30. Kapitel

Esthers Erzählung

Richard war bereits einige Zeit fort, da bekamen wir für ein paar Tage Besuch. Von einer ältlichen Dame. Es war Mrs. Woodcourt aus Wales, die während eines Besuches bei Mrs. Bayham Badger, »auf Wunsch ihres Allan«, an meinen Vormund geschrieben hatte, sie habe Nachricht von ihrem Sohn erhalten und er befände sich wohl »und lasse uns allen seine freundlichsten Grüße senden«. Mein Vormund hatte sie daraufhin nach Bleakhaus eingeladen, und sie blieb fast drei Wochen bei uns. Sie schloß sich sehr an mich an, und so ausnehmend vertraulich, daß es mich manchmal in eine recht unbehagliche Stimmung versetzte. Ich wußte ganz gut, ich hatte kein Recht, mich darüber unbehaglich zu fühlen, und es war unverständig von mir, aber trotz aller Bemühungen konnte ich mir nicht helfen.

Sie war eine so lebhafte kleine Dame, pflegte, die Hände gefaltet, mich oft so aufmerksam zu beobachten beim Sprechen, daß mir vielleicht das etwas lästig wurde. Vielleicht war es auch ihre Gewohnheit, immer so aufrecht dazusitzen, aber ich glaube, das konnte nicht gut die Ursache sein, denn es kam mir manchmal recht drollig und nett vor. Auch kann es nicht an ihrem Gesichtsausdruck gelegen haben, der für eine alte Dame sehr lebendig und hübsch war. Ich weiß nicht, woran es lag. Oder wenigstens wußte ich es damals nicht. Oder wenigstens… Aber darauf kommt es nicht an.

Manchmal, wenn ich hinauf zu Bett gehen wollte, lud sie mich in ihr Zimmer ein, setzte sich in einen großen Lehnstuhl an den Kamin und erzählte mir – o Gott, o Gott – von Morgan ap Kerrig, bis ich ganz tiefsinnig wurde. Manchmal sagte sie eine Anzahl Verse aus Crumlinwallinwer und Mewlinwillinwodd, wenn das wirklich die Namen waren, her und wurde ordentlich leidenschaftlich dabei. Ich verstand ihre Bedeutung nicht, denn sie waren in welscher Sprache, und wußte nur, daß sie das Geschlecht Morgan ap Kerrig in den Himmel hoben.

»Sie sehen, Miß Summerson, wie groß das Erbe meines Sohnes ist«, pflegte sie triumphierend zu mir zu sagen. »Überall, wohin er auch kommt, kann er sich auf seine Abstammung von Morgan ap Kerrig berufen. Er wird vielleicht nie ein Vermögen haben, aber stets wird er besitzen, was so unendlich viel mehr wert ist, nämlich Familie, mein Kind.«

Ich hatte so meine Zweifel, ob sie sich in Indien und China drüben besonders um Morgan ap Kerrig kümmern würden, aber natürlich sprach ich es nicht aus. Ich sagte gewöhnlich nur, es sei eine große Sache, von so hoher Abkunft zu sein.

»Es ist auch wirklich eine große Sache, liebes Kind«, pflegte in solchen Fällen Mrs. Woodcourt zur Antwort zu geben. »Sie hat allerdings ihre Nachteile. So ist zum Beispiel mein Sohn in der Wahl einer Gattin sehr dadurch beschränkt. Aber auch die ehelichen Verbindungen der königlichen Familie sind schließlich in ähnlicher Weise beeinträchtigt.«

Dann klopfte sie mir wohl auf den Arm und strich mir das Kleid glatt, als wolle sie mir versichern, daß sie trotz des Abstandes zwischen uns beiden eine gute Meinung von mir habe.

»Mein armer seliger Mann, Mr. Woodcourt, liebes Kind«, sagte sie auch oft nicht ohne Rührung, denn neben ihrem vornehmen Stammbaum besaß sie ein sehr gefühlvolles Herz, »stammte von einer großen hochländischen Familie ab, den Mac Courts von Mac Court. Er diente seinem Könige und seinem Vaterlande als Offizier bei den königlichen Highlanders und fiel auf dem Schlachtfeld. Mein Sohn ist einer der letzten Repräsentanten zweier alter Familien. So Gott will, wird er sie wieder zur Geltung in der Welt bringen und sie mit einer andern alten Familie vereinigen.«

Vergebens in solchen Fällen versuchte ich dem Gespräch eine andre Richtung zu geben – nur der Abwechslung wegen – oder vielleicht, weil… Aber ich brauche mich nicht so in Einzelheiten zu verlieren. Kurz, Mrs. Woodcourt wollte nie von etwas anderm sprechen.

»Liebes Kind«, sagte sie eines Abends. »Sie sind so verständig und sehen die Welt mit so ruhigen und für Ihre Jahre so überlegnen Augen an, daß es für mich eine wahre Erleichterung ist, mit Ihnen diese Familienverhältnisse zu besprechen. Sie wissen nicht viel von meinem Sohn, mein Kind, aber Sie kennen ihn, möchte ich sagen, doch genug, um sich seiner erinnern zu können?«

»Gewiß, Maam, erinnere ich mich seiner.«

»Gut, liebes Kind. Und nun, mein Kind, muß ich Ihnen sagen, daß ich Ihnen viel Menschenkenntnis zutraue und gerne wissen möchte, was Sie von ihm halten.«

»O, Mrs. Woodcourt, das ist so schwer.«

»Warum sollte es schwer sein, liebes Kind? Ich sehe dann keine Schwierigkeit.«

»Ein Urteil abzugeben…«

»Nach so oberflächlicher Bekanntschaft, liebes Kind? Das ist allerdings wahr.«

Das meinte ich nicht, denn Mr. Woodcourt war im großen ganzen ziemlich viel in unserm Haus gewesen und mit meinem Vormund sehr vertraut geworden. Ich äußerte das und setzte hinzu, daß er sehr talentvoll in seinem Beruf zu sein scheine, und beispielsweise seine Güte und Freundlichkeit gegen Miß Flite über allem Lobe stünden.

