Der Brief und die Antwort


Der Brief und die Antwort

Mein Vormund rief mich am nächsten Morgen in sein Zimmer, und ich erzählte ihm alles, was ich ihm gestern abend noch nicht hatte ausführlich auseinandersetzen können.

Man könne weiter nichts tun, meinte er, als das Geheimnis zu bewahren und einem zweiten Zusammentreffen wie dem gestrigen auszuweichen. Er verstand meine Gefühle, teilte ganz meine Ansicht und übernahm es sogar, Mr. Skimpole abzuhalten, die Bekanntschaft fortzusetzen. Einer Person, die er mir nicht zu nennen brauche, Rat oder Hilfe zu erteilen, sei er jetzt leider außerstande. Er wünschte, es wäre anders. Aber leider sei es unmöglich. Wenn der Argwohn gegen den Advokaten, von dem sie gesprochen, begründet sei, woran er kaum zweifle, so fürchte er Entdeckung. Er kenne ihn flüchtig vom Sehen und auch seinem Rufe nach und glaube fest, er sei ein höchst gefährlicher Mensch. Und wiederholt stellte er mir mit fürsorglicher Güte und Liebe vor Augen, was auch immer geschehen möge, ich sei so unschuldig daran wie er selbst und nicht imstande, auch nur den geringsten Einfluß auf den Verlauf dieser Angelegenheit auszuüben.

»Übrigens, was deine Person anbelangt, sehe ich nicht, wie sich auch nur der leiseste Argwohn auf dich lenken sollte, mein Kind«, sagte er. »Der Verdacht kann auch ohne diesen Zusammenhang groß genug sein.«

»Ja, bei dem Advokaten«, wendete ich ein. »Aber es sind noch zwei andre Personen da, an die ich immerwährend denken muß.«

Und ich erzählte ihm die ganze Geschichte von Mr. Guppy, der, wie ich fürchtete, bereits damals, als ich noch gar nicht recht wußte, was er eigentlich wollte, gewisse unbestimmte Vermutungen gehabt haben mußte. Allerdings glaubte ich mich seit unsrer letzten Zusammenkunft fest auf seine Verschwiegenheit verlassen zu dürfen.

»Gut«, sagte mein Vormund. »Dann können wir ihn vorderhand beiseite lassen. Aber wer ist die andre Person?«

Ich erinnerte ihn an die französische Zofe und ihren damals so leidenschaftlich vorgebrachten Wunsch, bei mir in Dienst zu treten.

»Hm!« sagte er nachdenklich. »Sie ist mehr zu fürchten als der Schreiber. Aber vielleicht suchte sie wirklich nur einen neuen Dienst bei dir, liebes Kind. Sie hatte dich und Ada damals eben erst gesehen, und es ist ganz natürlich, daß sie auf dich verfiel. Sie bot sich dir als Zofe an und wollte vielleicht nichts weiter.«

»Ihr Benehmen war höchst merkwürdig«, wendete ich ein.

»Ja, und ebenso sonderbar war es, daß sie damals die Schuhe auszog und soviel Genuß an einem kühlen Spaziergang fand, bei dem sie sich hätte den Tod holen können«, gab mein Vormund zu. »Aber es wäre ein nutzloses Kopfzerbrechen, über solche Zufälligkeiten und Möglichkeiten nachzudenken. Der harmloseste Umstand kann, so betrachtet, die gefährlichsten und bedeutungsvollsten Formen annehmen. Sei guten Mutes, kleines Frauchen! Bleib so, wie du warst, ehe du das Geheimnis wußtest, das ist das Beste, was du im Interesse aller tun kannst. Da ich Mitwisser deines Geheimnisses bin –«

»– und es mir dadurch tragen hilfst, Vormund –«

»– so werde ich ein aufmerksames Auge auf das haben, was in der Familie vorgeht, soweit ich dazu hier von meinem entfernten Standpunkt aus imstande bin. Und wenn die Zeit kommen sollte, wo ich eine Hand ausstrecken kann, um auch nur den kleinsten Dienst derjenigen zu leisten, deren Namen selbst hier auszusprechen nicht ratsam sein dürfte, so werde ich es schon ihrer lieben Tochter wegen nicht verabsäumen.«

Ich dankte ihm von ganzem Herzen. Was konnte ich mehr tun, als ihm danken! Ich wollte das Zimmer verlassen, aber er bat mich, noch einen Augenblick zu bleiben. Ich drehte mich rasch um, und wieder sah ich denselben Ausdruck auf seinem Gesicht. – Und auf ein Mal, ich weiß nicht, wie, leuchtete es mir wie eine neue und weit in der Ferne liegende Möglichkeit ein, daß ich ihn vielleicht doch verstünde.

»Meine liebe Esther, ich habe lange etwas auf dem Herzen gehabt, was ich dir gern gesagt hätte.«

»Was ist es denn?«

»Es ist mir recht schwer geworden, davon anzufangen, und es wird mir immer noch schwer. Ich möchte, daß es mit Überlegung gesagt und mit ebensolcher Überlegung überdacht würde. Hast du etwas dagegen, wenn ich es dir schreibe?«

»Lieber Vormund, wie könnte ich etwas dagegen haben, daß du mir etwas schreibst.«

»Dann sag mir, meine Liebe, erscheine ich in diesem Augenblick ebenso klar und unbefangen, ehrlich und altmodisch wie zu jeder andern Zeit?«

»Vollkommen«, antwortete ich mit allem Ernst und streng der Wahrheit gemäß, denn sein Zaudern hatte keine Minute gedauert, und sein schönes herzliches offnes Wesen war wiedergekehrt.

»Sehe ich aus, als ob ich etwas verhehlte, etwas andres meinte, als ich sage, oder einen geheimen Vorbehalt hätte, welcher Art er auch immer sei?« fragte er und heftete seine hellen klaren Augen auf mich.

»Ganz und gar nicht.«

»Kannst du mir ganz vertrauen, und glaubst du dich vollständig auf das, was ich beteuere, verlassen zu können, Esther?«

»Vollkommen und ganz«, sagte ich aus tiefstem Herzen heraus.

»Liebes Kind, gib mir deine Hand.«

Er nahm sie, zog sie durch seinen Arm und sah mit derselben natürlichen Frische und Treuherzigkeit auf mich herab, mit der alten väterlichen Weise, die mich damals in einem Augenblick in seinem Hause mich hatte heimisch fühlen lassen, und sagte:

»Du hast gewisse Veränderungen in mir hervorgebracht, kleines Frauchen, seit jenem Wintertag in der Landkutsche. Vom ersten bis zum letzten Tag seit jener Zeit hast du mir unendlich viel Gutes getan.«

»Ach, Vormund, was hast du erst für mich alles getan!«

»Daran«, wehrte er ab, »darf jetzt nicht gedacht werden.«

»Ich kann es aber nie vergessen.«

»Esther«, sagte er mit sanftem Ernst, »es muß aber jetzt vergessen werden. Eine Weile wenigstens vergessen werden. Du sollst jetzt nur daran denken, daß nichts, was auch kommen mag, mich anders machen kann, als ich dir je erschienen bin. Bist du davon felsenfest überzeugt, liebes Kind?«

»Ja, felsenfest.«

»Dann ist es gut. Weiter wünsche ich nichts. Aber trotzdem darf ich das nicht auf ein Wort hin glauben. Ich will das, woran ich denke, dir nicht eher schreiben, als bis du dir auch innerlich ganz klar darüber bist, daß mich nichts anders machen kann, als wie du mich kennst. Wenn du im mindesten daran zweifelst, so schreibe ich nie. Wenn du aber nach reiflicher Überlegung noch immer davon überzeugt sein wirst, so schicke Charley heute in acht Tagen am Abend zu mir – ‚wegen des Briefes‘. Aber bist du deiner Sache nicht ganz gewiß, dann schicke sie nie. Bedenke, ich verlasse mich auf deine Wahrhaftigkeit in diesem wie in allen andern Punkten. Also wenn du dir über diesen einen Punkt nicht ganz klar bist, so schicke sie nicht.«

»Vormund«, sagte ich, »ich bin mir darüber vollständig klar. Diese Überzeugung kann sich in mir ebensowenig mehr ändern, als du jemals gegen mich anders werden könntest. Ich werde Charley um den Brief schicken.«

Er schüttelte mir die Hand und sagte weiter kein Wort. Auch während der ganzen Woche berührte er das Gespräch nicht mit einer Silbe.

Als der festgesetzte Abend kam, sagte ich zu Charley, als ich mich zurückgezogen hatte: »Geh und klopfe an Mr. Jarndyces Tür und sage, du kämst von mir wegen des Briefes.«

Charley ging die Treppen hinauf und die Treppen hinab und die Gänge entlang, und der Zickzackweg durch das altmodische Haus erschien meinen lauschenden Ohren diesen Abend unendlich lang zu dauern. Dann kam sie zurück, die Gänge entlang, die Treppen herunter, die Treppen herauf, und brachte den Brief.

»Lege ihn auf den Tisch, Charley«, sagte ich.

Und Charley legte ihn auf den Tisch und ging zu Bett. Ich setzte mich hin und sah das Schreiben an, ohne es in die Hand zu nehmen, und mancherlei ging mir durch den Kopf.

Ich durchlebte im Geiste die Zeit meiner umdüsterten Kindheit bis zu dem schweren Tag, wo meine Tante, das entschloßne Gesicht so kalt und starr, als Leiche dalag und ich bei Mrs. Rachael einsamer war, als hätte ich gar niemand auf der Welt gehabt, um mit ihm ein Wort oder einen Blick zu tauschen. Ich ging zu den anders gewordnen Tagen über, wo ich so glücklich war, überall um mich herum Freunde zu finden und von ihnen geliebt zu werden. Dann kam die Zeit, wo ich das erste Mal meinen Liebling sah und sie mich mit der schwesterlichen Liebe umfing, die den Glanz und die Schönheit meines Lebens bildete. Ich erinnerte mich an den ersten freundlichen Willkommensschimmer, der in der kalten hellen Nacht unsrer Ankunft aus diesen selben Fenstern hier auf unsre erwartungsvollen Gesichter gefallen und seit jener Zeit nie blasser geworden war. Noch einmal lebte ich mein ganzes glückliches Leben hier durch, meine Krankheit und meine Genesung, und mußte daran denken, wie verändert ich war und wie unverändert alle rings um mich. Und all dieses Glück strahlte wie ein Licht von einem Mittelpunkte aus. Von demselben, der mir dieses Briefchen hier auf dem Tisch geschickt.

Ich öffnete es und las es. Er war so eindringlich in seiner Liebe zu mir, und seine uneigennützigen Warnungen und die rücksichtsvolle Zartheit in jedem Wort machten, daß meine Augen sich zu oft verschleierten, als daß ich lange Zeit hintereinander hätte fortlesen können. Aber ich las den Brief drei Mal durch, ehe ich ihn hinlegte. Ich hatte schon vorher geglaubt, seinen Inhalt ahnen zu können, und sah mich nicht getäuscht.

Er fragte mich, ob ich die Herrin von Bleakhaus werden wollte.

Es war kein Liebesbrief, obgleich sich so unendlich viel Liebe darin aussprach. Er lautete ganz so, wie er selbst zu mir gesprochen haben würde. Ich sah sein Gesicht vor mir und hörte seine Stimme und fühlte den Einfluß seines väterlichen Wohlwollens in jeder Zeile. Er sprach zu mir, als ob unsre Stellung zueinander umgekehrt wäre; als ob alle guten Taten von mir herrührten und alle Dankesempfindungen, die sie hervorgerufen, nur in ihm lebten. Er stellte mir vor, wie jung ich sei, während er die Blüte der Jahre überschritten habe –, sagte, er stehe im reifen Alter und ich sei noch ein Kind –; er schreibe an mich als ergrauter Mann und wisse alles das so gut, daß er mich bäte, reiflich mit mir zu Rate zu gehen. Er schrieb, ich würde durch eine solche Ehe nichts gewinnen; und nichts verlieren, wenn ich sie zurückwiese. Kein neues Band könne seine Liebe zu mir vermehren, und er werde meine Handlungsweise billigen, möge mein Entschluß ausfallen so oder so. Er habe sich seit unsrer letzten vertraulichen Besprechung den Schritt nochmals reiflich überlegt und sich entschlossen, ihn zu tun, und wenn auch nur, um mir in einem kleinen Beispiel zu zeigen, daß sich die ganze Welt gern vereinigen würde, um die düstre Prophezeiung meiner Kindheit zunichte zu machen. – Ich könne nicht ahnen, wie glücklich ich ihn machen würde, aber davon wollte er weiter nicht sprechen. Ich solle stets im Auge behalten, daß ich ihm nichts schulde, sondern daß er im Gegenteil mein Schuldner in jeder Hinsicht sei.

Er hätte oft an unsre Zukunft gedacht, wohl wissend, daß die Zeit kommen werde – leider nur zu bald –, wo Ada mündig sein und uns verlassen werde und unsre gegenwärtige Lebensweise aufhören müsse. Deshalb hätte er sich gewöhnt, über seinen jetzigen Antrag nachzudenken, und deshalb mache er ihn jetzt. Wenn ich fühlte, ich könnte ihm überhaupt jemals das beste Recht, mein Beschützer zu sein, geben, und glaubte, die in Wahrheit geliebte Gefährtin seines noch übrigen Lebens werden und dabei glücklich sein zu können, erhaben über alle kleinen Zufälle und Veränderungen außer den Tod, selbst dann sollte ich mich nicht unauflöslich binden, solange mir der Brief noch so neu sei –, selbst dann müßte ich reichlich Zeit zur Überlegung haben. In diesem oder dem entgegengesetzten Fall wünsche er das alte Verhältnis, den alten ungezwungnen Ton und den Namen, den ich ihm von Anfang an gegeben, beibehalten zu sehen. Was sein munteres Mütterchen Spinnweb als kleine Wirtschafterin beträfe, so würde sie, wie er wisse, immer dieselbe bleiben.

Das war so der wesentliche Inhalt des Schreibens. Aus jedem Wort sprach ein Gerechtigkeitsgefühl, als wäre er nur ein verantwortlicher Vormund, der mir ganz unparteiisch den Vorschlag eines Freundes mitteilte und selber alle dagegen sprechenden Punkte mir vor Augen stellte.

Was er mir aber nicht verriet, war, daß er schon dieselbe Absicht hatte, als ich noch hübscher ausgesehen, davon aber abgestanden war, daß er jetzt, wo mein Gesicht verunstaltet war, mich noch ebenso lieben konnte wie in den Tagen meiner Schönheit. Auch daß die Entdeckung der Umstände meiner Geburt keinen nachteiligen Eindruck auf ihn gemacht habe, verschwieg er mir.

Aber ich wußte es, ich wußte es jetzt gar wohl. Am Schluß seines Briefes kam es über mich, und ich fühlte, daß mir nur ein Weg übrig blieb. Mein Leben seinem Glück zu widmen, war ein armseliger Dank. Und hatte ich mir neulich nachts etwas anderes gewünscht, als etwas zu finden, wie ich ihm danken könnte?!

Dennoch weinte ich sehr viel, nicht bloß aus der Überfülle meines Herzens heraus, nicht bloß wegen der Neuartigkeit der Aussicht, denn sie war neu und befremdend, obgleich ich keinen andern Inhalt erwartet hatte –, sondern, als ob etwas, für das ich keinen Namen und von dem ich keinen deutlichen Begriff hatte, nun für immer für mich verloren sei. Ich war sehr glücklich, sehr dankbar und hoffnungsfreudig, aber ich mußte heiße Tränen weinen.

Ich wagte mich vor meinen alten Spiegel. Meine Augen waren rot und geschwollen, und ich sagte: »Esther, Esther, bist du das wirklich?« Ich fürchtete, das Gesicht im Spiegel wolle bei diesem Vorwurf wieder zu weinen anfangen, aber ich hielt meinen Finger in die Höhe, und es bezwang sich.

»So! Das ist dem gefaßten Aussehen, mit dem du mich tröstetest, als du mir die große Veränderung damals nach der Krankheit zeigtest, ähnlicher«, sagte ich, indem ich mein Haar löste. »Wenn du erst die Hausfrau hier bist, mußt du so fröhlich sein wie ein Vogel. Du mußt überhaupt immer fröhlich sein, und deshalb wollen wir jetzt damit gleich ein für alle Mal anfangen.«

Ich löste mir vollends das Haar. Ich mußte noch ein wenig schluchzen, aber bloß weil ich geweint hatte, sonst war ich wieder ganz gefaßt und ruhig.

»Also, liebe Esther, du bist jetzt für dein ganzes Leben glücklich. Glücklich unter deinen besten Freunden, glücklich in dem gewohnten heimischen Haus, glücklich in der Möglichkeit, viel Gutes tun zu können, und unverdient glücklich, von dem besten aller Menschen geliebt zu werden.«

Dann dachte ich mir, was ich wohl gefühlt und getan haben würde, wenn mein Vormund eine andre geheiratet hätte. Wie so ganz anders wäre da alles gewesen! Mein Leben stellte sich mir bei dem Gedanken daran in einer so neuen Form und so inhaltsleer dar, daß ich mit meinen Wirtschaftschlüsseln klingelte und sie freudig küßte, bevor ich sie wieder in das Körbchen zurücklegte.

Dann, während ich mir das Haar vor dem Spiegel für die Nacht aufsteckte, dachte ich daran, wie oft ich mir schon vorgehalten hatte, daß die tiefen Spuren, die meine Krankheit zurückgelassen, und die Umstände meiner Geburt nur neue Gründe für mich wären, sehr, sehr, sehr tätig zu sein und mich liebenswürdig und dienstfertig zu erweisen in jeder Hinsicht. Das wäre jetzt so die richtige Zeit gewesen, sich betrübt hinzusetzen und zu weinen! Und war es so sonderbar, was jetzt werden sollte? Und warum sollte es sonderbar sein? Andre Leute hatten daran gedacht. »Erinnerst du dich, meine Liebe«, sagte ich zu meinem Spiegelbild, »was Mrs. Woodcourt darüber zu dir sagte, noch ehe diese Narben hier waren?«

Vielleicht erinnerte mich der Name an die getrockneten Blumen. Besser, sie jetzt nicht mehr aufzubewahren. Ich hatte sie nur zur Erinnerung an etwas, was jetzt für immer vorüber war, aufgehoben. Besser, sie jetzt nicht länger mehr aufzuheben.

Sie lagen in einem Buch, das sich zufällig in dem anstoßenden gemeinschaftlichen Zimmer zwischen Adas Schlafgemach und dem meinen befand. Ich nahm eine Kerze und ging leise hinein, um es zu holen. Als ich es in der Hand hielt, sah ich meinen schönen Liebling durch die offne Tür im Schlaf daliegen und küßte sie leise.

Ich weiß wohl, es war eine Schwäche, und ich konnte keinen Grund haben, zu weinen, aber ich ließ eine Träne auf ihr liebes Gesicht fallen, und noch eine und noch eine. Und was noch eine größere Schwäche war, ich nahm die verwelkten Blumen aus dem Buch und hielt sie ihr einen Augenblick an die Lippen. Ich dachte dabei an ihre Liebe zu Richard, obgleich im Grund die Blumen nichts damit zu tun hatten. Dann nahm ich den Strauß in mein Zimmer und verbrannte ihn am Licht, und im Augenblick war er zu Asche geworden.

Als ich am nächsten Morgen in das Frühstückszimmer trat, fand ich meinen Vormund ganz wie gewöhnlich dort. So offen, frei und herzlich wie immer. Nicht das mindeste von gezwungnem Wesen war an ihm zu bemerken, und auch bei mir nicht, hoffe ich. Ich war im Lauf des Vormittags mehrere Male mit ihm allein und dachte, er werde von dem Brief zu sprechen anfangen. Aber er sagte kein Wort.

So war es auch am nächsten Morgen und am übernächsten und die ganze Woche lang, bis zu welcher Zeit Mr. Skimpole seinen Besuch bei uns ausdehnte.

Ich erwartete jeden Tag, daß mein Vormund von dem Brief anfangen werde, aber er sagte kein Wort.

Ich wurde schließlich unruhig und überlegte, ob ich ihm nicht schriftlich antworten sollte. Ich versuchte es nachts in meinem Zimmer immer und immer wieder mit einem Brief, aber ich konnte keine Antwort zustande bringen und keinen richtigen Anfang finden. Und so verschob ich es von Tag zu Tag. Ich wartete eine ganze Woche, und er spielte noch immer nicht auch nur mit einem Wort darauf an.

Endlich war Mr. Skimpole abgereist, und wir drei wollten eines Nachmittags eine Spazierfahrt miteinander machen. Früher mit dem Ankleiden fertig als Ada, ging ich hinunter und fand hier meinen Vormund, den Rücken mir zugekehrt, zum Salonfenster hinaussehen.

Er drehte sich um, als ich eintrat, und sagte lächelnd:

»Ach, du bist es, kleines Frauchen.«

Dann sah er wieder hinaus.

Ich hatte mir vorgenommen, diesmal mit ihm zu sprechen. Kurz, ich war eigentlich zu diesem Zweck heruntergekommen. »Vormund«, sagte ich etwas zögernd und zitternd, »wann wünschest du die Antwort auf den Brief zu haben, den Charley geholt hat?«

»Wenn sie fertig ist, mein Kind.«

»Ich glaube, sie ist fertig.«

»Wird sie Charley überbringen?« fragte er freundlich.

»Nein, ich habe sie selbst mitgebracht, Vormund!«

Ich schlang meine Arme um seinen Hals und küßte ihn, und er fragte, ob das die Herrin von Bleakhaus getan habe, und ich sagte ja.

Und es machte keinen Unterschied zwischen uns, und wir gingen alle zusammen hinaus, und ich sagte meinem Liebling nichts davon.

45. Kapitel


45. Kapitel

Im Vertrauen

Eines Morgens, nachdem ich wieder mit meinem Schlüsselkörbchen herumgeklingelt hatte und gerade mit meinem Liebling im Garten spazieren ging, wendete ich zufällig meinen Blick auf das Haus zurück und sah einen langen dünnen Schatten die Mauer entlang gehen, der Mr. Vholes sehr ähnlich sah. Ada hatte erst diesen Morgen zu mir geäußert, sie hoffe, Richard werde durch sein allzu emsiges Betreiben des Kanzleigerichtsprozesses in seinem Eifer darin nachlassen, und um dem lieben Kind nicht die fröhliche Laune zu verderben, sagte ich nichts von Mr. Vholes Schatten.

Gleich darauf kam Charley leicht auf den Wegen zwischen den Gebüschen dahergehuscht, so rosig und hübsch wie eine von Floras Dienerinnen, und sagte:

»Ach, wenn Sie so gut sein möchten, Miß, hineinzukommen zu Mr. Jarndyce, er möchte gern mit Ihnen sprechen.«

– Es war eine von Charleys Eigenheiten, wenn sie eine Botschaft ausrichten sollte, sie augenblicklich herzusagen, sobald sie in der Ferne die Person, für die sie bestimmt war, erblickte. –

Deshalb sah ich Charley mich in ihrer gewohnten Art bitten, zu Mr. Jarndyce hineinzukommen, lange, ehe ich sie hören konnte. Und als sie vor mir stand, hatte sie es so oft wiederholt, daß sie ganz außer Atem war.

Ich sagte Ada, ich käme gleich wieder, und fragte Charley unterwegs, ob nicht ein Herr bei Mr. Jarndyce sei, worauf Charley, deren Grammatik, muß ich zu meiner Schande gestehen, meiner Erziehungskunst nicht viel Ehre machte, zur Antwort gab: »Ja, Miß, der Herr, wo uns mit Mr. Richard besucht hat.«

Einen schärfern Gegensatz als meinen Vormund und Mr. Vholes konnte es nicht gut geben. Als ich eintrat, saßen sie einander gegenüber am Tisch und sahen sich an. Der eine so offen, der andre so in sich verschlossen. Der eine breitschultrig und aufrecht, der andre schmal und gebückt. Mr. Jarndyce, alles mit voller klingender Stimme sagend, was er zu sagen hatte, und der andre in seiner froschblütigen, fischkalten Art alles in sich hineinflüsternd, daß ich glaubte, nie zwei so ungleiche Menschen beisammen gesehen zu haben.

»Du kennst diesen Mr. Vholes hier, liebe Esther«, begann mein Vormund mit nicht besonders erfreutem Ton, muß ich gestehen.

Mr. Vholes stand auf, wie gewöhnlich behandschuht und zugeknöpft, und setzte sich wieder. Genau so, wie er sich damals neben Richard in das Gig gesetzt hatte. Da er aber Richard jetzt nicht ansehen konnte, schaute er gerade vor sich hin ins Leere.

»Mr. Vholes«, fuhr mein Vormund fort und sah die schwarze Gestalt wie einen unglückverkündenden Vogel unfreundlich an, »hat uns schlimme Nachrichten von unserm höchst unglücklichen Richard gebracht.« Er legte einen besonderen Nachdruck auf die Worte »höchst unglücklich«, als ob er damit auf die zwischen Richard und Mr. Vholes stehende Verbindung anspielen wollte. Ich nahm zwischen beiden Platz. Mr. Vholes verzog keine Miene. Nur hie und da kratzte er sich heimlich an einem der roten Pickel in seinem gelben Gesicht.

»Da ihr glücklicherweise gute Freunde seid, Rick und du, so hätte ich gern gehört, was du von der Sache denkst, mein Kind«, begann mein Vormund. »Wollen Sie so freundlich sein, offen herauszusprechen, Mr. Vholes.«

In einer Art, die dieser Aufforderung nichts weniger als entsprach, begann Mr. Vholes:

»Ich sagte soeben, Miß Summerson, daß ich als Mr. Carstones Rechtsbeistand Grund habe, mit Sicherheit anzunehmen, daß seine Angelegenheiten gegenwärtig in einer höchst fatalen Lage sind. Nicht so sehr, was die Höhe der Summe anbetrifft, sondern hinsichtlich der besondern und dringlichen Art der Verpflichtungen, die Mr. C. eingegangen ist, im Verhältnis zu den geringen Einkünften, die er bezieht und die ihm nicht erlauben, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Ich habe manche kleine Zahlungsverpflichtung für Mr. C. hinausgeschoben, aber es gibt eine Grenze in solchen Dingen, und wir haben sie erreicht. Ich habe einige Vorschüsse aus eigner Tasche gegeben, muß aber natürlich an Wiederbezahltwerden denken, denn ich habe mich nie als Kapitalisten ausgegeben und muß, abgesehen davon, daß ich für meine drei lieben Töchter zu Hause ein kleines Sümmchen zu ersparen suche, noch im Tal von Taunton einen greisen Vater unterstützen. Ich befürchte, mit einem Wort, Mr. C.s Verhältnisse sind derart, daß er um Bewilligung wird nachsuchen müssen, sein Patent verkaufen zu dürfen, und es ist jedenfalls wünschenswert, daß seine Verwandten von diesen Umständen in Kenntnis gesetzt werden.«

Mr. Vholes hatte mich während seiner Rede angesehen, ließ jetzt seine Blicke sinken und versank wieder in das Schweigen, das er eigentlich nie unterbrochen hatte, so gedämpft und klanglos war der Ton seiner Stimme gewesen.

»Man denke sich den armen Burschen, wenn ihm jetzt selbst diese letzte Hilfe fehlt«, sagte mein Vormund zu mir. »Aber was kann ich tun? Du kennst ihn, Esther! Er würde um keinen Preis eine Unterstützung von mir annehmen. Sie ihm jetzt anzubieten oder nur darauf hinzudeuten, würde ihn zu Unbesonnenheiten treiben, wenn nicht noch zu etwas Schlimmerem.«

Mr. Vholes nickte bestätigend.

»Was Mr. Jarndyce bemerkt, Miß, ist ohne Zweifel richtig, und darin liegt die Schwierigkeit. Ich sehe nicht, daß irgend etwas getan werden könnte. Ich sage auch nicht, daß etwas getan werden sollte. Weit entfernt davon. Ich komme bloß hierher, ganz im Vertrauen, und berichte, damit man später nicht sagen kann, ich hätte es an Offenheit fehlen lassen. Mein Wunsch ist, daß alles so offen wie möglich betrieben wird. Ich wünsche vor allem, einen guten Namen zu hinterlassen. Wenn ich bloß mein eignes Interesse in dieser Sache mit Bezug auf Mr. C. berücksichtigte, würden Sie mich nicht hier sehen. Er selbst würde jede Einwendung dagegen erhoben haben, das wissen Sie am besten. Mein heutiger Besuch ist also nicht geschäftlicher Art. Er kann niemandem aufgerechnet werden. Ich habe kein andres Interesse daran als das eines Mitgliedes der menschlichen Gesellschaft und als Vater – und als Sohn«, ergänzte Mr. Vholes schnell, als er merkte, daß er diesen Punkt einen Augenblick ganz vergessen hatte.

Es schien uns, als ob Mr. Vholes hinsichtlich der Verpflichtungen Richards gerade nur die knappe Wahrheit verraten habe. Ich konnte nichts andres vorschlagen, als selber nach Deal, wo Richard damals in Garnison stand, zu reisen, um ihn zu sprechen und zu versuchen, das Schlimmste noch abzuwenden. Ohne Mr. Vholes darüber zu Rate zu ziehen, nahm ich meinen Vormund beiseite, um ihm diesen Vorschlag zu machen, während Mr. Vholes an den Kamin trat und sich die Leichenbitterhandschuhe wärmte. Als Haupteinwand führte mein Vormund sofort die Anstrengung der Reise an. Da ich aber sah, daß er keinen andern wußte, und selbst nur zu gern ging, erwirkte ich leicht seine Zustimmung. Wir hatten uns also nur noch mit Mr. Vholes auseinanderzusetzen.

»Nun, Sir«, sagte Mr. Jarndyce zu ihm. »Miß Summerson wird sich mit Mr. Carstone in Verbindung setzen, und wir wollen nur hoffen, daß seine Stellung noch nicht endgültig verloren ist. Gestatten Sie, daß ich Ihnen ein Frühstück bringen lasse.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Jarndyce«, lehnte Mr. Vholes ab und streckte seinen langen schwarzen Ärmel aus, um meinen Vormund am Klingeln zu verhindern. »Ich danke Ihnen. Nein. Nicht einen Bissen. Meine Verdauung ist gar nicht in Ordnung, und ich bin überhaupt von jeher niemals stark mit Messer und Gabel gewesen. Wenn ich um diese Tageszeit kompakte Speisen genösse, weiß ich nicht, was die Folgen sein würden. Da jetzt vollkommene Klarheit zwischen uns besteht, Sir, möchte ich mich mit Ihrer Erlaubnis verabschieden.«

»Und ich wollte, daß wir uns alle auch von einem gewissen Prozeß verabschieden könnten, Mr. Vholes«, sagte mein Vormund bitter.

Mr. Vholes, dessen schwarzer Anzug am Kamin einen sehr unangenehmen Geruch nach Tuch verbreitete, verbeugte sich halb und schüttelte langsam den Kopf.

»Wir, deren Ehrgeiz es ist, in jedermanns Augen als achtbare Advokaten zu erscheinen, können nur unsre Schultern gegen das Rad stemmen. Wir tun es, Sir. Wenigstens tue ich es und denke von meinen Kollegen ohne Ausnahme gut. Ich muß Sie selbstverständlich bitten, Miß, meine Mitteilung als vertraulich zu betrachten und nichts davon gegenüber Mr. C. zu erwähnen.«

Ich versprach es.

»Ich danke, Miß. Guten Morgen. Mr. Jarndyce, guten Morgen.« Mr. Vholes legte seinen Totenhandschuh erst mir und dann meinem Vormund auf die Finger und verschwand.

Ich stellte mir vor, wie sein langer dünner Schatten von der Außenseite der Postkutsche auf die sonnige Landschaft zwischen uns und London fiel, über die Felder hinglitt und das Samenkorn im Erdboden frösteln machte.

Ich mußte natürlich Ada sagen, wohin ich ginge und weshalb, und sie war sehr besorgt und betrübt darüber. Aber sie hielt zu treu zu Richard, um von ihm anders als in Ausdrücken des Mitleids und der Entschuldigung zu sprechen. Und mit noch größerer Liebe – braves treues Mädchen – schrieb sie ihm einen langen Brief, den ich zu besorgen versprach.

Charley sollte meine Reisebegleiterin sein, obgleich ich sie eigentlich nicht brauchte und gern zu Hause gelassen hätte. Wir begaben uns am Nachmittag nach London, bestellten zwei Plätze und fuhren abends seewärts mit der kentischen Post.

Es war in jenen Zeiten der Landkutschen eine Nachtfahrt, aber wir hatten den Wagen ganz allein für uns und fanden die Reise nicht sehr ermüdend. Sie verging mir, wie sie wohl den meisten Leuten unter solchen Umständen zu vergehen pflegt. Manchmal kam sie mir hoffnungsvoll, dann wieder ganz aussichtslos vor. Zuweilen glaubte ich Richard nützlich sein zu können, dann wieder wunderte ich mich, wie ich nur einen solchen Gedanken je hatte fassen können. In welchem Zustand ich ihn finden würde, was ich ihm sagen sollte, was er mir antworten würde, beschäftigte abwechselnd meinen Geist, und die Räder schienen in einem fort eine ewig gleiche Melodie, der sich die letzten Worte des Briefes meines Vormundes anpaßten, zu spielen.

Endlich kamen wir in die schmalen Straßen von Deal. Sie sahen an diesem rauhen nebligen Morgen sehr düster aus. Der lange flache Strand mit den kleinen unregelmäßigen Häusern aus Holz und Ziegeln und dem Gewirr von Ankerwinden, großen Booten, Schuppen, kahlen, aufrecht stehenden Stangen mit Flaschenzügen boten einen trüben, wüsten Anblick dar. Die See wogte unter einem dicken weißen Nebel dahin, und kein lebendes Wesen war zu sehen als ein paar Seiler, die mit ihrem um den Leib gewickelten Werg aussahen, als ob sie sich selbst, des Erdenlebens müde, zu Tauen verspännen.

Aber als wir in einem vortrefflichen Hotel in eine warme Stube kamen, uns gewaschen und angekleidet hatten und uns zu einem zeitigen Frühstück hinsetzten, fing Deal an, heiterer auszusehen. Unser kleines Zimmer war eine Art Schiffskajüte, und das machte Charley große Freude. Dann fing der Nebel an, sich wie ein Vorhang zu heben, und eine kleine Menge Schiffe, von deren Nähe wir bis dahin keine Ahnung gehabt hatten, wurden sichtbar. Ich weiß nicht mehr, wie viele Segelboote nach Angabe des Kellners damals in den Dünen lagen. Einige dieser Schiffe waren sehr ansehnlich, vor allem ein großer Ostindienfahrer, der eben angelegt hatte. Und als die Sonne durch die Wolken schien und silberne Flecke auf die schwarze See zeichnete, war es sehr schön anzusehen, wie die Kolosse zu glänzen anfingen und scharfe Umrisse bekamen, während ein Gewimmel von Booten vom Ufer zu ihnen und wieder zurückfuhr und allgemeines Leben ringsum zu herrschen begann. Der große Ostindienfahrer interessierte uns am meisten, zumal er diese Nacht erst im Hafen angekommen war. Eine Menge von Jollen umringten ihn, und wir sagten uns, wie froh die Leute an Bord sein müßten, endlich an Land gehen zu können. Charley war sehr wißbegierig und fragte viel über ferne Länder, über die Hitze in Indien, die Schlangen und die Tiger, und da sie auf diese Art rascher lernen konnte als durch Hocken über der Grammatik, sagte ich ihr, was ich von diesen Sachen wußte. Ich erzählte ihr auch, wie auf solchen Reisen die Leute manchmal Schiffbruch erlitten, auf Felsen geworfen und manchmal durch die Unerschrockenheit und Menschenliebe eines einzelnen gerettet würden. Und da Charley mich ausfragte, wie das zugehen könnte, erzählte ich ihr, wie wir selbst von einem solchen Beispiel gehört hätten.

Ich wollte anfangs Richard ein Billett mit der Anzeige unsrer Ankunft schicken, aber dann schien es mir besser, zu ihm zu gehen, ohne ihn vorher zu benachrichtigen. Da er in der Kaserne wohnte, zweifelte ich ein wenig an der Ausführbarkeit, aber wir gingen doch hin, um zu rekognoszieren. Als wir einen Blick durch das Tor in den Kasernenhof warfen, fanden wir zu dieser frühen Morgenstunde alles noch sehr still, und ich fragte den wachhabenden Sergeanten nach Richards Wohnung. Er gab uns einen Soldaten mit, der sie uns zeigen sollte, und dieser ging ein paar Stufen hinauf, klopfte an eine Tür und verließ uns dann.

»Was gibt’s?« rief Richard drinnen.

Ich ließ Charley auf dem schmalen Gang stehen, trat an die halb geöffnete Tür und sagte:

»Kann ich hereinkommen, Richard? Es ist nur Mütterchen Hubbard.«

– Er hatte gerade an einem Tische geschrieben; und in großer Unordnung lagen Kleider, Blechkästen, Bücher, Stiefel, Bürsten und Mantelsäcke umher. Er war nur halb angekleidet – in Zivil, nicht in Uniform –, sein Haar war ungebürstet, und er sah so unordentlich aus wie sein Zimmer. Das alles bemerkte ich, nachdem er mich herzlich bewillkommnet hatte und ich jetzt neben ihm saß. Er war aufgesprungen, als er meine Stimme gehört hatte, und hielt mich im nächsten Augenblick in seinen Armen. Der liebe Richard! Er war immer noch der alte gegen mich – war es bis ans Ende –, der arme, arme Junge! Bis ans Ende empfing er mich stets mit seiner alten lustigen knabenhaften Art.

»Gott im Himmel, mein liebes kleines Mütterchen, wie kommen Sie denn hierher? Doch nichts vorgefallen? Ada befindet sich doch wohl?«

»Ganz wohl. Sie ist schöner als je, Richard.«

»Ach«, sagte er und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Meine arme Kusine! Eben schrieb ich einen Brief an Sie, Esther.«

– Wie angegriffen und hohläugig er aussah trotz seiner Jugend, wie er sich jetzt in den Stuhl zurücklehnte, den engbeschriebnen Bogen in der Hand zerknitternd. –

»Sie haben sich die Mühe gegeben, den ganzen langen Brief zu schreiben, und jetzt soll ich ihn nicht einmal lesen?«

»Ach, liebe Esther«, entgegnete er mit einer Gebärde der Hoffnungslosigkeit, »was drin steht, können Sie hier im ganzen Zimmer lesen. Es ist alles vorbei.«

Ich bat ihn sanft, sich doch nicht so der Niedergeschlagenheit hinzugeben. Ich sagte ihm, ich hätte zufällig gehört, er befände sich in Verlegenheiten, und sei gekommen, um mit ihm wegen der zu ergreifenden Mittel zu beraten.

»Das sieht Ihnen ganz ähnlich, Esther, aber es ist nutzlos«, sagte er mit einem trüben Lächeln. »Ich habe mir heute Urlaub geben lassen – ich wäre in der nächsten Stunde schon abgereist gewesen –, nur zu dem Zweck, meinen Austritt aus der Armee vorzubereiten. Geschehen ist geschehen. Ich brauche mich nur noch der Theologie zu widmen, um die Runde durch alle Berufsarten gemacht zu haben.«

»Richard«, drang ich in ihn, »ist wirklich alle Hoffnung verloren?«

»Ja, Esther, es ist so weit. Man ist bereits so unzufrieden mit mir, daß mich meine Vorgesetzten am liebsten gehen sehen möchten. Und sie haben recht. Abgesehen von Schulden und Gläubigern und andern Unannehmlichkeiten der Art tauge ich nun einmal nicht zu diesem Beruf. Ich kümmere mich um nichts, habe keinen Sinn, kein Herz und keine Seele für etwas andres als nur für die eine Sache. Wenn diese Blase jetzt nicht geplatzt wäre«, er zerriß den Brief und zerstreute die Stückchen mit trüber Miene in der Stube, »wie hätte ich jetzt England verlassen können. Ich hätte jedenfalls Ordre bekommen, in die Kolonien zu gehen, aber wie hätte ich fort können! Wie hätte ich, wo ich jetzt diese Sache kenne, sogar Vholes trauen dürfen, ohne nicht immer hinter ihm zu stehen.«

– Ich glaube, er las mir am Gesicht ab, was ich sagen wollte, denn er nahm meine Hand, die ich ihm auf den Arm gelegt hatte, und legte sie auf meine Lippen, um mich zu verhindern, fortzufahren. –

»Nein, Mütterchen! Zwei Themen bitte ich Sie, nicht zu berühren. Ich muß es tun. Das erste betrifft John Jarndyce. Das zweite, Sie wissen schon, was. Nennen Sie es meinetwegen Wahnwitz, aber ich kann mir nicht helfen. Oder ich müßte verrückt werden. Aber es ist nicht Wahnwitz. Es ist der eine Zweck, den ich im Leben habe. Es ist schade, daß ich mich jemals habe bewegen lassen, mich etwas anderm zuzuwenden. Es würde unendlich weise sein, nach soviel Aufwand von Zeit, Sorge und Mühen davon abzulassen! O ja, unendlich weise! Es würde auch gewissen Leuten sehr angenehm sein, aber ich will nicht.«

Er war in einer Stimmung, in der ich es für das Beste halten mußte, ihn in seinem Entschluß nicht noch durch Widerspruch zu bestärken, wenn so etwas überhaupt möglich war. Ich zog Adas Brief hervor und legte ihn ihm in die Hand.

»Soll ich ihn jetzt lesen?« fragte er.

Da ich bejahte, öffnete er ihn, stützte die Stirn auf die Hand und fing an zu lesen.

Er war noch nicht weit gekommen, da stützte er den Kopf auf beide Hände, um mir sein Gesicht zu verbergen, und nach einer kleinen Weile stand er auf, als ob er nicht Licht genug zum Lesen habe, und trat ans Fenster. Dort blieb er, den Rücken mir zugekehrt, und als er mit dem Brief fertig war und ihn wieder zusammengefaltet hatte, blieb er ein paar Minuten dort stehen. Ich sah Tränen in seinen Augen, als er wieder zu dem Stuhl zurückkehrte.

