29. Kapitel


29. Kapitel

Der junge Mann

Chesney Wold ist zugeschlossen. Teppiche stehen zusammengerollt in den Ecken der ungemütlich aussehenden Zimmer, und der Damast tut Buße in Leinwandüberzügen. Holzschnitzerei und Vergoldung ergeben sich der Abtötung des Fleisches, und die Ahnen der Dedlocks ziehen sich wieder aus dem Tageslicht zurück. Dicht fallen die Blätter rings ums Haus. Dicht und langsam schweben sie mit einer toten melancholischen Leichtigkeit in Kreisen nieder. Der Gärtner mag die Rasenplätze noch so rein fegen und die Blätter in volle Schiebkarren drücken und wegfahren, immer noch liegt das Laub knöcheltief. Der schrille Wind heult um Chesney Wold. Der Regen schlägt scharf ans Haus, die Fenster rasseln, und es saust in den Schornsteinen. Nebel verstecken die Alleen, verschleiern die Aussicht und bewegen sich wie Leichenzüge über die Anhöhen im Park. Im ganzen Hause herrscht ein kalter nichtssagender Geruch, wie der Geruch in der kleinen Kirche, nur etwas trockener. Er erweckt die Vermutung, daß die toten und begrabenen Dedlocks in den langen Nächten hier umherwandern und den Hauch ihrer Gräber zurücklassen.

Aber das Haus in der Stadt, das meist andern Sinnes ist als Chesney Wold und sich freut, wenn jenes trauert – außer wenn ein Dedlock stirbt –, und trauert, wenn jenes sich freut, das Haus in der Stadt ist wieder zum Leben erwacht. So warm und hell, wie Prunk es sein kann, so süß durchzogen von angenehmen Gerüchen, die so wenig an den Winter erinnern, wie Treibhausblumen es nur vermögen. Still und ruhig, daß nur das Ticken der Uhren und das Prasseln des Feuers das allgemeine Schweigen stören, scheint es die fröstelnden Beine Sir Leicesters in regenbogenfarbene Watte zu wickeln.

Und Sir Leicester ist froh, in würdevoller Befriedigung vor dem großen Kamin in der Bibliothek zu ruhen, herablassend die Rücken seiner Bücher zu lesen oder den Kindern der schönen Künste einen billigenden Blick zuzuwerfen. Er besitzt Gemälde, alte und neue. Einige von der Kostümballschule, in der sich die Kunst gelegentlich herabläßt, ein Meister zu werden, und die sich am besten in Kataloge, wie Auktionsartikel, einteilen lassen. Etwa so: Drei Stühle mit hohen Lehnen, ein Tisch mit Decke, langhalsige Flaschen mit Wem, ein Krug, ein spanisches Frauenkleid, Dreiviertelporträt von Miß Jogg, eine Rüstung, Don Quixote enthaltend. Oder: eine steinerne Terrasse (zersprungen), eine Gondel in der Ferne, ein vollständiger Ornat eines venezianischen Senators, ein reichgestickter weißer Atlasanzug mit dem Profil Miß Joggs, ein Scimetar, reich mit Gold und Juwelen ausgelegt, ein kompletter maurischer Anzug (sehr selten) und Othello.

Mr. Tulkinghorn kommt und geht ziemlich häufig, denn es sind Gutsgeschäfte abzuschließen, Pachtverträge zu erneuern und anderes mehr. Er sieht auch Mylady ziemlich oft. Und er und sie sind so ruhig und gleichgültig und geben so wenig acht aufeinander wie je. Aber es könnte doch sein, daß Mylady diesen Mr. Tulkinghorn fürchtet und daß er es weiß. Es könnte möglich sein, daß er sie mit zäher Beharrlichkeit verfolgt, ohne einen Funken von Mitleid, Gewissensbissen oder Erbarmen. Es könnte sein, daß ihm ihre Schönheit und all die Pracht und der Staat ihrer Umgebung nur noch ein größerer Ansporn sind zu dem, was er vorhat, und ihn nur noch unbeugsamer und beharrlicher machen. Mag er nun kalt oder grausam sein oder unerschütterlich in dem, was er zu seiner Pflicht gemacht hat, oder verzehrt von Liebe zur Macht, oder entschlossen, nichts in den Gebieten verborgen sein zu lassen, in denen er sein ganzes Leben lang unter Geheimnissen gewühlt hat, oder mag er in seinem Herzen den Glanz verachten, von dem er selbst einen Strahl im Hintergrunde bildet; oder mag er beständig Vernachlässigung und Kränkung aus der Leutseligkeit seiner prunkvollen Klienten herauslesen und sie heimlich sammeln; mag er eins von diesen oder alles sein, jedenfalls wäre es für Mylady besser, wenn fünftausend Paar fashionable Augen mit argwöhnischer Wachsamkeit sie belauerten, als die beiden Augen dieses rostigen Advokaten mit dem dürftigen Halstuch und den mit Bändern zugebundenen glanzlosen schwarzen Kniehosen.

Sir Leicester sitzt in Myladys Zimmer, in demselben Zimmer, wo Mr. Tulkinghorn das Affidavit in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce gelesen hat, in ganz besonders selbstzufriedner Stimmung. Wie damals sitzt Mylady wieder vor dem Kamin mit ihrem Handschirm. Sir Leicester ist ganz besonders gut aufgelegt, weil er in seiner Zeitung einige Bemerkungen eines Gleichgesinnten über Dämmeeinreißen und sozialistisches Lattenwerk gelesen hat. Sie passen so vortrefflich auf den kürzlich erlebten Fall, daß Sir Leicester aus der Bibliothek eigens zu dem Zweck in Myladys Zimmer gekommen ist, um sie ihr vorzulesen.

»Der Mann, der diese Artikel schrieb«, bemerkt er als Vorrede und nickt das Feuer an, als nicke er dem Autor von Bergeshöhen herab zu, »hat einen sehr gesunden Menschenverstand.«

Der Menschenverstand des Verfassers ist aber nicht so gesund, um nicht Mylady zu langweilen, die nach einem matten Versuch, zuzuhören, oder vielmehr nach einem matten Sichfügen mit dem Anschein, als höre sie zu, sich ganz zerstreut in die Betrachtung des Feuers versenkt, als wäre es ihr Feuer in Chesney Wold und sie sei noch dort.

Ohne das zu merken, liest ihr Sir Leicester weiter durch sein zusammengelegtes Augenglas vor und hält gelegentlich inne, um es wegzunehmen und seine Beistimmung auszudrücken: »Wahrhaftig wahr, sehr gut gesagt, ich habe selbst oft diese Bemerkung gemacht.« Und jedes Mal verliert er die Stelle und muß die Spalten auf- und absuchen, um sie wieder zu finden.

Sir Leicester liest gerade wieder, unendlich ernst und würdevoll, als die Tür aufgeht und der gepuderte Merkur die seltsame Meldung macht:

»Der junge Mann, Mylady, namens Guppy.«

Sir Leicester hält inne, reißt die Augen auf und wiederholt mit verweisender Stimme:

»Der junge Mann namens Guppy?«

Sich umsehend, erblickt er den jungen Mann namens Guppy, der, ganz außer Fassung, durch sein Benehmen sowohl wie durch seine Erscheinung einen keineswegs empfehlenswerten Eindruck macht.

»Bitte, was soll das heißen«, sagt Sir Leicester zu dem Merkur, »daß Sie ohne alle Umstände einen jungen Mann namens Guppy anmelden?«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir Leicester, aber Mylady sagte, sie wolle den jungen Mann sprechen; sowie er käme. Ich wußte nicht, daß Sie im Zimmer sind, Sir Leicester.«

Mit dieser Entschuldigung wirft der Merkur einen zornigen und ärgerlichen Blick auf den jungen Mann namens Guppy, der offenbar besagt: Was kommst du hierher und bringst mich in Ungelegenheiten.

»Es ist schon richtig, ich habe es ihm befohlen«, bestätigt Mylady. »Der junge Mann soll warten.«

»Durchaus nicht, Mylady. Da Sie ihn bestellt haben, will ich nicht stören.«

Sir Leicester entfernt sich galant und möchte am liebsten beim Hinausgehen eine Verbeugung des jungen Mannes übersehen, den er in seiner Großartigkeit für irgend einen zudringlichen Schuster hält.

Lady Dedlock blickt gebieterisch ihren Besuch an, als der Bediente das Zimmer verlassen hat, und mustert ihn von Kopf bis Fuß. Sie läßt ihn an der Tür stehen und fragt, was er wünsche.

»Daß Euer Gnaden die Gewogenheit haben mögen, mir eine kurze Unterredung zu gewähren«, antwortet Mr. Guppy verlegen.

»Sie sind natürlich die Person, die mir so viele Briefe geschrieben hat?«

»Verschiedne, Euer Gnaden. Verschiedne, ehe Euer Gnaden mich mit einer Antwort zu beehren geruhten.«

»Und können Sie jetzt nicht wieder dasselbe Mittel wählen, um eine Unterredung unnötig zu machen? Können Sie sich nicht darauf beschränken?«

Mr. Guppy verzieht seine Lippen zu einem stummen Nein und schüttelt den Kopf.

»Sie sind merkwürdig zudringlich gewesen. Wenn es sich nach allem zeigen sollte, daß das, was Sie mir zu sagen haben, mich gar nichts angeht – und ich wüßte auch nicht, wie es mich etwas angehen sollte –, so werden Sie schon gestatten, daß ich die Unterredung ohne weitere Umstände abbreche. Sagen Sie also, was Sie zu sagen haben.«

Mylady bewegt gleichgültig ihren Handschirm, kehrt sich wieder dem Feuer zu und dreht dem jungen Mann namens Guppy beinahe den Rücken.

»So will ich denn mit Euer Gnaden Erlaubnis gleich mit dem Geschäft beginnen«, sagt der junge Mann. »Ehem! Ich bin, wie ich Euer Gnaden in meinem ersten Briefe mitteilte, von der Rechtsbranche. In dieser Eigenschaft habe ich die Gewohnheit angenommen, mich schriftlich nicht bloßzustellen, und erwähnte daher nicht gegen Euer Gnaden den Namen der Firma, bei der ich angestellt bin und bei der meine Position, und ich möchte auch hinzufügen, mein Einkommen, ziemlich gut ist. Ich kann jetzt Euer Gnaden im Vertrauen mitteilen, daß die Firma Kenge & Carboy, Lincoln’s-Inn, lautet. Ein Name, der Euer Gnaden vielleicht in Verbindung mit dem Kanzleigerichtsprozeß Jarndyce kontra Jarndyce nicht ganz unbekannt ist.«

In Myladys Haltung verraten sich Spuren von Aufmerksamkeit. Sie bewegt nicht mehr den Handschirm und scheint sogar zuzuhören.

»Nun kann ich Euer Gnaden wohl auch offen heraussagen«, fährt Mr. Guppy, ein wenig kühner werdend, fort, »daß es keine mit ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ in Verbindung stehende Angelegenheit ist, die mich so sehr wünschen ließ, mit Euer Gnaden zu sprechen und mich im Lichte der Zudringlichkeit, fast der Flegelhaftigkeit, erscheinen ließ und teilweise noch erscheinen läßt.«

Nachdem Mr. Guppy einen Augenblick vergeblich gewartet hat, um eine Versicherung des Gegenteils zu vernehmen, fährt er fort:

»Hätte es sich um ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ gehandelt, so wäre ich gleich zu Euer Gnaden Solicitor, Mr. Tulkinghorn in Lincoln’s-Inn-Fields, gegangen. Ich habe das Vergnügen, mit Mr. Tulkinghorn bekannt zu sein – wenigstens grüßen wir uns, wenn wir einander begegnen –, und hätte es sich um etwas Derartiges gehandelt, wäre ich gleich zu ihm gegangen.«

Mylady wendet sich ein bißchen vom Kamin weg und sagt: »Setzen Sie sich doch nieder!«

»Danke, Euer Gnaden!« Mr. Guppy nimmt einen Stuhl.

»Also, Euer Gnaden«, – Mr. Guppy wirft einen Blick auf einen kleinen Zettel, auf den er sich offenbar vorher Notizen gemacht hat und der ihn in die tiefste Finsternis zu stürzen scheint, so oft er ihn anblickt… »Also – ich – richtig, ja – gebe mich ganz in die Hand Euer Gnaden. Wenn Euer Gnaden sich bei Kenge & Carboy oder bei Mr. Tulkinghorn wegen meines heutigen Besuches beschweren sollten, käme ich in eine sehr unangenehme Lage. Ich sag’s, wie es ist. Ich verlasse mich also ganz auf die Ehrenhaftigkeit der Allergnädigsten.«

Mylady versichert ihm mit einer geringschätzigen Handbewegung, daß sie ihn einer Beschwerde nicht für wert halte.

»Ich danke Euer Gnaden«, sagt Mr. Guppy.

»Nun – also… Ich – verdammter Zettel – ich habe mir nämlich die einzelnen Punkte, die ich berühren wollte, hier in Abkürzungen aufgeschrieben und kann jetzt nicht recht herausbringen, was sie bedeuten. Wenn Euer Gnaden mir erlauben wollen, einen Augenblick ans Fenster zu treten, so…«

Mr. Guppy geht ans Fenster und stört dabei ein paar Inseparables in einem Käfig, zu denen er in seiner Verlegenheit stammelt: »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, was die Lesbarkeit seiner Notizen nicht gerade vergrößert. Er murmelt vor sich hin. Es wird ihm heiß. Er errötet, hält den Zettel manchmal dicht an die Augen und dann wieder weit weg von sich. »C. S. Was bedeutet C. S.? Ach ja, so: E. S. Weiß schon! Ja, natürlich!« Und er geht erleuchtet wieder zu seinem Sessel zurück.

»Ich weiß nicht«, sagt er und bleibt zwischen Mylady und seinem Stuhl stehen, »ob Euer Gnaden vielleicht jemals von einer jungen Dame namens Miß Summerson gehört oder sie vielleicht schon gesehen haben.«

Myladys Augen blicken ihn plötzlich fest an:

»Ich sah eine junge Dame dieses Namens vor nicht langer Zeit. Vergangnen Herbst.«

»Nun, und fiel es Euer Gnaden nicht auf, daß sie jemandem ähnlich sieht?« fragt Mr. Guppy, verschränkt die Arme, neigt den Kopf auf die Seite und kratzt sich mit seinem Notizzettel am Mundwinkel.

Mylady wendet keinen Blick mehr von ihm.

»Nein.«

»Nicht Euer Gnaden Familie ähnlich?«

»Nein.«

»Ich glaube, Euer Gnaden werden sich schwerlich an Miß Summersons Gesicht erinnern können.«

»Ich erinnere mich der jungen Dame sehr gut. Aber was hat das mit mir zu tun?«

»Euer Gnaden, ich versichere, daß ich – ich erwähne im tiefsten Vertrauen, daß Miß Summersons Bild in meinem Herzen eingeprägt ist –, als ich während eines kurzen Ausflugs nach Lincolnshire mit einem Freunde nach Chesney Wold kam und die Ehre hatte, Euer Gnaden Landsitz zu besichtigen, eine solche Ähnlichkeit zwischen Miß Esther Summerson und dem Porträt Euer Gnaden fand, daß es mich ordentlich umwarf. Ich habe mir seit jener Zeit oft die Freiheit genommen, Euer Gnaden bei der Ausfahrt in den Park anzusehen, ohne daß es Euer Gnaden wahrscheinlich bemerkt haben, aber jetzt, wo ich die Ehre habe, die Allergnädigste in der Nähe zu sehen, ist die Ähnlichkeit noch überraschender als damals.«

Junger Mann namens Guppy! Es hat Zeiten gegeben, wo Damen in festen Burgen lebten und erbarmungslosen Dienern gebieten konnten, wo dein armseliges Leben, wenn dich schöne Augen so angesehen hätten, wie dich jetzt diese ansehen, keine Minute mehr sicher gewesen wäre!

Mylady, die ihren kleinen Handschirm langsam wie einen Fächer gebraucht, fragt abermals, was das denn sie anginge.

»Euer Gnaden«, entgegnet Mr. Guppy und wirft wieder einen Blick auf seinen Zettel, »ich komme sogleich darauf – verdammt, diese Notizen –, richtig, ja, Mrs. Chadband! Ja, richtig!« Mr. Guppy zieht seinen Stuhl ein wenig weiter vor und setzt sich. Mylady lehnt sich ruhig zurück, wenn auch vielleicht mit ein bißchen weniger graziöser Unbefangenheit als gewöhnlich, aber ihr fester Blick wird niemals unsicher. »Ah, wart ein bissel.« Mr. Guppy zieht wieder den Zettel zu Rate. »E. S. Zwei Mal? Ja, richtig! Jetzt weiß ich schon.«

Er rollt den Zettel zusammen, um ihn als Instrument, seiner Rede Nachdruck zu verleihen, zu benützen, und fährt fort:

»Euer Gnaden, Miß Esther Summersons Geburt und Erziehung sind in Dunkel gehüllt. Ich kenne diese Tatsache, weil – ich erwähne es im Vertrauen – weil sie mir auf geschäftlichem Wege bei Kenge & Carboy zur Kenntnis kam. Es ist nun, wie ich Euer Gnaden bereits bemerkt habe, Miß Summersons Bild tief in meinem Herzen eingegraben. Wenn ich dieses Geheimnis für sie aufklären oder nachweisen könnte, daß sie von guter Familie ist, oder fände, daß sie als Verwandte von Euer Gnaden Familie einen Anspruch auf den Prozeß Jarndyce kontra Jarndyce hätte, so könnte ich sie in gewisser Hinsicht vielleicht bewegen, meine Anträge günstiger, als sie es bisher eigentlich getan hat, aufzunehmen. Genau genommen hat sie sie eigentlich bisher überhaupt nicht begünstigt.«

Eine Art zürnenden Lächelns dämmert über Myladys Gesicht.

»Nun ist es ein seltsames Zusammentreffen, Euer Gnaden, obgleich solche Sachen bei uns von der Rechtsbranche zuweilen vorkommen, zu der ich mich rechnen darf – denn, wenn ich auch noch nicht inskribiert bin, so wollen mir doch Kenge & Carboy meinen Lehrbrief schenken, da meine Mutter von ihrem kleinen Kapital die beträchtlichen Stempelkosten erlegt hat –, nun ist es ein seltsamer Zufall, daß ich mit der Person zusammenkam, die bei der Dame diente, die Miß Summerson erzog, ehe Mr. Jarndyce sie unter seine Obhut nahm. Diese Dame war eine gewisse Miß Barbary, Euer Gnaden.«

Hat die Totenfarbe in Myladys Gesicht ihren Grund in dem Widerschein des grünseidnen Handschirms, oder überzieht wirklich eine schreckliche Blässe ihr Gesicht?

»Haben Euer Gnaden jemals von einer gewissen Miß Barbary gehört?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, ja.«

»War Miß Barbary irgendwie mit der Familie Euer Gnaden verwandt?«

Myladys Lippen bewegen sich, sprechen aber nicht. Sie schüttelt den Kopf.

»Nicht verwandt?« fragt Mr. Guppy. »O! Vielleicht wissen es Euer Gnaden nur nicht? So! Aber es könnte doch der Fall sein? Ja.«

Bei jeder dieser Fragen hat Mylady das Haupt geneigt.

»Sehr gut. Nun war diese Miß Barbary merkwürdig verschlossen – sie scheint für eine Frauensperson außergewöhnlich verschwiegen gewesen zu sein, denn Frauen im allgemeinen, wenigstens im bürgerlichen Leben, sprechen gern –, und meine Zeugin hatte nie eine Ahnung, ob sie auch nur eine einzige Verwandte besitze. Bei einer gewissen Gelegenheit und nur ein Mal scheint sie sich zu meiner Zeugin über einen einzigen Punkt vertraulich geäußert zu haben. Sie sagte damals: Des kleinen Mädchens wahrer Name ist nicht Esther Summerson, sondern Esther Hawdon.«

»Mein Gott!«

Mr. Guppy reißt die Augen auf. Lady Dedlock sitzt vor ihm, sieht ihn mit durchbohrendem Blick an, mit demselben grünen Schatten auf ihrem Gesicht, erstarrt selbst die Hand, die den Schirm hält, die Lippen ein wenig geöffnet, die Stirn ein wenig gerunzelt, sieht sie aus wie scheintot.

Er sieht ihr Bewußtsein zurückkehren, ein Zittern über ihre Gestalt laufen, wie ein Kräuseln über eine Wasserfläche, sieht ihre Lippen zuhalten und sich gewaltsam wieder zusammenpressen und sieht, wie sie sich zum Bewußtsein seiner Gegenwart und alles dessen, was er gesagt hat, zurückzwingt. Alles dieses geschieht so rasch, daß ihr Ausruf und ihr scheintoter Zustand verflogen zu sein scheinen, wie die Züge gewisser in Gräbern gefundener Leichen an der Luft, wie von einem Blitz getroffen, sich im Nu verändern.

»Euer Gnaden kennen den Namen Hawdon?«

»Ich habe ihn früher gehört.«

»Ist es der Name eines entfernten Zweigs der Familie Euer Gnaden ?«

»Nein.«

»Nun, Euer Gnaden«, fährt Mr. Guppy fort, »komme ich zu dem letzten Punkt dieser Angelegenheit, soweit ich sie bis jetzt kenne. Sie ist noch in ihrer Entwicklung begriffen, und ich werde mehr und mehr von ihr erfahren, je weiter sie sich entwickelt. Gnädigste müssen wissen – wenn es nicht Euer Gnaden vielleicht schon durch Zufall erfahren haben –, daß man vor einiger Zeit in dem Hause eines gewissen Krook in der Nähe von Chancery-Lane einen Schreiber in den ärmlichsten Umständen tot auffand. Wegen dieses Schreibers tagte eine Totenschau, und dieser Mann war eine anonyme Person, deren Namen niemand wußte. Ich habe nun, Euer Gnaden, vor ganz kurzer Zeit entdeckt, daß der Name des Verstorbenen Hawdon war.«

»Aber was geht das mich an?«

»Ja, Euer Gnaden, das ist es eben! Gnädigste müssen wissen, daß sich nach dem Tod dieses Mannes etwas sehr Sonderbares ereignete. Eine Dame tauchte auf, eine verkleidete Dame, Euer Gnaden, die sich die Orte ansah, wo Hawdon gelebt und wo er begraben liegt. Sie mietete als Führer einen Jungen, der einen Straßenübergang kehrt. Wenn ihn Euer Gnaden zum Beweis der Richtigkeit meiner Angaben zu sehen wünschen, so kann ich ihn jeder Zeit stellig machen.«

Der arme Junge ist Mylady ganz gleichgültig, und sie wünscht nicht, ihn zu sehen.

»O, ich versichere Euer Gnaden, es ist das eine sehr seltsame Geschichte. Wenn Sie ihn erzählen hören könnten von den Ringen, die an den Fingern der Dame funkelten, als sie den Handschuh auszog, würde es Ihnen ganz romantisch vorkommen.«

Es funkeln Diamanten an der Hand, die den Schirm hält. Mylady spielt mit dem Schirm und läßt sie noch mehr funkeln, wieder mit dem Ausdruck im Gesicht, der in alten Zeiten für den jungen Mann namens Guppy hätte den Tod bedeuten können.

»Man glaubt, Euer Gnaden, er habe keinen Fetzen Papier und keinen einzigen Zettel hinterlassen, auf Grund dessen man ihn hätte möglicherweise identifizieren können. Ich meine Hawdon. Aber es war doch der Fall. Er hinterließ ein Bündel alter Briefe.«

Der Handschirm bewegt sich immer noch wie vorhin. Die ganze Zeit über wendet Mylady keinen Blick von Mr. Guppy.

»Es hat sie jemand an sich genommen und sie versteckt. Aber morgen abend werden sie in meinem Besitz sein.«

»Ich frage Sie abermals, was geht das alles mich an?«

»Euer Gnaden, ich habe weiter nichts zu sagen.« Mr. Guppy steht auf. »Wenn Sie glauben, daß in dieser geschlossenen Kette von Umständen, in der unzweifelhaft großen Ähnlichkeit der jungen Dame mit Euer Gnaden, was eine Tatsache in Augen von Geschworenen sein müßte, in dem Umstand, daß Miß Barbary sie erzogen hat – daß Miß Barbary angab, Miß Summersons wirklicher Name sei Hawdon –, daß Euer Gnaden die beiden Namen sehr gut kennen und daß Hawdon so gestorben ist, wie er starb, noch nicht genug Veranlassung für Euer Gnaden liegt, aus Familieninteresse die Angelegenheit genauer zu prüfen, so will ich die Papiere hierher bringen. Ich weiß weiter nichts von ihnen, als daß es alte Briefe sind. Ich habe sie noch nie in Händen gehabt. Ich will diese Papiere herbringen, sowie sie in meinen Besitz kommen, und sie mit Euer Gnaden zum ersten Mal durchgehen. Ich habe Euer Gnaden den Zweck meines Hierseins mitgeteilt. Ich habe Euer Gnaden gesagt, daß ich in eine sehr unangenehme Lage kommen würde, wenn man sich über mich beschwerte, und alles in tiefstem Vertrauen berichtet.«

Ist das der ganze Zweck des jungen Mannes namens Guppy, oder hat er noch einen andern?

Enthüllen seine Worte den ganzen Umfang des Zweckes oder Verdachtes, die ihn hierher geführt haben, oder verbergen sie noch etwas? Das zu erraten, ist Sache Myladys. Sie kann ihn ansehen, aber er kann den Tisch anblicken, ohne in seinem Gesicht etwas zu verraten.

»Sie können die Briefe bringen«, sagt Mylady, »wenn Sie wollen.«

»Euer Gnaden drücken sich nicht sehr ermutigend aus, mein Ehrenwort!« sagt Mr. Guppy ein wenig verletzt. »Aber es soll geschehen. Ich wünsche Euer Gnaden guten Tag.«

Auf einem Tisch in der Nähe steht ein reichverziertes Kästchen, beschlagen und verriegelt wie eine alte Geldkassette. Ohne den Blick von Mr. Guppy zu wenden, nimmt es Lady Dedlock und schließt es auf.

»O, ich versichere Euer Gnaden, Motive dieser Art haben mich durchaus nicht bestimmt«, wehrt Mr. Guppy ab. »Und ich könnte nicht das mindeste dieser Art annehmen. Ich empfehle mich Euer Gnaden und bin Ihnen auch trotzdem sehr verpflichtet.«

Der junge Mann verbeugt sich und geht die Treppe hinab, wo sich der Merkur mit dem geringschätzigen Blick nicht im geringsten berufen fühlt, seinen Olymp am Kaminfeuer in der Vorhalle zu verlassen, um dem Besuch die Tür zu öffnen.

Geht nicht etwas, während Sir Leicester sich in seiner Bibliothek dehnt und über seiner Zeitung dröselt, durch das Haus, das ihn aufschreckt? Etwas, das selbst die Bäume in Chesney Wold veranlassen könnte, ihre knorrigen Arme gen Himmel zu strecken, ja, selbst die Ahnenbilder zürnen und die Rüstungen rasseln machen könnte?

Nein. Worte, Seufzer und Wehgeschrei sind nur Luft. Und Luft ist im ganzen Stadthaus so ein- und ausgeschlossen, daß Mylady in ihrem Zimmer mit Posaunenzungen rufen müßte, ehe ein schwacher Widerhall davon zu Sir Leicesters Ohren dränge. Und dennoch vibriert ein Jammerruf im Hause, den eine verzweifelte Gestalt auf ihren Knien zum Himmel sendet.

»O mein Kind, mein Kind! Also nicht gestorben in der ersten Stunde seines Lebens, wie meine grausame Schwester mir sagte, sondern in finsterer Strenge von ihr auferzogen, nachdem sie mich und meinen Namen von sich gestoßen! O mein Kind, o mein Kind!«

3. Kapitel


3. Kapitel

Die Geschichte einer Jugend

Es wird mir sehr schwer, den Anfang zu finden, um meinen Teil der Geschichte niederzuschreiben, denn ich weiß, daß ich nicht besonders gescheit bin. Ich wußte das immer. Schon als ganz kleines Mädchen pflegte ich zu meiner Puppe zu sagen, wenn wir allein beisammen waren: Liebe Puppe, ich bin nicht klug, du weißt es selbst und mußt mit mir Geduld haben, Herzchen. Und dann saß sie in einen großen Armstuhl gelehnt mit dem rot und weißen Gesicht und den rosigen Lippen da und starrte mich an – oder vielmehr ins Leere –, während ich emsig nähte und ihr alle meine Geheimnisse erzählte.

Meine liebe alte Puppe!

Ich war als Kind so in mich gekehrt und scheu, daß ich selten den Mund auftat und niemandem mein Herz auszuschütten wagte. Ich muß fast weinen, wenn ich daran denke, welcher Trost es für mich war, wenn ich aus der Schule nach Hause kam, hinauf in mein Kämmerchen laufen und sagen konnte: »O du gute treue Puppe, ich wußte, daß du mich erwartest.« Und dann setzte ich mich auf den Boden, stützte den Ellbogen auf ihren großen Lehnstuhl und erzählte ihr alles, was ich erlebt hatte, seit wir uns nicht gesehen.

Von jeher besaß ich einen Hang zu beobachten, aber ich faßte nicht rasch auf. Durchaus nicht. Ich beobachtete still, was vorging, und wünschte nur, ich könnte es besser verstehen. Ich war keineswegs scharfsinnig. Wenn ich jemanden gern habe, scheint mein Verstand klarer zu werden. Aber vielleicht ist das nur Eitelkeit und Einbildung von mir.

Mein Patin erzog mich, soweit ich mich zurückerinnern kann, wie eine der Prinzessinnen in den Feenmärchen; nur daß ich nicht so schön war. Ich wußte bloß, daß sie meine Patin war und eine gute, gute Frau. Sie ging dreimal am Sonntag in die Kirche und Mittwochs und Freitags zur Frühmesse und in die Betstunden, so oft welche gehalten wurden. Sie hatte ein schönes Gesicht, und wenn sie nur einmal gelächelt haben würde, so hätte sie wie ein Engel aussehen müssen; – aber sie lächelte nie. Sie war immer ernst und streng, aber immer so außerordentlich gütig, daß wohl nur die Schlechtigkeit anderer Menschen die Schuld trug, daß sie ihr ganzes Leben so finster war.

Ich kam mir so ganz anders geartet vor als sie, selbst wenn ich den Unterschied zwischen Kind und Erwachsener in Abzug brachte, kam mir so unbedeutend und armselig und ihr so fernstehend vor, daß ich niemals rechtes Vertrauen zu ihr fassen, ja, sie nicht einmal so lieben konnte, wie ich gewünscht hätte. Mir machte der Gedanke viel Schmerz, wie gut sie und wie unwürdig ich ihrer sei; und ich nährte in meinem Innern eine inbrünstige Hoffnung, mein Herz möge mit der Zeit besser werden. Und ich sprach darüber sehr oft mit meiner lieben Puppe. Aber ich liebte meine Patin eben doch nie so, wie ich hätte sollen und müssen, wenn ich ein besseres Kind gewesen wäre.

Da ich mir dies beständig vorhielt, wurde ich noch schüchterner und stiller, als ohnehin schon in meiner Natur lag; und meine einzige Freundin war die Puppe, bei der allein ich mich wohl fühlte. Aber, als ich noch ein ganz kleines Ding war, geschah außerdem noch etwas, was mich darin noch bestärkte.

Ich hatte nie von meiner Mutter sprechen hören. Ebensowenig von meinem Vater; aber meine Mutter interessierte mich sehr. Ich konnte mich nicht entsinnen, je ein Trauerkleid getragen zu haben. Man hatte mir niemals meiner Mutter Grab gezeigt und mir nie gesagt, wo es sei, mich auch nie für eine andere Verwandte als für meine Patin beten gelehrt. Mehr als einmal erwähnte ich diesen Gegenstand meines beständigen Grübelns gegen Mrs. Rachael, die immer mein Licht fortnahm, wenn ich zu Bette gegangen, und unsere einzige Dienerin war. Aber sie sagte jedes Mal nur: »Esther, gute Nacht!« und ging fort und ließ mich allein.

Obgleich sich sieben Mädchen in der nahen Schule befanden, wo ich Unterricht erhielt, und sie mich die kleine Esther Summerson nannten, so war ich doch bei keinem von ihnen je zu Besuch gewesen. Alle waren weitaus älter als ich, aber es schien noch eine andere Scheidewand zwischen uns zu bestehen außer dem Umstande, daß sie, älter und klüger als ich, mehr wußten. Eine von ihnen lud mich in der ersten Woche meiner Schulzeit, wie ich mich noch genau erinnere, zu meiner großen Freude zu einem kleinen Fest ein. Aber meine Patin schrieb einen steifen Absagebrief, und ich durfte nicht hingehen. Ich kam nie auf Besuch in andere Häuser.

Mein Geburtstag war wieder gekommen. Den andern bedeuteten Geburtstage Feiertage – mir niemals; die andern hatten bei solchen Gelegenheiten Festlichkeiten zu Hause, wie ich sie einander erzählen hörte; – ich niemals. Mein Geburtstag war die langen Jahre hindurch der trübste Tag meines Lebens.

Wenn mich meine Eitelkeit nicht täuscht, was wohl der Fall sein kann, denn so etwas weiß man nicht selber, so wird meine Fassungskraft mit meiner Zuneigung geweckt. Ich habe ein liebebedürftiges und weiches Gemüt, und vielleicht würde ich noch heute eine solche Wunde, wie ich sie damals an meinem Geburtstag empfing, wenn man sie mehr als einmal überhaupt erleiden kann, ebenso tief fühlen wie zu jener Zeit.

Das Mittagessen war vorüber, und meine Patin und ich saßen am Tisch vor dem Feuer. Die Uhr tickte, das Feuer knisterte, und kein anderer Ton war hörbar im Zimmer und im Hause –, ich weiß nicht, wie lange Zeit schon. Ich erhob zufällig die Augen schüchtern von meiner Näharbeit und sah, wie mich meine Patin über den Tisch hinweg trübe anblickte, als wollte sie sagen: Es wäre viel besser, kleine Esther, wenn du niemals einen Geburtstag gehabt hättest und niemals geboren worden wärest.

Ich fing an zu schluchzen und zu weinen: »Ach liebe Patin, sage mir, bitte, sage mir, starb Mama an meinem Geburtstag?«

»Nein«, war die Antwort. »Frage mich nicht weiter, Kind.«

»Bitte, sage mir etwas von ihr! Nur ein Wort! Ich bitte dich, liebe Patin! Was hab ich ihr getan? Wie hab ich sie verloren? Warum bin ich so verschieden von andern Kindern, und was kann ich dafür, liebe Patin? Nein, nein, nein, geh nicht fort! O sag es mir!«

Eine Angst, die größer war als mein Schmerz, hatte mich befallen, und ich hielt meine Patin am Kleide fest und kniete vor ihr nieder.

Bis jetzt hatte sie fortwährend gesagt: »Laß mich gehen«, aber plötzlich blieb sie stehen.

Der finstere Ausdruck ihres Gesichtes übte eine solche Gewalt auf mich aus, daß ich mitten in meiner Verzweiflung innehielt. Ich wollte mit meiner zitternden Hand die ihre fassen und von ganzer Seele um Verzeihung bitten, zog sie aber bei ihrem Blick schnell wieder zurück, und das Herz klopfte mir. Sie hob mich auf, setzte sich in ihren Stuhl und sprach in kaltem gedämpftem Ton zu mir – ich sehe sie mit gerunzelter Stirn und strafend erhobenem Finger noch heute vor mir –:

»Deine Mutter, Esther, ist deine Schande, und du warst ihre. Die Zeit wird früh genug kommen, wo du das besser verstehen und auch fühlen wirst, wie es nur ein Weib kann. Ich habe ihr verziehen« – das Gesicht meiner Patin zeigte nicht den geringsten Zug von Versöhnlichkeit- »ich habe ihr verziehen, was sie mir Böses getan hat, und spreche nicht mehr davon, obgleich ihr Unrecht größer war, als du jemals erfahren wirst oder irgend jemand außer mir, die ich davon betroffen wurde, ahnen kann. Was dich betrifft, unglückliches Kind, warst du verwaist und beschimpft vom ersten unseligen Geburtstag an; bete du täglich, daß die Sünden anderer nicht auf dein Haupt kommen mögen, wie es geschrieben steht. Vergiß deine Mutter und hindere nicht, daß die Menschen es tun; deinetwegen. Jetzt geh.«

Sie hielt mich, als ich wortlos gehen wollte – so bis ins Innere erstarrt war ich – noch einmal fest und setzte hinzu:

»Unterwürfigkeit, Selbstverleugnung, Fleiß sind die Wegzeichen für ein Leben, das mit einem solchen Flecken begonnen hat. Du bist anders als die andern Kinder, Esther, weil du nicht wie sie in gemeinsamer Sündhaftigkeit und im Zorne geboren bist. Du bist gezeichnet.«

Ich schlich in mein Kämmerchen hinauf und kroch ins Bett und legte das Gesicht meiner Puppe an meine tränennasse Wange, und mit dieser einzigen Freundin an der Brust weinte ich mich in Schlaf. So wenig ich mir auch über meinen Schmerz klar werden konnte, so wußte ich doch, daß ich zu keiner Zeit jemand eine Freude gewesen, und niemand auf Erden mich so lieb hatte wie ich meine Puppe.

Ach Gott, ach Gott, wie oft und lange wir später allein miteinander verbrachten und ich der Puppe die Geschichte meines Geburtstages erzählte und ihr anvertraute, wie sehr ich mich bemühen wollte, den Fehler, der mir mit meiner Geburt anhaftete, wieder gutzumachen und mich zu bestreben, mit den Jahren fleißig, zufrieden und freundlichen Herzens zu werden und mir eines Menschen Liebe zu gewinnen, wenn es mir gelingen sollte, und ihm alles nur mögliche Gute zu tun! Vielleicht ist es selbstgefällig, wenn ich bei dem Gedanken daran jetzt noch Tränen vergießen muß. Ich denke mit großer Dankbarkeit zurück und bin fröhlich, aber doch kann ich nicht verhindern, daß sie mir in die Augen treten.

– So! Jetzt hab ich sie weggewischt und kann wieder fortfahren.

Ich war mir der großen Kluft zwischen meiner Patin und mir seit jenem Geburtstag nur noch mehr bewußt und empfand so sehr, in ihrem Hause einen Platz einzunehmen, der leer hätte sein sollen, daß es mir schwerer wurde, mich ihr zu nähern als je, so innig verpflichtet ich mich ihr im Herzen auch fühlte.

Genau so empfand ich gegen meine Mitschülerinnen und gegen Mrs. Rachael, die Witwe war, und gegen ihre Tochter, auf die sie sehr stolz war und die sie einmal alle vierzehn Tage besuchte. Ich blieb sehr schüchtern und still und bemühte mich nach Kräften, fleißig zu sein.

An einem sonnigen Nachmittag, als ich eben mit meiner Mappe ans der Schule gekommen war und den langen Schatten neben mir beobachtete und wie gewöhnlich die Treppe hinauf in mein Kämmerchen eilen wollte, öffnete meine Patin die Wohnzimmertür und rief mich hinein. Bei ihr saß ein Fremder, was etwas sehr Ungewöhnliches war: ein behäbiger, wichtig aussehender Herr, ganz schwarz gekleidet, mit einer weißen Halsbinde, großen goldnen Petschaften an der Uhrkette, einer goldnen Brille und einem großen Siegelring am kleinen Finger.

»Das ist das Kind«, sagte meine Patin mit verhaltener Stimme zu ihm. Dann setzte sie mit ihrem gewöhnlichen ernsten Ton hinzu:

»Das ist Esther, Sir.«

Der Herr setzte seine Brille auf, sah mich an und sagte:

»Komm zu mir, liebes Kind!«

Er reichte mir die Hand und hieß mich den Hut abnehmen und betrachtete mich unablässig dabei. Als ich seinen Wunsch erfüllt hatte, sagte er: »Ah! Ja!« nahm seine Brille ab, steckte sie in ein rotes Futteral, lehnte sich in den Armstuhl zurück und nickte meiner Patin zu und spielte mit dem Etui. Darauf fing meine Patin wieder an:

»Du kannst hinaufgehen, Esther.« Ich machte dem Herrn meinen Knicks und ging.

Es muß zwei Jahre später gewesen sein, und ich war fast vierzehn Jahre alt, als ich an einem Abend, an den ich voll Entsetzen zurückdenken muß, mit meiner Patin vor dem Kamine saß. Ich las ihr vor. Ich war, wie immer, um neun Uhr heruntergekommen, um ihr aus der Bibel vorzulesen, und hielt gerade bei der Stelle im Evangelium Johannis, wo es heißt, daß unser Erlöser sich niederbückte und mit dem Finger auf die Erde schrieb, als sie die Ehebrecherin vor ihn brachten: Als sie nun anhielten, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.

Ich hielt inne, denn meine Patin stand auf, legte ihre Hand an die Stirn und rief mit schrecklicher Stimme den Satz aus der Bibel: So wachet nun, auf daß er nicht schnell komme und finde euch schlafend. Was ich aber euch sage, das sage ich euch allen: wachet.

Sie stand vor mir und wiederholte diese Worte. Dann brach sie plötzlich zusammen. Ich brauchte nicht um Hilfe zu rufen; ihre Stimme war durch das ganze Haus gedrungen und bis auf die Straße gehört worden.

Man legte sie auf ihr Bett. Länger als eine Woche lag sie dort, äußerlich nur wenig verändert. Das alte schöne entschlossene Stirnrunzeln, das ich so gut kannte, war auf ihrem Gesicht erstarrt. Viele, viele Male bei Tag und bei Nacht legte ich meinen Kopf auf das Kissen neben sie, damit sie mein Flüstern besser verstünde, und küßte sie und dankte ihr, betete für sie, bat sie um ihren Segen und ihre Verzeihung und flehte sie an, mir nur ein einziges Zeichen zu geben, daß sie mich erkenne oder höre. Nichts, nichts, nichts! Ihr Gesicht blieb unbeweglich. Bis zuletzt. Und selbst dann wich der finstere Ausdruck nicht von ihrer Stirn.

Am Tag nach dem Begräbnis meiner guten Patin stellte sich der schwarze Herr mit dem weißen Halstuch wieder ein. Mrs. Rachael schickte nach mir, und ich fand ihn auf derselben Stelle, als wäre er niemals weggegangen.

»Ich heiße Kenge«, sagte er. »Merk dir den Namen, liebes Kind; Kenge & Carboy, Lincoln’s-Inn.«

Ich gab zur Antwort, daß ich mich erinnerte, den Herrn schon früher einmal gesehen zu haben.

»Bitte, setz dich – hier neben mich. Weine nicht, es nützt nichts. Mrs. Rachael! Ich brauche Ihnen, die Sie mit der seligen Miß Barbary Angelegenheiten bekannt waren, nicht erst zu sagen, daß ihr Einkommen mit ihrem Leben zu Ende ging und daß diese junge Dame jetzt nach dem Tode ihrer Tante -«

»Meiner Tante, Sir?«

»Es hat ja doch keinen Zweck, eine Täuschung aufrecht zu erhalten, die keinen Sinn mehr hat«, sagte Mr. Kenge besänftigend. »Tatsächlich war sie deine Tante, wenn auch nicht vor dem Gesetze. Aber weine doch nicht. Weine nicht! Beruhige dich! – Mrs. Rachael, unsere junge Freundin hat zweifellos gehört – von – der – hm – Sache Jarndyce kontra Jarndyce?«

»Nie«, sagte Mrs. Rachael.

»Ist es denn möglich«, fuhr Mr. Kenge fort und setzte seine Brille auf, »daß unsere junge Freundin – aber geh, weine doch nicht – niemals von ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ gehört hat?«

Ich schüttelte den Kopf und hatte nicht die leiseste Ahnung, worum es sich handelte.

»Nichts von ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘?« wiederholte Mr. Kenge, blickte mich über die Brille hinweg an und liebkoste das Futteral mit den Händen. »Nichts von einem der größten aller bekannten Kanzleigerichtsprozesse, nichts von dem Fall ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘, – der für sich schon – hm – ganz für sich allein ein Denkmal in der Kanzleigerichtspraxis bedeutet? – In dem, möchte ich sagen, jede Schwierigkeit, jede Möglichkeit, jede Rechtsfiktion, jede Prozeßform, die bei diesem Gerichtshof bekannt ist, sich immer und immer wieder verkörpert? Es ist ein Rechtsfall, der nirgends als in unserm großen und freien Lande existieren könnte! Ich möchte behaupten, daß die Gesamtkosten in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce – Mrs. Rachael – ich fürchte –« er wendete sich von mir ab, weil ich mich unaufmerksam zeigte – »sich gegenwärtig auf sechzig- bis siebzigtausend Pfund belaufen«, ergänzte Mr. Kenge, in seinen Stuhl zurückgelehnt.

Der Gegenstand war mir so gänzlich unbekannt, daß ich damals auch nicht das Allergeringste davon verstand.

»Und sie hat wirklich nie etwas von der Sache gehört? Höchst erstaunlich!«

»Miß Barbary, Sir«, erklärte Mrs. Rachael, »die jetzt unter den Seraphim weilt –«

»Das hoffe ich zuversichtlich«, unterbrach Mr. Kenge höflich.

»– wünschte, daß Esther nur lerne, was ihr von Nutzen sein könne. Und sie ist hier auch weiter nichts gelehrt worden.«

»Hm«, sagte Mr. Kenge. »Das ist im großen ganzen sehr richtig. Aber jetzt zur Sache!« fuhr er zu mir gewendet fort. »Miß Barbary, deine einzige Verwandte – tatsächlich nämlich – denn ich muß dir bemerken, daß du von Gesetzes wegen keine Verwandten hast –, ist jetzt tot, und da man natürlich von Mrs. Rachael nicht erwarten kann –«

»O Gott nein«, fiel Mrs. Rachael schnell ein.

»Sehr richtig!« – daß sie die Sorge für deinen Lebensunterhalt auf sich nimmt, so sehe ich mich veranlaßt, ein Anerbieten zu erneuern, das ich schon vor ungefähr zwei Jahren Miß Barbary zu machen beauftragt war und das damals abgelehnt wurde. Wir hatten uns jedoch dahin geeinigt, daß es für den Fall des Todes deiner Tante wiederholt werden sollte. Ich glaube nun, nicht im geringsten gegen die in meinem Berufe übliche Reserve zu verstoßen, wenn ich verrate, daß ich in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce und auch in anderer Hinsicht einen sehr menschenfreundlichen, wenn auch zugleich sehr eigentümlichen Mann vertrete.« Mr. Kenge lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück und sah uns beide ruhig an.

Der Klang seiner eigenen Stimme schien ihn über die Maßen zu freuen. Ich sah darin nichts Wunderbares, denn sie war weich und wohlklingend und verlieh jedem Worte, das er aussprach, den Anschein großer Wichtigkeit. Er hörte sich mit sichtlicher Befriedigung zu und schlug manchmal zu seiner eigenen Musik mit dem Kopfe den Takt oder rundete einen Satz mit einer gefälligen Handbewegung ab. Selbst damals schon, als ich noch gar nicht wußte, daß er sich nach dem Muster des hohen Lords, der sein Klient war, herangebildet hatte und allgemein »Konversationskenge« genannt wurde, machte er einen großen Eindruck auf mich.

»Da Mr. Jarndyce«, fuhr er fort, »von der – ich möchte sagen, verzweifelten – Lage unserer jungen Freundin unterrichtet ist, so bietet er ihr an, sie in einer Anstalt ersten Ranges unterbringen zu wollen, wo ihre Erziehung vollendet, ihr gutes Auskommen gesichert, für alle ihre Bedürfnisse, soweit sie vernünftig und nötig sind, gesorgt und sie selbst endlich befähigt werden soll, ihre Pflicht in der Lebensstellung zu erfüllen, die ihr anzuweisen – darf ich wohl sagen, der Vorsehung – gefallen hat.«

Mein Herz war so tief ergriffen von dem, was er sagte, wie auch von der liebreichen Weise, in der er es tat, daß ich beim besten Willen kein Wort sprechen konnte.

»Mr. Jarndyce stellt keinerlei Bedingungen und spricht nur die Erwartung aus, daß unsere junge Freundin die fragliche Anstalt ohne sein Wissen und Zutun nicht verlassen und sich mit Fleiß der Erwerbung der Kenntnisse und Fertigkeiten widmen werde, durch deren Anwendung und Ausübung sie sich später soll erhalten können – und daß sie auf dem Pfade der Tugend und Ehre bleiben möge und – daß – hm – und so weiter.«

Ich konnte noch weniger sprechen als vorher.

»Nun, was sagt unsere junge Freundin?« fuhr Mr. Kenge fort. »Laß dir Zeit, laß dir Zeit. Ich warte auf deine Antwort. Laß dir nur Zeit.«

Was ich zu diesem Anerbieten zu sagen versuchte, brauche ich nicht zu wiederholen. Was ich wirklich sagte, ist kaum des Erzählens wert. Und was ich fühlte und bis zu meiner letzten Stunde fühlen werde, das könnte ich nicht in Worte bringen.

Diese Unterredung fand in Windsor statt, wo ich mein ganzes Leben zugebracht hatte, soweit ich zurückdenken konnte. Acht Tage später verließ ich, reichlich mit allem Notwendigen versehen, den Ort, um mit der Landkutsche nach Reading zu fahren.

Mrs. Rachael war zu gut, um beim Abschied bewegt zu sein. Aber ich war nicht so gut und weinte bitterlich. Ich dachte, daß ich sie nach so vielen Jahren eigentlich besser kennen und mich bei ihr so in Gunst gesetzt haben sollte, daß ihr der Abschied weh tun müsse.

Als sie mir einen so kalten Abschiedskuß auf die Stirne drückte, als ob ein großer Tropfen von dem Eise oben an dem steinernen Torgewölbe niedertaute, fühlte ich mich so elend und schuldbewußt, daß ich sie umarmte und ihr sagte, ich wisse wohl, es sei meine Schuld, daß ihr der Abschied von mir so leicht werde.

»Nein, Esther«, entgegnete sie. »Dein Unglück ist schuld daran.«

Die Kutsche stand vor der kleinen Gartenpforte – wir waren erst aus dem Hause getreten, als wir sie hatten kommen hören –, und so verließ ich Mrs. Rachael mit bekümmertem Herzen. Sie ging hinein, ehe noch mein Koffer auf die Kutsche gehoben worden, und machte die Türe zu.

Solange ich das Haus sehen konnte, blickte ich mit Tränen in den Augen aus dem Fenster zurück. Meine Patin hatte Mrs. Rachael ihr ganzes kleines Vermögen vermacht, und es sollte Auktion sein; ein alter Kaminteppich mit Rosen darauf, der mir immer als das Schönste auf Erden vorgekommen war, hing draußen in Frost und Schnee. Ein oder zwei Tage vorher hatte ich meine liebe Puppe in ihren Schal gewickelt und sie – fast schäme ich mich, es zu erzählen – im Garten unter dem Baum begraben, der das Fenster meines Kämmerchens beschattete. Ich hatte keinen Freund als einen Vogel, und den trug ich in seinem Käfig bei mir.

