lieber, lieber Freund!«

»Vielleicht auch nicht.«

»Ho!« sagt Großvater Smallweed entmutigt.

»Aber wenn ich auch ganze Scheffel davon hätte, würde ich nicht soviel zeigen, als zu einer Patrone reicht, ohne zu wissen, wozu?«

»Sir, ich habe Ihnen doch gesagt, wozu! Mein lieber Mr. George, ich habe Ihnen doch gesagt, wozu!«

»Das ist nicht genug.« Der Kavallerist schüttelt den Kopf. »Ich muß mehr wissen und damit einverstanden sein.«

»Wollen Sie dann mit zu dem Advokaten kommen? Mein lieber Freund, kommen Sie mit, und besuchen wir den Herrn«, drängt Großvater Smallweed und zieht eine verhungerte alte Uhr heraus mit Zeigern wie die Beine eines Skeletts. »Ich sagte ihm, ich würde ihn zwischen zehn und elf heute vormittag besuchen, und es ist jetzt halb elf. Wollen Sie mich zu dem Herrn begleiten, Mr. George?«

»Hm«, überlegt der Kavallerist ernst. »Mir ist’s gleich. Ich möchte nur wissen, warum Ihnen gar soviel daran liegt.«

»Mir liegt an allem, was mir die Möglichkeit gibt, etwas über den Kapitän zu erfahren. Hat er uns nicht alle eingetunkt? Ist er uns nicht allen ohne Ausnahme ungeheure Summen schuldig? Mich angehen? Wen kann es mehr angehen als mich? Nicht etwa, mein lieber Freund«, sagt Großvater Smallweed mit ruhigerem Ton, »daß ich Ihnen zumute, etwas zu verraten. Weit entfernt davon. Sind Sie bereit, mitzukommen, mein lieber Freund?«

»Na ja! Ich komme. Aber ich verspreche nichts, verstanden!«

»Nein, mein lieber Mr. George, nein.«

»Und Sie wollen mich doch nicht glauben machen, daß Sie mich in Ihrem Wagen mitfahren lassen, ohne etwas dafür zu berechnen?« höhnt Mr. George und holt seinen Hut und seine dicken waschledernen Handschuhe.

Dieser Spaß gefällt Mr. Smallweed so sehr, daß er lange und leise vor dem Feuer lacht. Aber selbst während er lacht, blickt er über seine gelähmte Schulter nach Mr. George und belauert mit gierigen Augen, wie er das Vorhängschloß vor einem einfachen Schrank am hintern Ende der Galerie öffnet, in den obern Fächern herumsucht und schließlich etwas herausnimmt, das wie Papier raschelt, es zusammenfaltet und in die Brusttasche steckt. Dabei stößt Judy Mr. Smallweed an, und Mr. Smallweed stößt Judy an.

»Ich bin bereit«, sagt der Kavallerist und kommt zurück.

»Phil, du kannst diesen alten Herrn an seinen Wagen tragen. Gib aber acht!«

»O Gott, o Gott! Warten Sie einen Augenblick«, sagt Mr. Smallweed. »Sie sind schrecklich schnell. Wissen Sie auch sicher, daß nichts geschieht, mein Bester?«

Phil gibt keine Antwort, packt den Stuhl und stürzt seitwärts, von dem jetzt sprachlosen Mr. Smallweed krampfhaft umklammert, durch den Gang, als hätte er den freundlichen Auftrag, den alten Ehrenmann nach dem nächsten Vulkan zu tragen. Da sein Ziel jedoch schon der Wagen ist, setzt er ihn dort hinein, die schöne Judy nimmt daneben Platz, und der Stuhl verziert das Dach.

Mr. George setzt sich auf den Bock.

Mr. George ist ganz verblüfft von dem Schauspiel, das sich ihm bietet, wenn er von Zeit zu Zeit durch das Fenster zurück in den Wagen blickt, wo die grimme Judy regungslos sitzt, während der alte Herr, das Käppchen über einem Auge, von dem Sitz in das Stroh hinuntergerutscht ist und mit dem freien Auge in hilfloser Klage, daß ihn das Rütteln so in den Rücken stoße, zu ihm hinaufschaut.

27. Kapitel


27. Kapitel

Schachzüge

Nicht lange braucht Mr. George, die Arme verschränkt, auf dem Bock zu sitzen, denn das Ziel ist Lincoln’s-Inn-Fields. Als der Kutscher hält, steigt er herunter, sieht zum Fenster hinein und fragt:

»Was, Mr. Tulkinghorn ist Ihr Gewährsmann?«

»Ja, lieber Freund. Kennen Sie ihn denn, Mr. George?«

»Ich habe von ihm gehört –, ihn auch schon gesehen, glaube ich. Aber ich kenne ihn nicht und er mich auch nicht.«

Zuerst muß Mr. Smallweed die Treppe hinaufgetragen werden, was mit des Kavalleristen Hilfe leicht vonstatten geht. Man bringt ihn in Mr. Tulkinghorns großes Zimmer und setzt ihn auf den türkischen Teppich neben den Kamin. Mr. Tulkinghorn ist momentan nicht anwesend, wird aber gleich wieder zurück sein. Der Inhaber des Pultes im Vorzimmer meldet dies, schürt das Feuer und überläßt es dem Kleeblatt, sich zu wärmen.

Mr. George sieht neugierig im Zimmer umher, zu der gemalten Decke hinauf, betrachtet die alten juristischen Bücher, die Porträts der vornehmen Klienten und liest laut die Namen auf den Kasten.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet«, buchstabiert er gedankenvoll. »Ha! Rittergut Chesney Wold. Hm!« Er steht eine Weile vor diesen Kasten wie vor Gemälden und tritt wieder an den Kamin und wiederholt dabei die Worte: »Sir Leicester Dedlock, Baronet«, und »Rittergut Chesney Wold. Hm!«

»Hat schrecklich viel Geld, Mr. George«, flüstert Großvater Smallweed und reibt sich die Schenkel. »Fürchterlich reich.«

»Wen meinen Sie? Diesen alten Herrn oder den Baronet?«

»Diesen Herrn, diesen Herrn.«

»Hab es auch schon gehört. Hat auch so manchen im Sack, möchte wetten. Kein schlechtes Quartier übrigens«, sagt Mr. George und sieht sich wieder um. »Schauen Sie mal die eiserne Kasse dort.«

Mr. Tulkinghorns Ankunft schneidet die Antwort ab. Er sieht natürlich aus wie immer. Sein Anzug ist stumpf schwarz. Die Brille trägt er in der Hand, und sogar ihr Futteral ist abgeschabt. Sein Benehmen ist verschlossen und abweisend, die Stimme tonlos und gedämpft. Sein Gesicht ist wach, aber wie hinter einem Vorhang. Wer weiß, vielleicht ist er ein Misanthrop oder ein Weltverächter. Der hohe Adel könnte nach allem vielleicht wärmere Verehrer haben und treuere Anhänger als Mr. Tulkinghorn.

»Guten Morgen, Mr. Smallweed, guten Morgen«, sagt er beim Hereintreten. »Sie haben den Sergeanten mitgebracht, wie ich sehe. Setzen Sie sich, Sergeant.«

Während Mr. Tulkinghorn die Handschuhe auszieht und sie in seinen Hut legt, wirft er unter den Lidern hinweg einen Blick auf die andre Seite des Zimmers, wo der Kavallerist steht, und sagt leise, wahrscheinlich zu sich selbst: »Du könntest mir so passen, mein Freund.«

»Setzen Sie sich, Sergeant«, wiederholt er laut, tritt an den Tisch neben dem Kamin und nimmt in seinem Lehnstuhl Platz. »Kalt und rauh heute morgen, kalt und rauh…« Mr. Tulkinghorn wärmt sich vor dem Kamingitter abwechselnd Innen- und Außenseite seiner Hände und betrachtet hinter seinem Gesichtsvorhang, der immer heruntergelassen ist, hervor das im Halbkreis herumsitzende Kleeblatt.

»Nun, ich möchte jetzt wissen, woran ich bin, Mr. Smallweed.«

Der alte Herr wird von Judy zurechtgeschüttelt, um an der Unterhaltung teilnehmen zu können.

»Sie haben den Sergeanten mitgebracht, wie ich sehe.«

»Ja, Sir«, antwortet Mr. Smallweed und liegt auf dem Bauch vor dem Reichtum und Einfluß des Advokaten.

»Und was meint der Sergeant zu der Sache?«

»Mr. George«, sagt Großvater Smallweed und streckt seine runzelige Hand zitterig aus. »Dies ist der Herr, Mr. George.«

Mr. George begrüßt den Herrn, sitzt aber dabei steif aufrecht und in tiefstem Schweigen auf der Vorderkante seines Stuhls, als ob er seine ganze feldmäßige Adjustierung anhätte.

Mr. Tulkinghorn fährt fort: »Nun, George, ich glaube, Ihr Name ist doch George?«

»So ist’s, Sir.«

»Was sagen Sie dazu, George?«

»Entschuldigen Sie, Sir«, entgegnet der Kavallerist, »aber ich möchte wissen, was Sie dazu sagen.«

»Meinen Sie hinsichtlich Bezahlung?«

»Ich meine in jeder Hinsicht.«

Das stellt Mr. Smallweeds Geduld derartig auf die Probe, daß er plötzlich herausfährt: »Du Höllenhundsbestie!« Ebenso schnell bittet er Mr. Tulkinghorn um Entschuldigung, indem er sich damit herausredet, daß er zu Judy sagt: »Mir ist deine Großmutter eingefallen, mein Kind.«

»Ich glaubte, Mr. Smallweed hätte Ihnen bereits die Sache genügend auseinandergesetzt, Sergeant«, beginnt Mr. Tulkinghorn von neuem, lehnt sich in den Stuhl zurück und schlägt die Beine übereinander. »Sie ist übrigens bald erklärt. Sie haben unter Kapitän Hawdon gedient, ihn in seiner Krankheit gepflegt, ihm manchen kleinen Dienst geleistet und waren sein Vertrauter, wie ich hörte. Verhält es sich so?«

»Ja, Sir, so verhält es sich«, bestätigt Mr. George mit militärischer Kürze.

»Sie besitzen daher vielleicht etwas – gleichgültig was –, Rechnungen, Instruktionen, Befehle, einen Brief oder sonst etwas von Kapitän Hawdons Hand? Ich wünsche seine Handschrift mit einem in meinem Besitz befindlichen Schriftstück zu vergleichen. Wenn Sie mir das ermöglichen, werde ich Sie für Ihre Mühe entschädigen. Drei, vier, fünf Guineen würden wohl anständig bezahlt sein, schätze ich.«

»Nobel, mein lieber Freund!« ruft Großvater Smallweed und drückt die Augen halb zu.

»Wenn es Ihnen nicht genug ist, so sagen Sie auf Ihr Gewissen als Soldat, wieviel mehr es sein soll. Sie brauchen die Schrift nicht aus der Hand zu geben, wenn es Ihnen widerstrebt, obgleich es mir lieber wäre, wenn sie in meinen Besitz überginge.«

Mr. George sitzt unbeweglich stramm, blickt auf den Boden, auf die gemalte Decke hinauf und spricht kein Wort. Mr. Smallweed kratzt wütend in der Luft herum.

»Die Frage ist«, sagt Mr. Tulkinghorn in seiner methodischen, gedämpften, teilnahmslosen Weise, »erstens, ist etwas von Kapitän Hawdons Handschrift in Ihrem Besitz?«

»Erstens, ist etwas von Kapitän Hawdons Handschrift in meinem Besitz, Sir?« wiederholt Mr. George.

»Zweitens, was wollen Sie für Ihre Mühe haben?«

»Zweitens, was will ich für meine Mühe haben, Sir?« wiederholt Mr. George.

»Drittens können Sie selbst urteilen, ob dies der Handschrift irgendwie ähnlich sieht«, sagt Mr. Tulkinghorn und gibt dem Kavalleristen plötzlich einige zusammengebundene Bogen beschriebenen Papiers in die Hand.

»Ob sie dieser irgendwie ähnlich sieht, Sir. Ich verstehe«, wiederholt Mr. George.

Alle drei Sätze spricht Mr. George ganz mechanisch nach und sieht Mr. Tulkinghorn unverwandt an und wirft auch nicht den flüchtigsten Blick auf das Affidavit in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce, das ihm der Advokat, um ihn zu überrumpeln, gegeben hat, sondern sieht Mr. Tulkinghorn mit einer Miene unruhigen Grübelns an.

