22. Kapitel

Mr. Bucket

Die Allegorie in Lincoln’s-Inn-Fields sieht ziemlich kühl drein, obgleich der Abend schwül ist, denn beide Fenster Mr. Tulkinghorns stehen weit offen, und das Zimmer ist hoch, luftig und schattig. Das sind vielleicht, wenn der November kommt mit Nebel und Regen oder der Januar mit Eis und Schnee, keine sehr wünschenswerten Eigenschaften, aber sie haben ihre guten Seiten während der Hundstage. Sie ermöglichen es der Allegorie, obgleich sie Backen hat wie Pfirsiche und Knie wie Blumensträuße und rosenrot geschwollen ist an Waden und Armmuskeln, heute abend ziemlich kühl auszusehen. Staub fliegt in Menge zu Mr. Tulkinghorns Fenster herein und hat sich auf den Möbeln und Akten angehäuft. In dicken Schichten liegt er überall. Wenn ein Windhauch vom Lande her sich hereinverirrt und in blinder Hast wieder hinauswehen will, streut er der Allegorie soviel Staub in die Augen, wie das Gesetz – oder Mr. Tulkinghorn, einer seiner treuesten Anhänger – gelegentlich der Laienwelt in die Augen zu streuen pflegt.

In diesem dumpfigen Magazin voll von Staub, jenem alles durchdringenden Artikel, in den sich seine Akten und er selbst und alle seine Klienten und alle irdischen Dinge, belebte und unbelebte, dereinst auflösen werden, sitzt Mr. Tulkinghorn an einem der offenen Fenster und erfreut sich an einer Flasche alten Portweins. Obgleich ein hartgesottener Mann, verschlossen, trocken und still, liebt er doch alten Wein zuweilen. Er hat einen unschätzbaren Portwein in einem versteckten Keller unter den Fields, der eins seiner vielen Geheimnisse ist. Wenn er allein zu Hause speist, wie er es heute getan hat, und sich seinen Fisch, sein Beefsteak oder Huhn aus dem benachbarten Restaurant bringen läßt, steigt er mit einer Kerze in die hallenden Regionen unter dem verlassenen Gebäude hinab und kehrt, angemeldet von dem fernen Donnerhall zufallender Türen, zurück, umduftet von Erdatmosphäre und in der Hand eine Flasche mit fünfzig Jahre altem, funkelndem Nektar, der dann im Glase über seine eigne Berühmtheit errötet und das ganze Gemach mit dem Dufte südlicher Trauben erfüllt.

Mr. Tulkinghorn sitzt in der Dämmerung am offnen Fenster und freut sich seines Weines. Als ob er ihm von fünfzig Jahre langem Schweigen zuraune, macht er ihn nur noch verschlossener und zugeknöpfter. Undurchdringlicher als je sitzt Mr. Tulkinghorn da und trinkt und denkt in dieser Zwielichtstunde über alle seine Geheimnisse nach, die sich für ihn an dunkelnde Waldungen auf dem Land und an große leere verschlossene Häuser in der Stadt knüpfen. Und vielleicht hat er auch ein paar Gedanken übrig an seine eigne Familiengeschichte, an sein Geld und sein Testament, das allen ein Geheimnis ist, und an seinen einzigen Junggesellenfreund, der ebenso wie er Advokat gewesen und dasselbe Leben geführt hatte, bis er mit fünfundsiebzig Jahren es plötzlich zu einsam fand, an einem Sommerabende seinem Friseur seine goldne Uhr schenkte, ruhig nach Hause in den »Tempel« ging und sich erhängte.

Aber Mr. Tulkinghorn ist heute abend nicht allein und kann sich daher seinem gewohnten Nachsinnen nicht überlassen. Am Tisch mit ihm, wenn auch mit bescheiden ein wenig weggezogenem Stuhl sitzt ein kahlköpfiger milder Mann mit glänzender Platte, der ehrerbietig hinter der Hand hüstelt, wenn der Advokat ihn auffordert, sich einzuschenken.

»Nun, Snagsby«, sagt Mr. Tulkinghorn, »erzählen Sie diese seltsame Geschichte noch einmal.«

»Bitte sehr, Sir. Sie sagten mir, als Sie so gütig waren, gestern abend einen Sprung herüber zu machen – ich bitte zu entschuldigen, daß ich mir die Freiheit genommen habe, Sir, aber ich erinnerte mich Ihres Interesses für den Verstorbenen und dachte, – Sie könnten, das heißt, Sie wollten vielleicht…«

Mr. Tulkinghorn ist nicht der Mann, der einem einen Satz ergänzen oder irgendeine ihn betreffende Möglichkeit zugeben würde. So verliert sich Mr. Snagsby mit einem verlegenen Hüsteln wieder in die Worte:

