Wie Rübezahl sich in seinem Geisterreiche die Zeit vertreibt


Sechstes Abenteuer

Oben im Gebirge schrie jetzt der Nordsturm.

Noch am Vormittag hatte die Dezembersonne blaß geschienen und die kleinen Fenster der Hütten am Hange mit ihren matten Strahlen dünn vergoldet.

Aber gegen die Vesperstunde begannen Huschen Schnee mit wildem Hörnerschall auch durch die Hohlen unten hinaufzufahren. Und oben höher auf den freien Steinhalden des Kammes jagten die schneeweißen Bergfrauen in feinen Glitzerschleiern im Wirbeltanz, Hunderte und Tausende die abschüssigen, reinen Flächen hinab.

Da blieb keine Stätte hoch oben, wo nicht in sinnverwirrendem Zuge die unkenntlichen, vermummten alten Rauzen und Knieholzzwerge in den menschenleeren Einsamkeiten umfegt und umgellt waren.

Tausende von Windsbräuten mit gierigen Herzen und gierigen Mündern, die ihre Buhlen im Fluge suchen gingen, waren in Gründen und Schluchten zugleich aufgewacht. Und die verdorrten und abgestorbenen Forstherrlichkeiten alle, die noch eben in der herbstlichen Sonne sanft geleuchtet hatten, begannen unter jähem Bellen und lautem Gekläff der tollen Meute mit flatternden Graukleidern hangauf hangab im Kreise zu jagen.

Heere waren überall aufgestanden und in die Lüfte geflohen.

Heere, wie sie der große Schwedenkönig nicht zahlreicher gegeneinander durch Deutschland und Böhmen gejagt.

Undurchdringliche Wirbelheere.

So daß das Auge des kleinen Dorfschmiedes in der umheulten Wohnhütte in der Schlucht durch die verfrorene Scheibe hinaufsah, wo kein Himmel mehr sich zeigte.

Heere, deren Gejohl und freches Gewieher den dicken Schankwirt mit flatternder Schürze von dem kleinen Scheunentore wieder jach in den Hausflur zurücktrieb.

Denn die kleinste Ritze am Scheunentore in diesem Augenblicke aufzutun, hätte nur heißen können, die beiden Torflügel auseinander zu reißen, damit die lechzenden, von hudligen Silbergespinsten umflogenen Gesichter der Bergfrauen zu Scharen auch noch auf die glatte Tenne stürmten und die kleine Tenne samt Körnerresten und Strohpuppen zum Tanzsaale machten.

Da war für den Menschen in den kleinen Bergdörfern keine Rettung vor Wintergewalten.

Die Armseligen innen saßen in ihren Holzhütten und starrten in den langen, trüben Stubendämmer.

Welche auch saßen und schnitzten Rübezahle, wie die Leute an heiligen Wallfahrtsstätten Muttergottesbilder und den Christ am Kreuze schnitzen.

Da waren Rübezahls Atemhauche auch vom Sturmheer gefaßt.

Da war auch er einer aus einer anderen Welt. Und durchraste die Räume einsam wie der Sturm selber.

Blieb ungestalt.

Weil er jetzt mit Menschen nicht mehr handeln brauchte, die nur ihresgleichen mit ihren kleinen Tieräuglein begreifen können.

Ging mit den wesenlosen Nebelfrauen wesenlos im Zuge, die Winterhirsche und Winterrehe in die Täler treiben.

Da jauchzte auch sein Herz.

Da lag die Welt der Menschentäler tief unten.

Da wuchs auch er schemenhaft in die Lüfte wie der Gewaltigste unter Gewaltigen.

Da fuhr er wie ein wahnsinniger Luftgeist einher, den tausend Tänzerinnen wie ihren Götzen umtanzten. Oder vor dem tausend Beterinnen sich in den wirbelnden Schneestaub beugten.

Da konnte das Menschenauge hoch oben nur unheimliche Visionen entdecken, die sich im Fluge zerlösten, wenn es einen Blick hoch hinaufgeworfen, sobald eine unsichtbare Riesenhand ein Loch in die treibenden Nebelschleier gerissen und das Tal bis hinauf zum Kamme einen Augenblick freigemacht.

Da ahnte man wohl, wie ein kühnster Führer seine Geisterscharen in wilden Haufen in die Schluchten trieb, sie in der Tiefe plötzlich verbergend. Um sie im nächsten Augenblicke neu emporzutreiben, daß sie kühn und dröhnend die Höhe hinanmarschierten, bald im tollsten Handgemenge miteinander.

Da stand Rübezahl mitten inne. Hochgerichtet im Luftkreise. Ein kühnes Gespinst. Umheult und umbrüllt wie ein Fels im Meere.

Nur Wahnsinn und Gier um ihn und hartes Gelechz.

Nicht anders auch, als wäre er ein kühner Hexenmeister am Sabbattage der Hölle.

Als wollten die allertollsten Hexenweiber den Herrn der Feuer und Stürme selber zu ihrem Buhlen machen. Und mit ihm durch alle Hohlen jagen und um alle verschneiten Gebirgsriffe teuflische Tänze im Fluge tanzen.

Das waren Tage, wo Rübezahl nichts mehr vom Meilenschreiter oder vom grünbeschirmten Laboranten wußte. Sich niemals erinnerte, als Rad in Sommersonne von den Grenzbauden nach Schmiedeberg getorkelt und getanzt zu sein. Vielleicht noch eher daran, daß er auch einmal als Baumfalke mit Tausenden schwirrender Kohlweißlinge auf einer Sommerwiese um die Wette geflattert und getändelt.

Das waren Tage, wo man die innerste Gewalt seiner Lüste ausspürte. Wo man begreifen konnte, daß ein solcher wie er mochte ein Verwandter von Geistern aus dem kalten Weltenraume sein, der von wer weiß woher einst seine Reise aus Ferne und Sternenlicht auf die steinige Erde gemacht, um hier des Riesengebirges Herr und Meister zu sein. Wer auch sollte jetzt wissen, welche der tausend Buhlerinnen, deren Gieren über die Berghalden schrien und gellten, ihm seine Gnadenlaune am jähesten abstahl. In welchen Tanzwirbeln sich seine Süchte am künsten erletzten.

Wer hätte es wagen dürfen, heimlich zuzusehen, wie die tobsüchtigen Flockenweiber ihn umringten. Ihm auf Kopf und Nacken sprangen. In tollem Hintreiben auf seinem Rücken hockten, so daß er sich ihrer kaum erwehren konnte.

Wie er mit seiner Sturmpeitsche den Scharen um die silberglitzernden Geschmeide schlug, daß es hundertfach klirrte. Weil sonst vor ihren Umarmungen und Erstickungen keine Hilfe gewesen.

Oft stand Rübezahl wie ein weißer, gewaltiger Hirsch kühn auf der Höhe, Machttöne voll Brunst die Hänge niederbrüllend. Die gestauten Nebelheere in trotzendem Lachen rings um ihn.

Wer könnte je die einsamen Leidenschaftsspiele begreifen, wenn alle eisigen Wintereinsamkeiten den gewaltigen Berggeist aus seinen Schlupfen emporgelockt, um sich selber genug zu tun und seiner irdischen Herrschaft froh zu werden.

Da waren viele Tage und Nächte, die unheimlicher und erschütterlicher waren wie die ersten Schöpfungstage, wo die Engel die Ecksteine der Welt in die Räume geworfen unter dem Jauchzen der Morgensterne.

Da war kein Sehen mit Menschenaugen. Und das Ohr der Menschen wäre nicht fähig gewesen, das Brausen aufzunehmen, das wie ein Brüllen von Orkanen wild durcheinander ging.

Da wurde jeder begreifliche Laut wie ein Tropfen im Meer verschlungen.

Das waren nicht Finsternisse für ein kleines enges, irdisches Leben.

Nur Finsternisse, dreimal so tief wie die dunkelsten Nächte.

Und sinnloseste Verwirrungen, als wenn es gälte, noch einmal die Urlust des Chaos auszukosten.

Da wollte der Geist der Berge unter den entflatterten tausend Gieren Herr und Genießer sein.

Das waren keine Menschenfreuden.

Das waren Dämonentumulte im Blute des unbarmherzigen Bergriesen, dessen Gelüste aufzischten wie Schlangen aus Eiskristallen, die um Berghäupter herum wuchsen, um sich als wilder Drachen mit unzähligen Mäulern bis zum Himmel auszudehnen.

Hu! Schneestürme hoch und fern, dem Wolkenzuge nahe. Darein die gierigen Bergfeen jauchzend springen, um endlich selbst die lieblichen Goldengel zu ihren Liebesspielen zu greifen und herunterzuholen.

Oder daraus sündige Engel, von flüchtigen Sonnenschimmern beglüht, gierig herabstürzen, von der Frechheit der irdischen Schneeschatten verlockt, um in dem freien Treiben über die Hänge einmal Lust und Wahn des Erdenglückes auszukosten.

Und dann ewig zu stürzen und zu stürzen. Wie ein Wasserfall stürzt. Stufe um Stufe in die Dämmer der Abgründe.

Das war Rübezahls Geisterreich.

Wenn die Sonne ihren kurzen Weg um die Erde nahm, so daß an dem Steinleibe der Erde Wonne und Wachstum und die Glückseligkeit von Blüte und Baum und Vogelsang ganz verarmte, saßen die Menschen unten im Tale heimlich in ihren Hütten und warteten, daß sie endlich den heiligen Lichterbaum neu entzünden könnten, um darunter zu singen, daß doch wieder der Frühling kommt.

Tage um Tage, Wochen um Wochen ging es so in den einsamen Winterbergen…

Aber eines Tages konnte der mächtige Berggeist dann auch einmal von den wilden Sturm- und Eisfesten hoch oben verschnaufen.

Da lag er hingedehnt wie ein Schemen am Rande einer weißen Winterwiese und tändelte hin im Erinnern und Hoffen wie der Mensch selber.

Denn Sehnsucht nach Frühling mag wohl in allen Geistern wohnen.

Da spielte er lose damit, die stillen Schneewiesen auf allen Gebirgshängen zu überhauchen, daß sie bald glitzernd unter dem tiefen Blau des Himmels lagen. Versuchte über sie gleichsam hinzuträumen, als wenn schon wieder der Frühling wäre. Und so im Träumen, die handtellergroßen Eisblätter reichlich eins in das andere geschachtelt, Rose an Rose aus diamantenen Scheibchen über die Wiese hinzubilden.

Und schien dann wohl auch, kaum wie das glitzernde Schemen eines Tänzers, über die tausend Wunderblumen hinzuwehen.

Horchte im Schauen tief versunken lange in die Waldeinsamkeiten hinein. Dort wo unter schneelastenden Hochstämmen ein Bergwasserlauf sich unter Eise staute und dumpf brauste.

Saß wieder am Bachrande im Schnee, wo die tiefschwarze Wasserstarre spiegelt.

Hauchte auch hier im Erinnern, gleichsam als wenn es schon wieder Frühling wäre, stille Scharen großer, weißer Falter über den dunklen Wassergrund. Die feinsten, diamantenen Flügel wie zum Fluge gebreitet. Als wenn sich Rübezahl auch noch zugetraut, mit dem leisesten Atemhauche das silbereisige Sommergaukelspiel als Hunderte weißer Schmetterlinge in die Lüfte aufzutauchen.

Auch heute war ein solcher ruhiger, eiskalter, eisklarer Wintertag gewesen.

Rübezahl war allenthalben unten über Wiesen und in Schluchten lose umgegangen, leiser wie eine Husche gestörter Schneekristalle von einem Tannenwipfel herabstäubt.

Und nun war er achtlos schon wieder hinauf, quirlte zwischen den Eispalästen der gebeugten Kammknorren, wo verwunschen glitzernde Gestalten ihn um und um wie ein müdes Heer umgaben. Skythe an Skythe auf mageren Pferden. Kanonengefährte und Fußvolk in diamantenen und goldenen Lappen und Lumpen. Alles im Tode erstarrt. Auch dazwischen schlafende Adler und erstarrte Beterinnen. Alles aus Eiskristallen flüchtig und unbegreiflich hingebildet.

Hinter dem Hochstein schien die Sonne wie ein Feuer zu brennen. Die Täler lagen ganz unter schneeweißen Nebelbetten verborgen. Der Reifträger erstrahlte wie aus Golde. Und von der Tiefe wogten die Talnebel dünn und lose dem obersten Bannwaldgürtel zu, dessen urweltliche Eisbehänge im eisfarbigen Lichte hundertfältig flimmerten.

Wie Rübezahl lose so hintrieb, begann er gleichsam in einem erhabenen Weltentraum sich zu verlieren. Und Wunder in die Abendluft träumend, mit seinem leisesten Bergatem in die Waldflächen hineinzuwehen.

Da deuchte es, als wenn die tausend und tausend schneeverwunschenen Waldgebilde plötzlich nicht mehr starre, eisverhangene Bäume wären.

Als wenn nur Scharen stummer, grauer, langschopfiger Riesenvögel hockend in dem weiten Bergkessel säßen, darein sie mit ihren trägen, schwerfälligen Flügellasten Zuflucht suchend sich dicht ineinander gedrängt.

Und es schien auch, als wenn unter dem erzenen, rauchsilbernen Gefieder ein feierliches Schwanken und hartes, klirrendes Vibrieren jetzt anhob, das metallene Töne wesenlos auftrieb. Ein weiter, unbegreiflicher Chor war aus den eisbehangenen Bergwäldern plötzlich aufgewacht.

Ein sagenhaftes, unirdisches Tönen. Steinhart und klar, als ob allenthalben hellste Diamanten und Saphire wie zufällig sanft aneinander schlügen und feinste, spröde und durchdringende Glockentöne gäben.

Nicht wie aus je erdachten menschlichen Instrumenten.

Die Töne schienen unbegreiflich frei in den Lüften zu hängen. Als wären die Lüfte selber entfesselt ohne Ursprung und Grenzen.

Es klang nicht wie Sehnsuchten der Menschenseele.

Nicht wie Zerrissenheiten oder Klagen.

Es klang wie ein selig gebundenes Schöpferlied.

Schlaf oder Tod gebunden.

In silberner Schönheit und Klarheit erstarrt. Und wie Traumschemen noch wieder sich regend.

So schwoll es geheimnisvoll auf und ebbte jäh ins Nichts, ohne daß je von dem tiefen Himmel und den glitzernden Bergwänden eine Antwort erwachte.

Auch Weideglocken einer freien Herde schienen für Augenblicke darein zu klingen. Und auch wieder Harfen und Geigen in den Lüften dazwischen zu singen und zu zerklirren.

Das war kein irdisches Tönen, das die Scharen rauchsilberner Zaubervögel mit dem Zittern und Schwanken ihrer müde atmenden Riesenflügel in die verglühende Sonne sangen. Das war Rübezahls Wintermusik, die den eisklaren Bergeinsamkeiten und dem bleichenden Ätherhimmel, als das Sonnenfeuer verglommen war, immer noch zuschwoll wie von einem Unsichtbaren geläutet.

Siebentes Abenteuer

Unten in Spindelmühl hausten in einer Holzhütte am Waldsaum armselige Besenbinder. Der alte Veist mit der kranken, frommen Frau und zwei Jungen, denen sich noch immer aus dem unteren Dorfe ein dritter Junge zugesellte, wenn es galt, auf Abenteuer zu gehen.

Der alte Veist war ein gehässiger Bocksbart, den nur die gelähmte Alte mit dem Heiligengesicht im Zaum hielt.

Aber die Jungen hielt niemand im Zaum. Denn die gingen durch Dick und Dünn, wo Gelähmte nicht den Weg finden, auch wenn sie wirklich noch anderthalb Beine gebrauchen könnten.

Ernst und Paul, vierzehn- und zwölfjährig, hatten derbe Muskeln und viel Hunger. Die Hütte oben wurde auch leicht kalt, wenn der Winter hart und kein Holz auf dem Stapel war.

So war ihnen weder das gräfliche Holz im Walde, noch der Kartoffelkeller des Polizeimeisters heilig, selbst wenn sich hinter dem Lattenverschlag noch eine große Preßwurst zeigte.

Kecke, lustige, rothaarige Jungen beide. Frech, daß sie am Dorflehrer und am Schulzen sicher lachend vorübergingen, wenn sie nicht nur Kartoffeln und Rüben, wenn sie gleich eine ganze Speckseite unter ihren Lumpenkleidern verborgen hielten.

Und gutmütig waren sie auch.

Dem noch elenderen, letzten Dorfbettler schnitten sie triumphierend die Hälfte ihres Winterraubes ab, wenn sie es gehörig im Heimlichen tun konnten.

Es war ihnen nicht nur um die Aussicht, sich daheim voll zu fressen. Auch das Gefühl, sich an dem Polizeimeister zu rächen, belustigte sie höllisch.

Der dritte im Bunde hieß Richard, dessen Eltern nie in der Welt existiert hatten.

In der Schule standen gewöhnlich alle drei mit von Rohrstockhieben zerdroschenen Rücken im Winkel. Denn der kleine Richard litt zu Recht oder Unrecht mit, wenn die Veiste für ihre Frechheiten den Zahlaus bekamen.

Richard war immer mit ihnen.

Heute stellte er die Jungfrau Maria dar und trug das Jesuskind im Arm. Er war ein zärtlicher Junge, den Veistjungen bis zur Unterwürfigkeit ergeben.

Ernst Veist war Sternträger.

Paul Veist trug unterm Mantel die goldene Krippe und das blaue Zimmermannshemd.

Alle hatten Gürtel und Schnallen und Knöpfe mit Gold beklebt. Und Maria trug die goldene Krone auf dem Kopfe.

An diesem Tage gingen die Wintergewalten in den Bergen mit heulenden Tönen und Schneewolken über die Hänge.

Es war ein Dezembertag.

Auch drei Waldarbeiter, junge Männer aus den benachbarten Hütten, die die Veistjungen gut kannten, wanderten als die drei Könige aus dem Morgenlande mit purpurnen Kattunlappen und Kronen lustig verkleidet auf die Hänge hinauf. Da hatten es die drei waghalsigen Jungen ruhig mit unternommen, auf den Kamm hinauf zu ziehen, um oben in dem traulichen Holzgehäuse der Peterbaude den Traum des alten Weihnachtsspiels wecken zu helfen.

Jetzt war es später Nachmittag, und man stapfte schon höher im Walde aufwärts.

Die purpurnen drei Könige schritten bereits aus dem Waldgürtel heraus den Hang empor. Immer noch im Licht des Tages trotz des heulenden Flockentreibens.

Man konnte auch einander immer noch sehen.

Tiefer schwenkte der Sternträgerjunge im Wirbel den Goldstern an der Stange.

Noch weiter unten drehte sich Maria im tollsten Flockentanze, schwang das Kindlein in die Lüfte und sang in die tollsten Windhuschen:

»– inse Mutter soate:
War ne vor da Pilza ißt,
Die doch schmecka wie Solloate,
Wie ihr jo schunn olle wißt,
Hot faars ganze Johr doas Leiden,
Doß ihm kene Kleider stihn,
Migas sein die schinsta seiden,
War de ißt, dam stihn se schin.«

Aber wie dann die Dämmerung gekommen, waren die drei Könige bald ganz in dem treibenden, quirlenden Grau der Höhe verschwunden…

Als Maria und Joseph aus dem Waldgürtel heraus auf die freie, unsinnig durchfegte und immer mehr in Dämmergrau sinkende Höhe traten, mußten sie sich fest aneinanderhalten.