»Nun?« fragt Mr. Tulkinghorn. »Was meinen Sie dazu?«

»Nun, Sir«, antwortet Mr. George, richtet sich straff auf und sieht wie ein Riese aus. »Sie entschuldigen schon, aber ich möchte lieber nichts mit der Sache zu tun haben.«

Äußerlich nicht im mindesten erregt, fragt Mr. Tulkinghorn: »Warum nicht?«

»Warum nicht, Sir? Ich habe wohl militärische Disziplin, bin aber sonst kein Geschäftsmann. Unter Zivilisten bin ich, was man so sagt, das fünfte Rad am Wagen. Ich habe schriftliche Sachen nicht gern, Sir. Ich kann jedes Feuer besser aushalten als ein Feuer von Kreuzfragen. Ich erwähnte erst vor einer Stunde zu Mr. Smallweed, daß, wenn man mir von derlei Dingen zu reden anfängt, mir ist, als müßte ich ersticken. Und so ist mir jetzt wieder zumut«, sagt Mr. George und sieht die Anwesenden der Reihe nach an.

Dann macht er drei Schritte vorwärts, um die Papiere wieder auf den Tisch zu legen, und drei Schritte rückwärts zu seinem frühern Platz. Und dort bleibt er aufrecht stehen, blickt auf den Boden und dann wieder auf die gemalte Decke und versteckt die Hände auf dem Rücken, wie um kein Dokument mehr annehmen zu müssen.

Das reizt Mr. Smallweed dermaßen, daß er sein Lieblingsschimpfwort wieder mit »Höllenschwefel…« beginnt, aber noch rechtzeitig verschluckt, »mein lieber Freund«, sagt und eine Pause macht.

Dann aber fängt er an, seinen lieben Freund aufs zärtlichste zu ermahnen, nicht starrköpfig zu sein, sondern zu tun, was so ein hervorragender Gentleman wünsche, und zwar bereitwillig und unbedenklich, da es ebenso tadellos sei wie gewinnbringend. Nur gelegentlich flicht Mr. Tulkinghorn einen Satz ein wie: »Sie müssen am besten wissen, wie hoch Sie es veranschlagen, Sergeant. – Denken Sie selbst nach, ob es Ihnen Schaden bringt. – Ganz, wie es Ihnen beliebt, ganz wie es Ihnen beliebt. – Wenn Sie wissen, was Sie wollen, so genügt das vollkommen.« Er spricht die Sätze anscheinend mit vollkommener Gleichgültigkeit, kramt dabei unter den Papieren auf seinem Tisch herum und trifft Vorbereitungen, einen Brief zu schreiben.

Mr. George blickt mißtrauisch von der gemalten Decke auf den Boden, von dem Boden auf Mr. Smallweed, von Mr. Smallweed auf Mr. Tulkinghorn und von Mr. Tulkinghorn wieder auf die gemalte Decke und läßt in seiner Verlegenheit seinen Körper bald auf dem einen, bald auf dem andern Bein ruhen.

»Ich versichere Ihnen, Sir«, sagt er, »ohne Sie beleidigen zu wollen, daß ich mich zwischen zwei solchen Leuten wie Ihnen und Mr. Smallweed wahrhaftig fünfzig Mal hintereinander ersticken fühle. Tatsächlich, Sir! Ich kann es mit zwei solchen Gentlemen nicht aufnehmen. Darf ich fragen, warum Sie des Kapitäns Handschrift zu sehen wünschen, falls ich eine Probe davon finden sollte?«

Mr. Tulkinghorn schüttelt ruhig den Kopf. »Nein! Wenn Sie Geschäftsmann wären, Sergeant, so würde ich Ihnen nicht erst zu sagen brauchen, daß es in meinem Beruf Vertrauenssache ist, auch Gründe, die an und für sich ganz harmlos sind, geheim zu halten. Aber wenn Sie fürchten, Kapitän Hawdon vielleicht irgendwie zu schaden, so können Sie in dieser Hinsicht beruhigt sein.«

»Das glaube ich ohne weiteres. Er ist ja tot, Sir.«

»So?« Mr. Tulkinghorn setzt sich ruhig zum Schreiben hin.

»Es tut mir leid, Sir«, sagt der Kavallerist und sieht nach einer neuerlichen Verlegenheitspause in seinen Hut, »daß ich Ihrem Wunsch nicht mehr habe entsprechen können. Wenn es gewünscht wird, daß ich in meiner Ansicht, lieber nichts mit der Sache zu tun zu haben, noch von einem Freund bestärkt werde, der einen bessern Kopf für Geschäftssachen hat als ich und auch ein alter Soldat ist, so will ich ihn gern zu Rate ziehen. Die – die Kehle ist mir gegenwärtig so vollkommen zugeschnürt«, sagt Mr. George und fährt sich mit der Hand hoffnungslos über die Stirn, »daß ich nicht weiß, ob es nicht eine Befriedigung für mich wäre.«

Als Mr. Smallweed vernimmt, daß die Autorität ein alter Soldat ist, rät er, so lebhaft er kann, ihn zuzuziehen und ihm vor allem zu sagen, daß es sich um fünf Guineen oder mehr handelt. Mr. George verspricht schließlich, hinzugehen und seinen Freund um Rat zu fragen. Mr. Tulkinghorn sagt nichts dafür und nichts dagegen.

»Wenn Sie wünschen, Sir, werde ich also meinen Freund zu Rate ziehen«, sagt der Kavallerist, »und mir die Freiheit nehmen, im Lauf des Tages mit einer endgültigen Antwort wieder vorzusprechen. Mr. Smallweed, wenn Sie jetzt die Treppe hinuntergetragen zu werden wünschen…«

»Einen Augenblick, mein lieber Freund, einen Augenblick. Möchten Sie mich noch ein Wort mit diesem Herrn unter vier Augen sprechen lassen?«

»Gewiß, Sir. Übereilen Sie sich meinetwegen nicht.«

Der Kavallerist zieht sich in einen entfernten Winkel des Zimmers zurück und besichtigt wieder neugierig den Geldschrank und die Kasten.

»Wenn ich nicht so schwach wie ein kleines Höllenschwefelkind wäre, Sir«, flüstert Großvater Smallweed, während er den Advokaten an der Rockklappe zu sich herunterzieht und in seinen zornigen Augen ein halberloschnes grünes Feuer glimmt, »so würde ich ihm das Schreiben entreißen. Er hat es in seine Brusttasche eingeknöpft. Ich habe gesehen, wie er es einsteckte. Judy hat’s auch gesehen. Sprich doch, du ausgetrocknetes Bild für das Schild eines Spazierstockladens, und sag, daß du es ihn hast einstecken sehen!«

Diese vehemente Beschwörung begleitet der alte Ehrenmann mit einem solchen Stoß nach seiner Enkelin, daß es seine Kräfte übersteigt und er aus seinem Stuhl herausrutscht, Mr. Tulkinghorn nachziehend, bis Judy ihn aufhält und zurechtschüttelt.

»Mit Gewaltmaßregeln will ich nichts zu tun haben, mein Freund«, lehnt Mr. Tulkinghorn kühl ab.

»Nein, nein, ich weiß, ich weiß, Sir, aber ärgerlich und verdrießlich ist’s… s ist noch viel schlimmer als deine schnatternde plappernde Elster von einer Großmutter«, sagt Großvater Smallweed zu der undurchdringlichen Judy, die immer nur ins Feuer sieht. »Zu wissen, daß er hat, was wir brauchen, und es nur nicht herausgeben will. Er es nicht herausgeben ! Er! Ein Vagabund! Aber tut nichts, Sir. Tut nichts. Schlimmstenfalls hat er nur eine kleine Weile seinen Willen. Ich habe ihn von Zeit zu Zeit im Schraubstock. Ich werd ihn schon mürb machen, Sir. Ich werde die Schraube schon zuziehen, Sir. Wenn er nicht freiwillig tut, was ich will, werde ich ihn schon zwingen, Sir. – Nun, mein lieber Mr. George«, sagt Großvater Smallweed, läßt den Advokaten los und zwinkert ihm häßlich zu. »Wenn ich jetzt Ihre Hilfe in Anspruch nehmen darf, mein vortrefflicher Freund…«

Mr. Tulkinghorn, durch dessen Selbstbeherrschung ein leichtes Licht dringt, das verrät, daß ihn der Auftritt sehr amüsiert, steht mit dem Rücken gegen das Feuer auf dem Kaminteppich, sieht dem Entschwinden Mr. Smallweeds zu und erwidert den Gruß des Kavalleristen mit einem leichten Nicken.

Mr. George findet, daß es schwerer ist, den alten Herrn loszuwerden als ihn die Treppen hinuntertragen zu helfen, denn als dieser wieder im Wagen sitzt, zeigt er sich so geschwätzig über die Guineen und hält »seinen lieben Freund« so zärtlich am Knopf fest – von dem heimlichen Verlangen beseelt, ihm den Rock aufzureißen und das Papier zu entwenden –, daß Mr. George beinahe Gewalt anwenden muß, um von ihm loszukommen. Endlich gelingt es, und er macht sich allein auf den Weg zu seinem Ratgeber.

Er schreitet am klösterlichen »Tempel« und bei Whitefriars vorbei –nicht ohne einen Blick auf Hanging-Sword-Alley, die ihm einigermaßen am Weg zu sein scheint – und über die Blackfriarsbrücke und durch die Blackfriars-Road gelassen nach einer Straße voll kleiner Läden in jenem Gewirr von Wegen aus Kent und Surrey und Straßen von den Londoner Brücken her, die in dem allbekannten Elefanten zusammenlaufen, der sein Kastell, aus tausend vierspännigen Kutschen geformt, an ein noch stärkeres eisernes Ungeheuer, das ihn an jedem beliebigen Tag zu Wurstfleisch zu zerhacken bereit ist, abgetreten hat. Nach einem der kleinen Läden in dieser Straße, einem Instrumentenladen mit einigen Violinen, ein paar Panpfeifen, einem Tambourin, einem Triangel und ein paar Noten in der Auslage lenkt Mr. George seine wuchtigen Schritte. Kurz davor bleibt er stehen, als er eine soldatenmäßig aussehende Frau mit aufgeschürztem Kleid und einem kleinen Holzzuber heraustreten und auf dem Trottoirrand zu waschen anfangen sieht, und murmelt: »Sie wäscht Grünzeug wie gewöhnlich. Ich habe sie noch nie gesehen, außer auf einem Bagagewagen, ohne daß sie nicht Grünzeug wusch.«

Der Gegenstand seiner Reflexionen ist jedenfalls mit dem Grünzeugwaschen so eifrig beschäftigt, daß er von seiner Annäherung nichts ahnt, bis er das Wasser in den Rinnstein geschüttet hat, mit dem Zuber aufsteht und ihn vor sich sieht. Ihr Empfang ist nicht besonders schmeichelhaft.

»George, ich sehe Sie nie, ohne daß ich Sie nicht hundert Meilen weit weg wünschte.«

Ohne ein Wort auf diese Begrüßung zu erwidern, folgt der Kavallerist der Dame in den Instrumentenladen, wo sie ihr Gemüsefäßchen auf den Ladentisch setzt, ihm die Hand schüttelt und die Hüften stemmt.

»Ich halte Matthew Bagnet keine Minute für sicher, wenn Sie in der Nähe sind, George. Sie sind ein ruheloser, landstreicherischer…«

»Ja, ja! Ich weiß schon, Mrs. Bagnet. Ich weiß schon.«

»Wenn Sie’s auch wissen, was hilft das? Warum sind Sie so?«

»Wahrscheinlich ein animalischer Zug«, entschuldigt sich der Kavallerist gutmütig.

»Ach!« ruft Mrs. Bagnet mit ein wenig schriller Stimme. »Was hab ich von dem animalischen Zug, wenn das Tier meinen Mat vom Musikgeschäft weg nach Neuseeland oder Australien gelockt haben wird.«

Mrs. Bagnet ist keineswegs häßlich. Etwas derbknochig zwar und von grobem Wuchs und gebräunt von Sonne und Wind, die ihr das Haar auf der Stirne gebleicht haben, aber gesund und frisch und mit muntern Augen. Eine kräftige rührige tätige Frau mit ehrlichem Gesicht, von fünfundvierzig oder fünfzig Jahren. Reinlich, einfach und so ökonomisch, obgleich nicht ärmlich gekleidet, daß ihr einziger Schmuck ihr Trauring zu sein scheint, der ihr nicht mehr vom Finger geht, bis er sich dereinst mit ihrem Staub vermischt.

»Mrs. Bagnet«, sagt der Kavallerist, »Sie haben mein Wort. Mat soll meinethalben keinen Schaden nehmen. Insofern können Sie sich auf mich verlassen.«

»Nun, dann will ich’s glauben. Aber schon Ihr Aussehen macht einen unruhig. Ach, George, George! Wären Sie nur gesetzter geworden und hätten Joe Pouchs Witwe geheiratet, als er in Nordamerika starb! Sie hätte sich die Hände abgearbeitet für Sie.«

»Diese Gelegenheit habe ich allerdings versäumt«, entgegnet der Kavallerist halb lachend, halb im Ernst. »Aber jetzt werde ich kein solider Ehemann mehr werden. Joe Pouchs Witwe hätte mir helfen können – es war etwas an ihr –, aber ich konnte mich nicht dazu entschließen. Ja, wenn ich das Glück gehabt hätte, so eine Frau, wie Mat eine hat, zu finden.«

Mrs. Bagnet, die in ehrbarer Weise einem guten Kerl gegenüber wenig Zurückhaltung zu kennen scheint, sondern in dieser Hinsicht selbst eine Art guter Kerl ist, bedankt sich für dieses Kompliment, indem sie Mr. George mit einem Bund Grünzeug ins Gesicht spritzt. Dann trägt sie ihren Zuber in das kleine Zimmer hinter dem Laden.