Als ich das Haus aus dem Gesicht verlor, setzte ich mich, den Käfig vor mir im Stroh, auf den niedrigen Vordersitz, um durch das Fenster hinauszuschauen auf die bereiften Bäume, die wie schöne Stücke Kalkspat aussahen. Die Felder hatte der Schnee in der Nacht glatt und weiß gemacht. Rot und kalt stand die Sonne am Himmel, und das Eis lag schwarz wie poliertes Eisen da, von den Schlittschuhläufern und Schlittenfahrern reingefegt.

Mir gegenüber saß ein Herr, der in einer Menge Umhüllungen sehr umfangreich aussah; aber er blickte zum andern Fenster hinaus und nahm keine Notiz von mir.

Ich dachte an meine tote Patin – an den Abend, wo ich ihr vorgelesen, an das erstarrte, zürnende Gesicht, mit dem sie auf dem Bette gelegen, an den fremden Ort, dem ich entgegenfuhr, an die Leute, die ich dort finden sollte, und wie sie wohl aussehen und zu mir sein würden, da machte mich eine Stimme in der Kutsche vor Schrecken auffahren.

»Warum, zum Teufel, weinst du denn!«

Ich erschrak so sehr, daß mir die Stimme versagte, und ich nur flüsternd fragen konnte:

»Ich, Sir?«

Natürlich konnte nur der Herr in den vielen Umhüllungen gesprochen haben, obgleich er immer noch zum Fenster hinaussah.

»Ja, du«, sagte er und drehte sich um.

»Ich wußte nicht, daß ich weinte, Sir«, stammelte ich.

»Aber du weinst. Sieh selbst.«

Er rutschte aus der andern Ecke des Wagens auf den Platz mir gegenüber, fuhr mir mit einem seiner großen Pelzaufschläge sanft über die Augen und zeigte mir dann, daß er naß war.

»Da! Jetzt weißt du’s. Nicht wahr?«

»Ja, Sir.«

»Und warum weinst du? Gehst du nicht gern dorthin?«

»Wohin, Sir?«

»Wohin? Nun dahin, wohin du eben gehst.«

»Ich gehe sehr gern hin, Sir.«

»Nun also! Mach doch ein freundliches Gesicht!«

Der Herr kam mir höchst sonderbar vor; wenigstens was ich von ihm sehen konnte, war sehr merkwürdig. Bis ans Kinn eingehüllt, verschwand sein Gesicht fast unter einer Pelzmütze mit breiten Pelzohrklappen. Ich hatte mich wieder gefaßt und fürchtete mich nicht mehr vor ihm. Ich sagte ihm, ich hätte wegen des Todes meiner Patin geweint, und weil Mrs. Rachael der Abschied von mir so leicht geworden sei.

»Der Kuckuck soll Mrs. Rachael holen!« brummte der Herr. »Soll sie beim nächsten Sturmwind auf einem Besenstiel wegfliegen!«

Ich fing jetzt an, mich doch wieder vor ihm zu fürchten, und betrachtete ihn mit größter Verwunderung. Aber er hatte freundliche Augen, wenn er auch fortfuhr, ärgerlich vor sich hinzubrummen und auf Mrs. Rachael zu schimpfen.

Nach einer kleinen Weile öffnete er seine oberste Hülle, die groß genug zu sein schien, um die ganze Kutsche damit zu bedecken, und fuhr mit dem Arm tief in seine Seitentasche.

»Da schau einmal!« sagte er. »In diesem Papier ist ein Stück von der besten Pflaumentorte, die für Geld zu haben ist – mit einem Zuckerüberguß, zolldick wie Fett auf einer Hammelkeule. Hier ist ein Pastetchen, ein Juwel an Größe und Beschaffenheit, aus Frankreich. Und woraus glaubst du wohl, ist es gemacht? Aus Leber von fetten Gänsen! Das ist eine Pastete! Wollen mal sehen, wie sie dir schmeckt.«

»Ich danke Ihnen bestens, Sir«, gab ich zur Antwort. »Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden, aber, – ich hoffe, Sie nehmen es nicht übel – es ist zu schwer für mich.«

»Wieder einmal abgefahren!« sagte der Gentleman – ich verstand nicht, was er damit meinte – und warf beides zum Fenster hinaus.

Er sprach kein Wort mehr mit mir, bis er kurz vor Reading die Kutsche verließ und mir sagte, ich solle ein gutes Mädchen sein und recht fleißig lernen. Dann schüttelte er mir die Hand. Ich muß gestehen, ich fühlte mich erleichtert, als er ausstieg. Wir ließen ihn an einem Meilenstein zurück. Oft später ging ich an dieser Stelle vorüber und mußte dabei noch lange Zeit an ihn denken, und immer erwartete ich so halb und halb, ihn wieder dort zu treffen. Aber er erschien nie, und so verschwand er allmählich aus meiner Erinnerung.

Als der Wagen anhielt, blickte eine sehr nette Dame zum Fenster herein und sagte:

»Miß Donny.«

»Nein, Maam. Esther Summerson.«

»Ja, ja, schon richtig«, sagte die Dame, »Miß Donny.«

Ich erriet jetzt, daß sie sich unter diesem Namen vorstellte, und entschuldigte mich wegen meines Irrtums. Auf ihren Wunsch zeigte ich ihr mein Gepäck. Unter der Leitung eines sehr saubern Dienstmädchens wurden meine Koffer auf eine winzige grüne Kutsche gepackt, und dann stiegen Miß Donny, das Mädchen und ich hinein und fuhren fort.

»Alles ist für Sie bereit, Esther«, wandte sich Miß Donny an mich, »und Ihr Stundenplan ist genau nach den Wünschen Ihres Vormunds Mr. Jarndyce festgesetzt.«

»Meines – wie sagten Sie, Maam?«

»Ihres Vormunds Mr. Jarndyce.«

Ich war so verwirrt, daß Miß Donny wahrscheinlich glaubte, die Kälte sei für mich zu groß gewesen, und mir ihr Riechfläschchen anbot.

»Kennen sie Mr. Jarndyce, meinen – Vormund, Maam?« fragte ich nach ziemlich langem Zögern.

»Nicht persönlich, Esther, nur durch seine Rechtsanwälte, die Herren Kenge & Carboy in London. Ein wirklich ausgezeichneter Gentleman, der Mr. Kenge. Diese Beredsamkeit! Sein Satzbau ist wahrhaft majestätisch.«

Ich wußte vollkommen die Wahrheit dieser Bemerkung zu würdigen, war aber zu verwirrt, um zu antworten. Unsere schnelle Ankunft an unserm Bestimmungsort, ehe ich Zeit hatte, mich zu fassen, vermehrte noch meine Verwirrung, und nie werde ich vergessen, welch unwirklichen und traumhaften Eindruck an jenem Nachmittage alles in Greenleaf – Miß Donnys Haus – auf mich machte.

Aber bald lebte ich mich ein und war in Greenleafs Stundenplan bald so zu Hause, als ob ich schon lange dort gewesen wäre. Mein altes Leben bei meiner Patin kam mir wie ein Traum vor. Alles ging hier nach dem Glockenschlag. Um das ganze Zifferblatt herum hatte alles seine festgesetzte Zeit und wurde genau in dem festgesetzten Augenblick verrichtet.

Wir waren zwölf Schülerinnen, und zwei Misses Donny – Zwillinge – standen uns vor. Man setzte voraus, daß ich später von meinen Kenntnissen als Gouvernante werde leben müssen, und ich wurde nicht nur in allem unterrichtet, was man in Greenleaf lehrte, sondern mußte auch sehr bald selbst Unterricht erteilen.

Obgleich man mich in jeder andern Hinsicht wie die übrigen Schülerinnen behandelte, so machte man diesen einzigen Unterschied doch von allem Anfang an. Je mehr ich selbst lernte, desto mehr gab ich Unterricht und bekam dadurch im Lauf der Zeit sehr viel zu tun. Das machte mir große Freude, und die Mädchen gewannen mich lieb. So oft eine neue Schülerin niedergeschlagen ankam und sich unglücklich fühlte, erwählte sie mich so sicher – die Ursache weiß ich nicht – zu ihrer Freundin, daß schließlich alle neuen Ankömmlinge mir anvertraut wurden. Sie sagten, ich sei so gut gegen sie, aber eigentlich waren sie gut gegen mich. Ich dachte oft an den an meinem Geburtstag gefaßten Entschluß, fleißig, zufrieden und freundlichen Herzens zu sein. Gutes zu tun und mir Liebe zu erwerben, wo ich könnte; und wahrhaftig, ich schämte mich fast, so wenig getan und soviel gewonnen zu haben.

Ich verlebte in Greenleaf sechs glückliche stille Jahre. Dort las ich, Gott sei Dank, an meinem Geburtstag in keinem Gesicht, daß es besser gewesen, wenn ich nie geboren worden wäre. So oft der Tag erschien, brachte er mir soviel Zeichen liebreicher Aufmerksamkeit, daß mein Zimmer geschmückt war vom Neujahrstag bis zu Weihnachten.

In diesen sechs Jahren war ich nie von Hause weggewesen außer auf Besuchen in der Nachbarschaft während der Feiertage.

Nach dem Schluß des ersten halben Jahres hatte ich Miß Donny um Rat gefragt, ob es schicklich sei, an Mr. Kenge zu schreiben, daß ich glücklich und voll Dankes wäre, und verfaßte dann mit ihrer Billigung einen solchen Brief. Ich erhielt eine formelle Antwort, die mit den Worten schloß:

»Wir notierten den Inhalt Ihres Geschätzten, den wir seinerzeit unserm Klienten mitzuteilen nicht verabsäumen werden.«

Hie und da hörte ich Miß Donny und ihre Schwester davon sprechen wie regelmäßig meine Rechnungen bezahlt würden, und ungefähr zweimal des Jahres wagte ich einen ähnlichen Brief zu schreiben. Ich empfing stets umgehend genau dieselbe Antwort mit derselben Kanzlistenschrift, unterschrieben »Kenge & Carboy« von einer andern Hand, von der ich annahm, sie müßte Mr. Kenges Handschrift sein.

Es kommt mir so seltsam vor, daß ich alles dieses von mir erzähle, als ob diese Geschichte die Geschichte meines Lebens wäre! Aber mein unbedeutendes Ich wird jetzt bald in den Hintergrund treten.

Sechs stille Jahre verlebte ich in Greenleaf, wie ich schon sagte, und wuchs mit meinen Freundinnen auf, als ich an einem Novembermorgen folgenden Brief empfing:

»Old Square Lincoln’s Inn.
In Sachen Jarndyce kontra Jarndyce.
Madam!

Unser Klient, Mr. Jarndyce, der im Begriff steht, in Verfolg eines Dekretes des Kanzleigerichtshofs ein Mündel dieses Gerichts in schwebender Sache in sein Haus aufzunehmen, für das er eine passende Gesellschafterin wünscht, beauftragt uns, Sie zu benachrichtigen, daß er sich freuen würde, von Ihren Diensten in der gedachten Eigenschaft Gebrauch machen zu können.

Wir haben beordert, daß Sie franko Reisespesen nächsten Montag morgens mit der Achtuhrkutsche von Reading nach dem »Weißen Roß«, Piccadilly, London, befördert werden, wo einer unserer Schreiber Sie erwarten wird, um Sie nach unserer oben bezeichneten Kanzlei zu begleiten.

Wir empfehlen uns, Madam,
als Ihre gehorsamsten Diener
Kenge & Carboy
An Miß Esther Summerson.«

O nie, nie, nie werde ich vergessen, welche Aufregung dieser Brief im Hause verursachte! Es war so gut von ihnen, daß sie sich soviel mit mir befaßten, – so liebevoll von der Hand des Schicksals, meinen verwaisten Lebensweg so zu ebnen und mir so viele junge Herzen zugeneigt zu machen, daß ich es kaum ertragen konnte. Nicht, daß ich gewünscht hätte, es möchte ihnen weniger leid getan haben – das fürchte ich, war nicht der Fall –, aber Wonne und Schmerz, Stolz und Freude darüber und das Leid zugleich waren so miteinander verwoben, daß es mir fast das Herz brach, während es voller Entzücken überfloß.

Der Brief ließ mir nur fünf Tage Frist. Jede Minute in diesen fünf Tagen häufte neue Beweise von Liebe und Zuneigung auf mein Haupt, und als endlich der Morgen des Abschieds kam, da begleiteten mich meine Freundinnen durch alle Zimmer, der Erinnerung wegen.

»Liebste Esther, sage mir Lebewohl hier an diesem Bett, wo du mir zum ersten Mal so freundlich zusprachst!« bat mich eine Freundin, und einer andern mußte ich auf ein Blatt Papier ihren Namen schreiben und darunter: »In Liebe, Deine Esther.«

Und alle umringten mich mit ihren Abschiedsgeschenken, hingen weinend an mir und jammerten: »Was sollen wir nur anfangen, wenn unsere liebe, liebe Esther fort ist?« und ich versuchte, ihnen zu sagen, wie dankbar ich ihnen sei für ihre Güte und Nachsicht gegen mich und wie ich sie alle segnete.

Wie ergriff es mich, als ich sah, wie bekümmert die beiden Miß Donnys mich scheiden ließen und die Dienstmädchen sagten: »Gott behüte Sie, Miß, wohin Sie auch immer gehen mögen.«

Und der häßliche lahme Gärtner, von dem ich gar nicht glaubte, daß er mich überhaupt kenne oder mich jemals gesehen habe, kam hinter der Kutsche nachgekeucht, um mir ein Geraniumsträußchen zu geben und zu sagen, ich sei das Licht seiner Augen gewesen. – Wirklich und wahrhaftig, der alte Mann sagte das.

Ich war in meiner Kutsche förmlich erdrückt vor Glück von alledem, und als ich an der Kinderschule vorbeikam und die Kleinen ihre Hüte schwenkten und ein grauköpfiger Herr und eine Dame, deren Tochter ich hatte unterrichten helfen und in deren Hause ich auf Besuch gewesen – sie galten für die stolzesten Leute in der ganzen Gegend –, immer und immer wieder riefen: »Leben Sie wohl, Esther, mögen Sie immer glücklich sein!« da mußte ich viele, viele Male sagen: »Oh, ich bin so dankbar, so von Herzen dankbar.«

Aber bald sah ich ein, daß ich nach allem, was man für mich getan, an den Ort, wohin ich gehen sollte, keine Tränen mitbringen dürfe. Deshalb bezwang ich mich und redete mir selbst zu: Esther, du mußt dich fassen, das geht so nicht! Ich kühlte mir die Augen mit Lavendelwasser, und es war höchste Zeit, wie ich dachte, denn wir mußten meiner Ansicht nach jede Minute in London sein.

Ich war vollständig überzeugt, wir seien bereits dort, als wir noch zehn Meilen Weges vor uns hatten, und daß wir niemals hinkommen würden, als wir bereits mitten drin waren. Wie wir über das Steinpflaster holperten und, wie ich immerwährend fürchtete, alle Augenblicke mit andern Wagen zusammenstoßen mußten, fing ich endlich an zu glauben, wir näherten uns dem Ende unserer Reise. Bald darauf hielten wir.

Ein tintenbespritzter junger Mann redete mich auf dem Trottoir mit den Worten an:

»Ich bin von Kenge & Carboy, Miß, von Lincoln’s Inn.«

»Sie erwarten mich wohl, Sir?«

Der junge Mann war sehr höflich, und als er mir in einen Fiaker half und die Besorgung meines Gepäcks veranlaßt hatte, fragte ich ihn, ob in der Nähe ein großes Feuer sei, denn die Straßen waren so voll von dickem braunem Qualm, daß man kaum etwas erkennen konnte.

»O nein, Miß.Das ist Londoner ‚Echter‘.«

Ich hatte diesen Ausdruck noch nie gehört.

»Nebel, Miß.«

Wir fuhren langsam durch die schmutzigsten und dunkelsten Straßen, die es meiner Meinung nach in der Welt geben konnte, und durch ein so lärmendes Gewühl, daß ich mich wunderte, wie die Leute ihre fünf Sinne beisammenhalten konnten, bis wir durch einen alten Torweg über einen stillen Platz in eine sonderbare Ecke kamen, wo breite steile Stufen zu einem Tor führten wie zu einer Kirchentür. Und wirklich war auch daneben ein Friedhof hinter Klostergebäuden; ich konnte die Grabsteine durch das Treppenfenster sehen.

Hier war Kenge & Carboys Kanzlei. Der junge Mann führte mich durch die Schreibstube in Mr. Kenges Privatzimmer – es war niemand drin – und rückte mir höflich einen Lehnstuhl an den Kamin. Dann machte er mich auf einen kleinen Wandspiegel aufmerksam.

»Im Falle Sie nach der Reise einmal hineinzuschauen wünschten, Miß, ehe Sie vor dem Kanzler erscheinen. Nicht daß es im geringsten nötig wäre«, setzte er höflich hinzu.

»Vor dem Kanzler erscheinen?« sagte ich, einen Augenblick ganz erschrocken.

»Eine bloße Formsache, Miß! Mr. Kenge ist jetzt bei Gericht. Er läßt sich Ihnen empfehlen, und wenn Sie vielleicht etwas genießen wollen: – Backwerk und eine Karaffe mit Wein stehen dort auf dem kleinen Tischchen, und hier ist die Zeitung –« der junge Mann überreichte sie mir. Dann schürte er das Feuer und ließ mich allein.

Alles war so seltsam – um so seltsamer, da bei Tag die Lichter brannten mit weißer Flamme und trotz des Feuers eine fröstelnde Temperatur herrschte –, daß ich die Worte in der Zeitung las, ohne sie zu erfassen, und mich dabei ertappte, daß ich dieselben Sätze immer wieder von vorn anfing.

Ich legte die Zeitung hin, sah in den Spiegel, ob mein Hut noch in Ordnung sei, betrachtete das nur halb erhellte Zimmer, die schlechten staubigen Tische und die Aktenstöße und einen Bücherschrank voll von so ausdruckslos aussehenden Büchern, als ob gar nichts in ihnen stünde. Und dann dachte ich weiter und weiter und weiter, und das Feuer brannte und brannte, und die Lichter qualmten und flackerten – und es war keine Lichtschere da –, bis der junge Mann endlich eine sehr schmutzige brachte, wohl zwei volle Stunden lang.

Endlich erschien Mr. Kenge. Er sah ganz aus wie früher, aber er wunderte sich, mich so verändert zu finden, und schien sich darüber zu freuen.

»Da Sie die Gesellschafterin der jungen Dame werden sollen, die sich jetzt im Privatzimmer des Kanzlers befindet, Miß Summerson«, sagte er, »so glaubten wir, es sei gut, wenn Sie ebenfalls da wären. Sie werden sich doch vor dem Lordkanzler nicht fürchten, hoffe ich?«

»Nein, Sir«, sagte ich. »Ich glaube nicht.«

Bei einiger Überlegung sah ich auch wirklich nicht ein, warum ich mich hätte fürchten sollen.

Mr. Kenge reichte mir seinen Arm, und wir gingen um die Ecke herum unter einer Kolonnade zu einer Seitentür hinein. Durch einen Korridor kamen wir in ein behagliches Zimmer, wo eine junge Dame und ein junger Herr an einem großen Kamin standen, in dem das Feuer laut prasselte. Ein Schirm stand zwischen ihnen und dem Kamin, und sie lehnten sich daran und plauderten miteinander.

Sie sahen beide auf, als ich eintrat. Die junge Dame war ein sehr schönes Mädchen mit reichem goldblondem Haar, sanften blauen Augen und einem heitern, unschuldigen, vertrauensvollen Gesicht.

»Miß Ada«, stellte mich Mr. Kenge vor, »hier ist Miß Summerson!«

Die junge Dame streckte mir mit freundlichem Lächeln die Hand entgegen, schien aber im Augenblick andern Sinnes zu werden, kam auf mich zu und küßte mich; kurz, sie hatte ein so natürliches und gewinnendes Wesen, daß wir nach wenigen Minuten im Schein des Feuers zusammen am Fenster saßen und so ungeniert und heiter wie nur möglich miteinander plauderten.

Eine Last war von meinem Herzen genommen. Ich fühlte mich so glücklich, daß sie Vertrauen zu mir fassen und Gefallen an mir finden konnte.

Es war so gut von ihr und so ermutigend für mich.

Der junge Herr, ein entfernter Vetter von ihr, wie sie mir sagte, hieß Richard Carstone. Er war ein hübscher junger Mann mit einem intelligenten Gesicht und einem sehr gewinnenden Lachen; und nachdem sie ihn zu uns ans Fenster gerufen hatte, plauderte er so lustig wie ein leichtherziger Knabe. Er mußte sehr jung sein, höchstens neunzehn, war aber fast zwei Jahre älter als sie. Beide waren sonderbarerweise Waisen und hatten sich vorher nie gesehen. Daß wir uns alle drei zum ersten Mal an diesem ungewöhnlichen Orte trafen, war allein schon wert, daß man davon redete, und wir unterhielten uns darüber. Das Feuer hatte aufgehört, so laut zu prasseln, und zwinkerte uns mit seinen roten Augen zu – wie sich Richard ausdrückte – wie ein schläfriger alter Gerichtslöwe.

Wir unterhielten uns ziemlich leise, weil ein Herr in Kniehosen und Schuhen und einer Zopfperücke häufig ins Zimmer kam, wobei wir beim Aufgehen stets ein schläfriges Summen in der Ferne hörten. Es stammte, wie er uns sagte, von einem Advokaten, der gerade in unserer Sache vor dem Lordkanzler plädierte.

Fast gleich darauf öffnete er wieder die Tür und ließ Mr. Kenge eintreten. Sodann begaben wir uns alle in das nächste Zimmer: voran Mr. Kenge mit – meinem Liebling; der Ausdruck ist mir so natürlich geworden, daß er mir von selbst in die Feder kommt.

Dort saß, einfach in Schwarz gekleidet, in einem Lehnstuhl vor einem Tisch am Kamin Seine Lordschaft. Sein Gerichtstalar, mit schönen Goldtressen besetzt, lag auf einem Stuhl daneben. Er warf einen forschenden Blick auf uns, als wir eintraten, aber sein Benehmen war höflich und gütig.

Der Herr mit der Perücke legte Akten auf den Tisch, und Seine Lordschaft suchte schweigend ein Heft heraus und blätterte darin.

»Miß Clare«, begann der Lordkanzler, »Miß Ada Clare?«

Mr. Kenge stellte sie vor, und Seine Lordschaft bat sie, neben ihm Platz zu nehmen. Daß er sie bewunderte und großes Interesse an ihr nahm, konnte sogar ich auf den ersten Blick sehen.

Es tat mir weh, daß eine kahle trockene Beamtenstube das Vaterhaus eines so schönen und jungen Geschöpfes sein sollte. Der Lord-Oberkanzler erschien mir trotz seines guten Willens ein armseliger Ersatz für liebende Eltern zu sein.

»Der in Frage kommende Jarndyce«, fragte der Lordkanzler, immer noch in dem Hefte blätternd, »ist Jarndyce von Bleakhaus?«

»Jarndyce von Bleakhaus, Mylord«, bestätigte Mr. Kenge.

»Ein trauriger Name, Mr. Kenge.«

»Aber jetzt kein trauriger Ort mehr, Mylord.«

»Und Bleakhaus«, sagte Seine Lordschaft, »liegt in –?«

»Hertfordshire, Mylord.«

»Mr. Jarndyce von Bleakhaus ist unverheiratet?«

»Ja, Mylord.«

Eine Pause.

»Der junge Mr. Richard Carstone ist anwesend?« warf der Lordkanzler einen Blick auf den jungen Mann.

Richard verbeugte sich und trat vor.

»Hm«, sagte der Lordkanzler und blätterte weiter.

»Mr. Jarndyce von Bleakhaus, Mylord«, erklärte Mr. Kenge mit leiser Stimme, »sucht, wenn ich mir erlauben darf, Ew. Lordschaft daran zu erinnern, eine geeignete Gesellschafterin für –«

»Für Mr. Richard Carstone?« glaubte ich den Lordkanzler mit einem Lächeln sagen zu hören.

»Für Miß Ada Clare! Hier ist die junge Dame! Miß Summerson!«

Seine Lordschaft schenkte mir einen freundlich herablassenden Blick und erwiderte meine Verbeugung sehr gnädig.

»Miß Summerson ist, glaube ich, mit keiner der Parteien in dieser Sache verwandt?«

»Nein, Mylord.«

Mr. Kenge beugte sich, ehe er dies sagte, ein wenig vor und flüsterte etwas. Der Kanzler hörte zu, die Augen auf seine Akten geheftet, nickte zwei oder dreimal, blätterte um und blickte mich nicht wieder an, bis wir uns verabschiedeten.

Mr. Kenge trat jetzt mit Richard wieder zurück zu mir in die Nähe der Tür und ließ Ada neben dem Lordkanzler sitzen. Seine Lordschaft sprach mit ihr eine Weile allein, fragte sie, wie sie mir später erzählte, ob sie den Schritt, den sie zu tun im Begriffe stehe, sich auch wohl überlegt habe und glaube, sie werde sich bei Mr. Jarndyce von Bleakhaus glücklich fühlen, und weshalb sie das denke. Gleich darauf erhob er sich höflich grüßend und sprach ein paar Minuten lang mit Richard Carstone im Stehen und mit viel mehr Ungeniertheit und weniger Förmlichkeit, als ob er trotz seines Ranges als Lordkanzler immer noch wüßte, wie man den geraden Weg zu dem Herzen eines jungen Mannes findet.

»Sehr gut«, sagte er dann laut. »Ich werde das Dekret ausfertigen lassen. Mr. Jarndyce von Bleakhaus hat, soweit ich beurteilen kann«, – er sah mich dabei an – »eine sehr gute Gesellschafterin für die junge Dame gefunden, und das erscheint mir als das beste, was unter den gegebenen Umständen geschehen kann.«

Er entließ uns freundlich, und wir alle waren ihm für seine Leutseligkeit und Höflichkeit, durch die er gewiß nichts an Würde verloren, sondern nur gewonnen hatte, sehr verbunden.

Als wir in den Säulengang kamen, erinnerte sich Mr. Kenge, daß er noch einmal zurück müsse, um sich nach etwas zu erkundigen, und ließ uns in dem Nebel stehen, wo des Lordkanzlers Wagen und Bediente warteten.

»Nun, das wäre überstanden«, sagte Richard Carstone. »Und wo gehen wir jetzt hin, Miß Summerson?«

»Wissen Sie es nicht?«

»Nicht im mindesten.«

»Und Sie auch nicht, liebe Ada?« fragte ich.

»Nein, wenn Sie es nicht wissen, Miß Summerson.«

»Ich durchaus nicht.«

Wir sahen einander an und lachten, daß wir dastanden wie Kinder, die sich im Walde verirrt haben, als eine seltsame kleine Alte mit einem zerdrückten Hut und einem großen Strickbeutel knicksend und lächelnd sich uns mit höchst feierlicher Miene näherte.

»Oh«, sagte sie. »Die Mündel in Sachen Jarndyce! Schätze mich sehr glücklich, die Ehre zu haben. Ein gutes Omen für Jugend, Hoffnung und Schönheit, an diesem Ort zusammenzukommen und nicht zu wissen, was daraus werden soll.«

»Verrückt!« flüsterte uns Richard zu, in dem Glauben, sie könne es nicht hören.

»Sehr richtig! Verrückt, junger Herr!« antwortete die Alte so rasch, daß Richard wie begossen dastand. »Ich war selbst einst ein Mündel. Damals war ich nicht verrückt«, setzte sie mit einer tiefen Verbeugung und einem Lächeln nach jedem kleinen Satz hinzu. »Ich war jung und voll Hoffnung. Ich glaube, ich war auch schön. Darauf kommt es jetzt aber sehr wenig an. Weder Jugend noch Hoffnung noch Schönheit halfen mir etwas. Ich habe die Ehre, den Gerichtssitzungen regelmäßig beizuwohnen. Mit meinen Dokumenten. Ich erwarte ein Urteil. Binnen kurzem. Am Tage des Jüngsten Gerichts. Ich habe entdeckt, daß das sechste Siegel in der Offenbarung das Große Siegel ist. Es ist schon seit langer Zeit geöffnet. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen Glück wünsche.«

Da Ada etwas erschrocken war, sagte ich, um der armen Alten nicht weh zu tun, daß wir ihr sehr verbunden wären.

»Ja-a!« antwortete sie geziert. »Das glaube ich. Und hier kommt ‚Konversationskenge‘. Mit seinen Dokumenten. Wie geht es Ew. Würden?«

»Danke, danke. Aber bitte, belästigen Sie uns nicht, gute Frau«, sagte Mr. Kenge, indem er uns zurückgeleitete.

»O gewiß nicht«, entschuldigte sich die arme Alte, neben Ada und mir hergehend. »Will durchaus nicht belästigen. Ich werde beiden Güter schenken; was doch gewiß keine Belästigung ist. Ich erwarte ein Urteil. Am Tage des Jüngsten Gerichts. Ein gutes Omen für Sie. Nehmen Sie meinen Glückwunsch entgegen.«

Sie blieb unten an der steilen, breiten Treppe stehen, und als wir uns beim Hinaufgehen umsahen, stand sie immer noch da und sagte immer noch mit einem Knicks und einem Lächeln bei jedem kleinen Satz:

»Jugend! Und Hoffnung! Und Schönheit! Und Kanzleigericht! Und Konversationskenge! Ha! Bitte, nehmen Sie meinen Glückwunsch entgegen!«

30. Kapitel


30. Kapitel

Esthers Erzählung

Richard war bereits einige Zeit fort, da bekamen wir für ein paar Tage Besuch. Von einer ältlichen Dame. Es war Mrs. Woodcourt aus Wales, die während eines Besuches bei Mrs. Bayham Badger, »auf Wunsch ihres Allan«, an meinen Vormund geschrieben hatte, sie habe Nachricht von ihrem Sohn erhalten und er befände sich wohl »und lasse uns allen seine freundlichsten Grüße senden«. Mein Vormund hatte sie daraufhin nach Bleakhaus eingeladen, und sie blieb fast drei Wochen bei uns. Sie schloß sich sehr an mich an, und so ausnehmend vertraulich, daß es mich manchmal in eine recht unbehagliche Stimmung versetzte. Ich wußte ganz gut, ich hatte kein Recht, mich darüber unbehaglich zu fühlen, und es war unverständig von mir, aber trotz aller Bemühungen konnte ich mir nicht helfen.

Sie war eine so lebhafte kleine Dame, pflegte, die Hände gefaltet, mich oft so aufmerksam zu beobachten beim Sprechen, daß mir vielleicht das etwas lästig wurde. Vielleicht war es auch ihre Gewohnheit, immer so aufrecht dazusitzen, aber ich glaube, das konnte nicht gut die Ursache sein, denn es kam mir manchmal recht drollig und nett vor. Auch kann es nicht an ihrem Gesichtsausdruck gelegen haben, der für eine alte Dame sehr lebendig und hübsch war. Ich weiß nicht, woran es lag. Oder wenigstens wußte ich es damals nicht. Oder wenigstens… Aber darauf kommt es nicht an.

Manchmal, wenn ich hinauf zu Bett gehen wollte, lud sie mich in ihr Zimmer ein, setzte sich in einen großen Lehnstuhl an den Kamin und erzählte mir – o Gott, o Gott – von Morgan ap Kerrig, bis ich ganz tiefsinnig wurde. Manchmal sagte sie eine Anzahl Verse aus Crumlinwallinwer und Mewlinwillinwodd, wenn das wirklich die Namen waren, her und wurde ordentlich leidenschaftlich dabei. Ich verstand ihre Bedeutung nicht, denn sie waren in welscher Sprache, und wußte nur, daß sie das Geschlecht Morgan ap Kerrig in den Himmel hoben.

»Sie sehen, Miß Summerson, wie groß das Erbe meines Sohnes ist«, pflegte sie triumphierend zu mir zu sagen. »Überall, wohin er auch kommt, kann er sich auf seine Abstammung von Morgan ap Kerrig berufen. Er wird vielleicht nie ein Vermögen haben, aber stets wird er besitzen, was so unendlich viel mehr wert ist, nämlich Familie, mein Kind.«

Ich hatte so meine Zweifel, ob sie sich in Indien und China drüben besonders um Morgan ap Kerrig kümmern würden, aber natürlich sprach ich es nicht aus. Ich sagte gewöhnlich nur, es sei eine große Sache, von so hoher Abkunft zu sein.

»Es ist auch wirklich eine große Sache, liebes Kind«, pflegte in solchen Fällen Mrs. Woodcourt zur Antwort zu geben. »Sie hat allerdings ihre Nachteile. So ist zum Beispiel mein Sohn in der Wahl einer Gattin sehr dadurch beschränkt. Aber auch die ehelichen Verbindungen der königlichen Familie sind schließlich in ähnlicher Weise beeinträchtigt.«

Dann klopfte sie mir wohl auf den Arm und strich mir das Kleid glatt, als wolle sie mir versichern, daß sie trotz des Abstandes zwischen uns beiden eine gute Meinung von mir habe.

»Mein armer seliger Mann, Mr. Woodcourt, liebes Kind«, sagte sie auch oft nicht ohne Rührung, denn neben ihrem vornehmen Stammbaum besaß sie ein sehr gefühlvolles Herz, »stammte von einer großen hochländischen Familie ab, den Mac Courts von Mac Court. Er diente seinem Könige und seinem Vaterlande als Offizier bei den königlichen Highlanders und fiel auf dem Schlachtfeld. Mein Sohn ist einer der letzten Repräsentanten zweier alter Familien. So Gott will, wird er sie wieder zur Geltung in der Welt bringen und sie mit einer andern alten Familie vereinigen.«

Vergebens in solchen Fällen versuchte ich dem Gespräch eine andre Richtung zu geben – nur der Abwechslung wegen – oder vielleicht, weil… Aber ich brauche mich nicht so in Einzelheiten zu verlieren. Kurz, Mrs. Woodcourt wollte nie von etwas anderm sprechen.

»Liebes Kind«, sagte sie eines Abends. »Sie sind so verständig und sehen die Welt mit so ruhigen und für Ihre Jahre so überlegnen Augen an, daß es für mich eine wahre Erleichterung ist, mit Ihnen diese Familienverhältnisse zu besprechen. Sie wissen nicht viel von meinem Sohn, mein Kind, aber Sie kennen ihn, möchte ich sagen, doch genug, um sich seiner erinnern zu können?«

»Gewiß, Maam, erinnere ich mich seiner.«

»Gut, liebes Kind. Und nun, mein Kind, muß ich Ihnen sagen, daß ich Ihnen viel Menschenkenntnis zutraue und gerne wissen möchte, was Sie von ihm halten.«

»O, Mrs. Woodcourt, das ist so schwer.«

»Warum sollte es schwer sein, liebes Kind? Ich sehe dann keine Schwierigkeit.«

»Ein Urteil abzugeben…«

»Nach so oberflächlicher Bekanntschaft, liebes Kind? Das ist allerdings wahr.«

Das meinte ich nicht, denn Mr. Woodcourt war im großen ganzen ziemlich viel in unserm Haus gewesen und mit meinem Vormund sehr vertraut geworden. Ich äußerte das und setzte hinzu, daß er sehr talentvoll in seinem Beruf zu sein scheine, und beispielsweise seine Güte und Freundlichkeit gegen Miß Flite über allem Lobe stünden.

»Sie lassen ihm Gerechtigkeit widerfahren«, sagte Mrs. Woodcourt und drückte mir die Hand. »Sie schildern ihn wirklich treffend. Allan ist ein lieber Junge und in seinem Beruf ohne Tadel. Ich gebe es zu, wenn ich auch seine Mutter bin. Dennoch muß ich gestehen, daß er nicht frei von Fehlern ist, meine Liebe.«

»Das ist keiner von uns«, sagte ich.

»Ja! Aber seine Fehler sind von der Art, daß er sie ablegen könnte und sollte«, erwiderte die muntere alte Dame und schüttelte lebhaft den Kopf. »Ich habe Sie so gern, daß ich Ihnen, liebes Kind, als einer dritten unbeteiligten Person in allem Vertrauen sagen kann, daß er die Unbeständigkeit selbst ist.«

Ich bemerkte, ich könnte es bei dem Ruf, den er sich erworben, kaum für möglich halten, daß er in seinem Beruf nicht beständig und nicht von jeher eifrig auf seine Ausbildung bedacht gewesen sei.

»Da haben Sie wieder Recht, liebes Kind; aber ich spreche nicht von seinem Beruf, müssen Sie wissen.«

»O!«

»Nein. Ich meine sein Benehmen in gesellschaftlicher Beziehung, mein Kind. Er macht stets jungen Damen harmlos den Hof und hat es seit seinem achtzehnten Jahr getan. Aber, liebes Kind, er hat sich dabei niemals etwas Ernstes gedacht und auch nichts Böses damit gemeint. Er hat nie etwas andres als Höflichkeit und Freundlichkeit damit ausdrücken wollen, aber dennoch ist es nicht recht, nicht wahr?«

»Nein«, sagte ich, da sie diese Antwort zu erwarten schien.

»Und es könnte leicht zu Irrtümern führen, sehen Sie.«

Ich gab das zu.

»Deshalb habe ich ihm oft gesagt, er solle sich sowohl aus Rücksicht gegen sich selbst wie gegen andre wirklich mehr in acht nehmen. Und stets hat er versprochen: ‚Mutter, das will ich. Aber du kennst mich am besten von allen Menschen und weißt, daß meine Absichten ganz harmlos sind, wenn ich mir überhaupt etwas dabei denke.‘ Alles das ist ja recht hübsch, mein Kind, kann sein Benehmen jedoch nicht rechtfertigen. Da er aber jetzt so weit von uns und auf unbestimmte Zeit weggegangen ist und es ihm drüben an guten Gelegenheiten und Bekanntschaften nicht fehlen wird, können wir das ja als vorbei und abgemacht betrachten. Und nun, liebes Kind«, sagte die alte Dame und wurde plötzlich ganz Nicken und Lächeln, »was nun Sie selbst betrifft, liebes Kind…«

»Mich, Mrs. Woodcourt?«

»Um nicht immer selbstsüchtigerweise von meinem Sohn zu sprechen, der uns verlassen hat, um sein Glück zu versuchen und eine Gattin zu finden, wann gedenken Sie Ihr Glück zu versuchen und einen Gatten zu finden, Miß Summerson? Ah, sehen Sie! Jetzt werden Sie rot.«

Ich glaube nicht, daß ich rot wurde – jedenfalls hatte es nichts zu bedeuten, wenn es geschah –, und ich sagte, daß ich mit meinem gegenwärtigen Los vollkommen zufrieden sei und mir kein besseres wünsche.

»Soll ich Ihnen sagen, was ich immer von Ihnen und Ihrem zukünftigen Schicksal denke, meine Liebe?«

»Wenn Sie glauben, eine gute Prophetin zu sein.«

»Nun, ich glaube, daß Sie einen sehr reichen und sehr würdigen Mann heiraten werden, der viel älter als Sie – vielleicht fünfundzwanzig Jahre älter ist. Und Sie werden eine vortreffliche Gattin sein, auf den Händen getragen werden und sich sehr glücklich fühlen.«

»Das ist ein sehr beneidenswertes Los«, sagte ich. »Aber warum soll es mir zufallen?«

»Liebes Kind, weil es eben ganz für Sie paßt. Sie sind so häuslich und sauber und im übrigen in so einer ganz besondern Lage, daß es bestimmt so kommen wird. Und niemand, liebes Kind, wird Ihnen aufrichtiger zu einer solchen Heirat Glück wünschen als ich.«

Es war merkwürdig, daß mich diese Rede in eine unbehagliche Stimmung versetzte, aber ich glaube, es war tatsächlich der Fall. Ich weiß es sogar. Es verstimmte mich einen Teil der Nacht lang außerordentlich. Ich schämte mich meiner Torheit so sehr, daß ich sie selbst nicht Ada bekennen mochte, und das vermehrte meine Mißstimmung noch. Ich hätte etwas darum gegeben, wenn mich die lebhafte alte Dame nicht so sehr ins Vertrauen gezogen hätte. Es verleitete mich zu den widersprechendsten Urteilen über sie. Manchmal erschien sie mir als geschwätzig und aufschneiderisch, manchmal wieder als ein Muster von Wahrheitsliebe. Kaum hatte ich sie im Verdacht, listig und verschlagen zu sein, erschien mir im nächsten Augenblick wieder ihr ehrliches welsches Herz vollkommen unschuldig und schlicht. Und was im Grunde kümmerte es mich und warum kümmerte es mich etwas! Warum sollte ich, wenn ich mit meinem Schlüsselkorb abends hinauf in mein Zimmer ging, nicht ein bißchen bei ihr vorsprechen, mich mit ihr ans Feuer setzen und mich eine kurze Zeit lang in ihre kleinen Eigenheiten fügen, wie ich es bei jedem andern machte, und warum sollte ich mich wegen der harmlosen Dinge, die sie mir erzählte, verstimmen lassen? Da es mich nun ein Mal, wie es der Fall war, zu ihr hinzog, denn es lag mir außerordentlich viel daran, ihre Neigung zu gewinnen, und es machte mir große Freude, daß ich ihr gefiel, warum sollte ich mich nachher mit wirklichem Schmerz und Leid über jedes ihrer Worte zergrübeln und es aber- und abermals auf der Goldwaage abwägen ? Warum war es mir so peinlich, sie als Gast bei uns zu haben und jeden Abend mit ihrem Vertrauen beschenkt zu werden? Das waren Verwicklungen und Widersprüche, die ich mir nicht erklären konnte. Wenigstens, wenn ich’s gekonnt hätte… Aber ich werde nach und nach alles erzählen, und es ist ganz überflüssig, jetzt sich damit abzugeben.

Es tat mir wirklich ehrlich leid, als Mrs. Woodcourt uns verließ, aber ich fühlte mich zugleich wie befreit. Und dann besuchte uns Caddy Jellyby und brachte einen solchen Stoß häuslicher Neuigkeiten mit, daß wir reichlich beschäftigt waren.

Erstens erklärte Caddy, und wollte anfangs überhaupt nichts anderes erzählen, daß ich die beste Ratgeberin von der Welt sei. Mein Liebling meinte, das sei durchaus nichts Neues, und ich sagte natürlich, es sei Unsinn. Dann teilte uns Caddy mit, daß sie sich nächsten Monat verheiraten werde und sich für das glücklichste Mädchen unter der Sonne halte, wenn Ada und ich ihre Brautjungfern sein wollten. Das war allerdings eine große Neuigkeit, und ich glaube, wir hätten am liebsten nie aufgehört, darüber zu reden, soviel hatte Caddy uns und wir ihr zu erzählen.

Wie es schien, war Caddys unglücklicher Vater dank der Nachsicht und der mitleidigen Teilnahme aller seiner Gläubiger durch den Bankrott »hindurchgerutscht«, wie Caddy sich ausdrückte – als ob es ein Tunnel wäre –, und war auf irgendeine segensreiche Weise seine Angelegenheiten losgeworden, ohne jemals Einsicht in sie erlangt zu haben. Er hatte alles, was er besaß – nach dem Zustand der Möbel zu urteilen, konnte das nicht sehr viel gewesen sein –, hergegeben und jedem Gläubiger nachgewiesen, daß er nicht mehr tun könne. Der Arme. So hatte man ihm in Ehren seine Schulden erlassen und ihn seinem Bureau zurückgegeben, damit er das Leben von neuem beginne. Was er in seinem Bureau eigentlich tat, habe ich nie erfahren. Caddy sagte, er sei Zollhaus- und Generalagent, und das einzige, was ich jemals von diesem Geschäft erfuhr, war, daß er immer in die Docks ging, wenn er Geld noch notwendiger als gewöhnlich brauchte, um welches auf zutreiben, daß es ihm aber kaum jemals gelang.

Sobald er ein solch geschorenes Lamm geworden und damit seine Seelenruhe verhältnismäßig wieder gewonnen hatte und die Familie in eine möblierte Wohnung in Hatton-Garden übersiedelt war, wo ich bei einem spätem Besuch die Kinder beschäftigt fand, das Roßhaar aus den Stuhlsitzen zu schneiden, um sich gegenseitig damit den Mund zu verstopfen, brachte Caddy zwischen ihm und dem alten Mr. Turveydrop eine Zusammenkunft zustande, und der arme Mr. Jellyby hatte sich in seiner Demut und Bescheidenheit vor Mr. Turveydrops Allüren so unterwürfig gebeugt, daß sie vortreffliche Freunde geworden waren. Der alte Mr. Turveydrop, auf diese Weise mit dem Gedanken an seines Sohnes Verheiratung vertraut gemacht, hatte allmählich seine väterlichen Gefühle bis zu der Höhe gesteigert, daß er sich das Ereignis als nahe bevorstehend denken konnte und dem jungen Paare seine gnädige Erlaubnis erteilte, in der Akademie der Newmanstreet zu wirtschaften anzufangen, sobald sie wollten.

»Und dein Papa, Caddy? Was sagt er dazu?«

»Ach, der arme Papa weinte nur und sagte, er hoffe, wir würden glücklicher miteinander sein als er und Ma. Er sagte das nicht vor Prince, sondern bloß zu mir und setzte hinzu: ‚Mein armes Kind, man hat dich zu Hause nicht besonders gut unterwiesen, wie du deinem Gatten eine Häuslichkeit bereiten sollst, aber wenn du nicht mit ganzem Herzen bestrebt bist, es zu tun, so ermorde ihn lieber, als daß du ihn heiratest, wenn du ihn wirklich gern hast.’«

»Und hast du ihn beruhigt, Caddy?«

»Ach, es war natürlich sehr schmerzlich, den armen Papa so niedergeschlagen zu sehen und ihn so schreckliche Dinge sagen zu hören, und ich mußte selbst mitweinen. Ich sagte ihm, daß es mein aufrichtigster Herzenswunsch sei und daß ich hoffte, unser Haus werde für ihn ein Ort werden, wo er des Abends eine gemütliche Umgebung finden könnte, und daß ich hoffte und glaubte, ich werde ihm dort eine bessere Tochter sein können als daheim. Dann erwähnte ich, daß Peepy zu mir kommen würde, und da fing Papa wieder an zu weinen und sagte, die Kinder wären Indianer.«

»Indianer, Caddy?«

»Ja, wilde Indianer. Und Papa sagte, er sehe ein, das Beste, was ihnen geschehen könnte, wäre, wenn man sie allesamt mit dem Tomahawk erschlüge.«

Ada meinte, es sei ein Trost, zu wissen, daß es Mr. Jellyby mit seinen Zerstörungsgelüsten nicht ernst sei.

»Natürlich weiß ich, daß Papa nicht wünscht, seine Familie sich in ihrem Blut wälzen zu sehen«, sagte Caddy. »Aber er meint, daß es ein Unglück für die Kinder ist, eine solche Mutter zu haben, und ein Unglück für ihn, Mas Gatte zu sein. Und das ist gewiß wahr, wenn es auch unnatürlich klingt, daß ich es bestätige.«

Ich fragte Caddy, ob Mrs. Jellyby wisse, daß der Hochzeitstag bereits festgesetzt sei.

»Ach, du weißt, wie Ma ist, Esther«, antwortete sie. »Es ist rein unmöglich zu sagen, ob sie es weiß oder nicht. Man hat es ihr oft genug erzählt, aber so oft man darauf zu sprechen kommt, wirft sie nur einen friedlichen Blick auf mich, als wäre ich – ich weiß nicht was – ein Kirchturm in der Ferne. Und dann schüttelt sie den Kopf und sagt: ‚O Caddy, o Caddy, wie du mich quälst!‘ und arbeitet an ihren Borriobula-Briefen weiter.«

»Und wie steht’s mit deiner Garderobe, Caddy?« – Sie brauchte sich uns gegenüber ja nicht zu genieren. –

»Ach, liebe Esther«, entgegnete sie und trocknete sich die Augen, »ich muß es machen, so gut ich kann, und meinem lieben Prince vertrauen, er werde nie unfreundlich daran zurückdenken, daß ich so schäbig zu ihm gekommen bin. Wenn es sich um eine Ausstattung für Borriobula-Gha handelte, so würde Ma alles ganz genau wissen und im höchsten Grad aufgeregt darüber sein. Aber so weiß sie nichts und kümmert sich um nichts.«

Es fehlte Caddy durchaus nicht an natürlicher Liebe zu ihrer Mutter, und sie erwähnte nur die nackte Tatsache mit Tränen in den Augen. Uns tat das arme gute Mädchen so leid, und wir mußten ihre gute natürliche Veranlagung, die trotz so entmutigender Verhältnisse nicht zugrunde gegangen war, so bewundern, daß wir beide zugleich, nämlich Ada und ich, einen kleinen Plan in Vorschlag brachten, der Caddy in größte Freude versetzte. Er bestand darin, daß sie uns auf drei Wochen und ich sie auf eine Woche besuchen sollte und daß wir uns alle drei bemühen wollten, durch Schneidern, Ausbessern, Nähen und dergleichen unser möglichstes für ihre Garderobe zu tun.

Da mein Vormund sich über den Plan ebenso freute wie Caddy, begleiteten wir sie der nötigen Vorbereitungen wegen am nächsten Tag schon nach London und brachten sie im Triumph mit ihren Schachteln und all den Einkäufen für eine Zehnpfundnote, die Mr. Jellyby vermutlich in den Docks gefunden hatte, ihr aber jedenfalls schenkte, zurück.

Was mein Vormund ihr erst alles geschenkt hätte, wenn wir ihn dazu aufgemuntert hätten, wäre schwer zu sagen, aber wir hielten es für recht, ihm nicht mehr als ein Hochzeitskleid und einen Hut zu gestatten. Er ging auf den Vergleich ein, und Caddy war überglücklich, als wir uns zur Arbeit hinsetzten.

Sie war anfangs ungeschickt genug mit der Nadel, das arme Kind, und stach sich jetzt so oft in die Finger, wie sie sich früher mit Tinte beschmiert hatte. Sie wurde dann meistens ein wenig rot, teils vor Schmerz, teils aus Verdruß über ihre Ungeschicklichkeit, gewöhnte sich das aber bald ab und machte rasche Fortschritte. So saßen sie und mein Liebling, meine kleine Zofe Charley und eine Putzmacherin aus der Stadt und ich Tag für Tag in eifriger Arbeit und so gemütlich wie möglich beisammen.