»Du… Paul… oben in der Baude… verstehste… Warmbier… der alte Erlebach… den kenne ich gutt!« sagte Maria plötzlich, vom Sturmhauche ganz um den Atem gebracht.

Aber kühn waren auch die beiden kleinen Zwölfjährigen. Man konnte auch denken, daß ihnen jetzt der Sternträgerjunge schnell zupfiff, der ihnen voraus war.

Denn Pfiffe formten sich in der Dämmerjagd.

Den beiden war lustig zumute, daß es so toll in den Lüften zuging.

Und wie sie in dem nächtlichen Dämmer stapften, psalmodierte Joseph:

»Meinen Jesum laß ich nicht, holla hü, holla hu!«

Aber je länger sie schritten, desto dunkler kamen die Scharen der Bergweiber am Hange niedergetrieben.

Und je höher sie an dem freien Hange weiterzogen, desto atemloser wurde der Weg, und trieben ihnen die heulenden, johlenden Schemen sinnlos hetzend den Atem vom Munde weg in die Täler.

Über ihnen und um sie in der finsteren Nacht hing und raste wesenloser Tumult nachtgrauen Gelichters.

»Nu, das heißt… hier erfriert man sich obendrein noch die Zehen… wenn wir überhaupt wüßten, wo wir hier wären!« sagte Maria.

»Ach… nur feste… wir kommen schon vorwärts!«

Das kam schon so wild und sinnverworren, daß sie ihren lustigen Weihnachtsrefrain doch eine Weile vergessen mußten.

Aber Mut hatten sie. Frech waren sie. Nicht nur vor dem Dorfschulzen und Dorflehrer. Frech waren sie auch gegen die wilden Fauststöße der gespenstisch jagenden Weiberheere.

Schließlich begannen sie sich, als ihnen die Nacht unversehens vollends auf dem Halse saß, nach dem Sternträgerjungen zu sehnen.

Und Maria dachte dann auch gleich an die hellerleuchtete Pfarrstube zurück. Und es fiel ihr ein, wie sie gestern unten im Pfarrhause in Spindelmühl das heilige Puppenstöckchen behaglich in der Wiege gewiegt. Indessen Joseph mit der Rute in der Hand knarrig singend um des Pfarrers Eßtisch in der warmen Stube Umgang gehalten.

Da fingen sie plötzlich an, wie aus einer Kehle nach dem Sternträgerjungen zu schreien. Oder wenigstens halb lachend seinen Namen in den düsteren Nachttumult hinauszurufen.

Beide ein paarmal zu gleicher Zeit. Aber da war kein Widerhallen, weil ihnen nur heulend und in Fetzen zerrissen die Worte vom Munde flogen und in die Dunkelschluchten niederpfiffen.

Da war doch allmählich beiden eine Ahnung gekommen, daß sie vielleicht in der Irre säßen.

Denn sie waren wieder ewig gestapft.

Um sie war jetzt nur Nacht und Wirbel und ein reines Tollhaus von quiekenden und schmetternden Tönen.

Sie konnten beim besten Willen nicht mehr wissen, was Oben und Unten, Rechts und Links in diesem wahnwitzigen Umgang noch bedeutete.

Da griff Maria zum Glück eine Wegstange.

Und außerdem, weil sie beide glühend heiß in ihren gefrorenen Kleidern steckten, machte es ihnen längst neue, gute Täuschungen vor.

Sie sahen die Warmbiertöpfe vor der Nase dampfen. Und einen tiefen Teller voll Suppe mit großen Fleischbrocken drin, ein jeder.

Und in beider Blute stieg auch der Vers wieder auf:

»Meinen Jesum laß ich nicht, holla hü, holla hu!«

Und es war ihnen auch wieder sehr weihnachtlich zu Sinn. Und weil sie dann noch eine Wegstange griffen, stapften sie weiter, was das Zeug hielt.

Bis sie plötzlich einen Stern am Himmel schießen sahen; ein Gezeter und Dröhnen und Donnern wie ein Lawinensturz auf sie einstob, sie hart zurückstieß. Sie umstäubte. Und sie irgendwo tiefer in eine Schlucht senkte.

Da gingen die Gedanken der beiden nur eine Weile im hellen Wirrwarr um. Das Blut tollte. Sie griffen nacheinander mit den Händen und griffen nach ihren Gesichtern, die richtig mit Eis überzogen waren. Obwohl aus ihnen nebenbei auch noch ein lustiges Lachen ausfuhr, wie bei tollkühnen Leuten, wenn sie die tollste Gefahr vor Augen haben.

Sie hatten die bellende Nacht vor Augen.

Maria schossen auch innere Bilder vorbei.

Nein, wirklich war ihr bei dem Sturze noch einmal die allerlichteste Pfarrstube mit vor dem Blicke vorbeigesprungen.

Und auch Joseph hatte schließlich einige Juchzer in die Luft gerufen.

Aber sie klammerten sich dabei fest aneinander. Sie hatten die Gesichter ganz nahe zueinander gebracht. Sie fühlten ihren heißen Atem in der beißenden Eiskälte wohlig. So daß sie sich ihn wechselseitig vom Munde tranken.

Denn die Eiskrallen stachen an allen Ecken durch die Kleider ins weiche Fleisch.

»Feste, Paul… immer feste!«

»Immer feste, Richardtel!«

»Wir müssen raus aus der Fuchsfalle!«

»Jawohl… Richardtel… stemm dich!«

»Es wird schon!«

»Jawohl… es wird schon!«

»Stemm dich, Paul… es geht…«

»Gut… Ja… Plampe…«

»Ich sage dir, Paul… es geht…«

»Es muß gehen!« sagte Paul.

Sie dachten jetzt wirklich, es ginge.

Und im nächsten Augenblick hatten die johlenden, jagenden Geisterheere längst wieder ihren Atem ausgetrunken und sie um die Besinnung gebracht.

Sie rutschten von neuem.

Den Stern am Himmel sahen sie neu niederschießen.

Und ein paar hartgefrorene Kleiderzipfel hörten sie beständig aneinander klappen und schlagen, soweit sie nicht ganz in der verzweifelten Sturmnacht untergegangen.

»Paul… wir müssen vorwärts!«

»Wir müssen vorwärts, Richardtel.«

In beiden stieg jetzt die Angst auf die Höhe. Der Atem jagte ihnen vom Munde weg heiß wie Dampf.

Sie klammerten sich krampfend aneinander.

Sie wollten nun um Hilfe rufen.

Richard begann aufzuweinen.

»Sei nicht verrückt, Richardtel…«

»Hier kommen wir um!«

»I keine Spur… wir kommen nicht um!«

»Hier kommen wir um… meine Beine sind starr… ich sag dir, ich kann kein Glied mehr rühren…«

»Schlag die Arme ineinander… und rühr die Zehen…«

Dann begannen beide wirklich ihre Hilferufe hinauszuschreien. Und tief in die tollenden Finsternisse gleich danach hinauszuhorchen.

Jetzt begriffen es die verwegenen Jungen, daß sie irgendwo in eine Gebirgsschrunde hineingestürzt waren und an diesem Abend und diese ganze Nacht keine Hoffnung auf Hilfe mehr war.

Da begannen sie auch ebenso rasch ganz still ineinander einzukriechen, sich dicht aneinander zu legen und eine lange, stumme Weile nur den Schauern der treibenden Nachtgewalten sich zu ergeben…

Aber… da kam… in die brüllende, furchtbare Nacht… ganz langsam ein kleines, helles Licht.

Offenbar von einer ziemlich großen Stallaterne.

Das warf einen Schein weit vor sich.

So daß die beiden gar nicht sehen konnten, wer eigentlich diese Laterne vor sich her durch den samtschwarzen Wirbelsturm herantrug. Es deuchte ihnen nur, als wenn sie einander neu vor Augen hätten.

Der Gottesmutter hatten die Bergfeen offenbar ihren alten Jackenfetzen längst in die grauen Gründe fortgetrieben.

Sie stand jetzt im blauen Gewande. Hielt das Christkind zärtlich in ihren Arm gedrückt, und die kleine Goldkrone auf ihrem Blondhaar schimmerte hell.

Auch Joseph stand im blauen Zimmermannshemd, eine kleine Krone im Haar. Und die Goldkrippe vor sich in beiden Händen.

Beide schienen gleich mitten in einem Strahlenlicht zu stehen.

Und dann war der Nachtwandrer ganz nahe herangekommen. Ein kräftiger, breitmäuliger, behaglicher Kerl mit verschneiten Hudelhaaren. Der ihnen aber nur freundlich zuwinkte, hintendrein zu gehen, als er die Höhe in dem Wirbeljagen in sich versunken weiterschritt.

Es begannen dann auch Menschenstimmen wer weiß woher plötzlich zu klingen.

Das alte Baudenhaus schwebte richtig wie aus dem verhallenden Nachtsturme hervor.

Und als sie die kleinen lichten Baudenfenster schimmern gesehen, waren sie über die trauliche Schwelle in die große Baudenstube hineingehuscht.

Da saßen sie längst am warmen Herde geborgen.

Es gab ein fröhliches Durcheinander.

Die Heiligen Drei Könige schritten unter der niedrigen, spanerhellten Balkendecke um die bunte Säule herum. Auch der muntere Sternträgerjunge hielt lachend die Stange mit dem goldenen Flitterstern hoch.

Durch Blick und Blut all der vielen Leute juchzten die Worte:

»Meinen Jesum laß ich nicht, holla hü, holla hu!«

Alle, auch die Väter und Mütter, die aus dem Tale gekommen waren, taktierten fröhlich den eilfertigen Rhythmus in die Lüfte.

Auch die dampfenden Kessel auf der Ofenplatte und die Dampfkringel aus den vollen Warmbiergläsern und Suppennäpfen schienen die Weise mitzusingen.

So daß ein tolles Gelächter herrschte. Und allen drollig und selig zumute war.

Nun hoben sie an, gemeinsam zu singen:

»Wir treten herein ohn‘ jeden Spott:
Ein’n schön guten Abend, den gebe euch Gott!
Ein’n schön guten Abend, eine fröhliche Zeit,
Die uns der Herr Christus hat bereit’t.
Wir sein gezogen in großer Eil‘,
In dreißig Tagen vierhundert Meil’n.
Da kamen wir vor Herodes sein Haus.
Herodes, der schaute zum Fenster heraus.
Herodes, der sprach aus falschem Sinn:
Ihr lieben Weisen, wo wollt ihr hin?
Nach Bethlehem, ins jüdische Land,
Dort sind wir drei Weisen gar wohl bekannt.«

Eine rätselhafte, monotone Musik. Darein auch für Augenblicke harte Sturmstöße wie aus Tiefdunkel stöhnten. Indessen in der traulichen, lichten Enge das winzige Geräusch der heiligen Wiege fortwährend deutlich den Takt schlug.

Dann trat der eine der Mohrenkönige vor, in Purpurmantel und goldener Krone:

»Ich bin der König aus dem Mohrenland,
Die Sonne hat mich so verbrannt.
Schwarz bin ich, das weiß ich,
Die Schuld aber ist meine nicht,
Die Schuld ist meiner Kindermagd,
Weil sie mich nicht rein gewaschen hat.
Hätt‘ sie mich gewaschen mit dem Schwamm,
So wäre ich weiß wie ein Lamm;
So aber hat sie mich gewaschen mit dem Lappen,
So bin ich schwarz wie ein Rappen.
Pax vobis! Friede sei mit euch!
Ein’n schön guten Abend wünsch‘ ich euch,
Ein’n schön guten Abend den Herren und Damen,
Ein jeder wird’s nehmen in Billigkeit. Amen.«

Irgendwo schien es auch von Eiszapfen eintönig zu tropfen.

Es war ein unaussprechliches Geheimnis.

Der alte, strupphaarige Nachtwandrer, der längst die große Stallaterne in den Winkel gehangen, saß breitbeinig auf der Ofenbank und lachte vor sich hin, die kurze Pfeife einen Augenblick taktierend in die Lüfte schwingend und auch psalmodierend:

»Meinen Jesum laß ich nicht, holla hü, holla hu!«

Alle hatten sich längst halbtot gelacht, als sie sahen, daß die zärtliche Himmelsmutter nur ein langer, feiner Knabe war.

Man hätte denken können, daß es eine hellerlichte, himmlische Stube wäre.

Die Sternsinger in ihren lichten, bunten Kleidern gingen darin um.

Manchmal schien das Bild für Augenblicke wie in tiefste Stille und eisige Erstarrung einzusinken.

Aber die Münder der Jungen öffneten sich neu von himmlischer Freude. Und schrien ausgelassen die Lust des Weihnachtspieles in die alte, wohlige Baudenstube.

*

Zwei Tage nachher hatte man die drei munteren Jungen aus Spindelmühl, Maria, Joseph und den Sternträger, nach langem Suchen irgendwo vom Wege abgeirrt, in der bittersten Kälte totstarr und verschüttet gefunden.

Aber seit jener Nacht huschen und treiben die dreie oben an allen Winterhängen des Riesengebirges hin. Fliegen und wirbeln unter den wilden Bergfrauen wie erlöste Luftgestalten.

Und mit ihnen zusammen tummeln sich in den jachen Flockenfesten der Höhe auch zwei andere waghalsige, übermütige Gebirgskinder, die sich in neuerer Zeit zu ihnen gefunden.

Das sind die beiden Bradlerjungen aus der Martinsbaude.

Denen hat Rübezahl in ihren Nachtschrecken auch zu rechter Zeit seine gaukelnden Baudenstufen unter die stämmigen Füße geschoben, als sie den Schlitten mit Winterholz verspätet aus der Höhe wollten ohne Vaterhilfe unten in die Martinsbaude niederholen.

Jetzt sehen Winterwanderer, die auf Schneeschuhen hinstieben, die Jungen hoch oben im Wirbel um die Wette tanzen, wenn die tollsten Stürme die Hänge fegen. Sehen den Sternträgerjungen den Goldstern an der Stange, Maria und Joseph in buntflatternden Kleidern lustig durch den Wirbel quirlen. Und die beiden Bradlerjungen mit ihrem mächtigen Schlitten mit hoher Holzbürde juchhend hintendrein durch die Lüfte ziehen.

Dort oben fliegen die kühnen Gebirgskinder, mit jedem neuen Winter neu erwacht und in Rübezahls Geisterreiche geborgen.

Wie Rübezahl sich freute, daß das Riesengebirge auch seine historischen Tage hatte und wie er dazwischen den Prczichowitzer Jahrmarkt fegte


Achtes Abenteuer

Diesmal war es ein Tag im August.

Niemals soll Rübezahl so ausgelassen, so kindisch und breitmäulig vergnügt, so pfiffig schwenkend und schwankend mit seinen langen Armen und mit den langen Fingern schwippend, so zu Luftsprüngen bereit und außer allem Gleichgewicht gewesen sein, wie in der Zeit, wo das Riesengebirge seinen großen historischen Tag hatte.

Niemals soll er auch sich eitler und richtig in langatmiger Trottelhaftigkeit kopfloser dienstwillig gezeigt haben, wie in den damaligen Augusttagen. Gleichsam als wenn sein heimlichstes Herz nie höher geschlagen.

Es hatten in dem Sommer Heere der Preußen und Russen monatelang bis tief hinein nach Schlesien abwartend gelegen. Und das Heer des Kaisers dehnte sich mit seinen vielen Feldlagern tief nach Böhmen hinein.

Durch alle deutschen Völker ging damals ein ehernes Schüttern.

Es war im August des Jahres 1813.

Allerwärts hielt man den Atem an.

Keins der Völker war einzeln stark genug, den gewaltigen Löwen im Westen, den großen Phantasten, der mit seiner grenzenlosen Staatsidee die Welt durchraste, wieder in seine irdische Enge zurückzutreiben.

Österreich zögerte noch immer den Kampf zur Befreiung mit den Preußen und Russen gemeinsam zu führen.

Man wartete längst auf die letzte kaiserliche Entscheidung.

Und die war an dem Augusttage endlich gefallen.

Fürst Metternich hatte den kaiserlichen Befehl in Händen, daß jetzt der gemeinsame Kampf für die Freiheit wirklich begänne.

Das war der große Tag für das Riesengebirge gewesen.

Das Riesengebirge sollte das gewaltige Postament sein, von dem aus in dieser Augustnacht die Feuerfanale von allen Höhen zum Himmel brannten, um den deutschen Völkern die Einigkeit zu verkündigen.

In dieser entschlußdurchtobten Nacht wollen viele Leute, auch Studenten, die über das Gebirge zu den Freiheitsfahnen heimeilten, den Rübezahl gesehen haben wie einen lustigen Schattenriesen, mit wildern Flatterhaar sich im jauchzenden Wirbel von Flammenherd zu Flammenherd drehen.

Und es scheint auch gar kein Zweifel, daß die kühnen Fanale im nächtlichen Luftkreis von den Tälern aus so mächtige Feuer schienen, als wenn sie von Götteratem hochgetrieben manchmal bis zum Nachtfirmamente auflohten.

*

Das Riesengebirge hat noch einen zweiten historischen Tag.

Der war elf Jahre später. 1824.

Es war auch ein Tag im August.

Der zweite historische Tag kam nur wie ein leises Abendwehen.

Aber er war nicht weniger deshalb nach Rübezahls Herzen. So daß er dabei die Koppe wie einen Feuerberg brennen ließ.

Aber wir wollen erst erzählen, was diesem Tage alles vorherging.

Die neuen Blütenlichter über Tannen und Fichten waren längst grün geworden. Die neuen Zapfen allenthalben schon geschwollen. Und der Wald duftete reich unter der heißen Augustsonne. Zwei Studenten der Theologie schritten die Paßstraße von Schreiberhau in der Waldkühle auf Böhmen zu.

Der beiden Blut hatte mit den sonnendurchringelten Flußwellen und mit den munteren Waldschatten und Goldlichtern gehüpft.

Sie genossen die Losgebundenheit der ersten Ferientage.

Und nun wanderten sie fröhlich singend und schauend in die Wiesenansiedlung Neuwelts hinein, deren graue und karierte Holzhäuschen im grünsten Grün der Gräser lagen.

Die alten Schornsteine aus den Glashüttenkolossen schickten ihren dicken Rauch in den tiefblauen Augusthimmel.

Junge Mütter im warmen Goldschein saßen auf den Türschwellen, Strümpfe strickend.

Die kleinen Kinder lärmten und schrien um die Häuser.

Sie sahen auch berußte Glasmacher am Tore der Hütten mit Kaffeetöpfchen im Schatten stehen und ihre Vesperstunde genießen.

Und obzwar die beiden Wandrer wie lustige Blätter waren, die sich gerne vom Winde treiben lassen, hatten sie doch einen alten, zerlumpten Bettelmann am Wege gefragt, wie sie am besten in die Berge weiterkämen.