»Nun, Quebec, mein Püppchen«, sagt George, der ihr auf ihre Einladung in die Stube folgt. »Was, und die kleine Malta auch? Kommt und küßt euern Wauwau.«

Die angeredeten jungen Damen, die nicht wirklich so getauft sind, aber in ihren Familien stets so nach ihren Geburtsorten in den Militärstationen genannt werden, sind beide auf dreibeinigen Stühlchen beschäftigt. Die jüngere, fünf oder sechs Jahre alt, mit Buchstabierenlernen aus einer Pennyfibel, die ältere, acht oder neun Jahre alt, als ihre Lehrerin und dabei fleißig nähend.

Beide jubeln Mr. George als altem Freund zu und setzen nach einigem Küssen und Balgen ihre Stühle neben ihn.

»Was macht der kleine Woolwich?« fragt Mr. George.

»Ach ja! Hören Sie nur!« ruft Mrs. Bagnet aus und sieht mit lebhaft gerötetem Gesicht – denn sie kocht eben das Mittagessen – von ihrer Pfanne auf. »Man sollte es nicht glauben. Hat eine Anstellung im Theater neben dem Vater, um in einem Militärstück die Querpfeife zu blasen.«

»Bravo, mein Patenkind«, ruft Mr. George und schlägt sich auf die Schenkel.

»Glaub’s Ihnen«, sagt Mrs. Bagnet. »Er ist ein Brite. Ja, das ist Woolwich. Ein echter Brite.«

»Und Mat bläst sein Fagott, und ihr seid alle samt und sonders ehrbare Zivilisten«, nickt Mr. George. »Familienvolk, den Stall voll Kinder, und Mats alte Mutter in Schottland und Ihr alter Vater irgendwo daherum bekommen Briefe und ein bißchen Unterstützung und… Gut, gut! Freilich weiß ich nicht, warum man mich nicht hundert Meilen weit weg wünschen sollte, denn was gehen mich solche Sachen an.«

Mr. George wird nachdenklich, wie er am Kamin in der weißgetünchten Stube sitzt, deren Fußboden mit Sand bestreut ist. Kasernengeruch herrscht, und nichts Überflüssiges ist zu sehen, von den Anzügen Quebecs und Maltas bis zu den glänzenden weißblechernen Töpfen und Pfannen auf den Simsen. Nirgends liegt Staub und Schmutz. – Mr. George grübelt, während Mrs. Bagnet kocht, und dann kommen Mr. Bagnet und der junge Woolwich pünktlich nach Hause.

Mr. Bagnet ist ein ehemaliger Artillerist, hochgewachsen und kerzengerade, mit zottigen Augenbrauen und einem Backenbart wie aus Kokosfasern, kein einziges Haar auf dem kahlen Kopf und von rotglühender Gesichtsfarbe. Seine kurze, tiefe und hallende Stimme klingt dem Instrument, das er spielt, nicht unähnlich. Überhaupt ist alles an ihm von straffem, unnachgiebigem, messingbeschlagnem Wesen, als ob er selbst das Fagott des ganzen großen Menschenorchesters wäre. Der kleine Woolwich ist der Typus eines kleinen Trommlerknaben.

Vater und Sohn begrüßen den Kavalleristen gleich herzlich. Später, als er erklärt, er sei gekommen, um Mr. Bagnet um Rat zu fragen, erklärt dieser gastfreundschaftlich, nicht eher etwas von Geschäften hören zu wollen, ehe nicht sein Freund an dem Schweinefleisch mit Gemüse teilgenommen habe. Da der Kavallerist die Einladung annimmt, gehen beide, um die häuslichen Vorbereitungen nicht zu stören, hinaus, machen einen kleinen Spaziergang auf der Straße und marschieren mit gemessenem Schritt, die Arme verschränkt, auf und ab, als befänden sie sich auf einer Schanze.

»George«, sagt Mr. Bagnet, »du kennst mich. Meine Alte erteilt die Ratschläge. Sie ist der Kopf. Aber ich gestehe es vor ihr nicht ein. Disziplin muß sein. Warte, bis sie ihre Sorge um das Gemüse los ist. Dann wollen wir beraten. Was die Alte sagt, das tue. Tue das ja!«

»Das ist auch meine Absicht, Mat. Ich frage lieber sie um Rat als ein ganzes Kollegium.«

»Kollegium!« entgegnet Mr. Bagnet in kurzen Sätzen, ganz fagottartig. »Was für ein Kollegium würde ganz allein aus einem andern Weltteil, mit nichts als einem grauen Mantel und einem Regenschirm, nach Europa heimreisen! Die Alte würde es morgen tun. Hat es schon einmal getan.«

»Da hast du Recht«, sagt Mr. George.

»Welches Kollegium könnte sich mit zwei Pence Kalk – für einen Penny Walkererde – einen halben Penny Sand – und dem Rest, der noch von einem Sixpence an Bargeld bleibt, etablieren? Und damit hat die Alte angefangen. In diesem Geschäft hier.«

»Es freut mich, zu hören, daß es gedeiht, Mat.«

»Die Alte spart«, sagt Mr. Bagnet zustimmend. »Hat irgendwo einen Strumpf. Mit Geld drin. Habe ihn nie gesehen. Aber ich weiß, daß sie einen hat. Warte nur, bis sie die Sorge mit dem Gemüse los ist. Dann wird sie dir gut raten.«

»Sie ist ein wahrer Schatz!« ruft Mr. George aus.

»Mehr noch! Aber ich sage das nie, wenn sie’s hören könnte. Disziplin muß sein. Meine Alte war’s, die meine musikalischen Fähigkeiten entdeckt hat. Ich stünde noch heute bei der Artillerie ohne die Alte. Sechs Jahre lang habe ich die Violine mißhandelt. Die Alte sagte, das ginge nicht! – Wille gut, aber Mangel an Biegsamkeit. Sollte Fagott versuchen. Die Alte borgte sich ein Fagott vom Kapellmeister beim Schützenregiment. Ich übte mich in den Laufgräben. Machte Fortschritte, bekam selbst ein Fagott. Lebe jetzt davon.«

George sagt, sie sähe so frisch aus wie eine Rose und so gesund wie ein Apfel.

»Die Alte ist durch und durch eine schöne Frau«, gibt Mr. Bagnet zu. »Daher gleicht sie einem durch und durch schönen Tage. Wird schöner, je älter sie wird. Habe nie ihresgleichen gesehen. Sage es aber nie, wenn sie’s hören könnte. Disziplin muß sein.«

Sie fangen jetzt an, von gleichgültigen Dingen zu sprechen, und gehen in Schritt und Takt die kleine Straße auf und ab, bis Quebec und Malta sie zum Schweinefleisch mit Gemüse hereinrufen, über das Mrs. Bagnet dann wie ein Regimentskaplan ein kurzes Tischgebet spricht.

Bei der Verteilung dieser Speisen hält sich Mrs. Bagnet wie bei jeder andern Wirtschaftspflicht an ein strenges System, setzt jedes Gericht vor sich hin, mißt jeder Portion Fleisch ihr Maß Brühe, Grünzeug, Kartoffeln und Senf zu und teilt sie dann aus. Nachdem sie auf die Art auch das Bier aus einer Kanne eingeschenkt und verteilt hat, befriedigt sie ihren eignen Hunger, der recht zufriedenstellend ist. Das Tischgerät besteht hauptsächlich aus Horn und Zinn und hat schon in verschiednen Weltteilen Dienste geleistet. Namentlich des kleinen Woolwichs Messer, von Austernart und mit einer starken Neigung behaftet, zuzuklappen, wodurch es häufig dem Appetit des jungen Musikers den Dienst verweigert, hat, wie man bei Tisch erfährt, bereits in verschiednen Händen den Dienst in allen Kolonien mitgemacht.

Nach beendeter Mahlzeit macht Mrs. Bagnet mit Hilfe der Jüngern Familienmitglieder, die ihre Becher und Teller, Messer und Gabeln selbst reinigen, das ganze Tischgerät so glänzend wie zuvor und räumt alles weg, kehrt aber zuerst den Herd, damit Mr. Bagnet und der Gast nicht behindert sind, ihre Pfeifen zu rauchen. Diese Wirtschaftssorgen sind mit vielem Hin- und Zurückklappern von Holzschuhen im rückwärtigen Hof verbunden und mit reichlicher Inanspruchnahme eines Wassereimers, der schließlich das Glück hat, zur Abwaschung von Mrs. Bagnet selbst zu dienen.

Bald erscheint die Alte ganz frisch wieder und setzt sich mit ihrer Näharbeit hin, und erst jetzt, wo ihre Sorgen um das Gemüse als ganz und gar beendet zu betrachten sind, fordert Mr. Bagnet den Kavalleristen auf, seine Sache vorzutragen.

Mr. George tut das mit größter Diskretion, indem er zu Mr. Bagnet zu sprechen scheint, aber während der ganzen Zeit wie dieser selbst sein Auge auf die Alte gerichtet hat. Sie, ebenso diskret, beschäftigt sich mit ihrer Näherei. Als die Sache vollständig auseinandergesetzt ist, nimmt Mr. Bagnet, um die Disziplin aufrecht zu erhalten, zu seiner altgewohnten List seine Zuflucht.

»Das ist die ganze Geschichte, was, George?« fragt er.

»Die ganze Geschichte.«

»Und du willst meinem Rate folgen?«

»Ich werde mich ganz nach ihm richten.«

»Alte«, sagt Mr. Bagnet, »sag ihm meine Meinung. Du kennst sie. Teile sie ihm mit.«

Der Rat lautet, daß man nicht wenig genug mit Leuten, die zu schlau für einen sind, zu tun haben und sich nicht genug hüten kann, sich in Dinge zu mischen, die man nicht versteht. Die einfache Regel lautet, nichts heimlich zu tun, an nichts Verstecktem oder Geheimnisvollem teilzunehmen und den Fuß nirgendshin zu setzen, wo man den Weg nicht sieht. Das ist dem Wesen nach Mrs. Bagnets Meinung. Und sie erleichtert Mr. George, der darin seine eigne Meinung bestätigt und seine Zweifel schwinden sieht, so sehr, daß er die seltne Gelegenheit benutzt, noch eine Pfeife raucht und mit der ganzen Familie Bagnet Lebenserfahrungen austauscht und von alten Zeiten plaudert.

So kommt es, daß Mr. George sich in dieser Stube nicht eher zu seiner vollen Höhe erhebt, als bis die Zeit naht, wo das englische Publikum im Theater das Fagott und die Querpfeife nicht länger mehr missen kann. Und selbst dann braucht Mr. George noch geraume Zeit, um in seiner Stellung als Wauwau Abschied von Quebec und Malta zu nehmen und einen Patenschilling in die Tasche des jungen Woolwich gleiten zu lassen, mit Glückwünschen über seine Erfolge im Leben. Erst als es finster wird, wendet Mr. George wieder sein Gesicht Lincoln’s-Inn-Fields zu.

Eine Häuslichkeit, spricht er zu sich selbst auf dem Heimweg, macht, so klein sie auch sein mag, daß ein Mann wie ich sich einsam fühlt. Aber es ist gut, daß ich das Manöver des Heiratens nie ausgeführt habe. Ich hätte nicht dafür gepaßt. Ich bin heute noch ein solcher Vagabund, daß ich sogar meine Schießgalerie nicht einen Monat lang führen könnte, wenn es ein regelmäßiges Geschäft wäre oder ich nicht nach Zigeunerart kampieren könnte. Und was ist schließlich daran! Ich mache niemandem Schande und falle niemandem zur Last. Das ist immerhin etwas. Das habe ich seit vielen Jahren nicht getan.

Dann pfeift er sich’s aus dem Sinn und marschiert weiter.

In Lincoln’s-Inn-Fields und an Mr. Tulkinghorns Treppe angekommen, findet er die Saaltür abgesperrt und die Kanzlei geschlossen. Aber da er als Kavallerist wenig von Saaltüren versteht, tastet er, in der Hoffnung, einen Klingelzug zu finden oder die Tür öffnen zu können, noch herum, da kommt Mr. Tulkinghorn – selbstverständlich leise – die Treppe herauf und fragt unwirsch:

»Wer ist da? Was machen Sie da?«

»Entschuldigen Sie, Sir. Ich bin George. Der Sergeant.«

»Und George, der Sergeant, konnte nicht sehen, daß meine Tür verschlossen ist?«

»Nun, nein, Sir. Konnte ich nicht. Jedenfalls hab ich es nicht gesehen«, antwortet der Kavallerist ein wenig gereizt.