»Ich bitte zu entschuldigen, wenn ich mir die Freiheit genommen habe.«

»Keine Ursache«, sagt Mr. Tulkinghorn. »Sie erwähnten vorhin, Snagsby, Sie hätten Ihren Hut aufgesetzt und seien zu mir gekommen, ohne Ihrer Frau etwas davon zu sagen. Ich denke, das war recht klug. Die Sache ist nicht wichtig genug, um viel Aufhebens davon zu machen.«

»Ja, sehen Sie, Sir«, entgegnet Mr. Snagsby. »Meine kleine Frau ist – um nicht durch die Blume zu sprechen – vielleicht ein wenig neugierig. Sie ist neugierig. Armes kleines Ding, sie leidet an Krämpfen, und es tut ihr gut, wenn sie eine Ablenkung hat. Deshalb bemächtigt sie sich, ich möchte fast sagen, jedes Themas, das in ihren Bereich kommt, mag es sie etwas angehen oder nicht, besonders, wenn es sie nichts angeht. Meine kleine Frau ist geistig sehr regsam, Sir!«

Mr. Snagsby trinkt und murmelt mit einem bewundernden Hüsteln hinter der Hand: »Wahrhaftig, ein exzellenter Wein!«

»Deshalb erwähnten Sie zu Hause nichts von Ihrem gestrigen Besuch?« fragt Mr. Tulkinghorn. »Und von Ihrem heutigen desgleichen nichts?«

»Nein, Sir. Und von dem heutigen desgleichen nichts. Meine kleine Frau ist gegenwärtig – um nicht durch die Blume zu sprechen – fromm gestimmt, oder glaubt es wenigstens, und besucht die abendlichen geistlichen Übungsstunden – so nennt sie sie – eines gewissen Reverend namens Chadband. Er verfügt zweifellos über eine große Beredsamkeit. Aber der Stil gefällt mir nicht besonders. Doch das gehört nicht her. Da meine kleine Frau in dieser Weise beschäftigt ist, wurde es mir leichter, unauffällig einen Sprung herüberzumachen.«

Mr. Tulkinghorn nickt beistimmend. »Schenken Sie sich ein, Snagsby!«

»O, ich danke bestens, Sir«, entgegnet der Papierhändler mit seinem ehrerbietigen Husten. »Wirklich, ein wundervoller Wein, Sir.«

»Es ist ein jetzt selten gewordner Wein«, nickt Mr. Tulkinghorn. »Er ist fünfzig Jahre alt.«

»Was Sie sagen, Sir! Aber es wundert mich eigentlich gar nicht. Er könnte geradesogut – beliebig alt sein.«

Nach dieser allgemeinen Lobspende auf den Portwein hüstelt Mr. Snagsby hinter der Hand seinen Bescheidenheitshusten, als wolle er sich entschuldigen, daß er überhaupt so etwas Kostbares zu trinken wage.

»Möchten Sie nicht noch ein Mal wiederholen, was der Junge sagte?« Mr. Tulkinghorn steckt die Hände in die Taschen seiner rostigen Kniehosen und lehnt sich ruhevoll in seinen Stuhl zurück.

»Mit Vergnügen, Sir.«

Getreulich, wenn auch etwas weitschweifig, geht der Papierhändler durch, was Jo vor den versammelten Gästen in seinem Hause erzählt hat. Am Ende seiner Geschichte angelangt, fährt er plötzlich erschrocken auf und bricht ab mit einem: »Mein Gott, Sir, ich wußte gar nicht, daß noch jemand anders hier anwesend ist.«

Mr. Snagsby ist ganz erregt, weil er in einer kleinen Entfernung vom Tisch zwischen sich und dem Advokaten eine Person mit aufmerksamem Gesicht, Hut und Stock in der Hand, stehen sieht, die anfänglich nicht da war und inzwischen weder durch die Tür noch zu den Fenstern hereingekommen ist. Es steht wohl ein Schrank im Zimmer, aber seine Angeln haben nicht geknarrt, und man hat keinen Tritt auf dem Fußboden gehört. Und dennoch steht diese dritte Person jetzt da mit aufmerksamem Gesicht, Hut und Stock in der Hand und die Hände auf dem Rücken; ein stummer aufmerksamer Zuhörer.

Er ist ein untersetzter, kräftig gebauter, solid aussehender, schwarzgekleideter Mann mit scharfen Augen und in mittleren Jahren. Abgesehen davon, daß er Mr. Snagsby ins Auge faßt, als wolle er ihn porträtieren, ist auf den ersten Blick nichts Auffälliges an ihm; wenn nur sein gespenstisches Kommen nicht gewesen wäre.