Der staubgraue Lumpenkerl, der auch eine Art Torwärtel an einem Hütteneingang schien, hatte ihnen pfiffig geraten, über Wurzelsdorf nach Prczichowitz weiter zu wandern, weil dort oben grade ein schöner böhmischer Jahrmarkt wäre.

Die beiden, Gustav Reichardt und sein Freund, waren Studenten der Universität Greifswald. Waren Lieblingsschüler eines berühmten, dortigen Gotteslehrers. Junge, heiße Herzen. Jetzt noch mehr mitten im weiten Wald und Gebirge des Schwärmens voll. Beide mit einer Kehle voll Wohllaut. Gustav Reichardt auch mit einer Seele voll Melodien.

So wanderten sie mit Singen und mit Schauen noch eine Weile am Flusse weiter. Waren lange einen Waldweg unter Hochstämmen schroff bergan geschritten. Und traten endlich aus den kühlen Waldschatten wieder ins Freie.

Da glänzten in weit sich dehnender, hügeliger Runde allenthalben im hellsten Sommerlichte Dörfchen und Ansiedelungen nahe und fern und ferner bis in die entferntesten Höhen so schön und wellig getürmt wie die heiligen Stätten von Samaria und Galiläa.

Denn sie waren Theologiestudenten und sahen in aller Welt voll Wonne immer auch ein Stück der heiligen Geschichte schimmern.

Dort standen sie lange. Besahen sich immer wieder neu diese unerhört leuchtende, unvergleichliche Erdenwelt, die ihnen noch von keiner Stelle im Gebirge so selig verheißend vor Augen gelegen.

Lachten in alle Sonnenfernen.

Rühmten Gottes Schöpfung.

Wurden im Anschauen stumm.

Schritten dann weiter mit frei erhobenen Köpfen, als wenn sie von den glücklichsten Gefühlen Flügel hätten.

Und rühmten und priesen neu die fernen, blauen Hügel, daran Menschen wie an Ölbaumhängen zu wohnen und auch nur zum Lobe Gottes zu leben schienen.

Da fuhr an ihnen vorbei auf der Straße zum Jahrmarkt ein sonderbarer Planwagen mit einer ungeheuer großen, tiefblauen Plane.

Der Wagen selber so blitzblank und blau gestrichen, als wäre er eben erst aus der Wagnerei und vom Anstreicher gekommen. Und der Wagen innen so geräumig, daß man hätte darin tanzen können.

Trotzdem war nur eine einzige, klapperdürre Isabelle davorgespannt, die mit tollem Galopp an ihnen vorbeirollte und tatterte, als wenn der alte Handelsmann sich verspätet hätte oder gar etwas auf dem Jahrmarkt verpassen könnte.

Dabei klang das muntere Geschrei des alten Hudelkopfes, der langatmig und ausgelassen die Peitsche schwang, so anfeuernd, daß auch sie ihre Schritte noch beschleunigten.

So liefen die beiden Wanderfreunde eiliger nun dem Jahrmarkt zu, der schon am Hange nahe mit Fahnen und Wimpeln flatterte.

Und bald waren die beiden Studenten wie zwei hohe Mannesengel, die eine Friedensmission mit sich trugen, unter den Jahrmarktsleuten erschienen.

Der Jahrmarkt wimmelte von Hunderten bunter, sonnegeröteter Bauersleute.

Die jungen Burschen trugen Federsträußchen an der Mütze. Hatten windige Laune in den Augen blinken. Und die Mädchen gingen mit bunten Sträußchen am Mieder.

Da waren allerhand Verkaufsbuden aufgeschlagen.

Die ganze Dorfstraße entlang bis zu dem großen Wirtshause hin mußte man sich durch geschmücktes Menschenvolk drängen.

Vor und hinter den Verkaufsbuden, die lärmend umlagert waren, standen die alten Handelswagen, die Porzellan- und Glaswaren, Steinwaren und allerhand Heilmittel, Kräuter und Salben, auch Zucker und Backwaren, Leinenzeug und Tuchzeug, Mützen und Hüte, Spielwaren und Schnarrteufel, Uhren im Glase und Teufelchen in der Flasche herzugefahren.

Ausrufer machten ihre rostigen Kehlen noch rauher mit ihrem Geschrei.

Bunte böhmische Tücher und Fähnchen wehten überall.

Und um die Wurstkessel und Bierfässer standen Gruppen, Brot und Fleisch in Händen. Oder die buntbäuerlichen, flüggen Mädchen an Zuckerkringeln knabbernd.

Ganze Reihen, breit wie die Straße, kamen lachend und lärmend einher, daß die einzelnen Fußgänger ausweichen mußten. Und die halbwüchsigen Burschen klumpten sich, schrille Pfiffe aus ihren erhitzten, bedrohlichen Mienen ausstoßend, und nach Raube lüstern.

Übrigens hatte auch der tolle Alte längst eine blitzblank blaue, mächtige Bude aufgeschlagen.

Auch er brüllte schon seine Schätze aus.

Die klapperdürre Isabelle benagte hinten den Planwagen.

Und viele Jungen standen bereits und höhnten.

Das Pferd sah wirklich jämmerlich aus.

Aber es warf Blicke wie ein verrückter, jähzorniger Mensch. Sobald man sich ihm nur frech nahen wollte. Schlug aus, als wenn sich jedes Hinterbein in einem Augenblicke um drei Meter verlängern könnte.

Und der alte Hudelkopf achtete dessen gar nicht, brüllte nur immer seine weisen Sprüche:

»Iserin… Iserin… das wird euch Gesindel sehen helfen… denn ihr denkt auch, lieber nur für den Bauch sorgen… durch Auge und Ohr geht bessere Speise als durchs Maul… das werdet ihr freilich nie begreifen… deshalb bleibt die Welt eben voll Gesindel!«

Solche Sätze brüllte der Alte.

Und die Bauersleute alle, und noch schlimmer die Dorfjungen, schrien höhnend dazwischen.

Alles lief herzu.

Aber erst, wie Reichardt und sein Freund auch lachend unter die Zuhörer traten, begann heimlich der Unfrieden, zu dem der alte Isabellenkutscher unter der tiefblauen Plane offenbar noch rechtzeitig hatte zur Stelle sein wollen.

Nämlich der Alte wandte sich jetzt sofort nur an die beiden Studenten, die er damit immer näher an sich heranzog. Und denen er schließlich grinsend und pfiffig immer nur alle Dinge und Steine ausdrücklich dicht vor die Nase hielt, damit es die anderen womöglich gar nicht zu sehen bekamen.

Und wenn sich die Dorfburschen mit den Ellbogen doch herandrängen wollten, puffte er sie, als wenn die beiden fremden Wandersleute etwas Extraes wären, einfach beiseite.

Da wurde der Janhagel natürlich immer frecher.

Der alte Hudelkopf betrachtete am Ende die Studenten richtig mit breitmäuligen Liebesblicken. Und die drängenden und johlenden und frech rempelnden Leute ringsum sah er mit solcher gemeinen Verachtung an, als wenn er ihnen gleich »Gesindel« und »Viehkerl« und allerhand niedrige Namen in die Augen und an den Kopf würfe.

So fing der ganze Jahrmarkt an, immer toller zu schäumen.

Man hatte sich längst hinter dem Rücken der Studenten zu schaffen gemacht.

Man fing an, vereinzelt loszubrüllen.

Ein Junge rief: »Das sein sanfte Heilige!«

Andere brüllten in die Lüfte: »Laffen… Preißenlaffen!«

Andere schrien: »Sanfte Heilige aus der Fremde!«

Andere brüllten lachend: »Nein doch… das sind preißische Erzengel!«

Man hatte den beiden Pappplakate an den Rücken gezweckt.

Es stand mit großen Buchstaben darauf geschrieben:

»Preißische Erzengel!«

Nun merkten sie plötzlich, daß sie genarrt wurden.

Aber da kam es auch gleich derber.

Eine Rotte von halbwüchsigen Jungen, einer fest in den anderen gehenkelt, kam mit Gejohl gegen sie heran. Die äußersten reckten die Ellenbogen wie Henkelkrüge. Hin und her schwankend stürmten sie an und versuchten die beiden Freunde rüde in ihren Kreis hineinzuziehen.

Die beiden waren natürlich ziemlich erschrocken. Und lachten doch noch immer. Weil sie zu einer Balgerei in der hellen Sommersonne auf der vollbesetzten Jahrmarktstraße durchaus nicht gestimmt waren.

Wenn nur überhaupt noch ein paar Augenblicke Zeit zur Besinnung übrig gewesen.

Man hatte den beiden schon unversehens einen Zünder vor die Füße geworfen.

Sie mußten rasch beiseite springen.

Und während sie an den Zaun eines Bauerngartens heransprangen, warf ihnen ein langer, halbbetrunkener, aufgeputzter Kuhknecht eine Hand voll Mehl dicht vor die Augen.

Das alles ging gleich so wirr durcheinander, daß die Studenten nur noch rasch ihre Wanderstecken fest umgreifen konnten.

Und doch hielten sie die Stecken wieder einen Augenblick nur hoch. Noch immer gute Miene zum bösen Spiel machend.

Freilich jetzt mächtig gespannt und scharf nach allen Seiten beobachtend.

Aber da schrien schon alle möglichen Jahrmarktsläufer und sträußchengeschmückte Bengel. Und auch alte, saumselige, vertrottelte Runzelschädel schrien wild durcheinander.

Da flogen auch schon Stücke fauler Holzreste, die ein dummer Junge von einem Lattenzaune abgerissen hatte.

Da hatte der Freund gleich auch losgeschlagen.

Aber Reichardt hatte eine wahre Trompetenstimme erhoben.

Er hatte in die Volksmenge laut und feierlich hineingeredet, wie ein sanfter Pfarrer.

Er hatte gesagt, daß sie friedliche Wandersleute wären. Daß sie ins Gebirge aufsteigen, aber vorher die herrliche Welt um Prczichowitz hätten mit eigenen Augen besehen wollen. Und daß sie diese Welt so herrlich gefunden hätten wie die heiligen Hügel im gelobten Lande.

Jung und alt, Männer und Frauenzimmer, geputzt und bewimpelt, pfiffen und schnarrten und johlten nur.

Die Burschen machten ein Schrillen, daß man dachte, der tollste Sturm pfiffe auf Eisenpfeifen.

Die Worte, die Reichardt mit freiem, furchtlosem Tone noch erzählen wollte, ertranken in sinnlosem Getöse.

Und man begann längst mit Fäusten und Knüppeln ineinander einzuhauen.

Es war auch schon auf Reichardts Arm ein derartig harter Schlag gefallen, daß er hätte sofort müssen aus der Balance kommen, wenn er nicht im selben Augenblicke an den heiligen Georg mit dem Drachen gedacht und mit dem linken Arme jetzt einen Burschen richtig unter seine Knie gestoßen.

Und auch der Freund, der noch handfester wie Reichardt war, wäre in diesem Handgemenge beinahe mit dem Kopfe zuunterst gekommen, wenn er nicht in diesem Augenblicke das eine Bein seines Gegners gewaltsam niedergezogen und den grünrot bebüschelten, gelbzähnigen Bauernknecht jach in die wütende Menge hineingeschleudert.

Aber da war ein Wunder gekommen.

Reichardt hat die Geschichte später oft erzählen müssen.

Die alte, blitzblank-blaue Steinschneiderbude war mit der klapperdürren Isabelle im Vorspann jach unter Krachen in die Lüfte gegangen und richtig wie in flatternden Fetzen zerfledert.

In diesem Augenblicke hupften und watschelten über die Wiese auch schon fünf große Dreschflegel her.

Die Dreschflegel hatten etwa zwanzig Schritt vom Wege an einer alten Scheunenwand gehangen.

Diese fünf Dreschflegel schlurten und schlüpften wie kurzbeinige Krokodile immer näher.

Einzelne Burschen, die am äußersten Ende der Kämpfenden durcheinanderstürzten und dieses unheimliche Ereignis mit Augen sahen, wurden fast starr vor Staunen und Schrecken.

Die Dreschflegel hüpften ungestört auf diese mühsame Weise bis auf den Jahrmarkt heran.

Dort fingen sie an, sich von selber etwa so hoch wie ein Mensch aufzurichten.

Da kam in das Wirrsal des Jahrmarktes ein richtiger panischer Schrecken.

Denn jetzt begannen die Dreschflegel, wie von Menschenarmen durch die Lüfte geschwungen, wild und rücksichtslos in das kämpfende Gesindel hineinzuschlagen.

Die tollsten Rädelsführer flohen plötzlich mit gesträubten Haaren.

Aber einer der Dreschflegel und dann ein zweiter hoben sich ihnen nach, wie vertrackte Flügelwesen in den Lüften surrend.

Unterdessen die anderen an alle Ecken und Enden des Jahrmarkts weiter gaukelten und schwankten, richtig wie Pinguine.

Und so kreuz und quer in die Runde hauend, fegten sie die wirrseligen Knäuel, als Reichardt und sein Freund sich längst aus dem Staube gemacht und nur noch manchmal von ferne staunend und lachend auf den zerflädernden Jahrmarktsplunder zurückgesehen.

*

Das war der Jahrmarkt von Prczichowitz.

Den haben die beiden Freunde in gutem Andenken behalten.

Auch wie sie auf der freien Kammhöhe neu ihre alte Wanderlust fühlten.

Dann erst waren sie tagelang unbehelligt den Kamm entlanggezogen. Allenthalben freundlich begrüßt von den Baudenleuten. Oder von einem einsamen Wandersmann, wie ihnen in der verspäteten Jahreszeit damals selten einer entgegenkam.

Die Welt, tief und fern, schwoll ihnen neu zu Herzen, je höher die Felshäupter von leisem Winde umwogt lagen, die Bergrücken sich hindehnten und alle Menschenwohnungen in den Tälern unten in Dunst versanken.

Erst am dritten Tage ihrer Wanderung stapften sie dem Koppenkegel zu.

Das einsame, flechtengelbe Steingetrümmer liegt hochgehalten in den Himmel.

Lose Nebel wehten und zerwehten über den steilen, steinigen Zickzackweg.

Eine lockende Kühle kam nach heißer Wanderung froh gefahren, die den leuchtenden Geröllhang auf und den leuchtenden Geröllhang hinunter huschte.

Die einsame, beglänzte Kapelle ragte über ihnen.

Der ganze Berg lag in einem zarten Rosenglanz.

Ein schier liebliches Geflüster herrschte allenthalben in den Lüften und umflatterte ihre Ohren wie ein ferner Sonnengesang.

Keiner von beiden konnte ein Wort aus der Kehle bringen, als sie endlich über die letzten Felsstufen auf die höchste, östliche, deutsche Landeswacht anstiegen.

Alles um sie schien Licht und Wohllaut.

Da haben sie ewig schweigend gestanden.

Da haben sie die Sonne und die ferne Welt und dazwischen den kleinen Klang des Steinpiepers über dem Flechtengetrümmer lange einsam tönen hören.

Wie traumwandelnd und selber mit heimlich singenden Sinnen.

Haben auch noch lange schweigend in der kleinen Kuppelkapelle gestanden, indessen Gustav Reichardt auf die leere Rückseite eines Briefes hastig diese Noten niederschrieb.

Und haben dann das frische Notenblättchen vor den Augen mit jungen, frohen Stimmen in die kleine Kuppelwölbung hoch und durch die offene Tür in die Berglüfte die alten Arndtworte in der neuen, eigenen Weise hinausgesungen:

»Was ist des Deutschen Vaterland!
Ist’s Preußenland, ist’s Schwabenland?
Ist’s, wo am Rhein die Rebe blüht?
Ist’s, wo am Belt die Möve zieht?
O nein! nein! nein!
Sein Vaterland muß größer sein.

Was ist des Deutschen Vaterland?
Ist’s Bayernland, ist’s Steierland?
Ist’s, wo des Marsen Rind sich streckt?
Ist’s, wo der Märker Eisen reckt?
O nein! nein! nein!
Sein Vaterland muß größer sein.

Was ist des Deutschen Vaterland?
Ist’s Pommerland, Westfalenland?
Ist’s, wo der Sand der Dünen weht?
Ist’s, wo die Donau brausend geht?
O nein! nein! nein!
Sein Vaterland muß größer sein.

Was ist des Deutschen Vaterland?
So nenne mir das große Land!
Soweit die deutsche Zunge klingt
Und Gott im Himmel Lieder singt.
Das soll es sein!
Das große Deutschland soll es sein!«

Und Rübezahl?

Der saß unterdessen wie ein gewaltiger Flechtenblock gegen den Himmel und die sinkende Sonne, und hat urtrotzig wie ein Denker der Welt, der im höchsten Luftkreise atmet, dem Liede zugehört.

Und hat dazu seine Wunder spielen lassen.

Denn an diesem späten Augustabend haben die Leute in Böhmen und in Schlesien gleichermaßen, und wo immer man in der Ferne die Koppe ragen sah, gewähnt, als wäre der Koppenkegel von diesem Liede in lebendigen Brand geraten. So daß er von tausendfach flammender Lohe umgeben im lichtesten Feuer gen Himmel brannte.

Und es hat allen in den Tälern dabei heimlich in Ohren und Herzen geklungen, als wenn aus den höchsten Lüften her die kühnen Worte mit Windgeflatter herniederflögen:

»Das ganze Deutschland soll es sein!
O Gott vom Himmel sieh darein
Und gib uns rechten deutschen Mut,
Daß wir es lieben treu und gut.
Das soll es sein!
Das große Deutschland soll es sein!«

*

Das war der zweite historische Tag des Riesengebirges.

Das war eine kleine einsame Feier, als aus den Seelen und Kehlen der beiden Studenten, als käme es aus der Seele des ganzen deutschen Volkes, der alte Vaterlandswunsch in hellem Gesange ausfuhr:

»Das große Deutschland soll es sein!«

Und wer Zeit und Raum vergißt, sieht die beiden jungen Wandrer dort oben singend ragen, wenn der Koppenkegel von Goldwolken umgeben im Abendlicht glüht.

Eigentlich ist die Sache ein unlösbares Geheimnis

Rübezahl, so heißt der Berggeist vom Riesengebirge. Warum der unheimliche Zauberunhold Rübezahl heißt, weiß niemand zu sagen.

Wer soll wissen, warum einer Trillhose oder Apfelstiel oder Sautrog heißt, der als ein leibhaftiger, ehrenfester Schuhflicker die steinigen Bergwege wandert?

Sicher ist nur, daß das Riesengebirge schon vor Zeiten weltberufen hieß, weil Rübezahl in dessen Höhlen und Gruben und Schluchten und auf dessen Hochmooren und Geröllhalden sein Wesen trieb.

Der frechste aller Pferdediebe und Necker. Der tollste Marktschreier und Bauernklotz. Auch der kühnste Musikant um Felsgetrümmer und um Krummholzknorren.

Und zwar heißt er Rübezahl schlechthin. Mit keinerlei Zunamen weiter.

Von Menschen wimmeln Millionen, alle nach ein und derselben Fasson allein in einer einzigen Großstadt durcheinander.

Von dieser Art Berggeist gibt es nur einen und immer denselben durch alle Zeiten. Er braucht von seinesgleichen, weil es Derartiges gar nicht gibt, nicht weiter unterschieden werden…

Das Geheimnis um Rübezahl ist alt wie die moosigen, grünspiegelnden Felsen, die in die feuchten Gebirgsschluchten hängen.