»Sie wissen natürlich, Esther, was sie schreibt?« – Er sprach mit weicher Stimme und küßte den Brief. –

»Ja, Richard.«

»Sie bietet mir die kleine Erbschaft an«, fuhr er fort und klopfte dabei aufgeregt mit dem Fuß auf den Boden, »die ihr binnen kurzem zufallen muß – gerade so wenig und so viel, als ich bis heute durchgebracht habe –, und bittet mich aufs inständigste, sie anzunehmen, meine Angelegenheiten damit in Ordnung zu bringen und in der Armee zu bleiben.«

»Ich weiß, daß Ihr Glück ihr heißester Herzenswunsch ist«, sagte ich. »Lieber Richard, Ada hat ein edles Herz.«

»Das weiß ich. Ich – ich wollte, ich wäre tot.«

Er ging wieder ans Fenster zurück und legte das Gesicht auf seinen Arm.

Es schnitt mir ins Herz, ihn so zu sehen. Aber ich hoffte, er könnte jetzt nachgiebiger werden, und schwieg deshalb. Meine Menschenkenntnis war offenbar sehr gering, denn ich war durchaus nicht darauf vorbereitet, daß er sich aus seiner Rührung zu einem neuen Gefühl des Beleidigtseins aufschwingen würde.

»Und das ist das Herz, das dieser selbige John Jarndyce, dessen Namen ich eigentlich gar nicht mehr in den Mund nehmen sollte, mir zu entfremden versucht hat«, rief er entrüstet aus. »Das gute Mädchen macht mir dies hochherzige Anerbieten aus desselben John Jarndyces Haus mit desselben John Jarndyces Genehmigung, wage ich zu behaupten, als ein neues Mittel in seinen Augen, mich zu verkaufen.«

»Richard!« rief ich aus und stand hastig auf. »Ich will solche schändlichen Worte nicht mehr von Ihnen hören.«

Ich war das erste Mal in meinem Leben wirklich recht böse auf ihn, aber es dauerte nur einen Augenblick. Als ich sein abgespanntes junges Gesicht mich schmerzlich anblicken sah, legte ich ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Bitte, lieber Richard, sprechen Sie nicht in einem solchen Ton zu mir. Bedenken Sie doch!«

Er machte sich die bittersten Vorwürfe und sagte mir in seiner herzlichsten Art, er sähe ein, er sei im Unrecht, und bäte mich tausend Mal um Verzeihung. Ich lächelte, zitterte aber ein klein wenig dabei, denn ich war von meinem Zorn noch zu aufgeregt.

»Dieses Anerbieten anzunehmen, meine liebe Esther«, knüpfte er sein früheres Gespräch wieder an und setzte sich neben mich, » – noch ein Mal, bitte, bitte, verzeihen Sie mir, es tut mir aufs tiefste leid, was ich gesagt habe –, dieses Anerbieten meiner lieben Kusine anzunehmen, ist, wie ich wohl nicht erst zu erklären brauche, unmöglich. Überdies könnte ich Ihnen Belege bringen, die Sie überzeugen würden, daß hier alles vorbei ist. Mit dem roten Rock habe ich nichts mehr zu schaffen, glauben Sie mir. Aber es ist mir eine gewisse Genugtuung, mitten in meinen Sorgen und Verlegenheiten zu wissen, daß ich mit meinen Interessen zugleich die Adas fördere. Vholes hat die Schulter an das Rad gestemmt, und er muß es für sie, Gott sei Dank, ebensoweit schieben wie für mich.«

Seine sanguinischen Hoffnungen wachten wieder in ihm auf und erhellten seine Züge, aber auf mich machte sein Gesicht einen nur noch traurigeren Eindruck als vorher.

»Nein, nein! Und selbst wenn jeder Pfennig von Adas Vermögen mir gehörte, so sollte auch kein Bruchteil davon verwendet werden, um mich an einen Beruf festzubinden, für den ich nun einmal nicht passe, der mir gleichgültig ist und den ich satt habe. Es müßte vielmehr zu etwas verwendet werden, woran sie ein wichtigeres Interesse hat und das bessere Zinsen verspricht. Machen Sie sich keine Sorgen meinetwegen. Ich werde mein ganzes Augenmerk nur noch auf die eine Sache richten, und Vholes und ich werden dafür arbeiten. Ich werde nicht ganz ohne Mittel dastehen. Nach dem Verkauf meines Patents werde ich imstande sein, mit einigen kleinen Wucherern, die jetzt von nichts als ihrem Wechsel hören wollen, einen Vergleich zu schließen, sagt Vholes. Ich würde auch sowieso einen Überschuß haben, aber dadurch wird er noch größer. Kommen Sie! Nehmen Sie einen Brief von mir an Ada mit, Esther, setzen Sie mehr Hoffnung auf mich und denken Sie nicht, ich sei schon ganz und gar verloren.«

Ich will nicht wiederholen, was ich zu Richard sagte. Ich weiß, daß es langweilig war und sich keineswegs durch besondre Weisheit auszeichnete, aber es kam mir aus dem Herzen. Er hörte mir geduldig und teilnehmend zu, ich sah jedoch, daß gegenwärtig keine Hoffnung war, ihm über die beiden Themen, deren Erörterung er sich verbeten hatte, mit Erfolg Vorstellungen zu machen. Ich sah jetzt deutlich bestätigt, was mein Vormund mit seinen Worten gemeint hatte: Es ist schädlicher, bei ihm Überredung anzuwenden, als ihm seinen Willen zu lassen.

Ich mußte ihn schließlich fragen, ob es ihm nicht widerstrebe, mir zu beweisen, daß wirklich hier alles vorbei sei, wie er mir gesagt habe, und er es sich nicht bloß einbilde. Ohne Zaudern wies er mir Briefe vor, aus denen aufs deutlichste hervorging, daß sein Austritt aus der Armee bereits beschloßne Sache war. Ich erfuhr von ihm, daß Mr. Vholes Abschriften von diesen Papieren habe und von ihm in allen Angelegenheiten zu Rate gezogen worden sei. Meine Reise war also nutzlos gewesen, höchstens abgesehen davon, daß ich ihn nach London zurückbegleiten sollte und ihm Adas Brief hatte selbst überbringen können. Ich wollte also, sagte ich, nach dem Hotel zurückkehren und ihn dort erwarten. Er warf einen Mantel um, begleitete mich bis an das Kasernentor, und Charley und ich gingen den Strand entlang nach Hause.

An einem Landungssteg waren viele Leute zusammengelaufen. Sie standen um einige Seeoffiziere herum, die eben aus einem Boot ausgestiegen waren, und zeigten ein ungewöhnliches Interesse für sie. Ich sagte zu Charley, das würde wohl eins von den Booten des großen Ostindienfahrers sein, und wir blieben stehen, um zuzusehen.

Die Herren kamen langsam vom Ufer herauf und unterhielten sich heiter mit einander und den sie umringenden Leuten und schauten um sich, sichtlich voll Freude, wieder in der Heimat zu sein.

»Charley, Charley«, rief ich, »komm fort!« Und ich eilte so rasch fort, daß meine kleine Zofe ganz erstaunt darüber war.

Erst als wir in unserm Zimmer waren und ich wieder zu Atem kommen konnte, fing ich an, zu überlegen, warum ich mich eigentlich so beeilt hatte. In einem der Herren hatte ich Mr. Allan Woodcourt erkannt und gefürchtet, er werde mich entdecken. Ich wollte ihn mein entstelltes Gesicht nicht sehen lassen, war ganz überrascht gewesen und hatte all meinen Mut eingebüßt.

Ich wußte jetzt, das ginge so nicht, und sagte zu mir: »Meine Liebe, es ist kein Grund vorhanden – es ist und darf kein Grund vorhanden sein –, warum es für dich jetzt schlimmer sein sollte als früher. Was du damals warst, bist du noch heute, und du bist nicht schlimmer und nicht besser. Das ist nicht deine alte Entschlossenheit. Raffe dich auf, Esther, raffe dich auf!«

– Ich zitterte noch – vom Laufen – und war anfangs ganz außerstande, mich zu beruhigen. Aber allmählich wurde mir freier zumute, und ich freute mich, als ich es bemerkte. –

Die Angekommenen stiegen in unserm Hotel ab. Ich hörte sie auf der Treppe reden. Ich wußte, daß es dieselben Herren waren, denn ich erkannte ihre Stimme wieder – ich meine, ich erkannte Mr. Woodcourts Stimme. Es wäre mir eine Erleichterung gewesen, wenn ich hätte abreisen können, ohne mich ihm zu erkennen zu geben, aber ich war entschlossen, es nicht zu tun: »Nein, meine Liebe, nein. Nein, nein, nein!«

Ich band meinen Hut um, schlug meinen Schleier halb zurück – ich meine, halb herunter, aber es kommt darauf wenig an – und schrieb auf eine Karte, daß ich zufällig mit Mr. Richard Carstone hier sei, und schickte sie an Mr. Woodcourt. Er kam augenblicklich. Ich sagte ihm, daß ich mich freute, zufällig unter den ersten zu sein, die ihn in der Heimat begrüßten. Und ich sah, daß ich ihm sehr leid tat.

»Sie haben Schiffbruch erlitten und sind in Lebensgefahr gewesen, seit Sie uns verlassen haben, Mr. Woodcourt«, sagte ich. »Aber man kann wohl kaum ein Unglück nennen, was Sie instand gesetzt hat, sich so wacker und tapfer zu benehmen. Wir haben es mit aufrichtigster Ergriffenheit gelesen. Ich erfuhr es zuerst von Ihrer alten Patientin, der armen Miß Flite, als ich von meiner schweren Krankheit genas.«

»Ach, ach, die kleine Miß Flite! Führt sie immer noch dasselbe Leben?«

»Ganz dasselbe.«

– Ich war ihm gegenüber jetzt so unbefangen, daß ich es wagen konnte, den Schleier ganz zurückzuschlagen. –

»Ihre Dankbarkeit gegen Sie, Mr. Woodcourt, ist unbegrenzt. Sie ist Ihnen wirklich von Herzen zugetan.«

»Sie – Sie haben das an ihr bemerkt?« entgegnete er. »Das – das freut mich sehr.«

– Ich tat ihm so außerordentlich leid, daß er kaum sprechen konnte. –»Ich kann Ihnen nur versichern«, sagte ich, »daß mich ihre Ergriffenheit und Freude damals tief gerührt haben.«

»Ich hörte zu meinem Bedauern, daß Sie sehr krank gewesen sind, Miß Summerson.«

»Ja, ich war sehr krank.«

»Aber Sie haben sich doch wieder ganz erholt?«

»Meine Gesundheit und gute Laune habe ich wieder zurückgewonnen«, sagte ich. »Sie wissen, wie gut mein Vormund ist und welch glückliches Leben wir führen. Ich besitze alles, wofür man nur Gott danken kann, und es bleibt mir auf der Welt nichts mehr zu wünschen übrig.«

– Es war, als fühlte er größeres Mitleid mit mir als ich selbst. Der Gedanke, eigentlich ihn beruhigen zu müssen, gab mir neue Kraft und Ruhe. Wir unterhielten uns über seine Reisen und über seine Pläne für die Zukunft und die Möglichkeit seiner Rückkehr nach Indien. –

Er sei drüben nicht mehr vom Glück begünstigt gewesen als in der Heimat und es sei ihm daher zweifelhaft, ob er es nicht für vorteilhafter halten werde, vorläufig in England zu bleiben, sagte er. Er wäre als armer Schiffsarzt hingereist und als nichts besseres zurückgekommen.

Noch während wir sprachen, kam Richard. Er hatte unten gehört, wer bei mir sei, und er und Mr. Woodcourt begrüßten sich voller Herzlichkeit.

Ich bemerkte, als sie dann von Richards Aussichten sprachen, daß Mr. Woodcourt eine Ahnung zu bekommen schien, wie die Sachen stünden. Er blickte ihm öfter ins Gesicht, als ob er dort etwas sähe, was ihm Schmerz bereitete, und mehr als ein Mal warf er einen Blick auf mich, als suchte er in meinen Mienen die Wahrheit zu lesen. Richard selbst war wieder in einer seiner sanguinischen Stimmungen und vortrefflichen Laune und freute sich sehr, Mr. Woodcourt, den er immer gern gehabt hatte, wiederzusehen. Er schlug vor, wir sollten alle zusammen nach London reisen. Mr. Woodcourt mußte aber noch einige Zeit auf seinem Schiff bleiben und konnte uns daher nicht begleiten. Er aß jedoch mit uns zeitig zu Mittag und war ganz wieder wie früher. Nur Richard schien ihm nicht aus dem Sinn zu gehen. Als die Postkutsche schon bereit stand und Richard hinuntereilte, um nach seinem Gepäck zu sehen, sprach er mit mir über ihn.

Ich fühlte mich nicht berechtigt, seine ganze Geschichte zu erzählen, deutete aber in wenigen Worten auf die zwischen ihm und Mr. Jarndyce entstandne Entfremdung und den Einfluß des unseligen Kanzleigerichtsprozesses hin. Mr. Woodcourt hörte mit Interesse zu und gab seinem Bedauern lebhaft Ausdruck.

»Ich bemerkte schon vorhin, daß Sie ihn genau beobachteten«, sagte ich. »Halten Sie ihn für sehr verändert?«

»Er hat sich allerdings verändert«, gab Mr. Woodcourt, traurig den Kopf schüttelnd, zur Antwort.

– Ich fühlte zum ersten Mal, wie mir das Blut ins Gesicht schoß, aber es war nur ein Augenblick. Ich wendete mein Gesicht ab, und es war wieder vorüber. –

»Nicht etwa, daß er älter, magerer oder dicker, blässer oder röter aussähe, aber sein Gesicht hat einen so eigentümlichen Ausdruck. Bei einem so jungen Menschen ist das um so merkwürdiger und mir bisher noch nie vorgekommen. Man kann nicht sagen, daß es bloß Sorge oder bloß Abspannung sei, und doch ist es beides und sieht einer aufkeimenden Verzweiflung sehr ähnlich.«

»Also Sie glauben nicht, daß er krank ist?«

»Nein. Körperlich sieht er sehr kräftig aus.«

»Daß er zu keinem innern Frieden kommen kann, haben wir Grund genug zu wissen«, fuhr ich fort. »Mr. Woodcourt, Sie gehen nach London?«

»Morgen oder übermorgen.«

»Nichts fehlt Richard so sehr wie ein Freund, Mr. Woodcourt. Er hat Sie immer gern gehabt. Bitte, bitte, besuchen Sie ihn doch, wenn Sie nach London kommen, unterstützen Sie ihn manchmal mit Ihrem Rat, wenn Sie können. Sie wissen gar nicht, welchen Freundschaftsdienst Sie ihm damit erweisen würden. Sie können sich gar nicht denken, wie Ada und Mr. Jarndyce und auch ich – wie sehr wir Ihnen alle dafür dankbar sein würden, Mr. Woodcourt!«

»Miß Summerson«, sagte er mit größerer Bewegung, als er bisher gezeigt hatte, »beim Himmel, ich will ihm ein wahrer Freund sein. Ich will ihn als ein mir anvertrautes Pfand betrachten, und es soll mir heilig sein.«

»Gott segne Sie«, sagte ich, und meine Augen füllten sich mit Tränen; aber ich schämte mich ihrer nicht, da ich ja nicht meinetwegen weinte. »Ada liebt ihn – wir alle lieben ihn –, aber Ada liebt ihn, wie wir es nicht können. Ich will ihr mitteilen, was Sie gesagt haben. Ich danke Ihnen, und Gott segne Sie in ihrem Namen.«

Richard kehrte zurück, kaum daß wir diese hastigen Worte mit einander gesprochen hatten, und reichte mir den Arm, um mich zur Kutsche zu führen.

»Woodcourt«, sagte er, ohne zu ahnen, wie gut es zu dem paßte, was wir eben besprochen hatten, »wir sehen uns doch in London?«

»Sehen? Ich habe jetzt kaum einen andern Bekannten dort als Sie. Wo kann ich Sie dort treffen?«

»Ich muß mich natürlich nach einer Wohnung umsehen«, sagte Richard nachdenklich. »Sagen wir bei Vholes, Symond’s-Inn.«

»Also gut! Spätestens übermorgen.«

Sie schüttelten sich herzlich die Hände, und als ich in der Kutsche saß und Richard noch auf der Straße stand, legte Mr. Woodcourt wie freundschaftlich die Hand auf seine Schulter und sah mich dabei an. Ich verstand ihn. In seinem letzten Blick, als wir fort fuhren, las ich, wie sehr ich ihm leid tat. Ich freute mich darüber.

Ich fühlte für mein ehemaliges Ich, wie vielleicht die Toten fühlen mögen, wenn sie diese Erde wieder besuchen.

38. Kapitel


38. Kapitel

Ein Seelenkampf

Als die Zeit unsrer Rückkehr nach Bleakhaus gekommen war, hielten wir pünktlich den Tag ein und wurden mit einem überwältigenden Willkommen empfangen. Ich fühlte mich vollständig wiederhergestellt, und als ich meine Wirtschaftsschlüssel in meinem Zimmer bereitliegen fand, läutete ich mich ein mit lustigem Geklingel wie das neue Jahr. »Jetzt wieder Pflicht, Pflicht, Esther«, sagte ich zu mir. »Und wenn du nicht überfroh bist, sie in allen und jeden Verhältnissen heiter und zufrieden erfüllen zu können, so solltest du es doch sein. Weiter habe ich dir nichts zu sagen, meine Liebe.«

Die ersten paar Vormittage waren so mit Geschäften aller Art, dem Abschließen von Rechnungen, Hin- und Herlaufen zwischen Brummstübchen und allen andern Teilen des Hauses, mit so vielem Umpacken von Schränken und Kästen und einem so allgemeinen Wiedervonvornanfangen ausgefüllt, daß ich keine Minute freie Zeit hatte.

Erst als ich damit fertig und alles in Ordnung war, machte ich einen kurzen Besuch von einigen Stunden in London, wozu mich eine in dem in Chesney Wold vernichteten Briefe enthalten gewesene Äußerung bestimmte.

Ich schützte einen Besuch bei Caddy Jellyby – ihr Mädchenname war mir so zur Gewohnheit geworden, daß ich sie stets so nannte – vor und schrieb ihr ein Billett, mit der Bitte, sie möge mich auf einem kleinen Geschäftsweg begleiten. Ich brach sehr früh am Morgen auf und kam mit der Landkutsche so zeitig nach London, daß ich den ganzen Tag noch vor mir hatte, als ich nach Newmanstreet ging.

Caddy, die mich seit ihrem Hochzeitstag nicht mehr gesehen hatte, freute sich so und war so zärtlich zu mir, daß ich fast schon fürchtete, es würde ihren Mann eifersüchtig machen. Aber er benahm sich ebenso schlimm – ich meine, ebenso liebenswürdig… Kurz, es war die alte Geschichte, die alte Verschwörung, mir Liebes zu erweisen.

Der alte Mr. Turveydrop lag noch im Bett, wie ich hörte, und Caddy kochte seine Schokolade, die ihm dann ein melancholisch aussehender kleiner Junge, ein Lehrling – es war so sonderbar, ein Tanzlehrling zu sein –, hinauftragen sollte.

Ihr Schwiegervater sei ausnehmend gütig und nachsichtig, sagte mir Caddy, und sie lebten sehr glücklich zusammen. Wenn sie von einem Zusammenleben sprach, verstand sie darunter, daß der alte Herr allen Komfort und alle besseren Zimmer für sich hatte, während sie und ihr Gatte mit dem vorlieb nahmen, was übrig blieb, und in zwei Eckstuben über dem Marstall eingepfercht hausten.

»Was macht deine Mutter, Caddy?« fragte ich.

»Ich höre bloß von ihr durch Papa, liebe Esther, bekomme sie aber wenig zu Gesicht. Es freut mich, sagen zu können, daß wir gut miteinander auskommen, aber sie hält es immer noch für eine Albernheit, daß ich einen Tanzmeister geheiratet habe, und scheint fast zu fürchten, dieser Einfluß könne sich auch auf sie erstrecken und sie anstecken.«

Ich dachte mir, wenn Mrs. Jellyby ihren eignen natürlichen Verpflichtungen und Obliegenheiten nachgekommen wäre, anstatt am fernen Horizont mit einem Teleskop nach andern weit abliegenden zu suchen, würde sie sich am besten vor einer Ansteckung durch Albernheit geschützt haben. Aber selbstverständlich behielt ich diese Ansicht für mich.

»Und dein Papa, Caddy?«

»Er kommt jeden Abend zu uns und sitzt so friedlich dort in der Ecke, daß es eine wahre Lust ist, ihn zu sehen.«

Ein Blick in die Ecke zeigte mir deutlich die Spur von Mr. Jellybys Kopf an der Wand. Es war ein Trost, zu wissen, daß er einen solchen Ruheplatz dafür gefunden hatte.

»Und du, Caddy«, sagte ich, »bist gewiß immer beschäftigt, möchte ich wetten.«

»Allerdings bin ich das, meine Liebe, denn um dir ein großes Geheimnis zu verraten, ich bereite mich vor, selbst Unterricht zu geben. Princes Gesundheit ist nicht allzu gut, und ich möchte ihm gerne helfen. Mit dem Unterricht hier und den Privatschülern und Lehrlingen hat der arme Kerl wahrhaftig mehr als zuviel zu tun.«

Ich konnte mir noch immer nicht recht vorstellen, was eigentlich ein Tanzlehrling sei, und fragte Caddy, ob sie denn so viele hätten.

»Vier«, erklärte mir Caddy. »Einen hier und drei außer dem Hause. Es sind sehr gute Jungen, aber sie können es nicht lassen, zu spielen, ganz wie Kinder, wenn sie zusammenkommen, anstatt sich um den Beruf zu kümmern. Deshalb tanzt der kleine Junge, den du soeben gesehen hast, jetzt in der leeren Küche Walzer, und die andern verteilen wir im Hause, so gut es eben geht.«

»Natürlich nur, um die Tanzschritte zu lernen?« fragte ich.

»Nur um die Tanzschritte zu lernen. Auf diese Art üben sie sich viele Stunden hintereinander in den Pas. Sie tanzen in der Akademie, und in dieser Jahreszeit üben wir die Touren täglich von fünf Uhr früh an.«

»Was für ein mühseliges Leben!« rief ich aus.

»Ich versichere dir, meine Liebe«, entgegnete Caddy lächelnd, »wenn die außer Haus wohnenden Lehrlinge uns des Morgens aufklingeln – die Klingel führt in unser Zimmer, um den alten Mr. Turveydrop nicht zu stören – und ich das Fenster in die Höhe schiebe und sie mit ihren kleinen Tanzschuhen unter dem Arm auf der Torschwelle stehen sehe, kommen sie mir manchmal wie Rauchfangkehrerzwerge vor.«

Das alles stellte mir die Kunst in einem eigentümlichen Lichte dar. Caddy schwelgte in ihren Mitteilungen und malte mir heiter die Einzelheiten ihres eignen Studiums aus.

»Siehst du, meine Liebe, damit wir Geld sparen, muß ich ein wenig Piano spielen können und auch ein bißchen Violine. Daher muß ich mich auf diesen beiden Instrumenten üben, ohne dabei unser Spezialfach vernachlässigen zu dürfen. Wenn mich Ma nur halbwegs vernünftig erzogen hätte, wäre ich wenigstens ein klein wenig musikalisch geschult gewesen. So aber war der Anfang ein bißchen entmutigend, muß ich gestehen, aber ich habe ein recht gutes Gehör und bin an Plackerei gewöhnt – dafür wenigstens muß ich Ma dankbar sein –, und wo der Wille gut ist, gibt es auch überall in der Welt einen Weg. Das weißt du ja selbst, Esther.«

Mit diesen Worten setzte sich Caddy an einen kleinen Klimperkasten und rasselte wirklich fehlerlos und mit großer Lebendigkeit eine Quadrille herunter. Fröhlich und errötend stand sie dann wieder auf und sagte: »Bitte, liebe Esther, lach mich nicht aus.«

Ich hätte lieber weinen mögen, tat aber keins von beiden. Ich sprach ihr Mut zu und lobte sie von ganzem Herzen. Ich begriff, daß sie, wenn auch nur die Frau eines Tanzmeisters und in ihrem bescheidnen Ehrgeiz bestrebt, nur eine Tanzlehrerin zu werden, doch aus Liebe ein natürliches und gesundes Betätigungsfeld für ihren Fleiß und ihre Ausdauer gefunden hatte, das ebenso gut war wie eine Mission.

»Liebe Esther, du kannst dir gar nicht denken, wieviel Mut mir dein Beispiel immer gibt«, sagte Caddy fröhlich. »Ich verdanke dir, du weißt gar nicht, wieviel. Was hat sich alles in meiner kleinen Welt geändert. Erinnerst du dich noch jenes Abends, wo ich so unhöflich und tintenbekleckst war? Wer hätte damals an die Möglichkeit gedacht, daß ich Tanzunterricht erteilen würde.«

Ihr Gatte, der uns während dieser Plauderei allein gelassen hatte, kehrte jetzt zurück, bevor er die Stunde für die Lehrlinge im Tanzsaal anfing, und Caddy sagte mir, sie stünde jetzt ganz zu meiner Verfügung. Aber meine Zeit war noch nicht gekommen, wie ich ihr zu meiner Freude sagen konnte, denn es hätte mich geschmerzt, sie jetzt zu entführen. Deshalb gingen wir alle drei zu den Lehrlingen, und ich nahm mit an der Tanzstunde teil.

Die Lehrlinge waren ein wunderliches kleines Volk. Außer dem melancholisch aussehenden Jungen, den, wie ich hoffte, nicht das Alleintanzen in der Küche so trübe gestimmt hatte, waren noch zwei andre Knaben und ein schmutziges, schlampig angezognes kleines Mädchen in einem Gazekleid da. Die kleinen Jungen zogen, wenn sie nicht gerade tanzten, allerhand Bindfaden, Marmeln und Hühnerknochen aus der Tasche, hatten so schmutzige Beine und Füße wie nur möglich und schiefgetretne Absätze. Das frühreife kleine Mädchen trug einen großen altväterischen Gazehut und hatte ihre Tanzschuhe in einem alten abgenutzten Samtstrickbeutel mitgebracht. Ich fragte Caddy, was denn die Eltern der Kleinen veranlaßt habe, ihre Kinder zu einem solchen Gewerbe zu bestimmen. Caddy wußte es nicht und meinte, sie sollten später wahrscheinlich selbst Unterricht geben oder vielleicht im Theater auftreten. Die Eltern seien durchwegs unbemittelte Leute und die Mutter des melancholisch aussehenden Jungen verkaufe Ingwerbier.

Wir tanzten eine Stunde lang mit großem Ernst, und das melancholische Kind verrichtete Wunder mit seinen unteren Extremitäten. Die Tanzbegeisterung schien ihm aber nie über die Hüfte hinaufzusteigen.

Caddy beobachtete unablässig ihren Gatten und hatte sich eine natürliche Anmut und Unbefangenheit angeeignet, die in Verbindung mit ihrem hübschen Gesicht und ihrer schlanken Gestalt sie ungemein anziehend erscheinen ließen. Sie half ihm bereits im Unterrichten der Kinder, und er mischte sich selten ein, außer um seinen Teil bei den Touren zu tanzen, oder wenn er etwas Besonderes vormachen mußte. Er spielte immer die Melodie. Die Geziertheit des in Gaze gekleideten Mädchens und ihre Herablassung gegenüber den Jungen war ein Anblick für Götter. – So tanzten wir also eine geschlagne Stunde lang.

Als die Übungen vorüber waren, machte sich Caddys Gatte fertig, um außerhalb der Stadt in einer Schule Lektionen zu geben, und Caddy lief fort und zog sich an, um mit mir auszugehen.

Ich blieb unterdessen in dem Tanzsaal sitzen und betrachtete mir die Lehrlinge. Die beiden außer dem Hause wohnenden Knaben gingen die Treppe hinauf, um ihre Schuhe zu wechseln und den hier wohnenden Jungen an den Haaren zu beuteln, wie ich aus seinen lauten Einwendungen schloß. Als sie dann mit zugeknöpften Jacken und darunter gesteckten Tanzschuhen wieder zurückkamen, zogen sie aus ihren Taschen Brot und Fleischschnitten und biwakierten unter einer bemalten Lyra an der Wand. Das kleine gazebekleidete Mädchen paßte, nachdem sie ihre Sandalen in den Strickbeutel geschoben und ein Paar schiefgetretne Schuhe angezogen hatte, ihren Kopf mit einem einmaligen wilden Schütteln unter ihren großen Hut und gab mir auf meine Frage, ob sie gern tanze, zur Antwort: »Mit Jungen nicht!« band sich ihre Hutbänder unter dem Kinn fest und ging voll Verachtung nach Hause.

»Der alte Mr. Turveydrop bedauert unendlich«, sagte Caddy, als sie wiederkam, »noch nicht mit Ankleiden fertig zu sein und nicht das Vergnügen haben zu können, dich zu sehen, ehe wir gehen. Du bist nämlich sein Liebling, Esther.«

Ich versicherte, daß ich ihm sehr verbunden sei, hielt es aber nicht für notwendig, hinzuzusetzen, daß ich seinen Aufmerksamkeiten gern entsagte.

»Das Ankleiden kostet ihn viel Zeit«, sagte Caddy, »denn wie du weißt, ist er in solchen Dingen Autorität und hat seinen Ruf zu wahren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie freundlich er zu Papa ist. Er erzählt ihm immer abends von dem Prinzregenten, und ich habe noch nie Pa so interessiert zuhören sehen.«

Mr. Turveydrop seine Allüren vor Mr. Jellyby entfalten zu sehen, war ein Bild, das meine Phantasie mächtig reizte. Ich fragte Caddy, ob es ihm gelänge, ihren Vater gesprächig zu stimmen.

»Nein«, sagte Caddy. »Das könnte ich gerade nicht behaupten, aber er spricht mit Pa, und Pa bewundert ihn, hört zu und freut sich. Ich weiß natürlich, daß Papa keine Ansprüche auf vornehme Allüren machen kann, aber sie kommen vortrefflich miteinander aus. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut sie einander Gesellschaft leisten. Ich habe Papa vorher nie schnupfen sehen, aber jetzt nimmt er regelmäßig aus Mr. Turveydrops Dose eine Prise an und riecht den ganzen Abend daran, ohne sie ein einziges Mal zu schnupfen.«

Daß der alte Mr. Turveydrop in den Wechselfällen und Wandlungen des Lebens jemals dazu bestimmt gewesen war, Mr. Jellyby von Borriobula-Gha zu erlösen, erschien mir als eine der komischsten Schicksalsmerkwürdigkeiten.

»Was Peepy betrifft«, fuhr Caddy ein wenig zögernd fort, »von dem ich am meisten fürchtete – vielleicht von eignen Kindern abgesehen, Esther –, daß er Mr. Turveydrop lästig fallen würde, so übersteigt die Freundlichkeit des alten Herrn gegen den Jungen alle Grenzen. Er fragt nach ihm, meine Liebe! Er läßt sich von ihm die Zeitung ins Bett bringen, gibt ihm die Rinde von seinem Zwieback zu essen und schickt ihn mit kleinen Botschaften im Hause herum! Und ich muß ihm Sixpences schenken. Kurz«, sagte Caddy, »ich bin unendlich glücklich und muß wahrhaft sehr dankbar sein. Wohin gehen wir eigentlich, Esther?«

»Nach Oldstreet-Road. Ich habe dort ein paar Worte mit dem Advokatenschreiber zu sprechen, der mich an dem Tag, als ich in London ankam und dich das erste Mal sah, meine Liebe, an der Landkutsche abholte. Übrigens jetzt fällt mir ein, er brachte uns ja nach deiner Wohnung.«

»So? Dann bin ich ja sozusagen deine vom Schicksal bestimmte Begleiterin«, entgegnete Caddy.

Wir gingen nach Oldstreet-Road und fragten nach Mr. Guppy in seiner Wohnung. Mrs. Guppy, die im Erdgeschoß wohnte und eben Gefahr lief, wie eine Nuß zwischen der Tür des vorderen Wohnzimmers aufgeknackt zu werden, da sie verstohlen herauslugte, erschien, noch ehe wir nach ihr fragen konnten, und lud uns zum Eintreten ein.

Sie war eine alte Dame mit einer großen Mütze, einer etwas roten Nase und einem unsicheren Auge, aber über und über Lächeln. Ihr kleines Wohnstübchen war für einen Besuch hergerichtet, denn ich hatte ihr von Bleakhaus aus geschrieben, und es hing darin ein Porträt ihres Sohnes, das noch viel ähnlicher war als das Original selbst.

Aber nicht nur das Porträt war da, sondern auch das Original.

Es war in vielerlei Farben gekleidet, saß an einem Tisch und las Akten, wobei es von Zeit zu Zeit nachdenklich den Zeigefinger an die Stirn legte.

»Miß Summerson«, begrüßte es mich und stand auf, »das ist in der Tat eine Oase. Mutter, möchtest du so gut sein, der andern Dame einen Stuhl zu geben und uns dann nicht weiter zu stören.«

Mrs. Guppy, deren beständiges Lächeln ihr einen fast schalkhaften Ausdruck verlieh, tat, wie ihr Sohn sie geheißen, und setzte sich dann in eine Ecke und drückte ihr Taschentuch wie einen warmen Umschlag mit beiden Händen an ihre Brust.

Ich stellte Caddy vor, und Mr. Guppy sagte, eine Freundin von mir sei stets mehr als willkommen. Dann fing ich von dem Zweck meines Besuchs an.

»Ich nahm mir die Freiheit, Ihnen einen Brief zu schreiben.«

Mr. Guppy bekannte sich damit zu seinem Empfang, daß er ihn aus seiner Brusttasche zog, an die Lippen drückte und mit einer Verbeugung wieder in die Tasche steckte. Das ergötzte Mr. Guppys Mutter derart, daß sie lächelnd mit dem Kopf wackelte und Caddy mit dem Ellbogen einen bedeutsamen Stoß gab.

»Könnte ich mit Ihnen einen Augenblick allein sprechen?« fragte ich.

Etwas, das der Lustigkeit von Mr. Guppys Mutter in diesem Augenblick gleichgekommen wäre, habe ich nie wieder gesehen. Sie lachte geräuschlos, wackelte mit dem Kopf, schüttelte ihn, hielt sich das Taschentuch vor den Mund und stieß auf Caddy mit dem Ellbogen, der Hand und der Schulter ein und war überhaupt so unbeschreiblich aufgeregt, daß Caddy sie kaum durch die kleine Flügeltür in das anstoßende Schlafzimmer bugsieren konnte.

»Miß Summerson«, sagte Mr. Guppy, »Sie müssen die Lebhaftigkeit einer immer an das Glück ihres Sohnes denkenden Mutter entschuldigen. Wenn auch meine Mutter einen nervös macht, so handelt sie doch immer aus mütterlichen Gefühlen heraus.«

Ich hätte kaum geglaubt, daß jemand in einem Augenblick so rot werden oder sich so verändern könnte wie Mr. Guppy, als ich jetzt plötzlich den Schleier emporschlug.

»Ich bat Sie um die Gefälligkeit, mit Ihnen ein paar Augenblicke lieber hier als bei Mr. Kenge sprechen zu dürfen«, begann ich, »um Sie nicht am Ende in Ungelegenheiten zu bringen, Mr. Guppy.«

– Ich hatte ihn schon so verlegen genug gemacht, aber sein Stammeln, seine Verwirrung und seine Angst waren jetzt unbeschreiblich. –

»Miß Summerson«, stotterte er, »ich – ich – ich – bitte um Verzeihung, aber in unsrer Branche – finden – wir es notwendig, uns – uns stets deutlich auszusprechen. Sie spielen auf eine Gelegenheit an, Miß, wo ich – wo ich mir die Ehre nahm, einen Antrag zu machen, der…«

Es schien ihn etwas im Halse zu würgen, was er nicht hinunterschlingen konnte. Er legte die Hand auf die Kehle, hustete, schnitt Gesichter, versuchte abermals, es hinunterzuschlingen, hustete wieder, schnitt wieder Gesichter, sah sich rings im Zimmer um und kramte verlegen in seinen Papieren.

»Ich habe eine Art Schwindelanfall, Miß, der mich ein wenig aus der Fassung bringt«, erklärte er mir. »Ich-äh-bin solchen Anfällen zuweilen unterworfen – äh – bei Gott.«

Ich ließ ihm einige Zeit zur Erholung. Er legte dabei die Hand an die Stirn, nahm sie wieder weg und rutschte mit seinem Stuhl in die hinter ihm befindliche Ecke.

»Ich wollte nur bemerken, Miß«, sagte er, »mein Gott – irgend etwas mit den Bronchien, glaube ich – hem –, wollte nur bemerken, daß Sie damals so gütig waren, meinen Antrag nicht anzunehmen, besser gesagt, zurückzuweisen. Sie – Sie werden das gewiß zugeben ? Wenn auch keine Zeugen anwesend sind, könnte es vielleicht eine Beruhigung sein – für – Ihr Gewissen –, wenn Sie – das zugeben wollten.«

»Daran kann doch gar kein Zweifel sein, daß ich Ihren Antrag ohne allen Vorbehalt und ohne alle Nebenbedingungen dankend ablehnte, Mr. Guppy.«

»Ich danke Ihnen, Miß«, entgegnete er und maß geistesabwesend den Tisch mit seinen unruhigen I landen ab. »Soweit wäre das zufriedenstellend und macht Ihnen Ehre. Ah – sicher die Bronchien –, muß in der Luftröhre sein – äh –, Sie würden es vielleicht nicht übel aufnehmen, wenn ich erwähne – nicht, daß es notwendig wäre, denn Ihr eigner oder jedermanns gesunder Menschenverstand muß Ihnen das sagen –, wenn ich bemerke, daß dieser Antrag von meiner Seite mein letzter war und die Sache ganz und gar abgemacht ist?«

»Das sehe ich vollkommen ein«, sagte ich.

»Vielleicht – äh – ist es solche Umständlichkeit nicht wert, aber es könnte doch eine Beruhigung für Sie selbst sein… Vielleicht würden Sie nichts dagegen haben, das zuzugeben, Miß?«

»Ich gebe das vollkommen und freiwillig zu.«

»Ich danke Ihnen. Höchst ehrenwert, muß ich sagen, Miß Summerson. Ich bedauere, daß meine Lebenspläne – und Verhältnisse, über die ich keine Macht habe – mich außerstand setzen, jemals auf diesen Antrag zurückzukommen oder ihn in irgendeiner Form zu erneuern, aber er wird stets eine Erinnerung sein, die – äh – die Palme der Freundschaft in der Hand trägt.«

Die Bronchitis kam hier Mr. Guppy zu Hilfe und unterbrach ihn im Abmessen des Tisches.

»Ich darf jetzt vielleicht auf das kommen, was ich Ihnen zu sagen wünschte«, fing ich an.

»Es wird mir eine große Ehre sein«, sagte Mr. Guppy. »Ich bin so fest überzeugt, daß Ihr richtiges Gefühl und Ihre gesunde Lebensauffassung, Miß, alles in dem rechten Lichte sehen werden, daß ich jedenfalls nur mit Vergnügen allem, was Sie mir zu sagen haben, zuhören kann.«

»Sie waren so gütig, damals anzudeuten…«

»Entschuldigen Sie, Miß«, unterbrach mich Mr. Guppy, »aber es ist besser, unsern vorgesteckten Weg nicht aus dem Auge zu verlieren und uns nicht auf Andeutungen einzulassen. Ich kann nicht zugestehen, daß ich etwas angedeutet hätte.«

»Sie sagten bei jener Gelegenheit«, fing ich wieder von neuem an, »daß Sie möglicherweise die Mittel haben könnten, durch gewisse mich betreffende Entdeckungen meine Interessen zu fördern. Ich vermute, daß Sie diese Annahme darauf gründeten, daß Sie wußten, ich sei eine Waise, die der Wohltätigkeit Mr. Jarndyces alles verdankt. Das Um und Auf alles dessen, was ich Ihnen hier sagen möchte, ist nun, daß ich Sie bitte, Mr. Guppy, die Güte zu haben, jeden Gedanken, mir auf diese Weise gefällig sein zu wollen, aufzugeben. Ich habe oft darüber nachgedacht, und am meisten während meiner Krankheit. Ich habe mich schließlich entschlossen, im Falle Sie zu irgendeiner Zeit wieder diesen Plan aufgreifen und an seiner Ausführung arbeiten sollten, zu Ihnen zu kommen und Ihnen zu versichern, daß Sie sich in jeder Hinsicht im Irrtum befinden. Sie könnten keine Entdeckungen in bezug auf mich machen, die mir den kleinsten Dienst leisten oder das geringste Vergnügen bereiten würden. Ich kenne meine eigne Lebensgeschichte und bin imstande, Ihnen zu versichern, daß Sie mein Wohlergehn durch solche Mittel auf keine Weise fördern können. Sie haben nun vielleicht den Plan längst aufgegeben. Wenn das der Fall ist, bitte ich, zu entschuldigen, daß ich Sie aufgehalten habe. Wenn es nicht der Fall ist, so ersuche ich Sie, aufgrund der Versicherung, die ich Ihnen soeben gegeben habe, solche Pläne von nun an gänzlich fallen zu lassen. Ich bitte Sie, dies um meines Friedens willen zu tun.«

»Ich fühle mich verpflichtet zu gestehen, Miß«, sagte Mr. Guppy, »daß Sie sich mit dem richtigen Gefühl, das ich Ihnen zutraute, ausdrücken. Nichts kann befriedigender sein als ein solch richtiges Gefühl, und wenn ich soeben hinsichtlich Ihrer Absichten im Irrtum war, so bin ich bereit, Sie aufs tiefste um Verzeihung zu bitten. Ich möchte damit sagen, Miß, daß ich hiermit in aller Form um Verzeihung bitte.«

Mr. Guppys anfangs so gedrücktes Wesen wurde jetzt wesentlich freier. Er schien aufrichtig erfreut zu sein, mir einen Gefallen tun zu können, und man sah ihm an, daß er sich wirklich schämte.