»Sie brauchen wegen des Herrn nicht zu erschrecken«, sagt Mr. Tulkinghorn in seiner gelassenen Weise. »Es ist nur Mr. Bucket.«

»Ach so, Sir«, entgegnet der Papierhändler und deutet durch einen Husten an, daß er keine Ahnung hat, wer Mr. Bucket sein mag.

»Ich wollte, daß er die Geschichte mit anhöre«, erklärt der Advokat. »Aus einem gewissen Grunde hätte ich halb und halb Lust, mehr davon zu erfahren, und er kennt sich in solchen Dingen aus. Was meinen Sie dazu, Bucket?«

»Sehr einfach, Sir. Da unsre Schutzleute den Jungen von seinem Standpunkt abgeschoben haben und er auf seinem alten Strich nicht sein kann, ist es nicht schwer, ihn in weniger als ein paar Stunden herzubringen, wenn Mr. Snagsby nichts dagegen hat, mit mir einen Besuch in ‚Toms Einöd‘ zu machen, um ihn mir zu zeigen. Ich kann es natürlich auch ohne Mr. Snagsby tun. Aber das ist der kürzeste Weg.«

»Mr. Bucket ist Polizeidetektiv, Snagsby«, erklärt der Advokat.

»Was Sie nicht sagen, Sir!« stammelt Mr. Snagsby und fühlt in seinem Haarbüschel eine Neigung, als wolle er sich aufrichten.

»Und wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Bucket an den fraglichen Ort zu begleiten«, fährt der Advokat fort, »würden Sie mich wirklich sehr verpflichten.«

Mr. Snagsby zögert nur einen Augenblick, aber schon hat Mr. Bucket seine Seele bis auf den Grund sondiert.

»Sie brauchen keine Angst um den Jungen zu haben«, sagt er. »Es geschieht ihm durchaus nichts. Er hat nichts angestellt. Wir wollen ihn nur hier haben, um ihm ein paar Fragen vorzulegen, und er wird für seine Mühe bezahlt und dann wieder entlassen werden. Er wird ein gutes Geschäft dabei machen. Ich verspreche Ihnen als Mensch, daß der Junge anstandslos wieder entlassen werden wird. Haben Sie keine Angst, daß Sie ihm schaden. Sie brauchen das nicht zu befürchten.«

»Also gut, Mr. Tulkinghorn!« ruft Mr. Snagsby fröhlich und beruhigt aus. »Da das der Fall ist…«

»Ja. Übrigens hören Sie mal, Mr. Snagsby«, nimmt Bucket den Papierhändler beiseite und klopft ihm gemütlich auf die Brust. »Sie sind ein Mann von Welt, verstehen Sie, und ein Geschäftsmann und ein verständiger Mensch. Das wissen wir.«

»Ich bin Ihnen sehr für Ihre gute Meinung verbunden«, antwortet der Stationer mit seinem Bescheidenheitshüsteln, »aber…«

»Das sind Sie bestimmt«, versichert Bucket. »Daher ist es überflüssig, einem Mann wie Ihnen, der einem Geschäft vorsteht, das Vertrauenssache ist und eine Person erfordert, die die Augen offen und alle ihre fünf Sinne beisammen hat und den Kopf gerade hält – ist es überflüssig, einem Mann wie Ihnen zu sagen, daß es das Beste und Klügste ist, über derlei kleine Dinge den Mund zu halten. Verstehen Sie mich wohl, den Mund zu halten!«

»Gewiß, gewiß«, beteuert der Papierhändler.

»Ihnen kann ich’s ja sagen«, fährt Bucket mit einer gewinnend offenherzigen Miene fort. »Soweit ich die Sache durchschaue, scheint der Verstorbene auf eine kleine Erbschaft Anspruch gehabt zu haben, und das Frauenzimmer hat ihm vermutlich einige Streiche gespielt.«

»Oh«, versichert Mr. Snagsby. Aber die Sache scheint ihm nicht besonders einzuleuchten.

»Sie sehen es gewiß gern«, Mr. Bucket klopft Mr. Snagsby wieder gemütlich und beruhigend auf die Brust, »daß jeder zu seinem Rechte kommt. Das ist gewiß auch Ihr Wunsch.«

»Natürlich!« nickt Mr. Snagsby.

»Also Ihnen und zugleich einem Kunden oder Klienten zuliebe… Wie nennen Sie es in Ihrem Geschäft? Ich habe vergessen, wie mein Onkel, der früher einmal bei Ihnen im Geschäft war, es nannte.«

»Nun, ich sage meistens Kunde«, entgegnet Mr. Snagsby.