Außerdem war Caddy sehr besorgt, »wirtschaften zu lernen«, wie sie es nannte. Nun war aber, gütiger Himmel, der Gedanke, sie könnte von einer Person von meiner unermeßlichen Erfahrung wirtschaften lernen, ein solcher Spaß, daß ich lachte und rot wurde und über ihren Vorschlag in Verlegenheit geriet. Ich sagte: »Caddy, gewiß will ich dich alles lehren, was du von mir lernen kannst, liebes Kind«, und ich zeigte ihr alle meine Bücher und Methoden und alle meine kleinen Einrichtungen. Wie sie zuhörte und zusah, hätte man meinen können, ich offenbarte ihr die wundervollsten Erfindungen, und wer sie hätte jedes Mal aufstehen und mit mir kommen sehen, so oft ich mit meinen Wirtschaftsschlüsseln klingelte, hätte gewiß gedacht, daß es nie einen größeren Charlatan gegeben als mich und einen blindem Anhänger als Caddy Jellyby.

So vergingen mit Arbeiten und Wirtschaften, Unterrichtsstunden für Charley und dem Pochbrettspielen abends mit meinem Vormund und Duetten mit Ada die drei Wochen schnell genug. Dann begleitete ich Caddy nach Hause, um zu sehen, was sich dort tun lasse, und Ada und Charley blieben zurück, um für meinen Vormund zu sorgen.

Wenn ich sage, ich begleitete Caddy nach Hause, so meine ich damit die möblierte Wohnung in Hatton-Garden. Wir gingen zwei oder drei Mal nach Newmanstreet, wo ebenfalls allerlei Vorbereitungen im Gange waren. Ziemlich viel, wie ich bemerkte, um die Behaglichkeit des alten Mr. Turveydrop zu vermehren, und einige wenige, um das junge Paar billig im obersten Stock des Hauses unterzubringen. Unser Hauptziel jedoch war, die möblierte Wohnung für das Hochzeitsfrühstück anständig herzurichten und Mrs. Jellyby vorher ein schwaches Bewußtsein von der kommenden Feier einzuimpfen.

Letzteres war das schwerste von beiden, weil Mrs. Jellyby und ein kränklicher, blasser Knabe das vordere Wohnzimmer inne hatten – das rückwärtige war bloß eine Kammer. Der Fußboden war mit einer dichten Schicht von Papierfetzen und Borriobula-Dokumenten bedeckt wie ein liederlich gehaltner Stall mit Streu. Mrs. Jellyby saß hier den ganzen Tag, trank starken Kaffee, diktierte und hielt Borriobula-Konferenzen ab. Der kränkliche blasse Knabe, der im ersten Stadium der Schwindsucht zu stehen schien, aß außer Hause.

Wenn Mr. Jellyby heim kam, stöhnte er gewöhnlich und ging hinab in die Küche. Dort bekam er etwas zu essen, wenn die Köchin ihm etwas gab, und dann fühlte er, daß er im Wege war, und ging draußen in der Nässe in Hatton-Garden spazieren. Die armen Kinder kletterten und purzelten im Hause herum, wie sie es von jeher gewohnt gewesen.

Die armen kleinen Opfer in der kurzen Frist einer Woche in einen nur irgend präsentablen Zustand zu versetzen, war einfach unmöglich, und ich schlug Caddy daher vor, sie an ihrem Hochzeitsmorgen in der Dachkammer – wo sie alle schliefen – so glücklich wie möglich zu machen und unser Hauptaugenmerk auf ihre Mama und deren Zimmer und die Vorbereitungen für ein reinliches Hochzeitsfrühstück zu beschränken. Wirklich erforderte Mrs. Jellyby ziemlich viel Aufmerksamkeit, denn das Gitterwerk auf ihrem Rücken hatte sich seit dem Tag unsrer ersten Bekanntschaft erheblich vergrößert und ihr Haar sah aus wie die Mähne eines Kehrichtwagenpferdes. Da mir eine allgemeine Besichtigung von Caddys Garderobe das beste Mittel zu sein schien, mich dem Thema auf Schleichwegen zu nähern, lud ich Mrs. Jellyby eines Abends, als der kränkliche Knabe fortgegangen war, ein, sich die Sachen, die auf Caddys Bett ausgebreitet waren, anzusehen.

»Meine liebe Miß Summerson«, sagte sie und stand mit ihrer gewohnten freundlichen Gelassenheit vom Schreibtisch auf, »das sind wahrhaft lächerliche Vorbereitungen, wenn es auch ein Beweis Ihrer Güte ist, daß Sie sich so sehr darum bemühen. Es liegt für mich etwas unaussprechlich Absurdes in dem Gedanken, daß Caddy heiratet. O Caddy, du törichtes, törichtes, törichtes Gänschen!«

Nichtsdestoweniger begleitete sie mich hinauf und besah sich die Kleider in ihrer gewohnten geistesabwesenden Art. Sie gaben ihr sogar einen bestimmten Gedanken ein, denn sie sagte mit ihrem friedlichen Lächeln kopfschüttelnd: »Meine gute Miß Summerson, mit dem halben Gelde hätte man ein Kind für Afrika ausstatten können.«

Wir gingen dann wieder hinunter, und Mrs. Jellyby fragte mich, ob das störende Geschäft des Heiratens wirklich nächsten Mittwoch stattfinden sollte. Als ich bejahte, sagte sie: »Wird man mein Zimmer brauchen, liebe Miß Summerson? Es ist mir ganz unmöglich, meine Papiere wegzuschaffen.«

Ich nahm mir die Freiheit, zu bemerken, daß wir das Zimmer jedenfalls brauchen würden und die Papiere irgendwohin schaffen müßten.

»Nun, Sie müssen es am besten wissen, liebe Miß Summerson«, sagte Mrs. Jellyby. »Aber dadurch, daß mich Caddy genötigt hat, einen Knaben aufzunehmen, hat sie mich bei meiner Überbürdung mit Geschäften für das öffentliche Wohl so in Verlegenheit gebracht, daß ich nicht weiß, wohin ich mich wenden soll. Wir haben überdies Mittwoch nachmittag Zweigvereinsversammlung, und die Störung durch die Hochzeit kommt daher recht ungelegen.

»Es wird so leicht nicht wieder vorkommen«, tröstete ich sie lächelnd. »Caddy wird sich wahrscheinlich nur ein Mal verheiraten.«

»Das ist richtig«, gab Mrs. Jellyby zu. »Das ist richtig, liebes Kind. Wir müssen uns also wohl, so gut es eben geht, hinein schicken.«

Die nächste Frage war, was Mrs. Jellyby zu der Feierlichkeit anziehen sollte. Es war so seltsam, wie sie von ihrem Schreibtisch herüber uns so heiter und ruhig anblickte, während Caddy und ich darüber zu Rate gingen, und gelegentlich mit einem vorwurfsvollen Lächeln den Kopf schüttelte wie ein überlegner Geist, der langmütig solche Tändeleien duldet.

Der Zustand, in dem sich ihre Kleider befanden, und das außerordentliche Durcheinander, in dem sie sie aufbewahrte, vermehrten nicht wenig die Schwierigkeit unsres Unternehmens. Aber schließlich brachten wir doch etwas zustande, was dem, was eine Durchschnittsmutter bei einer solchen Veranlassung getragen haben würde, nicht direkt unähnlich sah.

Die Geistesabwesenheit, mit der Mrs. Jellyby sich ihr Kleid von der Putzmacherin anprobieren ließ, und die Freundlichkeit, mit der sie sodann zu mir äußerte, wie leid es ihr tue, daß ich meine Gedanken nicht lieber Afrika gewidmet habe, paßten so recht zu ihrem ganzen übrigen Benehmen.

Die Wohnung war hinsichtlich Raum ziemlich beschränkt; aber ich glaube, die St. Pauls- oder St. Peterskirche in ihrer ganzen gewaltigen Größe hätte für Mrs. Jellybys Haushalt höchstens auch nur dazu ausgereicht, um darin mehr Schmutz entfalten zu können. Ich glaube nicht, daß irgend etwas überhaupt Zerbrechliches aus dem Familienbesitz zur Zeit dieser Hochzeitsvorbereitungen noch nicht zerbrochen war. Nichts, was irgendwie verderben konnte, war unverdorben. Kein häuslicher Gegenstand, vom Knie eines lieben Kindes an bis zu einem Türschild, der überhaupt schmutzig werden konnte, war ohne soviel Schmutz, als sich nach physikalischen Gesetzen darauf ansammeln konnte.

Der arme Mr. Jellyby, der sehr selten sprach und zu Hause fast stets mit dem Kopf an die Wand gelehnt dasaß, faßte ein lebhaftes Interesse, als er Caddy und mich bemüht sah, einigermaßen Ordnung inmitten dieser Verwirrung und Zerrüttung herzustellen, und zog seinen Rock aus, um mitzuhelfen. Aber so wunderbare Dinge kamen in den Schränken zum Vorschein –verschimmelte Stückchen von Pasteten, versäuerte Flaschen, Mrs. Jellybys Mützen, Briefe, Tee, Gabeln, einzelne Kinderstiefel und Schuhe, Unterzünder, Oblaten, Topfdeckel, naßgewordner Zucker in einer Anzahl Papiertüten, Fußschemelbestandteile, Stiefelbürsten, Brot, Damenhüte, Bücher, auf deren Einband Butter klebte, – Lichtstümpfe, die man verkehrt in zerbrochne Leuchter gesteckt hatte, um sie auszulöschen, – Nußschalen, Köpfe und Schwänze von Krebsen, Tischdecken, Handschuhe, Kaffeesatz, Regenschirme –, daß er ein erschrockenes Gesicht machte und es aufgab. Aber regelmäßig kam er jeden Abend herein und setzte sich in Hemdsärmeln, den Kopf an die Wand gelehnt, hin, als hätte er uns gern geholfen und wüßte nur nicht, wie.

»Armer Papa«, sagte Caddy am Abend vor dem großen Tag zu mir, als wirklich ein wenig Ordnung hergestellt war. »Es ist eigentlich grausam, ihn zu verlassen, Esther. Aber was könnte ich tun, wenn ich bliebe? Seit ich dich kennen gelernt habe, habe ich immer und immer wieder aufgeräumt und geputzt, aber es half nichts. Ma vereint mit Afrika stellt das ganze Haus auf den Kopf. Wir haben nie einen Dienstboten, der nicht tränke. Ma verdirbt alles.«

Mr. Jellyby konnte nicht gehört haben, was sie sagte, aber er war sehr niedergeschlagen und weinte, wie mir schien.

»Mir tut das Herz weh, wenn ich an ihn denke, wahrhaftig!« schluchzte Caddy. »Ich kann mich heute abend des Gedankens nicht erwehren, wo ich doch von ganzer Seele hoffe, mit Prince glücklich zu werden, daß gewiß auch Papa einst wähnte, mit Ma glücklich zu sein. Was für ein Leben voller Enttäuschungen!«

»Meine liebe Caddy«, sagte Mr. Jellyby und kehrte uns langsam sein Gesicht von der Wand her zu. Ich glaube, es war das erste Mal, daß ich drei zusammenhängende Worte von ihm hörte.

»Ja, Papa?« rief Caddy, ging zu ihm hin und umarmte ihn liebreich.

»Meine liebe Caddy, nimm niemals…«

»Niemals Prince, Pa?« stotterte Caddy. »Niemals…«

»Doch, liebes Kind«, sagte Mr. Jellyby. »Nimm ihn jedenfalls. Aber nimm niemals…«

Ich erinnerte mich, daß schon bei unserm ersten Besuch in Thavies Inn Richard von Mr. Jellyby behauptet hatte, er pflege häufig den Mund aufzumachen, ohne etwas zu sagen. Es war wirklich seine Gewohnheit. Er machte jetzt viele Male den Mund auf und schüttelte trübsinnig den Kopf.

»Was soll ich niemals nehmen, was denn, lieber Papa?« fragte Caddy und hing liebkosend an seinem Hals.

»Nimm nie eine Mission auf dich, mein liebes Kind.«

Er stöhnte und lehnte den Kopf wieder an die Wand. Es war das erste Mal, daß ich von ihm eine Meinungsäußerung über die Borriobula-Frage hörte. Ich glaube, er muß in früheren Zeiten gesprächig und lebhaft gewesen sein, aber er schien es lange, bevor ich ihn kennen lernte, ganz und gar aufgegeben zu haben.

Ich glaubte, Mrs. Jellyby wollte diese Nacht überhaupt nicht aufhören, mit heiter ruhigem Blick ihre Papiere durchzusehen und dabei Kaffee zu trinken. Es schlug zwölf Uhr, ehe wir von dem Zimmer Besitz ergreifen konnten, und das Aufräumen war so entmutigend, daß Caddy, sowieso schon ganz erschöpft, sich mitten in den Staub hinsetzte und weinte. Aber sie wurde bald wieder fröhlich, und wir verrichteten wahre Wunder in der Stube, ehe wir zu Bett gingen.

Des Morgens früh sah es mit Hilfe einiger Blumen, eines großen Aufwandes von Seife und Wasser und ein bißchen Aufräumens ganz freundlich aus. Der einfache Frühstückstisch nahm sich recht hübsch aus, und Caddy war wirklich entzückend. Aber als mein Liebling kam, glaubte ich und glaube es noch jetzt, noch nie etwas Schöneres als Ada gesehen zu haben.

Für die Kinder machten wir ein kleines Festmahl zurecht, übergaben Peepy den Vorsitz an der Tafel und zeigten ihnen Caddy in ihrem Brautkleid. Und sie klatschten in die Hände und riefen: »Hurra!« Nur Caddy weinte bei dem Gedanken, sie jetzt verlassen zu müssen, und drückte sie immer und immer wieder ans Herz, bis wir Prince heraufkommen ließen, um sie abzuholen. Leider, wie ich gestehen muß, biß ihn Peepy bei dieser Gelegenheit.

Unten fanden wir den alten Mr. Turveydrop in unbeschreiblich vornehmer Haltung. Er segnete Caddy huldreich und gab meinem Vormund zu verstehen, daß seines Sohnes Glück sein väterliches Werk sei und er persönliche Rücksichten ganz aus dem Spiel lasse, um es zu sichern.

»Wertgeschätzter Herr«, sagte er, »die jungen Leute werden bei mir wohnen. Mein Haus ist groß genug für sie. Und es soll ihnen nicht an Schutz und Obdach unter meinem Dache fehlen. Ich hätte es gerne gesehen – Sie werden die Andeutung verstehen, Mr. Jarndyce, denn Sie erinnern sich noch meines hohen Gönners, des Prinzregenten –, ich hätte es gerne gesehen, daß mein Sohn in eine Familie mit vornehmeren Allüren geheiratet hätte, aber der Wille des Himmels geschehe!«

Mr. und Mrs. Pardiggle waren ebenfalls eingeladen. – Mr. Pardiggle, ein eigensinnig aussehender Mann mit einer langen Weste und struppigem Haar, sprach beständig mit tiefer Baßstimme von seinem Scherflein, Mrs. Pardiggles Scherflein und seiner fünf Knaben Scherflein. Mr. Quale, das Haar wie gewöhnlich zurückgebürstet und die Beulen an den Schläfen glänzend wie immer, war gleichfalls gekommen, nicht als enttäuschter Liebhaber, sondern als Erklärter einer jungen – besser gesagt, unverheirateten – Dame, einer gewissen Miß Wisk. Miß Wisks Mission war, der Welt zu zeigen, daß die Mission des Weibes die Mission des Mannes sei und daß die einzig echte Mission von Mann und Weib sei, in öffentlichen Versammlungen über allgemeine Grundsätze rastlos erklärende Behauptungen aufzustellen.

Es waren nur wenig Gäste, aber sie widmeten sich sämtlich, wie man nicht anders erwarten konnte, der öffentlichen Wohlfahrt. Außer den bereits erwähnten war eine außerordentlich schmutzige Dame anwesend mit ganz schiefem Hut, den Preiszettel noch am Kleid, deren Haus, wie mir Caddy erzählte, die reinste Wildnis sei. Ein sehr streitsüchtiger Herr, dessen Mission, wie er sagte, war, jedermanns Bruder zu sein, was ihn aber nicht hinderte, mit seiner ganzen großen Weltfamilie auf gespanntem Fuß zu stehen, vervollständigte die Gesellschaft. Eine weniger zu einer solchen Festlichkeit passende Gästeschar hätte selbst das größte Genie nicht zusammenstellen können. Eine so gewöhnliche Mission wie die Mission der Häuslichkeit war das allerletzte, was sie hätten ertragen können, und Miß Wisk äußerte mit größter Empörung vor dem Frühstück, daß die Zumutung, die Mission des Weibes läge hauptsächlich in der engen Sphäre der Häuslichkeit, eine niederträchtige Herabwürdigung von seiten der Tyrannen, nämlich der Männer, bedeute. Eine andre Eigentümlichkeit war, daß kein mit einer Mission behafteter – außer Mr. Quale, dessen Mission, wie bereits früher erwähnt, war, von der anderer begeistert zu sein – sich auch nur im mindesten um die Mission seines Nebenmenschen bekümmerte.

Mrs. Pardiggle war genau so davon durchdrungen, daß der einzig unfehlbare Beruf der ihre sei, über Arme herzufallen und ihnen Wohltaten zu applizieren wie eine Zwangsjacke, wie Miß Wisk überzeugt war, daß das einzig richtige für die Welt die Emanzipation der Frau von dem Joche ihres Tyrannen, des Mannes, sei. Mrs. Jellyby lächelte die ganze Zeit über die Beschränktheit eines Blickes, der etwas anderes als Borriobula-Gha sehen konnte.

Aber ich spreche schon von unsrer Unterhaltung auf der Heimfahrt.

Vorher gingen wir alle in die Kirche, und Mr. Jellyby gab Caddy das Geleit. Von der Grazie, mit der der alte Mr. Turveydrop seinen Zylinder unter dem linken Arm trug, das Innere dem Geistlichen wie eine Kanonenmündung zugekehrt, und mit Augen, die fast unter seiner Perücke verschwanden, steif und hochschultrig während der Feierlichkeit hinter uns Brautjungfern stand und uns nachher küßte, werde ich nie entsprechend schildern können. Miß Wisk, von der ich nicht behaupten kann, daß ihr Äußeres besonders anziehend gewesen wäre, hörte der Zeremonie als einem neuen Beweis der Sklaverei des Weibes mit verachtungsvoller Miene zu. Mrs. Jellyby mit ihrem ruhigen Lächeln und ihren heitern Augen war sichtlich die Unbeteiligste von der ganzen Gesellschaft.

Wir fuhren zum Frühstück wieder in die Wohnung zurück, und Mr. und Mrs. Jellyby setzten sich an die beiden Schmalenden der Tafel. Caddy hatte sich vorher hinauf geschlichen, um die Kinder nochmals zu umarmen und ihnen zu sagen, sie heiße jetzt Turveydrop. Aber diese Nachricht verursachte Peepy, anstatt auf ihn wohltätig zu wirken, einen derartigen Schmerz, daß er sich auf den Rücken warf und mit den Beinen strampelte. Als man mich zu Hilfe holte, konnte ich auch nichts weiter tun, als dem Vorschlag, ihn mit zur Frühstückstafel zu nehmen, beizustimmen. So kam er denn herunter und setzte sich auf meinen Schoß, und Mrs. Jellyby war, nachdem sie in bezug auf den Zustand seines Lätzchens gesagt hatte: »Du nichtsnutziger Peepy, was für ein abscheuliches kleines Schwein du bist!« nicht im mindesten aus der Fassung gebracht. Er benahm sich im allgemeinen sehr gut, nur bestand er darauf, daß er den Noah – aus seiner Arche, die ich ihm vor dem Kirchgang gekauft – in die Weingläser tunken und dann in den Mund stecken durfte.

Mein Vormund verstand es mit seiner guten Laune, seinem feinen Takt und seinem liebenswürdigen Benehmen, selbst aus der ungemütlichsten Gesellschaft etwas Angenehmes zu machen. Keiner der Gäste schien von etwas anderm als von seiner eignen Mission sprechen zu können, aber mein Vormund wußte alles in heiterer Weise zu Ehren der Feier und zur Aufmunterung Caddys zu drehen und steuerte uns sicher durch die Gefahren des Frühstücks. Was wir ohne ihn gemacht hätten, fürchte ich mich fast auszudenken, denn da jeder auf Braut und Bräutigam von oben herabsah und sich der alte Mr. Turveydrop infolge seines vornehmen Anstandes und seiner Allüren der ganzen Gesellschaft unendlich überlegen hielt, war es ein geradezu verzweifelter Fall.

Endlich kam die Zeit, wo die arme Caddy Abschied nehmen mußte und ihr ganzes Hab und Gut auf den gemieteten Zweispänner, der sie und ihren Gatten nach Gravesend bringen sollte, gepackt wurde.

Es war rührend, wie sie sich jetzt gar nicht von dem Vaterhaus, das ihr so jämmerlich wenig geboten, trennen konnte und mit der größten Zärtlichkeit am Halse der Mutter hing.

»Es tut mir so leid, daß ich nicht länger diktando schreiben konnte, Ma«, schluchzte sie. »Ich hoffe, du verzeihst mir jetzt.«

»Ach Caddy, Caddy«, seufzte Mrs. Jellyby. »Ich habe dir doch oft genug gesagt, daß ich einen Knaben aufgenommen habe, und damit ist’s abgemacht.«

»Bist du auch ganz gewiß nicht ein bißchen böse mehr auf mich, Ma? Sage, daß du’s nicht bist, ehe ich weggehe, Ma!«

»Du närrische Caddy«, entgegnete Mrs. Jellyby. »Sehe ich böse aus oder neige ich überhaupt zum Bösesein? Oder habe ich Zeit dazu?«

»Gib ein bißchen auf Papa acht, wenn ich fort bin, Ma!«

Mrs. Jellyby lachte geradezu über diesen Einfall. »Du romantisches Kind!« sagte sie und klopfte Caddy auf den Rücken. »Geh nur. Es liegt nicht der geringste Schatten zwischen uns. Jetzt leb wohl, Caddy, und sei recht glücklich.«

Dann umarmte Caddy ihren Vater und legte seine Wange an ihre, als wäre er ein krankes Kind, und konnte sich gar nicht von ihm losreißen.

Alles dies spielte sich in der Vorhalle ab. Der Vater ließ sie los, zog sein Taschentuch heraus, setzte sich auf die Treppe und lehnte den Kopf an die Wand. Ich hoffe, daß ihn das einigermaßen getröstet hat. Ich glaube es sogar.

Und dann nahm Prince ihren Arm und wandte sich in großer Ergriffenheit und Verehrung zu seinem Vater, dessen Anstand und Allüren in diesem Augenblick sich in geradezu überwältigender Weise entfalteten.

»Ich danke dir aber- und abermals, Vater«, sagte Prince und küßte ihm die Hand. »Ich bin dir unendlich dankbar für all deine Güte und deine Rücksicht betreffs unsrer Heirat. Und dasselbe, kann ich dir versichern, fühlt auch Caddy.«

»Sehr«, schluchzte Caddy, »seh-e-r.«

»Mein lieber Sohn«, antwortete Mr. Turveydrop, »und du, meine liebe Tochter, ich habe meine Pflicht getan. Wenn der Geist der Verewigten über uns schwebt und jetzt herabblickt, so ist das und eure beständige Liebe mein Dank, mein Sohn. Ihr werdet euere Pflicht, mein Sohn und meine Tochter, doch niemals vergessen?«

»Teurer Vater, nie!« rief Prince.

»Nie, nie, lieber Mr. Turveydrop!« beteuerte auch Caddy.

»So sei es! Meine Kinder, mein Haus gehört euch, mein Herz ist euer. Und alles, was mein ist. Ich will euch nie verlassen, und nur der Tod soll uns scheiden. Mein lieber Sohn, gedenkst du wirklich, eine ganze Woche wegzubleiben?«

»Eine Woche, lieber Vater. Wir kommen heute über acht Tage wieder nach Hause.«

»Mein liebes Kind, ich muß dir selbst unter den gegenwärtigen Ausnahmeverhältnissen strengste Pünktlichkeit empfehlen. Es ist von höchster Wichtigkeit, mit der Kundschaft in Fühlung zu bleiben. Wenn man Schulen auch nur im mindesten vernachlässigt, so rächt sich das leicht.«

»Heute über acht Tage, Vater, sind wir gewiß zum Mittagessen wieder zu Hause.«

»Gut«, sagte Mr. Turveydrop. »Euer Zimmer wird geheizt sein, liebe Caroline, und das Essen in meinem eignen Appartement bereit stehen. Ja, ja, Prince«, kam er einem bescheidnen Einwand von Seiten seines Sohns mit einer großartigen Geste zuvor, »Du und unsre Caroline werden sich im obern Teil des Hauses noch nicht heimisch fühlen, und ich will deshalb, daß ihr für diesen Tag in meinem Appartement diniert. Und nun behüt euch Gott!«

Sie fuhren fort. Ob ich mich mehr über Mrs. Jellyby oder über Mr. Turveydrop wundern sollte, wußte ich nicht. Mein Vormund und Ada sprachen darüber, und es ging ihnen ebenso.

Ehe wir uns empfahlen, machte mir Mr. Jellyby ein höchst unerwartetes und beredtes Kompliment. Er kam im Vorzimmer auf mich zu, ergriff meine beiden Hände, drückte sie und machte zwei Mal den Mund auf und zu.

Ich wußte so genau, was er meinte, daß ich ganz verlegen abwehrte: »Bitte, sprechen Sie nicht davon, Sir.«

»Ich hoffe, diese Heirat fällt gut aus, Vormund«, sagte ich, als wir drei nach Hause fuhren.

»Ich hoffe, Mütterchen! Geduld. Wir werden sehen!«

»Ist heute Ostwind?« wagte ich zu fragen.

Er lachte herzlich und verneinte.

»Aber diesen Morgen muß Ostwind gewesen sein, glaube ich?«

Er verneinte wieder, und dieses Mal sagte auch mein Liebling ganz zuversichtlich nein und schüttelte das hübsche Köpfchen, das mit den Blumen in dem blonden Haar wie der Lenz selbst aussah.

»Was weißt du denn von Ostwind, mein häßlicher Liebling«, sagte ich und mußte sie in meiner Bewunderung küssen – ich konnte mir nicht helfen.

Ach, ich weiß gar wohl, daß nur die Liebe der beiden zu mir die Ursache war, daß sie mir das sagten. Ich muß es hinschreiben, selbst wenn ich es wieder ausstreichen sollte, weil es mir soviel Freude macht: Sie sagten mir, es könne kein Ostwind sein, wo ein gewisser Jemand sei. Wo Mütterchen Hubbart sei, da sei Sonnenschein und Sommerluft.

31. Kapitel


31. Kapitel

Wärterin und Kranke

Ich war noch nicht viele Tage wieder zu Hause, als ich eines Abends hinauf in mein Zimmer ging, um Charley über die Schulter zu gucken und zu sehen, wie sie mit ihren Schreibübungen vorankäme. Schreiben war eine harte Arbeit für Charley. Sie schien keine Macht über die Feder zu haben, die in ihrer Hand ein widerspenstiges Leben zu bekommen schien, ausglitschte, krumm ging, stehen blieb, spritzte und sich in die Ecken drängte wie ein Reitesel. Es war seltsam, was für alte Buchstaben Charleys junge Hand machte. Buchstaben, so runzlig und verschrumpft und schlottrig, und die Hand so voll und rund! Und wie ungewöhnlich geschickt Charley in andern Dingen war! Sie hatte so gewandte kleine Finger wie nur irgend jemand.

»Nun, Charley, wir machen Fortschritte«, ermutigte ich sie, als ich eine ganze Seite voll Os betrachtete, auf der alle möglichen drei- und viereckigen, birnenförmigen und schiefstehenden Formen zu sehen waren. »Wenn es uns erst einmal gelingt, sie rund zu kriegen, sind wir Meister, Charley.«

Dann machte ich ein O, und Charley machte eins. Charleys Feder wollte es aber nicht zusammenschließen, sondern geruhte, es zu einem Knoten zu wirbeln.

»Tut nichts, Charley. Wir werden es mit der Zeit schon lernen.«

Charley war mit ihrem Pensum fertig, legte die Feder hin, machte das steifgewordne Händchen auf und zu, besah mit ernstem Gesicht, halb stolz, halb zweifelhaft, die Seite, stand auf und knickste.

»Ich danke Ihnen, Miß. Wenn Sie erlauben, Miß, haben Sie nicht eine arme Frau namens Jenny gekannt?«

»Die Frau eines Ziegelstreichers, Charley«

»Ja. Sie redete mich vor kurzem an, als ich ausging, und sagte, sie kenne Sie, Miß. Sie fragte mich, ob ich nicht die kleine Zofe der jungen Dame sei – sie meinte Sie, Miß –, und ich sagte ja, Miß.«

»Ich dachte, sie wäre weggezogen, Charley.«

»Sie war auch weg, Miß, aber ist wieder in ihre alte Wohnung zurückgekommen – sie und Liz. Haben Sie die andre arme Frau namens Liz gekannt, Miß?«

»Ich glaube wohl, wenn auch nicht dem Namen nach.«

»Sie hat das auch gesagt«, entgegnete Charley. »Sie sind beide zurückgekehrt, Miß, und haben sich weit und breit herumgetrieben.«

»Weit und breit herumgetrieben haben sie sich, Charley?«

»Ja, Miß.«

Wenn Charley die Buchstaben in ihrem Schreibheft nur so rund hätte machen können wir ihre Augen, als sie mich dabei ansah, wären sie vortrefflich gewesen.

»Und diese arme Frau kam vor drei oder vier Tagen hierher ins Haus in der Hoffnung, Sie zu sehen, Miß. Weiter wollte sie nichts, sagte sie. Aber Sie waren nicht da. Sie sah mich herumgehen, Miß«, sagte Charley und lachte voll Freude und Stolz, »und meinte, ich sähe ganz wie Ihre Zofe aus.«

»Meinte sie das wahrhaftig, Charley?«

»Ja, Miß, wirklich und wahrhaftig.«

Charley machte wieder kreisrunde Augen, lachte fröhlich auf und sah dann so ernsthaft drein, wie es sich für meine Zofe schickte. Ich konnte mich nie satt an Charley im Vollgenuß ihrer großen Würde sehen, wenn sie mit ihrem jungen Gesicht, ihrer kindlichen Gestalt und doch so gesetztem Ausdruck vor mir stand und ihre kindliche Freude dann und wann auf das reizendste die Hülle durchbrach.

»Und wo hast du sie gesehen, Charley?«

Das Gesicht meiner kleinen Zofe trübte sich, als sie zur Antwort gab: »Vor der Apotheke, Miß«, denn sie trug noch ihren schwarzen Trauerrock.

Ich fragte, ob die Frau des Ziegelstreichers krank sei, aber Charley sagte: »Nein. Jemand anders. Ein armer Junge in ihrer Hütte, der sich bis St. Albans geschleppt hat und ohne Ziel herumgewandert ist. Ein armer Junge! Ohne Vater, ohne Mutter und ohne sonst jemanden auf Erden. So, wie Tom gewesen wäre, Miß, wenn Emma und ich nach dem Vater gestorben wären«, sagte Charley, und ihre runden Augen füllten sich mit Tränen.

»Und sie holte Arznei für ihn, Charley?«

»Sie sagte, Miß, daß er das einmal auch für sie getan hätte.«

Das Gesicht meiner kleinen Zofe glühte so vor Eifer, und ihre sonst so ruhigen Hände verkrampften sich so fest, als sie vor mir stand und mich ansah, daß ich unschwer ihre Gedanken erriet.

»Ich glaube, Charley, wir könnten beide nichts Besseres tun, als hinüberzugehen und nachzusehen, was es gibt.«

Die Schnelligkeit, mit der Charley mir Hut und Schleier brachte, mir beim Ankleiden half, sich in ihr Umschlagtuch hüllte und sich wie eine kleine alte Frau zurechtputzte, verrieten genügend ihre Bereitwilligkeit. Und so gingen Charley und ich, ohne weiter ein Wort darüber zu verlieren, aus.

Es war ein kalter unwirtlicher Abend, und die Bäume schauerten im Wind. Es hatte seit vielen Tagen unaufhörlich stark geregnet. Soeben erst hatte es nachgelassen. Der Himmel, zum Teil aufgehellt, war noch sehr dunkel, selbst über uns, wo ein paar Sterne schimmerten. Im Norden und Nordwesten, wo die Sonne vor drei Stunden untergegangen war, lag ein bleiches totes Licht, schön und grauenhaft zugleich. Und in dasselbe hinein ragten lange schwere Wolkenreihen wie ein Meer, das im Wogen erstarrt ist. In der Richtung von London breitete sich ein fahlroter Schimmer über die ganze dunkle Himmelswüste, und der Gegensatz zwischen diesen beiden Lichtern und der Gedanke, daß der rote Schein von einem unirdischen Feuer herrühren könne und auf alle die unsichtbaren Gebäude der Stadt und die Gesichter der vielen tausend staunenden Bewohner herabscheinen, war im höchsten Grade feierlich.

Ich hatte an diesem Abend keine Ahnung – keine, ich weiß es gewiß –von dem, was mir bald zustoßen sollte. Aber ich habe mich seitdem oft erinnert, daß mich, wie wir an der Gartentür stehen blieben, um den Himmel anzusehen, und dann unsern Weg einschlugen, für einen Augenblick ein unbeschreibliches Gefühl beschlich, ich sei etwas andres, als ich damals war. Ich weiß, daß damals und an jenem Ort, den wir besuchten, dieser Gedanke über mich kam. Seitdem ist dieses Gefühl mit diesem Ort und dieser Zeit in mir verknüpft und mit allem, was damit in Verbindung steht, bis hinab zu den Stimmen im Dorf, dem Bellen eines Hundes und dem Rollen von Rädern, die die aufgeweichte Straße bergab kamen.

Es war ein Samstagabend, und die meisten Leute aus der Gegend, in die wir gingen, saßen in den Schenken. Der Ort war ruhiger, als ich ihn von früher her kannte, aber immer noch so ärmlich und elend. Die Ziegelöfen brannten, und ein erstickender Rauch wälzte sich blau und grau auf uns zu.

Wir erreichten die Hütte, in deren Fenster ein schwacher Lichtschein glänzte, klopften an die Tür und traten ein. Die Mutter, der das kleine Kind gestorben war, saß auf einem Stuhl an der Seite des kärglichen Feuers neben dem Bett, und ihr gegenüber hockte ein zerlumpter Knabe auf dem Fußboden, an den Herd gelehnt. Unter dem Arm hielt er die letzten zerfetzten Reste einer Pelzmütze, und wie er sich zu wärmen versuchte, klapperte er mit den Zähnen wie die Türe und das Fenster. Die Stube war dumpfiger noch als früher, und es herrschte in ihr ein ungesunder eigentümlicher Geruch.

Ich hatte den Schleier nicht zurückgeschlagen, als ich die Frau beim Eintreten anredete. Sogleich fuhr der Junge mit wankenden Beinen in die Höhe und starrte mich mit einem merkwürdigen Ausdruck von Überraschung und Entsetzen an.

Seine Bewegung war so rasch und ich so offenkundig die Ursache, daß ich nicht näher trat, sondern stehen blieb.

»I mag net noch amal aufn Friedhof gehn«, murmelte der Junge vor sich hin. »I mag net, hören S.«

Ich schlug den Schleier zurück und sprach mit der Frau. Sie sagte zu mir halblaut: »Achten Sie nicht auf ihn, Maam. Er wird bald wieder zu sich kommen«, und zu dem Jungen: »Jo, Jo, was ist denn?«

»I weiß schon, warum s kommen is.«

»Wer?«

»Die Dame dorten. I soll mit ihr aufn Friedhof gehn. ’s gfallt mir net dorten. Sie könnten mich dorten begrabn.«

Sein Schüttelfrost kam wieder, und wie er sich an die Wand lehnte, teilte sich sein Zittern der ganzen Hütte mit.

»Das und ähnliches hat er den ganzen Tag über gesprochen, Maam«, flüsterte mir Jenny zu. »Was machst du denn für Augen! Das ist doch meine Dame, Jo.«

»Das is sie?« antwortete der Junge zweifelnd und betrachtete mich, wobei er den Arm schützend über seine fiebrigen Augen hielt. »Schaut grad aus wie die andre. S is net der Hut und a net des Kleid, aber anschaun tut s mich wie die andre.«

Meine kleine Charley, erfahren in Krankheit und Sorge, hatte Hut und Schal abgelegt, ging jetzt still mit einem Stuhl zu ihm hin und hieß ihn sich niedersetzen, wie eine alte Krankenwärterin. Nur hätte eine solche ihm vielleicht nicht so viel Vertrauen eingeflößt wie Charley mit ihrem jugendlichen Gesicht.

»Hören S«, sagte der Junge. »Is die Dame wirklich net die andre Dame?«

Charley schüttelte den Kopf und wickelte methodisch seine Lumpen um ihn und hüllte ihn so warm ein wie nur möglich.

»So. Dann kann sie’s wohl net sein.«

»Ich komme, um zu sehen, ob ich etwas für dich tun kann«, sagte ich. »Was fehlt dir?«

»Mir is kalt«, antwortete der Knabe heiser, und sein hohler Blick musterte mich ruhelos. »Und dann is mir wieder heiß, und das wechselt so miteinander. Im Kopf is mir so dumm, und i glaub, i werd verrückt. Und dann is mir so trocken, und alle Knochen im Leib tun mir weh.«

»Seit wann ist er hier?« fragte ich die Frau.

»Seit heut morgen, Maam. Ich hab ihn in einem Winkel im Dorf gefunden. Ich kenn ihn von London her. Nicht wahr, Jo?«

»Toms Einöd«, bestätigte er.

So oft sich seine Aufmerksamkeit oder seine Augen auf etwas richteten, geschah es nur für kurze Zeit. Bald ließ er wieder den Kopf sinken, wiegte ihn schwer hin und her und redete halb wie im Schlaf.

»Wann ist er von London gekommen?«

»Gestern«, antwortete der Junge selbst, jetzt ganz rot und fieberheiß. »I geh irgendwohin.«

»Wohin denn?«

»Irgendwohin«, wiederholte er lauter. »Marsch vorwärts! ham s mir öfter als je zuvor gsagt, seitdem mir die, was die andre is, den Sovring geben hat. Mrs. Sangsby hetzts gegen mi auf-, und ich hab doch nix angestellt, und sie beobachtens und hetzens mi alle. Alle ohne Ausnahm. Von der Stund an, wo ich net aufsteh, bis zu Stund, wo i net schlafn geh. I geh irgendwohin. Dahin geh i. Unten in Toms Einöd hat s zu mir gsagt, daß s von St. Albans kommen is, und so bin i auf d St. Albansstraßn gangen. S is so gut wie alles andre.«

Bei den letzten Worten wendete er sich an Charley.

»Was soll man mit ihm anfangen?« fragte ich und nahm die Frau beiseite. »In diesem Zustand kann er seine Reise unmöglich fortsetzen, selbst wenn er ein Ziel hätte.«

»Ich weiß nicht mehr als die Toten, Maam«, entgegnete sie und sah ihn mitleidig an. »Vielleicht wissen es die Toten besser, wenn sie’s uns nur sagen könnten. Ich hab ihn aus Barmherzigkeit den Tag über hier behalten und ihm eine Suppe und Arznei gegeben, und Liz ist fort, um zu versuchen, ob ihn nicht jemand zu sich nehmen will. Hier liegt mein kleiner Liebling im Bett, es ist ihr Kind, aber ich nenne es das meine. Aber ich kann den Jungen nicht lang hier behalten, denn wenn mein Mann nach Hause kommt und findet ihn hier, wird er ihn hinauswerfen und könnte ihm was antun. Horch! Da kommt Liz zurück.«

Die andre Frau hastete bei diesen Worten herein, und der Junge stand mit dem dunkeln Bewußtsein, gehen zu müssen, auf. Wann das kleine Kind aufwachte, wann und wieso Charley es aus dem Bette nahm, um, es beruhigend, auf und ab zu gehen, weiß ich nicht, aber sie tat das alles in einer ruhigen mütterlichen Weise, als ob sie wieder mit Tom und Emma in Mrs. Blinders Dachstübchen sei.

Liz war da und dort gewesen, von einem zum andern gewiesen worden und kam unverrichteter Dinge wieder. Anfangs war es zu zeitig für die Aufnahme des Knaben in das Armenspital gewesen und dann wieder zu spät. Ein Beamter schickte sie zu einem andern, und der wieder zum ersten zurück, und so war es reihum gegangen, als wären beide nur wegen ihrer Geschicklichkeit, mit der sie ihren Obliegenheiten auszuweichen verstanden, anstatt ihnen nachzukommen, angestellt.

»Jenny«, sagte Liz keuchend, denn sie war gelaufen und hatte große Angst. »Jenny, dein Mann ist auf dem Heimweg, und meiner kommt auch gleich, und Gott helfe dem Jungen. Wir können nicht mehr für ihn tun.«

Sie brachten ein paar Halfpence zusammen und drückten sie ihm eilig in die Hand, und dann wankte er halb bewußtlos, halb dankbar aus dem Hause.

»Gib mir das Kleine, liebes Kind«, sagte die Mutter zu Charley. »Und ich dank dir auch schön. Und gute Nacht, liebe Jenny. – Fräulein, wenn mein Mann mich läßt, will ich nachher unten am Ziegelofen nachschauen, wo der Junge wahrscheinlich sein wird, und auch wieder morgen früh.«

Sie eilte fort, und gleich darauf sahen wir sie, das Kind in ihren Armen einsingend, an ihrer Tür stehen und voll Spannung die Straße hinunterschauen, die ihr betrunkner Mann kommen mußte.

Ich wagte nicht, mich aufzuhalten oder mit einer der beiden Frauen zu sprechen, um sie nicht in Ungelegenheiten zu bringen, aber ich sagte Charley, wir dürften den Knaben hier nicht ohne Hilfe sterben lassen. Charley, die viel besser als ich wußte, was not tat, und ebenso rasch wie geistesgegenwärtig war, eilte vor mir her, und gleich darauf holten wir Jo unmittelbar am Ziegelofen ein.

Ich glaube, er mußte seine Wanderung mit einem kleinen Bündel unter dem Arm begonnen haben, das man ihm vermutlich gestohlen hatte, denn er trug immer noch die zerlumpten Reste einer Pelzmütze wie ein Bündel unter dem Arm und wankte barhäuptig in dem jetzt wieder heftig gießenden Regen einher. Als wir ihn riefen, blieb er stehen, und wieder erwachte seine Furcht vor mir. Er starrte mich mit seinen fieberglänzenden Augen an, und sogar sein Frösteln hörte auf.

Ich forderte ihn auf, mit uns zu kommen, und sagte, wir würden Sorge tragen, daß er für die Nacht ein Obdach fände.

»I brauch ka Obdach«, antwortete er. »I kann mi auf die warmen Ziegel legn.«

»Aber weißt du denn nicht, daß die Leute dort sterben?« wendete Charley ein.

»Sterben tuns überall. Sie sterben in ihnere Stuben – sie weiß schon wo, ich habs ihr zeigt – und sterben tuns in Toms Einöd haufenweis. Sterben tuns mehr, als s leben, was i weiß.« Dann flüsterte er Charley heiser zu: »Wanns nicht die andre is, is a net die Ausländerin. Gibt’s denn drei?«

Charley sah mich erschrocken an. Ich fürchtete mich förmlich vor mir selbst, als mich der Knabe so anstarrte.

Aber er wendete sich um und folgte mir, als ich ihm winkte, und da ich sah, daß mein Einfluß auf ihn soweit reichte, führte ich ihn graden Wegs nach Hause. Es war nicht weit. Nur den Hügel hinauf. Wir trafen bloß einen Mann unterwegs. Ich bezweifle, ob wir ohne Beistand nach Hause gekommen wären, so unsicher und schwankend war der Gang des Jungen. Aber er ließ keinen Laut der Klage hören und war seltsam unbekümmert um sich, wenn ich mich so ausdrücken darf.

Ich ließ ihn einen Augenblick in der Vorhalle stehen, wo er sich in eine Ecke des Fenstersitzes drückte und mit mehr Teilnahmslosigkeit als Verwunderung den Komfort der Umgebung anstarrte. Dann ging ich in das Besuchszimmer, um mit meinem Vormund zu sprechen. Dort fand ich Mr. Skimpole, der mit der Landkutsche angekommen war, ohne vorher jemanden verständigt zu haben, wie das so seine Gewohnheit war. Nie pflegte er sich in solchen Fällen Kleider mitzubringen, sondern stets alles, was er brauchte, zu borgen.

Sie kamen gleich mit mir heraus, um den Jungen zu besichtigen. Auch die Dienerschaft hatte sich in der Vorhalle versammelt. Jo kauerte, von Fieber geschüttelt, in der Fensternische wie ein verwundetes Tier, das man in einem Graben gefunden hat, und Charley stand bei ihm.

»Das ist ein trauriger Fall«, sagte mein Vormund, nachdem er ihm einige Fragen gestellt, ihm den Puls gefühlt und seine Augen untersucht hatte. »Was meinen Sie, Harold?«

»Das Beste ist, Sie schicken ihn fort«, riet Mr. Skimpole.

»Was meinen Sie?« fragte mein Vormund fast zornig.

»Mein lieber Jarndyce«, entschuldigte sich Mr. Skimpole, »Sie wissen doch, was ich bin. Ich bin ein Kind. Schelten Sie mich nicht aus, wenn ich es vielleicht verdiene. Aber ich habe eine angeborne Abneigung gegen dergleichen. Ich hatte sie stets, als ich noch Arzt war. Er ist krank, müssen Sie wissen. Er hat ein sehr bösartiges Fieber.«

Mr. Skimpole hatte sich wieder aus der Vorhalle in das Besuchszimmer zurückgezogen, sich auf den Musikstuhl gesetzt und sagte dies, während wir um ihn herumstanden, in seiner gewohnten leichtherzigen Weise.

»Sie werden sagen, das sei kindisch. Gut, ich gebe das zu. Aber ich bin eben ein Kind und beanspruche auch nicht, etwas andres zu sein. Wenn Sie ihn auf die Straße hinausschicken, schicken Sie ihn nur dorthin, wo er schon früher war. Er wird sich da nicht schlimmer befinden als früher. Sogar besser, wenn Sie wollen. Geben Sie ihm sechs Pence oder fünf Schilling oder fünf Pfund zehn Schilling – Sie sind ja Rechenkünstler und ich nicht – und schicken Sie ihn fort.«

»Und was soll er dann anfangen?« fragte mein Vormund.

»Meiner Seel.« Mr. Skimpole zuckte mit seinem gewinnendsten Lächeln die Achseln. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was er dann anfangen soll. Aber ich zweifle nicht, daß er irgend etwas anfangen wird.«

»Ist es nicht ein entsetzlicher Gedanke«, sagte mein Vormund, als ich ihm in kurzen Worten von den vergeblichen Bemühungen der zwei Frauen erzählte, »ist es nicht ein entsetzlicher Gedanke«, – er schritt dabei auf und nieder und fuhr sich in den Haaren herum – »daß, wenn dieses unglückliche Kind ein Verbrecher wäre, ihm das Gefängnisspital weit offen stünde und er so gut wie jeder andre Junge im ganzen Königreich gepflegt werden würde?«

»Mein lieber Jarndyce«, entgegnete Mr. Skimpole, »Sie werden mir die Albernheit der Frage verzeihen, da sie von einem Menschen kommt, der von den Dingen dieser Welt gar nichts versteht, – aber warum ist er denn also kein Verbrecher?«

Mein Vormund blieb stehen und sah Mr. Skimpole mit einer Mischung von Ergötzen und Entrüstung an.

»Ich sollte meinen, man brauchte unsern jungen Freund nicht wegen allzu großen Zartgefühls im Verdacht zu haben«, sagte Mr. Skimpole aufrichtig und ohne im geringsten zu erröten. »Ich glaube, wenn er mehr falsch angewendete Energie, die ihn ins Gefängnis gebracht hätte, gezeigt haben würde, so wäre er weiser und vielleicht auch anständiger gewesen. Das hätte mehr Unternehmungsgeist und daher eine gewisse Art Poesie verraten.«

»Ich glaube wirklich«, entgegnete mein Vormund und ging jetzt wieder unruhig auf und ab, »daß es auf der Welt kein zweites Kind wie Sie gibt.«

»Meinen Sie im Ernst? Wohl möglich. Aber ich kann wirklich nicht einsehen, warum unser junger Freund in seiner Weise nicht versuchen sollte, sich mit soviel Poesie, als ihm zu Gebote steht, zu umgeben. Sicherlich ist er mit Appetit begabt. Wahrscheinlich ist, wenn er sich in einem bessern Gesundheitszustand befindet als jetzt, sein Appetit vortrefflich. Also gut. Wenn die Eßstunde unsres jungen Freundes kommt – wahrscheinlich gegen Mittag –, soll unser junger Freund zur menschlichen Gesellschaft sagen: ‚Ich habe Hunger, möchten Sie nicht die Gewogenheit haben, mir Ihren Löffel zu geben und mich zu füttern.‘ Die menschliche Gesellschaft, die doch das ganze Löffelsystem eingeführt hat und keinen Löffel für unsern Freund zu haben behauptet, gibt diesen Löffel nicht heraus, daher soll unser junger Freund sagen: ‚Sie werden schon entschuldigen, wenn ich mir einen nehme.‘ Dies erscheint mir als ein Fall falsch angewendeter Energie, aber es liegt eine gewisse Vernunft und eine gewisse Romantik drin. Und ich weiß nicht, ob mich nicht unser junger Freund als Illustration eines solchen Falles mehr interessieren würde als als armer Vagabund. Das kann schließlich jeder sein.«

»Unterdessen verschlimmert sich sein Zustand«, erlaubte ich mir einzuwenden.

»Unterdessen«, sagte Mr. Skimpole heiter, »verschlimmert sich sein Zustand, wie Miß Summerson mit ihrem praktischen gesunden Sinn sehr richtig bemerkt. Um so mehr empfehle ich Ihnen, ihn fortzuschicken, ehe sich sein Zustand verschlimmert.«

– Das liebenswürdige Gesicht, mit dem er das sagte, werde ich wohl nie vergessen. –

»Natürlich, Mütterchen«, wendete sich mein Vormund zu mir, »kann ich seine Aufnahme an den Ort, wo er hingehört, schon dadurch erzwingen, daß ich hingehe und darauf dringe. Aber schlimm genug ist es, wenn so etwas überhaupt nötig ist. Es ist schon spät, und das Wetter sehr schlecht, und der Junge scheint ganz erschöpft zu sein. In der Dachkammer über dem Schuppen steht ein Bett. Es ist wohl das beste, wir lassen ihn dort bis morgen früh liegen, und dann kann man ihn einwickeln und fortschaffen. Das wollen wir tun.«

»O«, sagte Mr. Skimpole, dessen Hände auf den Tasten des Klaviers ruhten, während wir uns von ihm wieder zu dem Knaben wendeten. »Wollen Sie wieder zu unserm jungen Freund gehen?«

»Ja.«

»Nein, wie ich Sie um Ihre Konstitution beneide! Sie machen sich nichts aus solchen Dingen, und Miß Summerson auch nicht. Sie sind immer bereit, irgendwohin zu gehen oder irgend etwas zu tun. Das ist das Wollen! – Ich habe überhaupt kein Wollen – und kein Nichtwollen –, nur ein Nichtkönnen.«

»Sie können dem Jungen nichts verschreiben, vermute ich?« fragte mein Vormund und sah sich über die Schulter halb ärgerlich nach Mr. Skimpole um. Nur halb ärgerlich, denn er schien ihn niemals als ein zurechnungsfähiges Wesen zu betrachten.