Oder so alt wie die weißen Schaumwasser, die in der Zackelklamm jeden Tag jung und neu über Schroffen und Steine zu Tale springen. Darin ein vom Ufer entführtes Holzscheit sich so lustig in den Strudeln dreht, als wäre die rollende, quirlende Jagd hinunter nur ein Spiel.

Nämlich Rübezahl ist selber alt wie die Steine. Vermutlich so alt wie die Riesenwoge aus Granit, die schon in Urzeiten zwischen Böhmen und Schlesien ausrollte und zum Riesengebirge erstarrte.

Und erst der wird uns das Geheimnis um Rübezahl wirklich lösen, der uns sagte, wann die ersten Wasser von den Bergen zu Tale rauschten?

Viele Menschen wollen Rübezahls Gunst und Gnade erfahren haben.

Noch mehrere seine niederträchtigen Tollheiten und gemeingefährlichen Tücken.

Einem würdeerstarrten Gerichtsherrn in Hirschberg soll er einen dicken Strohwisch statt eines gehenkten Diebes am Galgen hinterlassen haben. Unterdessen er selber mit dem Delinquenten in dem Ratsstübel in Hirschberg freche Lieder grölte und zechte.

Manche wollen ihn gesehen haben, als er die steile Schneewand zum Großen Teiche, den Wildeber vor seine erbärmliche Schlittenhitsche gespannt, als Junker mit wehendem Federhut johlend niedersauste.

Verwegene Schatzgräber, die von weit her, selbst aus Venedig kamen, behaupten, daß sie gemeine Holzspäne oder Kieselsteine daheim aus ihren Ranzen ausgeschüttet, die er ihnen in der Mitternachtsstunde als blinkende Goldstücke vor die Augen gegaukelt.

Und der sorglose Schneidergeselle Siebenhaar, der dann in Warmbrunn bis zum Lebensende ein ehrsamer Meister und Hausbesitzer wurde, führte seinen Reichtum auf eine unheimliche Angstnacht oben auf der Elbwiese zurück. Dort hatte er mit Rübezahl Kegel geschoben. Dieser Siebenhaar behauptete, daß ihm der Berggeist einen gemeinen Holzkegel in seiner Tasche auf dem Heimwege in einen schweren Klumpen Goldes verwandelt hätte.

Aber richtig gesehen hat Rübezahl keiner.

Oder vielmehr, das eben ist das Rätsel.

Ein jeder von denen, die einmal in seinem Banne waren, hat Rübezahl gesehen. Ein jeder schwört, daß er ihn Auge in Auge vor sich gehabt, leibhaftig wie einen alten Eichenstamm oder mächtigen Steinklotz. Schwört, daß Rübezahls Auge so listig gespielt hätte wie der Elbbrunnen mit den Sonnenstrahlen. Daß Rübezahls Mund gelacht hätte, wie das siebenfache Echo in den Schneegruben ladet, so hart und gellend. Daß Rübezahl ganz unvorhergesehen des Weges gleichsam aufgesprungen wäre, z. B. als verwitterter Jägersmann mit Stock und mit der Flinte. Kurz stampfend und pinkend und polternd. Und als wenn der vierschrötige Forstknecht eben noch mit fliegenden Windgeistern in der einsamen Bergluft gehadert. Oder daß Erlaucht als junger Junker zu Pferde, der mit der Sturmbraut um die Wette über die frischgrünen Moorwiesen dahinfegt, sich jach in das hohe Gras hingeworfen, um seine Goldmähre, die klapperdürre, aber schäumende und prustende Isabelle, eine Weile verschnaufen zu lassen.

Alle schwören, daß sie den Rübezahl leibhaftig gesehen hätten. Sogar als einen in die Lüfte in Menschengestalt sich aufhebenden und mit den Nebeln fortwirbelnden Heuschober.

Oder auch als Fuhrmann auf der Paßstraße nach Böhmen, unten vor dem Petzer Kretscham. Oder als Perückenmacher auf dem Jahrmarkt in Rotwasser. Oder als Eseltreiber. Oder wieder als einen großen Herrn in einem reich verglasten und reich bespannten Reisewagen.

Das ist eben das große Geheimnis, daß Rübezahl als der Geist des Riesengebirges mit Händen nicht zu packen ist.

Das ganze reiche Gebirge mit Wolken und Windhosen, mit spielenden Sumpflachen und Sonnenbrunnen, mit Felsknollen und Felsnasen am Wege in dunkler Nacht. Mit all den in Würden- oder Armutskleider maskierten Wandrern. Mit unzähligen Wetterfichten und Krummholzbüschen. Mit scheuen Wölfen und Bären in früheren Jahrhunderten. Mit Pferden und Kühen, Ziegen und struppigen Kötern: dieses ganze reiche Gebirge ist von jeher gewissermaßen nur der große Kleiderspind gewesen, daraus dieser unbegreifliche Geist nach der Laune der Stunde geräuschlos jedes einzelne Stück herauslangen, es für sich aufblasen und darin öffentlich herumtumultuieren konnte.

Rübezahl erscheint seit Urzeiten in tausend lebendigen und toten Gestalten.

Er entwischt durch die Lüfte wie der Sturmreiter, nachdem er noch kaum als starrer Steinklotz am Wege gestanden. Und er entwischt durch die Stubenritze wie eine rote Maus, und hat noch eben beim Tanze in der einsamen Baude mit der Wirtstochter Kapriolen geschlagen und aus rostiger Kehle gejohlt und gejodelt. Auch »alt« und »jung« sind für ihn keine Namen. Das Geheimnis ist, daß kein Mensch je sagen kann, was der Geist der Berge eigentlich ist…

Freilich weiß auch der Mensch von sich selber nicht, was er eigentlich ist?

Auch der Mensch macht ewig Verwandlungen durch. Einmal ist er ein kleines Wickelkind an der Mutterbrust, das nur seltsame Käuzchenschreie tut und wimmert. Dann wieder, wenn es zufällig ein Knabe ist, muß er als ausgescholtener Schulbube im Winkel heimlich gegen das harte Menschenschicksal räsonieren. Oder liegt als frischer, junger Försterbursche, von Wildschützen schwer angeschossen, im einsamsten Sommerwalde, fast verdürstend und muß sich mit den Fingern im Waldgras bis zum Bache krallen, um zu trinken. Derselbe kann noch als alter, weiser, mächtiger Grünrock durch die Welt gehen. Und jedenfalls hat schon mancher Mann, der vorher ein kühner Weltkaiser war, im kostbaren Brokatstuhl als ein kranker, jämmerlicher, armer Schlucker sitzen müssen, dem sein Grab geschaufelt vor der Nase lag.

Dabei ist Versteckenspiel genug.

Und vielleicht wird man eine Ewigkeit brauchen, um auch hier ganz dahinter zu kommen.

Aber in einem Punkte ist uns Rübezahl sicher urverwandt. Wenn er in der großen Sturmwolke fliegt, braucht niemand zu fürchten, er wollte in alle Lüfte entfliehen. Man wird sich bald überzeugen, daß er sich nur als ein weißer, schwerer Wolkenflaum aufs Gebirge lagert und Steine und Schrunden einhüllt wie in weiche, weiße Wolle. So lose und frei er ist, scheint er doch heimlich wie mit Ketten und Banden an das Riesengebirge angeschmiedet.

Er hat gar keinen Sinn, z. B. nach dem Süden zu reisen. Wenn er mit seinen zauberischen Sturmtrompeten hinjagt, durchbläst er nur seine Heimatschluchten und Heimathöhen. Tummelplatz genug Sommers und Winters über die Krummholz umhegten Sumpflachen und über die freien Wiesen hin. Und um die umflüsterten Trümmerfelder, und die Felsgetüme, die vom höchsten Kamme als Nasen in die Täler sehen. Auch Schlafstellen und Schlupfwinkel genug, in die er heimlich entwischen kann. Und aus denen er dann nur seine herausfordernden Pfeifmelodien herausschrillt…

Dann noch eine andere Frage, die den Rübezahl betrifft!

Manche behaupten, er hätte einmal eine junge Grafentochter unten aus dem Warmbrunner Grafenschlosse geraubt. Die liebliche Komtesse hätte, beweint von den ihren, niemals wieder den Weg ins Tal herab gefunden, nachdem sie auf einer Frühlingswiese in den Vorbergen beim Pflücken silberseidiger Anemonen sich vertändelt. Und sie läge jetzt in die Elbquelle verwandelt oben frei auf der weiten Moorwiese gefangen und weinte und weinte. Und ihre kristallklaren Tränen rännen seit der Zeit ohne Unterlaß zu Tale nieder.

Welche behaupten sogar, daß man die junge, gräfliche Frau mit zwei lieblichen Kindern im Arm später eines Sonntags in der Warmbrunner Kirche leibhaftig gesehen hätte. Sie hätte in dem vornehmen Kirchstuhl, darein ihre Mutter, die alte Gräfin, mit ihrem samtdunklen Gebetbuch in weißen Händen immer zur Andacht eintrat, versunken betend gesessen. Nur erst wie sich die Kirche zu füllen begonnen, wäre sie wie ein duftender Weihrauchschemen tonlos fortgeschwebt. Die beiden Kinder hätten dabei immer deutlicher wie zwei junge Bärchen geschienen. Bis sich die bläuliche Wolkenbildung ganz erlöste. Niemand weiß auch hier, was daran wahr ist.

Vielleicht ist Rübezahl nur ein Wesen, das als kalter Hagestolz durch die Welt geht.

Oder vielleicht ist die junge Gräfin wirklich sein verwunschenes Weib.

Ich neige jedoch mehr der anderen Idee zu, daß Rübezahl in Urzeiten bereits die Riesentochter zum Weibe nahm. Und daß das Riesengebirge in seiner gedehnten Erdwucht und seiner ewigen Frühlingsfruchtbarkeit selber die verzauberte Riesentochter ist, die weithin in alle Lande sichtbar unter dem hellen Sommerhimmel aufragt oder gewaltig gedehnt unter den nächtlichen Sternen. Und daß Rübezahl, der seit alters versklavte Riese »Hin und Her« ist, der für die ewig fruchtbare Riesin wie das Vogelmännchen für die brütende Vogelfrau zu sorgen hat. –

Aber jetzt wollen wir erzählen, welcher Art die Menschen von Rübezahls Dasein Spur und Ahnung gewannen. So daß sie das Riesengebirge weltberufen nannten. Und wie sie schließlich Rübezahls Späße und Tücken, aber auch seine unerhörten Gunstbezeigungen so leidenschaftlich an sich erfahren haben, daß niemand seit alters an dessen Existenz hat zweifeln können.

Wir wollen neun Abenteuer vom Rübezahl erzählen. Nur neun.

Denn da Rübezahl alt wie die Bergquellen selber ist, würde einer mit seinem zahnlosen Kindermunde beginnen und mit seinem zahnlosen Greisenmunde aufhören müssen zu erzählen. Und er hätte doch nur geplaudert, wie die Welle plaudert, die von ihren Geschichten bis in alle Ewigkeit plaudern muß.

Wie Rübezahl sich unter der Teilnahme der ganzen Stadt Schmiedeberg als einsamer König begraben läßt


Neuntes Abenteuer

Nun war wieder einmal Herbst.

Im Lande unten feierte man irgend ein Kirchenfest.

Auch in der Stadt Schmiedeberg feierte man es.

Und Rübezahl war zu diesem Feste mit einem Gepränge wie große Herren in die Stadt eingefahren.

Er hatte aus einer zweispännigen Isabellenkutsche allerhand vornehme Hüllen und Decken in das Gasthaus am Markte tragen lassen.

Man hatte einen gewaltigen, blankbeschlagenen Lederkoffer aus den Gabeln rückwärts geschoben.

Und weil auch der in Federn hängende, große Reisewagen und die Purpurlivreen seiner Diener große Wappen trugen, dachten alle Bürger der Stadt, er wäre ein Fürst oder gar ein König.

Rübezahl war diese Vermutung der Stadtleute grade für den Spaß recht gewesen, den er in dieser späten Jahreszeit, wo alles in das Verborgene kriecht und dann unter Schnee bald begraben ist, tun und treiben wollte.

Denn Rübezahl war und blieb nun einmal der unberechenbare Gauch, der nichts lieber tat, als einfältigen Menschen Kuckuckseier in ihre Nester zu legen, bis die ihr blaues Wunder daraus vorkriechen sahen.

Also lebte Rübezahl in Schmiedeberg auch gleich als eine Art König in dem besten Gasthause am Markte.

Er hatte seinen Wagen mit den Isabellen in alle Lüfte geschickt, die sich wie eine Husche fliegender Herbstblätter beim Hinausrasen aus der Stadt einfach ins Unbestimmte zerlösten.

Er selber saß schon in den großen Vorderzimmern nach dem Markte zu in einem köstlichen, purpurnen Samtmantel eingehüllt.

Er spielte nur mit einer Goldkrone voll blinkender Steine, die er vor den Augen des Wirtes aus dem gewaltigen Reisekoffer bedachtsam herausgenommen. Und zeigte dem Wirte allmählich auch tausend andere Herrlichkeiten der Erde, die in dem Prunkkoffer verborgen waren.

Es war für die ganze Stadt sofort etwas in den Lüften gewesen, was um Rübezahls Ankunft einen richtigen Nimbus verbreitete. Das Gasthaus am Markte war gleich in das Gefühl und Bewußtsein eines jeden Bürgers hineingehoben. Vom Ratsherrn bis zum kleinsten Gassenjungen herab paßten die Bürger alle neugierig und gespannt in die Fenster des ersten Stockwerkes hinauf, was sich wohl darin begeben möchte?

Aber Rübezahl rührte sich nicht ganze zwei Tage lang.

Er saß nur in seinem kostbaren Samtstuhl.

Und legte, solange der Wirt oder die Dienstleute des Gasthauses um den hohen Gast herumgingen, die goldene Krone nicht aus den Händen.

Oder, wenn ihm plötzlich in den Sinn kam, dem Wirt eine besondere Gnade anzutun, griff er mit schönen, langen, bleichen Händen, gleichsam wie nur mit sich beschäftigt, in seinen Prunkkoffer hinein, um die wunderbarsten Kleinode herauszunehmen und sie sinnend anzustarren.

Mit Händen so fein gepflegt wie die Hände alter, französischer Könige, die dazu an allen möglichen Gliedern mit kostbaren Ringen geschmückt waren.

Mit Händen von einer unerhört königlichen Bewegung, ganz als wenn solche Hände im Leben nie zu etwas anderem, als zum königlichen Winken oder zum leisen Streicheln von Frauengesichtern, zum Durchgleitenlassen von kostbaren Perlenketten oder von goldenem Frauenhaar, vielleicht auch noch zum behutsamen Brechen einer Purpurrose vom vollen Stocke bestimmt gewesen.

Das war wirklich ein König.

Und in seinem goldverschlagenen Riesenkoffer lagen auch Diademe aus blitzenden Steinen und reiche Perlenketten wie bei einem Juwelenhändler aus Astrachan. Steinkolliers, groß und kostbar wie Spitzenlätze.

Jeder, der in diese Nähe geriet, dachte gleich, daß das ein unermeßlich reicher König sein müßte, der auch viele Untertanen und Günstlinge besäße. Obwohl der hohe Herr zum Staunen der ganzen Stadt alle seine goldbetreßten Lakaien mit dem hängenden Reisewagen stiebend heimgeschickt.

Um ihn webte auch gleich der Hauch geheimnisvoller Zusammenhänge.

Der Wirt und der Apotheker und der Pastor in der Stadt, auch der Arzt und die wohlhabendsten Händler zerbrachen sich am Wirtstisch die Schädel, warum dieser König incognito reiste. Und waren darüber einig geworden, daß er nur deshalb keinen seiner Diener um sich behalten, damit diese Schwätzer nichts über ihn ausplaudern sollten.

Von Anfang an war der hohe Herr abweisend und spröde und zu einem tieferen Zwecke ganz in sich gekehrt. So daß sich um seine Vereinsamung bald ein heiliger Ernst zu breiten schien.

Anfangs hatte er überhaupt nur den Wirt in Person in seiner Nähe geduldet. Sonst war niemanden Zutritt gewährt. Und nur mit der Zeit hatte er den Wirt auch gnädig an den Tisch herangewinkt. Und hatte ihm Ringe und Gürtelschnallen mit indischen Topasen und schwarzen Perlen, und mit Diamanten von Daumengröße vor die Nase gehalten.

Dann hatte er freilich vor ihm auch ganz in die Koffertiefe hineingelangt, wo der Wirt eine Reihe von Beuteln mit Golddukaten hatte mit seinen Augen erlisten können.

Einmal, das war am Abend des zweiten Tages gewesen, hatte er dem Wirt sogar einen Szepterstab mit einem in tausend Farben funkelnden Steinbesatz gewissermaßen zum Anfühlen einen Augenblick in die Hände gelegt. Der aber wie eine doppelte Zentnerlast schwer geschienen. Und den der Wirt unzweifelhaft hätte aus den Händen fallen lassen, wenn nicht der gnädige Herr selber noch immer die Hand fest darum gehalten.

Und unfehlbar hätte beim Falle dieses Riesengeschmeide die Gaststubendiele nach unten in die Wirtsstube hinein einfach durchgeschlagen.

So saß also der überreiche, verlassene König ganz einsam zwei Tage in seinem Hotelzimmer.

Er aß und trank unterdessen die köstlichsten Dinge.

Er hatte den Wirt wie einen aufgezogenen Kreisel beweglich gemacht.

Kein Wunder, daß die Staunensworte des Wirtes, sobald er einmal wieder die knarrende Holztreppe auf die ebene Erde gelangte, wie lustige Zeitungsjungen sogleich in alle Stadtgassen und Winkel, in die Ratsstube und in die Barbierstube, in den Apothekerladen und zu allen Krämern an den Ladentisch rannten.

Schon bei der Ankunft hatte sich vor den Gasthausfenstern ein Haufe Neugieriger auf dem Markte zusammengefunden, der beständig zugenommen und Tag und Nacht nicht mehr davonging.

Manche wollten den großen König auch nur für einen flüchtigen Augenblick sehen. Vielleicht nur eine braune Haarzottel von ihm. Oder einen kleinen, beringten Finger.

Das Kirchenfest war ganz in Vergessenheit geraten oder es hatte wenigstens seinen Charakter verloren. Als wenn es nur noch eine Defiliercour vor des hohen Gastes Fenstern gewesen.

Und schließlich harrten alle Bürger der Stadt sogar fiebernd eines Ereignisses.

Und doch saß der hohe Ankömmling nur einstweilen auf seinem kostbaren Samtstuhl und hatte sich diese ganzen zwei Tage nicht verleiten lassen, das Zimmer des Gasthauses auch nur ein einziges Mal mit dein Rücken anzusehen…

Aber am dritten Tage am Morgen ließ der einsame König den Wirt rufen.

Er empfing ihn feierlich. Saß, nur das mächtige Haupt hinterrücks in die große Samtlehne zurückgebogen. Den samtenen Purpurmantel offen. So daß der Wirt auch die kostbaren, goldenen Unterkleider jetzt sehen konnte.