»Sie lassen ihm Gerechtigkeit widerfahren«, sagte Mrs. Woodcourt und drückte mir die Hand. »Sie schildern ihn wirklich treffend. Allan ist ein lieber Junge und in seinem Beruf ohne Tadel. Ich gebe es zu, wenn ich auch seine Mutter bin. Dennoch muß ich gestehen, daß er nicht frei von Fehlern ist, meine Liebe.«

»Das ist keiner von uns«, sagte ich.

»Ja! Aber seine Fehler sind von der Art, daß er sie ablegen könnte und sollte«, erwiderte die muntere alte Dame und schüttelte lebhaft den Kopf. »Ich habe Sie so gern, daß ich Ihnen, liebes Kind, als einer dritten unbeteiligten Person in allem Vertrauen sagen kann, daß er die Unbeständigkeit selbst ist.«

Ich bemerkte, ich könnte es bei dem Ruf, den er sich erworben, kaum für möglich halten, daß er in seinem Beruf nicht beständig und nicht von jeher eifrig auf seine Ausbildung bedacht gewesen sei.

»Da haben Sie wieder Recht, liebes Kind; aber ich spreche nicht von seinem Beruf, müssen Sie wissen.«

»O!«

»Nein. Ich meine sein Benehmen in gesellschaftlicher Beziehung, mein Kind. Er macht stets jungen Damen harmlos den Hof und hat es seit seinem achtzehnten Jahr getan. Aber, liebes Kind, er hat sich dabei niemals etwas Ernstes gedacht und auch nichts Böses damit gemeint. Er hat nie etwas andres als Höflichkeit und Freundlichkeit damit ausdrücken wollen, aber dennoch ist es nicht recht, nicht wahr?«

»Nein«, sagte ich, da sie diese Antwort zu erwarten schien.

»Und es könnte leicht zu Irrtümern führen, sehen Sie.«

Ich gab das zu.

»Deshalb habe ich ihm oft gesagt, er solle sich sowohl aus Rücksicht gegen sich selbst wie gegen andre wirklich mehr in acht nehmen. Und stets hat er versprochen: ‚Mutter, das will ich. Aber du kennst mich am besten von allen Menschen und weißt, daß meine Absichten ganz harmlos sind, wenn ich mir überhaupt etwas dabei denke.‘ Alles das ist ja recht hübsch, mein Kind, kann sein Benehmen jedoch nicht rechtfertigen. Da er aber jetzt so weit von uns und auf unbestimmte Zeit weggegangen ist und es ihm drüben an guten Gelegenheiten und Bekanntschaften nicht fehlen wird, können wir das ja als vorbei und abgemacht betrachten. Und nun, liebes Kind«, sagte die alte Dame und wurde plötzlich ganz Nicken und Lächeln, »was nun Sie selbst betrifft, liebes Kind…«

»Mich, Mrs. Woodcourt?«

»Um nicht immer selbstsüchtigerweise von meinem Sohn zu sprechen, der uns verlassen hat, um sein Glück zu versuchen und eine Gattin zu finden, wann gedenken Sie Ihr Glück zu versuchen und einen Gatten zu finden, Miß Summerson? Ah, sehen Sie! Jetzt werden Sie rot.«

Ich glaube nicht, daß ich rot wurde – jedenfalls hatte es nichts zu bedeuten, wenn es geschah –, und ich sagte, daß ich mit meinem gegenwärtigen Los vollkommen zufrieden sei und mir kein besseres wünsche.

»Soll ich Ihnen sagen, was ich immer von Ihnen und Ihrem zukünftigen Schicksal denke, meine Liebe?«

»Wenn Sie glauben, eine gute Prophetin zu sein.«

»Nun, ich glaube, daß Sie einen sehr reichen und sehr würdigen Mann heiraten werden, der viel älter als Sie – vielleicht fünfundzwanzig Jahre älter ist. Und Sie werden eine vortreffliche Gattin sein, auf den Händen getragen werden und sich sehr glücklich fühlen.«

»Das ist ein sehr beneidenswertes Los«, sagte ich. »Aber warum soll es mir zufallen?«

»Liebes Kind, weil es eben ganz für Sie paßt. Sie sind so häuslich und sauber und im übrigen in so einer ganz besondern Lage, daß es bestimmt so kommen wird. Und niemand, liebes Kind, wird Ihnen aufrichtiger zu einer solchen Heirat Glück wünschen als ich.«

Es war merkwürdig, daß mich diese Rede in eine unbehagliche Stimmung versetzte, aber ich glaube, es war tatsächlich der Fall. Ich weiß es sogar. Es verstimmte mich einen Teil der Nacht lang außerordentlich. Ich schämte mich meiner Torheit so sehr, daß ich sie selbst nicht Ada bekennen mochte, und das vermehrte meine Mißstimmung noch. Ich hätte etwas darum gegeben, wenn mich die lebhafte alte Dame nicht so sehr ins Vertrauen gezogen hätte. Es verleitete mich zu den widersprechendsten Urteilen über sie. Manchmal erschien sie mir als geschwätzig und aufschneiderisch, manchmal wieder als ein Muster von Wahrheitsliebe. Kaum hatte ich sie im Verdacht, listig und verschlagen zu sein, erschien mir im nächsten Augenblick wieder ihr ehrliches welsches Herz vollkommen unschuldig und schlicht. Und was im Grunde kümmerte es mich und warum kümmerte es mich etwas! Warum sollte ich, wenn ich mit meinem Schlüsselkorb abends hinauf in mein Zimmer ging, nicht ein bißchen bei ihr vorsprechen, mich mit ihr ans Feuer setzen und mich eine kurze Zeit lang in ihre kleinen Eigenheiten fügen, wie ich es bei jedem andern machte, und warum sollte ich mich wegen der harmlosen Dinge, die sie mir erzählte, verstimmen lassen? Da es mich nun ein Mal, wie es der Fall war, zu ihr hinzog, denn es lag mir außerordentlich viel daran, ihre Neigung zu gewinnen, und es machte mir große Freude, daß ich ihr gefiel, warum sollte ich mich nachher mit wirklichem Schmerz und Leid über jedes ihrer Worte zergrübeln und es aber- und abermals auf der Goldwaage abwägen ? Warum war es mir so peinlich, sie als Gast bei uns zu haben und jeden Abend mit ihrem Vertrauen beschenkt zu werden? Das waren Verwicklungen und Widersprüche, die ich mir nicht erklären konnte. Wenigstens, wenn ich’s gekonnt hätte… Aber ich werde nach und nach alles erzählen, und es ist ganz überflüssig, jetzt sich damit abzugeben.