»Lieber Jarndyce, ich bemerkte eine Flasche kühlender Medizin in seiner Tasche, und er kann nichts Besseres tun, als sie einnehmen. Sie können auch in seiner Schlafstube ein wenig Essig sprengen lassen und das Zimmer mäßig kühl und ihn mäßig warm halten. Aber es wäre eine Anmaßung von mir, einen Rat geben zu wollen, wo Miß Summerson eine solche Detailkenntnis besitzt und eine solche Fähigkeit, sich um jede Kleinigkeit zu kümmern.«

Wir kehrten wieder in die Vorhalle zurück und setzten Jo auseinander, was wir vorzunehmen gedächten, und Charley machte es ihm dann noch ein Mal klar. Er hörte uns mit schlaffer Teilnahmslosigkeit an und sah müde allen Vorbereitungen zu, als geschähen sie für einen ganz Fremden. Da die Dienerschaft großes Mitleid für seinen jammervollen Zustand an den Tag legte und voll Eifer half, war die Stube über dem Schuppen bald fertig, und ein paar Leute trugen ihn, gut eingehüllt, über den nassen Hof. Sie waren sehr freundlich gegen ihn, munterten ihn auf und nannten ihn »alter Knabe«. Charley leitete das Ganze und war immer unterwegs zwischen Krankenstube und dem Haus mit Stärkungsmitteln und was wir ihm sonst einzugeben wagten. Mein Vormund sah selbst nach ihm, ehe man ihn für die Nacht allein ließ, und berichtete mir, als er in sein Brummstübchen ging, um an das Krankenhaus einen Brief zu schreiben, den ein Bote am nächsten Morgen mit Tagesanbruch besorgen sollte, daß der Patient ruhiger sei und schlafen zu wollen scheine. Sie hätten die Tür von außen verschlossen, im Falle er delirieren sollte, aber alles wäre so eingerichtet, daß er sofort gehört werden würde, wenn er riefe oder sonst Lärm machen sollte.

Da Ada wegen einer Erkältung das Zimmer hütete, war Mr. Skimpole die ganze Zeit über allein und vertrieb sich die Zeit mit Klavierspielen, mit Bruchstücken von rührenden Liedern, zu denen er, wie wir aus der Ferne hörten, mit großem Ausdruck und Gefühl sang.

Als wir wieder in den Salon zurückkehrten, sagte er, er wolle uns eine kleine Ballade vorsingen, zu der ihn unser junger Freund »angeregt« habe. Und er sang ein paar Strophen von einem Betteljungen, der

»Vereinsamt, verwaist, verstoßen, verlassen
durch die Welt sich schleppt, ziellos, durch die Gassen«.

Ein Lied, das ihn stets zum Weinen brächte, sagte er.

Er war den ganzen übrigen Abend außerordentlich fröhlich. – Er »zirpe« geradezu, wie er sich lustig ausdrückte, wenn er bedächte, von welch geschäftigen Geistern er umgeben sei. Er trank ein Glas Glühwein auf die »Genesung unsres jungen Freundes« und malte in heitern Farben die Möglichkeit aus, daß es Jo wie Whittington vielleicht bestimmt sein könnte, Lordmayor von London zu werden. Er würde dann gewiß eine Jarndyce-Stiftung und ein Summerson-Armenhaus und eine kleine jährliche Prozession des ganzen Gemeinderats nach St. Albans ins Leben rufen. Er bezweifle nicht, sagte er, daß unser junger Freund in seiner Art ein vortrefflicher Junge sei. Aber seine Art sei nicht Harold Skimpoles Art, und was Harold Skimpole sei, habe Harold Skimpole zu seiner größten Überraschung selbst erst entdeckt, als er zuerst seine eigne Bekanntschaft gemacht habe. Er habe sich mit allen seinen Fehlern ohne Widerspruch hingenommen und es für die gesündeste Philosophie gehalten, sich in die Umstände zu fügen, und er hoffe, wir würden dasselbe tun.

Charleys letzter Bericht lautete, daß der Knabe sich ruhig verhalte. Ich konnte aus meinem Fenster die Laterne, die sie bei ihm gelassen hatten, brennen sehen und legte mich zu Bett, ganz glücklich bei dem Gedanken, daß der Arme wenigstens ein Obdach habe.

Noch vor Tagesanbruch war mehr Unruhe und Gerede im Haus als gewöhnlich und weckte mich. Ich zog mich an, blickte zum Fenster hinaus und fragte einen unsrer Leute, ob ein Unglück geschehen sei. Die Laterne brannte immer noch in dem Fenster über dem Schuppen.

»Der Junge, Miß!«

»Geht es ihm schlechter?«

»Fort, Miß.«

»Tot!«

»Tot, Miß? Nein. Fort. – Verschwunden.«

Jemals zu erraten, um welche Stunde der Nacht Jo sich davon gemacht hatte oder wie und warum, schien eine hoffnungslose Sache zu sein. Die Tür war noch ganz so, wie wir sie verlassen hatten, die Laterne stand immer noch im Fenster, und man konnte nur vermuten, er sei durch eine Falltür im Fußboden, die in den leeren Schuppen hinunterführte, entflohen. Aber wenn das der Fall war, hatte er sie wieder sorgfältig zugemacht, und sie sah aus, als habe man sie nie berührt. Vermißt wurde nicht das mindeste. Wir mußten uns also zu der Ansicht entschließen, er habe in der Nacht das Delirium bekommen und sei von irgend einer Einbildung verlockt oder aus gegenstandsloser Furcht in seinem mehr als hilflosen Zustand entflohen. So dachten wir alle, mit Ausnahme Mr. Skimpoles, der wiederholt sorglos äußerte, es sei unserm jungen Freund wahrscheinlich durch den Kopf gegangen, er wäre mit seinem bösartigen Fieber ein gefährlicher Hausgenosse, weshalb er sich mit großem natürlichem Takt empfohlen habe.

Man stellte jede mögliche Nachforschung an und fragte an allen möglichen Orten nach. Man untersuchte die Ziegelöfen, ging nach den Hütten und verhörte die beiden Frauen aufs gründlichste, aber sie wußten nichts von ihm, und niemand konnte an der Echtheit ihres Erstaunens zweifeln. Die Witterung war schon seit einiger Zeit sehr naß gewesen, und es hatte auch während der Nacht selbst zu sehr geregnet, als daß sich seine Fußstapfen hätten verfolgen lassen. Hecken, Gräben, Mauern, Heustadel und Schober wurden von unsern Leuten in weitem Umkreis untersucht, ob sich der Junge nicht vielleicht an einem dieser Orte bewußtlos oder tot auffände, aber auch nicht die geringste Spur war von ihm zu entdecken. Von der Stunde an, wo man ihn in der Kammer allein gelassen hatte, blieb er verschwunden.

Fünf Tage lang dauerten die Nachforschungen fort. Ich meine nicht, daß sie dann aufhörten, aber meine Aufmerksamkeit wurde damals in einer für mich sehr einschneidenden Weise abgelenkt.

Als Charley nämlich wieder des Abends in meinem Zimmer ihre Schreibaufgaben machte und ich ihr gegenüber arbeitete, fühlte ich, daß plötzlich der Tisch zitterte. Ich blickte auf und sah, daß meine kleine Zofe ein Schüttelfrost vom Kopf bis zur Zehe durchlief.

»Charley«, fragte ich, »frierst du so?«

»Ich glaube ja, Miß. Ich weiß nicht, was es ist. Ich kann mich nicht ruhig verhalten. Es war mir schon gestern so zumute. Ziemlich um dieselbe Stunde, Miß. Erschrecken Sie nicht, aber ich fürchte, ich bin krank.«

Ich hörte Adas Stimme draußen und eilte sogleich an die Verbindungstür zwischen dem gemeinschaftlichen Salon und meinem Zimmer. Ich verschloß sie gerade noch rechtzeitig, denn während meine Hand noch den Schlüssel umdrehte, hörte ich klopfen.

Ada rief mir zu, ich solle sie hereinlassen, aber ich sagte:

»Jetzt nicht, Liebste. Geh lieber. Es ist nichts. Ich werde gleich hinüberkommen.«

Ach, es dauerte lange, lange Zeit, ehe mein Liebling und ich wieder zusammenkamen.

Charley wurde krank. Im Verlauf von zwölf Stunden war sie schwerkrank. Ich ließ sie in mein Zimmer tragen, legte sie in mein Bett und setzte mich ruhig daneben, um sie zu pflegen. Ich unterrichtete meinen Vormund von allem, und warum ich es für notwendig halte, mich abzuschließen, und weshalb ich meinen Liebling durchaus nicht sehen wollte. Anfangs kam sie sehr oft an die Tür und rief mich und machte mir schluchzend und weinend Vorwürfe, aber ich schrieb ihr einen langen Brief, sagte ihr, daß sie mir damit Sorge und Schmerz bereite, und bat sie, wenn sie mich liebe und mir keinen Kummer zu machen wünsche, mir nicht näher als bis zum Garten zu kommen. Daraufhin trat sie oft unter das Fenster, und wenn ich schon vorher, wo wir kaum je getrennt gewesen, ihre liebe süße Stimme so sehr und von Herzen lieben gelernt hatte, wie teuer wurde sie mir jetzt, wo ich, ohne hinauszublicken, hinter dem Vorhang stand und ihr lauschte. Wie sehr lernte ich sie erst später lieben, als die schwere Zeit kam.

Man schlug in unserm gemeinsamen Salon ein Bett für mich auf, und durch Offenstehenlassen der Tür machte ich aus den beiden Zimmern eins, nachdem Ada diesen Flügel des Hauses ganz geräumt hatte. So war die Krankenstube stets frisch und luftig. Nicht ein Dienstbote war im Hause, der nicht mit größter Bereitwilligkeit und ohne die mindeste Furcht zu jeder Stunde des Tags oder der Nacht mir geholfen hätte, aber ich hielt es für das beste, eine einzige sehr gewissenhafte Frau auszuwählen, die Ada nie sehen durfte, wie ich anordnete, und von der ich wußte, daß sie keine Vorsichtsmaßregel außer acht lassen werde. Das ermöglichte mir, daß ich zuweilen in den Garten gehen konnte, um in Gesellschaft meines Vormunds frische Luft zu schöpfen, wenn wir nicht Gefahr liefen, Ada zu begegnen.

Die arme Charley wurde schwerkrank und schwebte in Lebensgefahr. Eine lange Reihe von Tagen und Nächten lag sie danieder. So geduldig war sie, klagte so wenig und war so sanft und ergeben, daß ich oft, wenn ich bei ihr saß und ihren Kopf auf meinem Arm ruhen ließ, denn das war manchmal das einzige Mittel, sie einschlummern zu machen, unsern Vater im Himmel im stillen bat, mich die Lehre, die mir diese kleine Schwester gab, nicht vergessen zu lassen.

Viel Sorgen machte mir der Gedanke, daß Charleys hübsches Gesicht entstellt sein würde, wenn sie wieder genesen sollte, aber meistens verdrängte ich die Angst, daß sie in weit größerer Gefahr schwebe. Als es am schlimmsten mit ihr stand und sie von ihren Sorgen um ihre kleinen Geschwister und von dem Krankenbett ihres Vaters phantasierte, kannte sie mich doch immer noch soweit, daß sie ruhiger wurde, wenn ich sie in die Arme nahm, weil nichts andres mehr half. In solchen Stunden pflegte ich mir mit Qual vorzustellen, wie ich jemals den zwei verwaisten Kleinen mitteilen sollte, daß das Kind, das von seinem eignen treuen Herzen gelernt hatte, ihnen in ihrer Not Mutter zu sein, gestorben sei.

In Stunden, wo das Fieber nachließ, kannte Charley mich recht gut und sprach mit mir, ließ Tom und Emma vielmals grüßen und sagte, sie sei überzeugt, Tom werde zu einem tüchtigen Mann heranwachsen. In solchen Augenblicken erzählte sie mir von dem, was sie ihrem Vater vorgelesen hatte, um ihn zu trösten: Von dem Jüngling, den sie hinaus zum Begräbnis trugen und der der einzige Sohn seiner verwitweten Mutter gewesen. Und von der Tochter des Hauptmanns, die die Hand der Barmherzigkeit auf dem Totenbett wieder zum Leben erweckte. – Sie sagte mir, sie sei niedergekniet, als ihr Vater gestorben war, und habe in ihrem ersten Schmerz gebetet, auch er möge auferweckt und seinen armen Kindern zurückgegeben werden, und daß sie glaube, auch Tom werde dasselbe Gebet für sie zum Himmel schicken, falls sie nie wieder genesen und sterben sollte. Und dann müßte ich Tom auslegen, wie diese Menschen in den alten Zeiten wieder zum irdischen Leben erweckt worden wären, auf daß wir ein Pfand der ewigen Fortdauer im Himmel hätten.

In keinem ihrer Krankheitsstadien verlor sie auch nur ein einziges Mal ihre sanften liebenswürdigen Eigenschaften.

Charley starb nicht. Langsam, langsam überwand sie die Krisis, und dann fing es an, besser mit ihr zu werden. Die Furcht, ihr Gesicht könne entstellt sein, wich bald von mir, und auch hierin ging es immer besser, und ich sah sie wieder zu ihrem früheren kindlichen Ebenbilde werden.

Es war ein großer Morgen, als ich Ada, die unten im Garten stand, alles das berichten konnte. Und ein großer Abend, als Charley und ich endlich zusammen im anstoßenden Zimmer Tee tranken. Aber an demselben Abend fühlte ich, daß ein Fieber über mich kam. Zum Glück für uns beide fiel es mir erst, nachdem Charley wieder ruhig im Bett lag, ein, ich könnte mich von ihr angesteckt haben. Während des Tees hatte ich meinen Zustand noch unterdrücken können, aber damit war es jetzt bereits vorbei, und ich begriff, daß ich in Charleys Fußstapfen trat.

Ich war jedoch noch kräftig genug, zeitig früh aufzustehen und den fröhlichen Gruß meines Herzenslieblings aus dem Garten erwidern und mit ihr so lange wie gewöhnlich sprechen zu können. Aber ich war nicht ganz frei von dem Eindruck, während der Nacht fiebernd und außer mir in den beiden Zimmern herumgegangen zu sein. Und manchmal wurde es mir wirr im Kopf, und ich hatte ein seltsames Gefühl der Vollheit, so, als ob ich viel größer sei als sonst.

Des Abends wurde es mir soviel schlimmer, daß ich beschloß, Charley vorzubereiten, und ihr sagte:

»Du fühlst dich jetzt wieder viel kräftiger, Charley, nicht wahr?«

»O, gewiß.«

»Kräftig genug, um ein Geheimnis zu hören, Charley?«

»O, kräftig genug, Miß!« rief sie. Aber mitten in ihrer Freude trübte sich ihre Miene, denn sie las das Geheimnis auf meinem Gesicht. Sie stand aus dem Lehnstuhl auf, fiel mir um den Hals und sagte:

»O Miß, daran bin ich schuld. Ich schuld!« Und noch vieles mehr aus der Fülle ihres dankbaren Herzens heraus.

»Nun höre, Charley«, sagte ich, nachdem ich sie eine Weile hatte gewähren lassen, »wenn ich krank werde, setze ich mein größtes Vertrauen von allen Menschen auf dich. Und wenn du nicht so ruhig und gefaßt für mich bist, wie du es immer für dich selbst warst, kannst du mir nicht beistehen, Charley!«

»Lassen Sie mich nur noch ein wenig mich ausweinen, Miß«, jammerte Charley. »O, mein Gott, o Gott, o Gott! Ich werde mich gleich wieder beruhigt haben, o Gott!« An den innigen Ton, wie sie das sagte, während sie an meinem Halse hing, kann ich nie ohne Tränen zurückdenken.

So ließ ich sie sich denn ein wenig ausweinen, und es tat uns beiden wohl.

»Verlassen Sie sich auf mich, Miß!« sagte Charley dann ruhig. »Ich höre jetzt genau zu.«

»Vorderhand ist es sehr wenig, Charley. Ich werde dem Doktor heute abend sagen, daß ich mich nicht recht wohl fühle und daß du meine Wärterin sein sollst.«

Dafür dankte mir das arme Kind mit ganzem Herzen.

»Und morgen in der Frühe, wenn du Miß Ada im Garten hörst und ich nicht mehr imstande sein sollte, wie gewöhnlich an den Fenstervorhang zu kommen, so gehe du hin, Charley, und sag, ich schliefe noch und wäre etwas erschöpft. Die ganze Zeit über bleibst du im Zimmer, wie ich darin geblieben bin, Charley, und läßt niemanden herein.«

Charley versprach es mir, und ich legte mich nieder, denn der Kopf war mir sehr schwer. Ich sprach an diesem Abend den Arzt und bat ihn darum, nichts im Hause von meiner Erkrankung verlauten zu lassen. Ich habe eine sehr undeutliche Erinnerung von dem Hinüberschwimmen dieser Nacht in den Tag und dem des Tags wieder in die Nacht. Am ersten Morgen war ich gerade noch knapp imstande, an das Fenster zu gehen und mit meinem Liebling zu sprechen.

Am zweiten Morgen hörte ich ihre Stimme draußen und bat Charley mit Anstrengung, denn das Reden wurde mir schwer, ihr zu sagen, ich schliefe. Ich hörte sie leise antworten: »Störe sie nicht, Charley, um alles in der Welt nicht!«

»Und wie sieht mein Herzenskind aus, Charley?«

»Enttäuscht, Miß«, berichtete Charley, durch den Vorhang lugend.

»Aber ich weiß, sie ist heute morgen wieder sehr schön.«

»Ja, das ist sie, Miß. Sie sieht immer noch zum Fenster herauf.«

Mit ihren klaren blauen Augen, Gott segne sie!

Ich rief Charley zu mir und gab ihr einen letzten Auftrag:

»Jetzt höre, Charley! Wenn sie erfährt, daß ich krank bin, wird sie versuchen, in das Zimmer zu dringen. Laß sie nicht herein, Charley, wenn du mich wirklich lieb hast, Charley. Wenn sie auch nur ein einziges Mal hereinkommt, um mich anzusehen, während ich hier liege, ist es mein Tod.«

»Ich werde es nie tun! Niemals!«

»Ich vertraue dir, meine gute Charley. Und jetzt komm her und setz dich eine Weile neben mich und gib mir die Hand, denn ich kann dich nicht sehen, Charley. Ich bin blind!«

18. Kapitel


18. Kapitel

Lady Dedlock

Es war nicht so leicht, wie es anfangs geschienen hatte, für Richard in Mr. Kenges Kanzlei eine Probezeit auszumachen. Richard selbst war das Haupthindernis. Kaum stand es in seiner Macht, Mr. Badger jeden Augenblick zu verlassen, fing er an zu zweifeln, ob er denn das überhaupt wünsche. Er wisse es selbst nicht recht, sagte er. Medizin sei immerhin kein übler Beruf. Er könne nicht sagen, daß er ihm mißfalle. Vielleicht gefalle er ihm so gut wie jeder andere… Wir sollten es ihn nur noch einmal versuchen lassen.

Hierauf schloß er sich ein paar Wochen lang mit einigen Büchern und ein paar Knochen ein und schien sich mit großer Schnelligkeit eine ziemliche Menge Kenntnisse anzueignen. Nachdem seine Begeisterung ungefähr einen Monat gedauert, fing sie an, sich abzukühlen, und als sie ganz kalt geworden, fing sie an, sich noch einmal zu erwärmen. Sein Hin- und Herschwanken zwischen Jus und Medizin dauerte so lang, daß der Hochsommer herankam, ehe er von Mr. Badger schied und seine Probezeit bei Kenge & Carboy antrat.

Bei aller dieser Flatterhaftigkeit bildete er sich sehr viel darauf ein, daß er es »diesmal« außerordentlich ernst nähme. Und er war so gutmütig und so fröhlich gelaunt und liebte Ada so sehr, daß es sehr schwer war, ihm böse zu sein.

»Was Mr. Jarndyce betrifft«, der, wie ich hier erwähnen will, während dieser ganzen Zeit sehr viel über Ostwind klagte, »was Mr. Jarndyce betrifft«, sagte Richard zu mir, »so ist es der prächtigste Kerl unter der Sonne, Esther. Schon ihm zuliebe muß ich mich diesmal fest ins Zeug legen und die Sache ordentlich ins Geleise bringen.«

Sein Vorhaben, sich tüchtig ins Zeug zu legen, stach von seinem lustigen Gesicht, seiner sorglosen Art und seiner Sprunghaftigkeit, mit der er alles erfaßte, aber nichts festhalten konnte, komisch ab. Dennoch sagte er uns zuweilen, er nähme es so ernst, daß er sich wundere, wieso sein Haar nicht grau werde.

Also, wie bereits erwähnt, im Hochsommer trat er bei Mr. Kenge ein, um zu versuchen, wie ihm der Beruf gefalle.

Die ganze Zeit über war er in Geldsachen, wie ich ihn schon früher beschrieben habe: freigebig, verschwenderisch, unglaublich sorglos, aber immer überzeugt, daß er eher berechnend und überlegt sei.

Um die Zeit, wo er in die Kanzlei eintreten sollte, sagte ich einmal in seiner Anwesenheit halb im Scherz, halb ernsthaft zu Ada, er müsse Fortunas Säckel haben, so leichtsinnig gehe er mit Geld um. Und er gab darauf zur Antwort:

»Mein Juwel von einer lieben Kusine, man höre diese alte Frau! Warum sagt sie das? Weil ich vor ein paar Tagen acht Pfund oder so etwas für eine gewisse hübsche Weste und Knöpfe gegeben habe. Wenn ich nun bei Badger geblieben wäre, hätte ich auf einen Sitz zwölf Pfund für eine Reihe herzzerbrechender Vorlesungen bezahlen müssen. So spare ich vier Pfund rund bei dem Geschäft.«

Zwischen ihm und meinem Vormund wurde viel betreffs der Arrangements, die seinetwegen in London, während er es mit der Jurisprudenz versuchen wollte, getroffen werden mußten, erörtert. Wir waren nämlich schon seit längerer Zeit nach Bleakhaus zurückgekehrt, und es lag zu weit entfernt, als daß er öfter als einmal in der Woche hätte hinauskommen können. Mein Vormund sagte mir, wenn Richard sich entschließen sollte, bei Mr. Kenge zu bleiben, wolle er ihm eine größere Wohnung, in der auch wir manchmal ein paar Tage bleiben könnten, mieten. »Aber, kleines Frauchen«, setzte er hinzu und rieb sich sehr bedeutsam den Kopf, »er hat sich noch nicht fest entschlossen.«

Die Beratungen endeten damit, daß wir für ihn gegen monatliche Kündigung eine hübsche kleine möblierte Wohnung in einem stillen alten Hause in der Nähe von Queens-Square mieteten. Er fing gleich damit an, all sein Geld zum Ankauf der wunderlichsten kleinen Ausschmückungen für diese Wohnung auszugeben, und so oft es Ada und mir gelungen war, ihm irgendeine besonders unnütze und kostspielige Ausgabe auszureden, schrieb er sich die Summe gut und hielt es für eine Ersparnis des Restes, wenn er etwas weniger für irgend etwas andres aufwendete.

Solang diese Angelegenheit noch in Schwebe war, blieb unser Besuch bei Mr. Boythorn aufgeschoben. Endlich zog Richard in seine neue Wohnung ein, und nichts stand unsrer Abreise mehr im Weg. Er hätte uns ganz gut um diese Jahreszeit begleiten können, aber er war von dem Reiz der Neuheit seiner Stellung zu sehr in Anspruch genommen und machte höchst energische Anläufe, den Geheimnissen des verhängnisvollen Prozesses auf die Spur zu kommen. Daher gingen wir ohne ihn, und mein Liebling war voll Freude, ihn seines Fleißes wegen loben zu können.

Wir hatten in der Landkutsche eine angenehme Fahrt nach Lincolnshire und in Mr. Skimpole einen unterhaltenden Reisegefährten. Wie wir erfuhren, hatte ihm die Person, die am Geburtstage seiner blauäugigen Tochter seine Wohnung mit Beschlag belegt, sein ganzes Mobiliar ausräumen lassen. Aber es schien ihm eine große Erleichterung zu sein, daß es fort war. Tische und Stühle, sagte er, seien langweilige Gegenstände und wirkten monoton. Sie gewährten keine Abwechslung und brächten den Menschen um sein seelisches Gleichgewicht. Wie angenehm wäre es, an keine bestimmten Stühle und Tische gebunden zu sein und wie ein Schmetterling unter gemieteten Möbeln herumzugaukeln, von Rosenholz zu Mahagoni, von Mahagoni zu Nußbaum und von dieser zu jener Form zu flattern, wie es gerade die Laune eingäbe.

»Das Komische bei der Sache ist«, erzählte er mit seinem geschärften Sinn für das Lächerliche, »daß meine Stühle und Tische noch gar nicht bezahlt sind und dennoch mein Hauswirt mit der ruhigsten Miene von der Welt mit ihnen abzieht. Ist das nicht komisch? Es liegt etwas Groteskes darin. Der Möbelhändler hat sich doch niemals verpflichtet, dem Hauswirt meinen Zins zu zahlen. Wenn ich eine Warze auf der Nase habe, die meines Hauswirts Begriffe von Schönheit verletzt, so hat er doch kein Recht, an der Nase meines Möbelhändlers, der keine Warze hat, zu kratzen. Seine Logik scheint recht mangelhaft zu sein.«

»Nun«, sagte mein Vormund gutgelaunt, »es ist ziemlich klar, daß der die Stühle und Tische zu bezahlen hat, der sie schuldig ist.«

»Natürlich!« entgegnete Mr. Skimpole. »Das ist der Gipfelpunkt von Unverstand in dieser Geschichte. Ich sagte zu meinem Hauswirt: ‚Mein Bester, Sie wissen wohl nicht, daß mein vortrefflicher Freund Jarndyce diese Dinge zu bezahlen haben wird, die Sie so unzarterweise wegschaffen lassen. Haben Sie denn gar keine Rücksicht für sein Eigentum ?‘ Er hatte nicht die mindeste.«

»Und wies alle Vermittlungsvorschläge zurück?« fragte mein Vormund.

»Wies alle Vorschläge zurück. Ich machte ihm ganz kühle geschäftliche Vorschläge. Ich nahm ihn beiseite und sagte zu ihm: ‚Sie sind doch Geschäftsmann, glaube ich.‘ ‚Ja‘, gab er zur Antwort. ‚Also gut, so wollen wir die Sache geschäftsmäßig behandeln. Hier ist Tinte. Hier sind Federn und Papier und hier Oblaten. Was wünschen Sie eigentlich? Ich habe Ihr Haus seit ziemlich langer Zeit bewohnt und, wie ich glaube, zu unsrer beiderseitigen Zufriedenheit, bis dieses unangenehme Mißverständnis entstand; wollen wir also die Sache in aller Freundschaft und ganz geschäftsmäßig abmachen. Was wünschen Sie denn eigentlich?« Als Antwort darauf bediente er sich des bildlichen Ausdrucks – der etwas Orientalisches an sich hat –, daß er nie die Farbe meines Geldes gesehen hätte.

‚Lieber Freund‘, erklärte ich ihm, ‚ich habe nie Geld. Ich verstehe nichts von Geld.‘ – ‚Gut, Sir, was bieten Sie also, wenn ich Ihnen Zeit lasse ?‘ fragte er. ‚Mein Bester, Sie müssen wissen, ich habe keinen Begriff von Zeit, aber Sie sagen, Sie seien Geschäftsmann, und was in geschäftsmäßiger Form mit Feder, Tinte, Papier und Oblaten getan werden kann, bin ich bereit zu tun. Machen Sie sich nicht auf Kosten eines Fremden bezahlt – das ist töricht –, sondern verfahren Sie geschäftsmäßig!‘ Aber er wollte nicht, und das war das Ende vom Lied.«

Wenn das die Nachteile von Mr. Skimpoles Kindlichkeit waren, so hatte sie doch auch für ihn ihre gewissen Vorteile. Auf der Reise entwickelte er einen sehr guten Appetit bei jeder Erfrischung, die uns angeboten wurde, zum Beispiel bei einem Korb köstlicher Treibhauspfirsiche. Ans Zahlen dachte er nie. So fragte er den Kutscher, als dieser das Fahrgeld einsammeln kam, was er für ein gutes Fahrgeld halte – für ein reichliches –, und sagte auf die Antwort: »Eine halbe Krone für jeden Passagier«, daß das wenig genug sei, wenn man bedenke… und überließ das Zahlen Mr. Jarndyce.

Es war herrliches Wetter. Die grünen Getreidefelder wogten so schön, die Lerchen sangen so fröhlich, die Hecken waren so bunt von wilden Blumen, das Laub der Bäume stand so dicht, und die Bohnenfelder, über die ein leichter Wind dahinstrich, erfüllten die Luft mit köstlichem Wohlgeruch! Spät nachmittags erreichten wir den Marktflecken, wo wir die Kutsche verlassen sollten, einen ausgestorbnen kleinen Ort mit einem Kirchturm, einem Marktplatz mit einem Kreuz, einer sonnenbestrahlten Straße und einem Teich, in dem sich ein altes Pferd die Beine kühlte, und ein paar Menschen, die schläfrig in kleinen Schattenflecken lagen oder herumstanden. Nach dem Rauschen der Blätter und dem Wogen des Korns den ganzen Weg entlang sah es wie die stillste, heißeste, regungsloseste kleine Stadt in ganz England aus.

Vor dem Wirtshaus wartete Mr. Boythorn zu Pferd mit einem offnen Wagen auf uns, der uns nach seinem noch einige Meilen entfernten Hause bringen sollte. Er war außer sich vor Freude, uns zu sehen, und stieg behende aus dem Sattel.

»Bei Gott!« sagte er, nachdem er uns höflich begrüßt hatte. »Das ist eine ganz niederträchtige Kutsche. Sie ist das schlagendste Beispiel eines abscheulichen öffentlichen Vehikels, das jemals die Oberfläche der Erde verunstaltet hat. Fünfundzwanzig Minuten zu spät gekommen! Der Kutscher verdiente hingerichtet zu werden.«

»Ist sie zu spät gekommen?« fragte Mr. Skimpole, an den er sich bei diesen Worten gewendet hatte. »Sie kennen meine Schwäche.«

»Fünfundzwanzig Minuten! Sogar sechsundzwanzig Minuten!« entgegnete Mr. Boythorn und sah auf die Uhr. »Mit zwei Damen im Wagen hat dieser Halunke seine Ankunft absichtlich um sechsundzwanzig Minuten verzögert. Absichtlich! Ein Zufall ist ausgeschlossen. Schon sein Vater – und sein Onkel waren die liederlichsten Kutscher, die jemals auf einem Bock saßen.« Während er dies mit einem Ton höchster Entrüstung ausrief, half er uns mit größter Höflichkeit und mit freudestrahlendem Gesicht in seinen kleinen Phaethon.

»Es tut mir leid, meine Damen«, sagte er, entblößten Hauptes am Wagenschlag stehend, als alles fertig war, »daß ich leider einen Umweg von fast zwei Meilen machen muß, da der nächste Weg durch Sir Leicester Dedlocks Park führt. Ich habe geschworen, den Grund und Boden dieses Kerls nie mit meinem oder meines Pferdes Fuß zu betreten, während der gegenwärtigen Verhältnisse und solange ich atmen kann.« Als er dabei den Blicken meines Vormundes begegnete, brach er in eins seiner fürchterlichen Gelächter aus, daß es selbst den regungslosen Marktflecken in Aufruhr zu versetzen schien.

»Die Dedlocks sind hier, Lawrence?« fragte mein Vormund, als wir auf der Straße dahinfuhren und Mr. Boythorn auf dem grünen Rasen daneben trabte.

»Sir Arrogant Strohkopf ist hier«, antwortete Mr. Boythorn. »Hahaha! Sir Arrogant ist hier, und ich freue mich, denn die Gicht hat ihn bei den Beinen erwischt. Mylady« – immer, wenn er sie nannte, machte er eine höfliche Handbewegung, als wolle er sie von dem Streite ausschließen – »wird, glaube ich, täglich erwartet. Es wundert mich nicht im geringsten, daß sie ihr Erscheinen so lang wie möglich hinausschiebt. Was dieses herrliche Weib veranlaßt haben mag, dieses Gestell mit Kopf von einem Baronet zu heiraten, ist eines der unfaßbarsten Geheimnisse, die jemals der menschliche Geist zu lösen versucht hat. Hahahaha!«

»Ich nehme an«, sagte mein Vormund lachend, »daß wir den Park doch während unsres Aufenthaltes hier betreten dürfen? Das Verbot erstreckt sich doch nicht auf uns; oder doch?«

»Ich kann meinen Gästen nichts verbieten…« Mr. Boythorn verbeugte sich gegen Ada und mich mit seiner gewinnenden ritterlichen Höflichkeit, die ihm so gut stand. »Außer ihre Abreise. Es tut mir nur leid, daß ich nicht das Glück haben kann, sie in Chesney Wold herumzuführen, das wirklich sehr schön ist. Aber trotz der Sonne dieser Sommertage, Jarndyce, werdet ihr, wenn ihr den Besitzer besucht, wahrscheinlich sehr kühl empfangen werden. Er benimmt sich jederzeit wie eine Achttageuhr, wie eine von den Achttageuhren in prachtvollen Gehäusen, die nie gehen und nie gegangen sind… Hahaha! Aber er wird eine Extrasteifheit den Freunden seines Freundes und Nachbarn Boythorn gegenüber an den Tag legen. Soviel kann ich euch versprechen.«

»Wir werden es nicht darauf ankommen lassen«, sagte mein Vormund. »Er schätzt die Ehre, mich zu kennen, wahrscheinlich ebensowenig, darf ich wohl sagen, wie ich die Ehre seiner Bekanntschaft. Die Luft der Parkanlagen und vielleicht eine Besichtigung des Hauses, wie sie jeder beliebige Neugierige haben kann, genügen mir vollkommen.«

»Gut«, sagte Mr. Boythorn. »Das freut mich. Man betrachtet mich hier als einen zweiten Ajax, der den Blitz herausfordert. Hahahaha. Wenn ich sonntags in unsre kleine Kirche gehe, so erwartet ein beträchtlicher Teil der unbeträchtlichen Gemeinde, mich, von dem Blitz des Dedlock-Zornes getroffen und zu Asche verbrannt, niederstürzen zu sehen. Hahahaha! Ich glaube, Sir Leicester wundert sich selbst, daß es nicht geschieht. Denn er ist, bei Gott, der selbstgefälligste, hohlköpfigste, geckenhafteste und gehirnloseste aller Esel.«

Wir kamen jetzt an den Kamm des Hügels, und Mr. Boythorn konnte uns Chesney Wold zeigen, was seine Aufmerksamkeit von seinem Feinde ablenkte.

Es war ein malerisches altes Haus mitten in einem schönen baumbestandnen Park. Aus den Gipfeln, nicht weit von dem Herrschaftssitz, lugte die Turmspitze der von ihm erwähnten kleinen Kirche hervor. Wie schön sie aussahen, die feierlich stillen Wälder, über die Licht und Schatten wie himmlische Fittiche mit barmherzigen Botschaften durch die Sommerluft rasch dahinglitten –, der grüne Samtrasen der Abhänge, das glitzernde Wasser und der Garten mit seinen reichfarbigen, in symmetrische dichte Gruppen gedrängten Blumenbeeten –, das Haus mit Giebel und Schornstein und Turm, mit seinem dunklen Torweg und der geräumigen Terrasse, um deren Balustraden sich, die Pfeiler erkletternd und die Vasen füllend, eine Glut von Rosen schlang. Alles schien in seiner Solidität und in der heiteren, friedlichen Stille, die ringsum herrschte, kaum mehr Wirklichkeit zu sein. Auf Ada und mich machte es einen tiefen Eindruck. Über allem, über Haus, Garten und Terrasse, über den Abhängen, dem Wasser, den alten Eichen, dem Farnkraut und Moos, der Waldung und weithinaus durch die Lichtungen in der Ferne, die in einem purpurnen Nebel vor uns lag, schien ungestörte Ruhe zu herrschen.

Als wir das kleine Dorf erreichten und an einer kleinen Schenke vorbeifuhren, die das Wappen der Dedlocks trug, grüßte Mr. Boythorn einen jungen Mann, der auf einer Bank vor der Wirtshaustür saß und Angelgeräte neben sich liegen hatte.

»Das ist der Enkel der Wirtschafterin, Mr. Rouncewell«, sagte er. »Er hat sich in ein hübsches Mädchen oben im Edelhof verliebt. Lady Dedlock hat Gefallen an dem hübschen Mädchen gefunden und will sie um ihre eigne schöne Person behalten, eine Ehre, die mein junger Freund durchaus nicht zu würdigen weiß. Da er sein Röschen jetzt sowieso nicht heiraten kann, selbst wenn sie wollte, so muß er sich’s gefallen lassen und schauen, wie er am besten dabei fährt. Mittlerweile kommt er ziemlich oft auf einen oder zwei Tage her, um – zu fischen. Hahahaha!«

»Ist er mit dem hübschen Mädchen verlobt, Mr. Boythorn?« fragte Ada.

»Nun, meine liebe Miß Clare, ich glaube, sie verstehen einander. Sie werden sie ja in Bälde selbst sehen, und in solchen Sachen muß ich von Ihnen lernen – nicht Sie von mir.«

Ada errötete, und Mr. Boythorn, der uns auf seinem hübschen Grauschimmel vorausgetrabt war, stieg vor seiner Haustür ab und stand mit dargebotnem Arm und entblößtem Haupt da, bereit, uns zu empfangen.

Er bewohnte ein hübsches Haus, ein ehemaliges Pfarrhaus mit einem Rasenplatz davor, einem bunten Blumengarten an den beiden Seiten, und das ganze Grundstück umschlossen von einer ehrwürdigen alten Mauer von fruchtreifem, rötlichem Aussehen.

Übrigens hatte so ziemlich alles in der Nähe des Hauses einen Anstrich der Reife und des Überflusses. Die alte Lindenallee sah aus wie ein grüner Klostergang, die Kirsch- und Apfelbäume waren von Früchten schwer, die Stachelbeerbüsche trugen so reichlich, daß sich die Zweige bogen und auf die Erde senkten, Erdbeeren und Himbeeren gediehen in demselben Überfluß, und die Pfirsiche glühten zu Hunderten an der Mauer in der Sonne. Unter den ausgespannten Netzen und den in der Sonne funkelnden und glitzernden Glasrahmen häufte sich ein solcher Berg von Schoten und Hülsenfrüchten und Gurken, daß jeder Fußbreit Erdboden wie eine Schatzkammer von Pflanzen erschien, während der Duft von Gewürzkräutern und allerlei nützlichen Gewächsen die Luft zu einem großen Blumenstrauß machte; ganz zu schweigen von dem Heugeruch, der von den benachbarten Wiesen herüberwehte.

Eine solche Stille und Ruhe herrschte innerhalb der alten roten Mauer, daß selbst die zur Verscheuchung der Vögel in Girlanden ausgehängten Federn sich kaum bewegten, und die Mauer hatte ein so Reife beförderndes Aussehen, daß, wo hie und da hoch oben ein unbenutzter Nagel oder ein Stück Leiste hängen geblieben war, man sich leichter denken konnte, sie wären mit den wechselnden Jahreszeiten reif geworden als nach dem Lauf der Dinge verrostet und verwittert.

Das Haus, im Vergleich zu dem Garten ein wenig unordentlich, war so ein richtiges altes Haus, mit Sitzen am Kamin, die Küche mit Ziegeln gepflastert und große Balken quer über der Decke. Auf der einen Seite des Gebäudes lag der schreckliche strittige Fleck, und Mr. Boythorn hatte Tag und Nacht eine Schildwache in einem Fuhrmannskittel dort stehen, die beauftragt war, im Falle eines Angriffs augenblicklich eine eigens zu diesem Zweck aufgehängte große Glocke zu läuten und eine in einer Hundehütte angekettete große Bulldogge zur Vernichtung des Feindes loszulassen. Noch nicht zufrieden mit diesen Vorsichtsmaßregeln, hatte Mr. Boythorn auf Schildern, auf denen sein Name in großen Buchstaben stand, die schreckliche Warnung angeschrieben: »Achtung vor der Bulldogge. Bissig im höchsten Grade. Lawrence Boythorn.«

»Die Muskete ist mit Rehposten geladen. Lawrence Boythorn.«

»Fußeisen und Selbstschüsse sind hier zu allen Zeiten Tag und Nacht gelegt. Lawrence Boythorn.«

Dann: »Achtung: Wer sich frecherweise erlaubt, ohne Erlaubnis dieses Grundstück zu betreten, verfällt der schärfsten körperlichen Züchtigung und wird außerdem mit der äußersten Strenge des Gesetzes verfolgt. Lawrence Boythorn.«

Diese Tafeln zeigte er uns von seinem Fenster aus, während ihm dabei sein Vogel auf dem Kopf herumhüpfte, und er lachte sein: Hahahaha! Hahahaha! so laut und heftig, daß ich wirklich glaubte, er werde sich einen Schaden tun.

»Aber das nenne ich, sich recht viel Unannehmlichkeiten bereiten«, meinte Mr. Skimpole in seiner gewöhnlichen leichtherzigen Weise, »wo es Ihnen doch nicht ernst damit ist.«

»Nicht ernst?« rief Boythorn mit unbeschreiblicher Wärme. »Nicht ernst? Ich hätte einen Löwen gekauft, wenn Aussicht gewesen wäre, ihn abzurichten, anstatt dieses Hundes, und ihn auf den ersten dieser widerwärtigen Räuber gehetzt, der sich eine Verletzung meiner Rechte erlaubt haben würde. Wenn Sir Leicester Dedlock sich übrigens dazu verstehen will, die Frage durch ein Duell zu entscheiden, so bin ich bereit, ihm mit jeder Waffe, die der Menschheit in irgendeinem Land oder zu irgendeiner Zeit bekannt gewesen ist, entgegenzutreten. So sehr ist’s mir ernst. Ich dächte, das genügt.«

Wir waren an einem Samstag in seinem Hause angekommen und machten uns Sonntag morgens alle nach der kleinen Kirche im Park auf den Weg. Wir betraten den Park fast unmittelbar von dem strittigen Grundstück aus und gingen einen hübschen Fußweg über den grünen Rasen und unter schönen Bäumen hinweg, bis wir den Eingang zur Kirche erreichten.

Die Gemeinde war sehr klein und bestand aus lauter Bauern, mit Ausnahme der ziemlich großen Menge Dienerschaft des Herrschaftssitzes. Einige waren bereits auf ihren Plätzen, während andre noch nachkamen. Es befanden sich einige sehr stattliche Bediente darunter und ein wahres Bild von einem alten Kutscher, der aussah, als ob er der offizielle Repräsentant allen Pompes und Glanzes, der jemals auf einem Bock gesessen, wäre. Auch eine hübsche Kette von jungen Mädchen war zugegen, und über ihnen thronte das schöne alte Gesicht und die würdige behäbige Gestalt der Wirtschafterin. Das Mädchen, von dem Mr. Boythorn gesprochen, saß neben ihr. Sie war so außerordentlich hübsch, daß ich sie an ihrer Schönheit erkannt haben würde, selbst wenn ich nicht gesehen hätte, wie verschämt sie sich der Blicke des jungen Fischers bewußt war, den ich nicht weit davon entdeckte.

Ein Gesicht, und zwar kein angenehmes, obgleich es schön war, schien außerdem dieses hübsche Mädchen und überhaupt alles und jedes tückisch zu belauern. Es war das Gesicht einer Französin.

Die Glocke läutete noch, die vornehmen Herrschaften waren auch noch nicht da, und so hatte ich Zeit, mich in der Kirche umzusehen, die so modrig wie ein Grab roch. Was für eine dunkle, altertümliche, feierliche kleine Kirche es war! Die von Bäumen dicht beschatteten Fenster ließen ein gedämpftes Licht herein, das die Gesichter rings um mich her bleich erscheinen ließ und die alten Erzplatten auf dem Fußboden und die von der Zeit und Feuchtigkeit zerfressenen Denkmäler verdunkelte und das Stückchen Sonnenschein auf der Schwelle der kleinen Eingangspforte, wo ein Glockenstrang einförmig die Glocke in Bewegung setzte, glänzend machte wie einen Edelstein.

Eine gewisse Bewegung unter den Leuten, die Miene ehrfürchtiger Scheu auf den Gesichtern der Bauern und ein höflich grimmiger Ausdruck Mr. Boythorns, als ob er unerschütterlich entschlossen sei, die Anwesenheit eines gewissen jemand unter gar keinen Umständen zur Kenntnis zu nehmen, verrieten mir, daß die hohen Herrschaften gekommen waren und der Gottesdienst beginnen konnte.

»Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Diener, denn vor dir…«

Werde ich jemals vergessen, wie heftig mein Herz klopfte, als mich beim Aufstehen jener Blick traf? Werde ich jemals vergessen, wie die schönen stolzen Augen aus ihrem gleichgültig schmachtenden Schlummer plötzlich zu erwachen und mich fast zu bannen schienen? Es dauerte nur eine Sekunde, dann waren meine Augen wieder freigelassen –wenn ich es so nennen kann –, und ich sah auf mein Buch nieder. Aber das schöne Gesicht stand im Geiste haarscharf vor mir.

Und merkwürdig, es regte sich in mir etwas, was mich an die einsamen Tage bei meiner Patin erinnerte. Ja, selbst an die längst entschwundne Zeit, wo ich auf den Zehen vor meinem kleinen Spiegel gestanden, um mich anzukleiden, nachdem ich vorher meine Puppe angezogen hatte. Und trotzdem wußte ich genau, daß ich das Gesicht dieser Dame niemals vorher in meinem Leben gesehen hatte.

Es war nicht schwer zu erraten, daß der zeremoniöse, gichtische, grauköpfige Herr, der allein mit der Dame im Kirchenstuhl saß, Sir Leicester Dedlock war und sie Lady Dedlock. Aber warum ihr Gesicht so sonderbar auf mich wirkte, wie ein zerbrochener Spiegel, in dem ich einzelne Bruchstücke alter Erinnerungen sah, und warum ich so aufgeregt und unruhig war, weil zufällig ihr Blick auf mir geruht hatte, das konnte ich mir nicht erklären.

Ich empfand es als eine ganz unbegreifliche Schwäche und trachtete, sie dadurch zu überwinden, daß ich aufmerksam den Worten der Predigt folgte. Und da kam es mir sonderbarerweise vor, als hörte ich nicht den Geistlichen sprechen, sondern die unvergeßliche Stimme meiner Patin. Das brachte mich auf den Gedanken, ob Lady Dedlock ihr nicht vielleicht zufällig ähnlich sähe. Vielleicht war das wirklich ein wenig der Fall, aber der Ausdruck war so ganz anders, und die finstere Strenge, die sich in die Züge meiner Patin eingefressen hatte, wie Witterung in Felsgestein, fehlte so vollständig in diesem Gesicht, daß von einer Ähnlichkeit nicht gut die Rede sein konnte. Ebensowenig hatte ich jemals in irgend einem Antlitz einen derartig stolzen und hochmütigen Ausdruck wie bei Lady Dedlock gesehen, und doch schien ich, ich, die kleine Esther Summerson, als Kind, das ein Leben für sich geführt hatte und dessen Geburtstag nie ein Festtag gewesen, vor meinen eignen Augen emporzusteigen, aus der Vergangenheit heraufbeschworen wie durch eine seltsame Macht dieser vornehmen Dame, von der ich genau wußte, daß ich sie bis zu dieser Stunde niemals gesehen hatte.

Ich war so unerklärlich aufgeregt, daß mir selbst die beobachtenden Blicke der französischen Zofe weh taten, die doch schon von ihrem ersten Erscheinen in der Kirche an ununterbrochen lauernd umhergeblickt hatte. Allmählich, wenn auch nur sehr langsam, wurde ich meiner seltsamen Bewegung Herr. Nach einer Weile sah ich mich wieder nach Lady Dedlock um. Sie stand gerade auf, um in den Gesang vor der Predigt einzustimmen. Sie beachtete mich nicht, und mein Herzklopfen hatte aufgehört. Es kam auch nicht wieder außer auf ein paar Augenblicke, als sie später ein oder zwei Mal Ada und mich durch ihre Lorgnette musterte.

Nach Beendigung des Gottesdienstes reichte Sir Leicester Lady Dedlock höchst zeremoniell und feierlich den Arm – obgleich er selbst nur mit Hilfe eines dicken Stockes gehen konnte – und führte sie aus der Kirche an den Ponywagen, in dem sie gekommen waren. Die Dienerschaft zerstreute sich und ebenso die Gemeinde, die, wie Mr. Skimpole zu Mr. Boythorns unendlichem Vergnügen äußerte, Sir Leicester die ganze Zeit über betrachtet hätte, als wäre er Großgrundbesitzer im Paradiese.

»Das glaubt er nämlich wirklich«, sagte Mr. Boythorn. »Er ist fest davon überzeugt. Auch sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater waren es.«

»Wissen Sie«, fuhr Mr. Skimpole ganz unerwartet zu Mr. Boythorn fort, »daß ich sehr gern einen solchen Mann sehe.«

»So? Ah. Was Sie sagen!«

»Nehmen Sie an, er wünsche mich zu begönnern. Sehr gut, ich würde nicht widersprechen.«

»Aber ich«, rief Mr. Boythorn mit großer Entschiedenheit.