»Wenn Sie mir gestatten möchten, das, was ich Ihnen zu sagen habe, ohne Unterbrechung zu beenden, damit ich nicht Veranlassung habe, noch einmal darauf zurückkommen zu müssen«, fuhr ich fort, da ich sah, daß er eine längere Rede halten wollte, »würden Sie mir damit eine Freundlichkeit erweisen, Sir. Ich komme so privatim wie möglich zu Ihnen, weil Sie mir Ihre damalige Mitteilung als vertraulich bezeichneten und ich wirklich stets gewünscht habe, Ihr Vertrauen zu respektieren, und es auch nie verletzt habe, wie Sie wissen. Ich habe meine Krankheit erwähnt. Es ist wirklich kein Grund vorhanden, warum ich anstehen sollte, zu sagen, daß jede kleine Delikatesse, die mich hätte abhalten können, Sie um etwas zu ersuchen, jetzt, wie ich recht gut weiß, ganz wegfällt. Deshalb sagte ich Ihnen offen, um was ich Sie bitte, und hoffe, Sie werden rücksichtsvoll genug gegen mich sein, mir meinen Wunsch nicht abzuschlagen.«

Ich muß Mr. Guppy Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er sah sehr beschämt aus, als er jetzt mit feuerrotem Gesicht zur Antwort gab:

»Bei meinem Wort und meiner Ehre, bei meinem Leben, bei meiner Seele, Miß Summerson, so wahr ich lebendig vor Ihnen stehe, ich will Ihrem Wunsch nachkommen. Ich will nie wieder einen Schritt in der erwähnten Angelegenheit tun und mich eidlich dazu verpflichten, wenn Sie das beruhigen sollte. Bezugnehmend auf mein gegenwärtiges Versprechen«, fuhr er zungenfertig fort, als wiederhole er eine ihm vertraut gewordne juristische Formel, »bekräftige ich, daß ich die Wahrheit spreche, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so…«

»Ich bin vollständig zufrieden«, sagte ich und stand auf. »Ich danke Ihnen recht sehr. – Liebe Caddy, ich bin bereit.«

Mr. Guppys Mutter kam mit Caddy wieder herein – sie richtete ihr geräuschloses Lachen und ihre Ellbogenstöße jetzt an mich –, und wir verabschiedeten uns. Mr. Guppy sah uns mit der Miene eines Mannes, der entweder nicht ganz wach ist oder schlafwandelt, nach, und wir ließen ihn an der Tür stehen.

Eine Minute später kam er uns jedoch ohne Hut und mit fliegenden Haaren nachgelaufen, hielt uns an und sagte mit Wärme:

»Miß Summerson, auf Ehre und Seligkeit, Sie können sich auf mich verlassen.«

»Das tue ich auch mit der größten Zuversicht.«

»Ich bitte um Verzeihung, Miß«, fuhr er fort und ging langsam und zögernd neben uns her. »Aber da diese Dame dabei ist, ihre eigne Zeugin, und ich Sie wirklich ganz beruhigt zu sehen wünsche, so wäre es vielleicht gut, wenn Sie Ihr Zugeständnis von vorhin wiederholen wollten.«

»Caddy«, sagte ich und wendete mich an meine Freundin. »Du wirst dich wahrscheinlich nicht besonders wundern, wenn ich dir sage, daß niemals eine Verlobung -«

»– kein Eheversprechen irgendeiner Art«, verbesserte Mr. Guppy.

»–- kein Eheversprechen irgendeiner Art zwischen diesem Herrn…«

»William Guppy von Penton-Place, Pentonville in der Grafschaft Middlessex«, murmelte er.

»– zwischen diesem Herrn, Mr. William Guppy von Penton-Place, Pentonville in der Grafschaft Middlessex, und mir vereinbart wurde.«

»Ich danke Ihnen, Miß. Das genügt. – Äh –, entschuldigen Sie… Den Namen der Dame, Vor- und Zuname?«

Ich nannte sie ihm.

»Verheiratet?«

»Verheiratet.«

»Ich danke Ihnen.«

»Geborne Miß Karoline Jellyby von Thavies-Inn, London City, zu keinem Kirchspiel gehörig, jetzt wohnhaft in Newmanstreet, Oxfordstreet. Sehr verbunden.«

Er lief nach Hause und kam wieder zurück.

»Was die Angelegenheit betrifft, möchte ich noch sagen, so tut es mir wirklich und – wahrhaftig sehr leid, daß Lebenspläne sowie Verhältnisse, die sich meinem Machtbereich entziehen, eine Erneuerung meines Antrages, der schon damals zurückgewiesen wurde, ausschließen«, sagte Mr. Guppy traurig und niedergeschlagen zu mir. »Aber es ist nicht möglich. Ich frage Sie selbst, wäre es möglich?«

Ich gab zur Antwort, daß es gewiß nicht möglich wäre. Die Sache sei über jeden Zweifel erhaben. Er dankte mir, eilte wieder zu seiner Mutter und kehrte noch einmal um.

»Es ist wirklich sehr ehrenhaft von Ihnen, Miß. Wäre es möglich, einen Altar unter den Palmen der Freundschaft zu errichten, so… Aber, meiner Seel, Sie können sich auf mich in jeder Hinsicht verlassen – Herzensbeziehungen ausgenommen.«

Die Kämpfe in Mr. Guppys Brust und die zahlreichen Schwankungen, die sie zwischen seiner Mutter Haustür und uns in ihm hervorriefen, traten in der windigen Straße, zumal sein Haar dringend des Schermessers bedurfte, so auffällig zutage, daß wir uns nach Möglichkeit beeilten, fortzukommen. Ich tat es mit erleichtertem Herzen, und als wir uns in der Ferne noch einmal umsahen, schien Mr. Guppy immer noch nicht ganz beruhigt zu sein.

39. Kapitel


39. Kapitel

Advokat und Klient

Der Name »Mr. Vholes« unter der Überschrift »Parterre« ist an einem Türpfeiler von Symond’s-Inn in Chancery-Lane zu lesen. Es ist ein kleines, blasses, halbblindes, gramgebeugtes Inn und sieht wie ein großer Aschenkasten mit zwei Fächern und einem Sieb aus. Vielleicht ist Symond seinerzeit ein sparsamer Mann gewesen und hat sein altes Inn aus Baumaterialien errichtet, die eine Vorliebe für Schwamm, Schmutz und andre modrige faule Sachen hatten und jetzt Symonds Gedächtnis mit seelenverwandter Schäbigkeit bewahren. In die Tafelquadrate dieses verrosteten Erinnerungsschildes an Symond ist jetzt auch das juristische Wappen Mr. Vholes aufgenommen.

Mr. Vholes‘ Kanzlei, zurückgezogen gelegen und von ebensolchem Aussehen, ist in eine Ecke gequetscht und schielt eine kahle Mauer an. Drei Fuß astlöcherdurchflochtne Dielen bringen den Klienten durch einen finstern Gang nach Mr. Vholes‘ pechschwarzer Tür in einer selbst an den hellsten Sommermorgen stockfinstern Ecke mit einem dunkeln Vorbau an einer Kellertreppe, gegen den Klienten, wenn sie in Eile sind, meistens mit dem Kopf anzurennen pflegen.

Mr. Vholes‘ Kanzleizimmer sind so klein bemessen, daß ein Schreiber die Tür öffnen kann, ohne vom Stuhl hinunterzusteigen, und sein Nachbar an demselben Pult in gleicher Weise das Feuer zu schüren imstande ist. Ein Geruch wie von kranken Schafen, vermischt mit Moder- und Staubgeruch, liegt in der Luft und rührt von dem allabendlichen Verbrauch von Hammeltalg, in Form von Kerzen, und dem Hin- und Herschieben von Pergamentakten in schmierigen Schubladen her. Aber auch sonst ist die Luft dumpf und verdorben.

Die Zimmer sind seit Menschengedenken nicht mehr gemalt oder geweißt worden, die zwei Kamine rauchen, und alles ist mit einer lockeren Rußschicht überzogen. Die blinden zersprungnen Fenster in ihren plumpen Rahmen haben nichts als den Willen miteinander gemein, beständig schmutzig zu sein und immerwährend zuzufallen, wenn man sie nicht gewaltsam offen hält. Das erklärt auch das Phänomen, daß dem schwächeren der beiden Fenster gewöhnlich bei warmem Wetter ein Scheit Brennholz zwischen die Zähne gesteckt ist.

Mr. Vholes ist ein höchst respektabler Mann. Er hat kein großes Geschäft, aber er ist ein sehr respektabler Mann.

Die größeren Anwälte, die sich bereits ein bedeutendes Vermögen erworben haben oder noch erwerben, geben einstimmig zu, daß er ein sehr respektabler Mann sei. Er läßt nie eine Chance in seiner Praxis ungenützt vorübergehen, und das ist doch gewiß ein Zeichen von Respektabilität. Er leistet sich nie ein Vergnügen, und das ist schon wieder ein Zeichen von Respektabilität. Er ist schweigsam und ernst, und das ist abermals ein Zeichen von Respektabilität. Seine Verdauung hat gelitten, und das ist höchst respektabel. Er macht für seine drei Töchter Heu aus lebendigem Fleisch, und sein Vater im Tal von Taunton wird von ihm unterstützt.

Das erste Prinzip der englischen Justiz ist, für sich selbst Geschäfte zu machen. In all ihren engen verschlungenen Pfaden ist kein andres Prinzip so bestimmt, sicher und konsequent durchgeführt. Sieht man sie in diesem Lichte an, so wird sie sofort ein zusammenhängendes Ganzes und ist nicht mehr der maßlos verwirrte Knäuel, als den sie der Laie zu sehen pflegt. Wenn das Publikum nur ein einziges Mal klar erkennen wollte, daß das Hauptprinzip der Justiz ist, für sich selbst auf Unkosten der Parteien zu arbeiten, so würde es gewiß nicht mehr murren.

Aber die Laien sehen das eben nicht klar oder nur halb oder ungenau. Darum kommt ihnen Gemütsruhe und Geld abhanden, sie machen eine böse Miene zu dem lieblichen Spiel und murren. In solchen Fällen pflegt man ihnen die Respektabilität, deren sich auch Mr. Vholes erfreut, aufs nachdrücklichste vor Augen zu führen.

»Diesen Paragraphen abschaffen, bester Herr?« sagt zum Beispiel Mr. Kenge zu einem Klienten, dem übel mitgespielt wurde. »Abschaffen, werter Herr? Nie, solange ich etwas zu sagen habe. Stoßen Sie dieses Gesetz um, Sir, und was wird die Wirkung Ihres übereilten Vorgehens für eine Klasse von Anwälten sein, deren höchst ehrenwerter Repräsentant, erlaube ich mir, zu bemerken, der gegnerische Advokat, Mr. Vholes, ist? Sir, diese Klasse von Anwälten würde von der Erde verschwinden! Nun können wir aber nicht – ich möchte sagen, das soziale System kann es nicht – eine Klasse von Männern wie Mr. Vholes missen. Eine Klasse, fleißig, ausdauernd, solid und mit großem geschäftlichem Scharfsinn ausgestattet! Werter Herr, ich kann mir Ihre persönlichen Empfindungen hinsichtlich der existierenden Zustände recht gut denken und gestehe, daß sie Sie im gegebnen Fall ein wenig hart treffen, aber für die Vernichtung einer Klasse von Männer wie Mr. Vholes würde ich meine Stimme nie abgeben.«

Man hat die Respektabilität eines Mr. Vholes sogar schon mit vernichtender Wirkung vor Parlamentskomitees angeführt, wie aus folgenden Protokollen eines hervorragenden Rechtsanwalts hervorgeht: Frage Numero 517869: Wenn ich Sie recht verstehe, wirken also diese Normen in der Praxis unzweifelhaft verzögernd?

Antwort: Ja, allerdings verzögernd.

Frage: Und ziehen große Kosten nach sich?

Antwort: Natürlich können sie nicht umsonst sein.

Frage: Und unsäglichen Ärger?

Antwort: Das möchte ich nicht behaupten. Mir haben sie nie Ärger verursacht, ganz im Gegenteil.

Frage: Aber Sie glauben, ihre Abschaffung würde einer ganzen Klasse von Anwälten schaden?

Antwort: Ich zweifle nicht daran.

Frage: Können Sie einen Typus dieser Klasse anführen?

Antwort: Ja. Ich würde ohne Besinnen Mr. Vholes nennen. Er würde zum Beispiel dadurch ruiniert sein.

Frage: Mr. Vholes gilt bei seinen Kollegen als respektabler Mann?

Antwort, die weiteren Fragen für die Dauer von mindestens zehn Jahren ein Ende macht: Mr. Vholes gilt bei seinen Kollegen sogar als außerordentlich respektabler Mann.

So äußern auch gelegentlich bei allgemeinen Unterhaltungen nicht weniger uneigennützige Privatautoritäten, daß sie nicht wissen, wohin die Zeit eigentlich hinauswolle. Immer wünsche sie etwas zu stürzen oder etwas Bestehendes auszureißen. Solche Veränderungen bedeuteten für manche Leute den Tod – für Vholes zum Beispiel, einen Mann von unzweifelhafter Ehrenhaftigkeit, mit einem Vater im Tal von Taunton und drei Töchtern zu Hause. Noch ein paar Schritte dem Abgrund zu, sagen sie, und was soll dann aus Mr. Vholes‘ Vater werden? Soll er zugrunde gehen? Und aus Vholes‘ Töchtern? Sollen sie vielleicht Nähterinnen oder Gouvernanten werden?

– Gerade als ob Mr. Vholes und seine Verwandten untergeordnete Menschenfresserhäuptlinge wären, und entrüstete Fürsprecher auf den allgemeinen Vorschlag, den Kannibalismus abzuschaffen, sagen wollten: Erkläret das Menschenfressen für ungesetzlich, und die Vholes müssen durch Eure Schuld verhungern. –

Kurz und gut, Mr. Vholes mit seinen drei Töchtern und seinem Vater im Tale von Taunton wird beständig wie ein Stück Balken, ein morsches Gebäude, das ein Stein des Anstoßes geworden ist, zu stützen, benutzt. Und bei vielen Leuten handelt es sich in den meisten Fällen nicht um Feststellung von Recht und Unrecht, sondern lediglich darum, ob es der ehrenwerten Legion von Menschen à la Vholes zum Schaden oder Nutzen gereicht.

Der Kanzler ist vor zehn Minuten aufgestanden, und die langen Gerichtsferien haben begonnen. Mr. Vholes, sein junger Klient und verschiedne in Eile vollgestopfte blaue Beutel, die dadurch jede regelmäßige Form verloren haben wie vollgefressne große Schlangen, sind in ihre Höhle zurückgekehrt. Mr. Vholes, gelassen und unbewegt, wie es einem Mann von solcher Respektabilität geziemt, zieht seine engen schwarzen Handschuhe aus, als zöge er die Haut von seinen Fingern, nimmt seine enge Kappe vom Kopf, als skalpiere er sich, und setzt sich an sein Pult. Der Klient wirft Hut und Handschuhe irgendwohin, wirft sich selbst halb seufzend, halb stöhnend in einen Stuhl, läßt die brennende Stirn auf die Hand sinken und sieht aus wie das Bild jugendlicher Verzweiflung.

»Abermals nichts geschehen«, sagt Richard. »Nichts, nichts geschehen!«

»Sagen Sie nicht, es sei nichts geschehen, Sir«, entgegnet Vholes gleichmütig. »Das ist kaum gerecht, Sir, kaum gerecht.«

»Nun, was ist denn also geschehen?« fragt Richard mit düsterer Miene.

»Die Frage ist vielleicht nicht richtig gestellt. Juristisch gefaßt, müßte sie vielleicht lauten: Was geschieht?«

»Und was geschieht also?« fragt der Klient mürrisch.

Vholes, die Ellbogen auf das Pult gestützt, paßt ruhig die fünf Finger seiner rechten Hand auf die fünf Spitzen der Finger seiner linken, entfernt sie ebenso ruhig voneinander, sieht seinen Klienten fest und gelassen an und antwortet:

»Sehr viel geschieht, Sir! Wir haben uns mit der Schulter gegen das Rad gestemmt, Mr. Carstone, und das Rad dreht sich!«

»Ja, und Ixion ist darauf festgebunden. Wie soll ich mir durch die nächsten vier oder fünf verwünschten Monate durchhelfen!« ruft der junge Mann aus und geht erregt im Zimmer auf und ab.

»Mr. C.«, gibt Vholes zur Antwort und beobachtet Richard gespannt. »Sie sind von aufbrausendem Temperament, und das tut mir Ihretwegen leid. Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Ihnen empfehle, nicht so heftig zu sein, sich nicht zu ärgern und innerlich so aufzureiben. Sie sollten mehr Geduld haben – sich stärker zeigen!«

»Mit einem Wort, ich sollte Sie nachahmen, Mr. Vholes!« Richard nimmt wieder mit ungeduldigem Lachen Platz und trommelt mit dem Absatz auf dem ungemusterten Teppich des Teufels Zapfenstreich.

»Sir«, entgegnet Vholes und sieht dabei seinen Klienten unentwegt an, als verzehre er ihn langsam mit seinen Augen und seinem trefflichen Advokatenappetit. »Sir«, entgegnet Vholes mit seiner Art, in sich hineinzusprechen, und seiner blutlosen Gelassenheit, »ich würde mir gewiß nicht anmaßen, mich Ihnen, oder wem immer, als ein Muster vorzustellen. Ich strebe nach nichts weiter, als meinen drei Töchtern einen guten Namen zu hinterlassen, und bin nicht selbstsüchtig. – Aber da Sie sich so deutlich ausdrücken, will ich zugeben, daß ich gern sähe, Sie hätten etwas von meiner – nun ja, Sir, Sie sind geneigt, es Empfindungslosigkeit zu nennen, und ich habe weiter nichts dagegen – etwas von meiner Empfindungslosigkeit… Ja, ja, ein wenig von meiner Empfindungslosigkeit.«

»Mr. Vholes«, entschuldigt sich der Klient etwas beschämt, »ich hatte durchaus nicht die Absicht, Sie der Empfindungslosigkeit zu zeihen.«

»Sie taten es, Sir, ganz unwissentlich. Sehr natürlich. Es ist meine Pflicht, bei Wahrung Ihrer Interessen einen kühlen Kopf zu behalten, und ich kann gar wohl begreifen, daß ich bei solchen Gelegenheiten wie der jetzigen Ihnen gefühllos erscheine. Meine Töchter kennen mich vielleicht besser. Mein alter Vater kennt mich vielleicht besser. Aber sie kennen mich viel länger als Sie, und das Auge der Liebe ist nicht das mißtrauische Auge des Prozessierenden. Nicht, daß ich beklagte, Sir, daß das Auge des Prozessierenden mißtrauisch ist, ganz im Gegenteil. Gerade weil ich Ihre Interessen wahre, wünsche ich, daß man mich in jeder Weise kontrolliert. Das ist ganz in Ordnung. Ich selbst fordere dazu auf, daß man mich kontrolliert. Ihre Interessen nun verlangen, daß ich kalt und methodisch bin, Mr. Carstone. Und ich kann nicht anders sein. Nein, Sir, selbst nicht Ihnen zu Gefallen!«

Mr. Vholes beobachtet eine Weile die geduldig vor einem Mausloch lauernde Kanzleikatze, richtet dann seinen Zauberblick wieder auf den jungen Klienten und fährt mit seiner zugeknöpften, kaum hörbaren Stimme, die klingt, als ob ein unreiner Geist in ihm wäre, der weder entfliehen noch mit der Sprache heraus wollte, fort.

»Sie fragen, was Sie während der Gerichtsferien tun sollen. Ich sollte doch glauben, daß die Herren von der Armee nicht um Mittel, sich zu zerstreuen, verlegen sind! Wenn Sie mich gefragt hätten, was ich während der Ferienzeit tun sollte, hätte ich Ihnen kürzer antworten können: Ich werde Ihre Interessen wahren. Ich werde Tag für Tag hier zu finden sein, beschäftigt mit der Wahrung Ihrer Interessen. Das ist meine Pflicht, Mr. C., und Gerichtssession oder Ferien machen darin keinen Unterschied bei mir. Wenn Sie mich wegen Ihrer Interessen zu Rate zu ziehen wünschen, werden Sie mich jederzeit hier finden. Andre Herren von unserm Beruf gehen aufs Land. Ich tue das nicht. Nicht, daß ich jemand tadeln wollte. Ich sage bloß, ich tue es nicht. Dieses Pult ist Ihr Fels, Sir!«

Mr. Vholes schlägt darauf, und es klingt so hohl wie ein Sarg. Aber für Richards Ohren klingt es nicht so. Für ihn hat der Schall etwas Ermutigendes. Vielleicht weiß Mr. Vholes das.

»Ich weiß recht gut, Mr. Vholes«, sagt Richard vertrauensvoll und erleichtert, »daß Sie der allerverläßlichste Mann auf der Welt sind, und wer mit Ihnen zu tun hat, einen Advokaten vor sich hat, der sich kein Schnippchen schlagen läßt. Aber versetzen Sie sich in meine Lage. Schleppen Sie sich mit diesem aus dem Geleise gekommenen Leben hin, wo man jeden Tag tiefer und tiefer in Kalamitäten versinkt, beständig hofft und beständig enttäuscht wird, sich bewußt ist, daß es immer mehr mit einem bergab geht und mit nichts bergauf, und Sie würden auch manchmal finden, wie ich, daß es keine beneidenswerte Lage ist.«

»Sie wissen, daß ich nie Hoffnungen zu erwecken pflege«, erwidert Mr. Vholes. »Ich sagte Ihnen gleich anfangs, daß ich das prinzipiell nicht tue, vorzüglich nicht in einem Prozeß wie diesem, wo der größere Teil der Kosten aus dem strittigen Kapital gedeckt wird. Ich würde meinen guten Ruf außer acht lassen, wenn ich Hoffnungen gäbe.

Es müßte den Schein erwecken, als ob es mir um die Kosten zu tun wäre. Aber wenn Sie sagen, daß keine Veränderung zum Bessern zu bemerken ist, so muß ich das als nackte Tatsache in Abrede stellen.«

»Wirklich?« fragt Richard mit einem Hoffnungsschimmer. »Aber wie wollen Sie das begründen?«

»Mr. Carstone, Sie werden vertreten von…«

»Sie sagten es eben… Von einem Felsen!«

»Ja, Sir, von einem Felsen.« Mr. Vholes nickt leise mit dem Kopf und fährt über den Pultdeckel, daß es klingt, als ob Asche auf Asche fiele und Staub auf Staub. »Ist das nichts? Sie sind allein für sich vertreten und nicht mehr länger mit den Interessen andrer verquickt und verflochten. Das ist etwas. Der Prozeß schläft nicht. Wir wecken ihn auf, bringen ihn an die Luft, wir führen ihn spazieren. Das ist etwas. Es ist nicht bloß ‚Jarndyce‘, der Tatsache und dem Namen nach. Das ist etwas. Niemand kann jetzt willkürlich damit verfahren, Sir. Und das ist gewiß etwas.« Richard wird plötzlich rot im Gesicht und schlägt mit der geballten Faust auf das Pult.

»Mr. Vholes! Wenn mir jemand gesagt hätte, als ich zuerst John Jarndyces Haus betrat, er sei etwas andres als der selbstlose Freund, für den er sich gab, sondern das, als was er sich allmählich entpuppt hat, ich hätte nicht genug starke Worte finden können, um eine solche Verleumdung zurückzuweisen – ich hätte ihn nicht warm genug verteidigen können. So wenig kannte ich die Welt! Aber jetzt, sage ich Ihnen, kommt er mir vor wie der personifizierte Prozeß selbst. Der Rechtsstreit ist nichts Abstraktes mehr, er ist John Jarndyce selbst. Je mehr ich leide, desto mehr zürne ich über ihn, und jede neue Enttäuschung bedeutet einen neuen Schlag von John Jarndyces Hand.«

»Nein, nein«, sagt Vholes. »Sagen Sie das nicht. Wir alle müssen Geduld haben. Überdies rede ich nie jemandem Böses nach, Sir. Es ist ein Grundsatz von mir.«

»Mr. Vholes! Sie wissen so gut wie ich, daß er den Prozeß abgebrochen hätte, wenn es möglich gewesen wäre«, entgegnet Richard zornig.

»Er hat nicht direkt Schritte dagegen getan«, gibt Mr. Vholes anscheinend widerwillig zu. »Nicht direkt Schritte. Aber immerhin, er kann freundschaftliche Absichten dabei gehabt haben. Wer kann im Herzen der Menschen lesen, Mr. C.!?«

»Sie!«

»Ich, Mr. C.?«

»Immerhin gut genug, um zu wissen, was seine Absichten waren. Widerstreiten sich unsre Interessen, oder widerstreiten sie sich nicht? Sagen – Sie – selbst!« Richard begleitet die drei letzten Worte mit drei heftigen Schlägen auf den Fels seines Vertrauens.

»Mr. C.«, gibt Vholes, ohne sich zu bewegen und auch nur ein einziges Mal mit seinen hungrigen Augen zu zwinkern, zur Antwort:

»Ich würde meine Pflicht als Ihr Rechtsbeistand verletzen, Ihren Interessen untreu werden, wenn ich sie als identisch mit denen Mr. Jarndyces darstellte. Sie sind es nicht, Sir. Ich schiebe nie Motive unter. Ich habe einen Vater und bin selbst Vater und schiebe nie Motive unter, aber ich darf andererseits meine Pflicht als Anwalt nicht verletzen, selbst wenn dadurch Zwietracht in Familien gesät wird. Ich bin der Meinung, Sir, Sie ziehen mich jetzt doch in meiner Eigenschaft als Ihr Anwalt hinsichtlich Ihrer Interessen zu Rate? Ist es so? Also, dann antworte ich: Nein, sie sind nicht identisch mit denen Mr. Jarndyces.«

»Natürlich sind sie’s nicht!« ruft Richard. »Sie haben das schon längst herausgefunden.«

»Mr. C.«, fährt Vholes fort. »Über fremde Parteien möchte ich nicht mehr sagen, als unbedingt notwendig ist. Ich wünsche meinen Namen außer dem kleinen Vermögen, das ich mir vielleicht durch Fleiß und Ausdauer erwerbe, meinen Töchtern Emma, Jane und Karoline unbefleckt zu hinterlassen. Ich wünsche auch in brüderlicher Freundschaft mit meinen Berufskollegen zu leben. Als Mr. Skimpole mir die Ehre erwies, Sir – ich sage absichtlich nicht, die außerordentliche Ehre, denn ich lasse mich nie zu Schmeicheleien herab –, uns hier in der Kanzlei zusammenzubringen, da äußerte ich, daß ich hinsichtlich Ihrer Interessen keine Meinung abgeben und auch keinen Rat erteilen könnte, solange diese Interessen in den Händen eines Berufskollegen lägen, und ich sprach mich so anerkennend über die Firma Kenge & Carboy aus, wie sie es auch tatsächlich verdient.

Sie fanden sodann für gut, Ihre Vertretung diesen Herren zu entziehen und sie mir anzuvertrauen. Sie brachten sie mit reinen Händen, Sir, und ich nahm sie mit reinen Händen entgegen. Ihre Interessen gehen jetzt in meiner Kanzlei allen andern vor. Meine Verdauung, wie Sie mich vielleicht schon haben äußern hören, ist nicht im besten Zustand, und Ruhe könnte sie verbessern. Aber ich werde mir keine Ruhe gönnen, Sir, solange ich Sie vertrete. So oft Sie mich brauchen, werden Sie mich hier finden. Rufen Sie mich, wohin Sie wollen, und ich werde kommen. Während der langen Ferien, Sir, werde ich meine Mußestunden dazu benützen, Ihre Interessen noch gründlicher zu studieren und Anordnungen zu treffen, nach dem Michaelitermin Himmel und Erde (den Kanzler natürlich eingeschlossen) in Bewegung zu setzen, und wenn ich Ihnen dann endlich Glück wünschen kann, Sir«, sagt Mr. Vholes mit der ganzen sittlichen Strenge eines fest entschlossnen Mannes, »wenn ich Ihnen dann endlich von ganzem Herzen Glück wünschen kann, daß Sie zu Ihrem Vermögen gekommen sind – wenn es nicht in meinen Grundsätzen läge, niemals Hoffnungen zu erwecken, könnte ich mich darüber weiter auslassen –, werden Sie mir nichts schuldig sein als den kleinen Rest, der vielleicht noch von den zwischen Anwalt und Klienten erwachsenden Kosten außensteht. Abgesehen von den der Taxe unterliegenden Kosten, die von dem strittigen Kapital in Abzug kommen. Ich werde dann weiter keinen Anspruch an Sie erheben, Mr. Carstone, außer der Anerkennung der eifrigen und tätigen Erfüllung meiner Pflicht als Ihr Anwalt. Ich meine damit nicht die übliche und formelle Erfüllung, Sir.«

Vholes fügt als Nachwort zu dieser Darlegung seiner Grundsätze noch hinzu, Mr. Carstone werde vielleicht die Güte haben, da er jetzt zu seinem Regiment zurückgehe, ihm eine Anweisung auf zwanzig Pfund à conto auszustellen.

»Denn wir haben neuerdings viele kleine Konsultationen und Tagfahrten gehabt, Sir«, bemerkt Vholes und blättert in seinem Journal. »Und die Sachen summieren sich, und ich will mir nicht den Anschein geben, ein Kapitalist zu sein. Als wir unsre gegenwärtige Verbindung anknüpften, sagte ich Ihnen offen, – es ist mein Prinzip, daß Anwalt und Klient nie offen genug gegeneinander sein können –, daß ich kein Kapitalist bin, und wenn Sie auf den Kostenpunkt allein sehen wollten, Sie lieber Ihre Akten bei Kenge & Carboy lassen möchten. Nein, Mr. C., Sie werden hier weder die Vorteile noch die Nachteile eines kapitalkräftigen Vertreters finden. Dies hier« – Vholes schlägt wieder auf das hohlklingende Pult – »ist Ihr Fels, aber es gibt nicht vor, mehr zu sein.«

Der Klient, dessen Niedergeschlagenheit allmählich abgenommen hat und dessen vage Hoffnungen wieder wach geworden sind, nimmt Feder und Tinte und schreibt die Anweisung, nicht ohne längere Zeit zu überlegen und nachzurechnen, auf welches Datum er sie ausstellen solle. – Das verrät dem Advokaten, daß nur spärliche Deckung vorhanden ist. – Die ganze Zeit über sieht ihm Vholes, körperlich und geistig zugeknöpft, aufmerksam zu. Die ganze Zeit über lauert Vholes Kanzleikatze vor dem Mauseloch.

Schließlich ersucht ihn der Klient unter Händeschütteln, um Himmelswillen sein möglichstes zu tun, um ihn durch den Kanzleigerichtsprozeß durchzubringen. Mr. Vholes, der nie Hoffnungen gibt, legt sodann dem Klienten die Hand auf die Schulter und antwortet lächelnd: »Ich bin stets hier, Sir, persönlich oder brieflich werden Sie mich stets hier finden, Sir, die Schulter gegen das Rad gestemmt.«

So scheiden sie, und Vholes, jetzt allein gelassen, beschäftigt sich damit, verschiedne kleine Summen aus seinem Journal in sein Trattenbuch zum Besten seiner drei Töchter zu übertragen. So würde auch ein sorgsamer Fuchs oder Bär mit dem Nebengedanken an seine Jungen seine Rechnung über Hühner oder verirrte Wanderer abschließen, womit durchaus nichts Nachteiliges über die drei dürren und zugeknöpften Jungfrauen, die mit Vater Vholes in einem dumpfigen Landhaus mit feuchtem Garten in Kennington wohnen, gesagt sein soll.

Als Richard aus dem düstern Schatten von Symond’s-Inn in den Sonnenschein von Chancery-Lane heraustritt – dort ist heute zufällig Sonnenschein –, geht er gedankenvoll weiter, wendet sich nach Lincoln’s-Inn und tritt unter die Schatten der Bäume. Auf viele solcher Spaziergänger sind die fleckigen Schatten dieser Bäume schon gefallen, auf manches ebenso gebeugte Haupt, auf ebenso nervös zerbissene Nägel, umdüsterte Augen und ziellos träumerische Mienen, auf verschwindendes und verschwundenes Vermögen, auf ein verfehltes und verbittertes Leben.

Noch sieht dieser Spaziergänger nicht schäbig aus, aber das kann noch werden. Das Kanzleigericht kennt keine andre Weisheit als Präzedenzien und ist reich an solchen Präzedenzien. Und warum sollte sich ein einziger unterscheiden von Zehntausenden?

Aber es ist erst kurze Zeit her, daß Richard angefangen hat, im Treibsand zu versinken, wie er jetzt von dem Ort für mehrere Monate lang scheidet – zögernd scheidet, obgleich er ihn haßt. Sein Herz ist schwer von verzehrender Sorge, von Hangen und Bangen, von Mißtrauen und Zweifel, aber es hat vielleicht noch Platz für ein schmerzliches Staunen, wenn er sich erinnert, wie anders sein erster Besuch hier war, wie anders er selbst, wie anders das bunte Farbenspiel des Lebens. Aber Ungerechtigkeit muß Ungerechtigkeit gebären, und wer mit Schemen kämpft und von ihnen geschlagen wird, muß Wesenheiten zum Kampf ins Feld stellen.

Von dem ungreifbaren Prozeß, den kein Lebender verstehen kann, denn die Zeit dazu ist längst vorbei, wendet Richard sich in Gedanken mit trübem Trost zu der greifbaren Gestalt des Freundes, der ihn vor diesem Untergang hat retten wollen und in dem er einen Feind sieht. Richard hat Vholes die Wahrheit gesagt. Mag er bös oder weich gestimmt sein, stets schiebt er die Schuld seinem Vetter Jarndyce zu. An dessen Tür ist man ihm vorsätzlich in den Weg getreten, und der Zweck konnte nur dem Prozeß entspringen, der jetzt sein Dasein in sich auflöst. Richard hält es für eine Art Genugtuung, daß er einen Gegner von Fleisch und Blut hat.

Ist er deshalb ein Ungeheuer, oder ist das Kanzleigericht nicht auch an solchen Präzedenzien reich? Könnte man Engel zum Zeugen anrufen, sie würden es bestätigen!

Zwei an diese Art Leute nicht ungewöhnte Paar Augen sehen ihm jetzt nach, wie er, nervös an seinen Nägeln kauend und in Brüten verloren, über den Platz geht und im Schatten des südlichen Torwegs verschwindet. Mr. Guppy und Mr. Weevle sind die Besitzer dieser Augen. Sie lehnen sich im Gespräch an die niedrige steinerne Balustrade unter den Bäumen. Er geht knapp an ihnen vorüber und sieht nichts als die Erde.

»William«, meint Mr. Weevle und kräuselt sich den Backenbart. »Da findet eine Verbrennung statt. Es ist kein Fall von Selbstverbrennung, aber eine Art langsamer Röstung.«

»Hm«, sagt Mr. Guppy. »Er wollte sich nicht von Jarndyce fernhalten lassen, und ich glaube, er steckt bis über die Ohren in Schulden. Ich habe nie viel von ihm gewußt. Er war hochnäsig, als er bei uns praktizierte, wie das Monument dort. Ich bin froh, daß ich ihn los bin, sowohl als Praktikanten wie als Klienten. – Ja, Tony, also damit beschäftigen sie sich jetzt; – um wieder darauf zurückzukommen.«

Mr. Guppy verschränkt die Arme, lehnt sich an die Balustrade und fährt in seinem eben unterbrochnen interessanten Gespräch wieder fort.

»Damit beschäftigen sie sich immer noch! Sie nehmen immer noch Inventur auf, prüfen die Papiere und wühlen Tag für Tag die Lumpenhaufen durch. Wenn sie so fortfahren, werden sie noch sieben Jahre dazu brauchen.«

»Und Small hilft dabei?«

»Small verließ uns nach achttägiger Kündigung. Er sagte Kenge, das Geschäft nähme seinen Großvater zu sehr in Anspruch, und er selbst stünde sich besser, wenn er es übernähme. Zwischen mir und Small ist eine gewisse Spannung eingetreten. Er tat mir gar zu heimlich. Aber er sagte, du und ich hätten diesen Ton zuerst angeschlagen, und darin hat er eigentlich recht. Und deshalb haben wir uns wieder ausgesöhnt, und so habe ich erfahren, womit sie sich beschäftigen.«

»Einblick hast du weiter nicht bekommen?«

»Tony«, sagt Mr. Guppy ein wenig irritiert, »um dir nichts zu verschweigen, das Haus zieht mich nicht mehr so an, seit du nicht mehr dort bist, und deshalb bin ich nicht mehr hingegangen. Das war auch der Grund, weshalb ich dir dieses kleine Rendezvous vorschlug. Da, gerade schlägt die Turmuhr, Tony!« Mr. Guppy wird geheimnisvoll und zärtlich beredt. »Ich muß dir nochmals vor Augen führen, daß Verhältnisse, über die ich keine Macht habe, eine traurige Veränderung in meinen Lieblingsplänen und in dem Bilde, von dem ich dir früher im Vertrauen auf unsre Freundschaft erzählte, hervorgebracht haben. Das Bild ist zerschmettert und das Idol in Trümmer zerfallen. Mein einziger Wunsch hinsichtlich der Zwecke, die ich mit deiner Freundeshilfe in Cook’s Court zu verfolgen gedachte, ist nunmehr, sie liegen zu lassen und in Vergessenheit zu begraben. Hältst du es für möglich, hältst du es überhaupt für wahrscheinlich – ich lege dir diese Frage als Freund vor, Tony –, nach deiner Kenntnis des Charakters des schlauen und unberechenbaren Alten, der damals ein Opfer der Selbstverbrennung wurde, hältst du es überhaupt für möglich, bei näherer Überlegung, Tony, daß er jene Briefe, als ihr euch damals trenntet, anderswo hingetan hat, oder wurden sie in jener Nacht wirklich vernichtet?«

Mr. Weevle denkt eine Weile nach. Dann schüttelt er den Kopf.

»Tony«, fängt Mr. Guppy beim Weiterschlendern wieder an. »Noch einmal! Versteh mich gut. Als Freund. Ohne mich auf weitere Erklärungen einlassen zu können, wiederhole ich dir nur: Das Idol ist zerschmettert. Ich habe jetzt keinen andern Zweck, als alles in Vergessenheit zu begraben. Dazu habe ich mich verpflichtet. Ich bin es mir selbst schuldig, dem zerschmetterten Bild und auch den Verhältnissen, über die ich keine Macht habe. Wenn du mir durch einen Wink oder eine Gebärde verrietest, du habest in deiner früheren Wohnung irgendwo Papiere liegen sehen, die den fraglichen irgendwie ähnlich sind, würde ich sie jetzt auf meine eigne Verantwortung ins Feuer werfen.«

Mr. Weevle nickt. Mr. Guppy kommt sich sehr großartig vor, daß es ihm gelungen ist, seine Äußerungen mit halb juristischer, halb romantischer Miene vorgebracht zu haben. Er hat nun einmal eine Leidenschaft, allem die Form eines Verhörs, einer Rede oder eines Resumes zu geben.

Würdevoll begleitet er jetzt seinen Freund nach Cook’s Court.

Nie, seit er im Hof gewesen, hat es dort einen solchen Berg von Geklatsch gegeben wie nach den Vorfällen in Mr. Krooks Laden. Pünktlich um acht Uhr früh trägt man Mr. Smallweed senior, begleitet von Mrs. Smallweed, Judy und Bart, um die Ecke in das Haus. Regelmäßig, Tag für Tag, bleiben sie dort bis neun Uhr abends, stärken sich nach Zigeunerart durch nicht besonders reichliche Mittagsmahle aus der benachbarten Garküche und wühlen, suchen, graben und kratzen unter den Schätzen des vielbeweinten Verstorbenen. Welcher Art diese Kleinodien sind, halten sie so geheim, daß der ganze Hof in Verzweiflung gerät.

In seinem Delirium träumt der Hof von Guineen, die aus Teekannen gegossen werden, von Punschbowlen, die von Münzen überfließen, von mit Banknoten ausgestopften Stühlen und Matratzen. Man kauft für sechs Pence bunt illustrierte Geschichten von Mr. Daniel Dancer und seiner Schwester und Mr. Elwes aus Suffolk und überträgt alle Tatsachen aus diesen wirklich wahren Erzählungen auf Mr. Krook. Zweimal, als der Kehrichtmann hineingerufen wird, um eine Wagenladung altes Papier, Asche und Flaschenscherben fortzuschaffen, versammelt sich der ganze Hof und spürt neugierig in den Körben herum, wie sie herausgetragen werden. Rastlos schleichen die beiden Herren, die mit den gefräßigen kleinen Federn auf dünnes Papier schreiben, in der Nachbarschaft herum. Sie weichen einander scheu aus, denn ihre frühere Kompagnieschaft ist wieder in Brüche gegangen. Die »Sonne« spinnt geschickt einen Faden des allgemeinen Interesses durch die harmonischen Abendgesellschaften. Der kleine Swills wird, wenn er darauf anspielt, mit Applaus bedacht und weiß wie ein inspirierter Dichter überall Brocken davon anzubringen. Selbst Miß M. Melvilleson begleitet in der wieder aufgefrischten schottischen Melodie: »Wir nicken, wir nicken, wir nicken dazu« die letzte Strophe: »Die Hunden lieben den starken Saft« – ohne zu verraten, welcher Art dieser Saft sein mag – mit einer so schlauen Miene und einem so ausdrucksvollen Nicken des Kopfs nach dem Nachbarhaus, daß die Zuhörer auf der Stelle erraten, Mr. Smallweed habe eine Vorliebe für Geld. Und so wird sie allabendlich mit wiederholtem da capo beehrt.

Trotzdem entdeckt der Hof keine Spur, lebt aber, wie Mrs. Piper und Mrs. Perkins dem ehemaligen Mieter, dessen Erscheinen jetzt die lebhafteste Aufmerksamkeit des Publikums erregt, verraten, in beständiger Aufregung, irgend etwas und noch viel mehr zu entdecken.