»Sie haben recht!« Mr. Bucket schüttelt ihm freundschaftlich die Hand. »Ihnen und zu gleicher Zeit einem wirklich guten Kunden zuliebe werden Sie mit mir ganz im Vertrauen einen Besuch in ‚Toms Einöd‘ machen und über die ganze Geschichte für alle Zeiten schweigen und sie niemandem gegenüber erwähnen. Das ist so etwa Ihre Absicht, wenn ich Sie recht verstehe.«

»Sie haben ganz recht, Sir, Sie haben ganz recht«, sagt Mr. Snagsby. »Also hier ist Ihr Hut; und wenn Sie fertig sind, ich bin bereit.«

Die beiden verlassen Mr. Tulkinghorn, der, ohne daß sich die Oberfläche seiner unergründlichen Tiefen auch nur im geringsten kräuselt, seinen alten Wein weitertrinkt, und treten auf die Straße.

»Sie kennen wohl nicht zufällig einen wackern Mann namens Gridley, oder ja?« fragt Bucket freundschaftlich so nebenbei, als sie die Treppe heruntergehen.

»Nein«, sagt Mr. Snagsby nachdenklich. »Ich kenne niemanden dieses Namens. Warum?«

»Es ist nichts Besonderes. Er hat ein bißchen seinem Temperament die Zügel schießen lassen, sich gegen einige respektable Leute Drohungen erlaubt und hält sich jetzt vor einem Vorführungsbefehl versteckt, den ich gegen ihn habe –, was ein vernünftiger Mann nicht tun sollte.«

Wie sie durch die Straßen eilen, macht Mr. Snagsby die merkwürdige Beobachtung, daß, so schnellen Schrittes sie auch gehen, sein Begleiter stets in einer ganz undefinierbaren Art zu lauern und zu schleichen scheint und jedes Mal, wenn er rechts oder links abbiegen will, vorher den festen Vorsatz heuchelt, geradeaus zu gehen und erst im allerletzten Augenblick knapp abschwenkt. Dann, wenn sie an einem Polizeimann vorbeikommen, bemerkt Mr. Snagsby, daß sowohl der Konstabler wie auch Mr. Bucket auffallend zerstreut werden, einander ganz übersehen und ins Leere zu blicken scheinen.

Ein paar Mal holt Mr. Bucket einen oder den andern klein gewachsenen jungen Mann mit einem glänzenden Hut und glattem, zu großen Locken an jedem Ohr gedrehtem Haar ein und berührt ihn, fast ohne ihn anzusehen, mit seinem Stock, worauf sich jedes Mal der betreffende junge Mann umsieht und augenblicklich verduftet. Meistens nimmt Mr. Bucket derlei Vorgänge mit einem Gesicht zur Kenntnis, das sich so wenig verändert wie der große Trauerring an seinem kleinen Finger oder sein Chemisettknopf, der nicht besonders viel Diamanten, aber dafür eine sehr dicke Fassung hat.

Als sie endlich ‚Toms Einöd‘ erreichen, bleibt Mr. Bucket einen Augenblick an der Ecke stehen, läßt sich von dem dort patrouillierenden Schutzmann eine angezündete Blendlaterne geben, worauf ihn dieser, die eigne Blendlaterne am Gürtel, begleitet.

Zwischen seinen beiden Führern geht Mr. Snagsby eine greuliche Gasse ohne Abzugskanäle entlang durch tiefe Schichten von schwarzem Schlamm und fauligem Wasser – trotzdem um diese Zeit in allen andern Stadtteilen die Straßen trocken sind –, durch scheußliche Gerüche und Szenerien, daß er kaum seinen Sinnen traut, wo er doch sein ganzes Leben in London verbracht hat. Von dieser Straße und ihren Trümmerhaufen zweigen andre Straßen und Höfe von so unflätigem Aussehen ab, daß Mr. Snagsby an Leib und Seele ganz krank wird und jeden Augenblick in den höllischen Abgrund zu versinken fürchtet.

»Treten Sie ein bißchen zur Seite, Mr. Snagsby«, sagt Bucket, als eine Art schäbiger Palankin, von einer lärmenden Menge umgeben, sich ihnen nähert. »Da kommt das Fieber die Gasse herauf.«

Wie der unsichtbare Kranke vorübergetragen wird, verläßt die Menge diesen anziehenden Gegenstand und drängt sich wie ein Traumbild voll grauenhafter Gesichter um die drei Fremden und verschwindet in Gäßchen unter Trümmern oder hinter Mauern und behält sie von weitem im Auge, gelegentliche Warnungsrufe und gellende Pfiffe ausstoßend, bis sie die Gegend verlassen.

»Sind das die Fieberhäuser, Darby?« fragt Mr. Bucket kaltblütig, wie er seine Blendlaterne eine Reihe stinkender Ruinen entlang leuchten läßt.

Darby bestätigt es und erwähnt, daß seit vielen Monaten die Leute zu Dutzenden drin »umgestanden« seien oder sterbend hinausgetragen wurden wie »rotzkranke Schafe«.