»Wirklich?« entgegnete Skimpole leichthin. »Aber das würde Ihnen doch Mühe machen. Warum sollten Sie sich Mühe machen? Hier bin ich, zufrieden, was da kommt, über mich ergehen zu lassen, und gebe mir nie Mühe. Ich komme also hierher und finde einen mächtigen, Huldigung heischenden Potentaten. Gut. Ich sage: Mächtiger Potentat, hier meine Huldigung! Es ist leichter, sie darzubringen, als sie zu verweigern. Hier ist sie. Wenn Sie mir irgend etwas Angenehmes zu zeigen haben, werde ich mich glücklich schätzen, es anzusehen. Wenn Sie mir irgend etwas Angenehmes zu geben haben, werde ich mich glücklich schätzen, es anzunehmen. Der mächtige Potentat antwortet: ‚Das ist ein verständiger Mensch. Ich finde, er wirkt günstig auf meine Verdauung und mein galliges Naturell. Er zwingt mir nicht die Notwendigkeit auf, mich zusammenzurollen wie ein Stacheligel. Im Gegenteil, ich breite mich aus, ich entfalte mich und wende mein silbernes Futter nach außen, wie Miltons Wolke, und das ist angenehmer für uns beide.‘ So sehe ich die Sache an, wenn ich als Kind spreche.«

»Aber angenommen, Sie gingen morgen irgendwo anders hin«, sagte Mr. Boythorn, »wo Sie das gerade Gegenteil eines solchen Kerls fänden; was dann?«

»Was dann?« sagte Mr. Skimpole mit einer Miene kindlicher Einfalt und Aufrichtigkeit. »Ganz dasselbe dann! Ich würde sagen: Mein verehrter Boythorn – wenn Sie der Betreffende wären –, mein verehrter Boythorn, Sie wollen von dem mächtigen Potentaten nichts wissen? Sehr gut. Ich auch nicht. Ich halte es für meinen Beruf im sozialen System, mich angenehm zu machen; ich halte es für jedermanns Beruf im sozialen System, sich angenehm zu machen. Es soll doch ein System der Harmonie sein. Deshalb, wenn Sie gegen den Potentaten sind, bin ich auch gegen ihn. Und jetzt, mein trefflicher Boythorn, lassen Sie uns zu Tisch gehen.«

»Aber der treffliche Boythorn könnte sagen«, entgegnete unser Wirt und wurde blutrot vor Zorn, »ich will ver…«

»Ich verstehe schon«, unterbrach ihn Mr. Skimpole. »Sehr wahrscheinlich würde er das sagen.«

»…sein, wenn ich zu Tische gehe«, ergänzte Mr. Boythorn mit großer Heftigkeit, blieb stehen und stieß mit dem Stock auf den Boden. »Und er würde wahrscheinlich hinzusetzen, gibt es nicht etwas, was Prinzip heißt, Mr. Harold Skimpole?«

»Worauf Harold antworten würde«, erwiderte Mr. Skimpole in seiner fröhlichsten Weise und mit seinem naivsten Lächeln: »Bei meinem Leben, ich habe nicht den mindesten Begriff davon. Ich weiß nicht, was Sie Prinzip nennen, wo es ist oder wer es hat. Wenn Sie es haben und es angenehm finden, freut mich das sehr, und ich gratuliere Ihnen von Herzen. Aber ich weiß nichts davon, das versichere ich Ihnen, denn ich bin ein reines Kind und lege keinen Wert darauf und brauche es nicht. Und dann, sehen Sie, würden der treffliche Boythorn und ich dennoch zu Tisch gehen.«

Das war eins von den vielen kleinen Zwiegesprächen zwischen den beiden, bei denen ich immer fürchtete, sie würden mit einem heftigen Ausbruch von Seiten unsres Wirtes enden. Das wäre unter allen Umständen auch sicher der Fall gewesen, wenn nicht Mr. Boythorn eine so hohe Auffassung von Gastfreundschaft gehabt hätte. Überdies lachte mein Vormund so herzlich über Mr. Skimpole wie über ein Kind, das den ganzen Tag Seifenblasen macht, daß die Sache nie über diesen Punkt hinausging. Mr. Skimpole, der es nie zu wissen schien, wenn er einen gefährlichen Gegenstand berührte, fing dann vielleicht eine Skizze im Park an, die er nie fertig machte, oder spielte Melodien auf dem Piano, sang Bruchstücke von Liedern oder legte sich unter einen Baum auf den Rücken und schaute in den Himmel und hielt alles das für seinen wirklichen Beruf, weil es ihm so ausgezeichnet paßte.

»Unternehmungsgeist und Anstrengung«, pflegte er in solchen Fällen zu uns zu sagen, »sind mir eine wahre Lust. Ich glaube, ich bin ein echter Kosmopolit. Ich habe die größten Sympathien für sie. Ich liege an einem schattigen Platz wie diesem hier und denke an die Wagehälse, die den Nordpol suchen oder bis in das Herz der heißen Zone eindringen, mit Bewunderung. Habsüchtige, geldgierige Leute fragen: Was trägt es ihm ein, nach dem Nordpol zu fahren. Wozu ist das gut? Ich weiß es nicht, aber jedenfalls, wenn der Wagehals es auch nicht weiß, gibt er meinen Gedanken, während ich hier liege, angenehm Nahrung. Aber vielleicht fährt er wirklich hin – unbewußt natürlich –, um meine Gedanken angenehm zu beschäftigen, während ich hier liege. Nehmen wir einen extremen Fall: Nehmen wir die Sklaven in den amerikanischen Plantagen. Ich gebe zu, daß sie hart arbeiten müssen. Ich gebe zu, daß ihnen das nicht besonders gefällt. Ich gebe ohne weiteres zu, daß sie ihr Dasein im großen ganzen recht unangenehm empfinden, aber sie beleben die Landschaft für mich, stimmen sie poetisch für mich, und vielleicht ist das einer der angenehmeren Zwecke ihres Daseins. Ich empfinde es jedenfalls so und würde mich nicht wundern, wenn es sich auch in Wirklichkeit so verhielte.«

Ich fragte mich bei solchen Gelegenheiten immer, ob er wohl jemals an seine Frau und Kinder denke und von welchem Gesichtspunkt aus er sie in seiner kosmopolitischen Weltanschauung wohl betrachte. Soweit ich übrigens beurteilen konnte, dachte er fast niemals an sie.

Wieder war eine Woche bis zum Samstag nach jenem Kirchgang verflossen, und jeder Tag war so hell und blau gewesen, daß im Wald herumzustreifen und das Sonnenlicht zwischen den durchscheinenden Blättern hereinfallen und in den schönen Verschlingungen der Schatten der Bäume glänzen zu sehen, während die Vögel sangen und die Luft schlief bei dem Gesumme der Insekten, eine wahre Freude war. Wir hatten uns ein Lieblingsplätzchen tief in Moos und altem abgefallnem Laub, wo ringsum einige gefällte, ganz aus der Rinde geschälte Bäume lagen, ausgesucht. Wenn wir dort saßen, blickten wir durch einen grünen Prospekt, getragen von tausend natürlichen Säulen, den weißschimmernden Stämmen der Bäume, in eine Ferne, die durch ihren Gegensatz zu dem Schatten, in dem wir saßen, und die Laubwölbung, durch die wir auf sie hinsahen, so hell erstrahlte, daß sie wie ein Blick ins Jenseits war.

An diesem Samstag saßen Mr. Jarndyce, Ada und ich dort, bis wir dumpf in der Ferne den Donner rollen und große Regentropfen auf die Blätter klatschen hörten.

Die ganze Woche über war es außerordentlich schwül gewesen, aber das Gewitter kam so plötzlich – wenigstens für uns an dieser geschützten Stelle –, daß, ehe wir noch den Saum des Waldes erreichten, Blitz auf Blitz zuckte und der Regen schwer durch die Blätter rauschte, als wäre jeder Tropfen eine Bleikugel.

Da das kein Wetter war, um unter den Bäumen Schutz zu suchen, liefen wir aus dem Wald heraus und die moosbewachsenen Stufen, die an den Umzäunungen entlang führten, hinauf und hinab und eilten zu einem Parkwächterhäuschen in der Nähe hin. Schon oft war uns die düstere romantische Schönheit dieser Hütte in dem dunkeln Zwielicht der Bäume aufgefallen. Von Efeu dicht umwuchert, stand sie an einem steilen Abhang, und einmal hatten wir den Hund des Parkhüters in das tiefe Farnkraut untertauchen sehen wie in einen grünen See.

Es war so dunkel in der Hütte bei dem ganz mit Wolken bedeckten Himmel, daß wir nur den Mann unterscheiden konnten, der, als er uns sah, an die Tür kam und zwei Stühle für Ada und mich hinsetzte.

Die Jalousien waren in die Höhe gezogen, und wir saßen im Flur und sahen auf das Gewitter hinaus. Es war grandios, wie sich der Wind erhob und die Bäume niederbog und den Regen vor sich hertrieb wie eine Rauchwolke, den feierlichen Donner zu hören und das Blitzen zu sehen und dabei mit Schauer an die gewaltigen Mächte denken zu müssen, von denen unser unbedeutendes Leben umgeben ist, Zeuge zu sein, wie wohltätig sie wirkten und auf Blätter und Blüten eine Frische ausschütteten, die alles neu zu machen schien.

»Ist es nicht gefährlich, an einer so offnen Stelle zu sitzen?«

»O nein, liebe Esther«, antwortete Ada ruhig.

Ada sagte das zu mir, aber ich hatte kein Wort gesprochen.

Mein Herzklopfen kam wieder. Ich hatte die Stimme nie gehört, wie ich auch das Gesicht vorher nie gesehen hatte, aber sie machte denselben seltsamen Eindruck auf mich. In einem Augenblick erzeugte sie unzählige Bilder vor meiner Seele: Lady Dedlock hatte vor uns Schutz in der Hütte gesucht und war aus dem Dunkel drinnen hervorgetreten. Sie stand hinter meinem Stuhl und hatte die Hand auf die Lehne gelegt. Ich sah ihre Hand ganz dicht an meiner Schulter, als ich mich umdrehte.

»Ich habe Sie erschreckt?« sagte sie.

Nein. Ich war nicht erschrocken. Warum hätte ich auch erschrecken sollen.

»Ich glaube«, wendete sich Lady Dedlock zu meinem Vormund, »ich habe das Vergnügen mit Mr. Jarndyce.«

»Ihr Gedächtnis erweist mir mehr Ehre, als ich hätte vermuten dürfen, Lady Dedlock«, entgegnete er.

»Ich erkannte Sie am Sonntag in der Kirche. Es tut mir leid, daß Streitigkeiten Sir Leicesters – sie sind, ich glaube, nicht von ihm ausgegangen – es so lächerlich schwierig machen, Ihnen hier unsre Gastfreundschaft anbieten zu können.«

»Ich bin in die Verhältnisse eingeweiht«, antwortete mein Vormund mit einem Lächeln, »und ich fühle mich auch ohne dies verpflichtet.«

Sie hatte ihm in einer gewissen kühlen Gleichgültigkeit, die ihr Gewohnheit geworden zu sein schien, die Hand gereicht und sprach in einem ebensolchen Ton, obgleich ihre Stimme etwas außerordentlich Gewinnendes hatte. Sie war ebenso anmutig wie schön, ungemein sicher und sah aus, wie ich mir dachte, als könnte sie das Herz jedes Menschen gefangen nehmen, wenn sie es der Mühe wert halte.

Der Parkhüter brachte ihr einen Stuhl heraus, und sie setzte sich in die Mitte des Eingangs zwischen uns.

»Haben Sie den jungen Herrn untergebracht, von dem Sie uns schrieben, dessen Wünsche in irgendeiner Weise zu fördern aber leider nicht in Sir Leicesters Macht stand?« fragte sie über die Schulter meinen Vormund.

»Ich hoffe ja.«

– Sie schien eine hohe Meinung von Mr. Jarndyce zu haben und zu wünschen, mit ihm auf gutem Fuß zu stehen. Es lag etwas sehr Gewinnendes in ihrem stolzen Wesen, und sie wurde vertraulicher – besser gesagt, unbefangener, wenn das überhaupt noch möglich war, wie sie mit ihm über ihre Schulter hinüber sprach. –

»Ich vermute, dies ist Ihr anderes Mündel, Miß Clare?«

Er stellte ihr Ada vor.

»Man wird Ihnen trotz Ihres Don-Quichote-Charakters Ihre Uneigennützigkeit nicht mehr glauben, wenn Sie nur Schönheiten unter Ihren Schutz nehmen. Aber stellen Sie mich auch dieser jungen Dame vor«, sagte sie und sah mir voll ins Gesicht.

»Miß Summerson ist wirklich mein Mündel«, erklärte Mr. Jarndyce. »Für sie bin ich beim Lordkanzler verantwortlich.«

»Hat Miß Summerson ihre beiden Eltern verloren?«

»Ja.«

»Sie hat es sehr gut mit der Wahl ihres Vormunds getroffen.«

Lady Dedlock sah mich an, und ich stimmte ihr bei, daß das allerdings in ganz hervorragender Weise der Fall sei. Plötzlich wendete sie sich mit einer Hast von mir ab, die fast wie Abneigung oder Mißfallen aussah, und sprach wieder mit ihm über die Achsel.

»Jahre sind vergangen, seit wir zusammengekommen sind, Mr. Jarndyce.«

»Eine sehr lange Zeit. Wenigstens glaubte ich, es sei lange her, bis ich Sie vorigen Sonntag sah.«

»Was, selbst Sie sind ein Schmeichler oder halten es für notwendig, mir gegenüber einer zu werden«, sagte sie mit leichter Geringschätzung. »Einen solchen Ruf habe ich mir erworben?«

»Sie haben soviel erworben, Lady Dedlock«, sagte mein Vormund, »daß Sie wohl eine kleine Strafe bezahlen müssen. Wenn auch nicht mir.«

»Soviel!« wiederholte sie leise lachend. »Ja!« In ihrer Überlegenheit und Macht und Faszinationsgabe und, ich weiß nicht, was alles, schien sie in Ada und mir wenig mehr als Kinder zu sehen. Wie sie leise lachte und dann nachdenklich in den Regen hinausschaute, war sie so unbefangen und sicher und hing ihren Gedanken so ungeniert nach, als ob sie allein wäre.

»Ich glaube, Sie kannten meine Schwester besser als mich, als wir zusammen im Ausland waren?« fragte sie und blickte wieder auf.

»Ja, wir trafen uns öfter.«

»Wir sind unsre eignen Wege gegangen«, sagte Lady Dedlock, »und hatten selbst, ehe wir noch uneins zu werden für gut fanden, wenig miteinander gemein. Es ist bedauerlich, aber es konnte nicht anders sein.«

Wieder sah sie in den Regen hinaus. Das Gewitter zog schnell vorüber. Der Regenschauer ließ stark nach, das Blitzen hörte auf, der Donner rollte in der Ferne über den Hügeln, und die Sonne fing an, auf die nassen Blätter und den dünn rieselnden Regen zu glitzern.

Während wir schweigend dasaßen, sahen wir einen kleinen Pony-Phaethon in munterm Trab auf uns zufahren.

»Der Bote kommt mit dem Wagen zurück, Mylady«, meldete der Parkhüter.

Als der Phaethon vorfuhr, bemerkten wir, daß zwei Personen drin saßen. Mit einigen Mänteln und Tüchern im Arm stieg zuerst die Französin aus, die ich in der Kirche gesehen hatte, und dann das hübsche Mädchen. Die Französin mit einer gewissen trotzigen Zuversicht, das Mädchen verlegen und zögernd.

»Was heißt das?« fragte Mylady. »Zwei?!«

»Ich bin für jetzt noch Ihre Kammerfrau, Mylady«, sagte die Französin. »Der Bote verlangte nach der Zofe.«

»Ich fürchtete, Sie könnten mich meinen, Mylady«, entschuldigte sich das hübsche Mädchen.

»Ich meinte auch dich, mein Kind«, entgegnete Lady Dedlock ruhig. »Gib mir diesen Schal um.«

Sie bückte sich ein wenig, und das hübsche Mädchen ließ das Tuch leicht auf ihre Schultern fallen. Die Französin stand unbeachtet daneben und sah mit krampfhaft zusammengepreßten Lippen zu.

»Es tut mir leid«, wendete sich Lady Dedlock zu Mr. Jarndyce, »daß wir unsre frühere Bekanntschaft wahrscheinlich nicht erneuern können. Sie werden mir erlauben, den Wagen für Ihre beiden Mündel wieder herzuschicken. Er wird gleich zurück sein.«

Da mein Vormund um keinen Preis dieses Anerbieten annehmen wollte, verabschiedete sie sich mit Anmut von Ada – nicht von mir –, legte ihre Hand auf seinen dargebotnen Arm und stieg in den Wagen, der eine kleine, niedrige Parkchaise mit einem Halbdach war.

»Steig ein, Kind«, sagte sie zu dem hübschen Mädchen. »Ich werde dich brauchen. Fahren Sie zu.«

Der Wagen fuhr fort, und die Französin, die mitgebrachten Plaids auf dem Arm, blieb stehen, wo sie ausgestiegen war.

Ich glaube, Stolz kann nichts so wenig vertragen als wieder Stolz, und sie war bestraft für ihr herrisches Wesen. Ihre Rache war das eigentümlichste, was ich mir denken kann. Sie blieb regungslos stehen, bis der Wagen in die Auffahrt eingebogen war, und zog dann, ohne eine Miene zu verziehen, die Schuhe aus, ließ sie auf dem Rasen stehen und ging langsam und wohlüberlegt gerade durch die nassesten Stellen des Grases dem Wagen nach.

»Ist das Mädchen verrückt?« fragte mein Vormund.

»O nein, Sir«, sagte der Parkhüter, der ihr mit seiner Frau nachsah. »Hortense ist gar nicht verrückt. Sie ist so klar im Kopf wie irgendeine, aber schrecklich obenhinaus und leidenschaftlich. – Sie ist furchtbar wütend, weil man ihr gekündigt hat und ihr andre vorgezogen werden.«

»Aber warum geht sie ohne Schuhe durch das Wasser?«

»Nun, vielleicht um sich abzukühlen«, meinte der Mann.

»Oder vielleicht bildet sie sich ein, es sei Blut«, sagte die Frau. »Die würde ebensogut durch Blut wie durch alles andre gehen, wenn es ihr einmal in den Kopf steigt.«

Wenige Minuten später kamen wir in der Nähe des Herrenhauses vorbei. Es sah jetzt, wo überall ringsum Diamantentropfen glitzerten, ein leichter Wind wehte, die Vögel nicht mehr ängstlich schwiegen und wieder laut sangen und alles von dem Regen erfrischt war und der Wagen auf der Auffahrt glänzte wie ein Feenwagen aus Silber, noch friedlicher aus.

Immer noch voll Fassung und Ruhe, auch eine friedliche Gestalt nach ihrer Art in der Landschaft, ging Mademoiselle Hortense ohne Schuhe durch das nasse Gras.

19. Kapitel


19. Kapitel

Marsch vorwärts

Um Chancery-Lane haben die Gerichtsferien begonnen. Bürgerliches Recht und römisches Recht, diese guten Schiffe, diese teakholzgebauten, kupferbeschlagenen, eisengegürteten, erzgestirnten und doch nichts weniger als schnellsegelnden Klipper liegen abgetakelt im Dock. Der »Fliegende Holländer« mit seiner Mannschaft gespenstischer Klienten, die alle, denen sie begegnen, anflehen, ihre Leidensgeschichte anzuhören, ist für jetzt Gott weiß wohin verschlagen worden. Die Gerichtshöfe sind sämtlich geschlossen, die öffentlichen Ämter liegen in einem heißen, schweißtreibenden Schlaf, selbst die Westminster-Hall ist eine schattige, einsame Insel, wo Nachtigallen singen und eine zärtlichere Klasse von Prozessanten, als man sie gewöhnlich dort findet, spazieren gehen könnte.

Der »Tempel«, Chancery-Lane, Serjeant’s-Inn und Lincoln’s-Inn bis hinaus zu Lincoln’s-Inn-Fields sind wie Fluthäfen zur Ebbezeit, wo gestrandete Prozesse und Kanzleien vor Anker hoch und trocken auf dem Schlamm der Ferienzeit liegen und unbeschäftigte Schreiber sich auf Stühlen schaukeln, die erst wieder auf die vier Beine zu stehen kommen, wenn die Strömung der Gerichtszeit wiederkehrt. Die Tore der Kanzleilokale sind zu Dutzenden geschlossen, und Briefe und Pakete werden scheffelweise beim Portier abgegeben. Ganze Wagenladungen Gras würden aus den Fugen des Trottoirs von Lincoln’s-Inn wachsen, wenn nicht die Austräger, die nichts zu tun haben als dort im Schatten zu sitzen – die weißen Schürzen als Schutz vor den Fliegen über den Kopf gezogen –, es herausrupften und nachdenklich kauten.

Nur ein einziger Richter weilt in der Stadt. Selbst er erscheint nur zwei Mal wöchentlich in seinen Amtszimmern. Wenn die Provinzbewohner der Assisen-Städte zu seinem Bezirk ihn jetzt sehen könnten! Keine Allongeperücke, kein roter Talar, kein Hermelin, keine Hellebardiers, keine weißen Stäbe. Ein bürgerlicher, sorgfältig rasierter Gentleman mit weißen Hosen und einem weißen Hut, das richterliche Gesicht seegebräunt und die richterliche Nase infolge Sonnenstichs sich schälend, der, wenn er in die Stadt kommt, den Austernkeller besucht und eisgekühltes Ingwerbier trinkt.

Das Barreau Englands ist über die ganze weite Erde verstreut. Wie England vier lange Sommermonate ohne seine Advokaten – diese allgemein anerkannte Zuflucht im Unglück und sein einzig legitimer Triumph im Glück – auskommen kann, gehört nicht hierher; jedenfalls trägt Britannia gegenwärtig nicht diesen Ehrenschild.

Der gelehrte Herr, der über die unerhörte Verletzung der Gefühle seiner Klienten durch die Gegenpartei immer so entsetzlich entrüstet wird, daß er außerstande zu sein scheint, sich jemals zu erholen, befindet sich viel besser, als man denken sollte, in der Schweiz. Der gelehrte Herr, der das Geschäft des Verächtlichmachens besorgt und alle Gegner mit seinem giftigen Sarkasmus vernichtet, lebt kreuzfidel in einem französischen Badeort.

Der gelehrte Herr, der bei der geringsten Veranlassung kannenweis weint, hat seit sechs Wochen keine Träne vergossen. Der sehr gelehrte Herr, der die angeborne Hitze seines heftigen Temperaments in den Brunnen und Quellen der Rechtswissenschaft abgekühlt hat, bis er während der Session groß geworden ist in verknoteten und verwickelten Argumentationen, die die Eingeweihten nur unvollkommen verstehen und die Uneingeweihten überhaupt nicht, macht in charakteristischer Vorliebe für Dürre und Staub die Gegend von Konstantinopel unsicher.

Andere Fragmente desselben großen Palladiums sind auf den Lagunen Venedigs, am zweiten Nilkatarakt, in den deutschen Bädern und auf dem Meeressand an der ganzen englischen Küste verstreut zu finden. Kaum einem einzigen begegnet man in der verlassenen Region von Chancery-Lane. Wenn ein solches einsames Mitglied des Barreaus über diese Wüste flattert und einen umherschweifenden Klienten trifft, der sich vom Schauplatz seiner Sorgen nicht trennen kann, so erschrecken beide voreinander, weichen sich in großem Bogen aus und verstecken sich im Schatten.

Es ist die heißeste Ferienzeit seit vielen Jahren. Alle jungen Schreiber sind wahnsinnig verliebt und sehnen sich in verschiedenen Abstufungen in Margate, Ramsgate oder Gravesend nach seligem Beisammensein mit dem Gegenstand ihrer Liebe. Allen Schreibern von mittlerem Alter kommen ihre Familien zu zahlreich vor. Alle herrenlosen Hunde, die in den Inns herumstreunen und an den Treppenabsätzen und andern ausgetrockneten Orten nach Wasser lechzen, lassen ein kurzes, ärgerliches Geheul hören. Alle Hunde von Blinden auf der Straße rennen mit ihren Herrn gegen Brunnen oder machen sie über Wassereimer stolpern. Ein Laden mit Jalousien, einem wasserbegossenen Trottoir davor und einer Schüssel mit Goldfischen im Fenster gilt als geweihtes Asyl. In »Temple Bar« wird es so heiß, daß es für den benachbarten Strand von Fleetstreet das bedeutet, was das Lämpchen für einen Teekocher ist, und die Umgebung die ganze Nacht in Siedehitze erhält.

Es gibt Kanzleien in den Inns, wo man sich abkühlen könnte, wenn die Langeweile nicht noch schlimmer wäre als die Hitze. Aber in den kleinen Gäßchen in der Nähe dieser Zufluchtsorte brütet die Glut. In Mr. Krooks Hof ist es so heiß, daß die Leute das Innere ihrer Häuser nach außen gekehrt haben und in Stühlen auf dem Trottoir sitzen – Mr. Krook mit eingerechnet, der, die Katze neben sich, hier seine Studien fortsetzt. Die »Sonne« hat ihre harmonischen Gesellschaften vorläufig unterbrochen, und der kleine Swills ist in den Gärten flußabwärts tätig, wo er den Unschuldigen spielt und komische, für die Harmlosen bearbeitete Liedchen singt, die, wie der Anschlagzettel besagt, selbst das empfindsamste Gemüt nicht verletzen können.

Über der ganzen juristischen Nachbarschaft hängt wie ein großer Schleier von Rost oder eine riesenhafte Spinnwebe das Nichtstun und die Traumstimmung der Gerichtsferien. Auch Mr. Snagsby, der Schreibmaterialienhändler in Cook’s Court, Cursitor Street, empfindet diesen Einfluß. Nicht nur als mitfühlender und versonnener Mann, sondern auch hinsichtlich seiner Geschäftstätigkeit. Er hat während der Gerichtsferien mehr Muße, in Staple-Inn und Rolls-Yard zu träumen, als zu andern Zeiten und bemerkt gelegentlich zu den beiden »Stiften«, wie schön es sei, bei so heißem Wetter sich vorzustellen, daß man auf einer Insel, vom Meere umwogt und umtost, lebe.

Guster hat an diesem Nachmittag sehr viel zu tun, denn Mr. und Mrs. Snagsby erwarten Gäste. Die geladene Gesellschaft ist nicht so sehr zahlreich als gewählt, denn sie besteht aus Mr. und Mrs. Chadband und sonst niemandem.

Da Mr. Chadband sich sowohl im Gespräch als in Briefen gern ein »Gefäß« nennt, halten ihn zuweilen Leute, die ihn nicht kennen, für einen Herrn, der mit Wasserleitungen zu tun hat. Er ist aber, wie er sich ausdrückt, »in der Seelsorge tätig«. Mr. Chadband gehört keiner besondern Sekte an, aber er hat Jünger, und Mrs. Snagsby zählt zu ihnen. Mrs. Snagsby hat sich erst vor kurzem bei Mr. Chadband eingeschrieben. Dieses Gefäß zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, als die Sommerhitze sie ein wenig aufgeregt hatte.

»Meine kleine Frau«, sagt Mr. Snagsby zu den Spatzen in Staple-Inn, »liebt die Religion gern ein wenig gepfeffert, müßt ihr wissen.«

Deshalb richtet Guster, sehr erbaut von dem Gedanken, heute die fromme Magd Chadbands sein zu dürfen, von dem sie weiß, daß er die Gabe hat, vier Stunden lang in einem Zug predigen zu können, das kleine Staatszimmer zum Tee her. Die Möbel sind ausgeklopft und abgestaubt, die Porträts Mr. und Mrs. Snagsbys mit einem feuchten Tuch aufgefrischt, das beste Teeservice steht auf dem Tisch und neben ihm schmackhaftes frisches Brot, kalte frische Butter, dünn geschnittener Schinken, Zunge und Gothaer Wurst, und köstliche kleine Reihen von Anchovis ruhen in Petersilie. Ganz zu schweigen von den frisch gelegten Eiern, die warm in einer Serviette heraufgebracht werden sollen, und dem warmen, butterbestrichnen Zwieback. Denn Chadband ist ein geräumiges Gefäß – seine Feinde sagen, ein Schlund von einem Gefäß –, und er weiß mit den Waffen des Fleisches, wie es Messer und Gabel sind, merkwürdig gut umzugehen.

Mr. Snagsby hat seinen besten Rock an, überblickt noch einmal alle Vorbereitungen, als sie fertig sind, und sagt nach einem bescheidenen Hüsteln hinter der Hand zu Mrs. Snagsby:

»Wann erwartest du Mr. und Mrs. Chadband, meine Liebe?«

»Um sechs.«

Mr. Snagsby äußert leichthin und äußerst milde, daß es schon sechs Uhr vorbei sei.

»Möchtest du vielleicht ohne sie anfangen?« fragt Mrs. Snagsby vorwurfsvoll.

Mr. Snagsby sieht aus, als ob er das allerdings gern möchte, aber er sagt bloß mit seinem sanftmütigen Hüsteln:

»Nein, meine Liebe, nein. Ich erwähnte es nur so.«

»Was ist Zeit gegen die Ewigkeit«, seufzt Mrs. Snagsby.

»Sehr wahr, meine Liebe«, gibt Mr. Snagsby zu. »Nur wenn jemand Speisen für einen Tee bereit hält, denkt er dabei – vielleicht – mehr – an die Zeit. Und wenn schon eine Zeit zum Tee festgesetzt ist, so sollte man auch pünktlich antreten.«

»Antreten!« wiederholt Mrs. Snagsby mit Strenge. »Antreten! Als ob Mr. Chadband ein Preisboxer wäre!«

»O, so habe ich es nicht gemeint, meine Liebe«, entschuldigt sich Mr. Snagsby.

Guster, die zum Fenster des Schlafzimmers hinausgesehen hat, kommt plötzlich die Treppe heruntergepoltert wie das Gespenst aus dem Volksmärchen, stürzt mit rotem Gesicht in das Staatszimmer und meldet, daß Mr. und Mrs. Chadband in Sicht seien. Da gleich darauf die Klingel an der innern Tür im Gang ertönt, wird Guster von Mrs. Snagsby streng ermahnt, bei sonstiger augenblicklicher Entlassung die Zeremonie des Anmeldens nicht zu versäumen. Durch diese Drohung ganz außer Fassung gebracht, verstümmelt sie die Zeremonie derart, daß sie meldet: »Mr. und Mrs. Cheeseming, oder so heißens«, und verschwindet dann mit Gewissensbissen.

Mr. Chadband ist ein großer gelber Mann mit einem fetten Lächeln und sieht aus, als flösse Tran in seinen Adern. Mrs. Chadband ist eine finstere, strengblickende, schweigsame Frau.

Mr. Chadband bewegt sich langsam und schwerfällig, fast wie ein Bär, der aufrecht gehen gelernt hat. Er weiß nichts mit seinen Armen anzufangen; als ob sie ihm im Wege wären und er am liebsten damit scharren möchte. Sein Kopf ist stets schweißbedeckt, und er fängt nie an zu reden, ohne nicht vorher seine große Hand emporzuhalten als Zeichen für seine Zuhörer, daß er sie zu erbauen gedenke.

»Meine Freunde«, hebt Mr. Chadband an. »Friede sei mit diesem Hause! Friede dem Hausherrn und der Hausfrau, den Jungfrauen und den Jünglingen darin! Meine Freunde, warum wünsche ich Frieden? Was ist Friede? Ist es Krieg? Nein. Ist es Kampf? Nein. Ist er lieblich und sanft und schön und heiter und voll Freude? Ja, ja! Deshalb, meine Freunde, wünsche ich: Friede sei mit euch und den Eurigen!«

Da Mrs. Snagsby sehr erbaut aussieht, hält es Mr. Snagsby für angebracht, Amen zu sagen. Das findet allgemeine Billigung.

»Nun, meine Freunde«, fährt Mr. Chadband fort, »da ich einmal bei diesem Thema bin…«

Guster erscheint.

Mrs. Snagsby ruft mit tiefer Grabesstimme und ohne den Blick von Chadband zu wenden, mit grauenhafter Deutlichkeit: »Fahr ab!«

»Nun, meine Freunde«, sagt Chadband, »da ich einmal bei diesem Thema bin, um es in meiner schlichten Weise zu eurer Erbauung…«

Ganz unverantwortlicher Weise murmelt Guster: »Siebzehnhundertzweiundachtzg!« Die Grabesstimme wiederholt noch feierlicher: »Abfahren!«

»Nun, meine Freunde«, sagt Mr. Chadband, »wollen wir im Geiste der Liebe…«

Abermals wiederholt Guster: »Siebzehnhundertzweiundachtzg!«

Mr. Chadband hält mit der entsagungsvollen Miene eines Mannes, der an Verfolgung gewöhnt ist, inne, faltet langsam sein Kinn in ein fettes Lächeln und sagt:

»Wir wollen die Jungfrau hören! Sprich, Jungfrau!«

»Siebzehnhundertzweiundachtzg, wenn S erlauben, Sir. Er möcht gern wissen, für was der Schilling is«, sagt Guster atemlos.

»Wofür?« entgegnet Mr. Chadband. »Das Fahrgeld.«

Guster erklärt, daß der Kutscher auf einem Schilling acht Pence bestehe und die Polizei holen wolle. Mrs. Snagsby und Mrs. Chadband wollen ihrer Entrüstung durch schrille Schreie Luft machen, aber Mr. Chadband erhebt die Hand und beschwichtigt den Sturm.

»Meine Freunde«, sagt er, »ich entsinne mich einer gestern unerfüllt gelassenen Pflicht. Es ist recht, daß ich gezüchtigt werde. Man soll nicht murren. Rachael, bezahle die acht Pence.«

Während Mrs. Snagsby tief aufatmet und Mr. Snagsby streng ansieht, als wollte sie sagen: Hörst du diesen Apostel! und Mr. Chadband in Demut und Tran erglänzt, bezahlt Mrs. Chadband das Geld.

Es ist Mr. Chadbands Gepflogenheit, diese Art Verrechnung von kleinsten Soll- und Habenposten öffentlich zu verbuchen.

»Meine Freunde, acht Pence ist nicht viel. Es hätte ebensogut 1 sh. und 4 d. sein können. Es hätte ebensogut eine halbe Krone sein können. O lasset uns jauchzön! Lasset uns jauchzön!« Mit dieser Bemerkung, die das Bruchstück aus einer Hymne zu sein scheint, nach dem Tone zu schließen, begibt sich Mr. Chadband mit feierlichem Schritt an den Tisch und erhebt nochmals, bevor er einen Stuhl nimmt, ermahnend die Hand.

»Meine Freunde, was ist das, was wir hier vor uns ausgebreitet sehen? Erfrischungen. Bedürfen wir der Erfrischungen, meine Freunde? Ja, wir bedürfen ihrer. Und warum bedürfen wir der Erfrischungen, meine Freunde? Weil wir sterblich sind. Weil wir eitel Sünder sind. Weil wir der Erde angehören, weil wir nicht der Luft angehören. Können wir fliegen, meine Freunde? Nein, wir können es nicht. Warum können wir nicht fliegen, meine Freunde?«

Kühn gemacht durch seinen Erfolg vorhin, wagt Mr. Snagsby mit aufgeräumtem, ja fast schlauem Ton zu bemerken: »Keine Flügel.« Aber sofort wird er von Mrs. Snagsby mit einem finstern Stirnrunzeln in seine Schranken gewiesen.

»Nun, meine Freunde«, fährt Mr. Chadband fort, ohne im mindesten Mr. Snagsbys Einwurf zu beachten:

»Warum können wir nicht fliegen? Vielleicht, weil wir geschaffen sind, um zu gehen? So ist es. Können wir gehen, meine Freunde, ohne Kraft? Wir können es nicht. Was würden wir tun ohne Kraft, meine Freunde? Unsre Beine würden ihren Dienst versagen, unsre Knie würden einknicken, unsre Füße würden straucheln, und wir fielen zu Boden. Woher nun, meine Freunde, nehmen wir, vom fleischlichen Standpunkt aus betrachtet, die Kraft, die unsern Gliedern nötig ist? Ziehen wir sie nicht«, fragt Chadband mit einem Blick über die Tafel, »aus dem Brote in mannigfacher Gestalt, aus der Butter, die da gewonnen wird aus der Milch, die da wiederum gemolken wird von der Kuh, aus den Eiern, so das Huhn leget, aus Schinken, aus Zunge, aus Wurst und dergleichen? So ist es. So lasset uns denn teilhaben an den guten Dingen, so uns beschert sind.«

Mr. Chadbands Widersacher leugnen, daß seine Gabe, Worte auf Worte zu türmen, etwas Besonderes sei. Aber das spricht nur für ihre Scheelsucht, weiß jedermann doch, daß der Chadbandsche Redestil Gemeingut ist und überall Anklang findet.

Mr. Chadband ist vorläufig fertig, nimmt an Mrs. Snagsbys Tische Platz und legt mit fabelhafter Energie los. Die Verwandlung jeglicher Art Speise in den bereits erwähnten Tran scheint ein von der Konstitution dieses musterhaften »Gefäßes« so unzertrennlicher Prozeß zu sein, daß man ihn eine Ölmühle oder eine andre zur Verfertigung dieses Artikels eingerichtete Fabrik nennen könnte, wenn er anfängt, zu essen und zu trinken. An dem heutigen Abend hält er in Cook’s Court, Cursitor Street, die Mühle so flott in Gang, daß das Vorratshaus bis zum Rande gefüllt erscheint, als er zu arbeiten aufhört.

Während der Erbauungsepoche des Essens flüstert Guster – die sich von ihrem ersten Versehen nicht erholen konnte und kein mögliches oder unmögliches Mittel unversucht gelassen hat, ihrem eignen Ansehen und dem des Hauses zu schaden, indem sie zum Beispiel eine Art unerwarteter Militärmusik mit Tellern auf Mr. Chadbands Kopf veranstaltete und später den würdigen Herrn mit Eierbrötchen krönte – flüstert Guster Mr. Snagsby zu, daß jemand nach ihm frage.

»Um nicht durch die Blume zu sprechen, man erwartet mich unten im Laden«, sagt Mr. Snagsby und steht auf. »Die werte Gesellschaft wird mich gewiß für eine halbe Minute entschuldigen.«

Mr. Snagsby geht hinunter und findet die beiden »Stifte« in Betrachtung eines Polizeidieners versunken, der einen zerlumpten Knaben am Arm hält.

»Gott im Himmel«, fragt Mr. Snagsby, »was ist denn los?«

»Dieser Junge da«, sagt der Konstabler, »gehorcht nicht, obgleich ich ihm wiederholt gesagt habe, er solle sich auf die Beine machen…«

»I bin immer auf die Bein, Sir«, heult der Junge und wischt sich die schmutzigen Tränen mit dem Ärmel ab. »I bin immer auf die Bein gwesen, was i auf der Welt bin. Wo kann i denn hin, Sir, wenn i auch immer weiter geh?«

»Er geht nicht, wenn ich sage: Marsch vorwärts!« wiederholt der Polizeimann ruhig und bewegt den Hals militärisch hin und her, um ihn besser in seine steife Halsbinde zu passen. »Obgleich ich es ihm wiederholt gesagt habe. Deshalb hab ich ihn arretieren müssen. Er ist der widerspenstigste Spitzbub, der mir jemals vorgekommen ist. Er will nicht vorwärts.«

»Gottes willen, wo soll i denn hin«, heult der Junge, rauft sich verzweifelt die Haare und stampft mit seinen bloßen Füßen auf Mr. Snagsbys Hausflur.

»Mit so was komm mir nicht, oder ich mach kurzen Prozeß mit dir«, droht der Konstabler und schüttelt ihn, ohne sich dabei weiter aufzuregen. »Meine Instruktion lautet: Marsch vorwärts. Ich habe dir das schon fünfhundert Mal gesagt.«

»Aber wohin?« jammert der Junge.

»Hm, das scheint mir wirklich auch die Frage zu sein, Konstabler«, sagt Mr. Snagsby gedankenvoll und hüstelt ratlos hinter der Hand.

»Soweit gehen meine Instruktionen nicht«, entgegnet der Konstabler.

»Ich habe meinen Instruktionen gemäß Jungen, die auf der Gasse herumstrolchen, zu sagen: Marsch vorwärts!«

Hörst du das, Jo? Es geht dich und andre deinesgleichen nichts an, daß die großen Sterne am parlamentarischen Himmel seit ein paar Jahren unterlassen haben, ein Beispiel in: Marsch, vorwärts! zu geben. Das große Rezept, die profunde philosophische Vorschrift, ist für dich allein das Um und Auf deines seltsamen Daseins auf Erden. Marsch vorwärts! Nicht, daß du etwa ganz von der Welt verschwinden sollst, Jo – das würde den großen Sternen nicht passen –, aber: Marsch vorwärts!

Mr. Snagsby sagt nichts dieser Art – sagt überhaupt nichts –, hüstelt nur seinen ratlosesten Husten als Ausdruck dafür, daß er keinen Ausweg sieht. Mittlerweile sind Mr. und Mrs. Chadband und Mrs. Snagsby, von dem Wortwechsel herbeigelockt, auf der Treppe erschienen, und da Guster von Anfang an dort gestanden hat, ist jetzt das ganze Haus am Ende des Ganges versammelt.

»Es handelt sich einfach darum, Sir«, sagt der Konstabler, »ob Sie den Jungen kennen. Er behauptet ja.«

Mrs. Snagsby ruft von ihrer Höhe herunter: »Nein, er kennt ihn nicht.«

»Mein kleines Frauchen«, sagt Mr. Snagsby mit einem Blick auf die Treppe, »meine Liebe, du gestattest. Bitte, nur einen Augenblick Geduld, meine Liebe. Ich kenne diesen Jungen allerdings ein wenig und wüßte nichts Schlimmes von ihm, eher vielleicht das Gegenteil.«

Und der Schreibmaterialienhändler erzählt alles, was er von Jo weiß, und verschweigt nur die Geschichte mit der halben Krone.

»Soweit scheint er also wahr gesprochen zu haben«, sagt der Polizeimann. »Als ich ihn droben in Holborn arretierte, behauptete er, Sie kennen ihn. Darauf sagte ein junger Mann unter den Umstehenden, daß er Sie kenne und daß Sie ein ehrenwerter Mann und Hausbesitzer wären und daß er nachkommen wolle, wenn ich herginge und mich erkundige. Der junge Mann scheint aber keine Lust zu haben, Wort zu halten, sondern… Ah, da ist ja der junge Mann!«

Mr. Guppy tritt ein, nickt Mr. Snagsby zu und greift mit kommishafter Ritterlichkeit zur Begrüßung der Damen auf der Treppe an den Hut.

»Ich habe soeben die Kanzlei verlassen, um spazieren zu gehen, als ich Zeuge dieses Auftritts wurde«, erklärt Mr. Guppy dem Papierhändler. »Und da Ihr Name fiel, hielt ich es für nötig, die Sache näher untersuchen zu lassen.«

»Das war sehr freundlich von Ihnen, Sir«, bedankt sich Mr. Snagsby. »Ich bin Ihnen sehr verbunden.« Und abermals erzählt Mr. Snagsby, was er weiß, und verschweigt wieder die Geschichte mit der halben Krone.

»Ich weiß schon, wo du wohnst«, sagt der Polizeimann zu Jo. »Du wohnst unten in ‚Toms Einöd‘. Eine hübsche unschuldige Gegend zum Wohnen und von gutem Ruf.«

»I kann in keim bessern Ort net wohnen«, jammert Jo. »Sie würden nix von mir wissen wolln, wenn i an am bessern Ort wohnen möcht wollen. Wer möcht so einen, wie i bin, in an ordentlichen Haus wohnen lassn.«

»Du bist sehr arm, was?« fragt der Polizeimann.

»Ja, dös bin i.«

»Nun, was sagen Sie dazu? Diese beiden Kronen hab ich aus ihm herausgeschüttelt, kaum daß ich ihn angefaßt habe«, sagt der Konstabler und zeigt die Geldstücke den Umstehenden.

»Sie sin der Rest von an Sovering, Mr. Snagsby«, rechtfertigt sich Jo. »Von an Sovering, was mir eine Dame mit an Schleier gebn hat, die gsagt hat, sie war a Dienstmadel, und die amal abends an mein Straßenübergang kommen is und mi aufgfordert hat, ihr dös Haus hier zu zeign, und das Haus, wo der, was für Ihna abgschriebn hat, gstorben is, und den Kirchhof, wos n begraben habn. Sie hat zu mir gsagt: Bist du der Bursche von der Totenschau, hats gsagt. I hab zu ihr gsagt, ja, hab i zu ihr gsagt. Kannst du mir alle diese Orte zeigen, hat s gfragt. Ja, dös kann i, hab i gsagt. Und sie hat zu mir gsagt: So tu es. Und i bin vorausgangen, und sie hat mir an Sovering gebn und is fortgloffen. Und i hab nix von den Sovering ghabt«, sagt Jo, und schmutzige Tränen laufen ihm über die Wangen, »denn i hab unten in Toms Einöd fünf Schilling fürs Wechseln gebn müssn, und einer hat mir fünfi gstohln bein Schlafn, und aner hat mir neun Pence gstohlen, und der Wirt hat gsagt, i müßt was zum Besten gebn, und des hat a ganze Menge kost.«

»Du erwartest doch nicht, daß dir ein Mensch die Geschichte von der Dame und dem Sovereign glaubt?« sagt der Konstabler und sieht Jo mit unaussprechlicher Verachtung von der Seite an.

»I erwart gar nix«, erwidert Jo, »aber wahr ist die Gschicht.«

»Sie sehen, was das für ein Subjekt ist«, bemerkt der Konstabler zu den Umstehenden. »Nun, Mr. Snagsby, wenn ich ihn dies Mal nicht einstecke, wollen Sie da für ihn bürgen, daß er schaut, daß er weiterkommt ?«

»Nein«, ruft Mrs. Snagsby von der Treppe herab.

»Liebes Frauchen!« bittet ihr Gatte. »Konstabler, ich bezweifle nicht, daß er sich packen wird. Du mußt es wirklich tun«, sagt Mr. Snagsby.

»Ja, ja, ich wers schon tun, Herr«, beteuert der unglückliche Jo.

»Also, marsch fort«, befiehlt der Polizeimann. »Du weißt jetzt, was du zu tun hast, und bild dir nicht ein, daß du das nächste Mal so gut wegkommst. Hier, nimm dein Geld. Und je eher du fünf Meilen weg bist, desto besser für uns alle.«

Mit diesem Abschiedswink und einer Handbewegung auf die untergehende Sonne als einem leidlichen Ort, wohin Jo sich packen könne, wünscht der Polizeimann seinem Auditorium einen guten Nachmittag und weckt das Echo in Cook’s Court, wie er auf der Schattenseite drüben langsamen Schrittes dahingeht und, um sich bei der Hitze den Kopf abzukühlen, seinen eisenbeschlagenen Hut in der Hand trägt.

Jos unwahrscheinlich klingende Geschichte von der Dame und dem Sovereign hat die Neugier der ganzen Gesellschaft mehr oder weniger erregt. Mr. Guppy, der in Zeugensachen stets sehr wißbegierig ist und unter der Langweile der Ferienzeit schwer gelitten hat, fühlt ein solches Interesse für den Fall, daß er mit Jo ein regelrechtes Kreuzverhör anstellt. Das interessiert die Damen so außerordentlich, daß Mrs. Snagsby ihn höflich einlädt, hinauf zu kommen und eine Tasse Tee zu trinken. Da Mr. Guppy die Einladung annimmt, wird Jo aufgefordert, mit bis an die Tür des Staatszimmers zu kommen, wo ihn Mr. Guppy einvernimmt und in alle möglichen Formen quetscht, wie ein Koch ein Stück Tafelbutter, und ihn nach berühmten Mustern ausholt. Auch insofern ist die Einvernahme den Musterverhören ähnlich, als sie auch nichts zu Tage fördert und ebenfalls sehr lang dauert.

Mr. Guppy schwelgt in seinen Talenten, und Mrs. Snagsby sieht nicht nur ihre Neugier befriedigt, sondern hat auch die Empfindung, daß es ihres Gatten Geschäft in den Augen der Jurisprudenz hebt. Während des hitzigen Gefechtes ist das »Gefäß« Chadband, das sich ausschließlich der Tranbereitung zuwendet, kalt gestellt und wartet, bis es wieder aufs Herdfeuer kommt.

»Das eine weiß ich«, sagt Mr. Guppy. »Entweder bleibt der Junge an seiner Geschichte pappen wie Schusterpech, oder es ist wirklich etwas Außergewöhnliches an der Sache, das alles übertrifft, was mir jemals bei Kenge & Carboy vorgekommen ist.«

Mrs. Chadband flüstert Mrs. Snagsby etwas zu, und diese ruft aus: »Was Sie nicht sagen!«

»Seit vielen Jahren!« antwortet Mrs. Chadband.

»Sie kennt Kenge & Carboys Kanzlei seit vielen Jahren«, erklärt Mrs. Snagsby triumphierend Mr. Guppy. »Mrs. Chadband – Gattin dieses Herrn hier – Ehrwürden Mr. Chadband.«

»O wirklich!« sagt Mr. Guppy.

»Ja, ehe ich meinen jetzigen Mann heiratete«, bestätigt Mrs. Chadband.

»Waren Sie Partei in einem Prozeß, Maam?« fragt Mr. Guppy und beginnt mit ihr ein Kreuzverhör.

»Nein.«

»Nicht Partei in einem Prozeß, Maam?«

Mrs. Chadband schüttelt den Kopf.

»Da standen Sie wahrscheinlich in Beziehungen mit jemandem, der Partei in einem Prozeß war, Maam?« forscht Mr. Guppy, der es über alles liebt, einer Unterhaltung einen juristischen Anstrich zu geben.

»Auch das eigentlich nicht«, entgegnet Mrs. Chadband, die auf den Spaß mit einem sauern Lächeln eingeht.

»Auch das eigentlich nicht!« wiederholt Mr. Guppy. »Also gut. Bitte, Maam, war es eine Ihnen bekannte Dame, die mit der Firma Kenge & Carboy zu tun hatte, oder war es ein Ihnen bekannter Herr? Lassen Sie sich Zeit, Maam. Wir werden es gleich haben. Herr oder Dame?«

»Keins von beiden.«

»O! Ein Kind!« sagt Mr. Guppy und wirft der staunenden Mrs. Snagsby den gewissen pfiffigen Advokatenblick zu, den Anwälte englischen Geschworenen zuzuwerfen pflegen. »Nun, Maam, würden Sie vielleicht die Güte haben, uns zu sagen, was für ein Kind.«

»Sie haben es endlich heraus, Sir«, sagt Mrs. Chadband wieder mit einem sauern Lächeln. »Es wird, nach Ihrem Aussehen zu urteilen, wohl vor Ihrer Zeit gewesen sein. Ich hatte ein Kind in meiner Obhut, namens Esther Summerson, das ich später den Herren Kenge & Carboy übergab.«

»Miß Summerson, Maam?« fragt Mr. Guppy aufgeregt.

»Ich nenne sie Esther Summerson«, sagt Mrs. Chadband mit Strenge. »Zu meiner Zeit ist es noch ohne Miß gegangen. Esther, hieß es, Esther, tu das, Esther, tu jenes. Und sie hatte zu parieren.«

»Meine werte Maam«, entgegnet Mr. Guppy und tritt von der andern Seite des kleinen Zimmers an Mrs. Chadband heran. »Der untertänigst Ergebene, der jetzt vor Ihnen steht, nahm die junge Dame in Empfang, als sie aus dem Institut nach London fuhr, auf das Sie soeben Bezug nahmen. Darf ich mir das Vergnügen gestatten, Ihnen die Hand zu drücken?«

Mr. Chadband, der jetzt seine Zeit gekommen sieht, gibt sein gewohntes Zeichen, erhebt sein dampfendes Haupt und betupft es mit einem Taschentuch. »Still!« flüstert Mrs. Snagsby.