Es tat mir wirklich ehrlich leid, als Mrs. Woodcourt uns verließ, aber ich fühlte mich zugleich wie befreit. Und dann besuchte uns Caddy Jellyby und brachte einen solchen Stoß häuslicher Neuigkeiten mit, daß wir reichlich beschäftigt waren.

Erstens erklärte Caddy, und wollte anfangs überhaupt nichts anderes erzählen, daß ich die beste Ratgeberin von der Welt sei. Mein Liebling meinte, das sei durchaus nichts Neues, und ich sagte natürlich, es sei Unsinn. Dann teilte uns Caddy mit, daß sie sich nächsten Monat verheiraten werde und sich für das glücklichste Mädchen unter der Sonne halte, wenn Ada und ich ihre Brautjungfern sein wollten. Das war allerdings eine große Neuigkeit, und ich glaube, wir hätten am liebsten nie aufgehört, darüber zu reden, soviel hatte Caddy uns und wir ihr zu erzählen.

Wie es schien, war Caddys unglücklicher Vater dank der Nachsicht und der mitleidigen Teilnahme aller seiner Gläubiger durch den Bankrott »hindurchgerutscht«, wie Caddy sich ausdrückte – als ob es ein Tunnel wäre –, und war auf irgendeine segensreiche Weise seine Angelegenheiten losgeworden, ohne jemals Einsicht in sie erlangt zu haben. Er hatte alles, was er besaß – nach dem Zustand der Möbel zu urteilen, konnte das nicht sehr viel gewesen sein –, hergegeben und jedem Gläubiger nachgewiesen, daß er nicht mehr tun könne. Der Arme. So hatte man ihm in Ehren seine Schulden erlassen und ihn seinem Bureau zurückgegeben, damit er das Leben von neuem beginne. Was er in seinem Bureau eigentlich tat, habe ich nie erfahren. Caddy sagte, er sei Zollhaus- und Generalagent, und das einzige, was ich jemals von diesem Geschäft erfuhr, war, daß er immer in die Docks ging, wenn er Geld noch notwendiger als gewöhnlich brauchte, um welches auf zutreiben, daß es ihm aber kaum jemals gelang.

Sobald er ein solch geschorenes Lamm geworden und damit seine Seelenruhe verhältnismäßig wieder gewonnen hatte und die Familie in eine möblierte Wohnung in Hatton-Garden übersiedelt war, wo ich bei einem spätem Besuch die Kinder beschäftigt fand, das Roßhaar aus den Stuhlsitzen zu schneiden, um sich gegenseitig damit den Mund zu verstopfen, brachte Caddy zwischen ihm und dem alten Mr. Turveydrop eine Zusammenkunft zustande, und der arme Mr. Jellyby hatte sich in seiner Demut und Bescheidenheit vor Mr. Turveydrops Allüren so unterwürfig gebeugt, daß sie vortreffliche Freunde geworden waren. Der alte Mr. Turveydrop, auf diese Weise mit dem Gedanken an seines Sohnes Verheiratung vertraut gemacht, hatte allmählich seine väterlichen Gefühle bis zu der Höhe gesteigert, daß er sich das Ereignis als nahe bevorstehend denken konnte und dem jungen Paare seine gnädige Erlaubnis erteilte, in der Akademie der Newmanstreet zu wirtschaften anzufangen, sobald sie wollten.

»Und dein Papa, Caddy? Was sagt er dazu?«

»Ach, der arme Papa weinte nur und sagte, er hoffe, wir würden glücklicher miteinander sein als er und Ma. Er sagte das nicht vor Prince, sondern bloß zu mir und setzte hinzu: ‚Mein armes Kind, man hat dich zu Hause nicht besonders gut unterwiesen, wie du deinem Gatten eine Häuslichkeit bereiten sollst, aber wenn du nicht mit ganzem Herzen bestrebt bist, es zu tun, so ermorde ihn lieber, als daß du ihn heiratest, wenn du ihn wirklich gern hast.’«

»Und hast du ihn beruhigt, Caddy?«

»Ach, es war natürlich sehr schmerzlich, den armen Papa so niedergeschlagen zu sehen und ihn so schreckliche Dinge sagen zu hören, und ich mußte selbst mitweinen. Ich sagte ihm, daß es mein aufrichtigster Herzenswunsch sei und daß ich hoffte, unser Haus werde für ihn ein Ort werden, wo er des Abends eine gemütliche Umgebung finden könnte, und daß ich hoffte und glaubte, ich werde ihm dort eine bessere Tochter sein können als daheim. Dann erwähnte ich, daß Peepy zu mir kommen würde, und da fing Papa wieder an zu weinen und sagte, die Kinder wären Indianer.«

»Indianer, Caddy?«

»Ja, wilde Indianer. Und Papa sagte, er sehe ein, das Beste, was ihnen geschehen könnte, wäre, wenn man sie allesamt mit dem Tomahawk erschlüge.«

Ada meinte, es sei ein Trost, zu wissen, daß es Mr. Jellyby mit seinen Zerstörungsgelüsten nicht ernst sei.

»Natürlich weiß ich, daß Papa nicht wünscht, seine Familie sich in ihrem Blut wälzen zu sehen«, sagte Caddy. »Aber er meint, daß es ein Unglück für die Kinder ist, eine solche Mutter zu haben, und ein Unglück für ihn, Mas Gatte zu sein. Und das ist gewiß wahr, wenn es auch unnatürlich klingt, daß ich es bestätige.«

Ich fragte Caddy, ob Mrs. Jellyby wisse, daß der Hochzeitstag bereits festgesetzt sei.