Mr. Weevle und Mr. Guppy, von sämtlichen Augen im Hofe beobachtet, klopfen an die verschlossne Tür des vielbeweinten Toten. Sie sind sehr populär. Da sie aber wider Erwarten des Hofes Einlaß erhalten, gehen sie sofort der Volksgunst verlustig und geraten in Verdacht, Böses im Schilde zu führen.

Im ganzen Hause sind fast alle Läden vor den Fenstern geschlossen, und im Erdgeschoß ist es so finster, daß man Licht brennen muß. Eben aus dem Sonnenschein hereingetreten und von Mr. Smallweed junior in den rückwärtigen Laden geführt, sind die beiden Freunde fast blind und können anfangs nichts sehen als Finsternis und Schatten, bis sie allmählich Großvater Smallweed, in seinem Lehnstuhl am Rand eines Brunnens oder eines Grabes voll von altem Papier sitzend, unterscheiden. Die tugendstarke Judy wühlt darin wie eine Totengräberin, und Mrs. Smallweed sitzt in der Nähe auf der Diele, eingeschneit in einem Haufen von Papierfetzen, von Druck- und Schreibmakulatur – anscheinend die angehäuften Komplimente, die ihr im Lauf des Tages an den Kopf geflogen sind. Die ganze Gesellschaft, Small nicht ausgenommen, ist geschwärzt von Staub und Schmutz und trägt einen dämonischen Charakter, der den allgemeinen Eindruck des Zimmers keineswegs mildert.

Es ist mehr Gerümpel und Plunder darin als früher, und es sieht womöglich noch schmutziger aus. Die Spuren seines verstorbnen Inhabers und besonders die mit Kreide an die Wand gemalten Buchstaben verleihen ihm etwas Gespensterhaftes. Als der Besuch hereintritt, verschränken Mr. Smallweed und Judy sofort die Arme und hören auf zu suchen.

»Aha!« krächzt der alte Herr. »Wie geht’s, Gentlemen, wie geht’s? Sie kommen wohl, Ihre Sachen abzuholen, Mr. Weevle? Schön, schön. Ha! Ha! Wir hätten sie versteigern lassen müssen, Sir, wegen der Lagermiete, wenn sie noch länger hier geblieben wären. Sie fühlen sich wieder ganz zu Hause hier, hoffe ich? Freut mich, Sie zu sehen, freut mich, Sie zu sehen.«

Mr. Weevle dankt ihm und läßt seinen Blick rings in der Stube umherschweifen. Mr. Guppys Auge folgt seinem Blick. Mr. Weevles Auge kehrt zurück, ohne etwas erkundet zu haben. Mr. Guppys Auge kehrt ebenfalls zurück und begegnet Mr. Smallweeds Blick. Der gewinnende alte Herr murmelt immer noch wie ein aufgezognes Instrument: »Wie geht’s, Sir, wie geht’s… Wie…« Dann scheint das Uhrwerk abgelaufen zu sein, und er versinkt in zähnefletschendes Schweigen, da erschrickt plötzlich Mr. Guppy über den Anblick Mr. Tulkinghorns, der ihm, die Hände auf dem Rücken, in der Finsternis gegenübersteht.

»Der Herr ist so gütig, mir als Rechtsanwalt beizustehen«, erklärt Großvater Smallweed. »Ich bin eigentlich kein richtiger Klient für ihn, aber er ist trotzdem so liebenswürdig…«

Mr. Guppy gibt seinem Freund einen leisen Stoß, damit er sich noch einmal umsähe, und macht Mr. Tulkinghorn eine verlegne Verbeugung, die dieser mit einem leichten Nicken erwidert. Mr. Tulkinghorn sieht zu, als ob er weiter nichts zu tun habe und sich über das neuartige Schauspiel eher amüsiere.

»Eine sehr bedeutende Hinterlassenschaft, Sir, sollte ich meinen«, äußert Mr. Guppy zu Mr. Smallweed.

»Fast nur Lumpen und altes Gerumpel, mein lieber Freund! Ich und Bart und meine Enkelin Judy geben uns Mühe, ein Inventar von dem aufzunehmen, was des Verkaufens wert ist. Aber wir haben noch nicht viel gefunden, haben – noch – nicht… Ha…«

Mr. Smallweeds Uhrwerk ist wieder abgelaufen. Mr. Weevles Auge, begleitet von Mr. Guppys Auge, ist abermals im Zimmer umher- und zurückgeschweift.

»Nun, Sir«, sagt Mr. Weevle, »wir wollen Sie jetzt nicht stören, wenn Sie uns erlauben wollten, hinaufzugehen.«

»Überallhin, wohin Sie wollen, Sir! Sie sind zu Hause. Bitte, genieren Sie sich nicht.«

Wie sie die Treppe hinaufgehen, zieht Mr. Guppy fragend die Augenbrauen in die Höhe und sieht Tony an. Tony schüttelt den Kopf.

Das alte Zimmer ist womöglich noch ungemütlicher als früher, und auf dem Herd liegt noch die Asche des Feuers, das in jener denkwürdigen Nacht brannte. Sie fühlen sich sehr abgeneigt, etwas anzurühren, und blasen erst sorgfältig den Staub weg. Sie haben auch gar keine Lust, sich länger als nötig aufzuhalten, und packen die wenigen Sachen so schnell wie möglich zusammen, ohne lauter als flüsternd zu sprechen.

»Sieh nur«, sagt Tony plötzlich und fährt zurück. »Da kommt die abscheuliche Katze herein.«

Mr. Guppy flüchtet sich hinter seinen Stuhl. »Small hat mir von ihr erzählt. Sie ist in jener Nacht wie ein Drache herumgefahren, hat um sich gekratzt und sich dann vierzehn Tage lang auf den Dächern herumgetrieben und ist schließlich ganz abgemagert den Kamin heruntergekollert. Hast du je ein solches Vieh gesehen ? Sieht sie nicht aus, als ob sie in alles eingeweiht wäre? Sie sieht fast aus, als wäre sie Krook. Ksch, hinaus, du Kobold!«

Lady Jane steht in der Tür mit einem tigerartigen Fletschen von einem Ohr bis zum andern, den keulenförmigen Schweif aufgerichtet, und zeigt keine Lust, zu gehorchen. Mr. Tulkinghorn stolpert über sie, sie faucht wütend seine rostigen Beine an und schleicht dann mit krummem Rücken die Treppe hinauf. Wahrscheinlich, um sich wieder auf den Dächern herumzutreiben und durch den Schornstein zurückzukehren.

»Mr. Guppy«, fragt Mr. Tulkinghorn, »kann ich ein Wort mit Ihnen sprechen?«

Mr. Guppy nimmt eben die Prachtgalerie englischer Schönheiten von den Wänden und legt diese Kunstwerke in ihre alte unwürdige Hutschachtel. »Sir«, entgegnet er und wird rot, »es liegt mir außerordentlich daran, gegen jedes Mitglied der Advokatenkammer, und insbesondere gegen ein so wohlbekanntes und, wie ich wohl sagen darf, so ausgezeichnetes wie Sie, das größte Entgegenkommen zu beweisen, nur möchte ich es mir, Mr. Tulkinghorn, zur Bedingung machen, meinen Freund zuzuziehen, wenn Sie etwas mit mir sprechen wollen.«

»Hm«, meint Mr. Tulkinghorn.

»Ja, Sir. Meine Gründe sind durchaus nicht persönlicher Art, aber trotzdem für mich ausschlaggebend.«

»Die Sache ist nicht von solcher Wichtigkeit, daß Sie sich die Mühe hätten zu machen brauchen, Bedingungen zu stellen, Mr. Guppy.« Mr. Tulkinghorn hält inne und lächelt einen Augenblick, und sein Lächeln ist so glanzlos und rostig wie seine Beinkleider. »Man muß Ihnen übrigens gratulieren, Mr. Guppy. Sie sind ein glücklicher junger Mann, Sir.«

»So leidlich, Mr. Tulkinghorn. Ich kann nicht klagen.«

»Klagen? – Vornehme Freunde, freier Zutritt in großen Häusern und bei eleganten Damen. Mr. Guppy, es gibt Leute in London, die für so etwas ihre Ohren hergeben würden.«

Mr. Guppy sieht ganz so aus, als ob er seine immer röter werdenden Ohren gern hergeben würde, um lieber keinen Zutritt bei vornehmen Damen zu haben.

»Sir, wenn ich bei meinen Berufsgeschäften bleibe und bei Kenge & Carboy meinen Verpflichtungen nachkomme, geht es kein Mitglied der Advokatenkammer, nicht einmal Mr. Tulkinghorn von Lincoln’s-Inn-Fields, etwas an, wer meine Freunde und Bekannten sind. Ich fühle mich nicht verpflichtet, mich weiter zu erklären, und mit aller Achtung vor Ihnen, Sir, und ohne Sie beleidigen zu wollen –, ich wiederhole, ohne Sie im geringsten beleidigen zu wollen…«

»O, bitte sehr, Mr. Guppy.«

»Es liegt durchaus nicht in meiner Absicht…«

»Ich bin davon überzeugt«, sagt Mr. Tulkinghorn und nickt gelassen. »Schon gut. Ich sehe an diesen Porträts, daß Sie ein bedeutendes Interesse an der fashionablen Welt nehmen, Sir.«

– Er richtet diese Worte an Tony, der seine Schwäche nicht leugnen kann und ein ziemlich dummes Gesicht macht. –

»Eine Tugend, die wenigen Engländern mangelt«, bemerkt Mr. Tulkinghorn. Den Rücken dem verräucherten Kamin zugekehrt, hat er auf der Steinplatte vor dem Herd gestanden und sieht sich jetzt, mit dem Glas vor den Augen, um. »Wer ist das? Lady Dedlock! Ah! Eigentlich sehr ähnlich, aber es fehlt dem Bild die Charakteristik. Guten Tag, meine Herrn. Guten Tag.«

Als er zur Türe draußen ist, beeilt sich Mr. Guppy schweißgebadet, die Galerie der Schönheiten vollends herunterzunehmen, und macht mit Lady Dedlock den Schluß.

»Tony«, sagt er hastig zu seinem Freund, der bei Mr. Tulkinghorns Worten ein sehr erstauntes Gesicht gemacht hat, »wir wollen uns beeilen, die Sachen zusammenzupacken und den Ort zu verlassen. Es wäre vergeblich, dir länger verheimlichen zu wollen, Tony, daß zwischen mir und einem der Mitglieder unsrer schwanengleichen Aristokratie eine Verbindung bestanden hat. Es hätte eine Zeit kommen können, wo ich dir alles enthüllt haben würde. Sie wird jetzt nie mehr kommen. Ich habe es nicht nur geschworen, sondern bin es auch meinem zerschmetterten Idol und den Verhältnissen, über die ich keine Macht habe, schuldig, das Ganze in Vergessenheit zu begraben. Ich beschwöre dich als Freund bei dem Interesse, das du immer an den ‚fashionablen Nachrichten‘ genommen hast, und bei den kleinen Vorschüssen, mit denen ich dir auszuhelfen Gelegenheit gehabt habe, mich nicht weiter zu fragen und die Sache ein für allemal vergessen sein zu lassen.«

In einem Zustand, der einer Art juristischen Wahnwitzes gleicht, sprudelt Mr. Guppy diese Worte hervor, und wie verwirrt sein Freund darüber ist, verrät sich durch das Aussehen seines Haars und seines sorgfältig gepflegten Backenbartes.

4. Kapitel


4. Kapitel

Menschenliebe mit dem Fernrohr vor den Augen

Wir sollten die Nacht bei Mrs. Jellyby zubringen, sagte uns Mr. Kenge, als wir wieder in seinem Zimmer angekommen waren; und dann wendete er sich zu mir: »Ich setze voraus, daß Sie wissen, wer Mrs. Jellyby ist?«

»Nein, ich weiß es wirklich nicht, Sir«, gab ich zur Antwort. »Vielleicht weiß es Mr. Carstone – oder Miß Clare –«

Aber nein, auch sie wußten nichts von Mrs. Jellyby.

»Wirklich? – Mrs. Jellyby«, erklärte Mr. Kenge, mit dem Rücken zum Kamin gekehrt und die Augen auf den staubigen Fußteppich geheftet, als ob dort Mrs. Jellybys Biographie geschrieben stünde, »ist eine Dame von höchst bemerkenswerter Charakterstärke, die sich ganz den öffentlichen Angelegenheiten widmet. Sie hat sich schon zu verschiedenen Zeiten einer großen Anzahl öffentlicher Fragen zugewendet und ist augenblicklich mit Afrika beschäftigt, in der Absicht, die allgemeine Pflege des Kaffeestrauchs und der Eingebornen und die glückliche Ansiedlung des Überschusses unserer vaterländischen Bevölkerung an den Ufern der afrikanischen Flüsse zu fördern. Mr. Jarndyce, der immer bereit ist, ein Werk, das mit der Zeit Gutes zu schaffen verspricht, zu unterstützen, und Philanthropen sehr hochschätzt, hat, glaube ich, eine sehr hohe Meinung von Mrs. Jellyby.«

Mr. Kenge zupfte seine Halsbinde zurecht und sah uns an.

»Und Mr. Jellyby, Sir?« fragte Richard.

»Oh! Mr. Jellyby ist – hm – ich kann ihn nicht besser beschreiben, als wenn ich sage, er ist der Gatte der Mrs. Jellyby.«

»Eine Null, Sir?« fragte Richard mit einem komischen Blick.

»Das will ich nicht behaupten«, entgegnete Mr. Kenge ernst, »denn ich weiß gar nichts von Mr. Jellyby. Soviel ich mich erinnern kann, habe ich niemals das Vergnügen gehabt. Er mag ein sehr ausgezeichneter Mann sein, aber er ist sozusagen in den glänzenden Eigenschaften seiner Gattin – verschwunden, rein verschwunden.«

Mr. Kenge erklärte uns dann, daß eine Fahrt nach Bleakhaus an einem solchen Abend sehr langweilig und unangenehm sein würde und Mr. Jarndyce, da wir ohnedies heute schon eine Reise hinter uns hätten, selbst dieses Arrangement vorgeschlagen habe. Zeitig am nächsten Morgen sollte uns ein Wagen bei Mrs. Jellyby abholen. Er schellte sodann, und der junge Mann, Guppy hieß er, trat ein. Gefragt, ob mein Gepäck bereits besorgt worden wäre, bejahte er und fügte hinzu, ein Wagen stünde unten für uns bereit.

»So bleibt mir nichts weiter übrig«, sagte Mr. Kenge und schüttelte uns die Hände, »als meine lebhafte Befriedigung – guten Tag, Miß Clare – über die heute getroffene Anordnung auszusprechen, sowie meine lebhafte – leben Sie wohl, Miß Summerson! – Hoffnung, daß sie zum Glück, zur Wohlfahrt – sehr erfreut gewesen, Mr. Carstone! – und zum Vorteil für alle Beteiligten in jeder Hinsicht ausschlagen möge. Guppy, Sie fahren mit hin.«

»Wo ist ‚hin‘, Mr. Guppy?« fragte Richard, als wir die Treppe hinabgingen.

»Es ist ein Katzensprung«, erklärte Mr. Guppy. »Nach Thavies-Inn, Sie wissen.«

»Ich könnte nicht sagen, daß ich es wüßte, denn ich komme von Winchester und bin fremd in London.«

»Gleich um die Ecke! Wir schneiden die Chancery-Lane in Holborn durch und sind in vier Minuten auf die Sekunde dort. Das ist ein Londoner Echter jetzt, was, Miß?«

Mr. Guppy schien sich meinetwegen darüber sehr zu freuen.

»Der Nebel ist wirklich furchtbar«, gab ich zu.

»Aber er scheint Ihnen nicht zu schaden«, sagte Mr. Guppy und ließ den Wagentritt herunter. »Er scheint Ihnen im Gegenteil gut zu tun, Miß. Nach Ihrem Aussehen zu urteilen.«

Ich wußte, es war ein harmloses Kompliment, und lachte mich selbst aus, daß ich darüber rot geworden war. Er warf dann den Wagenschlag zu und setzte sich auf den Bock, und wir lachten alle und scherzten über unsere Unerfahrenheit und die Seltsamkeit Londons, bis wir endlich durch einen Torweg einfuhren und an unserm Bestimmungsort landeten, einer engen Straße mit hohen Häusern, die wie eine längliche Zisterne für den Nebel aussah.

Vor dem Hause, an dem wir hielten und an dessen Tür sich eine blind gewordene Messingplatte mit der Inschrift: »Jellyby« befand, stand eine kleine Gruppe Menschen, meistens Kinder.

»Erschrecken Sie nicht«, rief Mr. Guppy zum Kutschenfenster herein. »Einer der kleinen Jellybys ist mit dem Kopf im Hausflurgitter stecken geblieben.«

»Das arme Kind!« sagte ich. »Bitte, lassen Sie mich hinaus.«

»Nehmen Sie sich in acht, Miß! Die kleinen Jellybys sind ein bißchen merkwürdig!« warnte Mr. Guppy.

Ich drängte mich zu dem armen Kind, das über die Maßen schmutzig und ganz erhitzt und vor Angst laut schreiend mit dem Kopf zwischen zwei Gitterstäben stak, während ein Milchmann und ein Kirchspieldiener in der besten Absicht sich bemühten, es bei den Beinen wieder herauszuziehen, wahrscheinlich in der Meinung, daß der Kopf sich von selbst der Weite der Öffnung anbequemen würde.

Ich beruhigte das Kind, und als ich fand, daß es sehr klein war und nur einen sehr großen Kopf hatte, dachte ich mir, wo der Kopf durchgekommen ist, muß auch der Körper durchgehen, und äußerte, der beste Weg, das Kind herauszubringen, sei, es vorwärts zu schieben. Der Milchmann und der Kirchspieldiener führten mit solchem Eifer meinen Vorschlag aus, daß sie den Kleinen auf der Stelle in das Kellergeschoß geschoben haben würden, wenn ich ihn nicht noch beim Röckchen erwischt hätte. Richard und Mr. Guppy liefen in die Küche hinab, um ihn drinnen in Empfang zu nehmen. Wir erlösten ihn glücklich aus der Klemme, und sein erstes war, daß er mit einem Reifen wie besessen auf Mr. Guppy losschlug.

Von den Hausbewohnern hatte sich niemand gezeigt mit Ausnahme einer Person in Pantoffeln, die von unten mit einem Besen nach dem Kinde gestoßen hatte, – zu welchem Zwecke, weiß ich nicht und sie wahrscheinlich ebensowenig. Ich vermutete daher, Mrs. Jellyby sei nicht zu Hause, und war ganz überrascht, als uns die Person in dem Gange ohne Holzschuhe empfing, vor Ada und mir her nach dem rückwärtigen Zimmer des Erdgeschosses ging und anmeldete:

»Die beiden jungen Damen sind hier, Missis Jellyby.«

Wir kamen unterwegs an mehreren Kindern vorbei, über die man im Finstern zu stolpern kaum vermeiden konnte, und als wir vor Mrs. Jellyby erschienen, fiel eins der armen Kleinen gerade mit großem Lärm die Treppe hinab; eine ganze Stiege, wie es mir klang.

Mrs. Jellyby, deren Gesicht nichts von der Unruhe zeigte, die wir nicht verbergen konnten, als wir den Kopf des armen Kindes bei jeder Stufe hohl aufschlagen hörten – Richard sagte uns später, er habe sieben gezählt, den Treppenabsatz nicht mit eingerechnet –, empfing uns mit vollkommenem Gleichmut. Sie war eine hübsche, sehr kleine und wohlbeleibte Frau zwischen vierzig und fünfzig Jahren mit schönen Augen, die immer in weite Ferne zu blicken schienen, als ob sie – mit Richards Worten zu reden – nichts Näheres als Afrika sehen könnten.

»Es freut mich außerordentlich«, sagte Mrs. Jellyby mit einer angenehmen Stimme, »das Vergnügen zu haben, Sie bei mir zu sehen. Ich schätze Mr. Jarndyce ungemein, und niemand, an dem er Anteil nimmt, kann mir gleichgültig sein.«

Wir drückten unsern Dank aus und setzten uns hinter die Tür auf einen lahmen Invaliden von einem Sofa. Mrs. Jellyby hatte sehr hübsches Haar, war aber von ihren afrikanischen Pflichten zu sehr in Anspruch genommen, um es haben kämmen zu können. Der Schal, der sie lose umhüllte, fiel auf den Stuhl, als sie uns entgegenkam; und als sie sich umdrehte, um ihren Platz wieder einzunehmen, konnte es uns nicht entgehen, daß ihr Kleid hinten offen stand und in der Mitte einen Zwischenraum mit einem Gitterwerk von Korsettschnüren sehen ließ – gleich einer Sommerlaube. Das Zimmer, von einem großen mit einem Wust von Schriften bedeckten Schreibtisch fast ausgefüllt, sah im höchsten Grade schmutzig aus, und der Fußboden war mit Papier belegt. Während alles dies unsern Gesichtssinn angenehm in Anspruch nahm, erquickte unser Ohr wiederum das Geräusch eines draußen die Treppe hinunterkollernden Kindes, dessen Geschrei dann jemand unten in der Küche zu ersticken schien.

Was mir am meisten auffiel, war ein abgearbeitet und ungesund aussehendes, wenn auch keineswegs häßliches Mädchen, das am Schreibtisch saß, am Ende seiner Feder kaute und uns anstarrte.

So mit Tinte imprägniert ist, glaube ich, noch nie ein Mensch gewesen. Von ihrem wirren Haar angefangen bis zu ihren zierlichen Füßen herunter, die ausgefranste, zerschlissene und hinten niedergetretene Atlasschuhe entstellten, schien sie, von der kleinsten Nadel an, kein Kleidungsstück an sich zu haben, das in gehöriger Ordnung gewesen wäre oder am richtigen Fleck gesessen hätte.

»Sie sehen mich wie gewöhnlich sehr beschäftigt«, sagte Mrs. Jellyby und schneuzte die beiden großen, in zinnernen Leuchtern steckenden Kerzen, die einen starken Geruch von warmem Unschlitt im Zimmer verbreiteten. Das Feuer war ausgegangen und im Kamin nichts als Asche, ein Bündel Holz und ein Schüreisen.

»Sie finden mich wie gewöhnlich sehr beschäftigt, aber Sie werden das entschuldigen. Das afrikanische Projekt nimmt gegenwärtig meine ganze Zeit in Anspruch. Es hat mich in Briefverkehr mit vielen für das Allgemeinwohl begeisterten öffentlichen Körperschaften und Privatpersonen im ganzen Lande gebracht. Es freut mich, sagen zu können, daß es einen bedeutenden Aufschwung nimmt. Wir hoffen, nächstes Jahr um diese Zeit hundertfünfzig bis zweihundert rüstige Familien mit Kaffeeanbau und der Erziehung der Eingeborenen von Borriobula-Gha am linken Nigerufer beschäftigen zu können.«

Da Ada nichts sagte und mich nur hilfesuchend ansah, bemerkte ich, daß das außerordentliche Befriedigung gewähren müsse.

»Es gewährt große Befriedigung«, bestätigte Mrs. Jellyby. »Freilich erfordert es die Anspannung aller meiner Kräfte, aber das hat nichts zu sagen; wenn es nur gelingt. Und ich glaube von Tag zu Tag mehr an den Erfolg. Wissen Sie, Miß Summerson, ich wundere mich eigentlich, daß Sie niemals Ihre Blicke auf Afrika gerichtet haben?«

Diese Wendung des Gesprächs kam mir so unerwartet, daß ich nicht recht wußte, was darauf antworten. Ich machte die Einwendung, das Klima sei –

»Das schönste Klima der Welt«, unterbrach Mrs. Jellyby.

»Wirklich, Maam?«

»Gewiß! Bei der nötigen Vorsicht. Sie können nach Holborn gehen und überfahren werden, wenn Sie die nötigen Vorsichtsmaßregeln außer acht lassen. Dagegen können Sie nach Holborn gehen und brauchen durchaus nicht, wenn Sie acht geben, überfahren zu werden. Genau so verhält es sich mit Afrika.«

Ich sagte: »Natürlich« – ich dachte dabei an Holborn.

»Wenn Sie vielleicht über diesen Punkt« – Mrs. Jellyby schob uns einen Stoß Papiere hin – »und über das Thema im allgemeinen nachlesen wollen, während ich einen Brief zu Ende diktiere – hier meiner ältesten Tochter, die mir als Amanuensis dient –« Das Mädchen am Tisch hörte auf, an der Feder zu kauen, und erwiderte unsere Begrüßung mit einer Verbeugung, die halb verschämt, halb trotzig war. »– so werde ich vorderhand fertig sein«, fuhr Mrs. Jellyby mit süßem Lächeln fort, »obgleich meine Arbeit nie zu Ende geht. Wo sind wir stehen geblieben, Caddy?«

»– entbietet Mr. Swallow ihre Empfehlungen und bittet –«

»– und bittet um Erlaubnis«, diktierte Mrs. Jellyby, »ihn in Beantwortung seiner Anfrage, das afrikanische Projekt betreffend, informieren zu dürfen. – Nein, Peepy! unter keinen Umständen!«

Peepy war das unglückliche Kind, das die Treppe hinuntergefallen war und jetzt das Diktat durch sein Erscheinen unterbrach, ein Pflaster auf der Stirn kleben hatte und auf seine verwundeten Knie zeigte, an denen Ada und ich nicht wußten, was wir am meisten bedauern sollten – die Beulen oder den Schmutz. Mrs. Jellyby sagte mit der ihr in allen Lagen eigenen ruhigen Fassung: »Geh hinaus, du Nichtsnutz!« und wendete ihre schönen Augen wieder Afrika zu.

Da sie mit ihrem Diktat sogleich wieder fortfuhr und ich sie dadurch nicht störte, wagte ich in aller Stille, den armen Jungen, als er hinausgehen wollte, aufzuhalten und ihn auf den Schoß zu nehmen. Er machte darüber und daß Ada ihn küßte, ein ganz verwundertes Gesicht, schlief aber bald in meinen Armen ein, in immer längeren Zwischenräumen schluchzend, bis er endlich ganz still wurde.

Ich war zu sehr mit Peepy beschäftigt, als daß ich auf die Einzelheiten des Briefes hätte acht geben können. Ich empfing nur einen allgemeinen Eindruck von der hohen Wichtigkeit Afrikas im Gegensatz zur Nichtigkeit aller andern Länder und Dinge, daß ich mich wirklich schämte, bisher so wenig darüber nachgedacht zu haben.

»Sechs Uhr«, sagte Mrs. Jellyby endlich. »Unsere Speisestunde ist nominell, denn wir speisen zu allen Stunden. Eigentlich um fünf Uhr! Caddy, zeige Miß Clare und Miß Summerson ihre Zimmer. Sie wollen sich vielleicht ein wenig umkleiden? Sie werden mich gewiß entschuldigen, aber ich bin sehr beschäftigt. O das garstige Kind! Bitte, setzen Sie es doch hin, Miß Summerson.«

Ich bat um Erlaubnis, den Kleinen bei mir behalten zu dürfen, da er mir gar nicht lästig falle, trug ihn hinauf und legte ihn auf mein Bett.

Ada und ich hatten zwei Zimmer im ersten Stock, die durch eine Tür verbunden waren. Sie sahen ungemein kahl und unordentlich aus, und als Gardinenhalter an meinem Fenster diente eine Gabel.

»Sie hätten vielleicht gern warmes Wasser?« fragte Miß Jellyby und sah sich vergeblich nach einem Henkelkrug um.

»Wenn es keine Umstände macht.«

»Ach, daran läge nichts«, entgegnete Miß Jellyby. »Die Frage ist nur, ob welches da ist.«

Der Abend war so kalt, und die Zimmer rochen so dumpfig, daß es uns wirklich recht unbehaglich wurde und Ada fast geweint hätte. Wir lachten jedoch bald wieder und waren eifrig mit Auspacken beschäftigt, als Miß Jellyby mit der Nachricht zurückkehrte, sie bedauere sehr, aber warmes Wasser sei nicht zu haben; sie könnte den Teekessel nicht finden und der Waschkessel in der Küche sei zerbrochen.

Wir baten sie, sich doch nicht weiter zu inkommodieren, und beeilten uns soviel wie möglich, um wieder hinunter in die geheizte Stube zu kommen.

Aber alle kleinen Kinder standen draußen an der Treppe vor der Tür, um das seltene Schauspiel des auf meinem Bette schlafenden Peepy zu genießen, und in einem fort störte uns das beständige Erscheinen von Nasen und Fingern in höchst gefährlichen Lagen zwischen Tür und Angel. Es war unmöglich, auch nur eines der beiden Zimmer zu verschließen, denn mein Türschloß, an dem die Klinke fehlte, sah aus, als wenn es erst mit einem großen Uhrschlüssel aufgezogen werden müßte; und obgleich Ada den Griff an ihrem Schloß mit der größten Leichtigkeit um und um drehen konnte, so übte das doch nicht die geringste Wirkung auf die Tür selbst aus.

Deshalb schlug ich den Kindern vor, hereinzukommen und an meinem Tisch recht brav zu sein, und versprach, ihnen die Geschichte vom kleinen Rotkäppchen zu erzählen, während ich mich anzöge. Das taten sie auch und waren so still wie die Mäuschen, mit Einschluß Peepys, der noch zur rechten Zeit erwachte, ehe der Wolf auftrat.

Als wir hinuntergingen, sahen wir eine aus einem Trinkbecher mit der Aufschrift »Andenken an den Tunbridge-Brunnen« improvisierte Lampe auf dem Treppenabsatz blaken, und ein Mädchen, das geschwollene Gesicht mit Flanell verbunden, blies das Feuer im »Salon«, der mit Mrs. Jellybys Zimmer durch eine jetzt offene Tür in Verbindung stand, an und erstickte fast dabei. Der Kamin rauchte dermaßen, daß wir eine halbe Stunde lang hustend und tränenden Auges am offenen Fenster sitzen mußten, während Mrs. Jellyby mit unerschütterlich freundlichem Gleichmut Briefe über Afrika diktierte.

Es war ganz gut, daß sie so beschäftigt war, denn Richard erzählte uns unterdessen, daß er sich die Hände in einer Pastetenschüssel habe waschen müssen und daß sie den so emsig gesuchten Teekessel endlich auf seinem Toilettentisch gefunden hätten; und darüber mußte Ada so lachen, daß auch ich mich nicht mehr zurückhalten konnte.

Kurz nach sieben Uhr gingen wir hinunter zum Essen, vorsichtig auf Miß Jellybys Rat, denn die Treppenteppiche saßen nicht fest und waren so zerrissen, daß sie die reinsten Fußangeln bildeten.

Wir hatten einen schönen Schellfisch, Roastbeef, Koteletten und einen Pudding; ein vortreffliches Diner, wenn nicht alles fast roh gewesen wäre. Das Mädchen mit dem verbundenen Gesicht bediente und ließ alles auf den Tisch fallen, wo es gerade hinfiel, und rührte es nicht eher wieder an, bis sie es am Schluß auf die Treppe setzte. Die Person mit den Pantoffeln – wahrscheinlich die Köchin – erschien ebenfalls häufig und focht mit dem Mädchen an der Tür Scharmützel aus; und es schien ein großer Haß zwischen beiden zu herrschen.

Während des ganzen Mahles, das sehr lange dauerte, weil sich unvorhergesehene Zwischenfälle ereigneten, wie zum Beispiel, daß die Schüssel mit den Kartoffeln irrtümlich im Kohlenkasten abgesetzt und vergessen worden war und der Griff des Korkziehers abging und dem Dienstmädchen an das Kinn flog, behielt Mrs. Jellyby ihren Gleichmut unbeirrbar bei. Sie erzählte uns viel Interessantes von Borriobula-Gha und den Eingeborenen und nahm selbst bei Tisch so viele Briefe in Empfang, daß Richard, der neben ihr saß, vier Kuverts auf einmal in der Bratensauce schwimmen gesehen haben wollte.

Einige der Briefe enthielten Berichte von Damenkomitees oder Beschlüsse von Frauenversammlungen, die sie uns vorlas, – andere Anfragen von Leuten, deren Leidenschaften über gewisse, die Pflege des Kaffeestrauchs und der Eingebornen betreffende Fragen heftig erregt waren; wieder andere verlangten umgehend Antwort, und um diese auf der Stelle geben zu können, schickte Mrs. Jellyby ihre älteste Tochter drei oder vier Mal vom Essen weg zum Schreibtisch. Sie hatte unendlich viel zu tun und ging ohne Zweifel, wie sie uns gesagt hatte, in der Sache ganz auf.

Ich hätte gerne gewußt, wer der sanfte bebrillte Herr mit einer Glatze sein könnte, der sich auf einen freien Stuhl setzte, als der Fisch weggenommen war, ruhig und widerstandslos Borriobula-Gha über sich ergehen ließ, aber selbst nicht Farbe bekannte. Da er nicht ein Sterbenswörtchen sprach, hätte man ihn für einen Eingeborenen halten können, aber dem stand seine Gesichtsfarbe im Wege.

Erst als wir vom Tisch aufstanden und er allein mit Richard zurückblieb, fiel mir die Möglichkeit ein, es könne Mr. Jellyby sein.

Es war wirklich Mr. Jellyby.

Ein geschwätziger junger Mann namens Mr. Quale, mit großen, glänzenden Beulen anstatt Schläfen und zurückgebürstetem Haar, der abends zu Besuch kam, erklärte Ada, er sei Philantrop, und nannte das Ehebündnis zwischen Mrs. und Mr. Jellyby die Vereinigung von Geist und Stoff.

Dieser junge Mann wußte viel von Afrika und seinem Plane, die Kaffeeansiedler zu lehren, die Eingebornen im Drechseln von Pianofortebeinen zu unterrichten und damit einen Exporthandel zu treiben, zu erzählen. Es bereitete ihm ein besonderes Vergnügen, Mrs. Jellyby von sich sprechen zu machen, indem er sie z. B. fragte: »Ich glaube wirklich, Mrs. Jellyby, Sie haben schon an einem Tage hundertfünfzig bis zweihundert Briefe über Afrika empfangen, nicht wahr?« Oder: »Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, Mrs. Jellyby, so erwähnten Sie einmal, Sie hätten einmal fünftausend Zirkulare auf einen Sitz abgeschickt.« Mrs. Jellybys Antwort wiederholte er dann wie ein Dolmetscher stets noch einmal.

Den ganzen Abend saß Mr. Jellyby in einer Ecke, den Kopf gegen die Wand gelehnt, als ob er sehr niedergeschlagen wäre. Er habe mehrere Male den Mund geöffnet, erzählte uns Richard, als er mit dem Essen mit ihm allein gewesen, als hätte er etwas auf dem Herzen, aber jedes Mal habe er ihn zu Richards großer Verwirrung wortlos wieder zugemacht.

Mrs. Jellyby, in einem wahren Nest umhergestreuter Papiere sitzend, trank den ganzen Abend Kaffee und diktierte zwischendurch ihrer ältesten Tochter. Sie hatte auch eine Disputation mit Mr. Quale, die sich, soweit ich verstehen konnte, über die allgemeine Verbrüderung der Menschheit drehte, und gab einige wunderschöne Sentenzen zum besten.

Ich war keine so aufmerksame Zuhörerin, als ich hätte wünschen mögen, denn Peepy und die andern Kinder drängten sich in einer Ecke des Zimmers um Ada und mich und baten, wir möchten ihnen noch eine Geschichte erzählen. So setzten wir uns denn unter sie und erzählten ihnen flüsternd das Märchen vom gestiefelten Kater und ich weiß nicht, was sonst noch, bis sich Mrs. Jellyby ihrer zufällig erinnerte und sie zu Bett schickte. Da Peepy zu weinen anfing und nur von mir zu Bett gebracht werden wollte, so trug ich ihn hinauf, wo das Dienstmädchen mit dem verbundenen Gesicht wie ein Drache unter die kleine Schar fuhr und sie in ihre Krippen jagte.

Nachher bemühte ich mich, unser Zimmer ein bißchen hübsch zu machen und ein recht eigensinniges Feuer, das man im Kamin angezündet hatte, zum Brennen zu überreden, bis es schließlich wirklich hell aufloderte.

Als ich wieder herunterkam, bemerkte ich, daß Mrs. Jellyby mich etwas geringschätzig ansah, offenbar, weil ich so unbedeutend war.

Es war fast Mitternacht, ehe wir Gelegenheit fanden, zu Bett zu gehen, und selbst da blieb Mrs. Jellyby noch unter ihren Papieren und trank Kaffee, und ihre Tochter kaute an der Feder.

»Ein merkwürdiges Haus«, meinte Ada, als wir oben waren. »Wie seltsam von meinem Vetter Jarndyce, uns hierher zu schicken.«

»Liebe Ada«, sagte ich, »ich bin auch ganz verwirrt. Ich möchte gern daraus klug werden, aber es will mir nicht gelingen.«

»Woraus?« fragte Ada mit ihrem reizenden Lächeln.

»Aus alldem, was wir hier sehen. Es ist gewiß sehr verdienstlich von Mrs. Jellyby, sich soviel Mühe zum besten der Eingebornen zu geben – und doch – Peepy und überhaupt der Haushalt!«

Ada lachte und schlang ihren Arm um meinen Nacken, als ich vor dem Feuer stand und hineinblickte, sagte mir, ich sei ein stilles, gutes Wesen und hätte ihr Herz gewonnen. »Sie denken an alles, Esther«, sagte sie, »und sind doch so heiter. Und Sie legen überall Hand an, und so anspruchslos! Sie würden selbst dieses Haus wohnlich und gemütlich machen.«

Das einfache liebe Geschöpf! Sie war sich so gar nicht bewußt, daß sie nur sich selbst pries und vor lauter Herzensgüte soviel aus mir machte.

»Darf ich Sie etwas fragen, Ada?« sagte ich, als wir eine kleine Weile vor dem Feuer gesessen hatten.

»Aber soviel Sie wollen!«

»Wegen Ihres Vetters Mr. Jarndyce. Ich verdanke ihm soviel! Möchten Sie ihn mir nicht beschreiben.«

Ada schüttelte ihr blondes Haar aus dem Gesicht und sah mich so verwundert lachend an, daß ich selbst ganz erstaunt war – zum Teil über ihre Schönheit, zum Teil über ihre Überraschung.

»Esther!« rief sie.

»Liebe Ada?«

»Ich soll Ihnen meinen Vetter Jarndyce beschreiben?«

»Nun ja, ich habe ihn niemals gesehen.«

»Aber ich doch auch nicht«, lachte Ada.

»Das ist aber merkwürdig!«

Nein, sie hatte ihn wirklich niemals gesehen. So jung sie gewesen war, als sie eine Waise wurde, erinnerte sie sich doch, daß ihrer Mutter jedes Mal die Tränen in die Augen traten, wenn sie von ihm und der Hochherzigkeit seines Charakters sprach, auf die man mehr als auf alles andre in der Welt vertrauen könne. Deshalb hielt Ada auf ihren Vetter Jarndyce große Stücke. Er hätte ihr vor einigen Monaten geschrieben, erzählte sie, einen einfachen, ehrlichen Brief, in dem er ihr das jetzt zustande gekommene Arrangement vorschlug und ihr sagte, »daß sie mit der Zeit einige der Wunden heilen könnte, die der unselige Kanzleigerichtsprozeß geschlagen habe«.

Sie hatte den Vorschlag dankbar angenommen, ebenso wie Richard, der einen ähnlichen Brief erhalten. Richard hatte Mr. Jarndyce einmal gesehen. Aber nur ein einziges Mal vor fünf Jahren in Winchester in der Schule. Er erinnere sich seiner als eines »derben, blühenden Gesellen«, mehr konnte er Ada nicht sagen.

Ich machte mir darüber soviel Gedanken, daß ich noch vor dem Feuer sitzen blieb, als Ada schlafen gegangen war, und mir allerlei seltsame Vorstellungen von Bleakhaus machte. Wie weit alles seit gestern morgen in der Vergangenheit zurückzuliegen schien! Ich weiß nicht, wohin meine Gedanken noch abgeschweift wären, hätte mich nicht ein Klopfen an der Tür geweckt.

Ich öffnete leise und sah Miß Jellyby fröstelnd draußen stehen, eine geknickte Kerze in einem zerbrochnen Leuchter in der einen Hand und einen Eierbecher in der andern.

»Gute Nacht«, sagte sie höchst mißgelaunt.

»Gute Nacht!«

»Darf ich hereinkommen?« fragte sie kurz und unvermittelt in demselben übelgelaunten Ton.

»Gewiß. Wecken Sie nur Miß Clare nicht auf!«

Sie wollte nicht Platz nehmen, sondern blieb am Feuer stehen, tauchte ihren Tintenbeklecksten Mittelfinger in den Eierbecher, in dem sich Essig befand, und bestrich sich damit die Tintenflecke in ihrem Gesicht. Sie runzelte dabei die Stirn und sah sehr böse drein.

»Ich wollte, Afrika wäre tot«, sagte sie auf einmal.

Ich wollte einige Einwendungen machen.

»Ja, das ist mein Wunsch«, sagte sie. »Reden Sie nichts, Miß Summerson. Ich hasse und verabscheue es. Es ist eine Viecherei.«

Ich tröstete, sie sei müde, und bedauerte sie. Ich legte die Hand auf ihre Stirn und sagte, sie sei jetzt heiß, werde aber morgen gewiß wieder kühler geworden sein.

Sie stand immer noch grollend und stirnrunzelnd vor mir, dann setzte sie den Eierbecher hin und wendete sich leise nach dem Bett, wo Ada schlummerte.

»Sie ist sehr hübsch«, sagte sie mit demselben bösen Gesicht und in ihrer barschen Weise.

Ich nickte lächelnd.