»Meine Freunde«, beginnt Chadband. »Wir haben mit Mäßigkeit von den guten Dingen genossen, die uns beschert wurden. Möge dieses Haus leben von dem Fett der Erden, mögen Korn und Wein im Überfluß sein darin, möge es wachsen, möge es blühen, möge es gedeihen, möge es vorwärts kommen! Aber, meine Freunde, haben wir sonst nichts genossen? Ja! Meine Freunde. Was haben wir sonst noch genossen? Geistige Nahrung? Ja. Von wem stammte dieser geistige Nutzen? Mein junger Freund, tritt vor!«

Der so angeredete Jo zögert verlegen, weicht erst einen Schritt zurück, voller Argwohn gegenüber den Absichten des beredten Mr. Chadband, und geht dann zu ihm.

»Mein junger Freund«, sagt Chadband, »du bist uns eine Perle, du bist uns ein Diamant, du bist uns ein Edelstein, du bist uns ein Juwel. Und warum, mein junger Freund?«

»Ich woaß net«, sagt Jo. »Was woaß denn i.«

»Mein junger Freund, eben weil du nicht die Erkenntnis hast, daß du uns ein Edelstein und ein Juwel bist, weißt du es nicht. Denn was bist du, mein junger Freund? Bist du ein Tier des Feldes? Nein. Ein Vogel der Luft? Nein. Ein Fisch des Meeres oder des Flusses? Nein. Du bist ein menschlicher Knabe, mein junger Freund. Ein menschlicher Knabe. O glorreich, ein menschlicher Knabe zu sein. Und warum ist es glorreich, mein junger Freund? Weil du fähig bist, die Lehren der Weisheit zu empfangen, weil du fähig bist, Gewinn zu ziehen aus der Rede, die ich jetzt zu deinem Besten halten will, weil du weder ein Stecken noch ein Stab noch ein Stock noch ein Stein noch ein Pfosten noch ein Pfeiler bist.

O Himmelsstrom, so klar und rein,
ein frommer Knabe noch zu sein!

Und fühlst du jetzt in diesem Strome deine Glieder, mein junger Freund? Nein. Warum kühlst du jetzt nicht in diesem Strom deine Glieder? Weil du in einem Zustande der Finsternis bist, weil du in einem Zustande der Umnachtung bist, weil du in einem Zustande der Sündhaftigkeit bist, weil du in einem Zustande der Knechtschaft bist. Mein junger Freund, was ist Knechtschaft? Lasset uns das jetzt ergründen im Geiste der Liebe.«

Bei diesem bedrohlichen Stadium der Predigt fährt Jo, der jetzt ganz den Verstand verloren zu haben scheint, mit dem rechten Arm über sein Gesicht und gähnt fürchterlich. Mrs. Snagsby spricht entrüstet die Vermutung aus, daß er ein Kind des Erzfeindes sei.

»Meine Freunde«, sagt Mr. Chadband, faltet sein so viel gelästertes Kinn wieder zu einem fetten Lächeln und blickt um sich. »Es ist recht, daß ich gedemütigt werde. Es ist recht, daß ich geprüft werde, es ist recht, daß ich gegeißelt werde, es ist recht, daß ich gezüchtigt werde. Ich strauchelte vergangnen Sabbat, als ich mit Hochmut meiner dreistündigen Erbauung gedachte. Die Schuld ist getilgt. Der Gläubiger hat den Zehent genommen. O lasset uns jauchzen im Herrn! O lasset uns jauchzen!«

Große Ergriffenheit Mrs. Snagsbys.

»Meine Freunde«, schließt Chadband und blickt um sich. »Ich will jetzt nicht mit meinem jungen Freund fortfahren. Willst du morgen zu mir kommen, mein junger Freund, und diese gute Dame fragen, wo ich zu finden bin, auf daß du die Predigt hörst? Oder willst du den Tag darauf kommen wie die durstige Schwalbe und den Tag nach diesem und viele folgende schöne Tage, um die Predigt zu hören?« – So spricht Mr. Chadband mit der Grazie einer Kuh.

Jo, dem es vor allem drum zu tun scheint, fort zu kommen, nickt linkisch. Mr. Guppy wirft ihm einen Penny hin, und Mrs. Snagsby ruft Guster zu, ihn sicher aus dem Hause zu geleiten. Aber ehe er hinuntergeht, wird er von Mr. Snagsby mit Speiseresten vom Tisch beladen, die er mit dem Arm fest an sich drückt.

Mr. Chadband – von dem seine Widersacher sagen, es sei zwar kein Wunder, daß er beliebig lang solch gräßlichen Unsinn fortsprechen könne, aber ganz bestimmt eines, daß er wieder aufhöre, wenn er einmal die Kühnheit gehabt habe, anzufangen – Mr. Chadband zieht sich in das Privatleben zurück, bis die Zeit kommt, wo er ein kleines Kapitalabendessen in Tran umwandelt.

Jo wandert nach der Blackfriars Brücke, wo er eine heiße steinerne Ecke findet, um dort sein Mahl zu halten.

Und da sitzt er und kaut und nagt und schaut hinauf zu dem großen Kreuz auf der Kuppel der St. Pauls-Kathedrale, das über einer rot und violett gefärbten Dunstwolke funkelt. Nach seinem Gesicht zu urteilen, ist ihm das heilige Symbol der Gipfelpunkt von Verwirrung und Unverständlichkeit inmitten der Wirrnis der Stadt. So golden, so hoch oben, so weit außer seinem Bereich.

Da sitzt er. Die Sonne geht unter, schnell rinnt der Fluß dahin, und in zwei Strömen wogt das Menschengewühl vorüber – vorwärts getrieben zu irgendeinem Zweck und zu einem einzigen Ziel… Dann jagt der Konstabler ihn wieder fort und herrscht ihn an:

»Marsch vorwärts!«

2. Kapitel


2. Kapitel

In der vornehmen Welt

Nur ein flüchtiger Blick in die feine Welt an diesem schmutzigen Nachmittag.

Sie ist dem Kanzleigerichtshof nicht so unähnlich, wie es vielleicht scheinen mag. Die vornehme Welt und das Kanzleigericht sind beide Kinder des Hergebrachten und eines heilig gewordenen Brauchs, verschlafene Rip van Winkles, die seltsame Spiele während langer Gewitterzeit gespielt haben, schlummernde Dornröschen, die der Ritter eines Tages erwecken wird, wenn alle stillstehenden Bratspieße in der Küche sich mit wunderbarer Emsigkeit zu drehen anfangen werden.

Die vornehme Welt ist keine große Welt. Selbst im Verhältnis zu unserer, die auch ihre Grenzen hat, wie selbst Seine Lordschaft finden würden, wenn sie rund um dieselbe herumzureisen und an dem Rande, wo sie zu Ende geht, stehen zu bleiben geruhten, ist sie nur ein kleines Stückchen. Es ist viel Gutes darin; es leben brave und ehrliche Leute in ihr; sie füllt ihren bestimmten Platz aus, aber das Schlimme an ihr ist, daß sie zu sehr in feine Baumwolle eingewickelt ist und die brausenden Wogen der größeren Welt nicht hören kann und nicht sehen, wie sie um die Sonne kreist. Es ist eine verdorrende Welt, und ihr Wachstum ist zuweilen behindert durch den Mangel an Luft.

Lady Dedlock ist auf einige Tage in ihre Stadtwohnung zurückgekehrt, ehe sie nach Paris reist, wo sie sich einige Wochen aufhalten wird. Wohin sie sich später zu begeben gedenkt, ist noch ungewiß. Die »fashionablen Nachrichten« verkünden es zum Troste der Pariser, und sie wissen alles, was in der vornehmen Welt geschieht. Etwas anderes zu wissen wäre unchic.

Mylady Dedlock kommt von ihrem Landsitz in Lincolnshire. Die Wasser sind über die Ufer getreten in Lincolnshire. Ein Brückenbogen im Park ist unterwaschen und eingesunken. Die nahe Niederung, eine halbe englische Meile breit, ist ein Sumpf geworden. Mit melancholischen Bäumen als Inseln darin und einer Oberfläche, die den ganzen Tag lang bei dem fallenden Regen wie punktiert aussieht.

Lady Dedlocks Landsitz ist sehr ungemütlich geworden. Das Wetter ist seit vielen Tagen und Nächten so naß gewesen, daß die Bäume bis unter die Rinde durchweicht sind und die feuchten Späne, wenn sie der Holzfäller abhaut, sich geräuschlos vom Stamme trennen und ohne Laut zu Boden fallen. Das Wild trieft und läßt Pfützen zurück, wohin es tritt. Der Schuß aus der Büchse verliert seinen scharfen Knall in der feuchten Luft, und der Rauch schwebt langsam in einer kleinen Wolke der grünen, buschgekrönten Höhe zu, die einen Hintergrund für den fallenden Regen bildet. Die Aussicht aus den Fenstern Lady Dedlocks ist eine Landschaft, abwechselnd in Bleizeichnung und in Tusche. Die Vasen auf der Terrassenmauer im Vordergrund fangen den Regen auf den ganzen Tag, und die schweren Tropfen fallen trip, trip, trip auf die breiten Sandsteinplatten des Ganges, der schon seit alter Zeit der »Geisterweg« heißt. Sonntags riecht die kleine Kirche im Park modrig; die Eichenkanzel bricht in kalten Schweiß aus, und ein Geruch und Geschmack liegt in der Luft, der an die Gräber der alten Dedlocks erinnert.

Lady Dedlock, die kinderlos ist, hat im frühen Zwielicht aus ihrem Boudoir einen Blick auf das Häuschen des Parkwächters geworfen; der Schein eines Feuers schimmerte durch die Jalousien, Rauch stieg aus dem Schornstein, und ein Kind, verfolgt von einer Frau, lief hinaus in den Regen, einem in eine Kapuze gehüllten Mann beim Parktor entgegen. Der Anblick hat die Gnädige in üble Laune versetzt. Sie sagt, sie habe sich tödlich gelangweilt.

Deshalb hat Lady Dedlock von ihrem Landsitz in Lincolnshire Abschied genommen und überläßt ihn dem Regen, den Krähen, den Kaninchen, dem Rotwild, den Rebhühnern und Fasanen. Die Bilder der Dedlocks entschwundener Zeiten sind aus purer Niedergeschlagenheit in den feuchten Wänden verschwunden, als der Kastellan durch die alten Gemächer ging und die Läden zumachte. Wann sie wieder erscheinen werden, kann der Berichterstatter der fashionabeln Nachrichten, der gleich dem bösen Feind die Vergangenheit wohl weiß und die Gegenwart, aber die Zukunft nicht, jetzt noch nicht sagen.

Sir Leicester Dedlock ist nur Baronet, aber es gibt keinen mächtigeren Baronet als ihn. Seine Familie ist so alt wie die Hügel von Lincolnshire, nur unendlich vornehmer. Er ist der Überzeugung, daß die Welt ganz gut ohne Hügel und Berge bestehen könnte, ohne Dedlocks jedoch zugrunde gehen müßte. Er gibt im allgemeinen zu, daß die Natur eine gute Einrichtung ist – ein wenig ruppig zwar, wenn sie nicht von einem Parkzaun umschlossen wird –, aber eine Einrichtung, die in ihrer Gestaltung ganz von den großen Familien der Grafschaft abhängt. Er ist ein Gentleman von strengster Gewissenhaftigkeit, verachtet alle Kleinlichkeit und Niedrigkeit und ist bereit, bei der geringsten Veranlassung eher jeden beliebigen Tod zu sterben als den kleinsten Flecken auf seinem Ruf zu dulden. Er ist ein ehrenwerter, halsstarriger, wahrheitsliebender, stolzer Mann voll krasser Vorurteile, und vollkommen unvernünftig.

Sir Leicester ist volle zwanzig Jahre älter als Mylady. Fünfundsechzig erlebt er nicht noch einmal, vielleicht auch nicht sechs- oder siebenundsechzig. Er hat von Zeit zu Zeit einen Gichtanfall, und sein Gang ist ein wenig steif. Er ist eine vornehme Erscheinung mit seinem grauen Haar und Backenbart, dem feinen Spitzenhemd, der tadellos weißen Weste und dem hochgeschlossenen blauen Frack mit den glänzenden Knöpfen. Er ist sehr förmlich, zu allen Zeiten gegen Mylady ausnehmend höflich und zollt ihren persönlichen Reizen die höchste Anerkennung. Seine Galanterie gegen die Gnädige ist sich seit dem Brautstande unverändert gleichgeblieben und bildet die einzige kleine Stelle Romantik und Poesie in ihm.

Er hat sie aus Liebe geheiratet. Man flüstert sich sogar zu, daß sie nicht einmal von »Familie« sei, aber Sir Leicester hatte für beide »Familie« genug, und sie besaß Schönheit, Stolz, Ehrgeiz, Arroganz und Verstand genug, um es mit einer ganzen Legion vornehmer Damen aufzunehmen. Reichtum und Rang mit diesen Gaben vereint setzten sie bald an die Spitze, und seit Jahren hat Lady Dedlock den Mittelpunkt der vornehmen Welt gebildet und in der Mode die Führung an sich gerissen.

Daß Alexander der Große Tränen vergoß, als er keine Welten mehr zu erobern hatte, weiß jedermann oder sollte es wenigstens wissen, denn der Umstand wird häufig genug erwähnt. Als Lady Dedlock ihre Welt eroberte, verriet ihre Temperatur mehr den Gefrier- als den Schmelzpunkt. Eine erschöpfte Gelassenheit, eine müde Ruhe, ein gelangweilter Gleichmut, die sich weder durch Interesse noch durch Befriedigung stören ließen, waren ihre Siegestrophäen. Sie ist durch und durch vornehm. Wenn sie morgen in den Himmel versetzt werden sollte, würde sie fraglos ohne die mindeste Verzückung emporschweben.

Sie ist immer noch schön, und wenn auch nicht mehr in der Blüte, so doch nicht in ihrem Herbst. Sie hat ein feines Gesicht; der Naturanlage nach sind ihre Züge eher sehr hübsch als schön zu nennen, aber der angelernte Ausdruck der vornehmen Weltdame verleiht ihnen etwas Klassisches. Ihre Figur ist elegant und macht den Eindruck von Schlankheit. Nicht, daß sie wirklich so ist, aber alle ihre Vorzüge sind gut herausgearbeitet, wie Bob Stables hochwohlgeboren wiederholt auf Eid versichert hat. Derselbe Gewährsmann bemerkt, daß sie tadellos aufgezäumt sei, und sagt lobend von ihrem Haar, sie sei die bestgestriegelte Frau im ganzen Gestüt.

Mit allen ihren Reizen ist Lady Dedlock von ihrem Landsitz in Lincolnshire, Schritt für Schritt von den Fashionabeln der Modezeitung verfolgt, eingetroffen, um einige Tage in ihrer Stadtwohnung zu verweilen, bevor sie nach Paris reist, wo sie einige Wochen zu bleiben gedenkt.

In ihrer Stadtwohnung stellt sich an diesem trüben Nachmittag ein altmodischer alter Gentleman ein, Attorney und Solizitor beim hohen Kanzleigericht, der die Ehre hat, Rechtsanwalt der Dedlocks zu sein, und viele eiserne Kästen mit diesem Namen darauf in seiner Kanzlei aufzuweisen hat. Durch die Vorhalle die Treppen hinauf, die Korridore entlang und durch die Zimmer, die in der Saison sehr glänzen und außer der Zeit sehr unwirtlich sind – ein Feenland für den Besucher und eine Wüste für den Bewohner –, führt den alten Herrn ein Merkur mit gepudertem Kopf zu der Gnädigen.

Der alte Herr sieht ein wenig verrostet aus, steht aber in dem Rufe, durch Heiratsverträge und Testamente für den Adel viel Geld erworben zu haben und sehr reich zu sein. Ein undurchdringlicher Nebel von Familiengeheimnissen, als deren stummen Bewahrer man ihn kennt, umgibt ihn. Es gibt adlige Mausoleen, die seit Jahrhunderten in abgelegenen Parkalleen unter uralten Bäumen und wucherndem Farnkraut stehen und vielleicht weniger Familiengeheimnisse bewahren, als in Mr. Tulkinghorns unter Menschen wandelnder Brust verborgen sind.

Er gehört der alten Schule an, das heißt, der Schule, die niemals jung gewesen ist, und trägt kurze Hosen, die an den Knieen mit Bändern befestigt sind, und Gamaschen oder Strümpfe. Die Eigentümlichkeit seiner schwarzen Kleider und Strümpfe, mögen sie von Seide oder Wolle sein, ist, daß sie nie glänzen. Stumm, verschlossen, ohne Antwort für ein neugieriges Licht, ist sein Anzug wie er selbst. Er unterhält sich nie, wenn man ihn nicht in Berufssachen zu Rate zieht. Man findet ihn zuweilen stumm, aber zwanglos und ganz zu Hause am Eck der Gasttafeln in vornehmen Landschlössern oder nicht weit von Salons sitzen, von denen die Modezeitung so viel zu reden hat. Jedermann kennt ihn dort, und der halbe Hochadel bleibt mit den Worten stehen: »Wie geht’s Ihnen, Mr. Tulkinghorn?« Er nimmt die Begrüßung mit Ernst entgegen und begräbt sie neben all dem übrigen, was er weiß.

Sir Leicester Dedlock ist in Gesellschaft der Gnädigen und schätzt sich glücklich, Mr. Tulkinghorn zu empfangen. Es liegt etwas Vorschriftsmäßiges in Mr. Tulkinghorns Benehmen, das Sir Leicester immer sehr angenehm berührt und ihn wie eine Art Tribut anmutet. Er findet auch an Mr. Tulkinghorns Anzug Gefallen und sieht auch darin eine Art Huldigung. Er ist ungemein respektabel geschnitten und hat etwas Sachwalterhaftes. Er ist fast wie die Livree eines Aufsehers der Rechtsmysterien oder eines juristischen Kellermeisters.

Ist sich Mr. Tulkinghorn selbst darüber klar? Es kann sein, kann aber auch nicht sein. Und doch ist diese Frage bei allem, was mit Lady Dedlock als der Führerin und dem Glanzstern der vornehmen Welt in Berührung kommt, von großer Bedeutung. Sie hält sich für ein unerforschliches Wesen, das weit über der Beurteilungssphäre gewöhnlicher Sterblicher steht. So kommt sie sich im Spiegel vor, in dem sie auch wirklich so aussieht. Dennoch kennt jeder kleine Stern, der sich um sie dreht, von der Kammerzofe an bis zum Direktor der italienischen Oper, ihre Schwächen und Vorurteile, ihren Hochmut, ihre Torheiten und Launen und richtet sich in seinem Verkehr mit ihr nach ihren Charakterzügen, wie die Putzmacherin nach ihren Körperproportionen. Je nachdem es gilt, eine neue Mode, einen neuen Kleidungsschnitt, eine neue Sitte, einen neuen Sänger, eine neue Tänzerin, einen neuen Schmuck, einen Zwerg, einen Riesen, eine Kapelle oder sonst etwas in Mode zu bringen.

Es gibt ehrerbietige Leute in Dutzenden von Berufen, von denen allen Lady Dedlock glaubt, sie lägen beständig auf den Knien vor ihr, und die dabei genau wissen, daß sie wie ein Kind zu leiten ist; – Leute, die ein ganzes Leben lang an nichts denken als wie man ihr schmeicheln kann und die sich stellen, als seien sie demütig und unbedingt gehorsam, dabei aber sie und ihr ganzes Gefolge im Schlepptau haben, mit ihr wie mit einem Köder angeln und sie führen, wohin sie wollen, wie Lemuel Gulliver die stattliche Flotte des Reichs Liliput nach Belieben dirigierte.

»Wenn man bei dieser Sorte reüssieren will«, sagen Blaze & Sparkle, die Juweliere – und sie verstehen unter »dieser Sorte« Lady Dedlock und ihren Anhang –, »so darf man nicht vergessen, daß man es nicht mit dem großen Publikum zu tun hat; man muß »diese Sorte« an ihrer schwächsten Seite fassen, und ihre schwächste Seite ist diese und diese.«

»Um Ihre Artikel abzusetzen, meine Herren«, raten Sheen & Gloß, die Tuchhändler, ihren Freunden, den Fabrikanten, »so müssen Sie zu uns kommen, weil wir die Leute der feinen Gesellschaft zu behandeln wissen und dadurch die Mode bestimmen können.«

»Wenn Sie diesen Kupferstich bei meiner hochgestellten Kundschaft anbringen wollen, Sir«, sagt Mr. Sladdery, der Kunsthändler, »oder wenn Sie diesen Zwerg oder Riesen zu deichseln wünschen oder für diese Unternehmung der Unterstützung meiner hohen Kunden bedürfen, so müssen Sie mir das überlassen, denn ich kenne die führenden Personen in diesen Kreisen, Sir, und kann Ihnen, ohne zu übertreiben, sagen, daß ich sie um den Finger wickeln kann«, – worin Mr. Sladdery, der ein ehrenwerter Mann ist, durchaus nicht übertreibt.

Wenn daher Mr. Tulkinghorn wirklich nicht wissen sollte, was gegenwärtig in der Seele der Gnädigen vorgeht, so ist doch auch das Gegenteil sehr leicht möglich.

»Myladys Angelegenheit ist also wieder vor dem Kanzler verhandelt worden, Mr. Tulkinghorn?« fragt Sir Leicester und reicht dem Anwalt die Hand.

»Ja, sie kam heute zur Verhandlung«, entgegnet Mr. Tulkinghorn und macht der Gnädigen, die auf einem Sofa am Kamm sitzt und das Gesicht mit einem Handschirm schützt, eine seiner stummen Verbeugungen.

»Es ist wohl nutzlos zu fragen, ob irgend etwas geschehen ist«, sagt Mylady, noch immer von der trüben Stimmung, die ihr der Landsitz in Lincolnshire verursacht hat, bedrückt.

»Es ist nichts geschehen, was Gnädigste erwähnenswert nennen würden.«

»Es wird nie etwas geschehen«, meint Mylady.

Sir Leicester hat gegen den endlosen Gang der Kanzleigerichtsprozesse nichts einzuwenden. Es ist eine langsame, kostspielige, echt britische, konstitutionelle Sache. Allerdings handelt es sich für ihn in dem fraglichen Prozeß nicht um Sein oder Nichtsein, sondern bloß um die geringfügige Mitgift, die ihm Mylady zubrachte, und er hat eine dunkle Ahnung, daß es ein höchst lächerlicher Zufall ist, wenn der Name Dedlock in einem Prozeß als Partei vorkommt. Er sieht in dem Kanzleigericht etwas, das im Verein mit andern Institutionen von der vollendetsten menschlichen Weisheit ersonnen wurde und in Beziehungen zur ewigen gesetzmäßigen Ordnung steht, wenn auch hie und da die Gerechtigkeit ein wenig nachhinkt und zuweilen Verwirrung zur Folge hat. Beschwerden darüber beizustimmen, hieße vielleicht irgend jemand der niedereren Klassen ermutigen, sich aufzulehnen – wie etwa Wat Tyler bösen Angedenkens.

»Da einige neue Zeugenaussagen zu den Akten gekommen«, sagt Mr. Tulkinghorn, »und überdies kurz gefaßt sind und ich nach dem etwas weitschweifigen Prinzip verfahre, meine Klienten um Erlaubnis zu bitten, ihnen alle neuen Schritte in Prozessen vorlegen zu dürfen«, – Mr. Tulkinghorn ist ein vorsichtiger Mann und übernimmt nie mehr Verantwortlichkeit, als unbedingt nötig ist – »und da die Herrschaften außerdem nach Paris reisen, so habe ich alles mitgebracht.«

Sir Leicester geht nämlich ebenfalls nach Paris, wenn auch der Glanzpunkt der Fashionablen die Gnädige ist.

Mr. Tulkinghorn zieht seine Akten aus der Tasche, bittet um Erlaubnis, sie auf ein goldenes Spielzeug von Tischchen neben der Gnädigen legen zu dürfen, setzt die Brille auf und fängt an, bei dem Schimmer einer Schirmlampe vorzulesen:

»Kanzleigerichtshof. In Sachen John Jarndyce kontra –«

Die Gnädige unterbricht ihn mit der Bitte, soviel wie möglich von dem technischen Formwuste wegzulassen.

Mr. Tulkinghorn blickt über die Brille und fängt tiefer unten von neuem an. Mylady findet es nicht der Mühe wert, ihm ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Sir Leicester in seinem Lehnstuhl blickt ins Feuer und scheint ein stolzes Wohlgefallen an den juristischen Wiederholungen und Weitschweifigkeiten, die ihm wie nationale Bollwerke erscheinen, zu finden. Die Hitze ist zufällig groß, wo Mylady sitzt, und der Handschirm ist weniger nützlich als schön; er ist unschätzbar, aber klein. Mylady setzt sich anders und erblickt dabei die Papiere auf dem Tisch, – besieht sie näher, besieht sie noch näher und fragt impulsiv: »Wer hat denn das geschrieben?«

Mr. Tulkinghorn hält, verwundert über die Lebhaftigkeit und den ungewohnten Ton der Gnädigen, inne.

»Es ist das, was Sie eine Kanzlistenhandschrift nennen?« fragt sie, blickt ihn wieder in ihrer teilnahmslosen Weise an und spielt mit dem Schirm.

»Nicht so ganz. Wahrscheinlich hat sie den Kanzleicharakter erst angenommen, als sie schon ausgebildet war. Warum fragen Gnädigste?«

»Um eine Abwechslung in diese abscheuliche Einförmigkeit zu bringen. Bitte, fahren Sie fort.«

Mr. Tulkinghorn liest weiter.

Die Hitze wird größer. Die Gnädige bedeckt das Gesicht mit dem Schirm. Sir Leicester nickt ein, fährt plötzlich auf und ruft:

»He? Was sagten Sie?«

»Ich fürchte«, flüstert Mr. Tulkinghorn, der hastig aufgestanden ist, »Lady Dedlock befindet sich nicht wohl.«

»Ich fühle mich nur schwach«, lispelt Mylady mit weißen Lippen. »Weiter nichts; aber es ist wie die Schwäche des Todes. Sprechen Sie nicht mit mir. Klingeln Sie und lassen Sie mich in mein Zimmer bringen!«

Mr. Tulkinghorn zieht sich in ein anderes Zimmer zurück. Klingeln schellen, Schritte kommen und gehen, und Stille tritt wieder ein. Endlich bittet der gepuderte Merkur Mr. Tulkinghorn, wieder hereinzukommen.

»Es geht Mylady jetzt bereits besser«, sagt Sir Leicester und winkt dem Advokaten, Platz zu nehmen, um sich allein vorlesen zu lassen. »Ich bin sehr erschrocken. Ich kann mich nicht erinnern, daß Mylady jemals ohnmächtig geworden wäre. Aber das Wetter ist abscheulich, und sie hat sich auf unserm Gut in Lincolnshire wirklich tödlich gelangweilt.«

20. Kapitel


20. Kapitel

Ein neuer Mieter

Die langen Gerichtsferien treiben ihrem Ende zu, wie ein fauler Strom bequem und langsam durch flaches Land dem Meere zufließt. Mr. Guppy treibt in ähnlicher Weise den Strom der Zeit hinab. Er hat sein Federmesser stumpf gemacht und die Spitze abgebrochen, so oft hat er es in sein Pult gestoßen. Nicht etwa, daß er auf das Pult irgend einen Groll hätte, aber er muß irgend etwas zu tun haben, etwas, was ihn nicht aufregt, was weder seine physische noch seine geistige Energie allzu sehr in Anspruch nimmt. Er hat bald herausgefunden, daß ihm nichts besser bekommt, als auf einem Bein seines Sessels zu balancieren, mit dem Federmesser in das Pult zu stechen und zu gähnen.

Kenge & Carboy sind verreist. Der Substitut hat einen Jagdschein genommen und weilt auf seines Vaters Gut. Und Mr. Guppys beide Stipendiarkollegen sind auf Urlaub.

Mr. Guppy und Mr. Richard Carstone teilen sich in die Kanzlei. Aber Mr. Carstone ist für die Ferien in Kenges Zimmer einquartiert, und Mr. Guppy ärgert sich darüber. So übermäßig ärgert er sich darüber, daß er zu seiner Mutter in vertraulichen Stunden, wo er mit ihr in Oldstreet-Road Hummer und Salat zu Abend ißt, mit beißendem Sarkasmus äußert, er fürchte sehr, die Kanzlei sei nicht fein genug für Gigerln, und wenn er gewußt hätte, daß ein Gigerl komme, hätte er frisch tünchen lassen.

Mr. Guppy hat jeden, der einen Stuhl in Kenge & Carboys Kanzlei besetzt, im Verdacht, daß er gegen ihn heimtückische Pläne schmiede. Es ist klar, daß jeder ihn stürzen will. Wenn man ihn fragt, wieso, warum und zu welchem Zweck, schließt er nur das eine Auge und schüttelt den Kopf. Auf Grund dieser tiefsinnigen Erkenntnis gibt er sich unendliche Mühe, das Komplott zu vereiteln, und ersinnt die geistreichsten Schachzüge auf einem Brett ohne Gegner.

Es ist daher kein geringer Trost für Mr. Guppy, daß der neue Ankömmling beständig über den Akten in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce brütet, denn er weiß ganz gut, daß daraus nur Mißlingen und Enttäuschung kommen kann. Seine Zufriedenheit teilt auch der dritte Genosse während der Gerichtsferien in Kenge & Carboys Kanzlei, nämlich der junge Smallweed.

Ob der kleine Smallweed, mit seinem Spitznamen auch Small oder Hühnchen genannt, jemals ein Kind gewesen ist, wird in Lincoln’s-Inn stark bezweifelt. Er ist nicht ganz fünfzehn Jahre und schon ein alter Rechtswissenschaftler. Man neckt ihn damit, er habe eine leidenschaftliche Neigung für eine Dame in einem Zigarrenladen in der Nähe von Chancery-Lane gefaßt und ihretwegen einer andern, mit der er seit einigen Jahren verlobt gewesen, die Treue gebrochen. Er ist eine Stadtpflanze, von kleiner Statur und welken Gesichtszügen, fällt aber schon von weitem durch einen sehr hohen Zylinder auf. Ein Guppy zu werden, ist sein Ehrgeiz. Er wird von diesem Herrn begönnert, kleidet sich wie er, spricht und geht wie er und ahmt ihn in allem und jedem nach. Er genießt Mr. Guppys besonderes Vertrauen und erteilt ihm gelegentlich aus dem Brunnen seiner Erfahrung Rat über gewisse schwierige Punkte im Privatleben.

Mr. Guppy hat den ganzen Morgen im Fenster gelegen und alle Sessel der Reihe nach probiert und keinen bequem gefunden. Auch hat er verschiedne Male den Kopf in den eisernen Dokumentenschrank gesteckt, um sich abzukühlen. Mr. Smallweed ist zwei Mal nach Brausegetränken geschickt worden und hat sie zwei Mal in den zwei Kanzleigläsern gemischt und mit dem Lineal umgerührt. Mr. Guppy stellt zu Mr. Smallweeds Erbauung das Paradoxon auf, daß man durstiger wird, je mehr man trinke, und läßt sein Haupt in einem Zustand hoffnungsloser Langweile auf dem Fensterbrett ruhen.

Während er so auf den Schatten von Oldsquare Lincoln’s-Inn hinausblickt und die unerträgliche Ziegelmauer betrachtet, dämmert ein männlicher Backenbart in die Sphäre seines Bewußtseins, tritt aus dem gewölbten Gang unten hervor und wendet sich ihm zu. Zugleich ertönt ein lautes Pfeifen durch das Inn, und eine gedämpfte Stimme ruft: »He, Guppy!«

»Ist es denn möglich«, fährt Mr. Guppy aus seinem Halbschlummer auf. »Hühnchen! Jobling ist unten.«

Small guckt ebenfalls zum Fenster hinaus und ruft Jobling an.

»Wo bist du denn entsprungen?« fragt Mr. Guppy.

»Aus den Gemüsegärten unten bei Deptford. Ich kann es nicht länger dort aushalten. Ich lasse mich anwerben. Ja, ja! – Könntest du mir nicht eine halbe Krone pumpen? Meiner Seel, ich habe Hunger.«

Jobling sieht auch ganz danach aus und scheint unten in den Gemüsegärten von Deptford ein wenig herabgekommen zu sein.

»Ja, ja. Wirf mir eine halbe Krone herunter, wenn du eine übrig hast. Ich muß unbedingt etwas essen.«

»Willst du mit mir essen kommen?« fragt Mr. Guppy, wirft das Geldstück hinunter, und Mr. Jobling fängt es geschickt auf.

»Wie lang muß ich da noch warten?« fragt Jobling.

»Höchstens eine halbe Stunde. Ich warte hier nur, bis der Feind weggeht.« Guppy winkt mit dem Kopf nach dem Zimmer daneben.

»Was für ein Feind?«

»Ein Neuer. Will sich hier einschreiben lassen. Willst du warten?«

»Kann man unterdessen was zu lesen haben?« fragt Mr. Jobling.

Smallweed schlägt das Advokatenverzeichnis vor, aber Mr. Jobling erklärt mit größtem Ernst, daß er das nicht aushalten würde.

»Du kannst auch die Zeitung haben«, meint Mr. Guppy. »Er soll sie dir herunterbringen. Es ist nämlich besser, wenn man dich hier nicht sieht. Lies sie auf der Treppe. Es ist ein ruhiger Platz.«

Jobling nickt eingeweiht. Der findige Smallweed bringt ihm die Zeitung und wirft noch ein Mal vom Treppenabsatz aus einen forschenden Blick auf ihn, ob er sich nicht am Ende vor der Zeit davonmachen werde.

Endlich entfernt sich der Feind, und Small holt Mr. Jobling herauf.

»Nun, wie geht’s dir?« fragt Mr. Guppy und schüttelt ihm die Hand.

»So, so. Und dir?«

Da Mr. Guppy erwidert: Nicht besonders, wagt Mr. Jobling die Frage: »Na, und wie geht’s ihr«? Das weist Mr. Guppy als unziemlich zurück und sagt: »Jobling, es gibt Saiten im menschlichen Herzen…«

Jobling bittet um Verzeihung.

»Jedes Thema, nur das nicht«, sagt Mr. Guppy, in seinem Grame wühlend.

»Es gibt Saiten, Jobling…«

Mr. Jobling bittet abermals um Verzeihung.

Während dieses kurzen Zwiegesprächs hat der rührige Smallweed, der mit von der Partie ist, in Kanzleischrift auf einen Zettel geschrieben: »Kommen gleich zurück.« Diese Nachricht für jeden, den es angehen mag, heftet er an den Briefkasten. Dann setzt er seinen Hut in demselben Neigungswinkel auf wie Mr. Guppy und meldet seinem Gönner, daß sie sich jetzt »drücken könnten«.

Alle drei begeben sich in ein Speisehaus in der Nähe, das von den Gästen »das Hundsfutter« genannt wird und wo eine Kellnerin, ein strammes Mädchen von vierzig Jahren, einen gewissen Eindruck auf den empfänglichen Smallweed gemacht hat, wie die Sage geht.

Er ist nämlich ein niederträchtiger Wetterhahn, dem Jahre nichts gelten. In seiner Frühreife repräsentiert er Jahrhunderte eulenhafter Klugheit. Wenn er jemals in einer Wiege gelegen hat, muß er bereits damals einen Taillenrock angehabt haben.

Ein uraltes Auge hat Smallweed; er trinkt und raucht in einer merkwürdig affenhaften Weise, sein Hals steckt tief in seinem Kragen, und er läßt sich prinzipiell nie leimen. Er durchschaut immer alles, was es auch sei. Kurz, die Jurisprudenz hat ihn von Kindesbeinen an so gehegt und gepflegt, daß er eine Art fossiler Kobold geworden ist, dessen irdisches Dasein man in den Gerichtskanzleien dadurch erklärt, daß sein Vater der Herr Pappdeckel und seine Mutter das einzige weibliche Mitglied der Familie Fließpapier gewesen sei und daß man ihm seinen ersten Rock aus einem blauen Aktenbeutel geschnitten habe.

Ungerührt von dem verführerischen Anblick im Fenster, wo künstlich weiß gemachter Blumenkohl und Geflügel, Körbe mit grünen Schoten und kühle saftige Gurken und Keulen, fertig für den Bratspieß, ausgestellt sind, tritt Mr. Smallweed in das Speisehaus. Sie kennen ihn und fürchten ihn dort. Er hat seine Lieblingsbox, bestellt alle Zeitungen und ist grob gegen kahlköpfige Patriarchen, wenn sie sie länger als zehn Minuten lesen. Es ist vergeblich, ihn mit einem zu dünnen Brote täuschen zu wollen oder ihm mit einem Aufschnitt zu kommen, der nicht von allerbester Sorte ist. Was die Sauce betrifft, ist er unerbittlich wie Stein.

In Erkenntnis seiner geradezu magischen Gewalt und sich seine gefürchtete Erfahrung zunutze machend, zieht ihn Mr. Guppy in der Wahl der Speisen für heute zu Rate, wirft ihm einen fragenden Blick zu, während die Kellnerin die Speisekarte herunterleiert, und erkundigt sich: »Was ißt du, Hühnchen?«

Das Hühnchen wählt in seiner unendlichen Schlauheit Kalbsbraten und Schinken und französische Bohnen. »Die Fülle gefälligst nicht vergessen, Polly«, setzt er mit einem koboldartigen Zwinkern seines Auges hinzu, worauf Mr. Guppy und Mr. Jobling dasselbe bestellen. »Und drei Krüge Porter mit Ale!«

Die Kellnerin kommt bald wieder zurück und trägt ein Ding, das wie ein Modell des babylonischen Turms aussieht, aber in Wirklichkeit aus aufgeschichteten Tellern und flachen zinnernen Schüsseln besteht.

Mr. Smallweed befindet für gut, was serviert wird, und zwinkert, Wohlwollen des Eingeweihten in seinem uralten Auge, der Kellnerin zu. Dann stillt das juristische Triumvirat seinen Appetit inmitten beständigen Kommens und Gehens, Herumrennens, Geklappers von Steingut und eines Auf- und Abrollens des Speiseaufzugs aus der Küche. Rufe nach immer mehr Portionen schrillen das Sprachrohr hinunter. Überall herrscht der Geruch und Dampf von Braten vor, und in der heißen Atmosphäre scheinen die unsaubern Messer und Tischtücher von selbst Fett- und Bierflecken auszuschwitzen.

Mr. Jobling ist höher zugeknöpft, als die Mode erfordert. Sein Hut glänzt an den Rändern merkwürdig, als ob dort die Schnecken eine Lieblingspromenade gehalten hätten. Dasselbe Phänomen zeigt sich an mehreren Stellen seines Rockes und besonders an den Nähten. Er hat das fadenscheinige Aussehen eines Gentlemans in bedrängter Lage, und selbst sein blonder Backenbart macht den Eindruck von Schäbigkeit.

Sein Appetit ist so groß, daß man daraus auf eine karge Kost von längerer Dauer schließen kann. Er räumt mit seiner Portion Kalbsbraten und Schinken so schnell auf, noch ehe die beiden andern halb fertig sind, daß Mr. Guppy ihm noch eine Portion vorschlägt.

»Ich danke dir, Guppy«, sagt Mr. Jobling. »Ich glaube wirklich, ich könnte noch eine vertragen.«

Es wird also noch eine gebracht, und er macht sich mit großem Eifer darüber her.

Mr. Guppy sieht ihn zuweilen schweigend an, bis er auch mit diesem zweiten Gericht halb fertig ist und inne hält, um einen wonnigen Zug aus seinem Krug Porter mit Ale zu tun, die Beine ausstreckt und sich die Hände reibt.

Als ihn Mr. Guppy so behaglich zufrieden sieht, sagt er:

»So. Jetzt bist du wieder ein lebendiger Mensch, Tony.«

»Nun, noch nicht ganz«, meint Mr. Jobling. »Aber sagen wir: Eben auf die Welt gekommen.«

»Willst du vielleicht noch Gemüse, Spargel, Schoten, Sommerkohl?«

»Ich danke dir, Guppy. Ich glaube wirklich, ich könnte noch ein bißchen Sommerkohl vertragen.«

Er wird bestellt, und Mr. Smallweed setzt sarkastisch hinzu: »Ohne Schnecken!« Der Sommerkohl wird gebracht.

»Ich wachse in die Höhe, Guppy«, berichtet Mr. Jobling und handhabt Messer und Gabel mit Genuß und Ausdauer.

»Freut mich zu hören.«

»Komme schon in die Flegeljahre«, berichtet Mr. Jobling.

Er spricht weiter nichts, bis er sich seiner Aufgabe entledigt hat, was genau mit dem Fertigwerden der Herren Guppy und Smallweed zusammentrifft. Er hat seine Strecke im besten Stil zurückgelegt und die beiden mit Leichtigkeit um eine Portion Braten und Kohl geschlagen.

»Nun, Hühnchen«, fragt Mr. Guppy, »was würdest du als Mehlspeise empfehlen?«

»Markpudding«, antwortet Mr. Smallweed ohne Zögern.

»Jawohl, jawohl«, bestätigt Mr. Jobling mit schlauem Blick. »Das ist das Wahre. Danke dir, Guppy. Ich glaube wirklich, ich könnte noch einen Markpudding vertragen.«

Drei Markpuddings erscheinen, und Mr. Jobling äußert frohgelaunt, daß er jetzt bald mündig werde. Auf die Puddings folgen auf Mr. Smallweeds Befehl drei Cheshire-Käse und darauf drei Rum. Als dieser Gipfelpunkt des Glücks erreicht ist, legt Mr. Jobling die Beine auf den teppichüberzognen Sitz – er hat eine Seite der Box ganz für sich allein –, lehnt sich gegen die Wand und sagt: »Jetzt bin ich erwachsen, Guppy. Ich habe das Alter der Reife erlangt.«

»Was hältst du nun vom… Du genierst dich doch nicht vor Smallweed?«

»Nicht im mindesten. Ich erlaube mir, auf seine Gesundheit zu trinken.«

»Sir. Die Ihre!« dankt Mr. Smallweed.

»Ich wollte sagen, was hältst du jetzt vom Anwerbenlassen, Jobling?«

»Mein lieber Guppy, was ich nach dem Essen denke und was ich vor dem Essen denke, ist zweierlei. Aber selbst nach dem Essen lege ich mir die Frage vor: Was soll ich anders anfangen? Wovon soll ich leben? Ill foh manscheh, ihr wißt«, sagt Mr. Jobling und spricht die Worte mit sorgfältiger Vermeidung jeglicher französischer Betonung aus. »Ill foh manscheh, sagt der Franzose, und das hat der Engländer gerade so notwendig wie der Franzose. Sogar noch notwendiger.«

Mr. Smallweed ist ebenfalls der Ansicht: Noch notwendiger.

»Wenn mir jemand gesagt hätte«, fährt Jobling fort, »selbst damals noch, als wir beide die Partie nach Lincolnshire machten, Guppy, und hinüber nach Castle-Wold fuhren…«

»Chesney-Wold«, berichtigt Mr. Smallweed.

»Chesney-Wold. Ich danke Ihnen… Wenn mir damals jemand gesagt hätte, daß es mir einmal so schlecht gehen würde wie jetzt, würde ich ihm eine… Ja, ich würde ihm eine heruntergehauen haben«, sagt Mr. Jobling und nimmt mit einer Miene verzweifelter Resignation einen Schluck Rum mit Wasser. »Ich hätte ihm eine heruntergehauen.«

»Aber Tony, es stand schon damals schlimm mit dir«, wirft Mr. Guppy ein. »Du hast im Gig von nichts anderm gesprochen.«

»Guppy«, sagt Mr. Jobling, »ich will das nicht leugnen. Es stand schon damals recht schlecht mit mir. Aber ich dachte, es würde schon irgend etwas Günstiges kommen. Ich hatte das sichere Gefühl, daß sich alles noch machen werde, aber ich habe mich geirrt. Es macht sich nie etwas von selbst, und als die Gläubiger Lärm in den Kanzleien schlugen und schmutzig genug waren, sich wegen ein paar Pfennigen, die ich bei ihnen geborgt hatte, zu beklagen, war es mit meiner Stellung vorbei. Und mit jeder neuen Stelle ebenfalls, denn wenn ich mich auf meine ehemaligen Chefs beziehen wollte, käme alles heraus und die Sache wäre wieder rum. Was soll man nun tun? Ich habe mich verborgen gehalten und unten in den Gemüsegärten billig gelebt, aber was hilft das Billigleben, wenn man kein Geld hat. Da könnte man ebensogut teuer leben.«

»Besser«, berichtigt Mr. Smallweed.

»Gewiß, das wäre wenigstens vornehm. Und Vornehmheit und Backenbart waren von jeher meine Schwächen, und mir ist’s gleich, ob’s jemand weiß oder nicht. Es sind große Schwächen… Verdamm mich, Sir, es sind große Schwächen. Gut«, fährt Mr. Jobling fort und greift herausfordernd wieder nach dem Rum mit Wasser. »Was bleibt einem da andres übrig, als sich anwerben lassen?«

Mr. Guppy nimmt jetzt größeren Anteil am Gespräch, um zu zeigen, was seiner Meinung nach übrig bleibt. Er spricht mit der ernsten eindringlichen Miene eines Mannes, der noch keinen dummen Streich gemacht hat, außer, daß er das Opfer der Liebe geworden ist.

»Jobling, ich und unser beider Freund Smallweed –«

Mr. Smallweed bemerkt bescheiden: »Auf das Wohl der Herren!« und trinkt.

»– haben mehr als einmal die Sache besprochen, seitdem du –«

»– einen Tritt gekriegt hast«, ergänzt Mr. Jobling mit Bitterkeit. »Sprich es nur aus, Guppy!«

»N-nein. Seitdem Sie die Inn verlassen haben«, verbessert Mr. Smallweed zartfühlend.

»– seitdem du die Inn verlassen hast, Jobling«, sagt Mr. Guppy. »Und ich habe neulich mit unserm Freund Smallweed einen Plan besprochen, der mir eingefallen ist. Du kennst doch Snagsby, den Papierhändler?«

»Ich weiß nur, daß es einen Papierhändler dieses Namens gibt«, entgegnet Mr. Jobling. »Er war nicht unser Lieferant, und ich kenne ihn nicht weiter.«

»Aber unsrer ist er, Jobling, und ich kenne ihn. Also höre. Ich bin in letzter Zeit durch gewisse Umstände mit ihm und seiner Familie besser bekannt geworden. Die Umstände tun hier nichts zur Sache. Sie können – oder können auch nicht – in Beziehung zu einem Thema stehen, das vielleicht – oder vielleicht auch nicht – einen Schatten auf mein Dasein geworfen hat.«

Da es Mr. Guppys Art ist, seine vertrauten Freunde mit seinem Schmerz anzurenommieren, sie aber in dem Augenblick, wo sie auf das Thema eingehen, mit schneidender Härte wegen »gewisser Saiten des menschlichen Herzens« schroff in ihre Schranken zu weisen, weichen sowohl Mr. Jobling wie Mr. Smallweed der gelegten Falle aus und bleiben stumm.

»Es kann so sein«, wiederholt Mr. Guppy. »Oder es kann auch nicht so sein. Das gehört nicht hierher. Es genügt, das sowohl Mr. wie Mrs. Snagsby gern bereit sind, mir gefällig zu sein, und während der Gerichtssession von uns viel beschäftigt werden. Er bekommt auch viel Arbeit von Tulkinghorn und hat überdies ein glänzendes Geschäft. Ich glaube, wenn unser gemeinsamer Freund Smallweed auf der Zeugenbank säße, könnte er das beeiden?!«

Mr. Smallweed nickt und scheint vor Begier zu brennen, beeidigt zu werden.

»Nun, meine Herren Geschworenen«, fährt Mr. Guppy fort. »Ich meine dich, Jobling… Du wirst sagen, daß das eine sehr armselige Perspektive ist. Zugegeben. Aber es ist besser als nichts und besser, als sich anwerben zu lassen. Du brauchst vor allem Zeit. Es muß einige Zeit verstreichen, bis Gras über die Geschichte gewachsen ist. Du könntest noch viel Schlimmeres erleben, als für Snagsby abschreiben zu müssen.«

Mr. Jobling will ihn unterbrechen, aber der weise Smallweed hält ihn mit einem trocknen Husten und den Worten: »Hm! Shakespeare!« davon ab.

»Die Sache hat zwei Seiten, Jobling. Das ist die erste. Ich komme zur zweiten. Du kennst Krook, den Kanzler drüben. Was, Jobling?« sagt Mr. Guppy in ermutigendem Kreuzverhör. »Du kennst doch Krook, den Kanzler drüben in der Gasse?«

»Vom Sehen.«

»Vom Sehen. Gut. Und du kennst doch die kleine Flite?«

»Die kennt jeder Mensch.«

»Die kennt jeder Mensch. Sehr gut. Nun gehört es seit einiger Zeit zu meinen Obliegenheiten, Flite eine gewisse Summe wöchentlich auszubezahlen. Außerdem habe ich meinen Instruktionen gemäß ihren Wochenzins vor ihren Augen Krook selbst zu übergeben. Dadurch kam ich in Verbindung mit Krook und lernte sein Haus und seine Gewohnheiten kennen. Ich weiß, daß er noch ein Zimmer zu vermieten hat. Dort kannst du unter einem beliebigen Namen sehr billig wohnen… So ungestört, als ob du hundert Meilen weit weg wärst. Er stellt keine unnötigen Fragen und würde dich auf ein Wort von mir als Mieter annehmen, ehe noch die Glocke zu Ende schlägt. Und ich will dir noch etwas sagen, Jobling«, Mr. Guppy spricht plötzlich leiser und wird vertraulicher. »Er ist ein sonderbarer alter Knabe, wühlt immer in einem Haufen Papieren herum und plagt sich ab, um allein lesen und schreiben zu lernen, ohne damit vorwärts zu kommen, wie mir scheint. Er ist ein sonderbarer alter Kauz. Ich weiß nicht, ob es nicht der Mühe wert wäre, sich den Burschen ein wenig genauer anzusehen.«

»Du willst doch nicht sagen?…« fängt Mr. Jobling an.

»Ich will nur sagen«, Mr. Guppy zuckt bescheiden die Achseln, »daß ich mir nicht recht klar über ihn werden kann. Unser gemeinsamer Freund Smallweed soll selbst erklären, ob er mich nicht hat bemerken hören, daß ich mir nicht über ihn klar werden kann.«

»Allerdings«, bestätigt Mr. Smallweed lakonisch.