»Haben Sie sich anders besonnen oder sind Sie noch derselben Ansicht?« Mr. Tulkinghorn fragt, aber er sieht auf den ersten Blick, woran er ist.

»Ich bin noch derselben Ansicht, Sir.«

»Ich habe mir’s gedacht. Das genügt. Sie können gehen. – Sie sind doch der Mann«, sagt Mr. Tulkinghorn und sperrt seine Tür auf, »in dessen Versteck Mr. Gridley gefunden wurde?«

»Ja, ich bin der Mann«, bestätigt der Kavallerist und bleibt zwei oder drei Stufen tiefer unten stehen. »Warum, Sir?«

»Warum? Ihr Umgang gefällt mir nicht. Ich hätte Sie heute morgen nicht vorgelassen, wenn ich gewußt hätte, daß Sie der Betreffende sind. Gridley!! Ein gefährlicher mörderischer Kerl!«

Mr. Tulkinghorn geht mit diesen für ihn ungewöhnlich laut gesprochnen Worten in seine Wohnung und wirft die Tür hinter sich zu. Mr. George ärgert sich sehr über diese Manier, sich zu verabschieden. Und umsomehr, als ein die Treppe heraufkommender Schreiber die letzten Worte gehört hat und sie offenbar auf ihn bezieht.

»Hübsche Sachen muß man sich da gefallen lassen«, brummt er und steigt mit einem Fluch die Treppe hinunter. Und als er hinaufblickt, sieht er den Schreiber herunterschauen und ihn, wie er an einer Lampe vorbeigeht, beobachten. Das steigert seinen Ärger so sehr, daß er fünf Minuten lang schlechter Laune ist.

Aber er pfeift sich auch das aus dem Sinn und marschiert durch die Straßen in seine Schießgalerie.

28. Kapitel


28. Kapitel

Der Hüttenbesitzer

Sir Leicester Dedlock hat für diesmal die Familiengicht überstanden und ist abermals in wörtlichem wie figürlichem Sinn auf den Beinen. Er weilt auf seinem Edelsitz in Lincolnshire, aber das Wasser steht wieder in den Niederungen, und die Kälte und Feuchtigkeit dringen trotz der besten Schutzmaßregeln in Chesney Wold ein und in Sir Leicesters Knochen.

Die hellen Feuer von Holz und Steinkohlen – Dedlock-Holz und vorsintflutlicher Wald –, die in den breiten geräumigen Kaminen lodern und im Zwielicht den finster blickenden Wäldern zuzwinkern, die grollend zusehen, wie ihre Bäume geopfert werden, können den Feind nicht vertreiben. Die Röhren mit heißem Wasser, die sich durch das ganze Haus schlängeln, die Polsterung der Türen und Fenster und die Vorhänge und Jalousien ersetzen nicht die Unzulänglichkeit der Feuer und genügen Sir Leicesters Bedürfnissen nicht. Daher verkünden die fashionablen Nachrichten eines Morgens dem lauschenden Erdenrund, daß Lady Dedlock binnen kurzem auf einige Wochen in die Stadt zurückkehren wird.

Es ist eine traurige aber wahre Tatsache, daß selbst große Männer arme Verwandte haben. Ja, große Männer haben oft mehr als den ihnen gebührenden Anteil an armen Verwandten. Und blaues Blut der feinsten Qualität ebenso wie geringes unrechtmäßig vergossenes schreien zum Himmel und wollen gehört sein. Sir Leicesters Vettern bis in den fernsten Grad sind in ihrer Art Mordtaten, die um jeden Preis ans Tageslicht wollen. Unter ihnen sind Vettern von so großer Armut, daß man fast denken könnte, es wäre für sie ein größeres Glück gewesen, sie wären niemals plattierte Glieder an der Dedlock-Goldkette geworden, sondern gleich von Anfang an von gemeinem Eisen und gewöhnlichen Diensten gewidmet gewesen.

Dienen dürfen sie, mit einigen sehr beschränkten, aber auch da keinen Nutzen bringenden Ausnahmen, wegen ihrer hohen Dedlock-Abstammung keinesfalls. Daher besuchen sie ihre reichen Vettern und machen Schulden, wenn sie können, und leben ziemlich schäbig, wenn es ihnen nicht gelingt. Als Frauen finden sie keine Männer und als Männer keine Frauen. Sie fahren in geborgten Wagen und sitzen bei Gastmählern, die sie selbst nie geben, und schlagen sich so durchs Leben. In die große Familiensumme haben sich allzuviele Zahlen geteilt, und sie sind der kleine Rest, mit dem niemand weiß, was anfangen.

Jeder von Sir Leicester Dedlocks Überzeugung und Denkungsart scheint mehr oder weniger sein Vetter zu sein. Von Lord Boodle und Herzog von Woodle bis herab zu Noodle spinnt Sir Leicester wie eine glorreiche Spinne seine Verwandtschaftsfäden. Aber während er großartig jedermanns von seinesgleichen Vetter ist, ist er in seiner würdevollen Weise gütig und großmütig gegen die kleinen Vettern, und gegenwärtig erträgt er trotz der Feuchtigkeit den Besuch mehrerer solcher Verwandten in Chesney Wold mit dem Opfermut eines Märtyrers.

Zu diesen gehört in erster Linie Volumnia Dedlock, eine junge Dame von sechzig Jahren, die in zwiefacher Hinsicht eine vornehme Verwandte ist. Hat sie doch die Ehre, mütterlicherseits mit einer andern großen Familie verschwägert zu sein. Da Miß Volumnia in ihrer Jugend ein hübsches Talent besaß, allerlei nette Ornamente aus buntem Papier auszuschneiden, zur Guitarre spanische Lieder zu singen und auf Herrschaftssitzen französische Wortspiele zum besten zu geben, so verbrachte sie die zwei Dezennien ihres Lebens zwischen dem zwanzigsten und vierzigsten auf eine hinreichend angenehme Art. Als sie dann aus der Mode kam und ihre spanischen Lieder der Menschheit langweilig wurden, zog sie sich nach Bath zurück, wo sie bescheiden von einem jährlichen Geschenk Sir Leicesters lebt und gelegentlich in den Herrschaftssitzen ihrer Vettern aufersteht. In Bath erfreut sie sich einer ausgedehnten Bekanntschaft unter entsetzlich alten Herrn mit dürren Beinen und Nankinghosen und nimmt in dieser öden Stadt eine hohe Stellung ein. Aber anderwärts fürchtet man sie ein wenig wegen einer gewissen indiskreten Verschwendung von roter Schminke und eines ewigen altmodischen Perlenhalsbandes, das ihr wie ein Rosenkranz aus kleinen Vogeleiern um den Hals hängt.

In jedem Lande mit gesunden Zuständen hätte Volumnia berechtigte Ansprüche auf eine Pension. Man hat Versuche gemacht, sie in die Liste zu bringen, und als William Buffy das Ministerium übernahm, rechnete man sicher darauf, daß ihr Name mit ein paar hundert Pfund jährlich bedacht werden würde. Aber wider alles Erwarten entdeckte William Buffy irgendwie, daß das in solchen Zeitläuften nicht anginge, und das war für Sir Leicester Dedlock das erste deutliche Zeichen von dem bevorstehenden Untergang Englands.

Ferner ist da Bob Stables, Hochwohlgeboren, der mit der Geschicklichkeit eines Veterinärarztes warme Umschläge machen kann und ein besserer Schütze ist als die meisten Hegereiter. Er hat seit einiger Zeit eifrigst gewünscht, seinem Vaterland in einem bezahlten Amt ohne weitere Mühe und Verantwortlichkeit zu dienen. In einem gut geordneten Staatswesen wäre dieser natürliche Wunsch eines strebsamen jungen Mannes von so hohen Beziehungen rasch befriedigt worden. Aber William Buffy entdeckte, als er Minister wurde, daß er in solchen Zeitläuften auch diese kleine Sache nicht deichseln könnte. Und das war für Sir Leicester Dedlock das zweite Zeichen von Englands bevorstehendem Untergang.

Die übrigen Verwandten sind Damen und Herren von verschiedenen Fähigkeiten und Altersstufen. Der größere Teil ist liebenswürdig und verständig und besteht aus Leuten, die aller Wahrscheinlichkeit nach ganz gut im Leben vorwärts gekommen wären, wenn sie sich nur ihre Vetterschaft hätten aus dem Kopf schlagen können. So aber sind sie fast alle deswegen schlechter daran und schlendern auf zweck- und ziellosen Pfaden dahin und stehen sich und andern im Wege.

In dieser Gesellschaft, wie überall, herrscht Lady Dedlock unumschränkt. Schön, elegant, gebildet und tonangebend in ihrer kleinen Welt, trägt sie durch ihren Einfluß in Sir Leicesters Haus, so hochmütig und gleichgültig auch ihre Art ist, nicht wenig dazu bei, den Ton zu heben und zu verfeinern. Die Vettern und Basen, selbst die altern, die ganz erstarrt waren, als Sir Leicester Mylady heiratete, sind ihre Vasallen geworden, und Bob Stahles, Hochwohlgeboren, wiederholt täglich zwischen Frühstück und Lunch gelegentlich seine Lieblingsbemerkung, daß sie die bestgestriegelte Frau im ganzen Gestüt sei.

Das sind die Gäste in dem großen Salon in Chesney Wold an diesem unfreundlichen Abend, wo der Schritt auf dem Geisterweg, der nicht bis hierher hörbar ist, gerade so gut der Schritt eines in die Kälte hinausgestoßenen verstorbenen Vetters sein könnte.

Es ist fast Schlafenszeit. Die Schlafzimmerfeuer schimmern hell durch das ganze Haus und beschwören Gespenster grotesker Möbel an Wand und Decke. Schlafzimmerleuchter stehen auf dem Tisch in der Ecke drüben an der Tür, und Vettern und Basen gähnen auf Ottomanen. Vettern und Basen am Piano, Vettern und Basen am Sodawasser-Tablett. Vettern und Basen stehen vom Spieltisch auf, Vettern und Basen sind am Kamin versammelt. Auf der einen Seite seines eigenen Feuers, denn es sind deren zwei im Salon, steht Sir Leicester, und an der andern Kaminseite sitzt Mylady an ihrem Tisch. Volumnia, als eine der begünstigteren Verwandten, ruht in einem üppigen Lehnstuhl zwischen ihnen. Sir Leicester blickt mit vornehmem Mißvergnügen auf die rote Schminke und das Perlenhalsband.

»Zuweilen treffe ich hier auf der Treppe eines der hübschesten Mädchen, das mir jemals vorgekommen ist«, sagt Volumnia gedehnt, deren Gedanken nach dem langen Abend höchst zerfahrner Unterhaltung schon zu Bett hüpfen wollen.

»Eine Protege von Mylady«, bemerkt Sir Leicester.

»Das dachte ich mir. Ich war überzeugt, daß ein ungewöhnlicher Blick das Mädchen ausgewählt haben müßte. Die Kleine ist wirklich ein Wunder. Vielleicht von etwas puppenhafter Schönheit«, sagt Volumnia, sich ihre Eigenart vorbehaltend. »Aber in ihrer Weise vollkommen. Eine solche blühende Frische ist mir noch nie vorgekommen.«

Sir Leicester mit seinem mißvergnügten Blick auf die Schminke scheint ebenfalls dieser Meinung zu sein.

»O«, bemerkt Mylady gelangweilt, »wenn jemand eine ungewöhnliche Hand in der Sache bewiesen hat, so ist es Mrs. Rouncewell gewesen und nicht ich. Sie hat Rosa entdeckt.«

»Rosa ist Ihre Zofe, nicht wahr?«

»Nein, sie ist alles für mich. Liebling – Sekretär – Bote… Ich weiß nicht, was alles.«

»Sie haben sie um sich, wie Sie gern eine Blume oder einen Vogel, ein Bild oder einen Pudel – aber nein, einen Pudel nicht – oder sonst etwas Hübsches um sich sehen würden«, sagt Volumnia verständnisinnig. »Ach, wie reizend das ist, und wie gesund diese liebe alte Mrs. Rouncewell aussieht. Sie muß außerordentlich alt sein, und doch ist sie so rührig und hübsch. Ich bin ihr wirklich von Herzen gut.«

Sir Leicester findet es recht und schicklich, daß die Haushälterin von Chesney Wold eine bemerkenswerte Person ist. Abgesehen davon hat er wirklich Achtung vor Mrs. Rouncewell und hört sie gern loben. Deshalb sagt er: »Sie haben recht, Volumnia«, – was zu vernehmen Volumnia außerordentlich freut.