»Eine Waise, nicht wahr?«

»Ja.«

»Weiß aber wahrscheinlich sehr viel? Kann tanzen, Klavier spielen und singen? Französisch und Geographie und den Globus und nähen und alles mögliche?«

»Jedenfalls.«

»Ich kann es nicht. Ich kann kaum etwas anderes als schreiben. Ich schreibe in einem fort für Mama. Mich wundert nur, daß ihr euch beide nicht geschämt habt, heute nachmittag hereinzukommen, wo ihr gesehen habt, daß ich weiter nichts kann. Das sieht eurer Bosheit ähnlich. Ihr haltet euch natürlich für sehr feine Damen!«

Ich konnte sehen, daß das arme Mädchen das Weinen ankam, und setzte mich, ohne ein Wort zu entgegnen, wieder auf meinen Stuhl und sah sie so sanft ich konnte an.

»Es ist eine Schmach«, fuhr sie fort. »Sie wissen es ganz gut. Das ganze Haus ist eine Schmach. Die Kinder sind eine Schmach. Papa ist unglücklich, und es ist kein Wunder. Priscilla trinkt – trinkt unaufhörlich. Es ist eine wahre Schande und eine Erfindung, wenn Sie sagen würden, Sie hätten es heute nicht gerochen. Wie sie heute bei Tisch bediente, roch es wie in einer Schenke; Sie wissen das ganz gut.«

»Mein liebes Kind, ich weiß es nicht.«

»Sie wissen es!« wies sie mich kurz ab. »Sie sollen nicht sagen, Sie wüßten es nicht. Sie wissen es ja doch.«

»Aber liebes Kind, wenn Sie mich nicht sprechen lassen wollen –«

»Aber Sie sprechen doch jetzt. Oder nicht? Erzählen Sie mir keine Geschichten, Miß Summerson!«

»Liebes Kind, wenn Sie mich nicht anhören wollen –«

»Ich brauche Sie nicht anzuhören.«

»O doch! Sie sollten es wenigstens tun! Ich kann doch das nicht wissen, was Sie vorhin von dem Mädchen sagten, denn es kam bei Tisch gar nicht in meine Nähe; übrigens bezweifle ich gar nicht, was Sie mir sagen, und es tut mir leid, es zu hören.«

»Sie brauchen sich kein Verdienst daraus zu machen.«

»Gewiß nicht, liebes Kind«, sagte ich. »Das wäre sehr töricht von mir.«

Das Mädchen stand immer noch neben dem Bett und beugte sich jetzt nieder, immer noch mit demselben unzufriedenen Gesicht, und küßte Ada. Dann kam sie leise wieder zurück und stellte sich neben meinen Stuhl. Ihre Brust hob sich krampfhaft; ich bemitleidete sie sehr, hielt es aber für besser, zu schweigen.

»Ich wollte, ich wäre tot«, brach sie endlich los. »Ich wollte, wir wären alle tot. Es wäre viel besser für uns.«

Im nächsten Augenblick kniete sie vor mir auf dem Fußboden, verbarg ihr Gesicht in meinem Kleid, bat mich leidenschaftlich um Verzeihung und weinte. Ich tröstete sie und wollte sie aufheben. Aber sie rief: »Nein, nein!« und duldete es nicht.

»Sie haben Mädchen unterrichtet«, schluchzte sie. »Wenn Sie mir hätten Unterricht geben können, hätte ich von Ihnen lernen können! Ich bin so unglücklich und liebe Sie so sehr!«

Ich konnte sie nicht überreden, sich neben mich zu setzen. Das einzige war, daß sie sich einen Schemel nahm und sich darauf kniete, immer noch dabei mein Kleid festhaltend.

Allmählich schlief das arme, müde Mädchen ein, und ich hob leise ihren Kopf in die Höhe, daß er auf meinem Schoße zu ruhen kam, und deckte uns beide mit Schals zu. Das Feuer ging aus, und die ganze Nacht schlummerte sie so vor dem erkaltenden Kamin.

Anfangs konnte ich nicht einschlafen und versuchte vergeblich, mich mit geschlossenen Augen in den Szenen des Tages zu verlieren. Langsam, sehr langsam wurden sie undeutlich und verwirrt. Ich fing an, über die Identität der auf meinem Schoße Schlummernden unklare Vorstellungen zu bekommen. Jetzt war es Ada, denn wieder eine meiner alten Freundinnen aus Reading, und es kam mir unglaubhaft vor, daß sie vor so kurzer Zeit erst Abschied von mir genommen hätten. Dann war es die kleine verrückte Alte, müde vom Knicksen und Lächeln; dann wieder eine Autoritätsperson in Bleakhaus. Zuletzt war es niemand, und auch ich war niemand.

Der stockblinde Tag kämpfte mühsam mit dem Nebel, als ich die Augen öffnete und dem starr auf mich gehefteten Blick eines schmutzigen kleinen Gespenstes begegnete. Peepy war aus seinem Bettchen gestiegen und in seinem Nachtjäckchen und Mützchen zu mir gekrochen und fror so sehr, daß ihm die Zähne klapperten.

40. Kapitel


40. Kapitel

Häusliche und Staats-Angelegenheiten

England ist seit einigen Wochen in einer schrecklichen Lage gewesen. Lord Coodle wollte demissionieren, Sir Thomas Doodle das Portefeuille nicht annehmen, und da in ganz Großbritannien außer Coodle und Doodle niemand nennenswerter war, gab es keine Regierung! Es war ein Segen des Himmels, daß aus dem eine Zeitlang unvermeidlich scheinenden Duell zwischen den beiden großen Männern nichts wurde. Angenommen, Coodle und Doodle hätten einander totgeschossen: England wäre ohne Regierung dagestanden und hätte warten müssen, bis der junge Coodle und der junge Doodle, die zur Zeit noch in Röckchen gingen, groß geworden wären. Dies unabsehbare Nationalunglück wurde Gott sei Dank dadurch abgewendet, daß Lord Coodle rechtzeitig entdeckte, daß, wenn er auch in der Hitze der Debatte behauptet habe, er verabscheue und verachte die ganze ehrlose Laufbahn Sir Thomas Doodles, er nur habe sagen wollen, daß ihn Parteistreitigkeiten nie verleiten würden, seinem Gegner den Tribut in offizieller wärmster Bewunderung vorzuenthalten. Ebenso rechtzeitig entdeckte man auf der andern Seite, daß Sir Thomas Doodle innerlich Lord Coodle für ein mustergültiges Beispiel von Mannesmut und Ehrenhaftigkeit halte.

Aber trotz alledem ist England doch einige Wochen lang von dem schrecklichen Verhängnis betroffen gewesen, keinen Lotsen zu haben, »um dem Sturme zu trotzen«, wie Sir Leicester Dedlock so schön zu bemerken pflegt. Das Wunderbare an der Sache ist nur, daß sich England darum gar nicht besonders gekümmert zu haben schien, denn es hat gegessen und getrunken und geheiratet wie die alte Welt in den Tagen vor der Sintflut. Aber Coodle erkannte die Gefahr, und Doodle desgleichen, und alle ihre Parteigenossen und Wähler erkannten die Gefahr auf das allerdeutlichste. Endlich hat sich Sir Thomas Doodle nicht nur herabgelassen, in das Ministerium einzutreten, sondern sich dabei sehr nobel benommen und alle seine Neffen, seine Vettern und seine Schwäger mitgebracht. So ist also wieder Hoffnung für das alte Schiff.

Doodle hat gefunden, daß er an das Land appellieren muß, besonders mit Sovereigns und Bier. Da Britannia sehr darauf brennt, Kandidat Doodle, fleischgeworden, in der Gestalt von Sovereigns in die Tasche zu stecken und ihn, geistgeworden, in Form von Bier hinunterzuschlucken und dabei falsch zu schwören, sie tue keines von beiden – offenbar zur Vermehrung ihres Ruhms und ihrer Moralität –, so nimmt die Londoner Saison ein plötzliches Ende, und alle Doodlianer und Coodlianer zerstreuen sich über ganz England, um Britannia bei diesen religiösen Feierlichkeiten zu unterstützen.

Daher sieht Mrs. Rouncewell, trotzdem sie noch keine Instruktionen empfangen hat, genau voraus, daß die Familie, begleitet von einem großen Schwarm von Vettern und andern Leuten, die in irgendeiner Weise bei dem großen politischen Werk mithelfen können, in Bälde zu erwarten ist. So nimmt die stattliche alte Dame die Zeit beim Schopf, geht die Treppen auf und ab, die Korridore und Treppen entlang, durch die Zimmer und Säle, um ohne Verzug und eignen Auges sich zu überzeugen, ob die Parkette gewichst sind, Teppiche gelegt, Vorhänge ausgeschüttelt, Betten geklopft und glatt gestrichen, Vorratskammer und Küche aufgeräumt ist und jedes Ding so hergerichtet, wie es das Ansehen der Dedlocks erfordert.

Als an diesem Sommerabend die Sonne untergeht, ist bereits alles fix und fertig. Öde und feierlich sieht das alte Haus aus, so wohnlich hergerichtet und noch von niemandem bewohnt, mit Ausnahme der gemalten Gestalten an den Wänden.

»So wie ich sind auch die andern gekommen und gegangen«, hätte der jeweilig herrschende Dedlock sagen können, als er durch die Zimmer schritt. »So sahen sie diese Galerie, trüb und verlassen, wie ich sie jetzt sehe. So wie ich jetzt, dachten sie an die Lücke, die ihr Scheiden einst in diesem Reiche verursachen würde. So wie mir jetzt wurde ihnen zu glauben schwer, daß es ohne sie bestehen könnte. Sie verließen meine Welt, wie ich jetzt die ihre verlasse, wenn ich die Tür dumpfhallend ins Schloß werfe.«

Durch einige der unverhangnen, im Sonnenuntergang glühenden Fenster in dem Hause, das in dieser Stunde nicht mehr aus dunklem grauem Stein, sondern aus glitzerndem Gold zu bestehen scheint, strömt das Licht herein, voll, reich, im Überfluß, wie alles im Sommer auf dem Lande. Jetzt tauen die gefrornen Dedlocks auf. Ein seltsames Leben tritt auf ihre Züge, wie die Schatten der Blätter darauf spielen. Ein ernster Richter in einer Ecke läßt sich zu einem Augenzwinkern verführen. Ein glotzäugiger Baronet mit einem Feldherrnstab bekommt ein Grübchen in der Wange. In den Busen einer steinharten Schäferin stiehlt sich ein Strahl Licht und Wärme, der ihr schon vor hundert Jahren gut getan haben würde. Eine Ahne Volumnias auf hohen Absätzen und ihr sehr ähnlich – sie wirft den Schatten ihres jungfräulichen Daseins volle zwei Jahrhunderte voraus – verschmilzt in einen Glorienschein und wird zu einer Heiligen. Eine Hofdame Karls II. mit runden Augen und andern dazu passenden Reizen scheint sich in einer leuchtenden, sich kräuselnden Wasserflut zu baden.

Aber bald erstirbt die Flammenpracht der Sonne. Schon ist der Fußboden dunkel, und Schatten steigen langsam die Wände hinauf und suchen die Dedlocks heim wie Alter und Tod. Jetzt fällt auf das Bild von Mylady über dem großen Kamin ein unheimlicher Schatten von einem alten Baum, der ihm die Farben raubt und es aufgeregt aussehen macht. Wie ein großer Arm scheint es eine dunkle Decke in die Höhe zu halten, auf eine Gelegenheit wartend, sie ihr über das Haupt zu werfen. Höher und dunkler kriecht der Schatten die Wand hinauf, läßt nur noch eine Weile an der Decke eine rote Glut, und dann ist die Flamme ganz erloschen.

Die Landschaft, die von der Terrasse so nahe aussah, hat sich feierlich in die Ferne zurückgezogen und ist zu einem unerreichbaren Phantom geworden wie so manches, das anfangs so nahe aussieht und dann weit, weit weg liegt. Leichte Nebel erheben sich, der Tau fällt, und die Düfte des Gartens hängen in der Luft. Die Wälder werden zu einer dichten Masse – wie zu einem einzelnen, riesenhaften Baum. Und jetzt steigt der Mond empor, um sie wieder aufzulösen und da und dort schimmernde Streifen hinter ihren Stämmen hervorzuwerfen und die Allee zu einem Pfade des Lichts und einer hohen phantastisch geformten Kathedrale zu machen.

Jetzt steht er hoch am Himmel, und das große Haus gleicht einem Körper ohne Leben. Man kann nur mit Bangen, wenn man sich durch die Korridore stiehlt, an die Lebendigen denken, die in den einsamen Schlafzimmern gelegen haben. Von den Toten ganz zu schweigen. Das ist die Stunde für das wachsende Dunkel, wo jeder Winkel eine kleine Höhle ist und jede Stufe eine Fußangel, wo sich die gemalten Glasscheiben mit blassen Farben auf dem Fußboden widerspiegeln und man in den schweren Balken der Decke alles sehen kann, nur ihre wirkliche Form nicht. Auf den Rüstungen blinken trübe Lichter, die es einem scheinen machen, als herrsche hier eine leise, kaum merkliche, gespenstische Beweglichkeit, und beim Anblick der Helme mit den herabgelassenen Visieren muß man voll Grauen an Köpfe denken, die darin stecken könnten.

Aber von allen Schatten in Chesney Wold fällt der Schatten in dem großen Salon auf Myladys Bild zuerst und verschwindet zuletzt. Um diese Stunde und bei diesem Lichtschein wird er zu dräuend erhobenen Händen, die dem schönen Antlitz nahendes Unheil künden bei jedem Hauch, der sich regt.

»Sie ist unpäßlich, Maam«, sagt ein Stallknecht in Mrs. Rouncewells Sprechzimmer.

»Mylady unpäßlich? Was fehlt ihr?«

»Nun, ich meine, sie hat sich schon, als sie zuletzt hier war, nicht besonders wohl befunden… Ich meine nicht, wie sie mit der Familie hier war, Maam, sondern wie sie durchkam wie ein Zugvogel. Mylady ist gegen sonst nicht viel ausgewesen und hat hübsch lange ihr Zimmer gehütet.«

»Chesney Wold«, entgegnet die Haushälterin mit Stolz und Befriedigung, »wird Mylady bald wieder zu Kräften bringen, Thomas. Es gibt keine schönere Luft und keinen gesünderen Ort auf der ganzen Welt.«

Thomas mag so seine besondere Meinung darüber haben, deutet sie vielleicht dadurch an, wie er sich seinen runden Kopf vom Nacken nach den Schläfen zu streichelt, aber er hütet sich, noch mehr zu sagen, und zieht sich in das Bedientenzimmer zurück, um sich an kalter Fleischpastete und Ale gütlich zu tun.

Dieser Stallknecht ist der Lotsenfisch, der vor dem edlen Hai einherschwimmt. Morgen abend kommen Sir Leicester und Mylady mit ihrem ganzen Troß und Gefolge. Es kommen die Vettern und Basen aus allen Strichen der Windrose. Von jetzt an, manche Woche, eilen geheimnisvolle Personen ohne Namen hin und her und fliegen in allen Orten des Landes herum, wo sich Doodle gerade in einem Gold- oder Bierregen zeigt, aber sie sind weiter nichts als Leute von ruhelosem Charakter, die nirgends etwas Besonderes zu tun haben.

Bei solchen nationalen Veranlassungen findet Sir Leicester die Vettern ganz nützlich. Einen bessern Jagdgesellschafter bei Tisch als Bob Stahles, Hochwohlgeboren, kann es in der Welt nicht geben. Besser angezogne Herren als die andern Vettern, um da und dort mit ihnen zu den Wahlbühnen zu reisen, um sich an Englands rechter Seite zu zeigen, würden schwer zu finden sein. Volumnia ist zwar ein bißchen verblaßt, aber von direkter Abstammung, und es gibt viele, die ihre sprühende Unterhaltung, ihre französischen Wortspiele, die so alt sind, daß sie fast schon wieder neu sind, und die Ehre, eine Dedlock zu Tisch führen zu dürfen, und gar erst das Privilegium, mit ihr zu tanzen, sehr zu würdigen wissen. Bei solchen nationalen Veranlassungen kann das Tanzen geradezu zu einer patriotischen Pflicht werden, und ununterbrochen kann man Volumnia herumhopsen sehen zum Besten eines undankbaren und pensionskargen Vaterlandes.

Mylady gibt sich nicht viel Mühe, die zahlreiche Schar der Gäste in Chesney Wold zu unterhalten, und da sie immer noch unpäßlich ist, erscheint sie auch selten früh. Aber bei all den melancholischen Diners, den bleiernen Frühstücken, den basiliskenhaften Bällen und andern trübseligen Festlichkeiten ist ihre bloße Erscheinung schon ein Trost. Was Sir Leicester betrifft, so hält er es für ganz und gar unmöglich, daß sich irgend jemand, der das große Glück hat, in diesem Haus empfangen zu werden, noch unbehaglich fühlen könne. Und er bewegt sich in einem Zustand sublimer Selbstzufriedenheit in der Gesellschaft umher wie eine großartige Kühlmaschine.

Täglich traben die Vettern durch den Staub und galoppieren über den Rasen an der Landstraße zu den Wahlbühnen hinüber – mit dänischen Handschuhen und Hetzpeitschen für die Grafschaften und Glacehandschuhen und Reitstöcken für die Landstädte –, und täglich bringen sie Berichte zurück, über die dann Sir Leicester nach dem Essen Reden hält. Täglich täuschen diese unruhigen Menschen, die im Leben nichts zu tun haben, vor, viel beschäftigt zu sein. Täglich plaudert Kusine Volumnia vertraulich über die Lage der Nation, woraus Sir Leicester zu schließen geneigt ist, daß Volumnia eine weitblickendere Frau ist, als er geglaubt hätte.

»Wie steht es mit uns?« fragt Miß Volumnia und klatscht in die Hände. »Sind wir sicher?«

– Das gewaltige Geschäft nähert sich nämlich jetzt seinem Ende, und Doodle wird in wenigen Tagen aufhören, an das Land zu appellieren. Sir Leicester ist nach dem Diner soeben in den großen Salon getreten. Ein heller Stern ersten Ranges, von Wolken von Vettern umgeben. –

»Volumnia«, entgegnet Sir Leicester, der ein Verzeichnis in der Hand hat. »Es steht ganz leidlich.«

»O, nur leidlich!«

Obgleich es warmes Sommerwetter ist, läßt sich Sir Leicester doch stets abends seinen eignen Kamin heizen. Er nimmt seinen gewohnten durch einen Ofenschirm geschützten Platz nicht weit davon ein und wiederholt mit großer Bestimmtheit, wenn auch ein wenig unzufrieden, als wolle er sagen, ich bin doch kein gewöhnlicher Mensch, und wenn ich das Wort »leidlich« gebrauche, so darf man das nicht für einen gewöhnlichen Ausdruck auffassen:

»Volumnia, es geht leidlich.«

»Wenigstens haben Sie keine Opposition?« klopft Volumnia zuversichtlich auf den Busch.

»Nein, Volumnia. Unser schwergeprüftes Land hat in mancher Hinsicht den Verstand verloren, muß ich leider sagen, aber ganz von Sinnen ist es denn doch noch nicht.«

»Es freut mich, das zu hören.«

Die letzten Worte Volumnias setzen sie wieder in Gunst bei Sir Leicester. Er neigt gnädig das Haupt und scheint damit sagen zu wollen: Im großen ganzen ein recht verständiges Frauenzimmer, wenn auch mitunter etwas vorlaut.

In der Tat war die Frage der schönen Dedlock nach der Opposition ganz überflüssig, denn wenn Sir Leicester kandidiert, so ist das dasselbe, als wenn er eine Engrosbestellung einschickte, die augenblicklich auszuführen ist. Zwei andre kleine Parlamentssitze, auf die er Anspruch hat, pflegt er als Detailbestellung von geringerer Wichtigkeit zu behandeln, indem er bloß seine Leute hinschickt und den Wählern zu verstehen gibt wie Schneidern: Machen Sie mir aus diesem Stoff zwei Parlamentsmitglieder und schicken Sie sie mir zu, wenn sie fertig sind.

»Ich bedaure, konstatieren zu müssen, Volumnia, daß an vielen Orten das Volk eine schlechte Gesinnung bewiesen hat und die Opposition gegen die Regimentspartei auf das entschiedenste und unversöhnlichste aufgetreten ist.«

»Schurrrken«, sagt Volumnia.

»Selbst«, fährt Sir Leicester mit einem Blick auf die ringsum auf Sofas und Ottomanen verstreuten Vettern fort, »selbst in vielen – das heißt, in den meisten – der Wahldistrikte, wo das Ministerium gegen eine Faktion durchgedrungen ist…«

– Die Coodlianer sind nämlich in den Augen der Doodlianer stets eine Faktion, und umgekehrt. –

«… selbst in solchen Distrikten – zur Schande Englands sei es gesagt – hat die Partei nicht ohne enorme Unkosten gesiegt. Hundert, äh«, sagt Sir Leicester und sieht die Wände mit steigendem Selbstgefühl und wachsender Entrüstung an, »Hunderttausende von Pfunden!«

– Wenn Volumnia einen Fehler hat, so ist es der, ein klein wenig unschuldig zu sein. Es würde recht gut zu einer hellblauen Schärpe und einem Schürzchen passen, harmoniert aber nicht besonders mit der Schminke und dem Perlenhalsband. –

In einem solchen Unschuldsanfall fragt sie jetzt:

»Wofür?«

»Volumnia!!« mahnt Sir Leicester mit äußerster Strenge. »Volumnia!«

»Nein, nein, ich meine nicht, wofür«, verbessert sich Volumnia mit ihrem kleinen Lieblingsschrei. »Wie gedankenlos von mir. Ich meine, wie schade!«

»Es freut mich, daß Sie meinen, wie schade«, entgegnet Sir Leicester.

Volumnia beeilt sich, die Meinung auszusprechen, das abscheuliche Volk solle wegen Landesverrats vor Gericht gestellt und direkt gezwungen werden, die Partei zu unterstützen.

»Es freut mich, Volumnia«, wiederholt Sir Leicester, ohne ihre Beschwichtigungsäußerungen zu beachten, »es freut mich, daß Sie meinen, wie schade. Es ist eine Schande für die Wähler. Aber da Sie, wenn auch unabsichtlich, mich fragten, wofür, so möchte ich Ihnen darauf antworten: Zu notwendigen Ausgaben! Ich traue Ihrem richtigen Gefühl zu, Volumnia, daß Sie hier wie anderswo dieses Thema nicht weiter verfolgen werden.«

Sir Leicester hält es für seine Pflicht, Volumnia gegenüber eine zermalmende Miene aufzusetzen, geht doch sowieso schon das Gerücht, solche notwendigen Ausgaben in etwa zweihundert Wahldistrikten könnten gar leicht mit dem Wort Bestechung in Einklang gebracht werden. Ein paar freche Witzbolde haben bereits vor einiger Zeit den Rat gegeben, aus dem Kirchengebet die das Parlament betreffende Stelle wegzulassen und statt dessen eine Bitte um Genesung für sechshundertachtundfünfzig notleidende Herren einzuschalten.

»Ich vermute«, bemerkt Volumnia, nachdem sie eine Weile gebraucht hat, um sich von der letzten Zurechtweisung wieder zu erholen, »ich vermute, daß Mr. Tulkinghorn sich zu Tode gearbeitet hat.«

»Ich wüßte nicht«, sagt Sir Leicester mit erstaunten Augen, »warum. Mr. Tulkinghorn hat mit den Wahlen nichts zu schaffen. Er ist nicht Kandidat.«

Volumnia hatte geglaubt, er habe vielleicht irgend etwas dabei zu tun und sei von irgend jemandem beschäftigt. Sir Leicester scheint wissen zu wollen, von wem und wozu. Abermals beschämt, meint Volumnia: »Nun, von irgend jemandem, um Rat zu erteilen und Arrangements zu treffen.« Sir Leicester wüßte nicht, welcher Klient von Mr. Tulkinghorn darin irgendeines Beistandes bedürft hätte.

Lady Dedlock, die an einem offnen Fenster sitzt, den Arm auf das Polster gelegt und auf die den Park einhüllenden Abendschatten hinaussehend, scheint bei Nennung des Namens aufmerksam zu werden.

Ein entfernter Vetter mit einem Schnurrbart und von äußerst hinfälligem Aussehen lispelt von seinem Ruhebett aus, jemand habe gestern gesagt, Mr. Tulkinghorn sei nach Eisenhütten jereist, um wejen irjendwas ’n Rechtsjutachten, äh, erteilen, äh, und daß es recht hübsch wäre, wenn heute, wo Wahl vorüber, Tulkinghorn mit Nachricht käme, äh, Gegner von Coodle unterlegen.

Einen Augenblick später teilt der den Kaffee servierende Merkur Sir Leicester mit, daß Mr. Tulkinghorn angekommen sei und soeben diniere. Mylady wendet einen Augenblick das Gesicht ins Zimmer und sieht dann wieder hinaus wie vorher.

Volumnia ist entzückt, zu hören, daß ihr Herzblatt angekommen ist. »Er ist so originell, ein so närrischer Kauz, der alles mögliche weiß und nichts verrät!« Volumnia ist überzeugt, daß er Freimaurer ist, wahrscheinlich Meister vom Stuhl, kleine Schürzchen trägt und sich mit Kerzen und Kellen zu einem wahren Götzenbild herausstaffiert.

Diese geistreichen Bemerkungen äußert die schöne Dedlock in jugendlicher Naivität und häkelt dabei an einer Börse.

»Seit meiner Ankunft ist er nicht ein einziges Mal hier gewesen«, setzt sie hinzu. »Ich dachte schon, seine Unbeständigkeit würde mir das Herz brechen. Ich machte mich schon fast damit vertraut, er wäre tot.«

»Mr. Tulkinghorn«, sagt Sir Leicester, »ist hier immer willkommen – und immer diskret, wo er sich auch befindet. Ein wirklich wertvoller Mensch und verdientermaßen geachtet.«

Der hinfällig aussehende Vetter vermutet, daß er ein scheußlich bejüterter Jeselle sei.

»Ich bezweifle nicht, daß ihn materielle Interessen an die Sache des Landes fesseln. Er wird selbstverständlich ausgezeichnet bezahlt und verkehrt mit der vornehmsten Gesellschaft fast wie gleichberechtigt.«

Plötzlich fahren alle auf. Dicht vor den Fenstern ist ein Schuß gefallen.

»O Gott, was ist das!« schreit Volumnia mit ihrem dünnen verwelkten Kreischen.

»Eine Ratte«, sagt Mylady. »Sie haben sie totgeschossen.«

Mr. Tulkinghorn tritt ein, gefolgt von einigen Merkuren mit Lampen und Lichtern.

»Nein, nein, noch kein Licht«, sagt Sir Leicester. »Ich glaube wenigstens. Ist Mylady die Dämmerstunde unangenehm?«

Im Gegenteil, Mylady hat sie gern.

»Und Ihnen, Volumnia?«

O, nichts erscheint Volumnia so köstlich, als im Dunkeln zu sitzen und zu plaudern.

»Tragen Sie alles wieder hinaus«, befiehlt Sir Leicester. »Tulkinghorn, ich bitte um Verzeihung. Wie geht es Ihnen?«

Mr. Tulkinghorn ist mit seiner gewohnten gemessenen Ruhe eingetreten, hat im Vorübergehen Mylady seine Huldigung dargebracht, schüttelt Sir Leicester jetzt die Hand und setzt sich in einen Stuhl an der andern Seite des kleinen Zeitungstisches, der neben dem Baronet steht. Sir Leicester fürchtet, Mylady könne sich, da sie sich noch nicht ganz wohl befinde, an dem offnen Fenster erkälten. Mylady dankt ihm, möchte aber der frischen Luft wegen lieber dort sitzen bleiben. Sir Leicester steht auf, richtet ihr den Umhang zurecht und kehrt auf seinen Platz zurück. Mr. Tulkinghorn hat unterdessen eine Prise genommen.

»Nun«, fragt Sir Leicester, »wie ist die Wahl verlaufen?«

»Ach, faul von Anfang an. Aussichtslos. Sie haben ihre beiden Kandidaten durchgebracht. Sie sind aussichtslos geschlagen. Drei zu eins!«

Es liegt in Mr. Tulkinghorns System, nie Meinungen zu haben, geschweige denn gar politische. Deshalb sagt er: »Sie« sind geschlagen, und nicht: »Wir«.

Sir Leicesters Zorn ist majestätisch. Volumnia traut ihren Ohren nicht. Der hinfällig aussehende Vetter ist der Meinung, daß so etwas stets jeschehen müsse, solange Pöbel, äh, Stimmrecht.

»Es ist der Distrikt, Sie wissen, wo man Mrs. Rouncewells Sohn als Kandidaten aufstellen wollte«, erklärt Mr. Tulkinghorn, als die andern wieder schweigen.

– Die Dunkelheit nimmt rasch zu. –

»Ein Vorschlag, den zurückzuweisen er Takt und Schicklichkeitsgefühl genug hatte, wie Sie damals ganz richtig sagten«, bemerkt Sir Leicester. »Ich kann nicht sagen, daß ich die Meinungen, die Mr. Rouncewell einmal während eines halbstündigen Besuches hier aussprach, irgendwie billige, aber in seinem Vorgehen bewies er ein Schicklichkeitsgefühl, das ich gern anerkenne.«

»Na!« sagt Mr. Tulkinghorn. »Es hielt ihn aber doch nicht ab, bei der Wahl sehr tätig einzugreifen.«

Sir Leicester schnappt deutlich nach Luft. Er kann kaum Worte finden.

»Verstehe ich Sie recht? Sagten Sie, Mr. Rouncewell habe bei der Wahl tätig eingegriffen?«

»Ungemein tätig.«

»Gegen…«

»Natürlich gegen Sie! Er ist ein vorzüglicher Redner. Er spricht einfach und mit Nachdruck, Seine Rede wirkte vernichtend, und er hat großen Einfluß. In der Auseinandersetzung des geschäftlichen Teils der Sache schlug er alle aus dem Felde.«

Die ganze Gesellschaft weiß genau, wenn sie es auch nicht sehen kann, daß Sir Leicester flammende Augen macht.

»Und sein Sohn leistete ihm vielen Beistand«, setzt Mr. Tulkinghorn als Schlußeffekt hinzu.

»Sein Sohn, Sir?« wiederholt Sir Leicester mit Bangen erregender Höflichkeit.

»Sein Sohn.«

»Der Sohn, der Myladys Kammerjungfer heiraten wollte?«

»Derselbe. Er hat bloß einen.«

»Dann, auf Ehre«, sagt Sir Leicester nach einer beängstigenden Pause, während der man ihn schnauben hörte, »dann, auf Ehre, bei meinem Leben, bei meinem Ruf, bei meinen Grundsätzen, dann sind wirklich die Dämme der Gesellschaft gebrochen, und die Wogen haben – uff – den Fuß des Gerüstes, das die Welt zusammenhält, unterspült.«

Allgemeiner Entrüstungsausbruch bei den Vettern. Volumnia meint, es sei denn doch wahrhaftig höchste Zeit, daß jemand, der die Gewalt in der Hand habe, eingreife und etwas Entscheidendes tue. Der hinfällig aussehende Vetter meint –, Vaterland, jehe, zum Deubel – mit Flachrennenjeschwindichkeit.

»Nur kein Kommentar gefälligst«, verbittet sich Sir Leicester noch ganz atemlos. »Nur kein weiterer Kommentar über diesen Vorfall! Kommentar ist überflüssig. Mylady, erlauben Sie mir, in bezug auf die Kammerjungfer zu sagen…«

»Ich beabsichtige nicht, mich von ihr zu trennen«, kommt ihm Mylady von ihrem Fenster her in leisem, aber entschiednem Ton zuvor.

»Das wollte ich nicht sagen«, entschuldigt sich Sir Leicester. »Im Gegenteil, es freut mich, das zu hören. Ich meinte nur, Sie sollten Ihren Einfluß auf das Mädchen geltend machen, um so mehr, als Sie es Ihrer Gunst für wert halten, Ihren Einfluß darauf wenden, sie nicht in so gefährliche Hände fallen zu lassen… Sie könnten ihr vor Augen führen, wie man in solcher Umgebung ihren Pflichten und Prinzipien Gewalt antun würde, und sie für ein besseres Schicksal aufsparen. Sie könnten ihr vielleicht Winke geben, daß sie wahrscheinlich auch in Chesney Wold einen Gatten finden würde, einen Gatten, der sie nicht…« – fügt Sir Leicester nach einem Augenblick Besinnen hinzu – »von den Altären ihrer Ahnen wegreißen würde.«

Diese Bemerkungen bringt er mit der stets sich gleichbleibenden Höflichkeit und Ehrerbietung vor, die er an den Tag legt, wenn er mit seiner Gemahlin redet. Sie neigt als Antwort nur den Kopf. Der Mond geht auf, und wo sie sitzt, fällt ein schmaler Streifen kaltes bleiches Licht herein auf ihr Gesicht.

»Es ist vielleicht erwähnenswert«, mischt sich Mr. Tulkinghorn ein, »daß diese Leute in ihrer Art sehr stolz sind.«

»Stolz!?« Sir Leicester glaubt sich verhört zu haben.

»Es sollte mich nicht wundern, wenn sie alle freiwillig das Mädchen aufgeben würden – ja, der Bräutigam und alle übrigen, anstatt umgekehrt –, vorausgesetzt, daß das Mädchen unter solchen Umständen überhaupt in Chesney Wold bliebe.«

»Nun«, sagt Sir Leicester mit zitternder Stimme. »Nun! Sie müssen es wissen, Mr. Tulkinghorn. Sie haben sich unter ihnen bewegt.«

»Ja, ja, Sir Leicester, ich spreche nur von Tatsachen«, entgegnet der Advokat. »Ich könnte Ihnen sogar darüber eine Geschichte erzählen –, wenn es Lady Dedlock erlaubt.«

– Mit einer Neigung ihres Kopfes erteilt sie die Bewilligung, und Volumnia ist entzückt. Eine Geschichte! O, endlich will er etwas erzählen! Ein Gespenst wird darin vorkommen, hofft Volumnia. –

»Nein, nur Fleisch und Bein.« Mr. Tulkinghorn hält einen Augenblick inne und wiederholt mit etwas mehr Nachdruck, als er sonst anzuwenden pflegt: »Wirklichkeit, Fleisch und Bein, Miß Dedlock! – Sir Leicester, ich habe erst vor kurzem die Einzelheiten erfahren. Es ist in wenig Worten erzählt. Die Geschichte ist eine Erläuterung zu dem, was ich eben sagte. Ich verschweige für jetzt die Namen. Lady Dedlock wird mich deshalb nicht der Unhöflichkeit zeihen, hoffe ich.«

– Beim Schimmer des Feuers, das nur schwach brennt, kann man ihn nach dem Mondlichtstreif blicken sehen. Vollkommen ruhig sitzt Lady Dedlock dort. –

»Ein Mitbürger dieses Mr. Rouncewell, ein Mann in ebensolchen Verhältnissen wie er, wie ich hörte, hatte das Glück, eine Tochter zu besitzen, die die Beachtung einer vornehmen Dame auf sich zog.

Ich spreche von einer wirklich vornehmen Dame, nicht bloß vornehm in seinen Augen, sondern vermählt mit einem Gentleman Ihres Standes, Sir Leicester.«

Sir Leicester sagt herablassend: »Ich verstehe, Mr. Tulkinghorn«, und deutet damit an, wie groß erst die Dame in den Augen eines Hüttenbesitzers erscheinen müßte.

»Die Dame war reich und schön, hatte eine Vorliebe für das Mädchen, behandelte es mit großer Güte und ließ es nicht von ihrer Seite. Nun behütete diese Dame trotz ihrer hohen Stellung ein Geheimnis seit vielen Jahren. Sie war nämlich in früher Jugend mit einem jungen Roué verlobt gewesen, einem Kapitän in der Armee, der jeden, der sich mit ihm einließ, ins Unglück brachte. Sie war nie mit ihm verheiratet, aber sie gebar ein Kind, dessen Vater er war.«

– Beim Schein des Feuers kann man Mr. Tulkinghorn nach dem Mondlichtstreifen blicken sehen. Das Profil Lady Dedlocks ist regungslos wie aus Stein gehauen. –

»Als der Kapitän gestorben war, hielt sie sich für sicher. Aber eine Verkettung von Umständen, mit denen ich Sie nicht zu behelligen brauche, führte eine Entdeckung herbei. Sie soll mit einer Unvorsichtigkeit ihrerseits angefangen haben, als sie sich einmal bei einer überraschten Miene ertappen ließ, und das zeigt wieder, wie schwer es selbst für den Festesten von uns ist – und sie hatte einen sehr festen Charakter –, stets auf der Hut zu sein. Sie können sich denken, welches Entsetzen im Hause herrschte, und sich selbst ausmalen, Sir Leicester, wie groß der Schmerz ihres Gatten war. Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Als Mr. Rouncewells Mitbürger von der Entdeckung hörte, duldete er ebensowenig, daß das Mädchen von der Dame weiter patronisiert werde, wie er geduldet hätte, daß man sie vor seinen Augen mit Füßen getreten haben würde. Sein Stolz war so groß, daß er sie entrüstet wegnahm, wie um sie vor der Ansteckung, von Befleckung und Schande zu bewahren. Er hatte kein Verständnis für die Ehre, die ihm und seiner Tochter durch die Herablassung der vornehmen Dame zuteil geworden war. Die Stellung des Mädchens kam ihm entehrend vor, gerade so, als ob die Dame nicht vornehm, sondern eine der allergewöhnlichsten Frauen gewesen wäre. Das ist die Geschichte. Ich hoffe, Lady Dedlock wird ihren peinlichen Charakter entschuldigen.«

Es werden verschiedne Meinungen über die Geschichte laut, die alle mehr oder weniger von Volumnias Ansicht abweichen. Diese schöne Jungfrau kann nämlich durchaus nicht glauben, daß es jemals eine solche Dame gegeben haben könne, und verweist von vornherein die ganze Geschichte in das Gebiet der Fabel. Die Majorität schließt sich dem Urteil des hinfällig aussehenden Vetters an, das in wenigen Worten abgetan ist: »Jeht lediglich blödsinnigen Mitbürger Rouncewells an.« Sir Leicester denkt im stillen an Wat Tyler bösen Angedenkens und malt sich aus, wie alles sein müßte, wenn es nach ihm ginge.

Die Unterhaltung stockt, denn man ist in Chesney Wold schon seit einiger Zeit lang aufgeblieben.

Es ist zehn Uhr vorüber, als Sir Leicester Mr. Tulkinghorn bittet, um Kerzen zu klingeln. Der Streifen Mondlicht ist inzwischen zu einem See angeschwollen, und Lady Dedlock reckt sich jetzt zum erstenmal. Sie steht auf und tritt an einen Tisch, um ein Glas Wasser zu trinken. Blinzelnde Vettern, im Kerzenschein wie Fledermäuse anzusehen, drängen sich um sie, um es ihr zu reichen. Volumnia, stets bereit, etwas zu nehmen – um so lieber, je wertvoller es ist –, nimmt ebenfalls ein Glas Wasser und nippt daran. Lady Dedlock, anmutig und vollkommen gefaßt, geht, von bewundernden Augen verfolgt, ruhevoll die lange Treppenflucht mit der lieblichen Nymphe, die sich im Gegensatz zu ihr keineswegs schöner ausnimmt als allein, hinab.

41. Kapitel


41. Kapitel

In Mr. Tulkinghorns Zimmer

Mr. Tulkinghorn tritt in sein Turmzimmer, etwas außer Atem vom Treppensteigen, obgleich er langsam gegangen ist. Auf seinem Gesicht liegt ein Ausdruck, als habe er seinen Geist von einer wichtigen Sache befreit und sei, soweit das möglich ist, zufrieden. Von einem stets so gelassnen Mann zu sagen, er triumphiere, wäre ebenso ungerecht, als ihm zuzutrauen, er ließe sich von Liebe oder Gefühl oder einer andern romantischen Schwäche aus dem Geleise bringen. Vielleicht empfindet er ein etwas erhöhtes Gefühl der Macht, wie er jetzt, die Hände auf dem Rücken, geräuschlos auf und ab geht. Im Zimmer steht ein großer Schreibtisch, auf dem sich ziemlich viele Papiere angesammelt haben. Die grünbeschirmte Lampe brennt. Die Lesebrille liegt auf dem Tisch, der Lehnstuhl ist herangerollt, und es könnte fast scheinen, als beabsichtige Mr. Tulkinghorn, vor dem Zubettgehen sich ein paar Stunden mit Geschäften zu befassen. Aber er ist heute zufällig nicht in seiner Arbeitslaune. Nach einem Blick auf die seiner harrenden Dokumente, mit tief auf den Tisch gebeugtem Kopf – er kann als alter Mann abends Gedrucktes oder Geschriebenes nicht gut lesen –, öffnet er die Fenstertür und tritt hinaus auf das flache Dach. Hier geht er wieder auf und ab und erholt sich. Wenn ein so gefühlloser Mann sich überhaupt nach der unten im Salon erzählten Geschichte zu erholen braucht.

Es gab einmal Zeiten, wo mindestens ebenso gescheite Leute wie Mr. Tulkinghorn bei Sternenlicht auf Türme stiegen und zum Himmel hinaufsahen, um dort ihr Schicksal zu lesen. Legionen von Sternen sind sichtbar dort oben, obgleich der Glanz des Mondes ihren Schimmer verdunkelt. Wenn Mr. Tulkinghorn seinen eignen Stern sieht, während er gleichmäßig auf dem Bleidach auf und ab schreitet, muß es ein ziemlich blasser sein, nach dem Aussehen seines rostigen Vertreters auf Erden zu schließen. Wenn er sein Schicksal lesen will, kann er das vielleicht aus andern Zeichen in seiner Nähe leichter tun.

Während er auf dem platten Dach auf und ab geht, die Gedanken in weite Fernen gerichtet, halten ihn plötzlich bei einem Fenster zwei Augen fest, die den seinen begegnen. Die Decke seines Zimmers ist ein wenig niedrig, und der obere Teil der Türe, die dem Fenster gegenüberliegt, ist aus Glas. Es ist auch noch eine innere, mit grünem Tuch beschlagne Tür vorhanden, aber da die Nacht warm ist, hat er sie beim Heraufkommen nicht zugemacht. Die Augen, die jetzt den seinen begegnen, sehen durch die Glasscheibe von dem Korridor draußen herein. Er kennt sie gut. Seit langen Jahren ist ihm das Blut nicht so heiß ins Gesicht geschossen wie jetzt, wo er Lady Dedlock erkennt.