»Ich kenne ein wenig das Geschäft und auch ein wenig das Leben, Tony, und es kommt mir selten vor, daß ich mir nicht über irgend jemand mehr oder weniger klar werden kann, aber ein solch alter Fuchs, so schlau und geheimnisvoll, wenn er auch, glaube ich, nie nüchtern ist, ist mir noch nie vorgekommen. Er muß wunderbar alt sein und hat keine Seele um sich. Er soll unermeßlich reich sein, und ob er nun ein Schmuggler, ein Hehler ist oder insgeheim auf Pfänder borgt oder wuchert – was ich mir manchmal schon gedacht habe –, jedenfalls wäre es für dich der Mühe wert, ihm ein wenig in die Karten zu gucken. Ich sehe nicht ein, weshalb du nicht darauf eingehen solltest, wenn dir alles übrige soweit paßt.«

Mr. Jobling, Mr. Guppy, Mr. Smallweed stützen ihre Ellbogen auf den Tisch, legen das Kinn auf die Hand und blicken zur Decke empor. Nach einer Weile trinken sie jeder einen Schluck, lehnen sich langsam zurück, stecken die Hände in die Taschen und sehen einander an.

»Ja, wenn ich meine alte Energie noch hätte, Tony«, seufzt Mr. Guppy. »Aber es gibt Saiten im menschlichen Herzen…«

Mr. Guppy ertränkt den Rest des schmerzlichen Gedankens in Rum mit Wasser, schließt damit, daß er es Tony Jobling überläßt, sich zu dem Abenteuer zu entschließen, und sagt ihm, daß ihm während der Gerichtsferien und solange das Geschäft stocke seine Börse zur Verfügung stehe. Auf drei, vier oder sogar fünf Pfund käme es ihm nicht an. »Denn man soll niemals sagen«, setzt Mr. Guppy mit Emphase hinzu, »daß William Guppy einen Freund im Stiche gelassen habe.«

Der Vorschlag ist so annehmbar, daß Mr. Jobling mit Rührung ausruft: »Guppy, alter Kamerad, deine Hand.« Mr. Guppy reicht sie ihm: »Jobling, mein Junge, hier ist sie.« Mr. Jobling entgegnet: »Guppy, wir sind jetzt schon einige Jahre Duzfreunde.« »So ist es, Jobling«, bestätigt Mr. Guppy.

Sie schütteln einander die Hände, und Mr. Jobling fügt in gerührtem Ton hinzu: »Ich danke dir, Guppy, aber ich glaube, ich könnte noch ein Glas vertragen. Alter Bekanntschaft wegen.«

»Krooks letzter Mieter ist in seinem Zimmer gestorben«, bemerkt Guppy so gelegentlich nach einer Pause.

»So, ist er das?«

»Es war Totenschau. Ursache des Todes: Zufall. Das macht dir doch nichts aus?«

»Nein«, sagt Mr. Jobling, »macht mir nichts aus. Aber er hätte ebensogut anderswo sterben können. Es ist verdammt kurios, daß er gerade in meiner Wohnung sterben mußte.«

Mr. Jobling nimmt den Übergriff sehr übel und kommt einige Mal darauf zurück mit Bemerkungen wie: »Es gibt doch wahrhaftig Orte genug zum Sterben. Ob es ihm wohl gefallen hätte, wenn ich in seiner Wohnung gestorben wäre!«

Da der Vertrag so gut wie abgeschlossen ist, schlägt Mr. Guppy vor, den getreuen Smallweed hinzuschicken und fragen zu lassen, ob Mr. Krook zu Hause sei, um in diesem Fall das Geschäft ohne Verzug abschließen zu gehen. Mr. Jobling erteilt seine Zustimmung, und Smallweed begibt sich unter seinen großen Zylinder und balanciert ihn à la Guppy aus dem Speisehaus hinaus. Bald darauf kehrt er mit der Nachricht zurück, Mr. Krook sei zu Hause und er habe ihn durchs Fenster hinten im Laden schlafen sehen, so fest wie ein Murmeltier.

»Also, zahlen«, ruft Mr. Guppy. »Wir wollen hingehen. Small, wieviel wird’s machen?«

Mr. Smallweed winkt die Kellnerin mit dem Augenlid herbei und diktiert: »Vier Mal Kalbsbraten und Schinken ist drei, vier Mal Kartoffeln macht drei und vier, ein Sommerkohl macht drei und sechs, drei Mal Pudding ist vier und sechs, und sechs Brote sind fünf, und drei Cheshire sind fünf und drei, vier Bier sechs und drei, vier kleine Rum acht und drei, und drei Mal für Polly ist acht und sechs. Acht Schilling sechs Pence, Polly, und achtzehn Pence heraus, ist ein halber Sovereign!«

Nicht im geringsten von dieser fürchterlichen Rechenarbeit angegriffen, entläßt Smallweed seine Freunde mit einem kaltblütigen Nicken und bleibt zurück, um bei Gelegenheit Polly ein wenig zu bewundern und die Zeitung zu lesen, die, außer wenn er seinen Zylinder aufhat, so groß für ihn ist, daß er hinter ihr wie unter einem Bettuch verschwindet.

Mr. Guppy und Mr. Jobling begeben sich nach dem Hadern- und Flaschen-Laden, wo sie Mr. Krook immer noch fest wie ein Murmeltier schlafen finden. Er schnarcht laut, das Kinn auf der Brust, und läßt sich weder durch Geräusche draußen noch durch leises Schütteln wecken. Auf dem Tisch neben ihm stehen unter dem gewöhnlichen Allerlei eine leere Ginflasche und ein Glas. Die stickige Luft ist so von dem Geruch des Getränks gesättigt, daß selbst die grünen Augen der Katze oben auf dem Sims, sich öffnend und schließend und den Besuch anglimmernd, betrunken aussehen.

»Heda!« ruft Mr. Guppy und rüttelt die zusammengesunkene Gestalt des Alten von neuem. »Mr. Krook! Hallo, Sir!«

– Ebenso leicht könnte man ein Bündel alter Kleider, in dessen Innerem Spiritus glüht, wecken. –

»Ist dir jemals eine solche Betäubung zwischen Betrunkenheit und Schlaf vorgekommen?« fragt Mr. Guppy.

»Wenn das sein regelmäßiger Schlummer ist«, bemerkt Jobling, ein wenig beunruhigt, »wird er eines Tages überhaupt nicht mehr aufwachen.«

»Es ist bei ihm immer mehr ein Schlaganfall als ein Schlaf«, sagt Mr. Guppy und schüttelt ihn abermals. »Hallo, Euer Lordschaft! Sie können schon fünfzig Mal beraubt sein! Machen Sie doch die Augen auf!«

Nach vielem Lärm tut es Krook, aber anscheinend, ohne den Besuch oder irgend etwas andres zu sehen. Er legt zwar ein Bein über das andre, faltet die Hände, öffnet und schließt ein paar Mal die pergamentnen Lippen, scheint jedoch gefühllos zu sein wie vorher.

»Jedenfalls lebt er noch«, sagt Mr. Guppy. »Wie geht’s, Mylord Kanzler? Ich habe einen Freund mitgebracht, Sir. Wegen eines kleinen Geschäftes.«

Der Alte sitzt immer noch da, schmatzt mit seinen trockenen Lippen und hat nicht das mindeste Bewußtsein. Nach einigen Minuten macht er einen Versuch, aufzustehen. Sie helfen ihm dabei, und er taumelt an die Wand und starrt sie an.

»Wie geht’s, Mr. Krook?« fragt Mr. Guppy, ein wenig außer Fassung. »Wie geht’s, Sir. Sie sehen entzückend aus, Mr. Krook. Ich hoffe, Sie sind doch ganz wohl?«

Der Alte will nach Mr. Guppy oder in die leere Luft schlagen, dreht sich dabei willenlos um und kommt mit dem Gesicht gegen die Wand zu stehen. So bleibt er ein oder zwei Minuten angelehnt und taumelt dann durch den Laden zur Eingangstür. Die Luft, die Bewegung im Hof, die Zeit oder alle drei zusammen bringen ihn wieder zum Bewußtsein. Er kommt ziemlich festen Schrittes wieder, schiebt sich seine Pelzmütze auf dem Kopf zurecht und sieht die beiden lauernd an.

»Ihr Diener, meine Herren. Ich habe ein wenig genickt. Hi! Ich bin manchmal schwer zu wecken.«

»Ziemlich schwer, das stimmt«, bestätigt Mr. Guppy.

»Was? Sie haben es wohl versucht?« fragt Krook argwöhnisch.

»Nur ein wenig.«

Das Auge des Alten ruht auf der leeren Flasche. Er nimmt sie, untersucht sie und dreht sie langsam um.

»So, so!« sagt er und sieht dabei aus wie der Kobold im Märchen. »Da ist jemand drüber gewesen!«

»Ich versichere Ihnen, wir fanden sie so«, sagt Mr. Guppy. »Aber wenn Sie mir erlauben, lasse ich sie Ihnen wieder füllen?«

»O natürlich!« ruft Krook freudig erregt. »Gewiß! Machen Sie keine Umstände! Lassen Sie sie nebenan füllen – in der ‚Sonne‘. Mit des Lordkanzlers Vierzehnpence. Hihi! Sie wissen’s schon drüben.«

Er drängt die leere Flasche Mr. Guppy so angelegentlich auf, daß dieser seinem Freund zunickt, hinauseilt und mit der gefüllten Flasche wieder hereinkommt. Der Alte nimmt sie wie ein geliebtes Enkelkind in die Arme und streichelt sie zärtlich.

»Aber«, flüstert er mit halbgeschlossenen Augen, nachdem er sie gekostet hat, »das ist ja nicht des Lordkanzlers Vierzehnpence. Das ist Achtzehnpence.«

»Ich dachte, er würde Ihnen besser schmecken«, meint Mr. Guppy.

»Sie sind ein Edelmann, Sir«, Krook kostet abermals, und sein heißer Atem haucht sie an wie eine Flamme. »Sie sind ein Reichsbaron.«

Rasch benützt Mr. Guppy den günstigen Augenblick, stellt seinen Freund unter dem Namen Mr. Weevle vor und erklärt, warum sie gekommen seien. Mit der Flasche unter dem Arm – seine Betrunkenheit überschreitet nie einen gewissen Grad – mustert Krook mit aller Muße den neuen Mieter und scheint Gefallen an ihm zu finden.

»Sie wünschen sich das Zimmer anzusehen, junger Mann? O, es ist ein schönes Zimmer. Habe es weißen lassen. Hi! Es ist jetzt die doppelte Miete wert. Ganz abgesehen von meiner Gesellschaft, wenn Sie Wert darauf legen, und einer so ausgezeichneten Katze für die Mäuse.«

Mit diesen Worten führt der Alte die beiden die Treppe hinauf in das Zimmer, das allerdings viel reinlicher aussieht und einige alte Möbelstücke enthält, die er aus seinen unerschöpflichen Schätzen herausgegraben hat.

Über die Bedingungen sind sie bald einig, denn der Lordkanzler kann es mit Mr. Guppy, der mit Kenge & Carboy, »Jarndyce kontra Jarndyce« und so weiter in Verbindung steht, nicht genau nehmen, und man kommt überein, daß Mr. Weevle am nächsten Tag einziehen soll.

Mr. Weevle begibt sich sodann mit Mr. Guppy nach Cook’s Court, Cursitor Street, um sich Mr. Snagsby vorstellen zu lassen, und, was noch wichtiger ist, sich Stimme und Fürsprache Mrs. Snagsbys zu sichern. Dann erstatten sie dem ausgezeichneten Smallweed, der zu diesem Zweck mit seinem großen Zylinder auf dem Kopf in der Kanzlei wartet, Bericht und scheiden voneinander, nachdem Mr. Guppy erklärt hat, er möchte am liebsten dem kleinen Fest damit die Krone aufsetzen, daß er sie ins Theater führte, wenn es nicht Saiten im menschlichen Herzen berührte, die das wie Hohn erscheinen ließen.

Am nächsten Tag in der Abenddämmerung findet sich Mr. Weevle bescheiden bei Krook ein, durchaus nicht übermäßig mit Gepäck beschwert, und nimmt Besitz von seiner neuen Wohnung, wo die beiden großen Augen in den Fensterläden ihn im Schlaf verwundert anstarren. Am folgenden Tag borgt sich Mr. Weevle, der ein findiger, anstelliger Nichtsnutz von einem Burschen ist, von Miß Flite Nadel und Zwirn und einen Hammer von seinem Wirt und geht ans Werk, sich bescheidne Ersatzfenstervorhänge zu verfertigen, und hängt seine beiden Teetassen, seine Milchkanne und andre Steingutsachen an kleine Haken wie ein schiffbrüchiger Matrose, der es sich so gut wie möglich einrichtet.

Was Mr. Weevle von all seinem bißchen Besitz am höchsten schätzt – außer seinem blonden Backenbart –, ist eine auserlesene Sammlung von Kupferdrucken des echt nationalen Werkes »Die Göttinnen Albions oder Pracht-Galerie britischer Schönheiten«, die Damen der Modewelt oder vornehmer Abkunft in jeder albernen Geziertheit, die Kunst verbunden mit Kapital hervorbringen kann, darstellend. Mit diesen prachtvollen Porträts, die während seines Exils in den Gemüsegärten in einer unwürdigen Bandschachtel ruhten, dekoriert er sein Zimmer. Die Wirkung ist imponierend, da die »Prachtgalerie britischer Schönheiten« in jeder Art Phantasietracht jedes mögliche Instrument spielt, jede Art von Hund streichelt und alle möglichen Sorten Blumentöpfe und Balustraden als Hintergrund gewählt hat.

Die Modewelt ist nun einmal Mr. Weevles Schwäche, wie sie schon Tony Joblings Schwäche war. Sich abends die gestrige Zeitung aus der »Sonne« zu borgen und zu lesen, was für glänzende und ausgezeichnete Meteore in jeder Richtung über den Modehimmel schießen, gewährt ihm unsägliche Befriedigung. Zu wissen, welches Mitglied der Haute volée geruhte, sich dem oder jenem Feste anzuschließen, oder die nicht weniger glänzende und bedeutungsvolle Tat plant, morgen wieder abzureisen, durchbebt ihn mit wonnevollem Entzücken. Unterrichtet zu sein, was die Prachtgalerie britischer Schönheiten augenblicklich tut oder vorhat und was für Heiraten in dieser Galerie auf dem Tapet sind und »was man spricht«, heißt die glorreichsten Ziele des Menschengeschlechts kennen lernen. Mr. Weevle wendet sein Auge von diesen Nachrichten auf die darin besprochenen fashionablen Porträts, und es ist ihm, als kenne er die Originale und sie kennten ihn.

Sonst ist er ein ruhiger Mieter, anstellig und erfinderisch. Er versteht ebensogut für sich zu kochen und zu waschen, wie für sich zu zimmern, und zeigt gesellige Neigungen, sobald die abendlichen Schatten sich über den Hof senken. Zu solchen Zeiten, wenn ihn nicht Mr. Guppy besucht oder dessen Ebenbild, ein kleinerer Stern mit Zylinder, verläßt er sein düsteres Zimmer, dessen großes tintenberegnetes Holzpult er geerbt hat, und plaudert mit Krook oder ist sehr »aufgeknöpft«, wie sie es in Cook’s Court nennen, gegen jeden, der Lust zur Unterhaltung hat.

Deshalb sieht sich Mrs. Piper, die im Hof tonangebend ist, veranlaßt, Mrs. Perkins gegenüber zweierlei Bemerkungen zu machen:

Erstens, daß, wenn ihr Johnny einen Backenbart bekommen sollte, sie wünsche, er ganz dem des jungen Mannes gleiche, und zweitens: »Merken Sie sich meine Worte, Mrs. Perkins… Wundern Sie sich nicht, wenn der junge Mann einmal des alten Krook ganzes Geld erbt.«

21. Kapitel


21. Kapitel

Die Familie Smallweed

Inmitten einer recht übel aussehenden und übel duftenden Nachbarschaft, wenn auch einer ihrer höher gelegenen Teile den Namen Mount Pleasant führt, verbringt der Kobold Smallweed, getauft Bartholomäus, am häuslichen Herde aber »Bart« genannt, den spärlichen Rest seiner Zeit, den ihm die Kanzlei, und was damit zusammenhängt, übrig läßt. Er wohnt in einer kleinen schmalen Straße, die immer einsam, schattig, und traurig von allen Seiten wie ein Grab dicht ummauert ist. Aber immer noch wächst in ihr der Stumpf eines alten Waldbaumes, und sein Duft ist fast so frisch und natürlich wie Smallweeds Anstrich von Jugend.

Seit mehreren Generationen hat es in der Familie Smallweed nur ein einziges Kind gegeben. Kleine alte Männer und Frauen sind vorgekommen, aber kein Kind, bis Mr. Smallweeds Großmutter, die jetzt noch am Leben ist, schwachen Geistes und zum ersten Mal in ihrem Leben zum Kinde wurde. Mit den kindischen Eigenschaften eines gänzlichen Mangels an Beobachtungsgabe, Gedächtnis, Verstand und Interesse und mit der ewigen Neigung behaftet, beim Feuer einzuschlafen und hineinzufallen, hat Mr. Smallweeds Großmutter unzweifelhaft zur Belebung der ganzen Familie beigetragen.

Mr. Smallweeds Familie erfreut sich noch eines Großvaters. Der untere Teil seines Körpers ist ganz und der obere Teil beinah in hoffnungslosem Zustand, aber sein Geist ist ungeschwächt. Er kennt so gut wie früher die vier Spezies der Arithmetik und eine gewisse kleine Auswahl der greifbarsten Tatsachen. Was Idealismus, Ehrfurcht, Bewunderung und andre derartige phrenologische Eigenschaften betrifft, ist er darin nicht schlimmer dran als früher. Alles, was Großvater Smallweed je in seinen Geist aufgenommen hat, ist bei Beginn eine Raupe gewesen und bis zuletzt eine Raupe geblieben. In seinem ganzen Leben hat er nicht einen einzigen Schmetterling ausgebrütet. Der Vater dieses angenehmen Großvaters, aus der Gegend von Mount Pleasant, war eine hornhäutige zweibeinige geldsammelnde Art Spinne gewesen, die ihre Netze wob, um unvorsichtige Fliegen zu fangen, und in dunkeln Löchern auf der Lauer lag. Der Gott dieses alten Heiden hieß Zinseszins. Er lebte für diesen Gott, heiratete für ihn und starb für ihn. Als ihn ein schwerer Verlust in einem ehrenhaften kleinen Unternehmen traf, in dem der ganze Verlust auf der andern Seite hätte liegen sollen, brach ihm etwas – etwas, was zu seinem Leben notwendig war und daher nicht gut sein Herz gewesen sein konnte –, und er starb. Da sein Ruf nicht gut gewesen und er in einer Armenschule einen vollständigen Kursus der Fragen und Antworten über das alte Volk der Ammoniter und Hittiter durchgemacht hatte, wurde er häufig als ein Beispiel der schlimmen Folgen der Erziehung hingestellt.

Sein Geist pflanzte sich in seinem Sohne fort, dem er stets eingeprägt hatte, frühzeitig die Fühler auszustrecken, und den er im zwölften Lebensjahr bei einem Wucherer in die Lehre gab. Hier bildete der junge Gentleman, der von knickerigem und geizigem Charakter war, seinen Geist und schwang sich durch Entwicklung seiner Familienanlage allmählich bis zum – Eskompteur auf. Da er sich ebenfalls frühzeitig etablierte und spät heiratete, wie sein Vater vor ihm, zeugte er ebenfalls einen Sohn von knickerigem engherzigem Charakter, der auch seinerzeit sich frühzeitig etablierte und spät heiratete und Vater des Zwillingspaares Bartholomäus und Judith Smallweed wurde. Während der ganzen Zeit des langsamen Gedeihens dieses Stammbaums hatte das Haus Smallweed, immer sich frühzeitig etablierend und spät heiratend, seinen praktischen Charakter gestärkt, allen Vergnügungen entsagt, alle Geschichtsbücher, Märchen, Phantasien und Fabeln verboten und jegliche Art Spielerei verbannt. Die Folge davon war die erquickliche Tatsache, daß dem Hause nie ein Kind geboren wurde und die fertigen kleinen Männer und Frauen, die es hervorbrachte, alten Affen glichen, auf deren Seele etwas Niederdrückendes lastete.

Gegenwärtig sitzen in der dunkeln kleinen Stube, einige Fuß unter dem Straßenpflaster, in zwei schwarzen Roßhaarlehnstühlen auf beiden Seiten des Kamins Mr. und Mrs. Smallweed, beide steinalt, und verbringen hier ihre rosigen Stunden. Es ist eine grimmig und streng aussehende ungemütliche Stube, in der man keine andere Zier bemerkt als ein ganz ordinäres Tischtuch und ein ganz hartes eisenblechernes Teebrett, das seinem dekorativen Charakter nach kein schlechtes allegorisches Bild von Großvater Smallweeds Seele ist.

Auf dem Herd stehen ein paar Dreifüße für die Töpfe und Kessel, deren Bewachung Großvater Smallweeds gewöhnliche Beschäftigung ausmacht, und zwischen ihnen ragt von dem Kaminsims eine Art messingner Hausgalgen vor, um daran Fleisch zu braten, der ebenfalls unter seiner Aufsicht steht, wenn er in Tätigkeit ist.

Unter des ehrwürdigen Mr. Smallweeds Sessel und bewacht von seinen spindeldürren Beinen ist ein Schubkasten angebracht, der der Legende nach Schätze von fabelhaftem Wert birgt. Neben ihm liegt ein überzähliges Kissen, das er immer bei der Hand haben muß, um es der ehrwürdigen Gefährtin seines Lebensabends an den Kopf werfen zu können, wenn sie eine Anspielung auf Geld macht, eine Anspielung, gegen die er ganz besonders empfindlich ist.

»Wo bleibt nur Bart?« fragt Großvater Smallweed Judy, Barts Zwillingsschwester.

»Ist noch nicht da«, brummt Judy.

»Es ist seine Teezeit, was?«

»Nein.«

»Wieviel, glaubst du, fehlt noch daran?«

»Zehn Minuten.«

»He?«

»Zehn Minuten«, schreit Judy lauter.

»Ho!« sagt Großvater Smallweed. »Zehn Minuten.«

Großmutter Smallweed, die gemummelt hat und mit dem Kopf gewackelt, den Dreifuß anstierend, hört die Zahlen nennen, bringt sie mit Geld in Verbindung und kreischt wie ein häßlicher alter Papagei ohne Federn: »Zehn Zehnpfundnoten.«

Großvater Smallweed wirft ihr augenblicklich das Kissen an den Kopf.

»Verwünscht noch Mal, kusch!« ruft der gute Alte.

Die Wirkung der Wurfbewegung ist zwiefach. Sie drückt nicht nur Mrs. Smallweeds Kopf in die Ecke ihres Lehnstuhls und läßt ihre Mütze in einem wenig respektierlichen Zustand erblicken, wenn die Enkelin sie wieder erlöst hat, sondern die damit verbundne Anstrengung macht auch Mr. Smallweed in seinen Lehnstuhl zurücksinken wie eine zerbrochene Puppe.

Da der treffliche alte Herr zu solchen Zeiten nur wie ein bloßes Kleiderbündel mit einem schwarzen Hauskäppchen obendrauf aussieht, so bietet er keinen sehr belebten Anblick, bis ihn die Enkelin wie eine große Flasche geschüttelt und zurecht geklopft und gepufft hat wie ein Polster. Wenn sich durch diese Behandlungsweise wieder ein Ansatz von Hals bei ihm zeigt, sitzen er und die Gefährtin seines Lebensabends sich wieder in den zwei Lehnstühlen gegenüber wie ein paar Schildwachen, die der Tod, der schwarze Sergeant, auf ihrem Posten vergessen hat.

Das Zwillingskind Judy ist eine würdige Gesellschaft für die beiden.

Sie ist so unzweifelhaft Mr. Smallweed jrs. Schwester, daß beide zusammengeknetet kaum einen jungen Menschen von Durchschnittsproportionen ergeben hätten, während sie allein ein so glückliches Beispiel der Familienähnlichkeit mit dem Affengeschlecht ist, daß sie, mit Tressenjacke und Mütze aufgeputzt, ruhig, ohne aufzufallen, auf einer Drehorgel sitzen könnte. Gegenwärtig jedoch trägt sie natürlich nur einen einfachen knappen Rock von braunem Stoff.

Judy hat nie eine Puppe gehabt, hat nie vom Aschenbrödel gehört oder irgendein Spiel gespielt. Als sie ungefähr zehn Jahre alt war, kam sie ein oder zwei Mal in Kindergesellschaft, aber die Kinder konnten nicht mit Judy und Judy nicht mit ihnen auskommen. Sie schien ein Geschöpf anderer Gattung zu sein, und auf beiden Seiten herrschte ein instinktiver Widerwille.

Ob Judy lachen kann, ist fraglich. Sie hat es so selten gesehen, daß die Wahrscheinlichkeit sehr dagegen spricht. Von einem kindlichen Lachen hat sie bestimmt keinen Begriff. Wenn sie zu lachen versuchen würde, stünden ihr wahrscheinlich die Zähne im Weg, denn sie ahmt in jeder Miene das Greisenalter nach, das um sie ist. So ist Judy.

Und ihr Zwillingsbruder hat in seinem ganzen Leben noch nie einen Kreisel aufgewunden. Von dem Däumling, der den Riesen totschlug, oder Sindbad, dem Seefahrer, weiß er nicht mehr als von den Bewohnern der Sterne.

Von Bockspringen oder Ballspielen hatte er schon gar nie eine blasse Ahnung. Aber insofern ist er glücklicher als seine Schwester, als in seine enge Welt der Tatsachen ein Dämmerschein der höheren Regionen gedrungen ist, die innerhalb des Gesichtskreises Mr. Guppys liegen, dieses glänzenden Zauberers. Deshalb seine Bewunderung vor diesem strahlenden Stern.

Mit einem gongähnlichen Geräusch setzt Judy eins der eisenblechernen Teebretter auf den Tisch und verteilt Ober- und Untertassen. Das Brot legt sie in ein eisernes Körbchen und ein wenig Butter auf einen kleinen Zinnteller. Großvater Smallweed sieht scharf hin, wie der Tee eingeschenkt wird, und fragt Judy, wo das Mädchen ist.

»Charley, meinst du?« fragt Judy.

»He?«

»Charley, meinst du?«

Das berührt eine Feder in Großmutter Smallweeds Erinnerungsuhrwerk. Und wie gewöhnlich den Dreifuß angrinsend, schreit sie:

»Über dem Wasser. Charley über dem Wasser! Charley über dem Wasser. Über das Wasser zu Charley! Charley über dem Wasser! Über das Wasser zu Charley!« – und wird ganz lebhaft dabei.

Der Großvater sieht sich nach dem Kissen um, hat sich aber von seiner letzten Anstrengung noch nicht genügend erholt.

»Ha!« fragt er, als Stille eingetreten ist. »Heißt sie so? Sie ißt viel. Es wäre besser, ihr Kostgeld zu geben.«

Mit dem schlauen Augenzwinkern ihres Bruders schüttelt Judy den Kopf und spitzt ihre Lippen zu einem Nein, ohne es auszusprechen.

»Nein?« wiederholt der Alte. »Warum nicht?«

»Wir würden ihr sechs Pence täglich geben müssen und können es billiger machen«, sagt Judy.

»Bestimmt?«

Judy antwortet mit einem höchst bedeutsamen Nicken und schrillt, während sie so sparsam wie möglich die Butter auf das Brot kratzt und es in Scheiben schneidet: »Charley, wo bist du?«

Schüchtern erscheint ein kleines Mädchen in einer groben Schürze und einem großen Hut, die Arme mit Seifenschaum bedeckt und in der Hand eine Scheuerbürste, und knickst.

»Was machst du jetzt?« herrscht Judy sie an und schnappt nach ihr wie eine bösartige alte Hexe.

»Ich scheuere das Hofzimmer oben, Miß.«

»Mach es ordentlich und trödle nicht. Schlamperei paßt mir nicht. Mach rasch! Fort!« ruft Judy und stampft mit dem Fuß auf den Boden. »Ihr Mädchen macht einem doppelt so viel Arbeit, als ihr wert seid.«

Als diese strenge Matrone wieder an ihre Beschäftigung geht, Butter auf das Brot zu kratzen, fällt der Schatten ihres Bruders, der zum Fenster hereinsieht, auf sie. Messer und Brot in der Hand, macht sie ihm die Haustür auf.

»Nun, Bart!« sagt Großvater Smallweed. »Da bist du ja. He?«

»Da bin ich«, nickt Bart.

»Wieder mit deinem Freund zusammen gewesen, Bart?«

Small nickt.

»Auf seine Kosten zu Mittag gegessen, Bart?«

Small nickt wieder.

»Das ist recht. Lebe auf seine Kosten, soviel du kannst, und laß dich durch sein törichtes Beispiel warnen. Das ist der Nutzen eines solchen Freundes. Der einzige Nutzen, den du aus ihm ziehen kannst«, sagt der ehrwürdige Weise.

Der Enkel könnte diesen guten Ratschlag ehrerbietiger aufnehmen, aber er billigt ihn mit einem leichten Nicken und Augenzwinkern und setzt sich an den Teetisch.

Die vier alten Gesichter schweben sodann über den Teetassen wie eine Gesellschaft gespenstischer Cherubim, und Mrs. Smallweed wackelt beständig mit dem Kopf und schnattert die Dreifüße an, während der greise Patriarch beständig geschüttelt werden muß wie eine große schwarze Flasche.

»Ja, ja«, sagt der alte Herr und fängt seine Vorlesungen über Weisheit wieder an. »Diesen Rat würde dir auch dein Vater gegeben haben, Bart. Du hast deinen Vater nie gesehen. Sehr schade. Er war mein echter Sohn.«

»Er war mein echter Sohn«, wiederholt der alte Herr und faltet die Hände mit der Butterschnitte über dem Knie. »Ein guter Rechner. –Starb vor fünfzehn Jahren.«

Von ihrem gewohnten Instinkt getrieben, ruft Mrs. Smallweed: »Fünfzehnhundert Pfund. Fünfzehnhundert Pfund in einem schwarzen Kasten! Fünfzehnhundert Pfund unter Schloß und Riegel! Fünfzehnhundert Pfund gut versteckt.«

Der würdige Gatte legt das Butterbrot hin und wirft sofort mit dem Kissen nach ihr. Sie wird in die Ecke ihres Stuhls gequetscht, und er sinkt entkräftet zurück.

Sein Aussehen, wenn er an Mrs. Smallweed wieder eine solche Ermahnung verschwendet hat, ist höchst ausdrucksvoll, aber keineswegs einnehmend. Erstens, weil ihm die Anstrengung meistens das Hauskäppchen über ein Auge schiebt und ihm ein Aussehen koboldartiger Flottheit verleiht, zweitens, weil er heftige Verwünschungen gegen Mrs. Smallweed ausstößt, und drittens, weil der Kontrast zwischen seinen kräftigen Ausdrücken und seiner schwächlichen Gestalt an einen giftigen alten Bösewicht erinnert, der gern grausam sein möchte, aber nicht kann.

Das alles ist etwas so Gewöhnliches in dem Familienkreise der Smallweeds, daß es weiter keinen Eindruck hervorruft. Der alte Herr wird nur geschüttelt und seine inneren Federn werden aufgeklopft, das Kissen wird von neuem an seinen gewöhnlichen Platz neben ihn gelegt und die alte Dame abermals in ihrem Stuhl aufgerichtet, um bei nächster Gelegenheit wieder wie ein Kegel umgeworfen zu werden.

Manchmal rückt man ihr die Mütze zurecht. Manchmal auch nicht.

Dies Mal vergeht einige Zeit, bis sich der alte Herr soweit beruhigt hat, um seine Rede fortsetzen zu können, und selbst dann mischt er verschiedne erbauliche Zurufe an die Gefährtin seines Lebens, die aber nicht zuhört und sich auf Erden nur noch mit Dreifüßen unterhält, hinein.

»Wenn dein Vater, Bart, länger gelebt hätte, würde er sehr reich geworden sein – du höllisches Plappermaul –, aber gerade als er anfing, das Gebäude aufzurichten, zu dem er viele Jahre lang den Grund gelegt hatte – du verwünschte Elster, was willst du denn eigentlich –, erkrankte er und starb an einem zehrenden Fieber, denn er war immer ein sparsamer Mann voll Sorge ums Geschäft – ich möchte dir eine Katze an den Kopf werfen, anstatt eines Kissens und tue es auch noch ein Mal, wenn du einen so verdammten Narren aus dir machst –, und deine Mutter, die eine verständige Frau war, so dürr wie ein Hobelspan, schwand hin wie Zunder, als sie dich und Judy geboren hatte… Du bist ein altes Schwein, du bist ein dummes Höllenschwein – Schweinskopf!!«

Judy, die sich für das, was sie schon so oft gehört hat, nicht im geringsten interessiert, gießt aus den Ober- und Untertassen und dem Grunde der Kanne verschiedne Nebenströme Tee zum Abendbrot der kleinen Scheuerfrau zusammen. Ebenso sammelt sie in dem eisernen Brotkorb soviel Rinden und Brocken Brot, als die strenge Sparsamkeit des Hauses übrig gelassen hat.

»Aber dein Vater und ich waren Kompagnons, Bart«, fährt der alte Herr fort, »und nach meinem Tode bekommen du und Judy alles. Es ist ein großes Glück für euch, daß ihr zeitig in die Lehre gegangen seid. Judy ins Blumengeschäft und du in die Kanzlei. Ihr werdet das Geld nicht anzugreifen brauchen. Ihr verdient euch auch so euren Lebensunterhalt und spart noch mehr dazu. Wenn ich tot bin, geht Judy wieder ins Blumengeschäft, und du bleibst in der Kanzlei.«

Nach Judys Aussehen könnte man eher auf eine Beschäftigung mit Dornen als mit Blumen schließen, aber sie ist frühzeitig in die Mysterien der Verfertigung künstlicher Blumen eingeweiht worden. Ein scharfer Beobachter hätte sowohl in ihrem als in ihres Bruders Auge, während ihr ehrwürdiger Großvater von seinem Tode sprach, ein klein wenig Ungeduld, wann er wohl sterben würde, und ein wenig Groll, daß es schon so lange dauere, entdecken können.

»Wenn ihr jetzt alle fertig seid«, sagt Judy und räumt auf, »will ich das Mädchen zum Tee hereinholen. Sie würde nie fertig werden, wenn ich ihr den Tee draußen in der Küche gäbe.«

Charley wird also hereingerufen und setzt sich unter einem heftigen Kreuzfeuer von Blicken zu ihrem Tee und einer druidischen Ruine von Butterbrot hin. Bei der Beaufsichtigung des Mädchens scheint Judy Smallweed ein wahrhaft geologisches Alter zu erreichen und auszusehen, als ob sie aus den fernsten Zeitepochen herstamme. Ihr System, mit oder ohne Anlaß über das Kind herzufallen, es auszuschimpfen, ist geradezu wunderbar und beweist eine Fertigkeit im Mißhandeln von Dienstboten, die selbst jahrhundertealte Übung nur selten verleiht.

»Glotze nicht den ganzen Nachmittag in der Stube herum«, ruft sie und stampft mit dem Fuß, als sie zufällig einen Blick des Kindes auf den Teekessel erhascht, »verzehre deinen Proviant und geh wieder an die Arbeit.«

»Ja, Miß.«

»Sage nicht ja«, fährt Miß Smallweed auf. »Ich weiß schon, wie ihr Mädchen seid. Tue es, ohne zu reden, dann fang ich vielleicht an, dir zu glauben.«

Charley schlingt einen großen Schluck Tee hinunter, zum Zeichen der Unterwürfigkeit, und zerstört die druidischen Ruinen so sehr, daß Miß Smallweed ihr vorwirft, gefräßig zu sein, »was bei euch Mädchen«, wie sie sagt, »so abstoßend ist«. Es würde Charley wahrscheinlich noch schwerer fallen, Judys Anforderungen, wie Mädchen sein müßten, zu entsprechen, wenn man nicht ein Klopfen an der Tür hörte.

»Sieh nach, wer’s ist, und kaue nicht beim Aufmachen«, ruft Judy.

Während sich die Zielscheibe ihrer Liebenswürdigkeiten zu diesem Zweck entfernt, benützt Miß Smallweed die Gelegenheit, um die Reste von Brot und Butter zusammenzuschieben und ein paar schmutzige Teetassen in die ebbende Flut des Teekessels zu werfen; ein Wink, daß sie das Essen und Trinken für beendigt ansieht.

»Nun, wer ist’s und was will er?« fragt sie dann spitzig.

Es ist ein gewisser Mr. George, wie sich herausstellt. Ohne weitere Anmeldung oder Zeremonie tritt Mr. George ein.

»Pfui Teufel!« sagt Mr. George. »Habt ihr’s aber heiß hier. Immer ein Feuer, was? Na! Vielleicht tut ihr gut, euch beizeiten daran zu gewöhnen.« Mr. George spricht diese letzten Worte zu sich selbst, während er Großvater Smallweed zunickt.

»Ho! Sie sind’s?« ruft der alte Herr. »Wie geht’s? Wie geht’s?«

»Soso mittel«, antwortet Mr. George und nimmt einen Stuhl.

»Ihre Enkelin habe ich bereits die Ehre zu kennen. Ihr Diener, Miß.«

»Hier, mein Enkel«, stellt Großvater Smallweed Bart vor. »Sie kennen ihn noch nicht. Er ist in einer Kanzlei und nicht viel zu Hause.«

»Ihr Diener, ebenfalls! – Er ist wie seine Schwester. Ganz seine Schwester. Verflucht ähnlich sieht er seiner Schwester.« Mr. George legt einen großen, nicht sehr höflich klingenden Nachdruck auf seine Worte.

»Und wie geht die Welt mit Ihnen um, Mr. George?« fragt Großvater Smallweed und reibt sich langsam die Schenkel.

»So ziemlich wie gewöhnlich. Wie mit einem Fußball.«

Mr. George ist ein sonnenverbrannter Mann von etwa fünfzig Jahren, gut gebaut und hübsch von Gesicht, mit schwarzem Kraushaar, hellen Augen und einer breiten Brust. Seine sehnigen und kräftigen Hände, so sonnenverbrannt wie sein Gesicht, sind offenbar an ein rauhes Leben gewöhnt. Seltsam an ihm ist, daß er immer nur auf der Vorderkante des Stuhles sitzt, als ob er aus alter Gewohnheit Raum ließe für ein Kleidungsstück oder eine Rüstung. Auch sein Schritt ist taktmäßig und wuchtig und würde gut zu Sporenklirren passen. Er ist glatt rasiert, aber sein Mund sieht aus, als ob die Oberlippe seit vielen Jahren einen großen Schnurrbart gewohnt gewesen wäre, und die Art, wie er manchmal mit seiner breiten braunen Hand darüber streicht, verstärkt diese Vermutung. Man möchte glauben, daß Mr. George einmal früher Kürassier gewesen sei.

Zu der Familie Smallweed bildet Mr. George einen ganz besondern Kontrast. Wohl noch nie ist ein Kavallerist in einem ihm unähnlicheren Haushalt einquartiert gewesen. Er verhält sich zu ihr wie ein Schlachtschwert zu einem Krebsmesser. Seine entwickelte Gestalt und ihre verkümmerten Formen, sein breitspuriges Wesen, dem das Zimmer zu klein scheint, und ihre kleine verkümmerte Weise, seine tönende Stimme und ihre spitzigen unansehnlichen Töne bilden den stärksten und seltsamsten Gegensatz, den man sich nur denken kann. Wie er in der Mitte des grämlich aussehenden Zimmers sitzt, ein wenig vorgebeugt, die Hände auf die Schenkel gestützt und die Ellbogen auswärts gekehrt, sieht er aus, als könnte er, wenn er lange hier bliebe, die ganze Familie samt dem Haus und seinen vier Zimmern nebst Küche absorbieren.

»Reiben Sie sich vielleicht die Beine, um Leben hineinzureiben?« fragt er Großvater Smallweed, nachdem er sich im Zimmer umgesehen hat.

»S ist so eine Gewohnheit, Mr. George, und… hm, ja… Es unterstützt auch die Zirkulation.«

»Die Zir-ku-la-tion«, wiederholt Mr. George, faltet seine Arme auf der Brust und sieht dadurch noch zwei Mal so groß aus. »Wird nicht mehr viel davon vorhanden sein, sollte ich meinen.«

»Nun ja, ich bin alt, Mr. George«, gibt Großvater Smallweed zu. »Aber ich trage meine Jahre noch recht rüstig. Ich bin älter als sie«, fügt er mit einem Kopfnicken auf seine Gattin hinzu. »Und schauen Sie sie an, wie sie ist… Verdammtes Höllenplappermaul!« ruft er in plötzlich wiedererwachender Feindseligkeit.

»Die arme alte Seele!« sagt Mr. George mitleidig und wendet ihr sein Gesicht zu. »Schelten Sie die alte Dame nicht. Sehen Sie sie nur an, wie sie dasitzt, die Mütze halb auf dem armseligen Kopf, im Stuhl. Fast wie ein Bündel. Munter, Maam. So ist’s recht. Na also… Denken Sie an Ihre Mutter, Mr. Smallweed«, Mr. George hat unterdessen der Alten ein wenig aufgeholfen und kehrt jetzt wieder zu seinem Platz zurück, »wenn Ihnen Ihre Frau nicht genügt.«

»Sie selbst sind wahrscheinlich ein vortrefflicher Sohn gewesen, Mr. George«, wirft der Alte mit einem spöttischen Lächeln hin.

Mr. Georges Gesicht rötet sich etwas lebhafter, als er antwortet: »Nun, nein, ich war das gerade nicht.«

»Ah, da staune ich.«

»Ich auch. Ich hätte ein guter Sohn sein sollen und glaube, ich hatte auch die Absicht, es zu sein. Aber ich war’s nicht. Ich war ein verdammt schlechter Sohn. Das ist das Lange und Breite von der Geschichte. Und ich habe nie jemand Ehre gemacht.«

»Merkwürdig!« höhnt der Alte.

»Je weniger wir davon sprechen, desto besser ist’s«, beginnt Mr. George von neuem. »Kommen Sie. Sie wissen, was wir ausgemacht haben. Immer eine Pfeife für die zwei Monate Zinsen. Ba, s ist schon gut. Sie brauchen sich nicht wegen der Pfeife zu fürchten. Hier ist der neue Wechsel, und hier sind die zwei Monate Zinsen. Es ist verteufelt schwer, sie in meinem Geschäft zusammenzubringen.«

Mr. George sitzt mit verschränkten Armen da und scheint die Familie und die ganze Stube in sich hineinzuatmen, während Judy dem Großvater Smallweed zwei schwarze Ledertaschen aus einem Schreibtisch holt.

In eine derselben kommt das eben erhaltene Dokument, und aus der anderen übergibt der alte Herr ein ähnliches Mr. George, der es nimmt und zu einem Fidibus zusammendreht.

Da Mr. Smallweed durch die Brille jeden Federstrich der beiden Dokumente genau vergleicht und das Geld drei Mal durchzählt und sich von Judy jedes Wort, das sie spricht, mindestens zwei Mal wiederholen läßt und in seiner Rede und allen seinen Bewegungen so zitterig und langsam wie nur möglich ist, dauert dieses Geschäft ziemlich lange. Erst als er ganz fertig ist, und nicht eine Sekunde früher, machen sich seine gierigen Augen und Finger davon los, und er beantwortet Mr. Georges letzte Bemerkung mit den Worten:

»Fürchten, die Pfeife zu bestellen? So knickerig sind wir nicht, Sir. Judy, hol sogleich die Pfeife und das Glas Brandy mit Wasser für Mr. George.«

Die lieblichen Zwillinge haben die ganze Zeit über geradeaus gesehen, außer wenn sie von den schwarzen Ledertaschen abgelenkt wurden, entfernen sich jetzt und verschmähen den Gast und überlassen ihn dem Alten, wie zwei junge Bären einen Reisenden dem väterlichen Petz überlassen würden.

»So sitzen Sie wohl den ganzen Tag da?« fragt Mr. George, die Arme auf der Brust verschränkt.

»Jawohl, jawohl«, nickt der Alte.

»Und Sie beschäftigen sich mit gar nichts?«

»Ich sehe dem Feuer zu – und dem Kochen und Braten.«

»Wenn etwas da ist«, betont Mr. George mit großem Nachdruck.

»Jawohl, wenn etwas da ist.«

»Lesen Sie nichts oder lassen Sie sich nicht vorlesen?«

Der Alte schüttelt triumphierend und schlau den Kopf.

»Nein, nein. Unsere Familie hat sich nie ans Lesen gehalten. Es schaut nichts dabei heraus. Unsinn. Faulenzerei. Dummes Zeug. Nein, nein.«

»Zwischen euch beiden ist auch eine schwere Wahl«, brummt der Gast leise vor sich hin und blickt auf das alte Weib und wieder zu Mr. Smallweed. »Sie!« sagt er dann laut.

»Nun, was denn?«

»Sie ließen mich wahrscheinlich auch gleich federn, wenn ich nur einen Tag im Rückstand bliebe?«

»Bester Freund!« ruft Großvater Smallweed und streckt beide Arme wie ein Wegweiser aus. »Niemals! Niemals! Bester Freund! Aber mein Gewährsmann in der City, den ich bewogen habe, Ihnen das Geld zu leihen, täte es vielleicht.«

»O, Sie können also nicht für ihn stehen?« fragt Mr. George und murrt in sich hinein: »Du verdammter alter lügnerischer Schuft!«

»Bester Freund, es ist kein Verlaß auf ihn. Ich möchte ihm nicht trauen. Er will seinen Wechsel haben, bester Freund.«

»Der Teufel zweifelt daran«, sagt Mr. George.

Da jetzt Charley mit einem Präsentierbrett hereintritt, auf dem die Pfeife, ein kleines Paket Tabak und das Glas Brandy mit Wasser stehen, fragt er sie: »Wo kommst denn du her? Du hast das Familiengesicht nicht.«

»Ich bin Zugeherin, Sir«, gibt Charley zur Antwort.

Der Kavallerist – wenn er überhaupt ein Kavallerist ist oder war – nimmt ihr mit einer für eine so schwere Hand auffallenden Zartheit den Hut ab und streichelt ihr den Kopf. »Du gibst dem Hause beinah ein gesundes Aussehen. Es fehlt ihm ein bißchen Jugend ebensosehr wie frische Luft.«

Dann entläßt er sie, zündet sich die Pfeife an und trinkt auf das Wohl von Mr. Smallweeds Freund in der City – der einzigen jemals vorgekommenen Ausgeburt der Phantasie des geschätzten alten Herrn.

»Sie glauben also, er würde ganz rücksichtslos gegen mich vorgehen, wie?«

»Ich glaube es… Ich fürchte es. Ich weiß, daß er es«, sagt Mr. Smallweed unvorsichtigerweise, »wohl schon zwanzig Mal getan hat.«

Unvorsichtigerweise insofern, als seine gelähmte bessere Hälfte, die mittlerweile über dem Feuer hingedröselt hat, beim Nennen der Zahl augenblicklich aufwacht und schnattert: »Zwanzigtausend Pfund, zwanzig Zwanzigpfundnoten in einem Geldkasten, zwanzig Guineen. Zwanzig Millionen. Zwanzig Prozent. Zwanzig…« Hier wird sie von dem fliegenden Kissen unterbrochen. Der Gast, dem dieses eigentümliche Verfahren ganz neu zu sein scheint, reißt es von ihrem Gesicht weg.

»Du Teufelsidiot, du Skorpion… Du Höllenskorpion! Giftkröte! Du verdammte schnatternde Besenstielhexe! Verbrennen sollte man dich!« japst der Alte, tief in seinen Stuhl versunken. »Bester Freund, möchten Sie mich nicht ein bißchen aufschütteln?!«

Mr. George, der die beiden abwechselnd angestarrt hat, als kenne er sich gar nicht mehr aus, faßt seinen verehrungswürdigen Wirt auf dessen Bitte an der Kehle, zerrt ihn im Stuhl in die Höhe wie eine Puppe und scheint zu schwanken, ob er nicht lieber alle Fähigkeit, je wieder das Kissen zu schleudern, aus ihm heraus und ihn selbst ins Grab schütteln solle. Er widersteht dieser Versuchung zwar, schüttelt ihn aber doch so heftig, daß dem Greis der Kopf wackelt wie einem Harlekin, setzt ihn derb in seinem Stuhl aufrecht und schiebt ihm seine Hauskappe mit solcher Kraft zurecht, daß der Alte eine ganze Minute lang mit den Augen zwinkert.

»O Gott«, ächzt Mr. Smallweed. »Schon gut. Danke, bester Freund, schon gut. O Gott, ich bin ganz außer Atem. O Gott!« – Mr. Smallweed hat sichtlich Furcht vor seinem »besten Freunde«, der, größer als je aussehend, immer noch vor ihm steht.

Die beunruhigende Gestalt sinkt jedoch allmählich wieder in ihren Stuhl und raucht in langen Zügen und ergeht sich in philosophischen Reflexionen wie: »Der Name des Freundes in der City fängt mit einem T an, und du hast ganz recht hinsichtlich des Wechsels.«

»Sagten Sie etwas, Mr. George?«

Der Kavallerist schüttelt den Kopf, fährt, den rechten Ellbogen auf das rechte Knie gestützt, fort zu rauchen und läßt die andere Hand auf dem linken Schenkel ruhen, den Ellbogen in soldatischer Weise auswärts gekehrt. Dabei betrachtet er Mr. Smallweed mit aufmerksamem Ernst und fächelt dann und wann die Rauchwolken weg, um das Gesicht seines Gegenübers deutlicher sehen zu können.

»Ich vermute«, sagt er und verändert seine Stellung gerade nur soviel, um das Glas an seine Lippen bringen zu können, »daß ich der einzige unter allen Lebenden oder Toten bin, der je eine Pfeife Tabak aus Ihnen herausgequetscht hat.«

»Ich sehe doch keine Gesellschaft um mich, Mr. George, die ich traktieren könnte. Ich kann es mir nicht leisten, aber da Sie in Ihrer gewinnenden Art eine Pfeife zur Bedingung gemacht haben…«

»O, es ist mir nicht um den Wert zu tun. Darum nicht. Es war nur so ein Einfall von mir, aus Ihnen etwas herauszuquetschen, etwas für mein Geld zu haben.«

»Ja, Sie sind klug, klug, Sir!« ruft Großvater Smallweed und reibt sich die Schenkel.

»Sehr klug. War ich immer.« – Paff – »Ein sicheres Zeichen für meine Klugheit, daß ich überhaupt den Weg hierher gefunden habe.« – Paff – »Auch daß ich’s zu dem gebracht habe, was ich jetzt bin.« – Paff – »Ich bin überhaupt als klug bekannt«, sagt Mr. George und raucht ruhevoll. »Ich habe es im Leben zu etwas gebracht.«

»Lassen Sie den Mut nicht sinken, Sir. Sie können noch in die Höhe kommen.«

Mr. George lacht und trinkt.