»Sie selbst hat keine Tochter?«

»Mrs. Rouncewell? Nein, Volumnia. Sie hat einen Sohn. Eigentlich zwei.«

Mylady, deren chronische Langweile diesen Abend durch Volumnia sehr verstärkt wurde, blickt müde nach den Leuchtern und seufzt innerlich.

»Und es ist ein merkwürdiges Beispiel des Verfalles, dem das gegenwärtige Zeitalter entgegengeht, des Verwischens aller Grenzen, des Öffnens der Schleusen und der Mißachtung aller Distinktionen«, sagt Sir Leicester mit vornehmer Melancholie, »daß ich von Mr. Tulkinghorn höre, man habe Mrs. Rouncewells Sohn zur Kandidatur ins Parlament aufgefordert.«

Miß Volumnia läßt ein halblautes Aufkreischen hören.

»Ja, wirklich«, wiederholt Sir Leicester. »Ins Parlament!«

»Da hört sich denn doch alles auf! Gütiger Himmel, was ist denn der Mann?«

»Er ist… Man nennt es, glaube ich, einen Hüttenmeister.« Sir Leicester sagt das langsam und mit ernstem Zweifel, als könne der Mann gerade so gut ein Bleigießer sein oder irgend etwas anderes Rätselhaftes.

Volumnia läßt wieder ein Kreischen vernehmen.

»Er hat den Vorschlag abgelehnt, wenn die mir von Mr. Tulkinghorn mitgeteilte Nachricht richtig ist, was ich nicht im mindesten bezweifle, denn Mr. Tulkinghorn ist stets richtig informiert, aber das vermindert das Ungehörige der Sache durchaus nicht«, sagt Sir Leicester. »Man könnte die sonderbarsten und, wie mir scheint, erschreckendsten Betrachtungen darüber anstellen.«

Da Miß Volumnia mit einem leuchterwärts gerichteten Blick aufsteht, macht Sir Leicester höflich die »große Tour«, das heißt, er geht im Bogen im Salon herum, holt eine Kerze und zündet das Licht an Myladys Lampe an.

»Ich möchte Mylady bitten, noch ein paar Augenblicke zu bleiben«, sagt er dabei. »Denn der Mann, von dem ich sprach, ist heute abend kurz vor dem Essen angekommen und hat – in einem sehr schicklichen Briefe« – schaltet Sir Leicester mit seiner gewohnten Wahrheitsliebe ein – »in einem sehr schicklichen und gut verfaßten Briefe, muß ich sagen – um die Gunst einer kurzen Unterredung mit Mylady und mir wegen dieses jungen Mädchens gebeten. Da es schien, als ob er diesen Abend noch abzureisen wünschte, antwortete ich ihm, daß wir ihm noch vor dem Schlafengehen Audienz geben wollten.«

Miß Volumnia entflieht mit einem dritten leisen Schrei, indem sie ihren Wirten, o Gott, glückliche Befreiung von dem – was ist er? – Hüttenmeister wünscht.

Die andern Vettern und Basen verlieren sich ebenfalls bald. Sir Leicester klingelt.

»Empfehlen Sie mich Mr. Rouncewell unten bei der Haushälterin und sagen Sie ihm, daß ich ihn jetzt empfangen kann.«

Mylady, die all dem äußerlich nur mit geringer Aufmerksamkeit zugehört hat, wirft einen Blick auf Mr. Rouncewell, als er ins Zimmer tritt. Er ist dem Anschein nach ein wenig über fünfzig, gut gewachsen wie seine Mutter, hat eine sonore Stimme, eine breite Stirn, von der das dunkle Haar schon ein wenig zurückgewichen ist, und ein gescheites und offenes Gesicht. Er sieht in seinem schwarzen Rock behäbig aus, aber kräftig und beweglich, wie jemand, der eine gewisse verantwortliche Tätigkeit gewohnt ist. Er benimmt sich vollkommen natürlich und unbefangen und ist nicht im mindesten verlegen.

»Sir Leicester und Lady Dedlock, da ich wegen der Belästigung bereits um Verzeihung gebeten habe, so kann ich nichts Besseres tun, als mich sehr kurz zu fassen. – Ich danke Ihnen, Sir Leicester.«

– Das Familienoberhaupt der Dedlocks hat nämlich mit der Hand auf ein Sofa zwischen sich und Mylady gewiesen. –

Mr. Rouncewell nimmt ruhig Platz.

»In diesen geschäftigen Zeiten, wo so große Unternehmungen im Gange sind, haben Leute wie ich eine solche Menge Arbeiter an so vielen Orten, daß wir beständig unterwegs sind.«

Sir Leicester paßt es, daß der Hüttenbesitzer fühlt, daß hier nichts eilt, hier, in diesem uralten Hause, festgewurzelt in dem stillen Park, wo der Efeu und das Moos Zeit gefunden haben, sich auszubreiten, und die zackigen warzigen Ulmen und die schattigen Eichen tief in hundertjährigem Farnkraut und Laub stehen, wo die Sonnenuhr auf der Terrasse seit Generationen stumm die Zeit gezeigt hat, die ebensosehr das Eigentum jedes Dedlocks war – für Lebenszeit – wie das Haus und die Ländereien. Sir Leicester nimmt in einem Lehnstuhl Platz und setzt seine Ruhe und die ganz Chesney Wolds dem Ungestüm des Eisenwerkbesitzers entgegen.

»Lady Dedlock ist so gütig gewesen«, fährt Mr. Rouncewell mit einem Blick und einer Verbeugung voll Ehrerbietung vor der Dame des Hauses fort, »eine junge Schönheit namens Rosa in ihre Dienste zu nehmen. Nun hat sich mein Sohn in Rosa verliebt und meine Einwilligung verlangt, ihr seine Hand antragen und sich mit ihr verloben zu dürfen, wenn sie ihn haben will, was ich nämlich voraussetze.

Ich habe Rosa heute das erste Mal gesehen, aber ich vertraue auf meines Sohnes richtigen Blick, selbst in der Liebe.

Nach meinem Dafürhalten ist sie wirklich so, wie er sie schildert, und auch meine Mutter ist voll des Lobes über sie.«

»Sie verdient es in jeder Hinsicht«, bestätigt Mylady.

»Es freut mich, daß Sie das auch sagen, Lady Dedlock, und ich brauche wohl nicht erst auseinanderzusetzen, welchen Wert für mich Ihre Meinung über Rosa hat.«

»Das wäre wohl auch ganz unnötig«, bemerkt Sir Leicester unsäglich würdevoll, denn der Eisenwerkbesitzer kommt ihm ein wenig zu zungenfertig vor.

»Ganz unnötig, Sir Leicester. Gewiß. – Nun ist mein Sohn ein sehr junger Mann und Rosa ein sehr junges Mädchen. Wie auch ich mich emporarbeiten mußte, so muß auch mein Sohn es tun, und jetzt zu heiraten, ist für ihn ausgeschlossen. Aber vorausgesetzt, ich gäbe meine Einwilligung zu seiner Verlobung, wenn sich die kleine Schönheit überhaupt mit ihm verloben will, so halte ich es für meine Pflicht, von vornherein aufrichtig zu sagen – und ich bin überzeugt, Sir Leicester und Lady Dedlock, Sie werden mich verstehen und entschuldigen, – daß ich es zur Bedingung machen müßte, daß Rosa nicht in Chesney Wold bleibt. Deshalb, ehe ich die Sache weiter mit meinem Sohn bespreche, nehme ich mir die Freiheit, zu versichern, daß, wenn Ihnen Rosas Entfernung nicht passen sollte oder irgendwie unangenehm wäre, ich die Sache auf einen beliebigen vernünftigen Termin hinausschieben und sie so lassen würde, wie sie gegenwärtig steht.«

Nicht in Chesney Wold bleiben? Es zur Bedingung machen?

Alle alten bösen Ahnungen Sir Leicesters in bezug auf Wat Tyler und die Leute in den Eisendistrikten, die immerwährend bei Fackelschein ausziehen, erwachen wieder in seinem Kopf, so daß sich sein schönes graues Haar samt dem Backenbart vor Entrüstung sträubt.

»Soll ich darunter verstehen, Sir, und soll Mylady darunter verstehen …« – Sir Leicester erwähnt sie erstens aus Galanterie und zweitens aus Klugheit, da er sehr viel von ihrem Verstand hält – »soll ich darunter verstehen, Mr. Rouncewell, und soll Mylady darunter verstehen, Sir, daß Sie das junge Mädchen für zu gut für Chesney Wold halten, oder meinen Sie, ihr Hierbleiben könne ihr vielleicht schaden?«

»Durchaus nicht, Sir Leicester.«

»Es freut mich, das zu hören.« Sir Leicester sieht sehr erhaben drein.

»Bitte, Mr. Rouncewell«, sagt Mylady und scheucht Sir Leicester mit einem leisen Wink ihrer hübschen Hand weg wie eine Fliege. »Erklären Sie mir, was Sie wollen.«

»Mit größter Bereitwilligkeit, Lady Dedlock. Nichts könnte mir erwünschter sein.«

Mylady kehrt ihr unbewegliches Gesicht, dessen Geist jedoch zu rasch und lebendig ist, um sich durch eine einstudierte, wenn auch noch so sehr zur Gewohnheit gewordene Teilnahmslosigkeit verbergen zu lassen, den kräftigen angelsächsischen Zügen des Gastes, der ein Bild von Entschlossenheit und Ausdauer ist, zu, lauscht aufmerksam seinen Worten und neigt gelegentlich ein wenig ihr Haupt.

»Ich bin der Sohn Ihrer Haushälterin, Lady Dedlock, und habe meine Kindheit in diesem Hause verbracht. Meine Mutter hat hier ein halbes Jahrhundert gelebt und wird hier wohl auch sterben. Sie ist eins von den Beispielen – vielleicht eines der besten – von Liebe, Anhänglichkeit und Treue, auf die England wohl stolz sein kann, aber deren Ehre oder Verdienst sich kein Stand allein anmaßen darf, weil ein solches Beispiel hohen Wert auf beiden Seiten voraussetzt. Auf der Seite der Herrschaft gewiß, aber auf der des Untergebenen nicht minder.«

Sir Leicester rümpft ein wenig die Nase, die Tatsachen so ausgelegt zu hören, aber in seiner Ehrenhaftigkeit und Wahrheitsliebe gibt er, wenn auch stumm, die Richtigkeit der Behauptung des Eisenwerkbesitzers zu.

»Verzeihen Sie, daß ich erwähne, was so selbstverständlich ist, aber ich wollte nicht Anlaß zu einer Vermutung geben, als ob ich mich etwa der Stellung meiner Mutter hier schäme oder es sonstwie an gerechter Ehrerbietung vor Chesney Wold und seiner Familie irgendwie fehlen ließe. Gewiß hätte ich wünschen dürfen und habe es auch gewünscht, Lady Dedlock, daß sich meine Mutter nach so vielen Jahren zurückziehe und ihr Leben bei mir beschließen möge. Aber da ich fand, daß die Trennung von hier ihr das Herz brechen würde, habe ich den Gedanken längst aufgegeben.«

Sir Leicester sieht wieder sehr großartig drein bei dem Gedanken, man könne Mrs. Rouncewell ihrer natürlichen Heimat entführen, damit sie ihre Tage bei einem Eisenwerkbesitzer beschließe.

»Ich bin Lehrling und Arbeiter gewesen«, fährt der Besuch in schlichter, klarer Weise fort, »habe viele Jahre lang von meinem Arbeitslohn gelebt und mich bis zu einem gewissen Punkte selbst erziehen müssen. Meine Frau war als die Tochter eines einfachen Werkführers aufgewachsen. Wir haben drei Töchter außer diesem Sohn, den ich bereits erwähnte, und da wir glücklicherweise imstande waren, ihnen günstigere Lebensbedingungen zu schaffen, als wir sie selbst gehabt, so haben sie eine gute, sogar sehr gute Erziehung genossen. Es ist eine unsrer Hauptsorgen und Hauptfreuden gewesen, sie jeder Lebensstellung würdig zu machen.«

Ein wenig Stolz klingt durch seinen väterlichen Ton, als ob er innerlich hinzusetzte: »Würdig selbst für die Chesney-Wold-Stellung.« Deshalb mildert Sir Leicester die Großartigkeit seiner Miene nicht ein bißchen.