Er tritt in das Zimmer, und auch sie kommt herein und schließt beide Türen hinter sich. Eine wilde Verstörung – ist es Furcht oder Zorn? –hegt in ihren Augen, aber in ihrer Haltung und auch sonst sieht sie genau so aus wie vor zwei Stunden im Salon.

Ist es jetzt Furcht oder Zorn? Er kann es nicht sicher wissen. Beide können so blasse und gespannte Mienen erzeugen.

»Lady Dedlock?«

Sie spricht anfangs nicht, selbst nicht, nachdem sie sich langsam in den Lehnstuhl am Tisch hat sinken lassen.

Sie sehen einander an wie zwei Bilder.

»Warum haben Sie meine Geschichte so vielen Personen erzählt?«

»Lady Dedlock, ich mußte Sie wissen lassen, daß ich sie kenne.«

»Seit wie lange kennen Sie sie?«

»Geargwöhnt habe ich sie schon seit langer Zeit… Vollkommen kennengelernt erst seit kurzem.«

»Seit Monaten?«

»Seit Tagen.«

Er steht vor ihr, die eine Hand auf einer Stuhllehne und die andre in seiner altmodischen Weste und dem Busenstreif. Genau so hat er schon tausendmal, seit sie sich verheiratete, vor ihr gestanden. Dieselbe förmliche Höflichkeit, dieselbe gefaßte Ehrerbietung, die geradesogut Mißtrauen sein könnte – der ganze Mann, derselbe dunkle Gegenstand wie je –, immer in derselben Distanz, die nie etwas hat verringern können.

»Ist das, was Sie von dem armen Mädchen erzählten, wahr?«

Er neigt ein wenig den Kopf und streckt ihn vor, als verstünde er die Frage nicht ganz.

»Was Sie vorhin erzählten. Ist es wahr? Kennen ihre Freunde meine Geschichte ebenfalls ? Ist sie schon Stadtgespräch ? Steht sie an den Wänden geschrieben und schreit man sie auf der Straße aus?«

– Also Zorn und Furcht und Scham. Alle drei kämpfen miteinander. Welche Kraft dieses Weib doch besitzt, ihre rasenden Leidenschaften niederzuhalten! Diese Gedanken schießen Mr. Tulkinghorn durch den Kopf, während er Mylady anblickt, seine struppigen grauen Augenbrauen ein Haar breit mehr zusammengezogen als gewöhnlich. –

»Nein, Lady Dedlock. Es war nur eine Hypothese, die ich anführte, weil Sir Leicester einen so hochmütigen Ton anschlug, wahrscheinlich, ohne es selbst zu wissen. Aber es würde wirklich so kommen, wenn sie wüßten, was wir wissen.«

»Also wissen sie es noch nicht?«

»Nein.«

»Kann ich das arme Mädchen vor Leid bewahren, ehe sie es erfahren?«

»Wahrhaftig, Lady Dedlock«, entgegnet Mr. Tulkinghorn, »darüber kann ich keine genügende Antwort geben.«

Und er denkt voll Interesse und Neugier, während er den Kampf in ihrem Herzen beobachtet: Macht und Kraft dieser Frau sind erstaunlich.

»Sir«, sagt sie, für den Augenblick gezwungen, das Zucken ihrer Lippen mit aller Energie zu bekämpfen, um deutlicher sprechen zu können. »Ich will mich klarer ausdrücken. Ich will nicht über die Möglichkeit Ihrer Hypothese streiten. Ich fühlte ihre Wahrheit so stark wie Sie, als ich damals Mr. Rouncewell hier sah. Ich wußte recht gut, daß er es für eine Schmach für das arme Mädchen gehalten hätte, wäre er imstande gewesen, mich so zu sehen, wie ich bin. Aber ich interessiere mich für sie oder, besser gesagt, da ich nicht mehr hierher gehöre, ich interessierte mich für sie. Und wenn Sie soviel Rücksicht auf die Frau nehmen können, die Sie jetzt unter Ihre Füße getreten haben, das im Auge zu behalten, so würden Sie sie dadurch sehr verpflichten.«

Mr. Tulkinghorn, mit tiefster Aufmerksamkeit zuhörend, lehnt mit einem bescheidnen Achselzucken ab und zieht seine Augenbrauen noch etwas mehr zusammen.

»Sie haben mich auf meine Bloßstellung vorbereitet, und ich danke Ihnen auch dafür. Verlangen Sie sonst noch etwas von mir? Ist noch eine Schuld von mir zu tilgen, die ich tilgen könnte, oder bin ich imstande, irgendeine Unannehmlichkeit meinem Gatten zu ersparen, indem ich ihn freimache, dadurch, daß ich die Richtigkeit Ihrer Entdeckung schriftlich bestätige? Ich bin bereit und zu diesem Zweck hier, um alles zu schreiben, was Sie diktieren.«

– Sie würde es wahrhaftig tun, denkt der Advokat, als er sieht, wie sie mit fester Hand die Feder ergreift. –

»Ich will Sie nicht bemühen, Lady Dedlock. Bitte, schonen Sie sich.«

»Ich habe das alles, wie Sie wissen, schon lange kommen sehen. Ich wünsche mich weder zu schonen noch von Ihnen schonen zu lassen. Schlimmeres, als Sie mir schon zugefügt haben, können Sie nicht tun. Verfahren Sie jetzt, ganz wie es Ihnen beliebt.«

»Lady Dedlock, es handelt sich um nichts dergleichen. Ich werde mir erlauben, ein paar Worte zu sprechen, wenn Sie zu Ende sind.«

Die beiden hätten eigentlich nicht mehr nötig, einander zu beobachten, aber sie tun es ohne Unterlaß, und die Sterne beobachten sie beide durch das offne Fenster herein. Draußen im Mondlicht liegt friedlich das Waldland, und das weite Haus des Lebens ist so still wie das enge des Todes. Das enge! Wo sind in dieser stillen Nacht der Totengräber und der Spaten, bestimmt, das letzte große Geheimnis zu den vielen Geheimnissen des Tulkinghornschen Daseins zur Ruhe zu bestatten? Ist der Mann schon geboren, der Spaten schon geschmiedet? Seltsame Frage, darüber nachzudenken. Seltsamer vielleicht noch, nicht darüber nachzudenken unter den beobachtenden Sternen der Sommernacht.

»Von Reue oder Gewissensbissen oder jedem andern Gefühl meines Herzens sage ich kein Wort«, fährt Lady Dedlock fort. »Wenn ich nicht stumm wäre, würden Sie taub sein. Lassen wir das. Es paßt nicht für Ihre Ohren.«

Er macht eine protestierende Bewegung, aber sie weist ihn verächtlich mit der Hand zurück. »Ich bin hier, um über ganz andre Dinge mit Ihnen zu sprechen. Meine Juwelen liegen an ihrem gewöhnlichen Aufbewahrungsort. Man wird sie dort finden. Meine Kleider ebenfalls. Alle meine Wertsachen ebenso. Ein wenig bares Geld habe ich bei mir, aber nicht viel. Ich trage nicht meine eignen Kleider, um nicht erkannt zu werden. Ich bin gegangen, um von heute an verschwunden zu sein. Berichten Sie das. Weiter lasse ich Ihnen keinen Auftrag zurück.«

»Entschuldigen Sie, Lady Dedlock«, sagt Mr. Tulkinghorn unbewegt. »Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe. Sie sind gegangen?…«

»Um für alle hier verloren zu sein. Ich verlasse heute nacht Chesney Wold. Ich gehe diese Stunde.«

Mr. Tulkinghorn schüttelt den Kopf. Sie steht auf. Aber er, ohne die Hand von der Stuhllehne zu nehmen und ohne sonst seine Stellung zu ändern, schüttelt den Kopf.

»Was? Ich soll nicht gehen, wie ich gesagt habe?«

»Nein, Lady Dedlock«, antwortet er sehr ruhig.

»Wissen Sie denn nicht, welche Erleichterung für alle mein Verschwinden sein wird? Haben Sie denn vergessen, wer der einzige Schandfleck dieses Schlosses ist?«

»Nein, Lady Dedlock, durchaus nicht.«

Ohne ihn eines weiteren Wortes zu würdigen, geht sie zu der inneren Tür und faßt die Klinke, da sagt er zu ihr, ohne Hand oder Fuß zu bewegen oder auch nur seine Stimme zu erheben:

»Lady Dedlock, haben Sie die Gewogenheit, zu bleiben und mich anzuhören, oder ich bin gezwungen, ehe Sie noch die Treppe erreichen, die Alarmglocke zu ziehen und das Haus zusammenzurufen. Und dann müßte ich vor jedem Gast und jedem Bedienten, Mann oder Frau, frei heraussprechen.«

Er hat sie bezwungen.

Sie wankt, zittert und legt die Hand verwirrt an die Stirn. Bei jeder andern wären das unwichtige Zeichen, aber wenn ein so geübtes Auge wie das Mr. Tulkinghorns nur eine Spur von Schwanken in einer solchen Frau sieht, so weiß er, woran er ist.

Er wiederholt rasch: »Haben Sie die Gewogenheit, mich anzuhören, Lady Dedlock«, und deutet nach dem Stuhl, von dem sie eben aufgestanden ist. Sie zaudert, aber er wiederholt die Handbewegung, und sie setzt sich.

»Unsre Stellung zueinander ist unerquicklicher Natur, Lady Dedlock, aber da ich sie nicht dazu gemacht habe, brauche ich mich deshalb nicht zu entschuldigen. Die Stellung, die ich Sir Leicester gegenüber einnehme, ist Ihnen so gut bekannt, daß ich Ihnen wohl längst als die für eine solche Entdeckung berufenste Person erscheinen mußte.«

Lady Dedlock heftet ihre Augen auf den Boden und blickt nicht mehr auf. »Sir, es wäre besser, ich wäre gegangen. Es wäre viel besser gewesen, Sie hätten mich nicht zurückgehalten. Ich habe nichts zu erwidern.«

»Entschuldigen Sie mich, Lady Dedlock, wenn ich Ihnen noch etwas zu bedenken geben muß.«

»Dann wünsche ich, es am Fenster zu hören. Ich kann hier nicht atmen.«

– Sein argwöhnischer Blick, wie sie ans Fenster geht, verrät einen bangen Zweifel, ob sie sich nicht mit dem Plane tragen könnte, sich hinauszustürzen und unten auf der Terrasse zu zerschmettern. Aber ein nur Sekunden dauerndes Betrachten ihrer Gestalt, wie sie, ohne sich zu stützen, am Fenster steht und hinaus auf die Sterne blickt, die tief unten am Horizonte funkeln, beruhigt ihn wieder. Er dreht sich zu ihr herum und steht jetzt ein paar Schritte hinter ihr. –

»Lady Dedlock. Ich bin noch nicht imstande gewesen, über das, was ich zu tun habe, einen richtigen Entschluß zu fassen. Ich bin mir noch nicht über das klar, was ich zunächst zu tun habe.«

– Er macht eine Pause, aber sie gibt ihm keine Antwort. –

»Verzeihen Sie, Lady Dedlock. Es ist das sehr wichtig. Schenken Sie mir auch die Ehre Ihrer Aufmerksamkeit?«

»Ich höre.«

»Ich danke Ihnen. Ich hätte es wissen können, nach dem, was ich von Ihrer Charakterstärke gesehen habe. Ich hätte die Frage nicht zu stellen brauchen, aber es ist meine Gewohnheit, das Terrain schrittweise zu prüfen. In diesem unglücklichen Fall ist lediglich Sir Leicester zu berücksichtigen.«

»Also, warum halten Sie mich dann in seinem Haus zurück?« fragt sie mit gedämpfter Stimme und ohne ihren Blick von den fernen Sternen wegzuwenden.

»Weil er zu berücksichtigen ist! Lady Dedlock, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie stolz Sir Leicester ist und wie unbedingt er sich auf Sie verläßt. Wenn der Mond vom Himmel fiele, würde ihn das nicht mehr in Erstaunen versetzen als Ihr Fall von Ihrer so hohen Stellung als seine Gattin herab.«

– Sie atmet rasch und schwer, steht aber so erhobenen Hauptes da, wie er sie jemals mitten in der größten Gesellschaft hat stehen sehen. –

»Ich erkläre Ihnen unumwunden, Lady Dedlock, daß ich leichter mit bloßen Händen den ältesten Baum auf diesem Grundstück würde haben entwurzeln können, als es mir möglich gewesen wäre, das starke Band, das Sir Leicester an Sie fesselt, zu lösen oder sein Vertrauen in Sie zu erschüttern. Und selbst jetzt, wo ich die Sache in der Hand habe, zögere ich noch. Nicht, daß er zweifeln könnte, denn das ist selbst bei ihm unmöglich, sondern weil ihn nichts auf den Schlag vorbereiten könnte.« »Meine Flucht auch nicht? Bedenken Sie es noch ein Mal!« »Ihre Flucht, Lady Dedlock, würde die Wahrheit und hundert Mal mehr als die Wahrheit weit und breit ruchbar machen. Es wäre unmöglich, den Ruf der Familie auch nur einen Tag lang zu retten. Daran ist nicht zu denken.«

– In seiner Antwort liegt eine ruhige Entschiedenheit, die keine Einwendung zuläßt. –

»Wenn ich sage, daß meine Rücksicht einzig und allein Sir Leicester gilt, so betrachte ich ihn und das Ansehen der Familie als eins. Sir Leicester und die Baronetschaft, Sir Leicester und Chesney Wold, Sir Leicester und seine Ahnen und sein Majorat«, – Mr. Tulkinghorn sagt das sehr trocken – »sind, wie ich Ihnen wohl nicht weiter zu erläutern brauche, Lady Dedlock, voneinander nicht zu trennen.«

»Und weiter?«

»Deshalb muß ich viele Punkte berücksichtigen«, fährt Mr. Tulkinghorn in seinem Alltagsstil fort. »Die Sache muß vertuscht werden, wenn es möglich ist. Und wie könnte das sein, wenn Sir Leicester darüber wahnsinnig oder krank würde? Wenn ich ihm morgen früh den Schlag beibrächte, wie könnte man sich die plötzliche Veränderung in ihm erklären? Was könnte Sie beide getrennt haben? Lady Dedlock, was Sie vorhin sagten: ‚Steht die Geschichte an den Wänden geschrieben, schreit man sie auf der Straße aus‘, alles das würde auf der Stelle eintreten. Und Sie dürfen nicht vergessen, daß es nicht bloß Sie treffen würde, die ich in dieser Sache durchaus nicht berücksichtigen kann, sondern auch Ihren Gemahl, Lady Dedlock, Ihren Gemahl!«

– Er wird klarer und deutlicher, wie er fortfährt, aber nicht ein Atom bewegter oder herzlicher. –

»Die Sache stellt sich noch unter einem andern Gesichtspunkt dar. Sir Leicester hängt an Ihnen fast bis zur Verblendung. Er könnte vielleicht nicht imstande sein, diese Verblendung zu überwinden, selbst wenn er das wüßte, was wir wissen. Ich nehme damit einen extremen Fall an, aber es könnte immerhin so sein. Wenn es so wäre, ist es besser, daß er nichts weiß. Besser für die Allgemeinheit, besser für ihn, besser für mich. Ich muß alles dies in Erwägung ziehen, und es trägt mit dazu bei, mir den Entschluß außerordentlich schwer zu machen.«

– Mylady steht immer noch da und betrachtet dieselben Sterne, ohne ein Wort zu sagen. Sie scheinen jetzt langsam zu verbleichen, und sie sieht aus, als ob ihre Kälte sie erstarren machte. –

»Die Erfahrung lehrt mich«, sagt Mr. Tulkinghorn, der unterdessen die Hände in die Tasche gesteckt hat und in seiner geschäftsmäßigen Darlegung des Falles fortfährt wie eine gefühllose Maschine, »meine Erfahrung lehrt mich, Lady Dedlock, daß die meisten Leute, die ich kenne, besser nicht geheiratet hätten. Die Ehe ist der Grund von Dreivierteilen ihrer Sorgen. So dachte ich, als Sir Leicester heiratete, und so habe ich seitdem immer gedacht. Sprechen wir nicht mehr davon. Ich muß mich jetzt von den Umständen leiten lassen. Unterdessen muß ich Sie bitten, zu schweigen, und ich werde es ebenfalls tun.«

»Ich soll also mein gegenwärtiges Leben hinschleppen und seine Qualen Tag für Tag, solange es Ihnen belieben wird, tragen?« fragt sie und wendet keinen Blick von dem fernen Horizont.

»Ja, ich fürchte, Lady Dedlock.«

»Sie meinen, es ist notwendig, daß ich so auf dem Scheiterhaufen festgebunden bleibe.«

»Ich bin überzeugt, daß das, was ich Ihnen anrate, notwendig ist.«

»Ich soll also auf dieser bunt aufgeputzten Bühne, auf der ich unter meiner Maske so lange gespielt habe, bleiben, und sie soll unter mir zusammenbrechen, wenn Sie das Signal geben!« sagt sie langsam.

»Ich werde es nicht tun, ohne Sie vorher zu benachrichtigen, Lady Dedlock. Ich werde keinen Schritt tun, ohne Sie vorher zu warnen.«

»Und wir sehen uns wie gewöhnlich?«

»Ganz so wie gewöhnlich, wenn Sie gestatten.«

– Sie legt ihm ihre Fragen fast geistesabwesend vor, als ob sie sie im Gedächtnis wiederholte oder im Schlaf hersagte. –

»Und ich muß meine Schuld verbergen, wie ich es so viele Jahre lang getan habe?«

»Wie Sie es so lange Jahre getan haben. Ich hätte es nicht gern selbst erwähnt, Lady Dedlock, aber ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihr Geheimnis Sie jetzt wohl nicht schwerer bedrücken kann als früher. Ich glaube, besser gesagt, ich weiß, wir haben einander nie ganz getraut.«

– In derselben erstarrten Weise wie früher steht sie noch eine kleine Weile tief in Gedanken versunken da und sagt:

»Bleibt heute nacht noch etwas zu besprechen übrig?«

»Nun«, entgegnet Mr. Tulkinghorn gleichmütig und reibt sich leise die Hände dabei, »ich würde allerdings gern von Ihnen hören, ob Sie meinen Anordnungen beistimmen, Lady Dedlock?«

»Sie können dessen versichert sein.«

»Gut. Und ich möchte der Klarheit wegen Sie zum Schluß noch daran erinnern, daß ich einzig und allein Sir Leicesters Gefühle und Ehre und den Ruf der Familie schone. Ich sage das, für den Fall ich bei einer gelegentlichen Mitteilung an Sir Leicester auf die Tatsache wieder zurückkommen müßte. Ich hätte mich glücklich geschätzt, auch auf Lady Dedlock Rücksicht haben nehmen zu können; leider erlaubt es der Fall nicht.«

»Oh, ich kenne Ihre Pflichttreue, Sir.«

Bisher ist Mylady, ohne sich zu rühren, in Gedanken versunken dagestanden, aber endlich bewegt sie sich und wendet sich unerschüttert in ihrer natürlichen oder erzwungnen Fassung zum Gehen. Mr. Tulkinghorn öffnet beide Türen genauso, wie er es gestern oder vor zehn Jahren getan hätte, und macht ihr seine altmodische Verbeugung, wie sie hinausgeht. Es ist nicht der Blick wie sonst, den ihm das schöne Gesicht, das jetzt in der Dunkelheit verschwindet, zuwirft, als sie ihm für seine Höflichkeit kaum merklich dankt.

Die Frau erlegt sich einen ungewöhnlichen Zwang auf, denkt er sich, als er wieder allein ist.

Er wüßte das noch genauer, wenn er sähe, wie sie in ihren Gemächern verstört, die Hände hinter dem Haupt gefaltet und wie von Schmerz krampfhaft durchzuckt, auf und ab geht; wüßte es noch genauer, wenn er sie sähe, wie sie stundenlang ohne Ermüdung und ohne Rast, verfolgt von den getreuen Schritten auf dem Geisterweg, durch die Zimmer irrt. Aber er schließt das Fenster vor der kalt werdenden Nachtluft, zieht die Vorhänge zu, geht zu Bett und schläft ein. Und wie die Sterne verlöschen und der bleiche Tag in das Turmzimmer lugt und ihn mit seiner greisenhaftesten Miene daliegen findet, da sieht er aus, als hätten der Totengräber und der Spaten schon ihren Auftrag und würden bald zu graben anfangen. Und derselbe blasse Tag sieht zu, wie im Traum Sir Leicester majestätisch dem reuigen Vaterland verzeiht, wie die Vettern verschiedne öffentliche Ämter annehmen, deren Hauptpflichten im Beziehen von Gehalt bestehen, und wie die keusche Volumnia einem häßlichen alten General mit einem Mund voll falscher Zähne, gleich einem mit Tasten übersäten Klavier, der lange die Bewunderung von Bath und der Schrecken aller andern Ortschaften ist, eine Mitgift von fünfzigtausend Pfund einbringt.

Er sieht auch in Zimmer hinein, hoch oben im Dach, und in Kammern, in Höfe und Ställe, wo bescheidenere Wünsche von Seligkeiten im Portierhäuschen und im heiligen Ehestand zwischen Hänsel und Gretel träumen. Und dann steigt die glänzende Sonne empor und zieht alles mit sich hinauf – die Hänsel und Gretel, den in der Erde verborgnen Dunst, die schlummernden Blätter und Blumen, die Tiere, die da gehen, fliegen und kriechen, den Gärtner, der den tauglänzenden Rasen kehrt und smaragdenen Samt werden läßt, wo die Walze geht, und läßt den Rauch des Küchenfeuers gerade und hoch in die dünne Morgenluft sich emporkräuseln. Endlich steigt auch das Banner über Mr. Tulkinghorns in Schlummer ruhendem Haupte empor als freudige Kunde, daß Sir Leicester und Lady Dedlock in ihrem glücklichen Heim weilen und Gastfreundschaft auf dem Schlosse in Lincolnshire geübt wird.

42. Kapitel


42. Kapitel

In Mr. Tulkinghorns Wohnung

Mr. Tulkinghorn verläßt die grünen Abhänge und breitästigen Eichen des Dedlockschen Herrschaftssitzes und vertauscht sie mit der brütenden Hitze und der staubigen Luft Londons. Die Art, wie er zwischen den beiden Orten kommt und geht, ist eines seiner undurchdringlichen Privatgeheimnisse. Er erscheint in Chesney Wold, als läge es unmittelbar neben seiner Wohnung, und taucht in seiner Kanzlei auf, als habe er Lincoln’s-Inn-Fields nie verlassen. Er zieht sich weder vor der Reise anders an, noch spricht er darüber vor- oder nachher.

Diesen Morgen schmolz er wie ein Stück Eis aus seinem Turmzimmer hinweg, genauso, wie er jetzt in der späten Abenddämmerung in sein Stadtquartier hineingefriert.

Gleich einem rauchgeschwärzten Londoner Vogel unter seinen Artgenossen, die in diesen lieblichen Gefilden hausen, wo die Schafe zu Pergament, die Ziegen zu Perücken, das Weideland zu Häcksel verarbeitet werden, zieht der vertrocknete und verwelkte Advokat, der unter den Menschen wohnt und nicht mit ihnen verkehrt und alterte, ohne je eine heitere Jugend gekannt zu haben, und so lange gewohnt gewesen ist, sein ödes Nest in Höhlen und Winkeln des menschlichen Gemütes aufzuschlagen, daß er die geräumigeren und besseren Regionen darüber ganz vergessen hat, gemächlich in seinem Hause ein. In dem Brutofen, den das glühende Pflaster und die heißen Gebäude bilden, hat es ihm die Kehle mehr als gewöhnlich ausgedörrt, und er denkt durstig an seinen milden, ein halbes Jahrhundert alten Portwein.

Der Laternenmann klimmt auf Mr. Tulkinghorns Häuserseite der Inn-Fields, wo dieser Oberpriester adliger Geheimnisse jetzt in seinen düstern stillen Hof tritt, die Leiter auf und ab.

Der Advokat geht gerade die Türstufen hinauf, um in seine dämmrig dunkle Halle zu gehen, als er auf der obersten Stufe einem sich verbeugenden, lächelnden kleinen Mann begegnet.

»Sind Sie es, Snagsby?«

»Ja, Sir. Ich hoffe, Sie befinden sich wohl, Sir? Ich hatte eben die Hoffnung aufgegeben, Sir, Sie zu treffen, und wollte nach Hause gehen.«

»So? Was gibt’s? Was wünschen Sie von mir?«

»Ach, Sir«, sagt Mr. Snagsby und hält vor lauter Ehrerbietung vor seinem besten Kunden den Hut neben dem Kopf. »Ich hätte gern ein Wort mit Ihnen gesprochen, Sir.«

»Kann es hier geschehen?«

»O gewiß, Sir.«

»Also sprechen Sie.« Der Advokat dreht sich um, legt die Arme auf das eiserne Treppengeländer und sieht dem Laternenmann unten zu, wie er die Lichter im Hof anzündet.

»Es handelt sich«, beginnt Mr. Snagsby in geheimnisvollem, leisem Ton, »es handelt sich – um nicht durch die Blume zu sprechen – um die Fremde.«

Mr. Tulkinghorn sieht ihn erstaunt an. »Was für eine Fremde?«

»Die fremde Frauensperson, Sir. Französin, wenn ich nicht irre. Ich meinerseits kenne ihre Sprache nicht, aber ich möchte nach ihrem Wesen und ihrem Aussehen meinen, es sei eine Französin. Jedenfalls ist sie eine Ausländerin. Die oben im Zimmer war, Sir, als Mr. Bucket und ich an jenem Abend die Ehre hatten, Ihnen mit dem Gassenkehrerjungen unsre Aufwartung zu machen.«

»Ja, so, Mademoiselle Hortense.«

»So. Hm. Heißt sie so, Sir?« Mr. Snagsby hüstelt seinen Unterwürfigkeitshusten hinter dem Hut. »Mir sind im allgemeinen Namen von Ausländern nicht allzu geläufig, aber ich bezweifle durchaus nicht, daß man die Worte so ausspricht.« Mr. Snagsby scheint diese Antwort mit einem verzweifelten Ansatz, den Namen nachzusprechen, begonnen zu haben, aber bei näherer Überlegung beschränkt er sich lieber auf das Hüsteln.

»Und was haben Sie mir in bezug auf sie zu sagen, Snagsby?« fragt Mr. Tulkinghorn.

»Ja, sehen Sie, Sir«, antwortet der Papierhändler bescheiden in seinen Hut hinein, »es trifft mich etwas hart. Mein häusliches Glück ist sehr groß – wenigstens immerhin so groß, als es die Umstände erlauben –, aber meine kleine Frau neigt ein wenig zur Eifersucht. Um nicht durch die Blume zu sprechen, sie ist sogar außerordentlich eifersüchtig. Und sehen Sie, da kommt nun ein ausländisches Frauenzimmer von noblem Aussehen in den Laden herein, treibt sich in Cook’s Court herum – ich wäre gewiß der letzte, einen starken Ausdruck zu gebrauchen, wenn ich es vermeiden könnte –, aber sie treibt sich wirklich im Hof herum – wissen Sie –, aber sagen Sie selbst, ist es nicht so? Ich bin im voraus ganz Ihrer Meinung, Sir.«

– Nachdem Mr. Snagsby das in einer sehr kläglichen Weise vorgebracht hat, läßt er eine Art Gemeinplatzhusten hören, um alle etwa noch leergelassnen Lücken in seiner Schilderung damit auszufüllen. –

»Nun, und was wünschen Sie denn eigentlich?« fragt Mr. Tulkinghorn.

»Das ist es ja eben, Sir. Ich war überzeugt, Sie würden es selbst mitempfinden und meine Gefühle entschuldigen, wenn Sie die bekannte Reizbarkeit meiner kleinen Frau bedenken wollten. Sehen Sie, die ausländische Frauensperson – deren Namen Sie soeben nannten –schnappte an jenem Abend das Wort Snagsby auf – denn sie faßt ungewöhnlich rasch auf – und forschte weiter nach, erfuhr meine Adresse und platzte zum Mittagessen herein. Nun, wissen Sie, ist Guster, unser Mädchen, sehr furchtsam und überdies Krämpfen unterworfen, und richtig bekommt sie beim Anblick der ausländischen Person und infolge der höhnischen Manier, mit der sie spricht und sie sehr erschreckt, ihre Anfälle und stürzt die Küchentreppe hinab. Zum Glück war meine Frau damit beschäftigt, sie wieder zum Leben zurückzubringen, und außer mir weilte niemand im Laden. Die Ausländerin sagte mir, da sich Mr. Tulkinghorn beständig vor ihr verleugnen ließe, wollte sie sich solange das Vergnügen machen, in meinen Laden zu kommen, bis sie vorgelassen würde… Seit dieser Zeit hat sie sich unablässig in Cook’s Court herumgetrieben«, wiederholt Mr. Snagsby mit rührendem Nachdruck. »Die Folgen dieses Benehmens sind nicht auszudenken. Es würde mich nicht wundern, wenn es selbst in den Köpfen der Nachbarn, von meiner kleinen Frau gar nicht zu reden, bereits zu den peinlichsten Mißverständnissen Anlaß gegeben hätte. Und ich habe doch, der Himmel weiß es, nie im Leben von einem ausländischen Frauenzimmer auch nur geträumt, außer höchstens als Kind in Verbindung mit einem Bund Ruten oder einem Sack Nüsse. Das versichere ich Ihnen, Sir.«

Mr. Tulkinghorn hat das Herzeleid des Papierhändlers mit ernstem Gesicht bis zu Ende angehört und fragt jetzt: »Nun, und das ist alles, Snagsby?«

»Gewiß, Sir, das ist alles.« Mr. Snagsby fügt ein Hüsteln hinzu, das deutlich sagen soll: Ich dächte wirklich, daß das für meine Verhältnisse gerade genug ist.

»Ich weiß wirklich nicht, was Mademoiselle Hortense verlangen oder wollen mag, sie müßte denn verrückt geworden sein«, sagt der Advokat.

»Aber auch für diesen Fall, Sir«, fällt Mr. Snagsby ein, »wäre es kein großer Trost, fürchten zu müssen, eines Tages eine ausländische Waffe in Gestalt eines fremdländischen Dolches im Herzen seiner Familie stecken zu sehen.«

»Nein«, gibt Mr. Tulkinghorn zu. »Gut, gut! Dem soll ein Ende gemacht werden. Es tut mir leid, daß Sie Ungelegenheiten deswegen gehabt haben. Wenn sie wieder kommt, schicken Sie sie zu mir.«

Mit vielen Bücklingen und einem kurzen um Verzeihung bittenden Hüsteln empfiehlt sich Mr. Snagsby erleichterten Herzens. Mr. Tulkinghorn geht die Treppe hinauf und murmelt vor sich hin: »Ob nicht diese Weiber geschaffen sind, auf der ganzen Welt den Frieden zu stören. Ich habe noch nicht genug mit der Herrin zu tun, da kommt mir noch die Kammerzofe in die Quere! Aber mit dieser Dirne will ich mich wenigstens kurz fassen.«

Mit diesen Worten sperrt er seine Türe auf, tastet sich seinen Weg in das dunkle Zimmer, zündet seine Kerzen an und blickt um sich. Es ist zu dunkel, um viel von der Allegorie an der Decke zu sehen, aber der aufdringliche Römer, der beständig aus den Wolken fällt und mit dem Finger nach abwärts deutet, ist unentwegt in dieser Beschäftigung tätig. Mr. Tulkinghorn schenkt ihm weiter keine Aufmerksamkeit, zieht einen kleinen Schlüssel aus der Tasche, öffnet damit eine kleine Schublade, in der wieder ein Schlüssel liegt. Dieser erst paßt zu dem Kästchen, in dem der Schlüssel liegt, der den Aufenthaltsort des Kellerschlüssels aufsperrt.

Mit dem Licht in der Hand geht Mr. Tulkinghorn, in der Absicht, in die Regionen des Portweins hinabzusteigen, zur Türe, da klopft es.

»Wer ist da? – Aha, Mistreß. Sie sind es. Sie kommen mir gerade recht. Ich habe eben von Ihnen gehört. Nun! Was wollen Sie?« Er stellt das Licht auf den Kamin im Wartezimmer und klopft sich die dürre Wange mit dem Schlüssel, wie er Mademoiselle Hortense so bewillkommt.

Die katzenhafte Zofe mit ihren schmalen Lippen schließt, den Advokaten aus den Augenwinkeln ansehend, geräuschlos die Tür.

»Ich habe große Mühe gehabt, Sie zu finden, Sir«, sagt sie mit französischem Akzent. »So. Ich bin sehr oft hier gewesen, Sir. Immer hat es geheißen, er nicht zu Haus, er beschäftigt, er dies und das, er nicht bei sich.«

»Stimmt schon.«

»Stimmt nicht. Lügen!«

– Manchmal kann in Mademoiselle Hortenses Wesen etwas Rasches sein, das einem plötzlichen Sprung beängstigend ähnlich sieht. Der, den es angeht, pflegt in solchen Augenblicken unwillkürlich zu erschrecken und zurückzubeben. So geht es gegenwärtig Mr. Tulkinghorn, obgleich Mademoiselle Hortense mit fast geschlossnen Augen ruhig dasteht und nur verachtungsvoll lächelt. –

»Nun, Mistreß«, sagt der Advokat und klopft mit dem Schlüssel ungeduldig auf das Kaminsims, »wenn Sie etwas zu sagen haben, genieren Sie sich nicht.«

»Sir, Sie aben mich behandelt nicht gut. Sie sind gewesen gemein und schäbig.«

»Gemein und schäbig, oho!« Mr. Tulkinghorn reibt sich mit dem Schlüssel die Nase.

»Ja. Was ist es sonst? Sie aben mich drangekriegt – mich gefangen, um sich zu verschaffen Information. Sie mich haben lassen anziehen das Kleid, das Mylady muß getragen haben diesen Abend, haben mich gebeten, zu kommen ier und zu sehen den Knaben… Sprechen Sie!« Mademoiselle Hortense macht wieder einen Sprung.

»Zänkische Bestie!« scheint sich Mr. Tulkinghorn zu denken, wie er sie mißtrauisch mustert. Dann gibt er zur Antwort: »Gut, Dirne. Habe ich Sie denn nicht bezahlt?«

»Sie, mich bezahlt«, wiederholt sie verächtlich voller Wut. »Zwei Sovereign. Ich habe sie nicht gewechselt. Ich ver-achte sie, ich wer-fe sie von mir, ich will sie nicht.«

Sie nimmt die Goldstücke bei diesen Worten aus ihrem Busen und wirft sie mit solcher Gewalt auf den Fußboden, daß sie klingend wieder in die Höhe springen, dann in die Ecke kollern und sich dort langsam klirrend beruhigen.

»Nun!« sagt Mademoiselle Hortense und schließt ihre großen Augen wieder halb. »Sie mich aben bezahlt? Mon dieu, o ja?«

Mr. Tulkinghorn kratzt sich amüsiert mit dem Schlüssel den Kopf und lächelt sarkastisch dabei.

»Sie müssen reich sein, meine schöne Freundin«, bemerkt er gleichmütig, »wenn Sie Geld auf diese Weise wegwerfen können.«

»Ich bin reich. Ich bin reich an Haß. Ich hasse Mylady aus tiefster Seele. Sie wissen das.«

»Wissen? Woher soll ich es wissen?«

»Weil Sie es gewußt aben ganz gut, ehe Sie mich baten, Ihnen zu geben diese Information. Weil Sie aben gewußt ganz gut, daß ich war voll Zorrn.«

Mademoiselle scheint das »r« nicht wütend genug schnarren zu können, trotzdem sie schon energisch genug beide Hände ballt und mit den Zähnen knirscht.

»So! Wußte ich es? Wirklich?« sagt Mr. Tulkinghorn und besieht sich den Bart des Schlüssels.

»Ja, gewiß. Ich bin nicht blind. Sie haben mich umgarnt, weil Sie das wußten. Sie hatten recht. Ich verabscheue sie.« Mademoiselle Hortense verschränkt ihre Arme und wirft ihm ihre Bemerkung über die Schulter hin zu.

»Haben Sie außerdem noch etwas zu sagen, Mademoiselle?«

»Ich abe noch keine Stellung. Verschaffen Sie mir eine gute Stellung. Wenn Sie das nicht können oder nicht wollen, stellen Sie mich an, sie zu verfolgen, sie in Schmach und Schande zu hetzen. Ich will Ihnen helfen gut und mit gutem Willen. Sie wollen das doch. Glauben Sie, ich weiß es nicht?«

»Sie scheinen überhaupt sehr viel zu wissen«, entgegnet Mr. Tulkinghorn.

»Weiß ich nicht viel? Bin ich etwa so dumm, zu glauben, wie ein Kind, daß ich bin hierhergekommen in dem Kleid, um den Knaben zu sehen, nur wegen einer kleinen Wette? Mon dieu, o ja.«

– Anfangs hat Mademoiselle, ironisch höflich, liebenswürdig gesprochen, dann ist sie plötzlich zum bittersten Hohn übergegangen, und ihre schwarzen Augen, eben noch fast ganz geschlossen, sind jetzt weit aufgerissen. –

»Wollen mal sehen, wie die Sachen stehen«, sagt Mr. Tulkinghorn, klopft sich mit dem Schlüssel an das Kinn und macht ein höchst gleichmütiges Gesicht.

»Ja! Wollen mal sehen«, stimmt Mademoiselle mit lebhaftem und zornigem Kopfnicken ein.

»Sie kommen zu mir mit dem merkwürdig bescheidnen Verlangen, das Sie eben ausgesprochen haben, und wollen wahrscheinlich, wenn ich Ihnen nicht willfahre, wiederkommen?«

»Wiederkommen«, bestätigt Mademoiselle und nickt abermals zornig. »Und wieder. Und immer wieder. Und immer und immer wieder, ja, ewig.«

»Und nicht nur hierher wollen Sie kommen, sondern auch, wenn das keinen Erfolg hat, zu Mr. Snagsby? Immer und immer wieder?«

»Immer wieder«, knirscht Mademoiselle verbissen. »Und immer wieder. Und immer wieder.«

»Sehr gut. Jetzt, Mademoiselle Hortense, möchte ich Ihnen empfehlen, das Licht zu nehmen und Ihr Geld aufzulesen. Wenn ich nicht irre, liegt es hinter dem Pult des Schreibers dort in der Ecke.«

Sie schleudert ihm nur über die Schulter eine Lache ins Gesicht und bleibt, die Arme verschränkt, unbeweglich stehen.

»Sie wollen nicht?«

»Nein, ich will nicht.«

»Nun, dann sind Sie um zwei Sovereigns ärmer und ich um diese Summe reicher. Sehen Sie einmal, Mistreß, das ist der Schlüssel zu meinem Weinkeller. Ein hübsch großer Schlüssel, aber die Schlüssel von den Gefängnissen sind noch größer. In dieser Stadt gibt es Zwangsanstalten mit Tretmühlen – auch für Frauen –, deren Kerkertüren sehr dick und schwer sind, und wahrscheinlich auch die Schlüssel. Ich fürchte, einer Dame von Ihrem Temperament und Ihrer Lebhaftigkeit würde es kaum angenehm sein, sich von einem solchen Schlüssel auch nur ein paar Stunden einsperren zu lassen. Was meinen Sie dazu?«

»Ich meine«, entgegnet Mademoiselle, ohne sich zu rühren, in einem klaren verbindlichen Ton, »daß Sie sind – ein elender Schuft.«

»Schon möglich!« Mr. Tulkinghorn schneuzt sich ruhig. »Aber ich frage nicht, was Sie von mir denken, sondern was Sie vom Gefängnis halten.«

»Nichts. Was geht es mich an!«

»Nun, es geht Sie insoweit an, Mistreß«, sagt der Advokat, steckt langsam das Taschentuch ein und zupft sich den Busenstreif zurecht, »daß das Gesetz hierzulande so ungeniert ist, sich energisch einzumischen, um unsere guten englischen Bürger gegen ungebetne Besuche, selbst wenn sie von Damen kommen, zu schützen. Wenn sich jemand beschwert, daß ihn ein solcher Besuch belästigt, so nimmt das Gesetz die betreffende Dame beim Kragen und steckt sie hinter Schloß und Riegel. Ja, es dreht sogar den Schlüssel hinter ihr um, Mistreß.« Mr. Tulkinghorn macht mit dem Kellerschlüssel die entsprechende Bewegung.

»Nein, wirklich?« höhnt Mademoiselle in demselben verbindlichen Ton. »Wie drollig! Aber – meiner Treu – was geht das mich an!«

»Meine schöne Freundin«, sagt Mr. Tulkinghorn, »kommen Sie nur noch einmal hierher oder zu Mr. Snagsby, und Sie werden es erfahren.«

»Dann würden Sie mich vielleicht ins Gefängnis schicken?«

»Vielleicht.«

Mademoiselle macht Miene, mit schäumendem Mund tigerhaft die Zähne zu fletschen, bezwingt sich aber, denn es hätte nicht zu ihrer scherzhaften Stimmung gepaßt.

»Kurz und gut, Mistreß«, sagt Mr. Tulkinghorn, »es würde mir leid tun, unhöflich sein zu müssen, aber wenn Sie noch ein Mal uneingeladen hierher kommen oder zu Mr. Snagsby, übergebe ich Sie der Polizei. Sie ist sonst sehr galant gegen Damen, aber lästig fallende Personen läßt sie auf eine gewisse unangenehme Weise, auf ein Brett geschnallt, durch die Straßen tragen, mein Dämchen.«

»Ich werde Sie beim Wort nehmen«, flüstert Mademoiselle und streckt ihre Hand ganz seltsam aus. »Ich will sehen, ob Sie es wagen.«

»Und wenn ich Ihnen diese gute Stelle im Kerker einmal verschafft habe«, fährt der Advokat gelassen fort, »wird es einige Zeit dauern, ehe ich Sie wieder in Freiheit sehen darf.«

»Ich werde Sie auf die Probe stellen«, wiederholt Mademoiselle mit ihrem früheren Flüstern.