Als Bucket, wie sie weitergehen, zu Mr. Snagsby bemerkt, er finde ihn etwas angegriffen aussehend, antwortet ihm Mr. Snagsby, er glaube, er könne die schreckliche Luft nicht mehr länger einatmen.

In verschiedenen Häusern fragen sie nach einem Jungen namens Jo. Da in ‚Toms Einöd‘ nur wenige Leute nach Taufnamen bekannt sind, so wird Mr. Snagsby viel gefragt, ob er »Rotkopf« meine oder den »Oberst« oder »Galgennagel« oder »Spitzmeisl«, »Terrier Tip« oder »Lanky« oder »Baron«. Mr. Snagsby beginnt seine Beschreibung immer wieder von vorn. Die Meinungen, wer das Original des Bildes sei, sind geteilt. Die einen meinen, es müsse »Rotkopf« sein, die andern stimmen für den »Baron«. Der »Oberst« wird vorgeführt, entspricht aber der Schilderung nicht im mindesten. Wo Mr. Snagsby und seine Begleiter stehen bleiben, umflutet sie das Gedränge, und aus seinen schmutzigen Tiefen schöpft Mr. Bucket diensteifrigen Rat. Wenn sie weitergehen und die Blendlaterne leuchten lassen, strömt es wieder zurück und behält sie die Gäßchen entlang, in Ruinen und hinter Mauern, im Auge wie vorhin.

Endlich finden sie eine Spelunke, wo der »Schmier-Ober« die Nacht zubringt, und man kommt auf den Gedanken, der »Schmier-Ober« könne Jo sein. Ein Frage- und Antwortspiel zwischen Mr. Snagsby und der Eigentümerin des Hauses – einem versoffenen Gesicht, in ein schwarzes Bündel gehüllt, das aus einem Haufen Lumpen auf dem Fußboden einer Hundehütte, die ihr Privatwohnraum ist, hervorstiert – bringt sie auf diesen Gedanken. Der »Schmier-Ober« sei zum Arzt gegangen, um für eine Kranke eine Flasche Medizin zu holen, werde aber bald wieder da sein.

»Und wen haben wir heute nacht hier?« fragt Mr. Bucket, öffnet eine andre Tür und leuchtet mit der Blendlaterne hinein. »Zwei Betrunkene, he, und zwei Frauenzimmer? Die Männer sind vorläufig gut aufgehoben«, setzt er hinzu und zieht den Schlafenden die Arme vom Gesicht, um sie anzusehen. »Sind das eure Zuhälter, ihr Täubchen?«

»Ja, Sir«, gibt eins der Frauenzimmer zur Antwort. »Es sind unsre Männer.«

»Ziegelstreicher, was?«

»Ja, Sir.«

»Was macht ihr hier? Ihr gehört doch nicht nach London.«

»Nein, Sir. Wir gehören nach Hertfordshire.«

»Wohin in Hertfordshire?«

»Nach St. Albans.«

»Ihr seid auf der Walze, was?«

»Wir sind gestern herübergewandert. Wir haben jetzt unten bei uns keine Arbeit. Aber hier wird es nicht besser werden, fürchte ich.«

»Das ist nicht der Ort, um es zu was zu bringen«, sagt Mr. Bucket und wirft einen Blick auf die bewußtlosen Gestalten auf dem Boden.

»No, na«, antwortet die Frau mit einem Seufzer. »Jenny und ich wissen dös recht gut.«

Das Zimmer ist, wenn auch zwei oder drei Fuß höher als die Tür, doch so niedrig, daß keiner der drei Besucher, ohne nicht an die geschwärzte Decke zu stoßen, aufrecht stehen kann. Es verletzt jeden Sinn. Selbst die Talgkerze brennt blaß und kränklich in der vergifteten Luft. An der Wand stehen ein paar Bänke und eine höhere Bank als Tisch. Die Männer sind eingeschlafen, wo sie hingestolpert sind, und die Weiber sitzen bei der Kerze. In den Armen der Frau, die eben gesprochen hat, liegt ein winziger Säugling.

»Nun, wie alt soll denn das kleine Geschöpf sein?« fragt Mr. Bucket. »Es sieht ja aus, als wäre es erst gestern geboren.«

Er hat jetzt gar nichts Barsches an sich, und wie er sein Licht vorsichtig auf das Kind fallen läßt, wird Mr. Snagsby ganz seltsam an ein andres gewisses Kind erinnert, das auf Bildern von Glanz umstrahlt ist.

»Es ist noch nicht drei Wochen alt, Sir.«

»Ist es Ihr Kind?«

»Ja, meins.«

Die andre Frau, die sich darüber gebeugt hatte, als sie eingetreten waren, beugt sich jetzt wieder zu dem Kleinen herab und küßt es.