»Alles dieses kommt in meiner Gegend und in der Gesellschaftsklasse, zu der ich gehöre, so häufig vor, Lady Dedlock, daß das, was man so landläufig ungleiche Heiraten nennt, nicht so selten ist wie anderswo. Ein junger Mann sagt manchmal seinem Vater, daß er sich in ein Mädchen in der Fabrik verliebt habe. Der Vater, der früher selbst Arbeiter gewesen, wird anfangs ein wenig unzufrieden sein. Sehr möglich. Vielleicht hat er mit seinem Sohn andre Absichten. Wahrscheinlicher aber ist, daß er zu seinem Sohn sagt, nachdem er sich vergewissert hat, daß das Mädchen einen tadellosen Ruf besitzt: Ich muß erst sicher sein, daß es dir ernst ist. Es ist eine wichtige Angelegenheit für euch beide. Deshalb werde ich dieses Mädchen zwei Jahre lang unterrichten lassen oder soundso lange mit deinen Schwestern in ein und dieselbe Schule schicken, und du gibst mir dein Ehrenwort, daß du sie während dieser Zeit nur soundsooft siehst. Wenn das Mädchen nach Verlauf dieser Zeit die Gelegenheit entsprechend wahrgenommen hat, so daß ihr hinsichtlich Bildung auf dem richtigen Fuß miteinander steht, und wenn ihr dann immer noch desselben Sinnes seid, so will ich das Meine tun, um euch glücklich zu machen. Ich kenne mehrere Fälle dieser Art, Mylady, und ich glaube, sie zeigen mir, welchen Weg ich einzuschlagen habe.«

Sir Leicesters Großartigkeit kommt jetzt zum Ausbruch. Ruhig, aber schrecklich.

»Mr. Rouncewell«, sagt er, die rechte Hand in der Brust seines blauen Fracks – die Staatsstellung, in der sein Bild in der Galerie hängt. »Ziehen Sie einen Vergleich zwischen Chesney Wold und einer« – er unterdrückt einen Erstickungsanfall – »einer Fabrik?«

»Ich brauche wohl nicht zu versichern, Sir Leicester, daß die zwei Orte sehr verschieden von einander sind, aber zum Zweck der Beurteilung des vorliegenden Falles glaube ich einen gewissen Vergleich zwischen ihnen immerhin ziehen zu dürfen.«

Sir Leicester läßt seinen majestätischen Blick die eine Seite des langen Salons hinab und die andre heraufschweifen, ehe er glauben kann, daß er wach ist.

»Ist es Ihnen bekannt, Sir, daß dieses junge Mädchen, das Mylady-Mylady! – in ihre Dienste genommen hat, in der Dorfschule draußen erzogen worden ist?«

»Sir Leicester, das ist mir wohl bekannt. Es ist eine sehr gute Schule, und sie wird von Ihrer Familie in nicht genug anzuerkennender Weise unterstützt.«

»Dann muß ich gestehen, Mr. Rouncewell, daß mir Ihre Äußerungen vollkommen unverständlich sind.«

»Werden sie Ihnen begreiflicher sein, Sir Leicester, wenn ich Ihnen sage«, entgegnet der Eisenwerksbesitzer, und das Blut steigt ihm ein wenig ins Gesicht, »daß ich nicht der Meinung bin, die Dorfschule könne alles lehren, was der Gattin meines Sohnes zu wissen wünschenswert ist?«

»Von dem Unterfangen, die bis zu dieser Minute sakrosankt gewesene Dorfschule von Chesney Wold herabzusetzen, bis zu dem ganzen sozialistischen Lattenbau mit seinen Übergriffen, Menschen über ihren Stand zu erziehen und dadurch die Grenzen zu verwischen, die Schleusen zu öffnen und alles andre Übel anzurichten, ist nur ein Schritt.« Das ist der rasche Ideengang im Geiste des Dedlockhauptes.

»Mylady, bitte um Verzeihung! Gestatten Sie mir nur noch einen Augenblick!« – Sie hatte ein leises Zeichen gegeben, daß sie sprechen wollte. – »Mr. Rouncewell, unsere Ansichten von Pflicht und unsere Ansichten von gesellschaftlicher Stellung, unsere Ansichten von Erziehung und unsere Ansichten von… Kurz, alle unsere Ansichten stehen in so entschiednem Gegensatz zueinander, daß eine Verlängerung dieser Unterhaltung Ihre Gefühle ebenso verletzen müßte wie die meinen. Dieses junge Mädchen wird mit Myladys Beachtung und Gunst beehrt. Wenn sie sich dieser Beachtung und Gunst zu entziehen wünscht oder es vorzieht, sich unter den Einfluß jemandes zu begeben, der infolge seiner eigentümlichen Ansichten – Sie werden mir den Ausdruck eigentümliche Ansichten gestatten, wenn ich auch gern zugestehe, daß ich keinerlei Rechtfertigung derselben zu fordern habe –, der sie infolge seiner eigentümlichen Ansichten dieser Beachtung und Gunst zu entziehen wünscht, so steht das dem Mädchen jeder Zeit frei. Wir sind Ihnen verbunden für die Offenheit, mit der Sie sich ausgesprochen haben. Sie wird an sich in keiner Weise die Stellung des jungen Mädchens hier beeinflussen. Zu etwas weiterem können wir uns nicht verstehen und bitten Sie – wenn Sie so gut sein wollen –, das Thema fallen zu lassen.«

Der Besuch schweigt einen Augenblick, um Mylady Gelegenheit zu geben, das Wort zu ergreifen, aber sie sagt nichts. Dann steht er auf und entgegnet:

»Sir Leicester und Lady Dedlock, erlauben Sie mir, Ihnen für das Gehör, das Sie mir geschenkt haben, zu danken und nur zu bemerken, daß ich meinem Sohn angelegentlichst raten werde, seiner Herzensneigung Herr zu werden. Gute Nacht!«

»Mr. Rouncewell«, sagt Sir Leicester mit dem ganzen Glanz eines vollendeten Gentlemans, »es ist spät, und die Wege sind finster. Ich hoffe, Ihre Zeit ist nicht so kostbar, daß Sie nicht Mylady und mir erlauben würden, Ihnen wenigstens für heute nacht ein gastliches Obdach in Chesney Wold anzubieten.«

»Ich hoffe es ebenfalls«, setzt Mylady hinzu.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, aber ich muß die ganze Nacht durchreisen, um pünktlich morgen früh einen ziemlich weit entlegnen Ort zur festgesetzten Stunde zu erreichen.«

Damit verabschiedet sich der Hüttenbesitzer. Sir Leicester klingelt, und Mylady erhebt sich, als er den Saal verlassen hat.

Als Mylady in ihr Boudoir kommt, setzt sie sich gedankenvoll an den Kamin und beobachtet, ohne auf die Schritte auf dem Geisterweg zu achten, Rosa, die in einem Nebenzimmer schreibt. Nach einer Weile ruft sie das Mädchen:

»Komm herein, Kind! Sag mir offen, bist du verliebt?«

»O Mylady!«

Mylady betrachtet das errötende Gesicht und die niedergeschlagnen Augen und sagt lächelnd:

»Wer ist es? Ist es Mrs. Rouncewells Enkel?«

»Ja, wenn Sie erlauben, Mylady. Aber ich weiß nicht, ob ich ihn – schon liebe.«

»Schon? Du närrisches kleines Ding! Weißt du, daß er dich – schon liebt?«

»Ich glaube, er hat mich ein wenig gern, Mylady.« Rosa bricht in Tränen aus.

Ist das Lady Dedlock, die jetzt neben der ländlichen Schönheit steht, ihr mit mütterlicher Hand das dunkle Haar zurückstreicht und sie mit Augen so voll nachdenklichen Interesses betrachtet? Ja, wahrhaftig, sie ist es.

»Hör mich an, mein Kind. Du bist jung und treu und hängst, wie ich glaube, an mir.«

»Unendlich, Mylady. Es gibt gewiß nichts in der Welt, was ich nicht tun würde, um zu beweisen, wie sehr.«

»Und ich glaube nicht, daß du mich jetzt schon zu verlassen wünschtest, Rosa, selbst nicht um eines Liebhabers willen.«

»Nein, Mylady, o nein!« Rosa blickt zum ersten Mal auf, ganz erschrocken bei diesem Gedanken.

»Vertraue auf mich, mein Kind! Hab keine Scheu vor mir. Ich wünsche dich glücklich zu sehen und will dich glücklich machen, wenn ich noch jemanden auf dieser Erde glücklich machen kann.«

Mit Tränen in den Augen kniet Rosa vor ihr nieder und küßt ihr die Hand. Mylady nimmt die Hand, mit der das Mädchen die ihre gefaßt hat, und legt sie, ins Feuer starrend, in nachdenklichem Spiel abwechselnd in die linke und rechte und läßt sie dann sinken. Da Rosa sie so vertieft sieht, entfernt sie sich leise. Myladys Augen blicken immer noch ins Feuer.

Was sieht sie dort? Eine Hand, die nicht mehr ist oder nie war, oder eine, deren Berührung wie mit Zauberkraft ihr Leben hätte anders machen können? Oder lauscht sie auf den Schall auf dem Geisterweg und grübelt, was für einem Schritt er am meisten gleicht. Dem eines Mannes? Einer Frau? Dem Trippeln eines kleinen Kindes, das immer näher kommt, näher und näher? Eine melancholische Stimmung beherrscht sie. Oder warum sonst brauchte eine so stolze Dame selbst die Türen zuzumachen und einsam am Kamin zu sitzen?

Volumnia ist am nächsten Morgen abgereist, und alle Vettern und Basen haben sich vor dem Essen verflüchtigt. Alle, ohne Ausnahme, sind erstaunt, bereits beim Frühstück Sir Leicester davon sprechen zu hören, wie sich die Grenzen verwischen, die Schleusen öffnen und die Grundfesten der Gesellschaft ins Wanken kommen, wie das Beispiel des Sohnes von Mrs. Rouncewell zeige. Alle, ohne Ausnahme, sind wirklich entrüstet und schreiben es der Schwäche William Buffys als Minister zu und fühlen sich ihres Rechtes auf das Vaterland – oder einer Pension oder sonst eines Privilegiums – durch Trug und Unrecht beraubt.

Was Volumnia betrifft, geleitet Sir Leicester sie die große Treppe hinab und spricht dabei so beredt über das Thema, als wäre im Norden Englands ein allgemeiner Aufstand ausgebrochen, um ihr den Schminktopf und das Perlenhalsband zu entreißen. Und dann zerstreuen sich die Vettern und Basen unter einem großen Hin- und Herrennen von Zofen und Kammerdienern – denn es ist eine charakteristische Eigenschaft ihrer Vetter- und Basenschaft, stets Zofen und Kammerdiener halten zu müssen, so schwer ihnen auch der eigne Unterhalt werden mag – nach allen vier Himmelsrichtungen, und der Winterwind fegt einen Blätterschauer von den Bäumen an dem verlassnen Hause vorbei, als ob sich sämtliche Vettern und Basen in dürres Laub verwandelt hätten.

29. Kapitel


29. Kapitel

Der junge Mann

Chesney Wold ist zugeschlossen. Teppiche stehen zusammengerollt in den Ecken der ungemütlich aussehenden Zimmer, und der Damast tut Buße in Leinwandüberzügen. Holzschnitzerei und Vergoldung ergeben sich der Abtötung des Fleisches, und die Ahnen der Dedlocks ziehen sich wieder aus dem Tageslicht zurück. Dicht fallen die Blätter rings ums Haus. Dicht und langsam schweben sie mit einer toten melancholischen Leichtigkeit in Kreisen nieder. Der Gärtner mag die Rasenplätze noch so rein fegen und die Blätter in volle Schiebkarren drücken und wegfahren, immer noch liegt das Laub knöcheltief. Der schrille Wind heult um Chesney Wold. Der Regen schlägt scharf ans Haus, die Fenster rasseln, und es saust in den Schornsteinen. Nebel verstecken die Alleen, verschleiern die Aussicht und bewegen sich wie Leichenzüge über die Anhöhen im Park. Im ganzen Hause herrscht ein kalter nichtssagender Geruch, wie der Geruch in der kleinen Kirche, nur etwas trockener. Er erweckt die Vermutung, daß die toten und begrabenen Dedlocks in den langen Nächten hier umherwandern und den Hauch ihrer Gräber zurücklassen.

Aber das Haus in der Stadt, das meist andern Sinnes ist als Chesney Wold und sich freut, wenn jenes trauert – außer wenn ein Dedlock stirbt –, und trauert, wenn jenes sich freut, das Haus in der Stadt ist wieder zum Leben erwacht. So warm und hell, wie Prunk es sein kann, so süß durchzogen von angenehmen Gerüchen, die so wenig an den Winter erinnern, wie Treibhausblumen es nur vermögen. Still und ruhig, daß nur das Ticken der Uhren und das Prasseln des Feuers das allgemeine Schweigen stören, scheint es die fröstelnden Beine Sir Leicesters in regenbogenfarbene Watte zu wickeln.