»Ach, du weißt, wie Ma ist, Esther«, antwortete sie. »Es ist rein unmöglich zu sagen, ob sie es weiß oder nicht. Man hat es ihr oft genug erzählt, aber so oft man darauf zu sprechen kommt, wirft sie nur einen friedlichen Blick auf mich, als wäre ich – ich weiß nicht was – ein Kirchturm in der Ferne. Und dann schüttelt sie den Kopf und sagt: ‚O Caddy, o Caddy, wie du mich quälst!‘ und arbeitet an ihren Borriobula-Briefen weiter.«

»Und wie steht’s mit deiner Garderobe, Caddy?« – Sie brauchte sich uns gegenüber ja nicht zu genieren. –

»Ach, liebe Esther«, entgegnete sie und trocknete sich die Augen, »ich muß es machen, so gut ich kann, und meinem lieben Prince vertrauen, er werde nie unfreundlich daran zurückdenken, daß ich so schäbig zu ihm gekommen bin. Wenn es sich um eine Ausstattung für Borriobula-Gha handelte, so würde Ma alles ganz genau wissen und im höchsten Grad aufgeregt darüber sein. Aber so weiß sie nichts und kümmert sich um nichts.«

Es fehlte Caddy durchaus nicht an natürlicher Liebe zu ihrer Mutter, und sie erwähnte nur die nackte Tatsache mit Tränen in den Augen. Uns tat das arme gute Mädchen so leid, und wir mußten ihre gute natürliche Veranlagung, die trotz so entmutigender Verhältnisse nicht zugrunde gegangen war, so bewundern, daß wir beide zugleich, nämlich Ada und ich, einen kleinen Plan in Vorschlag brachten, der Caddy in größte Freude versetzte. Er bestand darin, daß sie uns auf drei Wochen und ich sie auf eine Woche besuchen sollte und daß wir uns alle drei bemühen wollten, durch Schneidern, Ausbessern, Nähen und dergleichen unser möglichstes für ihre Garderobe zu tun.

Da mein Vormund sich über den Plan ebenso freute wie Caddy, begleiteten wir sie der nötigen Vorbereitungen wegen am nächsten Tag schon nach London und brachten sie im Triumph mit ihren Schachteln und all den Einkäufen für eine Zehnpfundnote, die Mr. Jellyby vermutlich in den Docks gefunden hatte, ihr aber jedenfalls schenkte, zurück.

Was mein Vormund ihr erst alles geschenkt hätte, wenn wir ihn dazu aufgemuntert hätten, wäre schwer zu sagen, aber wir hielten es für recht, ihm nicht mehr als ein Hochzeitskleid und einen Hut zu gestatten. Er ging auf den Vergleich ein, und Caddy war überglücklich, als wir uns zur Arbeit hinsetzten.

Sie war anfangs ungeschickt genug mit der Nadel, das arme Kind, und stach sich jetzt so oft in die Finger, wie sie sich früher mit Tinte beschmiert hatte. Sie wurde dann meistens ein wenig rot, teils vor Schmerz, teils aus Verdruß über ihre Ungeschicklichkeit, gewöhnte sich das aber bald ab und machte rasche Fortschritte. So saßen sie und mein Liebling, meine kleine Zofe Charley und eine Putzmacherin aus der Stadt und ich Tag für Tag in eifriger Arbeit und so gemütlich wie möglich beisammen.

Außerdem war Caddy sehr besorgt, »wirtschaften zu lernen«, wie sie es nannte. Nun war aber, gütiger Himmel, der Gedanke, sie könnte von einer Person von meiner unermeßlichen Erfahrung wirtschaften lernen, ein solcher Spaß, daß ich lachte und rot wurde und über ihren Vorschlag in Verlegenheit geriet. Ich sagte: »Caddy, gewiß will ich dich alles lehren, was du von mir lernen kannst, liebes Kind«, und ich zeigte ihr alle meine Bücher und Methoden und alle meine kleinen Einrichtungen. Wie sie zuhörte und zusah, hätte man meinen können, ich offenbarte ihr die wundervollsten Erfindungen, und wer sie hätte jedes Mal aufstehen und mit mir kommen sehen, so oft ich mit meinen Wirtschaftsschlüsseln klingelte, hätte gewiß gedacht, daß es nie einen größeren Charlatan gegeben als mich und einen blindem Anhänger als Caddy Jellyby.

So vergingen mit Arbeiten und Wirtschaften, Unterrichtsstunden für Charley und dem Pochbrettspielen abends mit meinem Vormund und Duetten mit Ada die drei Wochen schnell genug. Dann begleitete ich Caddy nach Hause, um zu sehen, was sich dort tun lasse, und Ada und Charley blieben zurück, um für meinen Vormund zu sorgen.

Wenn ich sage, ich begleitete Caddy nach Hause, so meine ich damit die möblierte Wohnung in Hatton-Garden. Wir gingen zwei oder drei Mal nach Newmanstreet, wo ebenfalls allerlei Vorbereitungen im Gange waren. Ziemlich viel, wie ich bemerkte, um die Behaglichkeit des alten Mr. Turveydrop zu vermehren, und einige wenige, um das junge Paar billig im obersten Stock des Hauses unterzubringen. Unser Hauptziel jedoch war, die möblierte Wohnung für das Hochzeitsfrühstück anständig herzurichten und Mrs. Jellyby vorher ein schwaches Bewußtsein von der kommenden Feier einzuimpfen.

Letzteres war das schwerste von beiden, weil Mrs. Jellyby und ein kränklicher, blasser Knabe das vordere Wohnzimmer inne hatten – das rückwärtige war bloß eine Kammer. Der Fußboden war mit einer dichten Schicht von Papierfetzen und Borriobula-Dokumenten bedeckt wie ein liederlich gehaltner Stall mit Streu. Mrs. Jellyby saß hier den ganzen Tag, trank starken Kaffee, diktierte und hielt Borriobula-Konferenzen ab. Der kränkliche blasse Knabe, der im ersten Stadium der Schwindsucht zu stehen schien, aß außer Hause.

Wenn Mr. Jellyby heim kam, stöhnte er gewöhnlich und ging hinab in die Küche. Dort bekam er etwas zu essen, wenn die Köchin ihm etwas gab, und dann fühlte er, daß er im Wege war, und ging draußen in der Nässe in Hatton-Garden spazieren. Die armen Kinder kletterten und purzelten im Hause herum, wie sie es von jeher gewohnt gewesen.