»Sie scheinen es so lieb zu haben, als ob Sie selbst seine Mutter wären«, sagt Mr. Bucket.

»Ich hatte grad so eins, Master, aber es ist gestorben.«

»Ach, Jenny«, sagt die andre Frau zu ihr, »besser so. Besser, s ist tot als lebendig, Jenny! Viel besser.«

»Was! Sie sind doch nicht so unnatürlich, hoffe ich«, sagt Mr. Bucket streng, »daß Sie Ihrem eignen Kind den Tod wünschen?«

»Gott weiß, daß Sie recht haben, Master. Gewiß bin ich nicht so. Ich würde mein eignes Leben dafür hergeben. So gut wie irgend eine vornehme Dame.«

»Dann sprechen Sie nicht so lästerlich«, sagt Mr. Bucket wieder besänftigt. »Warum tun Sie das?«

»Es kommt mir so in den Kopf, Master, wenn ich das Kind so liegen seh«, entgegnet die Frau, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Wenn es nie wieder aufwachen sollte, würden Sie mich für wahnsinnig halten, so würde ich mich gebärden. Ich weiß das ganz genau. Ich war dabei, wie Jenny das ihre verloren hat – nicht wahr, Jenny –, und ich weiß, wie es sie gepackt hat. Aber schaun Sie sich hier um. Schaun Sie die da«, sagt sie mit einem Blick auf die beiden Schlafenden auf dem Boden. »Schaun Sie sich den Jungen an, der ausgegangen ist, um mir einen Gefallen zu tun. Denken Sie an die Kinder, die Ihnen gewiß oft vorkommen und die Sie aufwachsen sehen.«

»Nun, nun. Sie werden den Kleinen anständig aufziehen, und er wird Ihnen ein Trost sein und im Alter für Sie sorgen«, tröstet Mr. Bucket.

»Ich werde gewiß mein möglichstes tun«, antwortet sie und wischt sich die Augen. »Aber wie ich heut ganz matt und nicht wohl vom Fieber gewesen bin, hab ich an alles das gedacht, was ihm in den Wegkommen wird. Mein Mann wird ihn nicht leiden können, und er wird Prügel kriegen und wird mich prügeln sehen, und es wird ihm zu Haus nicht gefallen, und er wird herumstreunen. Drum, wenn ich ihn da so liegen seh, denk ich mir, es war am besten, er war gestorben wie der Jenny ihr Kind.«

»Laß, laß!« sagt Jenny. »Liz, du bist müd und krank. Ich werd das Kind nehmen.«

Sie tut das und bringt dabei das Kleid der Mutter in Unordnung, deckt es aber rasch wieder über die wundgeschlagne Brust, an der der Säugling gelegen hat.

»Wenn ich an mein totes Kind denk«, sagt Jenny und geht, den Säugling auf dem Arm schaukelnd, auf und ab, »hab ich das Kleine hier so gern. Und ihr geht’s geradso. Ich denk mir, was ich alles drum geben möcht, könnt ich mein Kind wieder haben. Aber wir meinen innerlich ganz dasselbe.«

Während sich Mr. Snagsby schneuzt und ein Hüsteln der Teilnahme hören läßt, vernimmt man draußen einen Schritt. Mr. Bucket leuchtet mit seiner Laterne in den Eingang und sagt zu Mr. Snagsby:

»Was sagen Sie jetzt? Ist es der Schmier-Ober?«

»Es ist Jo«, bestätigt Mr. Snagsby.

Jo steht ganz erstaunt in dem hellen Lichtkreis wie eine zerlumpte Gestalt in einer Laterna magica und zittert bei dem Gedanken, gegen das Gesetz verstoßen zu haben und nicht weit genug fort gegangen zu sein. Da ihm jedoch Mr. Snagsby die tröstliche Versicherung gibt: »Es geschieht dir nichts und du kriegst Geld, Jo«, erholt er sich wieder und erzählt draußen, wohin ihn Mr. Bucket zu einer kleinen Privatunterhaltung hinführt, seine Geschichte fließend, wenn auch atemlos.

»Ich habe den Burschen vernommen«, sagt Mr. Bucket, als er zurückkommt, »und es stimmt schon. Also, Mr. Snagsby, wir sind bereit.«

Zuerst vollendet Jo seinen Liebesdienst damit, daß er die Medizin, die er geholt hat, der Frau mit der lakonischen mündlichen Vorschrift übergibt, daß alles auf einmal einzunehmen sei.

Zweitens legt Mr. Snagsby eine halbe Krone auf den Tisch, sein gewöhnliches Allheilmittel für eine unermeßliche Zahl von Leiden.