Und der hohe Herr redete mit zitternder, müder Baßstimme:

»Ich bin hier zu euch gekommen… und das Schicksal überrascht mich… der Tag, der heute für mich noch einmal begonnen hat, wird für mich niemals endigen… ich fühle… ich werde heute sterben!«

Erst nach langer, tiefer Schweigsamkeit, die er mit geschlossenen Lidern verbrachte, winkte er mit seinen langen, bleichen, schönen Händen und königlicher Gebärde nach dem Prunkkoffer hin, der dem Wirte jetzt noch einmal so groß wie sonst erschien. Und der mit hunderterlei geöffneten Kisten und Kasten, mit Zepter und Krone dastand und in dem Morgensonnenschein ein schier verblendendes, unerhörtes Blinken und Blitzen gab.

Und dabei redete der müde König endlich weiter:

»Nämlich… euch habe ich ausersehen, mein Erbe zu sein… meine Kinder sind undankbar und hart gegen mich alten, sterbenden König… meine Untertanen werden immer leben, wie Menschen nun einmal leben… recht und schlecht… heute im Frieden und morgen im Kriege… heute in Samt und Seide… und morgen in Staub und Lumpen… also, mein lieber Eß- und Trinkmeister Kuring, daß auch ich und du an dieser alten Leier nichts ändern werden… nimm du nur den Koffer dort… laß ihn verschlossen in deinen tiefsten Keller tragen… und entnimm seinem tiefen Bauche, sobald ich meinen Geist ausgehaucht habe, noch so viel für mich, daß du mir unter der Teilnahme der ganzen Stadt ein wahrhaft königliches Begräbnis schaffst und mir damit die letzte Königsehre antust!«

Der Wirt mußte alle Kräfte zusammenraffen, um nicht vor Entzücken in einen Lachkrampf auszubrechen.

Er stierte nur, während der offenbar todkranke König die Augen wieder schloß, gierig nach dem Prunkkoffer hin.

Er überschlug innerlich rasch, daß da noch ein Königreich für ihn übrigbliebe, wenn er auch an jeden einzelnen Bürgersmann für seine Begängnisteilnahme einen vollen Golddukaten auszahlte. Und wenn die Glocken von rechts und links eine ganze Woche lang und mehr den königlichen Tod ausläuten würden.

Verbeugte sich fortwährend wie Binsen im Winde.

Begann sich dann aber doch auf das zu besinnen, was in solchen ernsten Augenblicken des Lebens die einfachste Höflichkeit gebietet.

Fragte mit tränenfeuchtem, pusteligem Gesicht und erstickten Worten, ob denn das Sterben unwiderruflich wäre?

Ob man nicht sofort ärztliche Hilfe herbeischaffen sollte?

Ob denn nicht vorher noch etwas getan werden könnte, was dem menschlichen Staubleibe noch einmal wieder auf die menschlichen Staubbeine helfen könnte?

Alles freilich noch immer mit heimlich seligem, tiefem Verneigen, so daß sich die runde Bauchfülle jedesmal wie ein Gummiball zusammendrückte.

Und weil der hohe Herr nur königlich abwehrte, von derlei Menschenwerk durchaus nichts mehr vorgesehen, mit herrischer Gebärde, aber jetzt leise, das nahe Sterben noch einmal bestimmt hatte, geschah dann sofort alles nach seinem königlichen Worte.

Der Wirt wußte in dieser Minute nicht, wie er hinunter auf die Straße gelangte.

Der Wirt stand richtig wie sinnbenommen schon mitten auf dem Marktplatze und flüsterte es überall herum, so leise wie nur ein Spitzbube einem anderen zuflüstert, der eben auch stehlen will, daß der große König im Sterben liege.

Aber dann war er eben so sinnverwirrt mit Zittern und Beben auf Zehen wieder ins Haus gelaufen.

Und während er sein Weib heimlich gerufen und mit ihm den goldbeschlagenen Riesenkoffer aus dem Zimmer des hohen Gastes in den eigenen, tiefsten Keller hinuntergeschafft, ehe das Hausgesinde davon viel wittern konnte, war Rübezahl in seinem samtenen Goldsessel sanft entschlafen.

Und jetzt eilten auf die goldenen Verheißungen des Wirtes Arzt und Pastor und Pfarrer herbei.

Beide Geistliche entschlossen sich, die Sterbezeremonien vorzunehmen.

Die Konfession des entschlafenen Königs kannte niemand.

So kamen sie friedlich überein: »Es war ein König… besser ist besser!«

Der Arzt schrieb unter Beisein der Ratsherren feierlich den Totenschein.

Der Apotheker kam mit den allerfeinsten Räucherungen, das Sterbezimmer auszufüllen.

Die Stadtgärtner liefen Sturm, das Gasthaus mit Blattpflanzen und bunten Blumen wie einen südlichen Garten auszuschmücken.

Das alte, knarrige Gasthaus widerhallte von Arbeitslärm und in allen Winkeln von Weibertränen.

Schon der üppige Geruch von der Fülle Lorbeerbäume, die in Flur und Zimmer standen, betäubte alle Herzen.

Treppauf, treppab waren bunte Blumengirlanden gewunden und die Stufen mit frischen Blüten bestreut.

Man hatte den mächtigen König in einem reichen Metallsarge aufgebahrt.

Feine, offene Silberpfannen rauchten beständig ihren Weihrauch.

Es hatte sich sogar in der Stadt schon die Legende gebildet, daß die königliche Leiche selber diesen wonnevollen Duft ausströmte wie die Leiche mancher Heiligen.

Im Grunde waren alle beseligt.

Im Grunde strömten Trauer und Tränen süß aus aller Blute.

Der Wirt hatte es ja einem jeden Bürgersmanne und Ratsherren, jedem Honoratioren, aber auch jedem Bettelmanne mit gutem Gewissen geheimnisvoll zuflüstern können, daß das Begräbnis wahrhaftig eines Königs würdig sein würde.

Daß es mit Tausenden von Golddukaten reichlich bezahlt werden sollte. Und daß er aus des sterbenden Mannes eigenen Händen zehn Beutel mit je tausend Dukaten für diesen Zweck ausdrücklich erhalten hätte, die noch am Begräbnistage nach Anwartschaft und Würden einem jeden Bürger ausgezahlt werden sollten.

Und nun war der Tag des Begräbnisses endlich gekommen.

Woher plötzlich die langen Kolonnen Soldaten marschierten, die sich sogleich vor den königlichen Sarg setzten, wußte niemand zu sagen.

Und woher die goldbetreßten Purpurlakeien in Hülle und Fülle heranwimmelten, ebensowenig.

Die Frauen der Stadt erschienen alle tief in Schwarz gehüllt, mit fliegenden Floren, mit feinsten Battisten in Händen.

Allen flossen die hellsten, seligsten Tränen.

Allen standen nur fortwährend die zehn Beutel mit je tausend Golddukaten vor ihren Augen.

Ein langer Zug feiner Geschirre mit schwenkenden Pferdehälsen ging feierlich hinter den Scharen trauernder Fußgänger her.

Die ganze Stadt war durchzuckt von glücklicher Trauer.

Das Flattern der Flore auch aus den offenen Wagenfenstern verdunkelte fast die hellen Herbstlüfte.

Und schon wie man den schweren Metallsarg des Königs die knarrenden Treppen im Gasthause niedertrug, war ein schier herzzerreißendes Schluchzen aufgewacht, das über den ganzen Marktplatz weiter gelaufen und sich an den Giebelhäusern im Echo wiederholt hatte.

Von allen Stadtgassen war wie am höchsten Pfingsttage die Menge herangewogt.

Und jetzt schritt sie im unendlichen Entströmen der Tränen feierlich und ernst im Trauerzuge. So daß selbst die Gemüseweiber am Markte und die Schornsteinfegerjungen auf den Dächern weinten. Und auch die sich von den Goldbeuteln gelockt ins Trauergefolge mischten, als man den incognito-König der mit aller Schnelligkeit in Stein gehauenen Gruft zutrug.

Aber da mochte schon die richtige, rübezählische Verwandlung vor sich gegangen sein.

Denn wie man so im feierlichen Marschschritt hinter den dumpfen Trommlern und Soldaten hinschritt, merkte zuerst der Doktor, und dann der Pastor und Kaplan, und schließlich auch die beiden reichsten Händler, die alle mit an dem königlichen Sarge trugen, daß durch das allgemeine Klagestimmengedröhn ein fröhliches, um nicht zu sagen freches Lied mit gewaltigerem Tone durchdrang.

Als wenn der incognito-König sich innerhalb des schweren, hohen Metallsarges für sich eine Lust machte.

Die hohen Träger, denn es waren die höchsten der Stadt, nicht nur der Apotheker, auch der Bürgermeister und der Stadtschreiber hatten die Sarglast mit auf ihre Schultern genommen, dachten sofort an Stillehalten und den Sarg zur Erde zu stellen.

Aber da hatte der tolle Gesang doch ebenso plötzlich wieder nur wie eine unbestimmte Täuschung innerhalb des allgemeinen Trauerlärmes geschienen.

Von der tausendfältigen Trauerbegleitung war noch niemand betroffen worden.

Es war nur ein kleines Zögern entstanden. Und der Zug ging im Rhythmus dumpfer Trommeln weiter.

Dann freilich, wie man einmal heimlich aufmerksam geworden war, lauschte der Doktor und Apotheker und Bürgermeister gemeinsam.

Und da hörten sie es wie aus einer Bramarbaskehle schallen.

So daß sie auch die Worte gleich ganz genau verstehen konnten.

»So will ich lustig schlafen…
Und mausetot im Dunkel sein…
Ich bin der Geist der Berge…
Wie Sommerkorn so klein…«

Man war auch gerade vor der steinernen, gemeißelten Gruft angekommen.

Da warf man fast den Sarg scheu von den Schultern. Stellte ihn erschrocken vor die Gruft nieder.

Niemand wagte den anderen anzusehen.

Alle horchten nur.

Alle hielten jetzt richtig den Atem an.

Auch die Trommler hatten sofort geschwiegen.

Wunderbarerweise waren jetzt auch Soldaten und Trommler, sobald der Spuk begann, fortgehuscht, als wenn es nur goldene Blätter und Zweige von den dürren Kirchhofsbäumen gewesen.

Aber die Stadtleute kümmerten sich darum gar nicht.

Sie standen nur bleich und erstarrt und horchten.

Und da kam es jetzt wirklich aus dem Sarge heraus.

Schon nicht mehr wie aus einer, wie aus einem ganzen Chore von Bramarbaskehlen.

Und mit unerhörter Feierlichkeit, wie der unheimlichste Grabgesang.

So daß jetzt alle richtig zwangsweise die Hände falten mußten.

Sich die ganze Stadt neu in tiefste Trauer senkte. Als wenn dieser kolossale Gesang erst der Hauptteil der Zeremonie wäre.

Und nun alle lange tief ergriffen mit gefalteten Händen standen. Endlich sogar den Vers auch noch ein zweites Mal unter Geheul und Tränen feierlich mit hinaussangen.

Und wieder lange noch standen, auch wie der gewaltige Chor und auch die Stimmen aus dem Sarge endlich geschwiegen.

Bis allen das ganze Rätselhafte der Sachlage doch neu und klar fühlbar wurde, man sich vollends besann, sich von allen Seiten gleichzeitig um den hohen Sarg drängte, ihn aufschrob und hineinsah.

Nun, da war freilich nichts Königliches drin.

Man sah nur, was der Bauer sieht, wenn er das goldene Korn auf den Ackerboden hingesät und darüber dicke Posten Mist aufgeschichtet hat.

Da kann man das goldene Weizenkorn bald gar nicht sehen und nur die fetten Dungfladen.

Auch in dein Sarge des incognito-Königs lagen hauptsächlich fette Dungfladen, die es auch völlig begreiflich machten, warum der Sarg die Schultern der städtischen Ehrenmänner so unerhört niedergedrückt. Man muß begreifen, daß die Trauerversammlung, wie sie diesen peinlichen Inhalt sah, sich unerhört betrogen fühlte.

Johlend und schimpfend über den mistigen Anblick und mit dem schamlosesten Geschrei, daß dieser Bauernfänger ein gehöriger König gewesen, der frechste, stinkigste Viehkerl, rannte und stob alles toll auseinander.

Da war bald niemand mehr am Sarge geblieben.

Natürlich noch der Wirt. Und auch einige bessere Elemente. Die Geistlichen, der Doktor und Apotheker, und auch die Stadträte und der Bürgermeister.

Die standen noch immer bestürzt vor dem Rätsel und besahen es.

Und der Wirt war noch immer völlig getröstet.

Der wußte ja doch, daß er einen jeden für die reichlichen Mühen und Unkosten königlich bezahlen konnte. Und außerdem noch heimlich die Hauptherrlichkeiten für sich zurückbehielt.

Und wie dann die Stadt in wildem Tumulte vor dem Gasthause sich zusammenscharte, wehte noch immer aus dem Königsfenster bunt wie Blut und weiß wie Schnee eine Fahne, freilich jetzt mit Zauberzeichen.

So daß das ganze Menschengewimmel wild dazu zu johlen begann.

Da war der Wirt ruhig vor die Türe hinausgetreten, eine Ansprache zu halten.

Auch der Pastor trat hinaus und redete feierlich, hier wäre ein Mysterium geschehen, das man durchaus noch nicht erklären könnte.

Und der Wirt schrie ungeduldig dazwischen: aber das Gold für die aufgewendeten Mühen und Kosten und für die Trauer und vielen Tränen würde ein jeder doch gleich erhalten!

Unterdessen auch wieder der Pastor und dann auch der Doktor sich bemühten und umständlich versuchten, das Mysterium zu erklären.

Und noch immer fleißig erklärten und umschrieben, während der Wirt samt seinem Weibe schon in den tiefsten Keller gelaufen war, um die Dukatensäcke aus dem königlichen Reisekoffer heraufzuholen und sie endlich, wie er sich jetzt zum hundertsten Male eilfertig im Geiste überschlug, zur Beruhigung gleich vor die Nase der Leute hochzuhalten und dann vom Bürgermeister nach Verdienst und Würden ordentlich verteilen zu lassen.

Aber jetzt geriet erst der Wirt in richtigen Wahnsinn.

Er griff in stinkende Hundeknochen und Sauborsten.

Er griff gierig hinein, hielt, seinen Ekel mit aller Gewalt zurückdämmend, die Laterne in den Kofferschlund und beleuchtete ganz genau das vermeintliche Goldbehältnis.

Der bestialische Gestank warf ihn ein paarmal richtig zurück.

Er lief schon wie gescheucht die Stufen wieder aufwärts.

Und rannte doch wieder in den Keller hinunter.

Und griff noch ein paarmal wie genarrt in den Unrat.

Und rannte dann in der trostlosen Verwirrung, in die er sogleich geraten war, während er beim Vorüberhasten am Küchentische ein langes Messer im Wahn ergriffen, mit verstörten Blicken und verwirrtem Haare hinaus unter die Leute.

Da war der Marktplatz am Ende doch plötzlich leer geworden.

Die Stadt lag in dieser Nacht bald in unheimlichstem Dunkel.

Alle hatten die Haustüren hinter sich fest verschlossen und horchten in zerrüttetem Schlafe noch immer auf den irrsinnig Gewordenen und auf das wildeste Getöse in den Lüften, das vom Gebirge längst niedergebrochen. Auf dem Marktplatze wehte aus dem Königsfenster die Fahne toll und höhnisch, darauf man jetzt die Worte lesen konnte:

»Bunt wie Blut und weiß wie Schnee…
So fährt Rübezahl ins Grab…
Und wieder in die Höh’…«

Aber wie der Wirt, der wie ein Grasfresser hinaus auf die Felder gestürmt war, sich nächtlicherweile in die Stadt hineintraute, weil er wieder zur Besinnung gekommen war, und zu seinem Weibe ins Gasthaus am Markte durch die Hintertür hineinschlich, zeigte ihm sein Weib lachend eine goldene Schüssel.

Das war die irdene Schüssel, aus der Rübezahl noch vor seinem Tode fünf Liter Blaubeeren mit Appetit verzehrt hatte.

Die hatte er zum Andenken in Gold verwandelt.

Ausklang

Das waren die neun Abenteuer vom Rübezahl.

Darnach ist der Berggeist des Riesengebirges ein gar sonderbares Ding oder Wesen.

Frech und tückisch wie ein alter Gorilla. Auch manchmal wieder so treu und zutunlich wie ein vertiefter, sanfter Sorgenvater, der das Heil bringt.

Aber als ganzer Kerl, oder vielmehr als ganzer Berggeist ist er so schrankenlos wie die Natur selber.

Er steht, wie, man es heute zu nennen pflegt, in seiner Weltanschauung offenbar bedenklich jenseits von Gut und Böse.

Freilich möchten wir kleinen Menschen gerne vergessen, daß auch die goldene Sonne jenseits von Gut und Böse steht, die gelegentlich in böser Laune unsere leuchtendsten Weizenernten in trockenen Staub verdorrt und verwandelt.

Und wie herrlich weit und blau und sanft ist das warme Sommerwetter, ehe es in wildem Ungestüm aufbegehrt, um ganze Inseln mit Menschen und Menschenwohnungen einzuschlucken wie ein gesperrter Haifischrachen eine blumige Qualle.

Wir eingeschränkten Menschen möchten so gerne allen grenzenlosen Dingen Grenzen setzen, um sie zu begreifen.

Rübezahl ist nicht menschlich.

So rührend tief und heiß auch seine Gefühle sein können, so spielen doch seine Register zwischen dem unheimlichsten göttlichen Dämon und dem schmählichsten Lausekerl. So hat er Jahrhunderte und Jahrtausende gelebt.

So wird er weiterleben, solange das hochgehobene, freie Land des Riesengebirges mit Sommerwinden in die klarsten Höhen aufragt und im Winter in die eisglitzerndsten Spielhänge der Bergfrauen und Stürme sich verwandelt.

Die kleinen Menschen werden immer nur imstande sein, einen winzigen Becher aus seinen Bergwassern zu schöpfen.

Sie werden ihn nie ganz begreifen. Weder in seinen letzten Frohheiten, noch in seinen letzten Tücken.

In allem wird er immer der unbegreifliche Berggeist sein, der irgend woher mit noch geheimnisvolleren Schicksalen aus dem Weltenraume ins Riesengebirge vertrieben ist.

Erstes Abenteuer

Die Zeit liegt Jahrhunderte fern.

Damals sah nur das alte Adlerweibchen, das aus den besonnten Wolken sich senkte, tief unter sich das weite Bergland einsam liegen. Die Hochgipfel mit schwefelgelbem Flechtengetrümmer besät. Die hellerlichten Wiesen dunkel mit Krummholz betupft. Dazwischen kleine Tümpel wie blaue Wasseraugen. Und nur noch die Stürme umpfiffen die grauen Felsgestalten, die wie verwitterte Götterbilder verlassen ragten.