Und Sir Leicester ist froh, in würdevoller Befriedigung vor dem großen Kamin in der Bibliothek zu ruhen, herablassend die Rücken seiner Bücher zu lesen oder den Kindern der schönen Künste einen billigenden Blick zuzuwerfen. Er besitzt Gemälde, alte und neue. Einige von der Kostümballschule, in der sich die Kunst gelegentlich herabläßt, ein Meister zu werden, und die sich am besten in Kataloge, wie Auktionsartikel, einteilen lassen. Etwa so: Drei Stühle mit hohen Lehnen, ein Tisch mit Decke, langhalsige Flaschen mit Wem, ein Krug, ein spanisches Frauenkleid, Dreiviertelporträt von Miß Jogg, eine Rüstung, Don Quixote enthaltend. Oder: eine steinerne Terrasse (zersprungen), eine Gondel in der Ferne, ein vollständiger Ornat eines venezianischen Senators, ein reichgestickter weißer Atlasanzug mit dem Profil Miß Joggs, ein Scimetar, reich mit Gold und Juwelen ausgelegt, ein kompletter maurischer Anzug (sehr selten) und Othello.

Mr. Tulkinghorn kommt und geht ziemlich häufig, denn es sind Gutsgeschäfte abzuschließen, Pachtverträge zu erneuern und anderes mehr. Er sieht auch Mylady ziemlich oft. Und er und sie sind so ruhig und gleichgültig und geben so wenig acht aufeinander wie je. Aber es könnte doch sein, daß Mylady diesen Mr. Tulkinghorn fürchtet und daß er es weiß. Es könnte möglich sein, daß er sie mit zäher Beharrlichkeit verfolgt, ohne einen Funken von Mitleid, Gewissensbissen oder Erbarmen. Es könnte sein, daß ihm ihre Schönheit und all die Pracht und der Staat ihrer Umgebung nur noch ein größerer Ansporn sind zu dem, was er vorhat, und ihn nur noch unbeugsamer und beharrlicher machen. Mag er nun kalt oder grausam sein oder unerschütterlich in dem, was er zu seiner Pflicht gemacht hat, oder verzehrt von Liebe zur Macht, oder entschlossen, nichts in den Gebieten verborgen sein zu lassen, in denen er sein ganzes Leben lang unter Geheimnissen gewühlt hat, oder mag er in seinem Herzen den Glanz verachten, von dem er selbst einen Strahl im Hintergrunde bildet; oder mag er beständig Vernachlässigung und Kränkung aus der Leutseligkeit seiner prunkvollen Klienten herauslesen und sie heimlich sammeln; mag er eins von diesen oder alles sein, jedenfalls wäre es für Mylady besser, wenn fünftausend Paar fashionable Augen mit argwöhnischer Wachsamkeit sie belauerten, als die beiden Augen dieses rostigen Advokaten mit dem dürftigen Halstuch und den mit Bändern zugebundenen glanzlosen schwarzen Kniehosen.

Sir Leicester sitzt in Myladys Zimmer, in demselben Zimmer, wo Mr. Tulkinghorn das Affidavit in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce gelesen hat, in ganz besonders selbstzufriedner Stimmung. Wie damals sitzt Mylady wieder vor dem Kamin mit ihrem Handschirm. Sir Leicester ist ganz besonders gut aufgelegt, weil er in seiner Zeitung einige Bemerkungen eines Gleichgesinnten über Dämmeeinreißen und sozialistisches Lattenwerk gelesen hat. Sie passen so vortrefflich auf den kürzlich erlebten Fall, daß Sir Leicester aus der Bibliothek eigens zu dem Zweck in Myladys Zimmer gekommen ist, um sie ihr vorzulesen.

»Der Mann, der diese Artikel schrieb«, bemerkt er als Vorrede und nickt das Feuer an, als nicke er dem Autor von Bergeshöhen herab zu, »hat einen sehr gesunden Menschenverstand.«

Der Menschenverstand des Verfassers ist aber nicht so gesund, um nicht Mylady zu langweilen, die nach einem matten Versuch, zuzuhören, oder vielmehr nach einem matten Sichfügen mit dem Anschein, als höre sie zu, sich ganz zerstreut in die Betrachtung des Feuers versenkt, als wäre es ihr Feuer in Chesney Wold und sie sei noch dort.

Ohne das zu merken, liest ihr Sir Leicester weiter durch sein zusammengelegtes Augenglas vor und hält gelegentlich inne, um es wegzunehmen und seine Beistimmung auszudrücken: »Wahrhaftig wahr, sehr gut gesagt, ich habe selbst oft diese Bemerkung gemacht.« Und jedes Mal verliert er die Stelle und muß die Spalten auf- und absuchen, um sie wieder zu finden.

Sir Leicester liest gerade wieder, unendlich ernst und würdevoll, als die Tür aufgeht und der gepuderte Merkur die seltsame Meldung macht:

»Der junge Mann, Mylady, namens Guppy.«

Sir Leicester hält inne, reißt die Augen auf und wiederholt mit verweisender Stimme:

»Der junge Mann namens Guppy?«

Sich umsehend, erblickt er den jungen Mann namens Guppy, der, ganz außer Fassung, durch sein Benehmen sowohl wie durch seine Erscheinung einen keineswegs empfehlenswerten Eindruck macht.

»Bitte, was soll das heißen«, sagt Sir Leicester zu dem Merkur, »daß Sie ohne alle Umstände einen jungen Mann namens Guppy anmelden?«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir Leicester, aber Mylady sagte, sie wolle den jungen Mann sprechen; sowie er käme. Ich wußte nicht, daß Sie im Zimmer sind, Sir Leicester.«

Mit dieser Entschuldigung wirft der Merkur einen zornigen und ärgerlichen Blick auf den jungen Mann namens Guppy, der offenbar besagt: Was kommst du hierher und bringst mich in Ungelegenheiten.

»Es ist schon richtig, ich habe es ihm befohlen«, bestätigt Mylady. »Der junge Mann soll warten.«

»Durchaus nicht, Mylady. Da Sie ihn bestellt haben, will ich nicht stören.«

Sir Leicester entfernt sich galant und möchte am liebsten beim Hinausgehen eine Verbeugung des jungen Mannes übersehen, den er in seiner Großartigkeit für irgend einen zudringlichen Schuster hält.

Lady Dedlock blickt gebieterisch ihren Besuch an, als der Bediente das Zimmer verlassen hat, und mustert ihn von Kopf bis Fuß. Sie läßt ihn an der Tür stehen und fragt, was er wünsche.

»Daß Euer Gnaden die Gewogenheit haben mögen, mir eine kurze Unterredung zu gewähren«, antwortet Mr. Guppy verlegen.

»Sie sind natürlich die Person, die mir so viele Briefe geschrieben hat?«

»Verschiedne, Euer Gnaden. Verschiedne, ehe Euer Gnaden mich mit einer Antwort zu beehren geruhten.«

»Und können Sie jetzt nicht wieder dasselbe Mittel wählen, um eine Unterredung unnötig zu machen? Können Sie sich nicht darauf beschränken?«

Mr. Guppy verzieht seine Lippen zu einem stummen Nein und schüttelt den Kopf.

»Sie sind merkwürdig zudringlich gewesen. Wenn es sich nach allem zeigen sollte, daß das, was Sie mir zu sagen haben, mich gar nichts angeht – und ich wüßte auch nicht, wie es mich etwas angehen sollte –, so werden Sie schon gestatten, daß ich die Unterredung ohne weitere Umstände abbreche. Sagen Sie also, was Sie zu sagen haben.«

Mylady bewegt gleichgültig ihren Handschirm, kehrt sich wieder dem Feuer zu und dreht dem jungen Mann namens Guppy beinahe den Rücken.

»So will ich denn mit Euer Gnaden Erlaubnis gleich mit dem Geschäft beginnen«, sagt der junge Mann. »Ehem! Ich bin, wie ich Euer Gnaden in meinem ersten Briefe mitteilte, von der Rechtsbranche. In dieser Eigenschaft habe ich die Gewohnheit angenommen, mich schriftlich nicht bloßzustellen, und erwähnte daher nicht gegen Euer Gnaden den Namen der Firma, bei der ich angestellt bin und bei der meine Position, und ich möchte auch hinzufügen, mein Einkommen, ziemlich gut ist. Ich kann jetzt Euer Gnaden im Vertrauen mitteilen, daß die Firma Kenge & Carboy, Lincoln’s-Inn, lautet. Ein Name, der Euer Gnaden vielleicht in Verbindung mit dem Kanzleigerichtsprozeß Jarndyce kontra Jarndyce nicht ganz unbekannt ist.«

In Myladys Haltung verraten sich Spuren von Aufmerksamkeit. Sie bewegt nicht mehr den Handschirm und scheint sogar zuzuhören.

»Nun kann ich Euer Gnaden wohl auch offen heraussagen«, fährt Mr. Guppy, ein wenig kühner werdend, fort, »daß es keine mit ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ in Verbindung stehende Angelegenheit ist, die mich so sehr wünschen ließ, mit Euer Gnaden zu sprechen und mich im Lichte der Zudringlichkeit, fast der Flegelhaftigkeit, erscheinen ließ und teilweise noch erscheinen läßt.«

Nachdem Mr. Guppy einen Augenblick vergeblich gewartet hat, um eine Versicherung des Gegenteils zu vernehmen, fährt er fort:

»Hätte es sich um ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ gehandelt, so wäre ich gleich zu Euer Gnaden Solicitor, Mr. Tulkinghorn in Lincoln’s-Inn-Fields, gegangen. Ich habe das Vergnügen, mit Mr. Tulkinghorn bekannt zu sein – wenigstens grüßen wir uns, wenn wir einander begegnen –, und hätte es sich um etwas Derartiges gehandelt, wäre ich gleich zu ihm gegangen.«

Mylady wendet sich ein bißchen vom Kamin weg und sagt: »Setzen Sie sich doch nieder!«

»Danke, Euer Gnaden!« Mr. Guppy nimmt einen Stuhl.

»Also, Euer Gnaden«, – Mr. Guppy wirft einen Blick auf einen kleinen Zettel, auf den er sich offenbar vorher Notizen gemacht hat und der ihn in die tiefste Finsternis zu stürzen scheint, so oft er ihn anblickt… »Also – ich – richtig, ja – gebe mich ganz in die Hand Euer Gnaden. Wenn Euer Gnaden sich bei Kenge & Carboy oder bei Mr. Tulkinghorn wegen meines heutigen Besuches beschweren sollten, käme ich in eine sehr unangenehme Lage. Ich sag’s, wie es ist. Ich verlasse mich also ganz auf die Ehrenhaftigkeit der Allergnädigsten.«

Mylady versichert ihm mit einer geringschätzigen Handbewegung, daß sie ihn einer Beschwerde nicht für wert halte.

»Ich danke Euer Gnaden«, sagt Mr. Guppy.

»Nun – also… Ich – verdammter Zettel – ich habe mir nämlich die einzelnen Punkte, die ich berühren wollte, hier in Abkürzungen aufgeschrieben und kann jetzt nicht recht herausbringen, was sie bedeuten. Wenn Euer Gnaden mir erlauben wollen, einen Augenblick ans Fenster zu treten, so…«

Mr. Guppy geht ans Fenster und stört dabei ein paar Inseparables in einem Käfig, zu denen er in seiner Verlegenheit stammelt: »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, was die Lesbarkeit seiner Notizen nicht gerade vergrößert. Er murmelt vor sich hin. Es wird ihm heiß. Er errötet, hält den Zettel manchmal dicht an die Augen und dann wieder weit weg von sich. »C. S. Was bedeutet C. S.? Ach ja, so: E. S. Weiß schon! Ja, natürlich!« Und er geht erleuchtet wieder zu seinem Sessel zurück.

»Ich weiß nicht«, sagt er und bleibt zwischen Mylady und seinem Stuhl stehen, »ob Euer Gnaden vielleicht jemals von einer jungen Dame namens Miß Summerson gehört oder sie vielleicht schon gesehen haben.«

Myladys Augen blicken ihn plötzlich fest an:

»Ich sah eine junge Dame dieses Namens vor nicht langer Zeit. Vergangnen Herbst.«

»Nun, und fiel es Euer Gnaden nicht auf, daß sie jemandem ähnlich sieht?« fragt Mr. Guppy, verschränkt die Arme, neigt den Kopf auf die Seite und kratzt sich mit seinem Notizzettel am Mundwinkel.

Mylady wendet keinen Blick mehr von ihm.

»Nein.«

»Nicht Euer Gnaden Familie ähnlich?«

»Nein.«

»Ich glaube, Euer Gnaden werden sich schwerlich an Miß Summersons Gesicht erinnern können.«

»Ich erinnere mich der jungen Dame sehr gut. Aber was hat das mit mir zu tun?«

»Euer Gnaden, ich versichere, daß ich – ich erwähne im tiefsten Vertrauen, daß Miß Summersons Bild in meinem Herzen eingeprägt ist –, als ich während eines kurzen Ausflugs nach Lincolnshire mit einem Freunde nach Chesney Wold kam und die Ehre hatte, Euer Gnaden Landsitz zu besichtigen, eine solche Ähnlichkeit zwischen Miß Esther Summerson und dem Porträt Euer Gnaden fand, daß es mich ordentlich umwarf. Ich habe mir seit jener Zeit oft die Freiheit genommen, Euer Gnaden bei der Ausfahrt in den Park anzusehen, ohne daß es Euer Gnaden wahrscheinlich bemerkt haben, aber jetzt, wo ich die Ehre habe, die Allergnädigste in der Nähe zu sehen, ist die Ähnlichkeit noch überraschender als damals.«

Junger Mann namens Guppy! Es hat Zeiten gegeben, wo Damen in festen Burgen lebten und erbarmungslosen Dienern gebieten konnten, wo dein armseliges Leben, wenn dich schöne Augen so angesehen hätten, wie dich jetzt diese ansehen, keine Minute mehr sicher gewesen wäre!