Die armen kleinen Opfer in der kurzen Frist einer Woche in einen nur irgend präsentablen Zustand zu versetzen, war einfach unmöglich, und ich schlug Caddy daher vor, sie an ihrem Hochzeitsmorgen in der Dachkammer – wo sie alle schliefen – so glücklich wie möglich zu machen und unser Hauptaugenmerk auf ihre Mama und deren Zimmer und die Vorbereitungen für ein reinliches Hochzeitsfrühstück zu beschränken. Wirklich erforderte Mrs. Jellyby ziemlich viel Aufmerksamkeit, denn das Gitterwerk auf ihrem Rücken hatte sich seit dem Tag unsrer ersten Bekanntschaft erheblich vergrößert und ihr Haar sah aus wie die Mähne eines Kehrichtwagenpferdes. Da mir eine allgemeine Besichtigung von Caddys Garderobe das beste Mittel zu sein schien, mich dem Thema auf Schleichwegen zu nähern, lud ich Mrs. Jellyby eines Abends, als der kränkliche Knabe fortgegangen war, ein, sich die Sachen, die auf Caddys Bett ausgebreitet waren, anzusehen.

»Meine liebe Miß Summerson«, sagte sie und stand mit ihrer gewohnten freundlichen Gelassenheit vom Schreibtisch auf, »das sind wahrhaft lächerliche Vorbereitungen, wenn es auch ein Beweis Ihrer Güte ist, daß Sie sich so sehr darum bemühen. Es liegt für mich etwas unaussprechlich Absurdes in dem Gedanken, daß Caddy heiratet. O Caddy, du törichtes, törichtes, törichtes Gänschen!«

Nichtsdestoweniger begleitete sie mich hinauf und besah sich die Kleider in ihrer gewohnten geistesabwesenden Art. Sie gaben ihr sogar einen bestimmten Gedanken ein, denn sie sagte mit ihrem friedlichen Lächeln kopfschüttelnd: »Meine gute Miß Summerson, mit dem halben Gelde hätte man ein Kind für Afrika ausstatten können.«

Wir gingen dann wieder hinunter, und Mrs. Jellyby fragte mich, ob das störende Geschäft des Heiratens wirklich nächsten Mittwoch stattfinden sollte. Als ich bejahte, sagte sie: »Wird man mein Zimmer brauchen, liebe Miß Summerson? Es ist mir ganz unmöglich, meine Papiere wegzuschaffen.«

Ich nahm mir die Freiheit, zu bemerken, daß wir das Zimmer jedenfalls brauchen würden und die Papiere irgendwohin schaffen müßten.

»Nun, Sie müssen es am besten wissen, liebe Miß Summerson«, sagte Mrs. Jellyby. »Aber dadurch, daß mich Caddy genötigt hat, einen Knaben aufzunehmen, hat sie mich bei meiner Überbürdung mit Geschäften für das öffentliche Wohl so in Verlegenheit gebracht, daß ich nicht weiß, wohin ich mich wenden soll. Wir haben überdies Mittwoch nachmittag Zweigvereinsversammlung, und die Störung durch die Hochzeit kommt daher recht ungelegen.

»Es wird so leicht nicht wieder vorkommen«, tröstete ich sie lächelnd. »Caddy wird sich wahrscheinlich nur ein Mal verheiraten.«

»Das ist richtig«, gab Mrs. Jellyby zu. »Das ist richtig, liebes Kind. Wir müssen uns also wohl, so gut es eben geht, hinein schicken.«

Die nächste Frage war, was Mrs. Jellyby zu der Feierlichkeit anziehen sollte. Es war so seltsam, wie sie von ihrem Schreibtisch herüber uns so heiter und ruhig anblickte, während Caddy und ich darüber zu Rate gingen, und gelegentlich mit einem vorwurfsvollen Lächeln den Kopf schüttelte wie ein überlegner Geist, der langmütig solche Tändeleien duldet.

Der Zustand, in dem sich ihre Kleider befanden, und das außerordentliche Durcheinander, in dem sie sie aufbewahrte, vermehrten nicht wenig die Schwierigkeit unsres Unternehmens. Aber schließlich brachten wir doch etwas zustande, was dem, was eine Durchschnittsmutter bei einer solchen Veranlassung getragen haben würde, nicht direkt unähnlich sah.

Die Geistesabwesenheit, mit der Mrs. Jellyby sich ihr Kleid von der Putzmacherin anprobieren ließ, und die Freundlichkeit, mit der sie sodann zu mir äußerte, wie leid es ihr tue, daß ich meine Gedanken nicht lieber Afrika gewidmet habe, paßten so recht zu ihrem ganzen übrigen Benehmen.

Die Wohnung war hinsichtlich Raum ziemlich beschränkt; aber ich glaube, die St. Pauls- oder St. Peterskirche in ihrer ganzen gewaltigen Größe hätte für Mrs. Jellybys Haushalt höchstens auch nur dazu ausgereicht, um darin mehr Schmutz entfalten zu können. Ich glaube nicht, daß irgend etwas überhaupt Zerbrechliches aus dem Familienbesitz zur Zeit dieser Hochzeitsvorbereitungen noch nicht zerbrochen war. Nichts, was irgendwie verderben konnte, war unverdorben. Kein häuslicher Gegenstand, vom Knie eines lieben Kindes an bis zu einem Türschild, der überhaupt schmutzig werden konnte, war ohne soviel Schmutz, als sich nach physikalischen Gesetzen darauf ansammeln konnte.