Drittens faßt Mr. Bucket Jo ein wenig oberhalb des Ellbogens am Arm, um ihn vor sich herzuschieben, denn ohne dies Verfahren kann doch weder der »Schmier-Ober« noch irgend jemand anders in vorschriftsmäßiger Weise nach Lincoln’s-Inn-Fields gebracht werden. Nachdem alle diese Anordnungen getroffen sind, wünschen sie den Frauenzimmern gute Nacht und treten wieder in die schwarze faulende ‚Toms Einöd‘.

Auf denselben stinkenden Wegen, durch die sie in diesen Schlund hinabgestiegen sind, gelangen sie allmählich wieder hinaus. Die Menge umwogt sie und pfeift und belauert sie, bis sie den Rand erreichen, wo Darby seine Blendlaterne wieder zurückerhält. Hier flieht die Menge wie eine Schar gefangen gehaltener Dämonen mit gellendem Gekreisch zurück und wird nicht mehr gesehen.

Sie gehen und fahren jetzt durch die helleren und luftigeren Straßen, die Mr. Snagsby noch nie so hell und luftig vorgekommen sind, bis sie an Mr. Tulkinghorns Haustür kommen.

Mr. Tulkinghorns Bureau ist im ersten Stock, und als sie die halberleuchteten Treppen hinaufsteigen, erwähnt Mr. Bucket, daß er den Schlüssel in der Tasche habe und sie nicht zu klingeln brauchten.

Für einen in solchen Dingen so bewanderten Mann braucht Bucket merkwürdig lang zum Öffnen der Tür und verursacht auch einigen Lärm. Vielleicht macht er damit jemand aufmerksam.

Endlich treten sie in das Vorzimmer, wo eine Lampe brennt, und dann in Mr. Tulkinghorns gewöhnliches Zimmer, wo er heute abend seinen alten Wein trank. Er ist nicht da, wohl aber seine beiden altmodischen Leuchter, und der Raum ist leidlich hell.

Mr. Bucket, der Jo immer noch mit vorschriftsmäßigem Griff festhält und nach Mr. Snagsbys Ansicht eine unbegrenzte Zahl von Augen zu besitzen scheint, macht ein paar Schritte in das Zimmer, da fährt Jo plötzlich zurück und bleibt stehen:

»Was gibt’s?« fragt Bucket flüsternd.

»Da ist sie«, ruft Jo.

»Wer?«

»Die Dame.«

Eine dichtverschleierte Frauengestalt steht mitten im Zimmer, und das Licht fällt auf sie. Sie regt sich nicht und ist ganz stumm. Das Gesicht der Gestalt ist ihnen zugekehrt, nimmt aber keine Notiz von ihrem Eintreten, und sie bleibt stehen wie eine Statue.

»Jetzt sag mir, woher weißt du, daß das die Dame ist?« fragt Bucket laut.

»I kenn den Schleier«, antwortet Jo mit weitaufgerissenen Augen. »Den Hut und a dös Kleid.«

»Bist du auch deiner Sache ganz gewiß, Schmier-Ober?« fragt Bucket und beobachtet Jo mit großer Aufmerksamkeit. »Schau noch ein Mal hin.«

»I schau schon so gut hin, wie i kann«, sagt Jo. »Und dös is der Schleier, der Hut und dös Kleid.«

»Wie war’s mit den Ringen, von denen du mir erzählt hast?«

»Glänzt habens, rund um a dum«, sagt Jo und reibt die Finger seiner linken Hand an den Knöcheln der rechten, ohne einen Blick von der Gestalt abzuwenden.

Die Gestalt zieht den rechten Handschuh aus und zeigt die Hand.

»Nun, was sagst du jetzt?«

Jo schüttelt den Kopf. »Ganz andere Ring warens, und d Hand is scho gar net.«

»Wie meinst du das?« fragt Bucket sichtlich und zwar außerordentlich befriedigt.

»d Hand war vüll weißer, vüll zarter und vüll kleiner«, erklärt Jo.

»Na, du wirst am Ende gar noch behaupten, ich war meine eigne Mutter«, sagt Mr. Bucket. »Erinnerst du dich noch an die Stimme der Dame?«

»I glaub schon«, sagt Jo.

Die Gestalt spricht. »Klang sie wie diese? Ich will so lang sprechen, wie du willst, wenn du deiner Sache nicht gewiß bist. War es diese Stimme oder klang sie ähnlich?«

Jo sieht Mr. Bucket ganz entgeistert an. »Net ein bisl.«

»Weshalb sagtest du dann, es wäre die Dame?« forscht der würdige Mann und deutet auf die Gestalt.