Mylady, die ihren kleinen Handschirm langsam wie einen Fächer gebraucht, fragt abermals, was das denn sie anginge.

»Euer Gnaden«, entgegnet Mr. Guppy und wirft wieder einen Blick auf seinen Zettel, »ich komme sogleich darauf – verdammt, diese Notizen –, richtig, ja, Mrs. Chadband! Ja, richtig!« Mr. Guppy zieht seinen Stuhl ein wenig weiter vor und setzt sich. Mylady lehnt sich ruhig zurück, wenn auch vielleicht mit ein bißchen weniger graziöser Unbefangenheit als gewöhnlich, aber ihr fester Blick wird niemals unsicher. »Ah, wart ein bissel.« Mr. Guppy zieht wieder den Zettel zu Rate. »E. S. Zwei Mal? Ja, richtig! Jetzt weiß ich schon.«

Er rollt den Zettel zusammen, um ihn als Instrument, seiner Rede Nachdruck zu verleihen, zu benützen, und fährt fort:

»Euer Gnaden, Miß Esther Summersons Geburt und Erziehung sind in Dunkel gehüllt. Ich kenne diese Tatsache, weil – ich erwähne es im Vertrauen – weil sie mir auf geschäftlichem Wege bei Kenge & Carboy zur Kenntnis kam. Es ist nun, wie ich Euer Gnaden bereits bemerkt habe, Miß Summersons Bild tief in meinem Herzen eingegraben. Wenn ich dieses Geheimnis für sie aufklären oder nachweisen könnte, daß sie von guter Familie ist, oder fände, daß sie als Verwandte von Euer Gnaden Familie einen Anspruch auf den Prozeß Jarndyce kontra Jarndyce hätte, so könnte ich sie in gewisser Hinsicht vielleicht bewegen, meine Anträge günstiger, als sie es bisher eigentlich getan hat, aufzunehmen. Genau genommen hat sie sie eigentlich bisher überhaupt nicht begünstigt.«

Eine Art zürnenden Lächelns dämmert über Myladys Gesicht.

»Nun ist es ein seltsames Zusammentreffen, Euer Gnaden, obgleich solche Sachen bei uns von der Rechtsbranche zuweilen vorkommen, zu der ich mich rechnen darf – denn, wenn ich auch noch nicht inskribiert bin, so wollen mir doch Kenge & Carboy meinen Lehrbrief schenken, da meine Mutter von ihrem kleinen Kapital die beträchtlichen Stempelkosten erlegt hat –, nun ist es ein seltsamer Zufall, daß ich mit der Person zusammenkam, die bei der Dame diente, die Miß Summerson erzog, ehe Mr. Jarndyce sie unter seine Obhut nahm. Diese Dame war eine gewisse Miß Barbary, Euer Gnaden.«

Hat die Totenfarbe in Myladys Gesicht ihren Grund in dem Widerschein des grünseidnen Handschirms, oder überzieht wirklich eine schreckliche Blässe ihr Gesicht?

»Haben Euer Gnaden jemals von einer gewissen Miß Barbary gehört?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, ja.«

»War Miß Barbary irgendwie mit der Familie Euer Gnaden verwandt?«

Myladys Lippen bewegen sich, sprechen aber nicht. Sie schüttelt den Kopf.

»Nicht verwandt?« fragt Mr. Guppy. »O! Vielleicht wissen es Euer Gnaden nur nicht? So! Aber es könnte doch der Fall sein? Ja.«

Bei jeder dieser Fragen hat Mylady das Haupt geneigt.

»Sehr gut. Nun war diese Miß Barbary merkwürdig verschlossen – sie scheint für eine Frauensperson außergewöhnlich verschwiegen gewesen zu sein, denn Frauen im allgemeinen, wenigstens im bürgerlichen Leben, sprechen gern –, und meine Zeugin hatte nie eine Ahnung, ob sie auch nur eine einzige Verwandte besitze. Bei einer gewissen Gelegenheit und nur ein Mal scheint sie sich zu meiner Zeugin über einen einzigen Punkt vertraulich geäußert zu haben. Sie sagte damals: Des kleinen Mädchens wahrer Name ist nicht Esther Summerson, sondern Esther Hawdon.«

»Mein Gott!«

Mr. Guppy reißt die Augen auf. Lady Dedlock sitzt vor ihm, sieht ihn mit durchbohrendem Blick an, mit demselben grünen Schatten auf ihrem Gesicht, erstarrt selbst die Hand, die den Schirm hält, die Lippen ein wenig geöffnet, die Stirn ein wenig gerunzelt, sieht sie aus wie scheintot.

Er sieht ihr Bewußtsein zurückkehren, ein Zittern über ihre Gestalt laufen, wie ein Kräuseln über eine Wasserfläche, sieht ihre Lippen zuhalten und sich gewaltsam wieder zusammenpressen und sieht, wie sie sich zum Bewußtsein seiner Gegenwart und alles dessen, was er gesagt hat, zurückzwingt. Alles dieses geschieht so rasch, daß ihr Ausruf und ihr scheintoter Zustand verflogen zu sein scheinen, wie die Züge gewisser in Gräbern gefundener Leichen an der Luft, wie von einem Blitz getroffen, sich im Nu verändern.

»Euer Gnaden kennen den Namen Hawdon?«

»Ich habe ihn früher gehört.«

»Ist es der Name eines entfernten Zweigs der Familie Euer Gnaden ?«

»Nein.«

»Nun, Euer Gnaden«, fährt Mr. Guppy fort, »komme ich zu dem letzten Punkt dieser Angelegenheit, soweit ich sie bis jetzt kenne. Sie ist noch in ihrer Entwicklung begriffen, und ich werde mehr und mehr von ihr erfahren, je weiter sie sich entwickelt. Gnädigste müssen wissen – wenn es nicht Euer Gnaden vielleicht schon durch Zufall erfahren haben –, daß man vor einiger Zeit in dem Hause eines gewissen Krook in der Nähe von Chancery-Lane einen Schreiber in den ärmlichsten Umständen tot auffand. Wegen dieses Schreibers tagte eine Totenschau, und dieser Mann war eine anonyme Person, deren Namen niemand wußte. Ich habe nun, Euer Gnaden, vor ganz kurzer Zeit entdeckt, daß der Name des Verstorbenen Hawdon war.«

»Aber was geht das mich an?«

»Ja, Euer Gnaden, das ist es eben! Gnädigste müssen wissen, daß sich nach dem Tod dieses Mannes etwas sehr Sonderbares ereignete. Eine Dame tauchte auf, eine verkleidete Dame, Euer Gnaden, die sich die Orte ansah, wo Hawdon gelebt und wo er begraben liegt. Sie mietete als Führer einen Jungen, der einen Straßenübergang kehrt. Wenn ihn Euer Gnaden zum Beweis der Richtigkeit meiner Angaben zu sehen wünschen, so kann ich ihn jeder Zeit stellig machen.«

Der arme Junge ist Mylady ganz gleichgültig, und sie wünscht nicht, ihn zu sehen.

»O, ich versichere Euer Gnaden, es ist das eine sehr seltsame Geschichte. Wenn Sie ihn erzählen hören könnten von den Ringen, die an den Fingern der Dame funkelten, als sie den Handschuh auszog, würde es Ihnen ganz romantisch vorkommen.«

Es funkeln Diamanten an der Hand, die den Schirm hält. Mylady spielt mit dem Schirm und läßt sie noch mehr funkeln, wieder mit dem Ausdruck im Gesicht, der in alten Zeiten für den jungen Mann namens Guppy hätte den Tod bedeuten können.

»Man glaubt, Euer Gnaden, er habe keinen Fetzen Papier und keinen einzigen Zettel hinterlassen, auf Grund dessen man ihn hätte möglicherweise identifizieren können. Ich meine Hawdon. Aber es war doch der Fall. Er hinterließ ein Bündel alter Briefe.«

Der Handschirm bewegt sich immer noch wie vorhin. Die ganze Zeit über wendet Mylady keinen Blick von Mr. Guppy.

»Es hat sie jemand an sich genommen und sie versteckt. Aber morgen abend werden sie in meinem Besitz sein.«

»Ich frage Sie abermals, was geht das alles mich an?«

»Euer Gnaden, ich habe weiter nichts zu sagen.« Mr. Guppy steht auf. »Wenn Sie glauben, daß in dieser geschlossenen Kette von Umständen, in der unzweifelhaft großen Ähnlichkeit der jungen Dame mit Euer Gnaden, was eine Tatsache in Augen von Geschworenen sein müßte, in dem Umstand, daß Miß Barbary sie erzogen hat – daß Miß Barbary angab, Miß Summersons wirklicher Name sei Hawdon –, daß Euer Gnaden die beiden Namen sehr gut kennen und daß Hawdon so gestorben ist, wie er starb, noch nicht genug Veranlassung für Euer Gnaden liegt, aus Familieninteresse die Angelegenheit genauer zu prüfen, so will ich die Papiere hierher bringen. Ich weiß weiter nichts von ihnen, als daß es alte Briefe sind. Ich habe sie noch nie in Händen gehabt. Ich will diese Papiere herbringen, sowie sie in meinen Besitz kommen, und sie mit Euer Gnaden zum ersten Mal durchgehen. Ich habe Euer Gnaden den Zweck meines Hierseins mitgeteilt. Ich habe Euer Gnaden gesagt, daß ich in eine sehr unangenehme Lage kommen würde, wenn man sich über mich beschwerte, und alles in tiefstem Vertrauen berichtet.«

Ist das der ganze Zweck des jungen Mannes namens Guppy, oder hat er noch einen andern?

Enthüllen seine Worte den ganzen Umfang des Zweckes oder Verdachtes, die ihn hierher geführt haben, oder verbergen sie noch etwas? Das zu erraten, ist Sache Myladys. Sie kann ihn ansehen, aber er kann den Tisch anblicken, ohne in seinem Gesicht etwas zu verraten.

»Sie können die Briefe bringen«, sagt Mylady, »wenn Sie wollen.«

»Euer Gnaden drücken sich nicht sehr ermutigend aus, mein Ehrenwort!« sagt Mr. Guppy ein wenig verletzt. »Aber es soll geschehen. Ich wünsche Euer Gnaden guten Tag.«

Auf einem Tisch in der Nähe steht ein reichverziertes Kästchen, beschlagen und verriegelt wie eine alte Geldkassette. Ohne den Blick von Mr. Guppy zu wenden, nimmt es Lady Dedlock und schließt es auf.

»O, ich versichere Euer Gnaden, Motive dieser Art haben mich durchaus nicht bestimmt«, wehrt Mr. Guppy ab. »Und ich könnte nicht das mindeste dieser Art annehmen. Ich empfehle mich Euer Gnaden und bin Ihnen auch trotzdem sehr verpflichtet.«

Der junge Mann verbeugt sich und geht die Treppe hinab, wo sich der Merkur mit dem geringschätzigen Blick nicht im geringsten berufen fühlt, seinen Olymp am Kaminfeuer in der Vorhalle zu verlassen, um dem Besuch die Tür zu öffnen.

Geht nicht etwas, während Sir Leicester sich in seiner Bibliothek dehnt und über seiner Zeitung dröselt, durch das Haus, das ihn aufschreckt? Etwas, das selbst die Bäume in Chesney Wold veranlassen könnte, ihre knorrigen Arme gen Himmel zu strecken, ja, selbst die Ahnenbilder zürnen und die Rüstungen rasseln machen könnte?

Nein. Worte, Seufzer und Wehgeschrei sind nur Luft. Und Luft ist im ganzen Stadthaus so ein- und ausgeschlossen, daß Mylady in ihrem Zimmer mit Posaunenzungen rufen müßte, ehe ein schwacher Widerhall davon zu Sir Leicesters Ohren dränge. Und dennoch vibriert ein Jammerruf im Hause, den eine verzweifelte Gestalt auf ihren Knien zum Himmel sendet.

»O mein Kind, mein Kind! Also nicht gestorben in der ersten Stunde seines Lebens, wie meine grausame Schwester mir sagte, sondern in finsterer Strenge von ihr auferzogen, nachdem sie mich und meinen Namen von sich gestoßen! O mein Kind, o mein Kind!«