Der arme Mr. Jellyby, der sehr selten sprach und zu Hause fast stets mit dem Kopf an die Wand gelehnt dasaß, faßte ein lebhaftes Interesse, als er Caddy und mich bemüht sah, einigermaßen Ordnung inmitten dieser Verwirrung und Zerrüttung herzustellen, und zog seinen Rock aus, um mitzuhelfen. Aber so wunderbare Dinge kamen in den Schränken zum Vorschein –verschimmelte Stückchen von Pasteten, versäuerte Flaschen, Mrs. Jellybys Mützen, Briefe, Tee, Gabeln, einzelne Kinderstiefel und Schuhe, Unterzünder, Oblaten, Topfdeckel, naßgewordner Zucker in einer Anzahl Papiertüten, Fußschemelbestandteile, Stiefelbürsten, Brot, Damenhüte, Bücher, auf deren Einband Butter klebte, – Lichtstümpfe, die man verkehrt in zerbrochne Leuchter gesteckt hatte, um sie auszulöschen, – Nußschalen, Köpfe und Schwänze von Krebsen, Tischdecken, Handschuhe, Kaffeesatz, Regenschirme –, daß er ein erschrockenes Gesicht machte und es aufgab. Aber regelmäßig kam er jeden Abend herein und setzte sich in Hemdsärmeln, den Kopf an die Wand gelehnt, hin, als hätte er uns gern geholfen und wüßte nur nicht, wie.

»Armer Papa«, sagte Caddy am Abend vor dem großen Tag zu mir, als wirklich ein wenig Ordnung hergestellt war. »Es ist eigentlich grausam, ihn zu verlassen, Esther. Aber was könnte ich tun, wenn ich bliebe? Seit ich dich kennen gelernt habe, habe ich immer und immer wieder aufgeräumt und geputzt, aber es half nichts. Ma vereint mit Afrika stellt das ganze Haus auf den Kopf. Wir haben nie einen Dienstboten, der nicht tränke. Ma verdirbt alles.«

Mr. Jellyby konnte nicht gehört haben, was sie sagte, aber er war sehr niedergeschlagen und weinte, wie mir schien.

»Mir tut das Herz weh, wenn ich an ihn denke, wahrhaftig!« schluchzte Caddy. »Ich kann mich heute abend des Gedankens nicht erwehren, wo ich doch von ganzer Seele hoffe, mit Prince glücklich zu werden, daß gewiß auch Papa einst wähnte, mit Ma glücklich zu sein. Was für ein Leben voller Enttäuschungen!«

»Meine liebe Caddy«, sagte Mr. Jellyby und kehrte uns langsam sein Gesicht von der Wand her zu. Ich glaube, es war das erste Mal, daß ich drei zusammenhängende Worte von ihm hörte.

»Ja, Papa?« rief Caddy, ging zu ihm hin und umarmte ihn liebreich.

»Meine liebe Caddy, nimm niemals…«

»Niemals Prince, Pa?« stotterte Caddy. »Niemals…«

»Doch, liebes Kind«, sagte Mr. Jellyby. »Nimm ihn jedenfalls. Aber nimm niemals…«

Ich erinnerte mich, daß schon bei unserm ersten Besuch in Thavies Inn Richard von Mr. Jellyby behauptet hatte, er pflege häufig den Mund aufzumachen, ohne etwas zu sagen. Es war wirklich seine Gewohnheit. Er machte jetzt viele Male den Mund auf und schüttelte trübsinnig den Kopf.

»Was soll ich niemals nehmen, was denn, lieber Papa?« fragte Caddy und hing liebkosend an seinem Hals.

»Nimm nie eine Mission auf dich, mein liebes Kind.«

Er stöhnte und lehnte den Kopf wieder an die Wand. Es war das erste Mal, daß ich von ihm eine Meinungsäußerung über die Borriobula-Frage hörte. Ich glaube, er muß in früheren Zeiten gesprächig und lebhaft gewesen sein, aber er schien es lange, bevor ich ihn kennen lernte, ganz und gar aufgegeben zu haben.

Ich glaubte, Mrs. Jellyby wollte diese Nacht überhaupt nicht aufhören, mit heiter ruhigem Blick ihre Papiere durchzusehen und dabei Kaffee zu trinken. Es schlug zwölf Uhr, ehe wir von dem Zimmer Besitz ergreifen konnten, und das Aufräumen war so entmutigend, daß Caddy, sowieso schon ganz erschöpft, sich mitten in den Staub hinsetzte und weinte. Aber sie wurde bald wieder fröhlich, und wir verrichteten wahre Wunder in der Stube, ehe wir zu Bett gingen.

Des Morgens früh sah es mit Hilfe einiger Blumen, eines großen Aufwandes von Seife und Wasser und ein bißchen Aufräumens ganz freundlich aus. Der einfache Frühstückstisch nahm sich recht hübsch aus, und Caddy war wirklich entzückend. Aber als mein Liebling kam, glaubte ich und glaube es noch jetzt, noch nie etwas Schöneres als Ada gesehen zu haben.

Für die Kinder machten wir ein kleines Festmahl zurecht, übergaben Peepy den Vorsitz an der Tafel und zeigten ihnen Caddy in ihrem Brautkleid. Und sie klatschten in die Hände und riefen: »Hurra!« Nur Caddy weinte bei dem Gedanken, sie jetzt verlassen zu müssen, und drückte sie immer und immer wieder ans Herz, bis wir Prince heraufkommen ließen, um sie abzuholen. Leider, wie ich gestehen muß, biß ihn Peepy bei dieser Gelegenheit.

Unten fanden wir den alten Mr. Turveydrop in unbeschreiblich vornehmer Haltung. Er segnete Caddy huldreich und gab meinem Vormund zu verstehen, daß seines Sohnes Glück sein väterliches Werk sei und er persönliche Rücksichten ganz aus dem Spiel lasse, um es zu sichern.