»Weil«, sagt Jo mit betroffenem Gesicht, aber ohne sich im geringsten beirren zu lassen, »weil dös der Schleier und der Hut und dös Kleid is. Sie is s und is s wieder net. Es is net ihre Hand, auch not ihre Stimm, und s sin auch nicht ihre Ring. Aber das is der Schleier, der Hut und dös Kleid, und sie hat sich auch grad so tragn und war auch grad so groß und hat mir an Sovring gebn und weg wars.«

»Na«, sagt Mr. Bucket leichthin, »was Besonderes haben wir von dir nicht erfahren, aber da hast du fünf Schillinge. Wende sie gut an und mach keine dummen Streiche.«

Bucket zählt verstohlen die Münzen aus einer Hand in die andre wie Spielmarken – es ist das so eine taschenspielerische Angewohnheit von ihm – und legt sie dann zu einer kleinen Säule geschichtet dem Knaben in die Hand und führt ihn zur Tür hinaus, wobei er Mr. Snagsby, dem bei all diesen mysteriösen Vorgängen durchaus nicht wohl zumute ist, mit der verschleierten Gestalt allein läßt. Aber als Mr. Tulkinghorn eintritt, hebt sich der Schleier, und eine recht hübsche, wenn auch sehr leidenschaftlich aussehende Französin kommt zum Vorschein.

»Ich danke Ihnen, Mademoiselle Hortense«, sagt Mr. Tulkinghorn mit seinem gewohnten Gleichmut. »Ich will Sie wegen dieser kleinen Wette nicht weiter bemühen.«

»Werden Sie nicht vergessen, Sir, daß ich gegenwärtig keine Stellung habe?« fragt Mademoiselle.

»Gewiß, gewiß.«

»Und mir die Ehre Ihrer einflußreichen Verwendung zusagen?«

»Unbedingt, Mademoiselle Hortense.«

»Ein Wort von Mr. Tulkinghorn ist fast allmächtig…«

»Es soll daran nicht fehlen, Mademoiselle.«

»Empfangen Sie die Versicherung meines verbindlichsten Dankes, Sir. Gute Nacht.«

Mademoiselle geht mit einer Miene angeborner Vornehmheit hinaus, und Mr. Bucket, der, wenn es darauf ankommt, ebenso zeremoniell wie irgend etwas anderes sein kann, begleitet sie nicht ohne Galanterie die Treppe hinunter.

»Nun, Bucket?« fragt ihn Mr. Tulkinghorn, als er wieder heraufkommt.

»Sie sehen, es ist so, wie ich gleich sagte, Sir. Es ist gar kein Zweifel. Es war die andre in den Kleidern von dieser hier. Die Farben und alles übrige hat der Junge genau erkannt. Mr. Snagsby, ich versprach Ihnen als Mensch, daß ihm nichts geschehen solle. Nun, ist ihm etwas geschehen ?«

»Sie haben Wort gehalten, Sir«, entgegnet der Papierhändler. »Und wenn ich jetzt nicht weiter mehr von Nutzen sein kann, Mr. Tulkinghorn, glaube ich, da meine kleine Frau etwas in Angst sein wird…«

»Ich danke Ihnen, Snagsby, wir brauchen Sie weiter nicht«, sagt Mr. Tulkinghorn. »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet für Ihre Mühewaltung.«

»Keine Ursache, Sir. Ich wünsche Ihnen gute Nacht.«

»Sehen Sie, Mr. Snagsby«, Mr. Bucket begleitet den Stationer an die Tür und schüttelt ihm unentwegt die Hand, »was mir so an Ihnen gefällt, ist, daß Sie ein Mann sind, der sich nicht ausholen läßt.«

»Wenigstens bemühe ich mich, so zu sein«, entgegnet Mr. Snagsby bescheiden.

»Nein. Da unterschätzen Sie sich. Sie bemühen sich nicht erst, so zu sein«, sagt Mr. Bucket, schüttelt ihm die Hand und segnet ihn in seiner zärtlichsten Weise. »Sie sind von Natur so. Das schätze ich eben an einem Mann von Ihrem Beruf so sehr.«

Mr. Snagsby gibt eine passende Antwort und geht heimwärts, so verwirrt von den Ereignissen des Abends, daß er nicht recht weiß, ob er wach ist oder an der Wirklichkeit der Straßen, durch die er geht, zweifeln soll, und sogar gewisse Bedenken hat, ob es wirklich der Mond ist, der da auf ihn herabscheint. Sehr bald verfliegen seine Zweifel angesichts der unleugbaren Wirklichkeit, denn Mrs. Snagsby ist auf dem Sofa, den Kopf in einem vollständigen Bienenkorb von Haarwickeln und die Nachtmütze darüber, wachgeblieben, hat Guster mit der Nachricht, ihr Gatte sei plötzlich verschwunden, nach der nächsten Polizeistation geschickt und die letzten zwei Stunden jedes Stadium Ohnmacht mit bemerkenswertem Anstand durchgemacht.

Wie die kleine Frau gefühlvoll bemerkt, erntet sie einen »schönen Dank« dafür.