»Und jetzt«, fährt der Advokat fort, immer noch ohne sie zu beachten, »täten Sie am besten, Sie gingen. Überlegen Sie es sich zwei Mal.«

»Und überlegen Sie sich zweihundert mal zwei Mal Ihren Schritt«, gibt sie zur Antwort.

»Sie wissen, Ihre Herrin hat Sie entlassen, weil Sie so unduldsam und unlenkbar wie nur möglich waren«, bemerkt Mr. Tulkinghorn, während er sie hinausbegleitet. »Schlagen Sie jetzt ein andres Blatt auf und seien Sie gewarnt. Was ich sage, das meine ich auch. Und was ich drohe, das tue ich, Mistreß.«

Sie geht die Treppe hinunter, ohne ein Wort zu erwidern oder sich umzusehen. Als sie fort ist, geht auch er hinunter und kehrt mit einer bestaubten, bespinnwebten Flasche zurück und setzt sich hin, um in aller Muße seinen Portwein zu schlürfen.

Dann und wann, wenn er sich im Stuhl zurücklehnt, fällt ihm der mit hartnäckiger Ausdauer auf ihn weisende Römer an der Decke in die Augen.

43. Kapitel


43. Kapitel

Esthers Erzählung

Es gehört nicht hierher, wie oft ich an meine Mutter dachte, die mich gebeten hatte, ihrer wie einer Toten zu gedenken. Ich durfte nicht wagen, mich ihr zu nähern oder ihr zu schreiben, denn ich mußte fürchten, die Gefahr, in der sie beständig schwebte, dadurch nur noch zu vermehren. Mir stets bewußt, daß mein bloßes Dasein für sie eine ungeahnte Gefahr auf ihrer Lebensbahn bedeutete, konnte ich mich manchmal kaum erwehren, wieder von dem Entsetzen befallen zu werden, das mich damals das erste Mal ergriffen hatte, als ich von ihr das Geheimnis erfuhr. Niemals getraute ich mich, ihren Namen auszusprechen. Es war mir, als dürfte ich nicht einmal wagen, ihn nennen zu hören. Wenn das Gespräch gelegentlich in meiner Gegenwart auf sie kommen zu wollen schien, zwang ich mich, so gut es ging, nicht hinzuhören, oder ich zählte oder sagte innerlich etwas her oder verließ das Zimmer.

Wie oft rief ich mir die Stimme meiner Mutter ins Gedächtnis zurück und grübelte darüber nach, ob ich sie jemals wieder hören würde. Ich sehnte mich so nach ihr und mußte daran denken, wie seltsam und traurig es war, daß sie mir so neu und fremd klang.

Es kommt jetzt wenig darauf an, daß ich oftmals an der Tür ihres Hauses in der Stadt vorüberging und sie so gern angesehen hätte und mich davor fürchtete –, daß ich einmal im Theater war, als sich auch meine Mutter darin befand und mich sah und wir so weit getrennt waren – in jeder Hinsicht –, daß mir die Möglichkeit, zwischen uns könne überhaupt ein Band existieren, wie ein Traum erschien. Es ist jetzt doch alles, alles vorüber.

Mein Lebensweg ist so mit Freude und Segen bestreut gewesen, daß ich nur wenig von mir berichten kann, was nicht von der Güte und dem Edelmut andrer Zeugnis ablegte. So kann ich recht gut mein Leid übergehen und fortfahren.

Als wir uns wieder zu Hause eingewöhnt hatten, sprachen Ada und ich oft und viel mit meinem Vormund über Richard. Meinen Liebling schmerzte es tief, daß er meinem Vormund so unrecht tat, aber sie hielt so treu zu Richard, daß sie trotzdem kein tadelndes Wort über ihn hätte ertragen können. Mein Vormund wußte das recht gut und verband seinen Namen nie mit einem Wort des Vorwurfs.

»Rick ist nur im Irrtum, liebes Kind«, pflegte er immer wieder zu ihr zu sagen. »Nun, wir alle haben schon oft geirrt. Wir müssen seine Belehrung dir und der Zeit überlassen.«

Wir erfuhren später, was wir damals nur argwöhnten. Mr. Jarndyce tat alles mögliche, um Richard die Augen zu öffnen, schrieb an ihn, war zu ihm gegangen, um ihm zuzureden und es mit allen Mitteln zu probieren, die nur sein gutes Herz hätte ersinnen können. Aber unser armer Richard war für alles taub und blind. Wenn er unrecht hätte, sagte er, wollte er sein Unrecht wieder gut machen, sobald der Kanzleigerichtsprozeß vorüber sei. Wenn er im Dunkeln tappen müsse, so wolle er eben sein möglichstes tun, um die verfinsternden Wolken zu zerstreuen. Im Argwohn und im Mißverstehen andrer lägen die Fehler des Prozesses? Gut, dann solle man den Prozeß zu Ende führen, schon der Wahrheit wegen. So lautete stets seine Antwort. Jarndyce kontra Jarndyce« hatte ihn so gefangen genommen, daß es unmöglich war, ihm irgend etwas plausibel zu machen. Aus allem drehte er sich einen neuen Strick zugunsten dessen, was er sich ausgeklügelt hatte.

»Je mehr man dem armen Jungen Vorstellungen macht, desto mehr schadet man ihm«, sagte einmal mein Vormund zu mir. »Es ist vielleicht das Beste, man überläßt ihn sich selbst.«

Ich benutzte einmal eine Gelegenheit, meinen Zweifeln Ausdruck zu geben, ob Mr. Skimpole ein guter Ratgeber für Richard sei.

»Ratgeber?« lachte mein Vormund. »Aber, liebe Esther, wem würde es einfallen, sich von Skimpole einen Rat geben zu lassen!«

»Anstifter wäre vielleicht das bessre Wort«, sagte ich.

»Anstifter, Esther? Wer könnte sich denn von Mr. Skimpole zu irgend etwas aufmuntern oder anstiften lassen?«

»Nicht Richard?«

»Nein. Ein so unweltlich gesinntes, unberechnendes und immer in Wolken schwebendes Geschöpf kann ihm vielleicht ein Spaß oder zu Zeiten ein Trost sein. Von einem Kind wie Skimpole kann man nicht annehmen, daß er irgend jemand aufmuntere, anstifte oder irgend etwas überhaupt ernst nähme.«

»Bitte, Vetter John«, fragte Ada, die eben hereingetreten war und jetzt über meine Schulter blickte, »was hat ihn denn eigentlich zu einem solchen Kind gemacht?«

»Was ihn zu einem solchen Kind gemacht hat?« Mein Vormund rieb sich ein wenig ratlos den Kopf.

»Ja, Vetter John.«

»Nun«, antwortete langsam und zögernd Mr. Jarndyce und fuhr sich durch die Haare, »er ist ganz Gefühl und – Empfänglichkeit und – Sensibilität – und – und Einbildungskraft. Alle diese Eigenschaften sind bei ihm, ich weiß nicht, wieso, nicht gehörig geregelt. Ich vermute, die Leute, die ihn deswegen in seiner Jugend vielleicht bewunderten, haben auf sie zuviel Wert gelegt und zuwenig auf ihre Erziehung. Und so ist er schließlich zu dem geworden, was er ist. Wie?« Mein Vormund brach kurz ab und sah uns erwartungsvoll an. »Was haltet ihr beide davon?«

Ada warf mir einen Blick zu und meinte, es sei jedenfalls bedauerlich, daß er Richard soviel Geld koste.

»Das ist richtig. Das ist richtig«, fiel mein Vormund hastig ein. »Das darf nicht sein. Das muß anders werden. Das darf ich nicht dulden. Das geht durchaus nicht.«

Ich sagte, ich hielte es für beklagenswert, daß Mr. Skimpole wegen eines Geschenkes von fünf Pfund Richard überhaupt bei Mr. Vholes eingeführt habe.

»So? Tat er das?« Ein Schatten des Verdrusses flog rasch über das Gesicht meines Vormundes. »Da habt ihr ihn wieder. Das sieht ihm ähnlich. Bei ihm liegt darin aber trotzdem nicht die mindeste Habgier. Er hat einfach keinen Begriff von dem Werte des Geldes. Er führt Rick ein, und dann wird er gut Freund mit Mr. Vholes und borgt sich von ihm fünf Pfund. Er denkt sich nicht das geringste dabei. Ich möchte wetten, er hat es dir selbst gesagt, liebes Kind.«

»Allerdings.«

»Na also!« rief mein Vormund triumphierend. »Da haben wir’s wieder. Wenn er etwas Unrechtes damit beabsichtigt hätte, würde er dir doch nicht selbst alles erzählt haben. Er spricht so, wie er handelt, in reiner kindlicher Einfalt. Aber ihr müßt ihn einmal in seiner Wohnung sehen. Dann werdet ihr ihn besser verstehen. Wir müssen ihm einen Besuch machen und ihm wegen des erwähnten Punktes Vorstellungen machen. Ja, ja, meine Lieben, er ist ein Kind, ein reines Kind.«

So kam es, daß wir uns wenige Tage später in London befanden und bald vor Mr. Skimpoles Türe standen. Seine Wohnung lag im sogenannten Polygon in Somerstown, wo sich damals viele arme spanische Flüchtlinge aufhielten und, in Mäntel gehüllt, kleine Papierzigarren rauchend, umherschlenderten. Ob er ein besserer Mieter war, als man hätte annehmen sollen, oder weil Freund »Jemand« zuletzt immer doch den Zins bezahlte, oder ob sein Mangel an Geschäftssinn seine endgültige Entfernung aus dem Logis vielleicht schwierig gestaltete, weiß ich nicht, jedenfalls bewohnte er das Haus schon seit mehreren Jahren.

Es war in einer Weise verfallen, die unsern Erwartungen ganz entsprach. Zwei oder drei Vorgartengitter fehlten ganz, das Wasserfaß war zerbrochen, der Klopfer locker, der Klingelgriff, nach dem verrosteten Zustand des Drahtes zu urteilen, längst abgerissen, und nur schmutzige Fußtapfen auf der Treppe verrieten, daß es überhaupt bewohnt war.

Ein schlampiges üppiges Mädchen, das aus den geplatzten Nähten ihres Kleides und den Rissen in ihren Schuhen wie eine überreife Beere herauszuquellen schien, öffnete auf unser Klopfen die Tür ein wenig und versperrte die Öffnung mit ihrem Körper. Als sie Mr. Jarndyce erkannte – Ada und mir schwante es, als ob er mit ihrer monatlichen Entlohnung in einer gewissen Verbindung stünde –, schwand sofort ihre Besorgnis, und sie ließ uns eintreten.

Da das Schloß verdorben war, machte sie die Türe mit einer Kette zu, die ebenfalls nicht besonders gut erhalten war, und fragte uns, ob wir wirklich hinaufgehen wollten.

Wir stiegen in den ersten Stock, und das einzige Zeichen von Bewohntsein bildeten immer noch die schmutzigen Fußstapfen. Ohne weitere Zeremonie trat Mr. Jarndyce in ein Zimmer, und wir folgten. Es war arg verräuchert und keineswegs sauber, aber möbliert in einer wunderlichen Art von schäbigem Luxus. Ich sah einen großen Fußschemel, ein Sofa, eine Menge von Polstern, einen Lehnstuhl, wieder mit einem Überfluß von Kissen, ein Piano, Bücher, Zeichenmappen, Musikalien, Zeitungen, einige Skizzen und Gemälde. Eine zerbrochne Glasscheibe in einem der schmutzigen Fenster war mit Papier und Oblaten verklebt, aber auf dem Tisch standen ein Teller mit Treibhauspfirsichen, einer mit Trauben und ein dritter mit Kuchen. Eine Flasche mit leichtem Wein daneben. Mr. Skimpole selbst ruhte im Schlafrock auf dem Sofa, schlürfte duftenden Kaffee aus einer alten Porzellantasse, obwohl es ungefähr Mittag war, und betrachtete eine Sammlung Mauerblumen auf dem Balkon.

– Unser Kommen brachte ihn nicht im mindesten außer Fassung. Er stand auf und empfing uns in seiner gewohnten unbefangnen Weise. –

»Hier lebe ich, wie Sie sehen«, sagte er, als wir uns – nicht ohne Schwierigkeit, denn der größte Teil der Stühle war zerbrochen – gesetzt hatten. »Hier ist mein Heim. Dies ist mein frugales Frühstück. Manche Leute bestehen auf Rinds- und Hammelkeule zum Frühstück. Ich nicht. Wenn ich meine Pfirsiche, meine Tasse Kaffee und meinen Claret habe, bin ich zufrieden. Ich genieße sie nicht ihrer Geschmacksvorzüge wegen, sondern nur, weil sie mich an die Sonne erinnern. In Rinds- und Hammelkeulen liegt nichts Sonnenhaftes. Reiner tierischer Genuß.«

»Das ist das Sprechzimmer unsres Freundes, das heißt, wenn er praktizierte, würde es das sein – sein Allerheiligstes –, sein Studierzimmer«, erklärte uns mein Vormund.

»Ja«, sagte Mr. Skimpole und sah sich mit strahlender Miene um. »Das ist der Käfig des Vogels. Hier wohnt und singt der Vogel. Dann und wann rupfen sie ihm die Federn aus und schneiden ihm die Flügel. Aber er singt.«

Er reichte uns die Trauben hin und ergänzte in seiner strahlenden Weise: »Er singt kein anspruchsvolles Lied, aber er singt.«

»Die Trauben sind vorzüglich«, sagte mein Vormund. »Ein Geschenk, Harold?«

»Nein. Irgendein liebenswürdiger Gärtner hat sie zu verkaufen gehabt. Als ein Gehilfe sie gestern abend brachte, fragte er, ob er auf das Geld warten solle. ‚Ich dächte nicht, mein Freunds riet ich ihm, ‚wenn Ihnen Ihre Zeit etwas wert ist.‘ Und das mußte wahrscheinlich der Fall sein, denn er ging fort.«

Mein Vormund sah uns lächelnd an, als wolle er sagen: »Ist es überhaupt möglich, mit diesem Kind von praktischen Sachen zu sprechen?«

»Das ist heute ein Tag, dessen man sich hier ewig erinnern wird«, sagte Mr. Skimpole und nahm aus seinem großen Glas einen kleinen Schluck Claret. »Wir werden ihn den St. Clare und St. Summersonntag taufen. Sie müssen meine Töchter sehen. Ich habe eine blauäugige Tochter, das ist meine Schönheitstochter, dann eine Gefühlstochter und außerdem eine Komödientochter. Sie müssen sie alle sehen – Sie werden entzückt sein.«

– Er wollte sie holen gehen, aber mein Vormund hielt ihn ab und bat ihn, noch einen Augenblick zu warten, da er erst ein paar Worte mit ihm sprechen möchte. –

»Soviel Augenblicke wie Sie wollen, mein lieber Jarndyce.« Mr. Skimpole setzte sich wieder auf sein Sofa. »Auf Zeit kommt es uns hier nie an. Wir wissen nie, wie spät es ist, und kümmern uns auch nicht darum. Das ist nicht der Weg, im Leben vorwärts zu kommen, werden Sie sagen. Gewiß nicht. Wollen wir denn überhaupt im Leben vorwärtskommen? Wir beanspruchen es doch gar nicht.«

– Mein Vormund warf uns wieder einen lustigen Blick zu. –

»Nun, Harold«, fing er an, »was ich Ihnen zu sagen habe, betrifft Rick.«

»Er ist mein teuerster Freund auf der Welt«, fiel Mr. Skimpole herzlich ein. »Er soll wahrscheinlich nicht mein teuerster Freund sein, da er mit Ihnen nicht auf bestem Fuß steht? Aber er ist es nun einmal, und ich kann nichts dafür. Er ist voll jugendfrischer Poesie, und ich liebe ihn. Wenn Sie das nicht gerne sehen, so kann ich mir nicht helfen. Ich liebe ihn.«

Seine gewinnende Offenheit machte wirklich einen uneigennützigen Eindruck, entzückte meinen Vormund und jedenfalls auch Ada.

»Sie können ihn lieben, soviel Sie wollen«, versicherte Mr. Jarndyce. »Aber seine Tasche müssen wir schonen, Harold.«

»O«, sagte Mr. Skimpole, »seine Tasche? Jetzt fangen Sie schon wieder von Dingen an, die ich nicht verstehe.« Er schenkte sich wieder ein Glas Claret ein, tunkte seinen Kuchen hinein, schüttelte den Kopf und lächelte Ada und mich mit einer naiven Vorahnung, daß er uns niemals würde verstehen können, an.

»Wenn Sie in seiner Begleitung sind«, sagte mein Vormund offen heraus, »dürfen Sie ihn nicht für Sie mitbezahlen lassen.«

»Mein lieber Jarndyce«, entgegnete Mr. Skimpole, und sein durchgeistigtes Gesicht strahlte, so komisch schien ihm der Gedanke vorzukommen. »Was soll ich denn anderes tun? Wenn er mich irgendwohin mitnimmt, muß ich doch gehen. Und wie kann ich für mich bezahlen? Ich habe doch nie Geld. Und wenn ich Geld hätte, was hülfe es. Ich verstehe nichts davon. Nehmen wir an, daß ich jemanden fragte: Wieviel kostet das? Und ich bekäme zur Antwort: Sieben Schilling und sechs Pence, so ist es mir einfach unmöglich, daraus die nötigen praktischen Konsequenzen zu ziehen. Ich laufe nicht bei Geschäftsleuten herum, um sie zu fragen, was sieben Schilling und sechs Pence auf arabisch heißt. Ich verstehe es ja doch nicht. Warum soll ich dann herumlaufen, was sieben Schilling und sechs Pence in der Geldsprache heißt, die ich ebenfalls nicht verstehe.«

»Nun«, sagte mein Vormund, dem diese naive Antwort durchaus nicht mißfiel, »wenn Sie wieder einmal mit Rick reisen, müssen Sie sich das Geld von mir borgen – aber Sie dürfen es nicht verraten – und ihm das Rechnen überlassen.«

»Mein lieber Jarndyce«, beteuerte Mr. Skimpole, »ich will alles tun, was Ihnen Vergnügen macht, aber es erscheint mir als eine leere Formsache, ein Aberglauben. Außerdem gebe ich Ihnen mein Wort, Miß Clare und meine liebe Miß Summerson, ich glaubte, Mr. Carstone sei ungeheuer reich. Ich dachte, er brauchte bloß ein Papier oder einen Wechsel zu unterschreiben oder auf einen Knopf zu drücken, um einen Regen von Geld vom Himmel fallen zu lassen.«

»Das ist durchaus nicht der Fall, Sir«, sagte Ada. »Er ist arm.«

»So, wirklich?« Mr. Skimpole lächelte fröhlich. »Da staune ich wirklich.«

»Und da er überdies dadurch nicht reicher wird, daß er sich auf ein morsches Rohr stützt«, – mein Vormund legte ernst seine Hand auf den Ärmel von Mr. Skimpoles Schlafrock – »so müssen Sie sich hüten, daß Sie ihn in seinen Hoffnungen bestärken.«

»Mein lieber guter Freund«, entgegnete Mr. Skimpole, »und meine liebe Miß Summerson und meine liebe Miß Clare, wie soll ich das anfangen? Es handelt sich um Geschäfte, und ich verstehe doch nichts von Geschäften. Er bestärkt mich vielmehr. Er kommt nach großen Geschäftstaten zu mir, zeigt mir als ihr Resultat die glänzendsten Aussichten und fordert mich auf, sie mit ihm zu bewundern. Ich bewundere sie – als glänzende Aussichten –, aber mehr verstehe ich nicht davon, und ich sage ihm das auch.«

Die hilflose Aufrichtigkeit, mit der er uns das erklärte, die leichtherzige Weise, mit der er uns durch seine Unschuld ergötzte, und die phantastische Art, wie er sich selbst in Schutz nahm, verbunden mit seiner gewinnenden Unbefangenheit, bestätigten nur das Urteil meines Vormundes. Je mehr ich ihn kennenlernte, desto unwahrscheinlicher erschien es mir in seiner Anwesenheit, daß er absichtlich einen bösen Einfluß ausüben könnte. Aber desto wahrscheinlicher kam es mir vor, wenn ich nicht mit ihm beisammen war, und um so mehr quälte mich der Gedanke, er könne mit irgend jemandem, dessen Wohl mir am Herzen lag, etwas zu tun haben.

Da er jetzt vernahm, daß sein Verhör – wie er es nannte – vorüber sei, verließ er fröhlich das Zimmer, um seine Töchter zu holen – seine Söhne waren zu verschiednen Zeiten bereits davongelaufen-, und ließ meinen Vormund ganz entzückt über die Art, wie er seinen kindlichen Charakter gerechtfertigt hatte, zurück. Er kam bald wieder herein mit drei jungen Damen und Mrs. Skimpole, die früher eine Schönheit gewesen sein mußte, aber jetzt eine kränkliche hochnäsige Dame war, die an allen möglichen Krankheiten litt.

»Dies«, stellte Mr. Skimpole vor, »ist meine Schönheitstochter Arethusa, sie spielt und singt alles durcheinander wie ihr Vater. Hier meine Gefühlstochter Laura, musiziert ein wenig, singt aber nicht. Und das ist meine Komödientochter Kitty, singt ein bißchen, musiziert aber nicht. Wir zeichnen alle ein wenig und komponieren ein bißchen, und keins von uns hat einen Begriff von Zeit oder Geld.«

– Mrs. Skimpole seufzte, kam mir vor, als hätte sie recht gern auf diesen Teil der Familienfertigkeiten verzichtet. –

Mir schien auch, als ob ihr Seufzer ein wenig auf meinen Vormund gemünzt sei und sie gern jede Gelegenheit ergriffen haben würde, einen zweiten hören zu lassen.

»Es ist erfreulich«, sagte Mr. Skimpole und sah uns mit seinen munteren Augen der Reihe nach an, »und es ist komisch interessant, ererbten Eigentümlichkeiten in Familien nachzugehen. In dieser Familie sind wir alle Kinder, und ich bin das jüngste.«

– Den Töchtern, die ihn sehr lieb zu haben schienen, machte diese wunderliche Tatsache großen Spaß, besonders der Komödientochter. –

»Ist es nicht wahr, meine Lieben? So ist es, und so muß es sein, weil es, wie es im Liede von den Hunden heißt, unsre Natur ist. Hier haben wir zum Beispiel Miß Summerson, ausgestattet mit einem schönen Administrationstalent und einem wahrhaft erstaunlichen Auffassungsvermögen für Details. Es wird Miß Summersons Ohr vielleicht seltsam klingen, aber wir wissen in diesem Hause zum Beispiel nicht das mindeste von Koteletten. Wir können nicht das Geringste kochen. Nadel und Zwirn verstehen wir nicht zu gebrauchen. Wir bewundern die Leute, die das praktische Wissen besitzen, das uns abgeht, aber wir zanken uns deshalb nicht mit ihnen. Warum sollten sie sich dann mit uns zanken? Leben und leben lassen, sagen wir zu ihnen. Lebt ihr von eurer praktischen Wissenschaft und laßt uns von euch leben!«

– Er lachte und schien wie immer aufrichtig von dem, was er sagte, überzeugt zu sein. –

»Wir haben Sympathien, meine Rosen, für alles. Nicht wahr?«

»O ja, Papa!« riefen die drei Töchter.

»Das ist unser Fach. In unserm Durcheinander von Leben. Wir sind imstande, mit Interesse zuzusehen, und tun das. Was wollen wir mehr? Hier meine Schönheitstochter ist seit drei Jahren verheiratet. Ich muß gestehen, daß sie wieder ein erwachsenes Kind heiratete und zwei kleine dazu bekam, ist vielleicht in nationalökonomischer Hinsicht ein Unrecht, aber es war sehr angenehm. Wir hielten unsre kleinen Festlichkeiten bei diesen Gelegenheiten ab und tauschten soziale Ideen aus. Sie brachte eines Tages ihren Gatten nach Hause, und sie und ihre junge Brut haben ihr Nest oben. Gemüt und Komödie werden wahrscheinlich auch eines Tages ihre Gatten nach Hause bringen und ihr Nest oben bauen. So leben wir. Wir wissen nicht, wie, aber wir leben.«

Arethusa sah für eine Mutter von zwei Kindern sehr jung aus, und ich mußte sie und auch ihre Sprößlinge innerlich bemitleiden. Es war klar, daß die drei Töchter aufgewachsen waren, wie es eben gekommen war, und nicht mehr Bildung besaßen, als sich zufällig ergeben hatte, wenn sie ihrem Vater in seinen Träumereien als Spielzeug gedient hatten. Auf seinen malerischen Geschmack nahmen sie, wie ich bemerkte, in ihren verschiednen Arten, ihr Haar zu tragen, Rücksicht. Die Schönheitstochter trug das ihre klassisch, die Gemütstochter war üppig und wallend und die Komödientochter kokett und mit lebhaften kleinen Löckchen an den Augenwinkeln ihrer heiteren Stirn frisiert. Ihre Kleider waren dementsprechend, aber unsauber und sehr vernachlässigt.

Ada und ich unterhielten uns mit den jungen Damen und fanden sie ihrem Vater außerordentlich ähnlich. Mr. Jarndyce, der sich den Kopf sehr viel gerieben und von einer Veränderung der Windrichtung gesprochen hatte, unterhielt sich unterdessen mit Mrs. Skimpole in einer Ecke, und wir hörten gelegentlich Geld klimpern. Mr. Skimpole hatte sich vorher entfernt, um sich umzukleiden, denn er wollte uns später nach Hause begleiten.

»Meine Rosen«, sagte er, als er zurückkam, »pflegt mir die Mama. Sie ist angegriffen heute. Ich gehe auf ein paar Tage auf Besuch zu Mr. Jarndyce, werde die Lerchen singen hören und will mir meine fröhliche Laune bewahren. Ihr wißt, Mama hat wieder manches ausstehen müssen, und es würde wieder so kommen, wenn ich zu Hause bliebe.«

»Der schlechte Mann«, sagte die Komödientochter.

»Und gerade zu der Zeit kam er, wo er wußte, daß Papa sich neben seine Mauerblumen legen und den blauen Himmel betrachten wollte«, klagte Laura.

»Und als Heugeruch die Luft durchduftete«, fügte Arethusa hinzu.

»Es verrät einen Mangel an Poesie in dem Mann«, stimmte Mr. Skimpole gutgelaunt bei. »Es war roh. Es verriet das Fehlen der feinen Züge der Menschlichkeit. Meine Töchter haben sich nämlich sehr geärgert«, erklärte er uns, »über einen ehrlichen Mann…«

»Nicht ehrlich, Papa. Unmöglich!« protestierten alle drei.

»Über einen rauhen Burschen – eine Art zusammengerollten menschlichen Igel. Einen Bäcker hier in der Nähe, von dem wir uns ein paar Lehnstühle geborgt hatten. Wir brauchten ein paar Lehnstühle, besaßen keine und sahen uns daher natürlich nach einem Mann um, der welche hätte. Der mürrische Mensch lieh sie uns, und wir nutzten sie ab. Als sie abgenutzt waren, wollte er sie wieder zurück haben. Wir gaben sie ihm zurück. Er war befriedigt, werden Sie glauben. Durchaus nicht! Er beklagte sich darüber, daß sie abgenutzt waren. Ich machte ihm Vorstellungen und bemühte mich, ihm seinen Irrtum aufzuklären. Ich sagte: ‚Können Sie in Ihrem Alter wirklich so kurzsichtig sein, mein Freund, und behaupten, ein Lehnstuhl sei ein Ding, das man auf den Schrank stellt und ansieht? Oder ist es vielleicht ein Gegenstand zum Anschauen? Wissen Sie denn nicht, daß wir uns diese Armstühle borgten, um uns darauf zu setzen ?‘

Aber er nahm keine Vernunft an, war nicht zu überzeugen und wurde heftig. Ich blieb so ruhig, wie ich jetzt bin, und machte ihm weitere Vorstellungen. ‚Mein guter Mann‘, sagte ich, ’so verschieden auch unsere Fähigkeiten sein mögen, so sind wir doch alle Kinder einer großen Mutter, der Natur. An diesem herrlichen Sommermorgen sehen Sie mich hier auf dem Sofa liegen, mit Blumen vor mir, Früchten auf dem Tisch, den wolkenlosen Himmel über mir, die Luft voll Wohlgerüchen, versunken in die Betrachtung der Natur. Ich beschwöre Sie bei unsrer gemeinsamen Mutter, nicht zwischen mich und einen so erhabnen Anblick die lächerliche Gestalt eines zornigen Bäckers zu drängen.‘ Aber er tat es«, sagte Mr. Skimpole mit erstaunt in die Höhe gezognen Augenbrauen. »Er tat es und wird es wieder tun. Deshalb bin ich froh, ihm aus dem Wege gehen und meinen Freund Jarndyce nach Hause begleiten zu können.«

Daß Mrs. Skimpole und die Töchter zurückbleiben und es mit dem Bäcker allein würden aufnehmen müssen, schien er nicht weiter zu bedenken. Es war ihnen allen eine so alte Geschichte, daß sie es offenbar für ganz selbstverständlich hielten. Dann nahm er mit großer Zärtlichkeit, anmutig und liebenswürdig wie immer, von seiner Familie Abschied und fuhr in vollster Seelenharmonie mit uns fort. Durch einige offne Türen konnten wir, wie wir die Treppe hinuntergingen, sehen, daß sein Zimmer im Vergleich zu den übrigen Räumen des Hauses ein wahrer Palast war.

Ich ahnte nicht im entferntesten, daß noch an diesem Tage etwas mich für den Augenblick sehr Erschütterndes und mir in seiner Tragweite für immer Denkwürdiges vorfallen sollte. Unser Gast war auf dem Wege zu uns so heiterer Laune, daß ich weiter nichts tun konnte, als ihm zuzuhören und mich immer wieder über ihn zu wundern. Ada schien unter demselben Zauber zu stehen. Was meinen Vormund betraf, so war der Wind wieder vollständig umgesprungen, ehe noch eine Stunde hinter uns lag. Konnte Mr. Skimpoles Kindlichkeit in andern Dingen vielleicht auch noch so zweifelhaft sein, daß er sich über Ortsveränderungen und schönes Wetter freute wie ein Kind, –war sicher. In keiner Weise ermüdet durch die lustige Unterhaltung unterwegs, war er früher im Salon als wir, und ich hörte ihn am Piano Dutzende von Refrains von Barkarolen und deutschen und italienischen Trinkliedern singen, noch während ich mit meinen Wirtschaftsschlüsseln beschäftigt war.

Wir saßen vor dem Essen alle im Salon beisammen, und er, immer noch am Piano, schwelgte in kurzen Melodien und sprach davon, er wolle morgen Skizzen von der alten verfallnen Mauer von Verulam, die er vor ein paar Jahren angefangen und wieder liegen gelassen hatte, beenden, als man eine Karte hereinbrachte und mein Vormund mit erstauntem Ton laut las:

»Sir Leicester Dedlock!«

Das Zimmer drehte sich mit mir, und ich hatte nicht die Kraft, mich zu bewegen, sonst wäre ich rasch zu dem draußen wartenden Besuch hinausgegangen. In meinem Zustand von Schwindel hatte ich nicht einmal die Geistesgegenwart, mich an das Fenster zu Ada zurückzuziehen; konnte sie überhaupt kaum sehen. Ich hörte meinen Namen nennen und begriff, daß mich mein Vormund vorstellte, noch ehe ich mich nach einem Stuhl begeben konnte.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Sir Leicester.«

»Mr. Jarndyce«, sagte Sir Leicester mit einer Verbeugung und setzte sich, »ich erweise mir die Ehre, Sie zu besuchen…«

»Sie erweisen mir die Ehre, Sir Leicester.«

»Ich danke Ihnen. Auf… Auf meiner Reise nach Lincolnshire, Sie hier zu besuchen, um Ihnen mein Bedauern auszudrücken, daß Ursachen zur Beschwerde, die ich gegen einen Herrn habe, den Sie kennen und bei dem Sie wohnten und auf den ich daher nicht weiter anspielen werde, nicht nur Sie, sondern auch die unter Ihrer Obhut stehenden Damen verhindert haben, das Wenige zu besichtigen, was in meinem Hause in Chesney Wold einem feinen und gebildeten Geschmack gefallen kann.«

»Sie sind außerordentlich liebenswürdig, Sir Leicester. In dem Namen dieser Damen – Sie sehen sie hier –, und für mich selbst danke ich Ihnen auf das verbindlichste.«

»Wäre es möglich, Mr. Jarndyce, daß der Herr, auf den ich aus den bereits angedeuteten Gründen keine weiteren Anspielungen machen kann, wäre es möglich, Mr. Jarndyce, daß dieser Herr meinen Charakter so falsch aufgefaßt haben könnte, daß er Sie vielleicht zu dem Glauben verleitet hat, man würde Sie auf meinem Landsitz in Lincolnshire nicht mit der Höflichkeit und Courtoisie empfangen, die meinen Leuten gegenüber allen Damen und Herren, die sich mein Haus ansehen wollen, aufs strengste aufgetragen ist? Ich möchte für einen solchen Fall nur zu bemerken bitten, Sir, daß Sie des Gegenteils versichert sein dürfen.«

– Mein Vormund hörte taktvoll zu, gab aber keine Antwort. –

»Es hat mir unendlich leid getan, Mr. Jarndyce«, fuhr Sir Leicester wichtig fort, »ich versichere Ihnen, Sir, es hat – mir unendlich leid getan, von der Haushälterin in Chesney Wold haben hören zu müssen, daß auch ein Herr, der damals dort in Ihrer Gesellschaft war und einen sehr feinen Geschmack und gebildeten Kunstsinn zu besitzen scheint, sich von einer ähnlichen Ursache abhalten ließ, die Familienbilder mit der Muße der Aufmerksamkeit und der Sorgfalt, die er Ihnen vielleicht sonst zu widmen gewünscht haben würde, zu besichtigen!« Er zog bei diesen Worten eine Karte heraus und las mit großem Ernst und einiger Anstrengung durch sein Augenglas: »Mr. Hirrold – Herald – Harold –Skampling – Skumpling – Pardon – Skimpole.«

»Hier, dieser Herr ist Mr. Skimpole«, sagte mein Vormund, sichtlich überrascht.

»O«, rief Sir Leicester, »ich schätze mich glücklich, mit Mr. Skimpole zusammenzutreffen und eine Gelegenheit zu haben, ihm mein persönliches Bedauern aussprechen zu können. Ich hoffe, Sir, wenn Sie wieder in meine Gegend kommen, werden Sie sich nicht mehr durch ähnliche Beweggründe abhalten lassen.«

»Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Sir Leicester Dedlock. So ermutigt, werde ich mir gewiß nicht das Vergnügen eines abermaligen Besuchs Ihres schönen Hauses versagen. Die Besitzer solcher Schlösser wie Chesney Wold«, sagte Mr. Skimpole in seiner gewohnten fröhlichen und leichtherzigen Weise, »sind die Wohltäter des Publikums. Sie sind so gütig, eine Menge der herrlichsten Gegenstände zur Bewunderung und Freude von uns armen Leuten bereitzuhalten; und nicht alle Freuden ihres Anblicks zu genießen, hieße Undankbarkeit für unsre Wohltäter an den Tag legen.«

– Sir Leicester schien diese Worte sehr zu billigen. –

»Sie sind Künstler, Sir?«

»Nein«, antwortete Mr. Skimpole. »Ich bin ein Mann ohne jeden Beruf, ein bloßer Amateur.«

Sir Leicester schien das sogar noch mehr zu gefallen. Er hoffte, so glücklich zu sein, sagte er, in Chesney Wold anwesend zu sein, wenn Mr. Skimpole das nächste Mal nach Lincolnshire kommen werde, und Mr. Skimpole fühlte sich dadurch sehr geschmeichelt und geehrt.

»Mr. Skimpole«, fuhr Sir Leicester, wieder zu meinem Vormund gewendet, fort, »erwähnte gegen die Haushälterin, die, wie er vielleicht bemerkt hat, eine alte und treue Dienerin der Familie ist –«

»Es war, als ich mir neulich, wie ich Miß Summerson und Miß Clare besuchte –« erklärte Mr. Skimpole in seiner unbefangnen Weise.

»– daß der Freund, mit dem er früher dort gewesen, Mr. Jarndyce sei.« Sir Leicester machte meinem Vormund eine Verbeugung. »Und dadurch erfuhr ich den Umstand, wegen dessen ich mein Bedauern ausgesprochen habe. Daß es gerade einen Gentleman betraf, Mr. Jarndyce, einen Gentleman, der Lady Dedlock früher gekannt hat und sogar ihr entfernter Verwandter ist und den sie, wie ich von Mylady selbst weiß, außerordentlich hochschätzt, das, versichere ich Ihnen, tut mir ganz be–son-ders leid.«

»Bitte, sprechen Sie nicht weiter davon, Sir Leicester«, erwiderte mein Vormund. »Wir alle sind Ihnen sehr verpflichtet für Ihre Liebenswürdigkeit. In Wirklichkeit lag der Irrtum ganz auf meiner Seite, und ich sollte um Entschuldigung bitten.«

– Ich hatte nicht ein einziges Mal aufgeblickt, den Besuch nicht gesehen, und es schien mir sogar, als habe ich nicht einmal das Gespräch gehört. Es wundert mich, daß ich es mir überhaupt ins Gedächtnis zurückrufen kann, denn es schien damals an meinem Ohr spurlos vorübergegangen zu sein. Ich hörte wohl sprechen, aber der Kopf war mir so wirr, und die instinktive Scheu vor Sir Leicester Dedlock machte mir seine Anwesenheit so schmerzlich, daß ich wegen des Brausens in den Ohren und vor Herzklopfen nichts zu verstehen glaubte. –

»Ich erwähnte den Vorfall gegen Lady Dedlock«, sagte Sir Leicester aufstehend, »und Mylady erzählte mir, daß sie das Vergnügen gehabt habe, mit Mr. Jarndyce und seinen Mündeln gelegentlich eines zufälligen Zusammentreffens während ihres dortigen Aufenthalts ein paar Worte auszutauschen. Erlauben Sie mir, Mr. Jarndyce, Ihnen und Ihren Damen die Versicherung zu wiederholen, die ich bereits Mr. Skimpole gegeben habe. Verhältnisse gestatten mir allerdings nicht, zu sagen, ich würde mit Vergnügen hören, daß Mr. Boythorn mein Haus mit seinem Besuch beehrt habe, aber das bezieht sich ausschließlich auf diesen Herrn und dehnt sich auf keine andre Person aus.«

»Sie wissen, was ich von jeher von ihm gedacht habe«, sagte Mr. Skimpole leichthin, indem er sich dabei an uns wendete. »Ein liebenswürdiger Stier, der jede Farbe scharlachrot sieht.«

– Sir Leicester Dedlock hustete, als ob er um keinen Preis noch ein Wort in Bezug auf ein solches Individuum anhören könne, und verabschiedete sich sehr zeremoniell und höflich. Ich zog mich so schnell wie möglich auf mein Zimmer zurück und blieb dort, bis ich meine Fassung wiedergewonnen hatte. Sie hatte einen großen Stoß bekommen, aber ich danke Gott, daß sie nichts gemerkt hatten und mich nur wegen meines schüchternen und stummen Wesens vor dem großen Lincolnshirer Baronet neckten, als ich wieder hinunterkam. –

Ich fühlte klar, daß die Zeit gekommen war, wo ich mein Geheimnis meinem Vormund mitteilen müßte. Die Möglichkeit, mit meiner Mutter in Berührung zu kommen, ihr Haus betreten zu müssen, ja, sogar daß Mr. Skimpole, wenn er auch in noch so entfernter Beziehung zu mir stand, von ihrem Gatten Gefälligkeiten annehmen könne und werde, alles das war so peinlich, daß ich fühlte, ich könne seinen väterlichen Beistand nicht länger entbehren. Als wir uns für die Nacht zurückgezogen und Ada und ich wie gewöhnlich in unserm hübschen gemeinsamen Zimmer geplaudert hatten, suchte ich meinen Vormund wieder bei seinen Büchern auf. Ich wußte, daß er stets um diese Stunde noch las, und beim Näherkommen sah ich das Licht seiner Studierlampe auf den Korridor hinausscheinen.

»Darf ich herein, Vormund?«

»Gewiß, kleines Frauchen. Was gibt’s denn?«

»Nichts Besonderes. Ich möchte nur gern diese stille Stunde benutzen, um mit dir ein Wort über meine Angelegenheiten zu sprechen.«

Er schob mir einen Stuhl hin, legte sein Buch weg und wendete mir sein gütiges Gesicht aufmerksam zu. Es konnte mir nicht entgehen, daß es wieder denselben seltsamen Ausdruck zeigte, den ich schon einmal darauf gesehen hatte – an jenem Abend, als er gesagt, er fühle keinen Kummer, den ich so leicht verstehen könnte.

»Was dich angeht, liebe Esther, geht uns alle an«, sagte er. »Du kannst nicht mehr bereit sein zu sprechen als ich zu hören.«

»Das weiß ich, Vormund. Aber ich bedarf deines Rates und deines Beistandes wirklich dringend. Du ahnst gar nicht, wie sehr ich ihrer heute nacht bedarf.« – Mein Ernst schien ihn zu überraschen und ein wenig zu beunruhigen. – »Oder wie sehr ich mich gesehnt habe, dich zu sprechen, seit der heutige Besuch fort war.«

»Der Besuch, mein Kind? Sir Leicester Dedlock?«

»Ja.«

Er verschränkte die Arme und saß in Erwartung dessen, was ich ihm zu sagen hätte, mit einer Miene tiefsten Staunens da. Ich wußte nicht recht, wie ich ihn vorbereiten sollte.

»Unser heutiger Besuch und du, Esther«, sagte er und fing an zu lächeln, »sind wirklich die beiden letzten Personen auf der Welt, die ich miteinander hätte in Verbindung bringen können.«

»Gewiß, Vormund. Das weiß ich. Und ich dachte es auch noch bis vor ganz kurzer Zeit.«

Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht, und er wurde ernster als vorher. Er ging nach der Türe, um zu sehen, ob sie zu sei – aber ich selbst hatte es schon getan –, und nahm seinen Platz vor mir wieder ein.