»Wertgeschätzter Herr«, sagte er, »die jungen Leute werden bei mir wohnen. Mein Haus ist groß genug für sie. Und es soll ihnen nicht an Schutz und Obdach unter meinem Dache fehlen. Ich hätte es gerne gesehen – Sie werden die Andeutung verstehen, Mr. Jarndyce, denn Sie erinnern sich noch meines hohen Gönners, des Prinzregenten –, ich hätte es gerne gesehen, daß mein Sohn in eine Familie mit vornehmeren Allüren geheiratet hätte, aber der Wille des Himmels geschehe!«

Mr. und Mrs. Pardiggle waren ebenfalls eingeladen. – Mr. Pardiggle, ein eigensinnig aussehender Mann mit einer langen Weste und struppigem Haar, sprach beständig mit tiefer Baßstimme von seinem Scherflein, Mrs. Pardiggles Scherflein und seiner fünf Knaben Scherflein. Mr. Quale, das Haar wie gewöhnlich zurückgebürstet und die Beulen an den Schläfen glänzend wie immer, war gleichfalls gekommen, nicht als enttäuschter Liebhaber, sondern als Erklärter einer jungen – besser gesagt, unverheirateten – Dame, einer gewissen Miß Wisk. Miß Wisks Mission war, der Welt zu zeigen, daß die Mission des Weibes die Mission des Mannes sei und daß die einzig echte Mission von Mann und Weib sei, in öffentlichen Versammlungen über allgemeine Grundsätze rastlos erklärende Behauptungen aufzustellen.

Es waren nur wenig Gäste, aber sie widmeten sich sämtlich, wie man nicht anders erwarten konnte, der öffentlichen Wohlfahrt. Außer den bereits erwähnten war eine außerordentlich schmutzige Dame anwesend mit ganz schiefem Hut, den Preiszettel noch am Kleid, deren Haus, wie mir Caddy erzählte, die reinste Wildnis sei. Ein sehr streitsüchtiger Herr, dessen Mission, wie er sagte, war, jedermanns Bruder zu sein, was ihn aber nicht hinderte, mit seiner ganzen großen Weltfamilie auf gespanntem Fuß zu stehen, vervollständigte die Gesellschaft. Eine weniger zu einer solchen Festlichkeit passende Gästeschar hätte selbst das größte Genie nicht zusammenstellen können. Eine so gewöhnliche Mission wie die Mission der Häuslichkeit war das allerletzte, was sie hätten ertragen können, und Miß Wisk äußerte mit größter Empörung vor dem Frühstück, daß die Zumutung, die Mission des Weibes läge hauptsächlich in der engen Sphäre der Häuslichkeit, eine niederträchtige Herabwürdigung von seiten der Tyrannen, nämlich der Männer, bedeute. Eine andre Eigentümlichkeit war, daß kein mit einer Mission behafteter – außer Mr. Quale, dessen Mission, wie bereits früher erwähnt, war, von der anderer begeistert zu sein – sich auch nur im mindesten um die Mission seines Nebenmenschen bekümmerte.

Mrs. Pardiggle war genau so davon durchdrungen, daß der einzig unfehlbare Beruf der ihre sei, über Arme herzufallen und ihnen Wohltaten zu applizieren wie eine Zwangsjacke, wie Miß Wisk überzeugt war, daß das einzig richtige für die Welt die Emanzipation der Frau von dem Joche ihres Tyrannen, des Mannes, sei. Mrs. Jellyby lächelte die ganze Zeit über die Beschränktheit eines Blickes, der etwas anderes als Borriobula-Gha sehen konnte.

Aber ich spreche schon von unsrer Unterhaltung auf der Heimfahrt.

Vorher gingen wir alle in die Kirche, und Mr. Jellyby gab Caddy das Geleit. Von der Grazie, mit der der alte Mr. Turveydrop seinen Zylinder unter dem linken Arm trug, das Innere dem Geistlichen wie eine Kanonenmündung zugekehrt, und mit Augen, die fast unter seiner Perücke verschwanden, steif und hochschultrig während der Feierlichkeit hinter uns Brautjungfern stand und uns nachher küßte, werde ich nie entsprechend schildern können. Miß Wisk, von der ich nicht behaupten kann, daß ihr Äußeres besonders anziehend gewesen wäre, hörte der Zeremonie als einem neuen Beweis der Sklaverei des Weibes mit verachtungsvoller Miene zu. Mrs. Jellyby mit ihrem ruhigen Lächeln und ihren heitern Augen war sichtlich die Unbeteiligste von der ganzen Gesellschaft.

Wir fuhren zum Frühstück wieder in die Wohnung zurück, und Mr. und Mrs. Jellyby setzten sich an die beiden Schmalenden der Tafel. Caddy hatte sich vorher hinauf geschlichen, um die Kinder nochmals zu umarmen und ihnen zu sagen, sie heiße jetzt Turveydrop. Aber diese Nachricht verursachte Peepy, anstatt auf ihn wohltätig zu wirken, einen derartigen Schmerz, daß er sich auf den Rücken warf und mit den Beinen strampelte. Als man mich zu Hilfe holte, konnte ich auch nichts weiter tun, als dem Vorschlag, ihn mit zur Frühstückstafel zu nehmen, beizustimmen. So kam er denn herunter und setzte sich auf meinen Schoß, und Mrs. Jellyby war, nachdem sie in bezug auf den Zustand seines Lätzchens gesagt hatte: »Du nichtsnutziger Peepy, was für ein abscheuliches kleines Schwein du bist!« nicht im mindesten aus der Fassung gebracht. Er benahm sich im allgemeinen sehr gut, nur bestand er darauf, daß er den Noah – aus seiner Arche, die ich ihm vor dem Kirchgang gekauft – in die Weingläser tunken und dann in den Mund stecken durfte.

Mein Vormund verstand es mit seiner guten Laune, seinem feinen Takt und seinem liebenswürdigen Benehmen, selbst aus der ungemütlichsten Gesellschaft etwas Angenehmes zu machen. Keiner der Gäste schien von etwas anderm als von seiner eignen Mission sprechen zu können, aber mein Vormund wußte alles in heiterer Weise zu Ehren der Feier und zur Aufmunterung Caddys zu drehen und steuerte uns sicher durch die Gefahren des Frühstücks. Was wir ohne ihn gemacht hätten, fürchte ich mich fast auszudenken, denn da jeder auf Braut und Bräutigam von oben herabsah und sich der alte Mr. Turveydrop infolge seines vornehmen Anstandes und seiner Allüren der ganzen Gesellschaft unendlich überlegen hielt, war es ein geradezu verzweifelter Fall.

Endlich kam die Zeit, wo die arme Caddy Abschied nehmen mußte und ihr ganzes Hab und Gut auf den gemieteten Zweispänner, der sie und ihren Gatten nach Gravesend bringen sollte, gepackt wurde.