Damals führten nur vereinzelte, überwucherte Pfade durch verwunschenen Wald auf die freien Geröllhalden und Hochmoore und Klippen des Riesengebirges hinauf. Und wohl ein mächtiges Rudel äugender Hirsche sah einmal einen einsamen Kräutermann hochstapfen. Oder auch einen beherzten, waghalsigen Schatzgräber in der Sommernacht seinen Gang in die Berge tun.

Damals war Rübezahl erbittert.

Er hatte durch dreißig lange Jahre in den Engtälern des Gebirges und gelegentlich auf den einsamen Bergwegen immer nur Abschaum aus dem heillosen Kriege begegnet, der Deutschland verwüstete. Einzelne entwichene Schufte oder verirrte Reitertrupps, die sich nicht scheuten, selbst die armseligste Armut noch in den Bergschluchten zu schinden und zu plündern. Hatte natürlich dieses lose Gesindel auch immer mit langen Nasen und gebläuter Haut wieder in die Täler getrieben.

In dieser Zeit war Rübezahl manches Mal durch Dörfer und Städte unten, die Fäuste geballt und das Maul verächtlich verzogen, hindurchgeschlüpft, hämisch erregt gegen den Wahn aller Menschen.

Unten in den Ebenen hatte der Krieg die Menschenwohnungen vernichtet.

Viel verlassenes und zertrümmertes Bauwerk lag zwischen Waldflächen und verwucherten Feldern im Lande umher,.

In den Städten waren die Menschen nur noch ärmlich an Zahl und kümmerlich am Leibe. Und viel geängstigtes Volk hatte sich in die geplünderten Gassen und um die zerschossenen Kirchen geflüchtet.

Im weiten Deutschland waren diese langen Jahre hindurch Kriegsvölker in großen Heerhaufen von Ost und West, Nord und Süd gegeneinander marschiert, von dem Wahne gehetzt, als, wer einen falschen Gott in der Seele trüge, müßte sterben.

Da hatte Rübezahl hundertmal mit richtigem Bocksgemäcker gelacht, wenn er bedacht hatte, daß niemand da war außer ein paar mächtigen Königen, die es mit dem Schwerte entscheiden wollten, welches der falsche und welches der richtige Gott sein sollte.

Und wenn Rübezahl so von Orte zu Orte gehuscht, hatte er mit grimmigem Grausen in den eingeäscherten Dörfern Bauern an den Brunnenschwengeln baumeln gesehen, aus Hunger erhängt. Oder von den rohen Soldatenhaufen mit schmutzigen Fetzen der eigenen Lumpenkleider erdrosselt. Denn die Soldateska hatte mit den eingeschüchterten Landleuten überall die gotteslästerlichsten Biwakspäße getrieben. Hatte auch die irren Alten und die gescheuchten, verhärmten, erniedrigten Weiber gesehen, die im Schutte der Felder oder in den städtischen Trümmerhaufen herumscharrten. Und es hatte ihm manches Mal die Kehle geschnürt, so daß er lieber gleich mit Wut und Gelächter in alle Windlüfte hochgefahren und sich als Bergnase auf die höchste Kammhöhe aufgepflanzt, um dort oben in Freiheit und Sonne den Blutgestank und Leichengestank der Täler ganz zu vergessen.

Heute endlich raffte er sich.

Aus der Kehle eines grauen Steinpiepers ertönt in die Sonnenluft über dem weiten Flechtenfelde ein kleines Jubilieren, das den Jammer der Erde ganz vergessen ließ. Es war nicht nur wieder Frühling. Es war auch unten in den deutschen Ländern, die sich von seinem Hochsitze aus in die Ferne dehnten, endlich wieder Friede geworden.

In diesen Tagen waren ein paar alte Panzerreiter in ihre Heimat Hermsdorf u. K. zurückgekehrt. Ehemals Kuhknechte im gräflichen Hofe, als sie der Krieg mit fortriß. Hochmütige, freche Gesellen, die zwar nur niedrige Troßknechte im Regimente gewesen, sich aber jetzt vor den Dummen und Einfältigen daheim als Herren aufspielen und kommandieren wollten.

Die hatten ihre Schwerter zwar an den Nagel gehangen. Aber sie bliesen sich großartig auf, weil sie genug Plündergut rechtzeitig in Golddukaten verwandelt. Hatten sich auch gleich in den Sinn gesetzt, von den blutigen Kriegsstrapazen eine Weile völlig auszuruhen und nur einstweilen ein lustiges Leben zu führen.

Ehrenreich Kluge und Christoph Sommer. Jähzornige Kumpane. Noch immer zum Zeichen ihres tollkühnen, hartherzigen Wagemutes in ihre verbeulten und verlotterten Uniformen gekleidet. Beide Kürassiers aus der großen Landarmee des gewaltigen Schwedenkönigs, der immer auch wie ein geputzter und gepanzerter Riese auf seinem Riesenpferde gesessen hatte.

Beide jetzt freilich nur auf den hochgeschäfteten und eisengeschienten Beinen. Aber noch bis zum Rande Fluchens und Lästerns voll. So daß sie sogar Vater und Mutter nicht anders als mit einem: »Daß Euch der Hagel erschlage!« hatten begrüßen können.

Beide noch gleichsam Kanonenkugeln im letzten Fluge. Unheimliche Wirrbärte mit betrunkenen Glotzaugen, jeden Augenblick neu bereit, mit Menschen und Welt zu hauen und zu stechen. Die gedachten nun eines schönen Frühlingstages auch eine Wanderung ins Riesengebirge hinein und hinauf zu tun.

Ehrenreich Kluge und Christoph Sommer stelzten und stolperten mit den Stöcken fuchtelnd und brüllend, so daß ihr Lied von den Talhängen das Echo weckte, in die Agnetendorfer Engschlucht hinein. Sie sangen mit ihren vertrunkenen Kehlen einander akkompagnierend:

»Hermann, schla‘ Lärm an,
Laß piepen, laß trummen,
Der Kaiser will kummen,
Mit Hammer und Stangen,
Will Hermann ufhangen.«

So daß auch zwei Mägde, die einsam vor einen Pflug gespannt einen kleinen, abschüssigen Ackerstreifen rodeten, sich zurückbogen und ihnen hart hintendrein höhnten und lachten.

Und je wohliger die beiden Schwertfeger in der warmen Sonne den Bergweg stapften, je kühler sie die Luft aus dem weiten Bergkessel einsogen, desto toller gerieten sie in Galgenlaune. Verlangten sie wieder nach einem Feinde, der sich lohnte. Gaben dem Berggeist plötzlich die unziemlichsten, erbärmlichsten Namen. Und konnten sich nicht genug tun, immer wieder hinaus zu brüllen, daß sich der Herr der Berge wohl hüten würde, solchen erbarmungslosen Teufelsreitern, wie sie wären, seine verrufenen Späße vorzumachen.

Ihr rostiges, rauhes Gegröl scholl so vertrackt in das Brausen der Frühlingsbäche hinein, als könnten sie damit alle gurgelnden Bergstimmen übertönen…

Aber da flogen am glänzenden Frühlingshimmel schon Nebelfetzen.

Da kamen plötzlich auf ihrem Wege die winterlichen Blätterreste in Wirbelquirlen herangetanzt.

Da erwachten auch freche Pfiffe um die Waldstämme, wie aus den breitgerissenen Mäulern einer ganzen Herde Gassenjungen.

Und ehe die beiden hallunkischen Spötter nur noch einmal den blauen Himmel besahen, waren schon zwei Goldschlangen, als kämen sie von einem Baume hernieder, eine hinter der anderen, über den Waldboden und um ihre Beine herumgeschlüpft.

Da hätten sie wohl nur wie über ein entzündliches Feuerwerk rechts und links beiseite springen brauchen, wenn nicht in diesem einzigen Augenblicke auch schon ein ganzes Heer widerwärtiger, sinnverwirrter Fliegen um ihre Köpfe zu spielen begonnen.

Da gab es überhaupt keinerlei weiteres Besinnen.

Denn schon im nächsten Augenblicke brach kaum aus halber Baumhöhe wie aus vollen Eimern ein Wassersturz nieder.

Die beiden bunten Hänse standen unversehens in der dichtesten Finsternis.

Es verbreitete sich ein Donnergetümmel.

Es verbreitete sich in der höllischen, jachen Wetternacht ein derart stechender, pestischer Gestank, schlimmer wie dichtester Pulverdampf. So daß die beiden vom krampfhaften Husten und Niesen richtig wie geschüttelt waren. Aber schließlich besannen sie sich doch, daß sie alte, gediente Mordbrenner wären. Und versuchten neu die Mäuler zum Fluchen wieder aufzutun. Denn es war doch einen Augenblick wieder lichter geworden.

Da wurden die Regentropfen jetzt ganz groß und lang wie kleine Bologneser Glaskeulen. Begannen einzeln zu fliegen. Kamen immer jacher. Als wenn man ganze Scheunenböden solch harter Keulenkörner in den Lüften entleerte. Schlugen durch Harnischreste und Filzkleider derart durch, daß die beiden gleich bis aufs nackte Fleisch eisig trieften.

Hier war kein Entkommen weiter.

Von allen Seiten brausten schon unheimliche Geisterheere heran.

Sie mußten in aller verfluchten Teufelsgeduld unter einer furchtbaren, stockfinsteren Traufe stehen.

Dabei begannen jetzt sichtbar Goldkugeln am Himmel hin und her zu spielen, größer wie Bomben.

Die beiden Schwerenöter konnten sich wieder in einer wilden Feuerschlacht wähnen.

Und es wäre kein Ende ihres pitschnassen Grausens gewesen, wenn nicht einem jeden eine dieser großen Goldkugeln schließlich noch jach die Beine unterm Leibe weggerissen und ihn für eine Ewigkeit, so schien es, tot ins Waldgras hingebettet.

Da hat dann noch ein paarmal das erhabene Brausen und Branden des rübzählischen Gelächters von dem Grubenkessel her triumphierend widergehallt, als die beiden Kürassiers nur so als ausgeblasene Spottgeburten totenbleich und ohnmächtig im Waldmoose lagen, die Sperrmäuler in die alten Buchenwipfel aufgereckt.

Aber wie die beiden am Nachmittage wieder erwachten, war der Schwefelgestank im Walde verschwunden. Es roch frisch nach Harz und Baumknospen. Sonnenringel tanzten am Waldboden. Und ein grünfräckiger, alter Pantinengänger saß am Wege, um, wie es schien, eine Weile zu verschnaufen.

Der gutmütige Hudelkopf lachte die beiden pfütznassen Soldaten nur an.

Da konnten sich die beiden begossenen Lümmel zunächst nur langsam ermannen. Es schien ihnen noch immer, als wenn sie irgendwo als erhängte Strolche an einem Brunnenschwengel oder Buchenknorren gehangen und ihre blutdürstige Seele ausgehaucht hätten.

Jetzt freuten sie sich des demütigen Alten, der, zwei Kännchen voll Milch auf den Knien, vor ihnen auf einem Steine saß.

»Her mit deiner Milch. Hundsfott!« schrie Ehrenreich Kluge.

»Gerne«, sagte der hemdärmliche Bauer. »Nämlich es ist Gebirgskräutermilch, die macht hellsehend… deshalb kostet sie aber auch einen Golddukaten!«

»Mistbauer… halt die Fresse!« schrie Ehrenreich Kluge, der sich jetzt ermannte und aufsprang.

Aber auch Christoph Sommer, der sich fortwährend sein Narbenbein rieb, starrte nur lüstern in eine der Milchkannen.

»Willst wohl, daß ich dir gleich deine Hundsseele ausblase, Bulle!« schrie Christoph Sommer jähzornig.

Aber beide griffen doch gleichzeitig nach einem Golddukaten, deren ein jeder ein triefendes Ledersäckchen voll auf der Brust trug.

Denn der alte Bauer hatte nur wieder sehr pfiffige Augen gemacht.

Und andererseits hatten die beiden Kürassiers noch nicht einmal an ihre Pfeifen gedacht, die ihnen der Blitzschrecken aus den Mundwinkeln ins Gras geschleudert. Lechzten nur jetzt glotzäugig ein jeder nach einer Kanne voll Milch. Und ließen also je den blinkenden Goldtaler in der schwieligen Bauernhand ruhig einen Dukaten sein.

Gierten wie verhext ein jeder nur stier nach einer Kanne voll Milch. Und begannen auch sofort gierig zu saugen.

Da konnten sie saugen. Da hätten sie eine Ewigkeit saugen können.

Da versuchten sie die Kannen immer höher und höher in die Luft zu recken.

Da sogen sie wahrhaftig wie die ausgedörrten Verdammten in der glühenden Hölle.

Die Augen immer stierer gerötet im Kopfe.

Da sogen und sogen sie. Und sahen einander endlich an. Aber sie versuchten doch gleich von neuem zu saugen.

Sie hatten die Kannen jetzt ganz gegen den Himmel gestemmt.

Aber sie sahen einander nur wieder an.

Und dann sahen sie sich plötzlich auch um.

Da sahen sie es, daß der demütige Alte mit seinen Goldtalern längst schon in alle Winde gefahren war.

Hörten nur jetzt von der Bergwand sein allerniederträchtigstes Gelächter. Hatten da auch gleich die satanischen Milchkannen noch einmal mit einem einzigen jähzornigen Blicke gestreift. Hatten die Kannen ebenso entsetzt weit von sich geschleudert.

Hahahaha! Die Kannen hüpften einfach als eitel Felssteine in lustigen Sprüngen den Hang hinunter.

Da begannen sie wirklich mit Grund gegen Rübezahl loszuschreien:

»Du Sautopf… du gehenkter Habicht… du stinkige Spottlaus… du willst alte, ausgediente Kriegskameraden auf die Leimrute locken!«

Verschworen sich, daß sie nicht bloß neugeborene Kinder an die Häusermauern geschmissen und zehn Kaiserlichen auf einmal die Eingeweide aus dem Leibe gerissen, wie sie auch diesen niederträchtigen Berggeist an seinen Haderlumpen erwürgen und an den ersten besten Buchenast henken wollten.

So von frechstem Hohn und lästerlichstem Gelächter neu aufgestachelt, stolperten die beiden Kürassiere trotzig und stolz in die Schneegrube weiter.

Da kam ihnen eine vornehme, gräfliche Kutsche mit zwei jungen Isabellenpferden entgegengefahren. Hinten auf dem Trittbrett standen zwei riesenköpfige, reich vergoldete Pagen, die wunderlicherweise die Füße gleich am Leibe hatten.

Der vornehme Herr selber im gläsernen Wagen mochte wohl ein Kriegsoberst sein. Jedenfalls trug er einen sehr verächtlichen Blick zur Schau.

So daß die beiden Panzerreiter sich peinlich sofort erinnern mußten, ganz entsetzlich demoliert auszusehen. Fluchen und Tirilieren völlig vergaßen und nicht anders wähnten, als ob ein Bote des großen Schwedenkönigs von neuem jetzt ihren einsamen Bergweg kreuzte.

So begannen sie nur fortwährend eine tiefe Referenz zu machen.

Und weil der reichgekleidete Kriegsoberst sogleich halten ließ, um ihnen als wohlverdienten Soldaten je einen Beutel Goldes zu überreichen, dienerten sie nur ohn Unterlaß weiter bis fast auf die harten Steine am Wege, und fragten am Ende sehr demütig, wo man wohl hier des Weges auf das Gebirge hinauf käme?

Da hatte ihnen der barsche Kriegsoberst den Weg grade hinein in die Agnetendorfer Schneegrube gewiesen. Mit einem Schalksblick zu dem Zisterzienserpater hin, der im Wagen neben ihm saß. Und der ergraute Mönch hatte noch ausdrücklich dazu gesagt, sie möchten mit Gott wandern und nicht furchtsam sein. Und furchtsam sind natürlich Leute nie, die der Todesschrecken hundertmal aus Mannes- und Weiber- und Kinderaugen angestiert.

Also ging es noch eine Weile gegen die Schneegrubenwand vorwärts.

Dort gesellte sich den beiden, wie das Isabellengespann längst wie ein Sturmwind zu Tale gefahren war, auch noch ein kropfiger, kurzatmiger Dümmling, der wie jeder von ihnen eine Pfeife ins Maul eingepflanzt trug. Und der die wenigen Worte: »Er wüßte den Weg… er ginge denselben Weg fürbaß!« auch nur mit Tabaksqualme gleichzeitig ausstoßen konnte.

Nun ging es, der Dümmling vor ihnen oder bald über ihnen, felsan. In das Licht des Abends hinein, das von hoch oben den Hang niederfloß. – Ewig felsan.

Das hatte gar kein Aufhören.

Und nachdem sie so versunken lange geklettert waren, deuchte es jedem der Kürassiere, als wenn der bucklige, kropfige Kerl, der über ihnen ins Beerenkraut geklammert hing, plötzlich noch einen zweiten Buckel gegen das Licht bekäme, der meterlang in die Luft hineinwuchs.

Aber diese sonderbare Verschiebung ging in der Mühsal des Kletterns vorüber.

Später deuchte es Sommer wieder, als wenn der Dümmling eine Weile wie ein Riese ins Licht aufwüchse, von feurigen Zungen umflossen. Aber er sah den Trottel auch ebenso schnell wieder sich zusammenziehen, so daß er nur klein wie eine Ameise am Hange aufkroch.

Auch das vergaßen die beiden uniformierten Bergsteiger völlig, weil sie jetzt schon gehörig achtgeben mußten, keinen falschen Schritt zu tun.

Dann, wie sie weiter aufkrochen, begann dasselbe Spiel freilich auch mit den kleinen Stauden und Beerensträuchern vor ihnen, nach denen sie fortwährend greifen mußten, um wenigstens daran einen kümmerlichen Halt zu finden.

Die winzigen Büschel ragten gegen den hohen Abendhimmel oft ganz plötzlich so groß wie reiche, goldene Bäume. Obwohl sie auch ebenso rasch wieder zu den winzigsten Stöckchen zusammenschrumpften.

Nur wurde das alles immer toller.

Denn jetzt fing der ganze Hang vor ihnen wie mit kleinen, roten, warmen Feuerzungen zu brennen an. Und in den Lüften, die ihnen vom höchsten Absturz leise entgegenflossen, klang feines, lustiges Gelächter wie aus Kinderkehlen.

Und das Blut der beiden war vom Steigen schon fieberhaft erhitzt und voll Schrecken vor der Tiefe.

Es mußte jetzt felsan gehen.

Denn wenn sie unter sich in die Tiefe sahen, so lag der Grund längst jäh und fern.

Die Wiese tief unten mit dem großen Bergschatten, die riesigen Steinblöcke, Erle an Erle den Bach säumend, alles war jetzt zurückgeschwunden.

Ihre rufende Stimme zerflog leer wie ein jähes Echo.

Und wenn sie hochsahen, mußten sie es mit leiblichen Augen erleben, daß sich die schroffe Felswand bei jedem neuen Schritte immer hoffnungsloser in den Abendhimmel türmte.

Da fingen in ihnen an, alle Stricke neu zu zerreißen.

Da packte sie schon heimlich der Jähzorn.

Da begannen sie Verwünschungen gegen dieses Satansunternehmen zu dem kropfigen Dümmling hochzubrüllen.

Und der kropfige, huckige Trottel war bei diesem Satansunternehmen sogar sehr lustig geworden.

Er wußte offenbar in den Bergen Bescheid.