»Vormund«, begann ich, »erinnerst du dich noch, damals, als uns das Gewitter überraschte, daß Lady Dedlock mit dir von ihrer Schwester sprach?«

»Natürlich, natürlich.«

»Und dich erinnerte, daß sie und ihre Schwester sich entzweit hätten und jede ihre eignen Wege gegangen wäre.«

»Natürlich.«

»Warum haben sie sich getrennt, Vormund?«

– Der Ausdruck seines Gesichtes änderte sich plötzlich. –

»Mein Kind, was sind das für Fragen! Ich habe es nie erfahren. Ich glaube, niemand, sie selbst ausgenommen, hat es je erfahren. Wer könnte sagen, welcher Art die Geheimnisse dieser beiden schönen und stolzen Frauen waren! Du hast Lady Dedlock gesehen. Hättest du nur ein einziges Mal ihre Schwester gesehen, so wüßtest du, daß sie ebenso halsstarrig und stolz war wie jene.«

»Ach, Vormund, ich habe sie viele, viele Male gesehen.«

»Sie gesehen?« Er hielt eine Weile inne und biß sich in die Lippen.

»Dann sag mir, Esther, als du vor mir vor langer Zeit von Boythorn sprachst und ich dir erzählte, er sei einmal schon so gut wie verheiratet gewesen und die Dame sei zwar nicht gestorben, aber für ihn tot, und daß diese Zeit einen großen Einfluß auf sein späteres Leben gehabt habe, wußtest du damals schon alles, oder wußtest du, wer die Dame war?«

»Nein, Vormund«, gab ich zur Antwort, voller Bangen vor dem Licht, das plötzlich in mir aufdämmerte. »Auch jetzt weiß ich es noch nicht.«

»Lady Dedlocks Schwester.«

»Und warum«, konnte ich nur mit Mühe über die Lippen bringen, »warum trennten sie sich von einander?«

»Sie bestand darauf und begrub ihre Gründe tief in ihrem unbeugsamen Herzen. Er vermutete später – aber es war eine bloße Vermutung –, irgendein Schimpf, den ihre stolze Seele gelegentlich eines Streites mit ihrer Schwester erlitten, müsse sie bis zum Wahnsinn verletzt haben. Sie schrieb ihm, daß sie von dem Tag dieses Briefes an für ihn tot sei und diesen Entschluß gefaßt habe, weil sie seinen stolzen Charakter und sein fast übertriebnes Ehrgefühl kenne und ihm darin nicht nachstehen wolle. Mit Rücksicht auf diese beiden, seine ganze Seele erfüllenden Eigenschaften und darauf, daß sie nicht um ein Haar anders sei, bringe sie das Opfer und wolle so leben und sterben. Ich fürchte, sie tat beides. Jedenfalls sah und hörte er von ihr nichts wieder seit jener Stunde. Und auch kein andrer Mensch.«

»Oh, Vormund, was habe ich getan!« rief ich aus und ließ meinem Schmerz freien Lauf. »Welches Leid habe ich unschuldigerweise verursacht!«

»Du, verursacht, Esther?«

»Ja, Vormund. Unschuldigerweise, aber ohne jeden Zweifel. Jene verschwundene Schwester Lady Dedlocks ist meine erste Erinnerung.«

»Nein, nein«, fuhr er auf.

»Ja, Vormund, ja! Und ihre Schwester ist meine Mutter!«

Ich würde ihm den ganzen Inhalt des Briefes meiner Mutter erzählt haben, aber er wollte jetzt nichts hören. Er sprach so zärtlich und klug zu mir und stellte mir alles so deutlich vor Augen, daß ich, wie sehr ich auch schon seit vielen Jahren von innigster Dankbarkeit gegen ihn durchdrungen war, ihn doch noch nie so wahrhaft geliebt und ihm in meinem Herzen so innig gedankt hatte wie diese Nacht. Er brachte mich an meine Tür, küßte mich, und als ich endlich im Bette lag, sagte ich mir, daß ich wohl kaum jemals hoffen, jemals tätig und selbstlos genug sein könnte, um ihm zu zeigen, wie hoch ich ihn hielt.

32. Kapitel


32. Kapitel

Um die bestimmte Stunde

Es ist Nacht in Lincoln’s-Inn – diesem Tale der Verworrenheit und Ruhelosigkeit. Fette Kerzen werden in den Kanzleien ausgeblasen, Schreiber sind die wackelnden hölzernen Treppen hinuntergepoltert und haben sich zerstreut. Die Glocke, die um neun Uhr geläutet wird, hat ihr zweckloses klägliches Gewimmer eingestellt. Die Pforten sind verschlossen, und der nächtliche Türhüter, ein würdevoller Pförtner mit übermenschlicher Schlafkraft, hält in seiner Loge Wacht. Aus Reihen von Treppenfenstern schimmern trübe Lampen gleich den Augen der Gerechtigkeit, diesem schielenden, kurzsichtigen Argus mit einer unergründlichen Tasche und Augen außen drauf, zu den Sternen empor. In schmutzigen Fenstern der obern Stockwerke verraten neblige kleine Strahlenflecken von Kerzenlicht hie und da, daß ein listiger Paragraphenfuchs und Lehensrechtskundiger an Maschen aus Pergament arbeitet, um in dem Netz arglose Grundbesitzer einzufangen. Bienen gleich hocken diese Wohltäter der Menschheit über ihrer Beschäftigung, trotzdem die Geschäftsstunden längst vorüber sind, auf daß sie sich Rechenschaft geben über den gut angewendeten verflossnen Tag.

In dem benachbarten Cook’s Court, wo der Lordkanzler des Hadern- und Flaschenlandes wohnt, ist ein gewisser Hang nach Bier und Abendbrot unverkennbar. Mrs. Piper und Mrs. Perkins, deren beide Söhne im Freundeskreis, mit Versteckenspielen beschäftigt, einige Stunden lang in den Nebenstraßen von Chancery-Lane im Hinterhalt gelegen und zur Verwirrung der Vorübergehenden die Örtlichkeit unsicher gemacht haben, – Mrs. Piper und Mrs. Perkins haben sich soeben erst beglückwünscht, daß die Kinder, Gott sei Dank, zu Bett gebracht sind, und wechseln noch auf einer Türstufe ein paar Worte zum Abschied. Mr. Krook und sein Mieter, die Tatsache, daß Mr. Krook »immer einen weg hat«, und die Erbchancen des jungen Mannes bilden wie gewöhnlich das Hauptthema ihrer Unterhaltung. Aber sie haben auch etwas über die harmonische Gesellschaft in der »Sonne« zu sagen. Das Klimpern des Pianos klingt auf den Hof hinaus durch die halb geöffneten Fenster, hinter denen der kleine Swills, nachdem er die Harmonischen – ein zweiter Yorick – in beständigem Brüllen erhalten hat, jetzt seine Freunde und Gönner sentimental beschwört: »Lahauschet, lahauschet, lahauschet döm Wahahasserfall.«

Mrs. Perkins und Mrs. Piper tauschen ihre Ansichten aus über die junge Dame von Weltruf, die der harmonischen Gesellschaft ihre Talente angedeihen läßt und auf dem geschriebnen Programm im Fenster eine Extrazeile für sich hat. Mrs. Perkins weiß, daß sie schon gute anderthalb Jahre verheiratet ist, obgleich sie als »Miß M. Mellwilleson, die berühmte Sirene«, angekündigt ist, und daß ihr Baby jeden Abend heimlich in die »Sonne« gebracht wird, um während der Vorstellungspausen seine natürliche Nahrung zu empfangen. »Jetzt, was i bin«, sagt Mrs. Perkins, »i möcht lieber mein Brot mit Zündhölzhausieren verdiena.«

Mrs. Piper hält es für ihre Pflicht, derselben Meinung zu sein, und glaubt, daß der bescheidne Glanz des Privatlebens weit besser ist als öffentlicher Beifall, und sie dankt dem Himmel für ihre eigne und – selbstverständlich Miß Perkins‘ Achtbarkeit.

Da jetzt der junge Kellner aus der »Sonne« mit dem bestellten überschäumenden Bierkrug erscheint, nimmt Mrs. Piper die Kanne entgegen und zieht sich in ihre Wohnung zurück, nachdem sie Mrs. Perkins, die ihren Krug in der Hand hält, seit ihn der junge Perkins vor dem Schlafengehen aus dem gleichen Gasthaus geholt, eine recht geruhsame Nacht gewünscht hat. Dann hört man im Hof Fensterläden schließen, riecht Pfeifenrauch, und in den obern Fenstern machen sich Sternschnuppen bemerkbar, als Zeichen, daß die Leute zu Bett gehen. Jetzt fängt auch der Polizeimann an, an den Türen zu klinken, Riegel zu prüfen, Bündel argwöhnisch zu betrachten und die Runde zu machen, immer von der Voraussetzung ausgehend, daß entweder jemand stiehlt oder aber bestohlen wird.

Die Luft ist schwer heute nacht, feuchte Kälte dringt in alle Winkel, und ein träger Nebel schwebt über dem Boden. Es ist so ganz die Nacht dazu, um den Einfluß der Schlachthäuser, der ungesunden Keller, der Kloaken, des schlechten Wassers und der Begräbnisplätze so recht zur Geltung zu bringen und der Totenliste einen Extrabeitrag zu liefern.

Liegt etwas in der Luft oder in Mr. Weevle – alias Jobling – selbst, was nicht ganz in Ordnung ist? Kurz, er befindet sich durchaus nicht in behaglicher Stimmung. Er pendelt wohl zwanzig Mal in der Stunde zwischen seinem Zimmer und dem offnen Haustor hin und her, seitdem es dunkel geworden ist. Seit der Kanzler seinen Laden zugemacht hat, was heute abend sehr zeitig geschehen ist, hat Mr. Weevle, auf dem Kopf ein billiges knappes Samtkäppchen, das seinen Backenbart unverhältnismäßig groß erscheinen läßt, öfter noch als vorher den Weg zwischen Treppe und Haustor auf- und abgemacht.

Es ist nichts Abnormes, daß sich Mr. Snagsby ebenfalls in unbehaglicher Stimmung befindet, denn er leidet immer mehr oder weniger unter dem Druck des Geheimnisses, das auf ihm lastet. Mr. Krooks Laden übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus und scheint ihm die Hauptquelle alles Mysteriösen zu sein. Eben jetzt kommt Mr. Snagsby in der Absicht Cook’s Court hinab, zu dem Ausgang nach Chancery-Lane zu gehen, um damit seinen zehn Minuten lang dauernden Abendspaziergang von seiner Haustür und wieder zurück zu beschließen, um die Ecke des Gasthauses zur »Sonne« herum.

»Was? Mr. Weevle«, sagt er und bleibt stehen. »Sie sind auch da?«

»Ja, ich bin auch da, Mr. Snagsby.«

»Wollen Luft schöpfen, wie ich, vor dem Schlafengehen?« fragt der Schreibmaterialienhändler.

»Na, es ist hier nicht viel Luft zu schöpfen, und das bißchen ist nicht sehr erquickend«, meint Mr. Weevle und läßt seinen Blick Cook’s Court auf und ab schweifen.

»Sehr richtig, Sir. Merken Sie nicht auch…»Mr. Snagsby hält wieder inne, um in die Luft zu schnuppern. »Finden Sie nicht auch, Mr. Weevle, daß es hier – um nicht durch die Blume zu sprechen – merkwürdig brenzlig riecht, Sir?«

»Hm. Mir ist es auch schon so vorgekommen, als ob heute abend ein eigentümlicher Geruch im Hofe läge. Ich vermute, es gibt Hammelkoteletten in der ‚Sonne‘.«

»Hammelkoteletten, meinen Sie? Hm! – Hammelkoteletten?« Mr. Snagsby schnuppert wieder. »Schon möglich, Sir, aber ich an Stelle des Wirtes möchte der Köchin in der ‚Sonne‘ ein wenig auf die Finger sehen. Sie hat sie verbrennen lassen, Sir, und ich glaube nicht…« Mr. Snagsby schnuppert wieder, spuckt dann aus und wischt sich den Mund. »Ich glaube nicht – um nicht durch die Blume zu sprechen –, daß sie ganz frisch waren, als sie auf den Rost kamen.«

»Schon möglich. Bei solchem Wetter verderben die Sachen schnell.«

»Das Wetter verdirbt überhaupt alles«, bestätigt Mr. Snagsby. »Ich finde, sogar die gute Laune.«

»Donnerwetter, ja! Ich finde, es verursacht mir ordentlich Beklemmungen.«

»Ja, sehen Sie, Mr. Weevle, Sie leben hier so einsam und in einer Stube, über der ein dunkles Verhängnis liegt«, sagt Mr. Snagsby, blickt über des andern Schulter hinweg in den dunkeln Gang hinein und tritt dann einen Schritt zurück, um außen an dem Haus hinaufzuschauen. »Ich möchte in dieser Stube nicht allein wohnen wie Sie, Sir. Mir würde manchmal des Abends ganz bange und unruhig zumute werden. Ich möchte lieber am Haustor stehen bleiben als oben im Zimmer sitzen. Aber allerdings haben Sie dort nicht gesehen, was ich gesehen habe. Das ist ein großer Unterschied.«

»Ich weiß grade genug davon«, bemerkt Tony.

»Nicht besonders angenehm, wie?« fährt Mr. Snagsby fort und hüstelt seinen Überzeugungshusten hinter der Hand. »Mr. Krook sollte bei dem Zins darauf Rücksicht nehmen. Er wird es sicher tun.«

»Ich hoffe, er wird es tun«, sagt Tony, »aber ich bezweifle es.«

»Sie finden den Zins teuer, nicht wahr, Sir? Aber die Zinse sind in dieser Gegend überhaupt hoch. Ich weiß nicht, wie das kommt. Die Justiz scheint sie in die Höhe zu treiben. Nicht etwa«, setzt Mr. Snagsby mit seinem ‚Pardonhusten‘ hinzu, »daß ich auch nur ein Wort gegen den Beruf, der mich mein Brot verdienen läßt, zu sagen beabsichtigte.«

Wieder läßt Mr. Weevle einen Blick den Court auf und ab schweifen und sieht dann den Papierhändler an. Mr. Snagsby begegnet seinem Auge, schaut zum Himmel auf nach einem Stern oder sonst etwas und läßt einen Husten hören, der verrät, daß er nicht weiß, wie er der Unterhaltung ein Ende machen soll.

»Es ist ein merkwürdiger Zufall, Sir«, bemerkt er und reibt sich langsam die Hände, »daß er…«

»Wer, er?«

»Der Verstorbne, meine ich«, sagt Mr. Snagsby, indem er mit dem Kopf und seiner rechten Augenbraue nach der Treppe weist und seinem Gegenüber auf einen Knopf tippt.

»Ja, so«, entgegnet dieser in einem Ton, als spräche er von der Sache nicht allzu gern. »Ich dachte, wir hätten das Thema schon fallen lassen.«

»Ich wollte nur sagen, es ist ein merkwürdiger Zufall, Sir, daß er hier gewohnt und gelebt hat und einer meiner Schreiber war und daß Sie jetzt hier wohnen und auch einer meiner Schreiber sind. Es ist durchaus nichts Entwürdigendes in der Beschäftigung«, unterbricht sich Mr. Snagsby in der Befürchtung, er könne unhöflicherweise eine Art Eigentümerrecht auf Mr. Weevle geltend gemacht haben, »Gott sei vor. Ich habe Schreiber gekannt, die später ins Brauereigeschäft gekommen sind und sehr angesehen waren. Außerordentlich angesehen, Sir«, wiederholt Mr. Snagsby mit der unangenehmen Empfindung, daß er die Sache nicht verbessert hat.

»Es ist ein seltsames Zusammentreffen, wie Sie richtig sagen«, gibt Mr. Weevle zu und blickt wieder den Hof auf und ab.

»Eine Art Schicksalsbestimmung.«

»So scheint es.«

»Ja, ja«, hüstelt der Papierhändler bestätigend. »Die reinste Schicksalsbestimmung. Ich fürchte, Mr. Weevle, ich muß Ihnen jetzt gute Nacht sagen.« Mr. Snagsby spricht, als sei er untröstlich, gehen zu müssen, obgleich er von Anfang des Gespräches an schon nach Mitteln gesucht hat, loszukommen. »Meine kleine Frau würde mich sonst vermissen. Gute Nacht, Sir.«

Wenn Mr. Snagsby nach Hause eilen zu müssen glaubt, um seiner kleine Frau die Mühe, nach ihm zu sehen, zu ersparen, so könnte er darüber vollkommen beruhigt sein. Seine kleine Frau hat ihn die ganze Zeit über hinter der Ecke der »Sonne« hervor belauert und schlüpft ihm jetzt nach, ein Taschentuch über den Kopf gebunden, und beehrt Mr. Weevle und seinen Hausflur beim Vorbeigehen mit einem sehr argwöhnischen Blick.

»Nun, jedenfalls werden Sie mich wiedererkennen, Maam«, brummt Mr. Weevle vor sich hin. »Und über Ihr Aussehen mit Ihrem eingebundenen Kopf kann man Ihnen auch kein Kompliment machen, wer Sie auch sein mögen. – Will denn der Kerl gar nicht kommen?«

Der Kerl kommt näher, während er noch brummt. Mr. Weevle hält warnend die Hand empor, zieht ihn am Ärmel in den Gang und macht die Haustür zu. Dann gehen sie die Treppe hinauf. Mr. Weevle schwerfällig, Mr. Guppy mit sehr leichtem Schritt. Als sie die Tür des Zimmers hinter sich zugemacht haben, sprechen sie in leisem Ton miteinander.

»Ich dachte schon, du wärst mindestens nach Jericho gegangen, anstatt zu mir zu kommen«, brummt Tony.

»Ich sagte doch, gegen zehn.«

»Gegen zehn«, wiederholt Tony. »Gegen zehn! Nach meiner Rechnung ist es schon zehn Mal zehn. Ist es schon hundert Uhr! In meinem ganzen Leben habe ich noch keinen solchen Abend gehabt.«

»Was war denn los?«

»Das ist’s ja eben«, sagt Tony. »Nichts war los. Ich habe hier in dieser lieblichen alten Krippe geraucht und gesessen, bis mir die Schauer fingerdick über den Rücken gelaufen sind. Da, sieh nur einmal diese liebenswürdige Kerze.« Tony deutet auf das trüb brennende Licht auf dem Tisch, das am Docht große Räuber und ein Leichenhemd um hat aus abgetropftem Talg.

»Dem läßt sich leicht abhelfen«, bemerkt Mr. Guppy und nimmt die Lichtschere zur Hand.

»Ja, ja! aber nicht so leicht, wie du meinst. Sie hat so schlecht gebrannt, seitdem sie angezündet ist.«

»Was ist eigentlich mit dir los, Tony ?« fragt Mr. Guppy, sieht ihn, mit der Lichtschere in der Hand, an, setzt sich hin und stützt die Ellbogen auf den Tisch.

»William Guppy«, entgegnet der andre, »ich bin schon ganz trübsinnig. Es kommt von dieser unerträglichen langweiligen selbstmörderischen Stube – und dem alten Popanz unten, glaube ich.« Mr. Weevle schiebt mürrisch mit dem Ellbogen den Lichtscherenkasten weg, stützt den Kopf in die Hand, stemmt die Füße auf das Kamingitter und starrt ins Feuer. Mr. Guppy sieht ihn an, zuckt leise die Achseln und setzt sich an die andre Seite des Tisches in ungezwungner Haltung hin.

»War das nicht Snagsby, der vorhin mit dir sprach, Tony?«

»Ja, und hol dich… Ja, es war Snagsby«, sagt Mr. Weevle und ändert rasch die Worte, die er sich zuerst gedacht hat.

»In Geschäften?«

»Nein. Nicht in Geschäften. Er kam gerade vorbei und blieb stehen, um zu tratschen.«

»Ich habe mir gleich gedacht, es müsse Snagsby sein«, sagt Mr. Guppy, »und glaubte, es wäre gut, wenn er mich nicht sähe. Deshalb wartete ich, bis er fortging.«

»Da haben wir’s wieder, William Guppy!« ruft Tony und wirft einen verzweifelten Blick auf die Decke. »So geheimnisvoll und versteckt! Zum Donnerwetter, wenn wir einen Mord beabsichtigten, könnten wir nicht geheimnisvoller tun.«

Mr. Guppy heuchelt ein Lächeln und besieht sich, um dem Gespräch eine andre Wendung zu geben, mit echter oder vorgeblicher Bewunderung die Schönheitsgalerie an den Zimmerwänden und beschließt sie beim Porträt der Lady Dedlock, das sie darstellt auf einer Terrasse, einer Vase auf dem Piedestal, ihrem Schal auf der Vase, einem Pelzkragen auf dem Schal, ihrem Arm auf dem Pelzkragen und einem Armband an ihrem Handgelenk.

»Es sieht Lady Dedlock wirklich sprechend ähnlich. Sie ist es selbst.«

»Ich wollte, es wäre so«, brummt Tony, ohne seine Stellung zu ändern, »dann hätte man wenigstens eine fashionable Unterhaltung hier.«

Mr. Guppy hat sich jetzt überzeugt, daß sich sein Freund nicht in eine heiterere Stimmung hineinscherzen läßt, gibt den Versuch als nutzlos auf und macht ihm Vorstellungen.

»Tony«, sagt er, »ich kann Trübsinn entschuldigen. Niemand weiß besser als ich, wie es ist, wenn er über einen kommt. Und vielleicht weiß das ein Mensch, in dessen Herzen unerwiderte Liebe wohnt, am besten, aber Trübsinn muß seine Grenzen haben, und ich muß dir gestehen, Tony, daß mir dein Benehmen weder gastfreundschaftlich noch besonders anständig erscheint.«

»Das sind starke Worte, William Guppy«, entgegnet Mr. Weevle.

»Kann sein, Sir. Aber ich fühle stark, wenn ich so spreche.«

Mr. Weevle gibt zu, Unrecht gehabt zu haben, und bittet Mr. William Guppy, nicht mehr daran zu denken. Da jedoch Mr. William Guppy momentan im Vorteil ist, so kann er doch unmöglich aufhören.

»Nein, wahrhaftig, Tony«, sagt er, »du solltest dich wirklich in acht nehmen, die Gefühle eines Menschen zu verletzen, dessen Herz so überempfindlich sein muß. Du, Tony, besitzest in dir selbst alles, was das Auge erquickt und den Geschmack erfreut. Es ist – vielleicht zum Glück für dich, und ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir sagen –nicht in deinem Charakter gelegen, eine einzige Blume zu umschweben. Dir steht der ganze Garten offen, und deine luftigen Schwingen tragen dich von Blüte zu Blüte. Dennoch, Tony, liegt mir nichts ferner, als ohne Ursache selbst deine Gefühle zu verletzen.«

Tony bittet abermals, die Sache fallen zu lassen, und sagt mit Emphase: »Aber laß doch, William Guppy, hör schon auf!«

Mr. Guppy fährt versöhnlich fort: »Ich hätte nie von selbst davon angefangen, Tony.«

»Aber jetzt zu den Briefen«, unterbricht ihn Tony und schürt das Feuer. »Ist es nicht merkwürdig, daß Krook gerade zwölf Uhr Mitternacht zur Übergabe bestimmen muß?«

»Allerdings. Warum wohl?«

»Hat er je einen Grund, wenn er etwas tut? Er sagte, heute sei sein Geburtstag und er wolle sie mir nachts um zwölf Uhr übergeben. Er wird um diese Zeit total betrunken sein. Er war es schon den ganzen Tag über.«

»Hoffentlich hat er die Verabredung nicht vergessen?«

»Vergessen? Da kennst du ihn schlecht. Er vergißt nie etwas. Ich sah ihn heute abend gegen acht und half ihm den Laden zusperren, und da hatte er die Briefe unter seiner Pelzmütze. Er nahm sie ab und zeigte mir das Paket. Als der Laden zu war, nahm er es heraus, hängte die Mütze auf die Stuhllehne und sah es durch vor dem Kamin. Kurze Zeit darauf hörte ich ihn durch die Dielen hier, wie der Wind heult, das einzige Lied summen, das er kann, von Bibo und dem alten Charon, und daß Bibo betrunken war, als er starb, oder so etwas Ähnliches. Er ist seitdem so ruhig gewesen wie eine alte Ratte, die in ihrem Loch schläft.«

»Und du sollst um zwölf Uhr hinunterkommen?«

»Um zwölf. Und wie ich dir schon sagte, als du kamst, scheint es mir bereits hundert Uhr zu sein.«

»Tony«, sagt Mr. Guppy, nachdem er eine Weile mit überschlagnen Beinen nachdenklich dagesessen hat. »Er kann noch immer nicht lesen, wie?«

»Lesen! Er wird überhaupt nie lesen können. Er kann die Buchstaben einzeln hinschreiben und kennt sie, wenn er sie sieht, das habe ich ihm nach und nach beigebracht, aber verbinden kann er sie nicht. Er ist zu alt, um solche Nüsse zu knacken, und säuft zu viel.«

»Tony.« Mr. Guppy schlägt jetzt das rechte Bein über das linke. »Wie mag er wohl den Namen Hawdon herausbuchstabiert haben?«

»Er hat ihn doch gar nicht heraus buchstabiert. Du weißt, wie merkwürdig sein Auge geschult ist, sich mit dem Kopieren von Worten bloß der äußern Form nach zu beschäftigen. Er machte den Namen nach – allem Anschein nach war es eine Briefadresse – und fragte mich, was sie bedeute.«

»Tony, was meinst du? Ist das Original eine Frauen- oder eine Männerhand?«

»Eine Frauenhand! Fünfzig gegen eins sind die Briefe von einer Dame. Die Buchstaben stehen schräg, und die Schwänze der ’n‘ sind lang und hastig.«

Mr. Guppy hat während dieses Zwiegesprächs abwechselnd an den Nägeln seiner Daumen gekaut und die Beine nervös übereinandergeschlagen. Wieder ändert er seine Stellung, und dabei fällt sein Blick zufällig auf seinen Rockärmel. Seine Aufmerksamkeit wird rege. Er starrt erschrocken hin.

»Aber Tony, was geht nur heute nacht in diesem Hause vor? Brennt ein Schornstein?«

»Ein Schornstein brennen?«

»Hm«, entgegnet Mr. Guppy. »Schau nur, wieviel Ruß fällt. Schau hier meinen Arm. Und hier auf dem Tisch! Verdammtes Zeug! Es läßt sich nicht wegblasen. Es schmiert sich wie schwarzes Fett.«

Sie sehen einander an, Tony geht horchend an die Tür und ein paar Stufen die Treppe hinauf, kommt dann mit der Nachricht zurück, es sei alles still, und äußert wieder, wie schon vorhin zu Mr. Snagsby, daß sie wahrscheinlich in der »Sonne« Hammelkoteletten brieten.

»Und bei dieser Gelegenheit«, nimmt Mr. Guppy seine Rede wieder auf, besieht sich dabei immer noch mit sichtlichem Ekel seinen Rockärmel, während sie vor dem Feuer ihr Gespräch fortsetzen und die Köpfe zusammenstecken, »bei dieser Gelegenheit sagte er dir also, daß er die Briefe aus dem Mantelsack des Verstorbenen genommen habe?«

»Ja, bei dieser Gelegenheit«, antwortet Tony und kämmt sich seinen Backenbart mit den Fingern. »Worauf ich meinem lieben Freunde, Seiner Hochwohlgeboren William Guppy, ein paar Zeilen schrieb, mit der Nachricht, sich heute hier einzufinden, und zwar vorsichtig, denn der alte Popanz sei ein Schlaufuchs.«

Der leichte fashionable Konversationston, den Mr. Weevle gern anzunehmen pflegt, liegt ihm diese Nacht so wenig, daß er ihn und die Pflege seines Backenbarts ganz und gar aufgibt, scheu über die Achsel blickt und wieder eine Beute banger Schrecken zu sein scheint.

»Und du sollst die Briefe auf deine Stube nehmen, um sie zu lesen und zu vergleichen? Du willst mir dann alles mitteilen, was drin steht? Das haben wir doch vereinbart, nicht wahr, Tony?« fragt Mr. Guppy und zerkaut aufgeregt seine Daumennägel.

»Du kannst nicht leise genug sprechen! Ja, das haben wir vereinbart.«

»Ich will dir was sagen, Tony.«

»Du kannst nicht leise genug sprechen«, mahnt Tony noch einmal.

Mr. Guppy nickt weise. Sie stecken die Köpfe wieder zusammen und flüstern.

»Ich will dir was sagen, Tony. Das erste, was wir zu tun haben, ist, die Briefe genau nachzumachen, so daß du ihm, wenn er es etwa verlangen sollte, die falschen zeigen kannst, solange die echten in meinem Besitz sind.«

»Und angenommen, er erkennt die nachgemachten, was bei seinem verwünschten Scharfblick fünfhundert gegen eins wahrscheinlich ist?« wirft Tony ein.

»Dann müssen wir es eben darauf ankommen lassen. Sie gehören ihm nicht und haben ihm nie gehört. Du hast das entdeckt, verstanden, und sie der Sicherheit wegen in meine Hände als die einer juristischen Vertrauensperson gelegt. Wenn er uns dazu zwingt, können wir sie ja bei Gericht deponieren, nicht wahr?«

»Hm, ja«, gibt Mr. Weevle widerwillig zu.

»Aber Tony, was du für ein Gesicht machst! Du zweifelst doch nicht am Ende an William Guppy? Es ist doch nichts Schlimmes dabei«, hält ihm sein Freund vor.

»Ich argwöhne nicht mehr, als ich weiß, William«, entgegnet Jobling ernst.

»Und was weißt du?«, dringt Mr. Guppy mit etwas lauterer Stimme in ihn. Aber da sein Freund ihn abermals warnt: »Ich sage dir doch, du kannst nicht leise genug sprechen«, wiederholt er seine Frage ganz tonlos: »Was weißt du?«

»Ich weiß dreierlei. Erstens weiß ich, daß wir hier geheimnisvoll miteinander flüstern wie ein paar Verschwörer.«

»Gut«, gibt Mr. Guppy zu. »Besser, wir sind ein paar Verschwörer als ein paar Dummköpfe. Und das wären wir, wenn wir etwas andres täten. Es ist der einzige Weg, das zu erreichen, was wir wollen. Und zweitens?«

»Zweitens ist es mir nicht klar, welchen Nutzen die Sache abwerfen soll.«

Mr. Guppy läßt seine Augen über das Porträt der Lady Dedlock über dem Kaminsims gleiten und gibt zur Antwort: »Das, Tony, muß ich dich bitten, der Ehrenhaftigkeit deines Freundes zu überlassen. Abgesehen davon, daß du nicht an gewisse Saiten zu rühren brauchst, quälerischerweise, so ist dein Freund doch kein Dummkopf… Ha, was ist das?«

»Elf Uhr schlägt es von der St. Paulskirche. Horch, gleich werden alle Glocken in der City läuten.«

Beide sitzen schweigend da und lauschen den metallenen Stimmen, die in der Nähe und aus der Ferne und von den Türmen herab erklingen. Als sie endlich verstummen, scheint alles nur noch geheimnisvoller als vorher. Eine unangenehme Folge des Flüsterns im allgemeinen ist, daß es eine eigenartige Atmosphäre des Schweigens zu erzeugen scheint, belebt von den Gespenstern des Schalles, von seltsamem Knarren und Klopfen, dem Rauschen wesenloser Kleider und dem Tritt grauenvoller Füße, die auf Ufersand oder Winterschnee keine Spur zurücklassen könnten. Für solche Eindrücke sind die beiden Freunde heute empfänglich. Die Luft ist voll von Phantomen, und die beiden sehen sich wie auf Verabredung um, ob die Tür auch wirklich geschlossen ist.

»Ja, Tony«, sagt Mr. Guppy, rückt dem Feuer näher und kaut ruhelos an seinem Daumennagel. »Du wolltest sagen: Drittens!«

»Drittens ist es nichts weniger als angenehm, gegen einen Toten in dem Zimmer, wo er gestorben ist, zu konspirieren, zumal, wenn man zufällig darin wohnt.«

»Aber wir konspirieren doch nicht gegen ihn, Tony.«

»Vielleicht nicht. Aber trotzdem gefällt es mir nicht. Wohne nur selbst einmal hier. Dir würde es auch nicht gefallen.«

»Was Tote betrifft, Tony«, belehrt Mr. Guppy, dem Vorschlag ausweichend, »so haben in den meisten Zimmern schon Tote gelegen.«

»Das weiß ich. Aber in den meisten Zimmern läßt man sie in Ruhe, und – sie lassen einen in Ruhe.«

Wieder blicken sich die beiden an. Mr. Guppy wirft eine Bemerkung hin, daß sie dem Verstorbenen vielleicht einen Dienst erweisen und daß er das hoffe. Dann entsteht eine bedrückende Pause. Plötzlich schürt Mr. Weevle das Feuer, und das macht Mr. Guppy auffahren, als hätte man statt in den Kohlen in seinem Herzen herumgerührt.

»Pfui! Da hängt noch mehr von diesem abscheulichen Ruß«, ruft er. »Wir wollen das Fenster ein bißchen aufmachen und einen Mund voll Luft schnappen. Es ist so dumpf hier.«

Er schiebt das Fenster in die Höhe, und beide setzen sich auf das Fensterbrett. Die Nachbarhäuser sind zu nahe, als daß man den Himmel sehen könnte, wenn man nicht den Hals verdrehen und die Wand des Hauses hinaufsehen will. Aber da und dort Lichtschimmer in trüben Fenstern, das Rollen ferner Wagen und das Bewußtsein, daß sich auf der Straße Menschen regen, machen ihnen das Herz etwas leichter. Mr. Guppy klopft geräuschlos auf das Fensterbrett und beginnt sein Flüstern in einem freieren, fast scherzhaften Ton von neuem.

»Übrigens, Tony, vergiß dich nicht dem alten Smallweed gegenüber.« Er meint damit den jungen Smallweed. »Du weißt, ich habe ihn in die Angelegenheit nicht eingeweiht. Sein Großvater ist mir schon gar zu schlau. Es liegt in der Familie.«

»Ich werde schon achtgeben«, brummt Tony. »Ich kenn mich schon

»Und was Krook betrifft, glaubst du wirklich, daß er noch andre Papiere von Wichtigkeit besitzt, wie er sich gegen dich gerühmt hat?«

Tony schüttelt den Kopf.

»Weiß ich nicht. Habe keine Ahnung. Wenn uns diese Sache gelingt, ohne seinen Verdacht zu erregen, werde ich es schon herausbringen. Wie kann ich’s wissen, ohne sie gesehen zu haben! Er weiß es doch selbst nicht einmal. Er buchstabiert beständig Worte aus ihnen und malt sie auf den Tisch und die Wand und fragt, was das oder jenes heiße. Sein ganzer Vorrat kann von A bis Z recht gut die Makulatur sein, für die er ihn gekauft hat. Es ist eine seiner fixen Ideen, zu glauben, er besitze Dokumente. Nach dem, was er mir gesagt hat, scheint er sie das ganze letzte Vierteljahrhundert zu lesen versucht zu haben.«

»Wie mag er nur auf solche Gedanken gekommen sein?« fragt Mr. Guppy und schließt grübelnd ein Auge. »Vielleicht hat er unter Dingen, die er zusammengekauft hat, versteckte Papiere gefunden und daraus in seiner Schlauheit geschlossen, sie besäßen einen Wert.«

»Oder man hat ihn bei diesen anscheinend guten Geschäften hintergangen. Oder er ist bei dem langen Grübeln darüber oder vom Trinken und dem ewigen Herumlungern im Gerichtshof und dem beständigen Redenhören von Dokumenten verrückt geworden«, wendet Mr. Weevle ein.

Guppy sitzt auf dem Fensterbrett, nickt mit dem Kopf und wägt alle diese Wahrscheinlichkeiten im Geiste ab. Dann fährt er fort, gedankenvoll auf das Fensterbrett zu klopfen, und mißt es nach allen Richtungen zerstreut mit den Fingern ab. Plötzlich zieht er hastig die Hand zurück:

»Zum Teufel, was ist das? Schau nur!«

Ein zäher gelber Saft befleckt seine Finger, widerlich fett, widerlich anzusehen und noch widerlicher riechend. Ein klebriges ekelhaftes Öl, das beide schaudern macht.

»Was hast du hier ausgegossen? Was hast du denn aus dem Fenster geschüttet?«

»Ich, aus dem Fenster geschüttet? Nichts. Ich schwöre dir. Nichts, seit ich hier bin.«

»Und schau nur, hier… Und da.« Weevle bringt das Licht.

Langsam träufelt und kriecht die Flüssigkeit an der Ecke des Fensterbrettes die Ziegel hinunter und bildet im Zimmer eine kleine dicke ekelhafte Pfütze.

»Das ist ein gräßliches Haus«, ächzt Mr. Guppy und schließt das Fenster. »Gib mir Wasser, oder ich schneide mir die Hand ab.«

Er wäscht und reibt und schabt, riecht an den Fingern, versucht, sich mit einem Glas Branntwein zu stärken, und wäscht sich immer noch schweigend am Kamin, als die St. Paulskirche zwölf schlägt und all die andern Glocken in ihren Türmen in der dunkeln Luft mit ihren vielfach verschiednen Klängen einfallen. Als alles wieder ruhig ist, sagt Jobling:

»Es ist die bestimmte Stunde. Soll ich gehen?«

Mr. Guppy nickt und wünscht ihm Glück mit einem Schlag auf die Schulter, aber nicht mit der gewaschenen Hand, obgleich es seine rechte ist.

Mr. Weevle geht die Treppe hinab, und Mr. Guppy versucht, sich am Kamin auf ein längeres Warten gefaßt zu machen. Aber kaum ein oder zwei Minuten sind verstrichen, da hört er die Treppenstufen knarren, und sein Freund kehrt rasch zurück.

»Hast du sie?«

»Ob ich sie habe? Nein. Der Alte ist nicht zu finden.«

Er sieht so fürchterlich erschrocken aus, daß sein Entsetzen den andern ansteckt. Guppy stürzt auf ihn los und fragt laut:

»Was ist geschehen?«

»Ich bekam keine Antwort, als ich nach ihm rief. Ich öffnete leise die Tür und sah hinein. Der brandige Geruch kommt von dort – und der Ruß und das Öl. Er selbst ist nicht da.« Tony stöhnt laut auf.

Mr. Guppy nimmt das Licht. Sie gehen hinunter, mehr tot als lebendig, halten sich aneinander fest und stoßen die Türe auf. Die Katze hat sich in einen Winkel zurückgezogen und faucht etwas an. Nicht sie. Etwas auf dem Boden vor dem Kamin. Im Rost glimmt noch ein kleines Feuer, und das ganze Zimmer ist erfüllt von einem schweren erstickenden Rauch. Ein dunkler schmieriger Überzug bedeckt Wände und Decke. Die Stühle und der Tisch mit der darauf liegenden Flasche stehen da wie gewöhnlich. Auf einer Stuhllehne hängen die Pelzmütze und der Rock des Alten.

»Siehst du?« flüstert Weevle und deutet mit zitterndem Finger auf die Sachen. »Ganz so, wie ich es dir gesagt habe. Als ich ihn zuletzt sprach, nahm er seine Mütze ab, holte das Paket Briefe heraus und hängte die Mütze auf die Stuhllehne – sein Rock hing schon dort, denn er hat ihn ausgezogen, wie er die Läden zumachte. Ich verließ ihn, wie er die Briefe durchsah und gerade dort stand, wo dieses verkohlte schwarze Ding auf dem Boden liegt.«

Hat er sich erhängt? Hängt er irgendwo?

Sie sehen sich um… Nein.

»Dort«, flüstert Tony, »vor dem Stuhl, dort liegt ein Stück dünner roter Bindfaden. Damit waren die Briefe zusammengebunden. Er wickelte es langsam ab und grinste mich zähnefletschend an und lachte, ehe er sie durchblätterte, und warf es dorthin. Ich sah es noch fallen.«

»Was hat nur die Katze?« sagt Mr. Guppy. »Schau nur!«

»Verrückt wahrscheinlich. Kein Wunder an diesem entsetzlichen Ort.«

Sie machen einen Schritt vorwärts und besichtigen alle Gegenstände.

Die Katze rührt sich nicht von der Stelle und faucht immer noch etwas auf dem Boden vor dem Kamin zwischen den zwei Stühlen an. »Was ist das? Halt die Kerze in die Höhe!«

Ein schmaler verbrannter Fleck auf der Diele.

Daneben liegt der Zunder von einem kleinen Paket verbrannten Papiers. Er ist nicht so leicht, wie er sein müßte, denn er scheint von etwas befeuchtet zu sein.

Und hier – ist es der Rest von einem verkohlten Holzklotz, mit weißer Asche überstreut? Oder ist es Steinkohle?

Entsetzlich: Er ist hier! Und das, vor dem sie zurückprallen, dabei das Licht auslöschen und dann übereinander weg auf die Straße stürzen, ist alles, was von ihm übrig geblieben ist.

»Hilfe, Hilfe, Hilfe! Um Gottes willen kommt in das Haus hier!«

Eine Menge Leute eilen herbei. Aber niemand kann helfen. Der Lordkanzler dieses Gerichtshofs hier, bis zu seiner letzten Tat seinem Titel getreu, ist den Tod aller Lordkanzler, aller Gerichtshöfe gestorben und aller Behörden an allen Orten, wo falsche Ansprüche unter allen möglichen Namen erhoben werden und die Ungerechtigkeit herrscht. Nennt den Tod, wie Euer Hoheit Lust haben, schreibt ihn zu, wem ihr wollt, oder sagt, er hätte verhindert werden können. Es bleibt immer und ewig derselbe Tod, eingeboren, eingepflanzt, erzeugt von den verdorbnen Säften des verkommenen Körpers selbst: Selbstverbrennung! Spontane, von selbst entstandne Verbrennung und keine andre von all den vielen Todesarten, die der Mensch sterben kann.