Es war rührend, wie sie sich jetzt gar nicht von dem Vaterhaus, das ihr so jämmerlich wenig geboten, trennen konnte und mit der größten Zärtlichkeit am Halse der Mutter hing.

»Es tut mir so leid, daß ich nicht länger diktando schreiben konnte, Ma«, schluchzte sie. »Ich hoffe, du verzeihst mir jetzt.«

»Ach Caddy, Caddy«, seufzte Mrs. Jellyby. »Ich habe dir doch oft genug gesagt, daß ich einen Knaben aufgenommen habe, und damit ist’s abgemacht.«

»Bist du auch ganz gewiß nicht ein bißchen böse mehr auf mich, Ma? Sage, daß du’s nicht bist, ehe ich weggehe, Ma!«

»Du närrische Caddy«, entgegnete Mrs. Jellyby. »Sehe ich böse aus oder neige ich überhaupt zum Bösesein? Oder habe ich Zeit dazu?«

»Gib ein bißchen auf Papa acht, wenn ich fort bin, Ma!«

Mrs. Jellyby lachte geradezu über diesen Einfall. »Du romantisches Kind!« sagte sie und klopfte Caddy auf den Rücken. »Geh nur. Es liegt nicht der geringste Schatten zwischen uns. Jetzt leb wohl, Caddy, und sei recht glücklich.«

Dann umarmte Caddy ihren Vater und legte seine Wange an ihre, als wäre er ein krankes Kind, und konnte sich gar nicht von ihm losreißen.

Alles dies spielte sich in der Vorhalle ab. Der Vater ließ sie los, zog sein Taschentuch heraus, setzte sich auf die Treppe und lehnte den Kopf an die Wand. Ich hoffe, daß ihn das einigermaßen getröstet hat. Ich glaube es sogar.

Und dann nahm Prince ihren Arm und wandte sich in großer Ergriffenheit und Verehrung zu seinem Vater, dessen Anstand und Allüren in diesem Augenblick sich in geradezu überwältigender Weise entfalteten.

»Ich danke dir aber- und abermals, Vater«, sagte Prince und küßte ihm die Hand. »Ich bin dir unendlich dankbar für all deine Güte und deine Rücksicht betreffs unsrer Heirat. Und dasselbe, kann ich dir versichern, fühlt auch Caddy.«

»Sehr«, schluchzte Caddy, »seh-e-r.«

»Mein lieber Sohn«, antwortete Mr. Turveydrop, »und du, meine liebe Tochter, ich habe meine Pflicht getan. Wenn der Geist der Verewigten über uns schwebt und jetzt herabblickt, so ist das und eure beständige Liebe mein Dank, mein Sohn. Ihr werdet euere Pflicht, mein Sohn und meine Tochter, doch niemals vergessen?«

»Teurer Vater, nie!« rief Prince.

»Nie, nie, lieber Mr. Turveydrop!« beteuerte auch Caddy.

»So sei es! Meine Kinder, mein Haus gehört euch, mein Herz ist euer. Und alles, was mein ist. Ich will euch nie verlassen, und nur der Tod soll uns scheiden. Mein lieber Sohn, gedenkst du wirklich, eine ganze Woche wegzubleiben?«

»Eine Woche, lieber Vater. Wir kommen heute über acht Tage wieder nach Hause.«

»Mein liebes Kind, ich muß dir selbst unter den gegenwärtigen Ausnahmeverhältnissen strengste Pünktlichkeit empfehlen. Es ist von höchster Wichtigkeit, mit der Kundschaft in Fühlung zu bleiben. Wenn man Schulen auch nur im mindesten vernachlässigt, so rächt sich das leicht.«

»Heute über acht Tage, Vater, sind wir gewiß zum Mittagessen wieder zu Hause.«

»Gut«, sagte Mr. Turveydrop. »Euer Zimmer wird geheizt sein, liebe Caroline, und das Essen in meinem eignen Appartement bereit stehen. Ja, ja, Prince«, kam er einem bescheidnen Einwand von Seiten seines Sohns mit einer großartigen Geste zuvor, »Du und unsre Caroline werden sich im obern Teil des Hauses noch nicht heimisch fühlen, und ich will deshalb, daß ihr für diesen Tag in meinem Appartement diniert. Und nun behüt euch Gott!«

Sie fuhren fort. Ob ich mich mehr über Mrs. Jellyby oder über Mr. Turveydrop wundern sollte, wußte ich nicht. Mein Vormund und Ada sprachen darüber, und es ging ihnen ebenso.

Ehe wir uns empfahlen, machte mir Mr. Jellyby ein höchst unerwartetes und beredtes Kompliment. Er kam im Vorzimmer auf mich zu, ergriff meine beiden Hände, drückte sie und machte zwei Mal den Mund auf und zu.

Ich wußte so genau, was er meinte, daß ich ganz verlegen abwehrte: »Bitte, sprechen Sie nicht davon, Sir.«

»Ich hoffe, diese Heirat fällt gut aus, Vormund«, sagte ich, als wir drei nach Hause fuhren.

»Ich hoffe, Mütterchen! Geduld. Wir werden sehen!«

»Ist heute Ostwind?« wagte ich zu fragen.

Er lachte herzlich und verneinte.

»Aber diesen Morgen muß Ostwind gewesen sein, glaube ich?«

Er verneinte wieder, und dieses Mal sagte auch mein Liebling ganz zuversichtlich nein und schüttelte das hübsche Köpfchen, das mit den Blumen in dem blonden Haar wie der Lenz selbst aussah.

»Was weißt du denn von Ostwind, mein häßlicher Liebling«, sagte ich und mußte sie in meiner Bewunderung küssen – ich konnte mir nicht helfen.

Ach, ich weiß gar wohl, daß nur die Liebe der beiden zu mir die Ursache war, daß sie mir das sagten. Ich muß es hinschreiben, selbst wenn ich es wieder ausstreichen sollte, weil es mir soviel Freude macht: Sie sagten mir, es könne kein Ostwind sein, wo ein gewisser Jemand sei. Wo Mütterchen Hubbart sei, da sei Sonnenschein und Sommerluft.