Er hatte sich eben auf die äußerste Spitze einer weitherausstehenden Felsnase behaglich mit den unheimlichsten Langbeinen baumelnd hinausgesetzt.

Er brüllte das Kriegslied in alle Lüfte:

»Hermann, schla‘ Lärm an,
Laß piepen, laß trummen,
Der Kaiser will kummen,
Mit Hammer und Stangen,
Will Hermann ufhangen.«

Und hing auch schon am letzten Fetzen seiner Lumpenkleidung von der Felszacke über dem Grunde. Zappelte schon zwischen Himmel und Erde. Schrie wie ein bösartiger Wechselbalg jämmerlich um Hilfe. Lachte dazwischen so höhnisch und hart, wie wenn Steine aufeinanderschlügen. Sang und brüllte von neuem.

Und ehe noch die beiden Schwartenhälse ihr blaues Wunder in den Berglüften sahen und in ihrem Schrecken die Pfeifen aus den Mäulern rissen, sauste auch schon der halunkische Kerl wie ein zusammengerollter Igel, aus allen Blasebälgen mit hundertstimmigem Ferkelgequiek und Brummbaßgezeter juchzend, zu Tale.

Da waren die beiden mit ihrer Geduld gegeneinander auch am Ende gewesen.

Da hatte sie gleich ihr toller Jähzorn völlig blind gemacht.

Da hatten sie nur noch ein tolles Brausen in den Ohren. Und schlugen schon mit ihren Fäusten und Pfeifenköpfen in sich hinein.

Begannen ein blutgieriges, sinnloses Sichbearbeiten.

Griffen Beerensträucher und Rollsteine vom Hange, um sie einander wütend in die Augen und an die Brust zu schleudern. Hatten einander mit Klammerarmen umgriffen, um sich unbarmherzig die Kehlen zu würgen.

Und es wäre ihrer gehetzten Wut kein Ende gewesen, wenn ihnen nicht Rübezahl einfach jetzt die Füße unterm Leibe noch vollends weggezogen, sie ebenso rasch ins tollste Rollen gebracht und sie zu hunderten Malen kopfüber purzelnd den Hang in ihrer wütenden Umkrallung unaufhaltsam hinabgerissen.

Da lagen sie unten, die Arme noch fest ineinander verklammert. Und wußten von sich und der Welt nichts mehr.

Sie hörten weder das feine Kinderstimmengelächter, das über Beerensträucher und Blumenköpfe noch immer lustig und leise wie das Piepen schlafender Vögel hinging. Noch hörten sie auch den großen Grünspecht lachen, in den sich der Dümmling unterdessen verwandelt hatte.

Die beiden Kürassiers sollen von ihrem Sturze, die Agnetendorfer Schneegrube nieder, völlig zur Besinnung erwacht sein. Wie sie die Augen endlich neu aufgerissen, schwuren sie einander sogleich, in friedliche Zustände heimzukehren. Nach dem großen Kriege waren männliche Hilfskräfte auf allen Gebieten sehr rar. So entschlossen sie sich ein jeder, in einem kleinen Gebirgsflecken Schulmeister zu werden, um der Welt auch noch etwas von ihrer Weisheit zugute kommen zu lassen.

Heimgekommen dachten sie freilich auch an den Goldbeutel, den einem jeden der vornehme Kriegsoberst aus der Glaskutsche ehrend herausgereicht, als der aus der Agnetendorfer Schneegrube gefahren kam. Aber auch der Beutel war unterdessen ganz leicht geworden. Sie fanden darin nur ganz unvergoldete Pferdeäpfel.

Parzival


Parzival

Parzival der reine Tor

Vorzeiten verließ Gachmuret, der Sohn des Königs von Anjou, den Hof seines Vaters und zog nach Ritterart in die Welt hinaus. Es widerstrebte ihm, dem äIteren Bruder, der Krone und Königreich erbte, als Vasall zu dienen. Die Freunde lobten Gachmurets ritterlichen Mut und seine unwandelbare Treue, die Frauen seinen edlen Anstand und den Adel seiner Sitten; die Feinde aber mußten seinen starken Arm anerkennen und fürchten.

Auf seinen riesigen Fahrten und Abenteuerreisen durchquerte Gachmuret die persische und arabische Wüste und kam gar bis nach Damaskus. Dann wieder verschlug ihn der Seesturm an die Küste Afrikas, wo er im ehrenhaften Rittersold der schönen Mohrenkönigin stand: er gewann ihre Minne und befreite ihr die Hauptstadt von der Belagerung zweier feindlicher Heere.

Aber trotz Ehren und Goldeslohn ließ die Abenteuerlust den tapferen Recken nirgends stetig verweilen. In der spanischen Stadt Toledo vernahm er von dem Ritterturnier, das die Königin Herzeleide ausgeschrieben hatte. Sie war eine Witwe von berühmter Schönheit und hatte dem Sieger ihre Hand und das Königszepter zum Lohne geboten. Da meldete Gachmuret sich zum Wettkampf, und keiner der vielen Bewerber konnte seiner ungestümen Kraft und Gewandtheit widerstehen: als Sieger errang er den ausgesetzten Preis.

Mehrere Jahre lebte er nun an der Seite der Königin. Unter seiner weisen Regierung blühte das Reich auf. Doch der ritterliche Tatendrang ließ Gachmuret nicht lange ruhen, und als der Kalif von Bagdad ihn in Kriegsnot anrief, zögerte er nicht, dem Freunde im fernen Morgenlande zu Hilfe zu eilen. Vergeblich suchte Frau Herzeleide ihn zurückzuhalten.

Nach qualvoller Wartezeit kehrte endlich als Bote aus dem fernen Morgenlande einer von Gachmurets Knappen in der Königsburg ein; im Kampf vor Bagdad hatte er den Rittertod gefunden.

Bald darauf brachte Frau Herzeleide ein Knäblein zur Welt, wohlgestaltet und stark an Gliedern. Sie gab ihm den Namen Parzival.

Ohne den starken Arm ihres Gatten war Frau Herzeleide machtlos. Der König des Nachbarreiches stieß sie vom Thron und raubte ihr Krone und Land. Da zog sie in die Einsamkeit des Waldes Soltane; nur wenig Gesinde nahm sie mit sich und ließ auf einer Lichtung ein einfaches Haus bauen, den Wald roden und das Feld beackern.

Die liebevolle Sorge der Mutter galt nun dem kleinen Parzival. In ihrem Groll gegen Krieg und Männerkampf, die ihr das Liebste auf der Welt genommen hatten, verbot sie ihren Dienstleuten bei strengster Strafe, dem Jungen gegenüber jemals ein Wort von Ritterschaft und ritterlichem Wesen verlauten zu lassen:

»Denn würde mein Sohn, mein liebstes Erbe des toten Gatten, vernehmen, was Ritterleben ist, so brächte es ihm und mir nur noch weiteres Leid!«

Die Dienerschaft handelte sorgsam nach den Befehlen der Herrin. Was Parzival an ritterlicher Übung verblieb, waren Bogen und Schießbolzen, die er sich mit eigener Hand fertigte, um die Vögel im Walde zu erlegen. Doch wenn das gefiederte Wild getroffen vor ihm lag, so packten ihn Mitleid und bittere Reue, und der Vogelsang in den Baumwipfeln ergriff ihn so sehr, daß er traurig den Tag verbrachte.

»Warum sollen denn die armen Vögel sterben?« fragte Parzival betrübt seine Mutter.

Da küßte sie ihn innig: »Wie sollte ich wohl etwas gegen den Willen unseres höchsten Gottes tun?«

»O Mutter«, rief er, »was ist denn das: Gott?« Und Frau Herzeleide antwortete: »Gott ist noch lichter als das helle Tageslicht, mein Sohn, dies merk dir als Lebensweisheit: Rufe ihn an in jeder Not; er wird dir immer getreulich helfen.«

Bald war Parzival Meister im Wurfspieß. Bei jedem Wetter war er auf der Jagd, und alle bewunderten seine männliche Körperkraft, wenn er das schwere Wild, an dem ein Maultier seine Last gehabt hätte, allein auf den Schultern heimtrug.

Als Jung-Parzival einst von der Pirsch heimkehrte, hörte er vor sich auf dem Waldpfade Hufschläge. »Wenn jetzt der Teufel käme«, sagte er bei sich und faßte den Wurfspeer fester, »wie wollte ich ihn im Kampfe bestehen!« Kampflustig stand der junge Held bereit.

Doch wie staunte er: Drei prächtige Gestalten jagten zu Pferde daher, herrlich in blanken Stahl gewappnet. Der junge Waidmann glaubte in seiner Einfalt allen Ernstes, jeder von den dreien sei ein Gott. Er warf sich mitten auf dem Wege auf die Knie. »Hilf, Gott!« rief er mit erhobenen Händen. »Du kannst wohl Hilfe spenden!«

Die drei Stahlgepanzerten waren Ritter des Königs Artus. Der erste wurde zornig über die Behinderung: »Du ungeschickter Tölpel«, fuhr er ihn an, »halt uns unsern Ritt nicht auf!« Mit verhängtem Zügel kam da ein vierter Ritter daher, noch glänzender gewappnet als die drei anderen.

Parzival stand wie im Traume. Noch nie hatte er soviel lichten Glanz geschaut. Er glaubte, Gott selber stehe vor ihm, von dem seine Mutter ihm so oft erzählt hatte, wenn sie ihn den Unterschied von Licht und Finsternis lehrte. Inbrünstig hob der Königssohn die Hände zum Himmel: »O hilf mir, hilfreicher Gott!«

»Ich bin nicht Gott«, gab der eine Ritter lächelnd zurück; »was du hier vor dir siehst, das sind vier Ritter, die in seinem hohen Dienst leben.«

»Du sagst: Ritter,« rief der junge Mensch; »so sag mir doch, wer denn Ritterschaft gibt!«

Die Ritter mußten über sein einfältiges Fragen lächeln. Der Vornehmste unter ihnen aber gab wieder geduldig Antwort: ,»Das tut unser König Artus. Kommt an seinen Hof, er wird Euch den Wunsch gern erfüllen.« Wohlgefällig blickten die vier auf den edlen Wuchs des Jungen, dessen königliche Abkunft unverkennbar schien.

Voller Neugier betrachtete Parzival Harnisch und Waffen der Ritter und weckte wieder ihr Lachen durch seine einfältigen Fragen. Panzerringe und Brünne, Harnisch und Schild – alles war ihm ja ganz unbekannt. Nachsichtig erklärten die Ritter ihm den Gebrauch von Schild und Schwert.

Der Knabe aber eilte in begeisterter Freude zur Mutter, um ihr von der erregenden Begegnung zu berichten. »Gib mir ein Pferd, Mutter«, bat er mit glühenden Wangen, »daß ich an König Artus, Hof ziehe, ein Ritter zu werden!« Die Königin, die alle ihre Mühe und Muttersorge so grausam zunichte sah, hörte von der Begegnung im Walde. Parzival erzählte von der glänzenden Erscheinung der vier Ritter, und die Mutter mußte mit Herzensbitternis erkennen, daß sie ihren Jungen nun doch nicht länger würde zurückhalten können. Da sann sie in ihrer sorgenden Mutterliebe auf Mittel und Wege, ihn schnell wieder von seinem Vorhaben abzubringen und zu ihr zurückzuführen. Sie wollte ihn so lächerlich ausstaffieren, daß er, vom Spott der Welt zurückgestoßen, gar bald umkehren würde.

So kleidete sie ihn in ein Gewand aus grobem Sackleinen, setzte ihm eine Narrenkappe auf den Kopf und gab ihm plumpe Schuhe aus ungegerbtem Kalbsfell, wie Gaukler sie tragen.

»Du sollst mit meinem mütterlichen Rat in die Fremde hinausziehen«, sagte sie und umarmte den geliebten Sohn inbrünstig. »So höre, was ich dir sage: Wenn du ohne Pfad daherziehst, so meide dunkle Furten; aber in die seichten und lauteren Furten kannst du kühn hineinreiten. Zum zweiten: Sei höflich gegen jedermann und entbiete jedem deinen Gruß! Zum dritten: Hab Achtung vor einem grauen Haupte und folge dem Rate des erfahrenen Alters! Und zuletzt: Wenn eine edle Jungfrau dir Ring und Gruß bietet, da greif getrost zu; ein Kuß in Ehren bringt gutes Glück. Und du sollst wissen, mein Sohn Parzival, daß du von königlichen Ahnen bist und daß es der hochfahrende Lähelin war, der dir dein angestammtes Erbe entrissen hat!«

»Das werde ich rächen!« rief Parzival entschlossen. »Mein Wurfspeer soll ihn zu Tode treffen!«

Da umarmte ihn die Mutter in Liebe. Er küßte sie zum Abschied. Doch als Jung-Parzival am Waldesrand ihren Blicken entschwand, sank Frau Herzeleide tot zur Erde; der Abschiedsschmerz hatte ihr das Herz gebrochen.

Inzwischen ritt der schöne Knabe fürbaß, ohne von dem Tode der geliebten Mutter zu wissen. Der Weg führte ihn an einen Bach, den wohl ein Hahn hätte durchschreiten können; aber weil das Wasser dunkel erschien, so achtete er das Wort der Mutter und mied den Übergang. Den ganzen Tag rit er am Ufer entlang und übernachtete schließlich im Freien, da er keine Furt finden konnte. Erst der helle Morgen zeigte das seichte Wasser so klar, daß er den Übergang wagte.

Bald darauf überquerte er eine Wiese, auf der ein Zelt stand; es war ganz aus kostbarem, dreifarbigem Sammet und mit feinen Borten verziert.

Behutsam wagte der Junge einen Blick in das Innere. Da sah er eine schlafende Frau, edel geformt war sie und liebreizend ihr Mund mit den leuchtenden Lippen. Es war Jeschute, die Frau des Herzogs Orilus.

»Wie hat mir die Mutter angeraten?« sagte Parzival leise zu sich. Er dachte an ihre Worte von Gruß und Ring, und unbekümmert schob er den Vorhang beiseite, gab der Schlafenden einen Kuß und zog ihr dabei den Ring vom Finger. Frau Jeschute mußte wohl wach werden von der unsanften Berührung. »Was erlaubt Ihr Euch, Junker, mein Gemach zu betreten und mich durch Euren Kuß zu entehren?« fuhr sie voll Zorn und Scham auf.

Doch Parzival kümmerte sich nicht um ihren Unwillen. »Meine Mutter lehrte mich so«, versetzte er; »und außerdem habe ich Hunger.« Da mußte die Herzogin trotz aller Kränkung lächeln. »Dort auf dem Tisch findet Ihr Brot und Wein und auch zwei zarte Rebhühner, die meine Dienerin mir brachte.«

Da setzte der ungebetene Gast sich zum Mahl und trank auch reichlich von dem Wein. Schamgefühl und der Gedanke an den Herzog ließ Frau Jeschutes Herz ängstlich schlagen: »Junker«, bat sie, »gebt mir mein Ringlein zurück und zieht eilig Eures Weges! Trifft der Herzog Euch hier an, so wäre es sehr zu Eurem Schaden!«

Doch Parzival war unbesorgt. »Was sollte ich mich wohl vor dem Zorn Eures Gemahls fürchten, edle Frau? Wenn ich aber Eurer Ehre Schaden antue, so will ich Euch gern zu Willen sein und meines Weges gehen!« Entsetzt wich die Herzogin zurück, als er ihr zum Abschied wieder einen Kuß raubte. »Der Kuß einer edlen Frau bringt Glück, hat mich meine Mutter gelehrt«, so sagte er treuherzig, grüßte Frau Jeschute ehrerbietig und ritt davon. Er freute sich, den Rat seiner Mutter so trefflich befolgt zu haben.

Bald kehrte der Herzog zu ihr zurück, und an dem niedergetretenen Gras erkannte er nur zu deutlich, daß Frau Jeschute Besuch gehabt hatte. »Hab ich das um dich verdient«, fuhr er sie zornig an, »daß du mir solche Schande antust?«

Mit Tränen in den Augen leugnete die Frau jede Schuld. Und ängstlich berichtete sie von dem närrischen Besucher, der ihr gegen ihren Willen Ring und Kuß geraubt und zu essen begehrt habe. Aber sie konnte doch nicht unterlassen, seine edle Erscheinung zu loben: »So viel Junker ich kennengelernt habe, nie sah ich solche Jugendschönheit!«

Dies unbedachte Wort weckte natürlich die Eifersucht des Herzogs noch mehr. In seinem ritterlichen Zorn schwur er, den elenden Verführer zu züchtigen, wo er ihn antreffe. Jeschute aber wollte er hinfort nicht mehr als sein Ehgemahl achten. »Mögen deine roten Lippen blaß werden und deine Augen rot vom Weinen – ich werde dich für deine Untreue strafen. Als Magd sollst du mir folgen auf einem dürren Klepper; und statt des kostbaren Zügels sollst du einen bastgedrehten Strick führen!«

Ohne die Tränen der Unglücklichen zu achten, rüstete der Herzog zum Aufbruch und befahl der verstoßenen Gattin, ihm zu folgen. Welches Herzensleid hatte Parzival ihr durch seine Unbedachtsamkeit gebracht!

In grimmigem Haß ritt der Herzog der Fährte nach; aber der harmlose Knabe, der die Verfolgung nicht ahnte, war nicht mehr aufzuspüren. Unbefangen zog er seines Weges. Wer seinen Weg kreuzte, den grüßte er höflich und setzte hinzu: »So hat es mich meine Mutter gelehrt.«

Vor einem Felsabhang hörte er plötzlich die Stimme einer Jungfrau, die schrie verzweifelt. Sie saß am Bergeshang und hielt in ihrem Schoß einen toten Ritter.

Voll Mitleid trat Parzival näher und grüßte höflich, wie ihn seine Mutter gelehrt hatte. »Gott schütze Euch, edle Jungfrau«, rief er ihr zu. »Sagt mir doch, wer dem Ritter ein Leid zufügte. Wenn ich Euch nützlich sein kann, bin ich gar gern erbötig, für Euch einzutreten.«

»Ich sehe, daß Ihr ein ritterliches Herz habt, Junker«, erwiderte sie zaghaft; »so hört: Dieser Ritter, um den ich traure, war mein Verlobter. Er wurde vom Herzog Orilus erschlagen. Doch ehe ich weiterspreche, sagt mir, wer Ihr seid! Ihr scheint mir treue Eltern zu haben, daß Ihr so liebevoll Anteil zu nehmen wißt.«

Parzival erkannte in ihr Sigune, die Schwestertochter seiner Mutter. »Liebe Base«, sagte der Junge voll Zorn und Mitleid; »ich werde dich an dem Herzog Orilus rächen. Zeige mir den Weg, den er geritten ist, so will ich ihn sogleich zum Zweikampfe stellen!«

Aber der Jungfrau war es schon leid, seine Kampfeswut geweckt zu haben, denn sie mußte ja fürchten, der unerfahrene Junge würde den Kampf gegen den grimmen Ritter nicht bestehen. So wies sie ihm den falschen Weg.