»Haben Sie keine Verwandten«, fragt Großvater Smallweed mit einem Zucken in seinen Augenlidern, »die das kleine Kapital abzahlen möchten oder eine oder zwei gute Unterschriften geben würden? Ich könnte meinen Freund in der City dann zu einem größeren Wechsel bewegen. Zwei gute Unterschriften genügen meinem Freund in der City. Haben Sie keine solchen Verwandten, Mr. George?«

Mr. George, der immer noch ruhig fortraucht, gibt zur Antwort: »Wenn ich welche hätte, würde ich sie nicht in Anspruch nehmen. Ich habe den Meinen schon Sorgen genug gemacht. Es mag vielleicht eine gute Buße für einen Vagabunden sein, der die beste Zeit seines Lebens vergeudet hat, wieder zu anständigen Leuten zurückzugehen, denen er nie Ehre gemacht hat, und sich von ihnen erhalten zu lassen. Aber das ist nicht meine Art. Die beste Art Buße fürs Fortlaufen ist meiner Ansicht nach das Fortbleiben.«

»Und die natürliche Zuneigung, Mr. George?« wirft Großvater Smallweed hin.

»Zu zwei guten Namen, wie?« Mr. George schüttelt den Kopf. »Nein, das ist auch nicht meine Art.«

Großvater Smallweed ist allmählich wieder in seinen Stuhl zu einem Bündel Kleider mit einer Stimme darin zusammengesunken, die Judy ruft. Dieser Engel erscheint, schüttelt ihn in der gewohnten Weise und hat von jetzt an neben dem alten Herrn zu bleiben. Er scheint keine Lust mehr zu verspüren, die Hilfe seines Gastes nochmals in Anspruch zu nehmen.

»Ja, ja«, bemerkt er, als er wieder in Ordnung ist. »Wenn Sie den Kapitän hätten aufspüren können, Mr. George, hätten Sie Ihr Glück gemacht. Wenn Sie damals, wo Sie infolge unsrer Zeitungsankündigungen – wenn ich sage unsrer, so meine ich die mehrerer meiner Freunde in der City, die ihr Kapital in dieser Weise anlegen und mich armen Teufel auch nebenbei eine Kleinigkeit verdienen lassen –, wenn Sie damals uns hätten helfen können, Mr. George, wären Sie heute ein gemachter Mann.«

»Ich wäre sehr gern ein gemachter Mann, wie Sie’s nennen«, sagt Mr. George, raucht aber nicht mehr so ruhig wie vorher, denn seit der Anwesenheit Judys steht er wie unter einem Zauber, wenn auch unter keinem liebreizenden, der ihn zwingt, sie anzusehen, wie sie neben ihres Großvaters Stuhl steht. »Aber im übrigen bin ich froh, daß es nicht geschehen ist.«

»Warum, Mr. George? Hölle und Schwefel… Warum?« fragt Großvater Smallweed, sichtlich gereizt.

– Hölle und Schwefel sind ihm offenbar eingefallen, weil sein Blick gerade auf die schlummernde Mrs. Smallweed gefallen ist. –

»Aus zwei Gründen, Kamerad.«

»Aus was für zwei Gründen, Mr. George? Im Namen –«

»– unsres Freundes in der City?« fragt Mr. George und nimmt einen Schluck.

»Nun ja, wenn Sie wollen. Aus was für zwei Gründen?«

»Erstens«, entgegnet Mr. George, blickt aber immer noch Judy an, als wäre es gleichgültig, wen von beiden er anredete, sie sieht doch ebenso alt und fast genau so aus wie ihr Großvater. »Erstens, weil Ihr Gentlemen mich eingetunkt habt. Ihr habt in die Zeitungen gesetzt, daß Ihr für Mr. Hawdon – oder meinetwegen Kapitän Hawdon, wenn Sie’s schon nicht anders haben wollen, weil er früher einmal Kapitän war – eine angenehme Nachricht hättet.«

»Nun, und?« fährt der Alte schrill und heftig auf.

»Nun«, sagt Mr. George und raucht ruhig weiter, »es wäre ihm wohl sehr angenehm gewesen, sich von der ganzen Wechslerzunft Londons einstecken zu lassen?«

»Woher wissen Sie das ? Einige von seinen reichen Verwandten hätten seine Schulden gezahlt oder für ihn gebürgt. Außerdem hat er uns eingetunkt. Er schuldete uns allen ohne Ausnahme ungeheure Summen. Ich hätte ihn lieber erwürgt, als ihn losgelassen. Wenn ich hier sitze«, krächzt der Alte und hält seine kraftlosen zehn Finger empor, »so möchte ich ihn jetzt noch erwürgen.« In einem plötzlichen Wutanfall wirft er mit dem Kissen nach der nichts Arges ahnenden Mrs. Smallweed, trifft sie aber nicht.

»Ich weiß ja«, beginnt der Kavallerist von neuem, nimmt seine Pfeife aus dem Mund und sieht von dem Kissen auf den Pfeifenkopf, der fast ausgebrannt ist. »Ich weiß ja, daß er’s schlimm getrieben hat und ins Verderben gerannt ist. Ich bin so manchen Tag an seiner Seite geritten, wie er in voller Karriere ins Verderben stürmte. Ich bin bei ihm gewesen in gesunden und kranken Tagen, in Reichtum und Armut. Diese Hand hat ihn zurückgehalten, als er alles vergeudet hatte und alles um ihn her zusammenbrach und er sich die Pistole an die Stirn setzte.«

»Ich wollte, er hätte sie abgedrückt«, flucht der wohlwollende alte Herr, »und sich den Kopf in so viele Stücke zersprengt, als er Sovereigns schuldig war.«

»Das hätte freilich einen Krach gegeben«, antwortet der Kavallerist kaltblütig. »Jedenfalls ist er damals jung, voll Hoffnungen und schön gewesen, und es freut mich, daß ich ihn, als er es nicht mehr war, nicht aufgefunden habe, um ihm zu Ihrer angenehmen Nachricht zu verhelfen. Das ist Grund Numero 1.«

»Ich hoffe, Numero 2 ist ebensogut«, knurrt der Alte.

»Nun, nein. Der ist selbstsüchtiger. Wenn ich ihn hätte finden wollen, hätte ich ihn in einer andern Welt suchen müssen.«

»Woher wissen Sie das ?«

»Er war nicht mehr hier.«

»Woher wissen Sie, daß er nicht mehr hier war?«

»Verlieren Sie nicht Ihre Laune, wie Sie Ihr Geld verloren haben«, sagt Mr. George und klopft ruhig seine Pfeife aus. »Er ertrank schon lange vorher. Davon bin ich überzeugt. Er ist über Bord gegangen. Ob absichtlich oder zufällig, weiß ich nicht. Vielleicht weiß es Ihr Freund in der City. Kennen Sie diese Melodie, Mr. Smallweed?« setzt er hinzu und fängt an zu pfeifen und schlägt dazu den Takt mit der leeren Pfeife auf dem Tisch.

»Melodie?« entgegnet der Alte. »Nein! Mit Melodien haben wir hier nichts zu schaffen.«

»Es ist der Totenmarsch aus Saul. Sie spielen ihn bei Soldatenbegräbnissen. Daher ist’s der natürliche Abschluß der Sache. Nun, wenn Ihre hübsche Enkelin – Sie entschuldigen schon, Miß – sich herablassen will, diese Pfeife zwei Monate lang aufzuheben, brauchen wir das nächste Mal keine zu kaufen. Guten Abend, Mr. Smallweed.«

»Bester Freund!« Der Alte streckt ihm beide Hände hin.

»Sie glauben also, Ihr Freund in der City würde kein Erbarmen haben, wenn ich das nächste Mal nicht zahlte«, fragt der Kavallerist und sieht wie ein Riese auf den Alten herunter.

»Bester Freund, das fürchte ich sehr«, sagt Mr. Smallweed und blickt wie ein Pygmäe zu ihm auf.

Mr. George lacht und schreitet, mit einem Blick auf den Großvater und einem Abschiedsgruß auf die wütende Judy, zum Zimmer hinaus und rasselt mit seinem imaginären Säbel und seinem Küraß davon.

»Verdammter Schurke!« sagt der alte Ehrenmann und schneidet der Tür eine scheußliche Grimasse, wie sie sich schließt. »Ich werde dich schon noch leimen!«

Nach dieser liebenswürdigen Bemerkung schwingt sich sein Geist wieder in die Zauberregionen seines Denkens, die ihm seine Erziehung und seine Lebensweise erschlossen haben, und wieder verdämmern er und Mrs. Smallweed ihre rosigen Stunden wie zwei Schildwachen, die der schwarze Sergeant vergessen hat.

Während das Paar getreulich auf seinem Posten ausharrt, schreitet Mr. George mit gewichtigem Schritt und ernstem Gesicht durch die Straßen. Es ist acht Uhr, und der Tag neigt sich seinem Ende zu.

Er bleibt dicht bei der Waterloobrücke stehen, liest einen Theaterzettel und entschließt sich, in Astleys Theater zu gehen. Dort freut er sich an den Pferden und den Kraftstücken, betrachtet die Waffen mit kritischem Blick, mißbilligt die Gefechte, weil sie von mangelhafter Fechtkunst zeugen, wird aber tief gerührt von der Poesie. Bei der letzten Szene, wo der Kaiser der Tartaren in den Wagen steigt und die vereinten Liebenden segnet, indem er die englische Flagge über ihnen schwingt, werden seine Wimpern feucht.

Als das Stück aus ist, geht Mr. George wieder über die Brücke und wendet seine Schritte nach der merkwürdigen Region um Hay-Market und Leicester-Square, dem Mittelpunkt ausländischer Hotels und zweideutiger Fremder, Ballhäuser, Boxer, Fechtmeister, Fußgardisten, alter Porzellanläden, Spielhäuser, Ausstellungen und eines großen Gemischs von Schäbigkeit und lichtscheuem Treiben. Im Herzen dieser Region angelangt, erreicht er durch einen Hof und einen langen weißgetünchten Durchlaß ein großes Ziegelgebäude, das aus nackten Wänden, Dachbalken und Dachfenstern besteht und an dessen Vorderseite, wenn man es so nennen kann, in großen Buchstaben steht:

Georges Schießgalerie usw.

Er geht in »Georges Schießgalerie usw.«. Darin erblickt man einige Gaslampen, die jetzt zum größten Teil abgedreht sind, zwei weiß angestrichene Scheibenstände und Einrichtungen zum Bogenschießen, Fechtzeug und alle Erfordernisse für Boxkunst.

An diesem Abend ist in Georges Schießgalerie keine dieser sportlichen Übungen in Gang, und ein kleiner grotesk aussehender Mann mit einem großen Kopf ist hier Alleinherrscher und liegt schlafend auf dem Fußboden.

Der kleine Mann ist wie ein Büchsenmacher gekleidet, trägt eine grünwollene Schürze und Mütze, und sein Gesicht und seine Hände sind schmutzig von Pulver und vom Laden von Gewehren. Wie er vor einer grellweißen Scheibe im Lichtschein liegt, sieht man die schwarzen Flecken an ihm um so deutlicher. Nicht weit von ihm steht ein fester, grob gehobelter Tisch mit einem Schraubstock, an dem er gearbeitet hat. Er ist ein kleiner Mann mit einem ganz zerhauenen Gesicht, der nach dem blaugefleckten Aussehen einer seiner Backen zu urteilen im Lauf des Geschäfts ein paar abgekriegt zu haben scheint.

»Phil«, sagt der Kavallerist ruhig.

»Zu Befehl!« Phil springt auf.

»Wie war das Geschäft?«

»Flau wie Dünnbier«, berichtet Phil. »Fünf Dutzend Büchsen- und ein Dutzend Pistolenschüsse. Und das Ziel!« Phil stößt bei dem Gedanken daran ein Geheul aus.

»Sperr zu, Phil!«

Wie Phil im Saal herumgeht, um den Auftrag auszuführen, zeigt es sich, daß er lahm ist, obgleich er sich sehr rasch vom Fleck bewegt. Auf der fleckigen Seite seines Gesichts hat er keine Augenbraue. Auf der andern eine sehr buschige schwarze, was ihm ein sehr eigentümliches und fast finsteres Aussehen verleiht. Seinen Händen scheint alles zugestoßen zu sein, was ihnen nur ohne Fingerverlust zustoßen konnte; sie sind über und über gekerbt, vernarbt und verkrümmt. Er scheint sehr stark zu sein und hebt schwere Bänke, als habe er gar keinen Begriff von ihrer Last. Er hat eine seltsame Art, sich mit der Achsel an der Wand entlang zu schieben und nach Gegenständen, die er sucht, hinzulavieren, anstatt gerade auf sie loszugehen, wodurch um die ganze Galerie herum ein Schmutzstreifen an der Wand entstanden ist, den die Leute »Phils Unterschrift« nennen.

Dieser Aufseher von Georges Galerie – George selbst ist manchmal nicht anwesend – beendigt jetzt, nachdem er die großen Türen geschlossen und alle Flammen bis auf eine ausgedreht hat, seine Vorkehrungen damit, daß er aus einem hölzernen Verschlag in der Ecke zwei Matratzen mit Bettzeug herauszieht. Sie werden an die entgegengesetzten Enden der Galerie geschleppt, und dann macht sich jeder seine Lagerstätte zurecht.

»Phil«, sagt der Galeriedirektor, geht ohne Rock und Weste auf ihn zu und sieht in seinen Hosenträgern noch soldatischer aus. »Man hat dich in einem Hausflur gefunden, was?«

»In der Gosse«, berichtigt Phil. »Der Nachtwächter ist über mich gestolpert.«

»Da ist dir das Vagabundieren schon von Anfang an zur zweiten Natur geworden?«

»Zweiten Natur geworden«, nickt Phil.

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Gouverneur.«

Phil kann nicht einmal auf das Bett direkt zugehen, sondern muß sich erst an zwei Seiten der Galerie hinwetzen, um dann auf die Matratze zuzulavieren.

Der Kavallerist geht noch ein paar Mal auf und ab, blickt zu dem durch die Dachfenster hereinscheinenden Mond hinauf, begibt sich auf einem kürzeren Weg als sein Aufseher zu seiner Matratze und legt sich ebenfalls schlafen.

22. Kapitel


22. Kapitel

Mr. Bucket

Die Allegorie in Lincoln’s-Inn-Fields sieht ziemlich kühl drein, obgleich der Abend schwül ist, denn beide Fenster Mr. Tulkinghorns stehen weit offen, und das Zimmer ist hoch, luftig und schattig. Das sind vielleicht, wenn der November kommt mit Nebel und Regen oder der Januar mit Eis und Schnee, keine sehr wünschenswerten Eigenschaften, aber sie haben ihre guten Seiten während der Hundstage. Sie ermöglichen es der Allegorie, obgleich sie Backen hat wie Pfirsiche und Knie wie Blumensträuße und rosenrot geschwollen ist an Waden und Armmuskeln, heute abend ziemlich kühl auszusehen. Staub fliegt in Menge zu Mr. Tulkinghorns Fenster herein und hat sich auf den Möbeln und Akten angehäuft. In dicken Schichten liegt er überall. Wenn ein Windhauch vom Lande her sich hereinverirrt und in blinder Hast wieder hinauswehen will, streut er der Allegorie soviel Staub in die Augen, wie das Gesetz – oder Mr. Tulkinghorn, einer seiner treuesten Anhänger – gelegentlich der Laienwelt in die Augen zu streuen pflegt.

In diesem dumpfigen Magazin voll von Staub, jenem alles durchdringenden Artikel, in den sich seine Akten und er selbst und alle seine Klienten und alle irdischen Dinge, belebte und unbelebte, dereinst auflösen werden, sitzt Mr. Tulkinghorn an einem der offenen Fenster und erfreut sich an einer Flasche alten Portweins. Obgleich ein hartgesottener Mann, verschlossen, trocken und still, liebt er doch alten Wein zuweilen. Er hat einen unschätzbaren Portwein in einem versteckten Keller unter den Fields, der eins seiner vielen Geheimnisse ist. Wenn er allein zu Hause speist, wie er es heute getan hat, und sich seinen Fisch, sein Beefsteak oder Huhn aus dem benachbarten Restaurant bringen läßt, steigt er mit einer Kerze in die hallenden Regionen unter dem verlassenen Gebäude hinab und kehrt, angemeldet von dem fernen Donnerhall zufallender Türen, zurück, umduftet von Erdatmosphäre und in der Hand eine Flasche mit fünfzig Jahre altem, funkelndem Nektar, der dann im Glase über seine eigne Berühmtheit errötet und das ganze Gemach mit dem Dufte südlicher Trauben erfüllt.

Mr. Tulkinghorn sitzt in der Dämmerung am offnen Fenster und freut sich seines Weines. Als ob er ihm von fünfzig Jahre langem Schweigen zuraune, macht er ihn nur noch verschlossener und zugeknöpfter. Undurchdringlicher als je sitzt Mr. Tulkinghorn da und trinkt und denkt in dieser Zwielichtstunde über alle seine Geheimnisse nach, die sich für ihn an dunkelnde Waldungen auf dem Land und an große leere verschlossene Häuser in der Stadt knüpfen. Und vielleicht hat er auch ein paar Gedanken übrig an seine eigne Familiengeschichte, an sein Geld und sein Testament, das allen ein Geheimnis ist, und an seinen einzigen Junggesellenfreund, der ebenso wie er Advokat gewesen und dasselbe Leben geführt hatte, bis er mit fünfundsiebzig Jahren es plötzlich zu einsam fand, an einem Sommerabende seinem Friseur seine goldne Uhr schenkte, ruhig nach Hause in den »Tempel« ging und sich erhängte.

Aber Mr. Tulkinghorn ist heute abend nicht allein und kann sich daher seinem gewohnten Nachsinnen nicht überlassen. Am Tisch mit ihm, wenn auch mit bescheiden ein wenig weggezogenem Stuhl sitzt ein kahlköpfiger milder Mann mit glänzender Platte, der ehrerbietig hinter der Hand hüstelt, wenn der Advokat ihn auffordert, sich einzuschenken.

»Nun, Snagsby«, sagt Mr. Tulkinghorn, »erzählen Sie diese seltsame Geschichte noch einmal.«

»Bitte sehr, Sir. Sie sagten mir, als Sie so gütig waren, gestern abend einen Sprung herüber zu machen – ich bitte zu entschuldigen, daß ich mir die Freiheit genommen habe, Sir, aber ich erinnerte mich Ihres Interesses für den Verstorbenen und dachte, – Sie könnten, das heißt, Sie wollten vielleicht…«

Mr. Tulkinghorn ist nicht der Mann, der einem einen Satz ergänzen oder irgendeine ihn betreffende Möglichkeit zugeben würde. So verliert sich Mr. Snagsby mit einem verlegenen Hüsteln wieder in die Worte:

»Ich bitte zu entschuldigen, wenn ich mir die Freiheit genommen habe.«

»Keine Ursache«, sagt Mr. Tulkinghorn. »Sie erwähnten vorhin, Snagsby, Sie hätten Ihren Hut aufgesetzt und seien zu mir gekommen, ohne Ihrer Frau etwas davon zu sagen. Ich denke, das war recht klug. Die Sache ist nicht wichtig genug, um viel Aufhebens davon zu machen.«

»Ja, sehen Sie, Sir«, entgegnet Mr. Snagsby. »Meine kleine Frau ist – um nicht durch die Blume zu sprechen – vielleicht ein wenig neugierig. Sie ist neugierig. Armes kleines Ding, sie leidet an Krämpfen, und es tut ihr gut, wenn sie eine Ablenkung hat. Deshalb bemächtigt sie sich, ich möchte fast sagen, jedes Themas, das in ihren Bereich kommt, mag es sie etwas angehen oder nicht, besonders, wenn es sie nichts angeht. Meine kleine Frau ist geistig sehr regsam, Sir!«

Mr. Snagsby trinkt und murmelt mit einem bewundernden Hüsteln hinter der Hand: »Wahrhaftig, ein exzellenter Wein!«

»Deshalb erwähnten Sie zu Hause nichts von Ihrem gestrigen Besuch?« fragt Mr. Tulkinghorn. »Und von Ihrem heutigen desgleichen nichts?«

»Nein, Sir. Und von dem heutigen desgleichen nichts. Meine kleine Frau ist gegenwärtig – um nicht durch die Blume zu sprechen – fromm gestimmt, oder glaubt es wenigstens, und besucht die abendlichen geistlichen Übungsstunden – so nennt sie sie – eines gewissen Reverend namens Chadband. Er verfügt zweifellos über eine große Beredsamkeit. Aber der Stil gefällt mir nicht besonders. Doch das gehört nicht her. Da meine kleine Frau in dieser Weise beschäftigt ist, wurde es mir leichter, unauffällig einen Sprung herüberzumachen.«

Mr. Tulkinghorn nickt beistimmend. »Schenken Sie sich ein, Snagsby!«

»O, ich danke bestens, Sir«, entgegnet der Papierhändler mit seinem ehrerbietigen Husten. »Wirklich, ein wundervoller Wein, Sir.«

»Es ist ein jetzt selten gewordner Wein«, nickt Mr. Tulkinghorn. »Er ist fünfzig Jahre alt.«

»Was Sie sagen, Sir! Aber es wundert mich eigentlich gar nicht. Er könnte geradesogut – beliebig alt sein.«

Nach dieser allgemeinen Lobspende auf den Portwein hüstelt Mr. Snagsby hinter der Hand seinen Bescheidenheitshusten, als wolle er sich entschuldigen, daß er überhaupt so etwas Kostbares zu trinken wage.

»Möchten Sie nicht noch ein Mal wiederholen, was der Junge sagte?« Mr. Tulkinghorn steckt die Hände in die Taschen seiner rostigen Kniehosen und lehnt sich ruhevoll in seinen Stuhl zurück.

»Mit Vergnügen, Sir.«

Getreulich, wenn auch etwas weitschweifig, geht der Papierhändler durch, was Jo vor den versammelten Gästen in seinem Hause erzählt hat. Am Ende seiner Geschichte angelangt, fährt er plötzlich erschrocken auf und bricht ab mit einem: »Mein Gott, Sir, ich wußte gar nicht, daß noch jemand anders hier anwesend ist.«

Mr. Snagsby ist ganz erregt, weil er in einer kleinen Entfernung vom Tisch zwischen sich und dem Advokaten eine Person mit aufmerksamem Gesicht, Hut und Stock in der Hand, stehen sieht, die anfänglich nicht da war und inzwischen weder durch die Tür noch zu den Fenstern hereingekommen ist. Es steht wohl ein Schrank im Zimmer, aber seine Angeln haben nicht geknarrt, und man hat keinen Tritt auf dem Fußboden gehört. Und dennoch steht diese dritte Person jetzt da mit aufmerksamem Gesicht, Hut und Stock in der Hand und die Hände auf dem Rücken; ein stummer aufmerksamer Zuhörer.

Er ist ein untersetzter, kräftig gebauter, solid aussehender, schwarzgekleideter Mann mit scharfen Augen und in mittleren Jahren. Abgesehen davon, daß er Mr. Snagsby ins Auge faßt, als wolle er ihn porträtieren, ist auf den ersten Blick nichts Auffälliges an ihm; wenn nur sein gespenstisches Kommen nicht gewesen wäre.

»Sie brauchen wegen des Herrn nicht zu erschrecken«, sagt Mr. Tulkinghorn in seiner gelassenen Weise. »Es ist nur Mr. Bucket.«

»Ach so, Sir«, entgegnet der Papierhändler und deutet durch einen Husten an, daß er keine Ahnung hat, wer Mr. Bucket sein mag.

»Ich wollte, daß er die Geschichte mit anhöre«, erklärt der Advokat. »Aus einem gewissen Grunde hätte ich halb und halb Lust, mehr davon zu erfahren, und er kennt sich in solchen Dingen aus. Was meinen Sie dazu, Bucket?«

»Sehr einfach, Sir. Da unsre Schutzleute den Jungen von seinem Standpunkt abgeschoben haben und er auf seinem alten Strich nicht sein kann, ist es nicht schwer, ihn in weniger als ein paar Stunden herzubringen, wenn Mr. Snagsby nichts dagegen hat, mit mir einen Besuch in ‚Toms Einöd‘ zu machen, um ihn mir zu zeigen. Ich kann es natürlich auch ohne Mr. Snagsby tun. Aber das ist der kürzeste Weg.«

»Mr. Bucket ist Polizeidetektiv, Snagsby«, erklärt der Advokat.

»Was Sie nicht sagen, Sir!« stammelt Mr. Snagsby und fühlt in seinem Haarbüschel eine Neigung, als wolle er sich aufrichten.

»Und wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Bucket an den fraglichen Ort zu begleiten«, fährt der Advokat fort, »würden Sie mich wirklich sehr verpflichten.«

Mr. Snagsby zögert nur einen Augenblick, aber schon hat Mr. Bucket seine Seele bis auf den Grund sondiert.

»Sie brauchen keine Angst um den Jungen zu haben«, sagt er. »Es geschieht ihm durchaus nichts. Er hat nichts angestellt. Wir wollen ihn nur hier haben, um ihm ein paar Fragen vorzulegen, und er wird für seine Mühe bezahlt und dann wieder entlassen werden. Er wird ein gutes Geschäft dabei machen. Ich verspreche Ihnen als Mensch, daß der Junge anstandslos wieder entlassen werden wird. Haben Sie keine Angst, daß Sie ihm schaden. Sie brauchen das nicht zu befürchten.«

»Also gut, Mr. Tulkinghorn!« ruft Mr. Snagsby fröhlich und beruhigt aus. »Da das der Fall ist…«

»Ja. Übrigens hören Sie mal, Mr. Snagsby«, nimmt Bucket den Papierhändler beiseite und klopft ihm gemütlich auf die Brust. »Sie sind ein Mann von Welt, verstehen Sie, und ein Geschäftsmann und ein verständiger Mensch. Das wissen wir.«

»Ich bin Ihnen sehr für Ihre gute Meinung verbunden«, antwortet der Stationer mit seinem Bescheidenheitshüsteln, »aber…«

»Das sind Sie bestimmt«, versichert Bucket. »Daher ist es überflüssig, einem Mann wie Ihnen, der einem Geschäft vorsteht, das Vertrauenssache ist und eine Person erfordert, die die Augen offen und alle ihre fünf Sinne beisammen hat und den Kopf gerade hält – ist es überflüssig, einem Mann wie Ihnen zu sagen, daß es das Beste und Klügste ist, über derlei kleine Dinge den Mund zu halten. Verstehen Sie mich wohl, den Mund zu halten!«

»Gewiß, gewiß«, beteuert der Papierhändler.

»Ihnen kann ich’s ja sagen«, fährt Bucket mit einer gewinnend offenherzigen Miene fort. »Soweit ich die Sache durchschaue, scheint der Verstorbene auf eine kleine Erbschaft Anspruch gehabt zu haben, und das Frauenzimmer hat ihm vermutlich einige Streiche gespielt.«

»Oh«, versichert Mr. Snagsby. Aber die Sache scheint ihm nicht besonders einzuleuchten.

»Sie sehen es gewiß gern«, Mr. Bucket klopft Mr. Snagsby wieder gemütlich und beruhigend auf die Brust, »daß jeder zu seinem Rechte kommt. Das ist gewiß auch Ihr Wunsch.«

»Natürlich!« nickt Mr. Snagsby.

»Also Ihnen und zugleich einem Kunden oder Klienten zuliebe… Wie nennen Sie es in Ihrem Geschäft? Ich habe vergessen, wie mein Onkel, der früher einmal bei Ihnen im Geschäft war, es nannte.«

»Nun, ich sage meistens Kunde«, entgegnet Mr. Snagsby.

»Sie haben recht!« Mr. Bucket schüttelt ihm freundschaftlich die Hand. »Ihnen und zu gleicher Zeit einem wirklich guten Kunden zuliebe werden Sie mit mir ganz im Vertrauen einen Besuch in ‚Toms Einöd‘ machen und über die ganze Geschichte für alle Zeiten schweigen und sie niemandem gegenüber erwähnen. Das ist so etwa Ihre Absicht, wenn ich Sie recht verstehe.«

»Sie haben ganz recht, Sir, Sie haben ganz recht«, sagt Mr. Snagsby. »Also hier ist Ihr Hut; und wenn Sie fertig sind, ich bin bereit.«

Die beiden verlassen Mr. Tulkinghorn, der, ohne daß sich die Oberfläche seiner unergründlichen Tiefen auch nur im geringsten kräuselt, seinen alten Wein weitertrinkt, und treten auf die Straße.

»Sie kennen wohl nicht zufällig einen wackern Mann namens Gridley, oder ja?« fragt Bucket freundschaftlich so nebenbei, als sie die Treppe heruntergehen.

»Nein«, sagt Mr. Snagsby nachdenklich. »Ich kenne niemanden dieses Namens. Warum?«

»Es ist nichts Besonderes. Er hat ein bißchen seinem Temperament die Zügel schießen lassen, sich gegen einige respektable Leute Drohungen erlaubt und hält sich jetzt vor einem Vorführungsbefehl versteckt, den ich gegen ihn habe –, was ein vernünftiger Mann nicht tun sollte.«

Wie sie durch die Straßen eilen, macht Mr. Snagsby die merkwürdige Beobachtung, daß, so schnellen Schrittes sie auch gehen, sein Begleiter stets in einer ganz undefinierbaren Art zu lauern und zu schleichen scheint und jedes Mal, wenn er rechts oder links abbiegen will, vorher den festen Vorsatz heuchelt, geradeaus zu gehen und erst im allerletzten Augenblick knapp abschwenkt. Dann, wenn sie an einem Polizeimann vorbeikommen, bemerkt Mr. Snagsby, daß sowohl der Konstabler wie auch Mr. Bucket auffallend zerstreut werden, einander ganz übersehen und ins Leere zu blicken scheinen.

Ein paar Mal holt Mr. Bucket einen oder den andern klein gewachsenen jungen Mann mit einem glänzenden Hut und glattem, zu großen Locken an jedem Ohr gedrehtem Haar ein und berührt ihn, fast ohne ihn anzusehen, mit seinem Stock, worauf sich jedes Mal der betreffende junge Mann umsieht und augenblicklich verduftet. Meistens nimmt Mr. Bucket derlei Vorgänge mit einem Gesicht zur Kenntnis, das sich so wenig verändert wie der große Trauerring an seinem kleinen Finger oder sein Chemisettknopf, der nicht besonders viel Diamanten, aber dafür eine sehr dicke Fassung hat.

Als sie endlich ‚Toms Einöd‘ erreichen, bleibt Mr. Bucket einen Augenblick an der Ecke stehen, läßt sich von dem dort patrouillierenden Schutzmann eine angezündete Blendlaterne geben, worauf ihn dieser, die eigne Blendlaterne am Gürtel, begleitet.

Zwischen seinen beiden Führern geht Mr. Snagsby eine greuliche Gasse ohne Abzugskanäle entlang durch tiefe Schichten von schwarzem Schlamm und fauligem Wasser – trotzdem um diese Zeit in allen andern Stadtteilen die Straßen trocken sind –, durch scheußliche Gerüche und Szenerien, daß er kaum seinen Sinnen traut, wo er doch sein ganzes Leben in London verbracht hat. Von dieser Straße und ihren Trümmerhaufen zweigen andre Straßen und Höfe von so unflätigem Aussehen ab, daß Mr. Snagsby an Leib und Seele ganz krank wird und jeden Augenblick in den höllischen Abgrund zu versinken fürchtet.

»Treten Sie ein bißchen zur Seite, Mr. Snagsby«, sagt Bucket, als eine Art schäbiger Palankin, von einer lärmenden Menge umgeben, sich ihnen nähert. »Da kommt das Fieber die Gasse herauf.«

Wie der unsichtbare Kranke vorübergetragen wird, verläßt die Menge diesen anziehenden Gegenstand und drängt sich wie ein Traumbild voll grauenhafter Gesichter um die drei Fremden und verschwindet in Gäßchen unter Trümmern oder hinter Mauern und behält sie von weitem im Auge, gelegentliche Warnungsrufe und gellende Pfiffe ausstoßend, bis sie die Gegend verlassen.

»Sind das die Fieberhäuser, Darby?« fragt Mr. Bucket kaltblütig, wie er seine Blendlaterne eine Reihe stinkender Ruinen entlang leuchten läßt.

Darby bestätigt es und erwähnt, daß seit vielen Monaten die Leute zu Dutzenden drin »umgestanden« seien oder sterbend hinausgetragen wurden wie »rotzkranke Schafe«.

Als Bucket, wie sie weitergehen, zu Mr. Snagsby bemerkt, er finde ihn etwas angegriffen aussehend, antwortet ihm Mr. Snagsby, er glaube, er könne die schreckliche Luft nicht mehr länger einatmen.

In verschiedenen Häusern fragen sie nach einem Jungen namens Jo. Da in ‚Toms Einöd‘ nur wenige Leute nach Taufnamen bekannt sind, so wird Mr. Snagsby viel gefragt, ob er »Rotkopf« meine oder den »Oberst« oder »Galgennagel« oder »Spitzmeisl«, »Terrier Tip« oder »Lanky« oder »Baron«. Mr. Snagsby beginnt seine Beschreibung immer wieder von vorn. Die Meinungen, wer das Original des Bildes sei, sind geteilt. Die einen meinen, es müsse »Rotkopf« sein, die andern stimmen für den »Baron«. Der »Oberst« wird vorgeführt, entspricht aber der Schilderung nicht im mindesten. Wo Mr. Snagsby und seine Begleiter stehen bleiben, umflutet sie das Gedränge, und aus seinen schmutzigen Tiefen schöpft Mr. Bucket diensteifrigen Rat. Wenn sie weitergehen und die Blendlaterne leuchten lassen, strömt es wieder zurück und behält sie die Gäßchen entlang, in Ruinen und hinter Mauern, im Auge wie vorhin.

Endlich finden sie eine Spelunke, wo der »Schmier-Ober« die Nacht zubringt, und man kommt auf den Gedanken, der »Schmier-Ober« könne Jo sein. Ein Frage- und Antwortspiel zwischen Mr. Snagsby und der Eigentümerin des Hauses – einem versoffenen Gesicht, in ein schwarzes Bündel gehüllt, das aus einem Haufen Lumpen auf dem Fußboden einer Hundehütte, die ihr Privatwohnraum ist, hervorstiert – bringt sie auf diesen Gedanken. Der »Schmier-Ober« sei zum Arzt gegangen, um für eine Kranke eine Flasche Medizin zu holen, werde aber bald wieder da sein.

»Und wen haben wir heute nacht hier?« fragt Mr. Bucket, öffnet eine andre Tür und leuchtet mit der Blendlaterne hinein. »Zwei Betrunkene, he, und zwei Frauenzimmer? Die Männer sind vorläufig gut aufgehoben«, setzt er hinzu und zieht den Schlafenden die Arme vom Gesicht, um sie anzusehen. »Sind das eure Zuhälter, ihr Täubchen?«

»Ja, Sir«, gibt eins der Frauenzimmer zur Antwort. »Es sind unsre Männer.«

»Ziegelstreicher, was?«

»Ja, Sir.«

»Was macht ihr hier? Ihr gehört doch nicht nach London.«

»Nein, Sir. Wir gehören nach Hertfordshire.«

»Wohin in Hertfordshire?«

»Nach St. Albans.«

»Ihr seid auf der Walze, was?«

»Wir sind gestern herübergewandert. Wir haben jetzt unten bei uns keine Arbeit. Aber hier wird es nicht besser werden, fürchte ich.«

»Das ist nicht der Ort, um es zu was zu bringen«, sagt Mr. Bucket und wirft einen Blick auf die bewußtlosen Gestalten auf dem Boden.

»No, na«, antwortet die Frau mit einem Seufzer. »Jenny und ich wissen dös recht gut.«

Das Zimmer ist, wenn auch zwei oder drei Fuß höher als die Tür, doch so niedrig, daß keiner der drei Besucher, ohne nicht an die geschwärzte Decke zu stoßen, aufrecht stehen kann. Es verletzt jeden Sinn. Selbst die Talgkerze brennt blaß und kränklich in der vergifteten Luft. An der Wand stehen ein paar Bänke und eine höhere Bank als Tisch. Die Männer sind eingeschlafen, wo sie hingestolpert sind, und die Weiber sitzen bei der Kerze. In den Armen der Frau, die eben gesprochen hat, liegt ein winziger Säugling.

»Nun, wie alt soll denn das kleine Geschöpf sein?« fragt Mr. Bucket. »Es sieht ja aus, als wäre es erst gestern geboren.«

Er hat jetzt gar nichts Barsches an sich, und wie er sein Licht vorsichtig auf das Kind fallen läßt, wird Mr. Snagsby ganz seltsam an ein andres gewisses Kind erinnert, das auf Bildern von Glanz umstrahlt ist.

»Es ist noch nicht drei Wochen alt, Sir.«

»Ist es Ihr Kind?«

»Ja, meins.«

Die andre Frau, die sich darüber gebeugt hatte, als sie eingetreten waren, beugt sich jetzt wieder zu dem Kleinen herab und küßt es.

»Sie scheinen es so lieb zu haben, als ob Sie selbst seine Mutter wären«, sagt Mr. Bucket.

»Ich hatte grad so eins, Master, aber es ist gestorben.«

»Ach, Jenny«, sagt die andre Frau zu ihr, »besser so. Besser, s ist tot als lebendig, Jenny! Viel besser.«

»Was! Sie sind doch nicht so unnatürlich, hoffe ich«, sagt Mr. Bucket streng, »daß Sie Ihrem eignen Kind den Tod wünschen?«

»Gott weiß, daß Sie recht haben, Master. Gewiß bin ich nicht so. Ich würde mein eignes Leben dafür hergeben. So gut wie irgend eine vornehme Dame.«

»Dann sprechen Sie nicht so lästerlich«, sagt Mr. Bucket wieder besänftigt. »Warum tun Sie das?«

»Es kommt mir so in den Kopf, Master, wenn ich das Kind so liegen seh«, entgegnet die Frau, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Wenn es nie wieder aufwachen sollte, würden Sie mich für wahnsinnig halten, so würde ich mich gebärden. Ich weiß das ganz genau. Ich war dabei, wie Jenny das ihre verloren hat – nicht wahr, Jenny –, und ich weiß, wie es sie gepackt hat. Aber schaun Sie sich hier um. Schaun Sie die da«, sagt sie mit einem Blick auf die beiden Schlafenden auf dem Boden. »Schaun Sie sich den Jungen an, der ausgegangen ist, um mir einen Gefallen zu tun. Denken Sie an die Kinder, die Ihnen gewiß oft vorkommen und die Sie aufwachsen sehen.«

»Nun, nun. Sie werden den Kleinen anständig aufziehen, und er wird Ihnen ein Trost sein und im Alter für Sie sorgen«, tröstet Mr. Bucket.

»Ich werde gewiß mein möglichstes tun«, antwortet sie und wischt sich die Augen. »Aber wie ich heut ganz matt und nicht wohl vom Fieber gewesen bin, hab ich an alles das gedacht, was ihm in den Wegkommen wird. Mein Mann wird ihn nicht leiden können, und er wird Prügel kriegen und wird mich prügeln sehen, und es wird ihm zu Haus nicht gefallen, und er wird herumstreunen. Drum, wenn ich ihn da so liegen seh, denk ich mir, es war am besten, er war gestorben wie der Jenny ihr Kind.«

»Laß, laß!« sagt Jenny. »Liz, du bist müd und krank. Ich werd das Kind nehmen.«

Sie tut das und bringt dabei das Kleid der Mutter in Unordnung, deckt es aber rasch wieder über die wundgeschlagne Brust, an der der Säugling gelegen hat.

»Wenn ich an mein totes Kind denk«, sagt Jenny und geht, den Säugling auf dem Arm schaukelnd, auf und ab, »hab ich das Kleine hier so gern. Und ihr geht’s geradso. Ich denk mir, was ich alles drum geben möcht, könnt ich mein Kind wieder haben. Aber wir meinen innerlich ganz dasselbe.«

Während sich Mr. Snagsby schneuzt und ein Hüsteln der Teilnahme hören läßt, vernimmt man draußen einen Schritt. Mr. Bucket leuchtet mit seiner Laterne in den Eingang und sagt zu Mr. Snagsby:

»Was sagen Sie jetzt? Ist es der Schmier-Ober?«

»Es ist Jo«, bestätigt Mr. Snagsby.

Jo steht ganz erstaunt in dem hellen Lichtkreis wie eine zerlumpte Gestalt in einer Laterna magica und zittert bei dem Gedanken, gegen das Gesetz verstoßen zu haben und nicht weit genug fort gegangen zu sein. Da ihm jedoch Mr. Snagsby die tröstliche Versicherung gibt: »Es geschieht dir nichts und du kriegst Geld, Jo«, erholt er sich wieder und erzählt draußen, wohin ihn Mr. Bucket zu einer kleinen Privatunterhaltung hinführt, seine Geschichte fließend, wenn auch atemlos.

»Ich habe den Burschen vernommen«, sagt Mr. Bucket, als er zurückkommt, »und es stimmt schon. Also, Mr. Snagsby, wir sind bereit.«

Zuerst vollendet Jo seinen Liebesdienst damit, daß er die Medizin, die er geholt hat, der Frau mit der lakonischen mündlichen Vorschrift übergibt, daß alles auf einmal einzunehmen sei.

Zweitens legt Mr. Snagsby eine halbe Krone auf den Tisch, sein gewöhnliches Allheilmittel für eine unermeßliche Zahl von Leiden.

Drittens faßt Mr. Bucket Jo ein wenig oberhalb des Ellbogens am Arm, um ihn vor sich herzuschieben, denn ohne dies Verfahren kann doch weder der »Schmier-Ober« noch irgend jemand anders in vorschriftsmäßiger Weise nach Lincoln’s-Inn-Fields gebracht werden. Nachdem alle diese Anordnungen getroffen sind, wünschen sie den Frauenzimmern gute Nacht und treten wieder in die schwarze faulende ‚Toms Einöd‘.

Auf denselben stinkenden Wegen, durch die sie in diesen Schlund hinabgestiegen sind, gelangen sie allmählich wieder hinaus. Die Menge umwogt sie und pfeift und belauert sie, bis sie den Rand erreichen, wo Darby seine Blendlaterne wieder zurückerhält. Hier flieht die Menge wie eine Schar gefangen gehaltener Dämonen mit gellendem Gekreisch zurück und wird nicht mehr gesehen.

Sie gehen und fahren jetzt durch die helleren und luftigeren Straßen, die Mr. Snagsby noch nie so hell und luftig vorgekommen sind, bis sie an Mr. Tulkinghorns Haustür kommen.

Mr. Tulkinghorns Bureau ist im ersten Stock, und als sie die halberleuchteten Treppen hinaufsteigen, erwähnt Mr. Bucket, daß er den Schlüssel in der Tasche habe und sie nicht zu klingeln brauchten.

Für einen in solchen Dingen so bewanderten Mann braucht Bucket merkwürdig lang zum Öffnen der Tür und verursacht auch einigen Lärm. Vielleicht macht er damit jemand aufmerksam.

Endlich treten sie in das Vorzimmer, wo eine Lampe brennt, und dann in Mr. Tulkinghorns gewöhnliches Zimmer, wo er heute abend seinen alten Wein trank. Er ist nicht da, wohl aber seine beiden altmodischen Leuchter, und der Raum ist leidlich hell.

Mr. Bucket, der Jo immer noch mit vorschriftsmäßigem Griff festhält und nach Mr. Snagsbys Ansicht eine unbegrenzte Zahl von Augen zu besitzen scheint, macht ein paar Schritte in das Zimmer, da fährt Jo plötzlich zurück und bleibt stehen:

»Was gibt’s?« fragt Bucket flüsternd.

»Da ist sie«, ruft Jo.

»Wer?«

»Die Dame.«

Eine dichtverschleierte Frauengestalt steht mitten im Zimmer, und das Licht fällt auf sie. Sie regt sich nicht und ist ganz stumm. Das Gesicht der Gestalt ist ihnen zugekehrt, nimmt aber keine Notiz von ihrem Eintreten, und sie bleibt stehen wie eine Statue.

»Jetzt sag mir, woher weißt du, daß das die Dame ist?« fragt Bucket laut.

»I kenn den Schleier«, antwortet Jo mit weitaufgerissenen Augen. »Den Hut und a dös Kleid.«

»Bist du auch deiner Sache ganz gewiß, Schmier-Ober?« fragt Bucket und beobachtet Jo mit großer Aufmerksamkeit. »Schau noch ein Mal hin.«

»I schau schon so gut hin, wie i kann«, sagt Jo. »Und dös is der Schleier, der Hut und dös Kleid.«

»Wie war’s mit den Ringen, von denen du mir erzählt hast?«

»Glänzt habens, rund um a dum«, sagt Jo und reibt die Finger seiner linken Hand an den Knöcheln der rechten, ohne einen Blick von der Gestalt abzuwenden.

Die Gestalt zieht den rechten Handschuh aus und zeigt die Hand.

»Nun, was sagst du jetzt?«

Jo schüttelt den Kopf. »Ganz andere Ring warens, und d Hand is scho gar net.«

»Wie meinst du das?« fragt Bucket sichtlich und zwar außerordentlich befriedigt.

»d Hand war vüll weißer, vüll zarter und vüll kleiner«, erklärt Jo.

»Na, du wirst am Ende gar noch behaupten, ich war meine eigne Mutter«, sagt Mr. Bucket. »Erinnerst du dich noch an die Stimme der Dame?«

»I glaub schon«, sagt Jo.

Die Gestalt spricht. »Klang sie wie diese? Ich will so lang sprechen, wie du willst, wenn du deiner Sache nicht gewiß bist. War es diese Stimme oder klang sie ähnlich?«

Jo sieht Mr. Bucket ganz entgeistert an. »Net ein bisl.«

»Weshalb sagtest du dann, es wäre die Dame?« forscht der würdige Mann und deutet auf die Gestalt.

»Weil«, sagt Jo mit betroffenem Gesicht, aber ohne sich im geringsten beirren zu lassen, »weil dös der Schleier und der Hut und dös Kleid is. Sie is s und is s wieder net. Es is net ihre Hand, auch not ihre Stimm, und s sin auch nicht ihre Ring. Aber das is der Schleier, der Hut und dös Kleid, und sie hat sich auch grad so tragn und war auch grad so groß und hat mir an Sovring gebn und weg wars.«

»Na«, sagt Mr. Bucket leichthin, »was Besonderes haben wir von dir nicht erfahren, aber da hast du fünf Schillinge. Wende sie gut an und mach keine dummen Streiche.«

Bucket zählt verstohlen die Münzen aus einer Hand in die andre wie Spielmarken – es ist das so eine taschenspielerische Angewohnheit von ihm – und legt sie dann zu einer kleinen Säule geschichtet dem Knaben in die Hand und führt ihn zur Tür hinaus, wobei er Mr. Snagsby, dem bei all diesen mysteriösen Vorgängen durchaus nicht wohl zumute ist, mit der verschleierten Gestalt allein läßt. Aber als Mr. Tulkinghorn eintritt, hebt sich der Schleier, und eine recht hübsche, wenn auch sehr leidenschaftlich aussehende Französin kommt zum Vorschein.

»Ich danke Ihnen, Mademoiselle Hortense«, sagt Mr. Tulkinghorn mit seinem gewohnten Gleichmut. »Ich will Sie wegen dieser kleinen Wette nicht weiter bemühen.«

»Werden Sie nicht vergessen, Sir, daß ich gegenwärtig keine Stellung habe?« fragt Mademoiselle.

»Gewiß, gewiß.«

»Und mir die Ehre Ihrer einflußreichen Verwendung zusagen?«

»Unbedingt, Mademoiselle Hortense.«

»Ein Wort von Mr. Tulkinghorn ist fast allmächtig…«

»Es soll daran nicht fehlen, Mademoiselle.«

»Empfangen Sie die Versicherung meines verbindlichsten Dankes, Sir. Gute Nacht.«

Mademoiselle geht mit einer Miene angeborner Vornehmheit hinaus, und Mr. Bucket, der, wenn es darauf ankommt, ebenso zeremoniell wie irgend etwas anderes sein kann, begleitet sie nicht ohne Galanterie die Treppe hinunter.

»Nun, Bucket?« fragt ihn Mr. Tulkinghorn, als er wieder heraufkommt.

»Sie sehen, es ist so, wie ich gleich sagte, Sir. Es ist gar kein Zweifel. Es war die andre in den Kleidern von dieser hier. Die Farben und alles übrige hat der Junge genau erkannt. Mr. Snagsby, ich versprach Ihnen als Mensch, daß ihm nichts geschehen solle. Nun, ist ihm etwas geschehen ?«

»Sie haben Wort gehalten, Sir«, entgegnet der Papierhändler. »Und wenn ich jetzt nicht weiter mehr von Nutzen sein kann, Mr. Tulkinghorn, glaube ich, da meine kleine Frau etwas in Angst sein wird…«

»Ich danke Ihnen, Snagsby, wir brauchen Sie weiter nicht«, sagt Mr. Tulkinghorn. »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet für Ihre Mühewaltung.«

»Keine Ursache, Sir. Ich wünsche Ihnen gute Nacht.«

»Sehen Sie, Mr. Snagsby«, Mr. Bucket begleitet den Stationer an die Tür und schüttelt ihm unentwegt die Hand, »was mir so an Ihnen gefällt, ist, daß Sie ein Mann sind, der sich nicht ausholen läßt.«

»Wenigstens bemühe ich mich, so zu sein«, entgegnet Mr. Snagsby bescheiden.

»Nein. Da unterschätzen Sie sich. Sie bemühen sich nicht erst, so zu sein«, sagt Mr. Bucket, schüttelt ihm die Hand und segnet ihn in seiner zärtlichsten Weise. »Sie sind von Natur so. Das schätze ich eben an einem Mann von Ihrem Beruf so sehr.«

Mr. Snagsby gibt eine passende Antwort und geht heimwärts, so verwirrt von den Ereignissen des Abends, daß er nicht recht weiß, ob er wach ist oder an der Wirklichkeit der Straßen, durch die er geht, zweifeln soll, und sogar gewisse Bedenken hat, ob es wirklich der Mond ist, der da auf ihn herabscheint. Sehr bald verfliegen seine Zweifel angesichts der unleugbaren Wirklichkeit, denn Mrs. Snagsby ist auf dem Sofa, den Kopf in einem vollständigen Bienenkorb von Haarwickeln und die Nachtmütze darüber, wachgeblieben, hat Guster mit der Nachricht, ihr Gatte sei plötzlich verschwunden, nach der nächsten Polizeistation geschickt und die letzten zwei Stunden jedes Stadium Ohnmacht mit bemerkenswertem Anstand durchgemacht.

Wie die kleine Frau gefühlvoll bemerkt, erntet sie einen »schönen Dank« dafür.