Parzival aber machte sich voll Eifer an die Verfolgung und ritt die Straße, die ins Bretonenland führt. Und wer seinen Weg kreuzte, ob Ritter oder Kaufmann, den grüßte er mit höflichem Gruß und setzte arglos hinzu: »So hat mich’s meine Mutter gelehrt.«

Gegen Abend kam der Junge, müde von dem langen Ritt, vor eine armselige Fischerhütte und bat um Obdach. Aber der Fischer, ein grober Geizhals, wollte ihn mit barschen Worten von der Tür weisen. Erst als Parzival ihm Frau Jeschutes Ring zum Lohn bot, wurde der ungefällige Mann gefügig. »Willst du mir morgen früh den Weg an den Königshof weisen, wo König Artus Tafelrunde hält«, setzte der Jüngling hinzu, »so soll dieser goldene Ring dein Eigentum sein.«

So kam Jung-Parzival vor die Stadt Nantes ins Reich des Königs Artus.

Vor der Stadt begegnete ihm ein Ritter, dem er freundlichen Gruß bot. Die Antwort war gleicherweise freundlich: »Gott lohn es Euch, Junkerlein!« Parzival hielt seinen Klepper an und betrachtete verwundert den riesigen Mann. Rot war seine Rüstung und rot sein Roß; auch der Kopfschmuck des Pferdes und die samtene Satteldecke waren von glänzendem Purpur und der Schild rot wie Feuer.

Es war Ither von Gahawieß, den man den roten Ritter nannte, König Artus‘ Vetter. In seiner Faust hielt er einen goldenen Becher, den er von des Königs Tafel genommen hatte.

Mit Wohlgefallen blickte er auf den schönen Jüngling. »Wollt Ihr in die Stadt dort«, sagte er, »so tut mir den Gefallen, dem König und seinen Mannen eine Botschaft von mir zu überbringen. Ich lebe mit ihm im Streit um mein Erbland.«

Parzival willigte gern ein.

»So sagt dem König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde, der rote Ither habe nicht im Sinne, von seinem angestammten Rechte zu lassen. Meldet ihm, daß ich zum Zeichen meiner Besitzrechte den goldenen Becher von der Tafel an mich nahm und daß ich gewillt bin, für meine Rechte mit dem Schwerte einzustehen!«

Parzival versprach, die Botschaft treulich zu überbringen.

Er trabte wohlgemut in die Stadt hinein. Doch sein wunderlicher Aufzug erregte überall Aufsehen; man begleitete ihn mit lauten Spottrufen, daß er sich nur mit Mühe seinen Weg bahnte. »Komm, Junker, ich helfe Euch«, stellte sich ihm da freundlich ein Jüngling zur Seite; es war Iwein, ein Knappe von Artus, Hofe, der sich seiner hilfreich annahm und ihn zum Königsschloß geleitete.

Bei dem Anblick der vielen reichgeschmückten Ritter rief Parzival ganz verwundert: »So viele Artusse sehe ich hier! Welcher von ihnen ist denn nun der richtige, der mich zum Ritter schlagen wird?« Die Ritter alle lachten über seine Einfalt. Man führte den Jüngling in den Palast, wo die edle Hofgesellschaft, König Artus‘ berühmte Tafelrunde, versammelt saß.

In die frohe Festesstimmung hinein rief Parzival unbekümmert seinen Gruß: »Gott schütze Euch, Ihr edlen Ritter, und besonders Euch, Herr König, mit Eurer hohen Gemahlin!« Und wie immer setzte er treuherzig hinzu: »So hat es mich meine Mutter gelehrt.«

König Artus blickte den jungen Menschen, der gekleidet war wie ein Gaukelspieler und gewappnet wie ein Strauchdieb, verwundert an. »Ich überbringe eine Botschaft«, rief Parzival: »Ein roter Ritter, Ither mit Namen, läßt dem König Artus seinen Gruß entbieten und ihm vermelden, er warte draußen vor dem Stadttor mit einem goldenen Becher auf den, der ihm sein Erbrecht streitig zu machen bereit sei.«

Das Lächeln, mit dem die Ritterrunde Parzivals Begrüßungsworte aufgenommen hatte, war ihr schnell vergangen. »Mir scheint wohl« setzte der Junge ruhig hinzu, »er will mit einem von Euch kämpfen. Wie gerne gewänne ich selber die prächtige Rüstung dieses edlen Ritters.«

Nur unwillig gab der König seine Zustimmung, daß Parzival selber den Kampf mit dem kühnen Herausforderer übernähme. Bekümmert blickte er den Jungen an: »Die Rüstung, die Ihr begehrt, trägt der tapferste Ritter. Ach, wüßtet Ihr, wie sehr sogar ich selber meinen ungestümen Neffen fürchten muß!«

Doch Parzival war zum Kampf entschlossen. Mit dem Sieg erstrebte der unerfahrene Knabe den Besitz der Ritterrüstung und den Ritterschlag aus der Hand des Königs Artus.

Alle Ritter der Tafelrunde waren voller Spannung über den Ausgang des Kampfes. Auch die Königin mit ihrem Gefolge begab sich ans Fenster, um das Schauspiel zu erleben. Unter den Damen saß die stolze, schöne Frau Kunneware, des Herzogs Orilus Schwester; sie hatte ein Gelübde getan, nie zu lachen, bis sie den Mann erblickte, dem es bestimmt sei, den höchsten Heldenruhm zu erwerben. Als sie den kühnen Junker in dem narrenhaften Gewand vorüberreiten sah, da lachte sie plötzlich hell auf.

Das verdroß Herrn Keye, den Oberhofmeister, so sehr, daß er sie zornig bei ihren langen Flechten packte und ihr mit seinem Stab derb über den Rücken schlug. Erschrocken blickten alle auf den Rohling, der sich so hatte hinreißen lassen, die edle Fürstin zu schlagen.

Der junge Parzival war Zeuge der Schmach, die der Dame um seinetwillen widerfuhr. Der Wurfspieß zuckte ihm in der Hand, für die Übeltat sogleich Rache zu üben. Aber um der Königin willen verschob er die Vergeltung auf spätere Zeit.

Ungeduldig wartete Ither indessen vor dem Tore auf den Helden, der ihm sein Recht streitig machen wollte. Wie staunte er, als Parzival auf seinem elenden Klepper ihm entgegenritt!

Der rote Ritter fand natürlich nur Spottworte für Parzivals kecke Herausforderung. Parzival ließ sich nicht abweisen und bestand auf seinem kühnen Anspruch. Er verlangte Rüstung, Waffen und Pferd des roten Ritters. Als er kühn Herrn Ithers edles Roß beim Zügel packte, stieß dieser zornig den Jungen mit umgekehrtem Lanzenschaft vom Gaule, daß er rücklings ins Gras fiel. Aber schon stand Parzival auf den Füßen, schleuderte seinen Wurfspieß und traf in des Ritters Eisenhelm so geschickt die Spaltöffnung im Visier, daß die Waffe tief ins Haupt eindrang. Ither sank tot zu Boden.

Mit dem jungen Sieger waren alle Zuschauer überrascht über den schnellen Sieg. Ein Knappe half Parzival, den Besiegten zu entwaffnen.

Schnell zog er die prächtige Rüstung des Besiegten über sein sackleinenes Narrengewand, legte die Beinschienen an und schnallte die Sporen fest.

Behende schwang sich der Junge auf das edle kastilische Roß seines toten Gegners. »Wie prächtig Ihr erscheint in Eurer Rüstung und auf dem edlen Streitroß, Junker«, rief der Helfer entzückt; »nie sah ich ein so schönes Bild eines Ritters!«

So wurde Parzival zum Ritter. Frohgemut ritt er in die Welt hinaus. Es drängte ihn, neue Abenteuer zu erleben.

Gegen Abend sah der Reiter von ferne die Zinnen einer Burg im Sonnenglanz leuchten. Der Burgherr selber, der Ritter Gurnemanz, saß im Schatten einer Linde auf grünem Anger davor und blickte dem Ankömmling entgegen. Er war im Lande wegen seiner Lebenserfahrung und Altersweisheit und wegen seiner ritterlichen Tugenden geachtet und geehrt.

Parzival grüßte ihn nicht nach Ritterart. »So hieß mich meine Mutter tun«, sagte er dabei, und er setzte hinzu: »Und sie gebot mir, ein greises Haupt zu achten und die weisen Lehren des Alters anzunehmen. So bitte ich Euch um Euren Rat; ich werde ihm gerne gehorchen.«

»Ich will Euch zu Willen sein«, erwiderte der Alte freundlich, »sofern Ihr meinen Worten folgen wollt.« Damit nahm er seinem Sperber, den er auf der Faust trug, die Kappe von den Augen und warf ihn empor; hell klang die goldene Schelle, als das Tier sich durch die Luft schwang und als Bote zur Burg hinüberflog. Dort standen Ritter zu Parzivals Empfang bereit und nötigten ihn, vom Pferde zu steigen.

Aber der einfältige Parzival, dem ritterliche Art ganz fremd war, wollte davon nichts wissen. »Seit König Artus mich zum Ritter machte, muß ich zu Pferde sein und darf nicht absteigen.« Erst mit freundlicher Nötigung brachten sie den reisemüden Gast dazu, aus dem Sattel zu steigen und in die Kemenate zu treten. Wie staunten sie, als sie unter dem schweren Panzer die Narrenkleider und die groben Bauernstiefel erblickten!

Mit freundlicher Nachsicht redete Gurnemanz dem unerfahrenen Jüngling dann zu. Parzival, der einfältige Tölpel, der bisher jedes Gebot seiner Mutter in treuherziger Wörtlichkeit aufgefaßt hatte, lernte in den Tagen, da er bei Gurnemanz zu Gaste war, feine Ritterart und gottgefälliges Leben, das den Menschen zum Seelenheil führt.

»Die Art, wie Ihr von Eurer Mutter redet«, belehrte ihn der Alte, »erhöht nicht Eure Ritterehre. Bewahrt Euch edle Scham! Das ist mein zweites Gebot an Euch. Schamlosigkeit führt den graden Weg zur Hölle. Nach Art und Haltung taugt Ihr wohl zum Ritter. Vergeßt dabei aber nicht das Hauptgebot ritterlicher Pflicht: Habt Erbarmen mit den Bedrängten! – Auch Milde und Güte zu erweisen ist Ritterpflicht! – Bewahrt Euch stets ein demütiges Herz und helft dem schuldlos Verarmten! – Der weise Mann versteht den rechten Mittelweg einzuhalten zwischen Geiz und Verschwendung!«

Parzival hörte schweigend zu. Wohl erkannte er, daß des Alten Worte aus weiser Erfahrung und aus mitfühlendem Herzen gesprochen wurden, und er war ehrlich bestrebt, die Lehren anzunehmen.

»Ich habe bemerkt, daß Ihr Belehrung braucht«, fuhr der Alte fort. »So hört mich weiter: Ich rate Euch, laßt das unziemliche Daherreden und haltet Eure Gedanken in Zucht.

Fragt nicht zuviel! Und wenn man an Euch Fragen richtet, so antwortet bedächtig und überleget wohl! Im ritterlichen Kampfe sollt Ihr tapfer streiten – und großmütig verzeihen. Dem Gegner, der sich ergibt, gewähret ritterlich Schonung. Und achtet auf alles, was höfische Sitten, Zucht und Anstand gebieten; vergeßt nicht, Euer Äußeres nach ritterlichen Formen zu pflegen, so wie wir es den Frauen schuldig sind! – Ja, ehret und liebet die Frauen! Die edle Minne hütet sich vor allem Falsch; nur sie erhöht und erhebt des Menschen Leben.«

Parzival dankte dem weisen Alten für seine tiefen Lehren und nahm sich alle ernstlich zu Herzen. Mit großer Freude folgte er nun Gurnemanz, Unterweisung im ritterlichen Zweikampf; der Alte erwies sich als ein trefflicher Lehrer in der kunstgerechten Führung der Waffen. Unermüdlich nahm er den Gast mit auf den Turnierplatz und ließ ihn sich mit seinen Leuten fleißig üben.

Im Tjost, dem ritterlichen Zweikampf, mit Herrn Gurnemanz, Rittern durfte Parzival beweisen, wie schnell er die Unterweisung angenommen hatte. Fünf Ritter, die gegen ihn anritten, hob er so leicht aus dem Sattel, daß jeder seine Gelehrigkeit anerkennen mußte und Gurnemanz ihm alles Lob zollte.

Aber bald trieb es ihn zu neuen Abenteuern hinaus in die Welt. Gurnemanz hörte mit großer Betrübnis seine Bitte, Abschied nehmen zu dürfen.

Mit Tränen in den Augen reichte er dem liebgewordenen Freunde die Hand und sah ihn bekümmert von dannen reiten.

Gedankenverloren ritt Parzival seinen Weg. Er fühlte, wie sein Herz von Gefühlen zerrissen war, für die er nicht Namen noch Inhalt wußte. War es, weil er sein kindliches Gemüt abgelegt hatte?

In solcher Stimmung ließ er dem Pferd die Zügel und achtete nicht, wohin es ihn durch die pfadlose Einsamkeit führte.

Über Berg und Tal ging es, durch unwegsame Gebirgsketten und waldige Einöde, bis ein reißender Fluß den Weg hemmte. Der Abend legte sich schon mit feinem Schleier über die Landschaft, und Parzival folgte dem Laufe des Flusses, bis er im Scheine des Abendrotes am anderen Flußufer eine vieltürmige Stadt auftauchen sah. Es war Belrapeire, die Stadt der Königin Kondwiramur.

Über den Fluß führte eine Brücke aus leichtem Flechtwerk, und sechzig Ritter mit aufgebundenen Helmen sicherten sie und wollten dem Fremden den Übergang wehren, denn sie glaubten, er stehe im Bündnis mit Klamide, der die Stadt ihrer Herrin belagerte.

Größte Not herrschte unter den Belagerten. Welches Bild des Jammers bot sich dem Fremden, als er durch die Straßen ritt! Überall erblickte er gewappnete Ritter, aber welches Bild des Jammers boten all die Männer, die zur Verteidigung ihrer Stadt angetreten waren! Schlaff und kraftlos schlichen die Bürger unter der Last ihrer Waffen daher, und die Ritter, die dem Ankömmling entgegentraten, waren bleich und abgezehrt.

Ja, in der Stadt herrschte Hungersnot, denn alle Zufuhr war ihr durch das feindliche Belagerungsheer abgeschnitten.

Neue Hoffnung erfüllte die armen Stadtbewohner, als sie den kraftstrotzenden Recken begrüßten, der freiwillig in den Dienst ihrer bedrängten Stadt trat. Parzival ließ sich zum Schlosse führen, wo ihn die jungfräuliche Königin Kondwiramur empfing. Aber welches Gefühl ergriff ihn, als er die herrliche Erscheinung sah! Nie zuvor, so meinte er, hatten seine Augen so viel Frauenschönheit erblickt. Lichter Glanz, so schien es ihm, ging von ihr aus. Von zwei Herzögen ihres Landes geleitet, trat sie dem jungen Ritter entgegen, küßte ihn in züchtigem Anstand auf die Stirn und führte ihn in den Saal. War es die Ritterlehre des greisen Gurnemanz, die ihn schweigen ließ, oder nahm ihm Kondwiramurs Schönheit jede Sprache, Parzival redete kein Wort. »Ob ich ihm wohl mißfalle, weil ich so verhungert aussehe?« dachte die Königin befangen.

Schließlich brach sie das Schweigen, das lastend werden wollte: »Edler Ritter, als Hausherrin habe ich Euch den Willkommensgruß gegeben. So will ich als Herrin der Stadt auch das erste Wort sprechen. Wie mir eine meiner Frauen berichtet, habt Ihr mir Euren Beistand verheißen. Solches Angebot wurde mir in meiner bedrängten Lage noch niemals gemacht. So sagt mir, wer Ihr seid und von wo Ihr kommt!«

Parzival nannte seinen Namen und berichtete von seinen Erlebnissen: ,»Heute morgen, Frau Königin, ritt ich von der Burg des edlen Gurnemanz fort, wo ich mehrere Tage als Gast geweilt habe.« Mit Staunen hörte Frau Kondwiramur seine Worte: »Einen anderen, edler Ritter, würde ich für solche Worte der Lüge zeihen; denn ein jeder meiner Boten, und ritt er auch das schnellste Roß, benötigt für diese Wegstrecke wenigstens zwei volle Tage! Doch sagt, wie geht es meinem lieben Oheim? Ihr müßt nämlich wissen, daß meine Mutter Herrn Gurnemanz, Schwester war. Seid Ihr mit ihm Freund, so sollt Ihr auch mir hoch willkommen sein.« Parzival dankte ritterlich für die Aufnahme. Aber zum Nachtmahl wollte er sich nicht einladen lassen. »Der geringen Reste, die Ihr noch besitzt, will ich Euch nicht berauben, Frau Königin«, sagte er. »Verteilt es lieber an die armen Leute, die vor Hunger umkommen. Für uns beide wird eine Scheibe Brot genügen.«

Dankbar folgte die Königin seiner Weisung. Hoffnungsfroh, daß seine Ankunft das Schicksal ihrer bedrängten Stadt wenden würde, teilte sie mit ihm ihren letzten Bissen Brot und ließ ihm sodann im Fremdengemach ein prächtiges Bett herrichten.

Schnell war der müde Gast eingeschlafen.

Kondwiramur lag auf ihrem Ruhebett und blickte mit starren Augen in die schwarze Dunkelheit. Die Sorge um ihre Stadt lastete ihr schwer auf der Seele und ließ sie keine Nachtruhe finden. Würde sich die neuerwachte Hoffnung erfüllen, daß Parzival den Belagerern Trotz bieten könnte?

Gegen Mitternacht hielt es sie nicht länger auf dem Lager, über ihr seidenes Nachtgewand zog sie einen samtenen Mantel, schritt leise an ihren schlafenden Kammerfrauen vorbei auf Parzivals Kemenate zu und öffnete behutsam die Türe. Ihr Fuß stockte in jungfräulicher Scham, aber dann ging sie entschlossen auf Parzivals Ruhebett zu und kniete schweigend vor ihm nieder.

Parzival fuhr erschrocken auf. »Kommt, setzt Euch zu mir!« sagte er dann und hob sie auf.

Da nahm sie voll Befangenheit an seiner Seite Platz und berichtete von ihrer bedrängten Lage. Sie wurde nach dem Tode ihres Vaters vom König Klamide zur Frau begehrt, und weil sie sich weigerte, belagerte er nun ihre Stadt und hatte viele ihrer kühnen Ritter erschlagen.

»Ach«, rief sie voller Verzweiflung, »welche Hoffnung gibt es noch für mich Arme!«

Parzival hatte schweigend der Klage zugehört. Aber sein Herz war voll Mitleid, der schönen Königin zu helfen. »Sagt, edle Herrin«, rief er entschlossen, »was ich Euch zum Trost und zur Rettung tun kann! Und seid versichert, in mir einen treuen Helfer zu finden!«

Unter Tränen gab Kondwiramur ihm Antwort: »Wenn Ihr mich erlösen wolltet von dem schrecklichen Kingrun, Herrn Klamides Seneschall. Morgen kommt er wieder vor meine Burg und meint, mich endlich in die Arme seines Herrn zu zwingen.«

Parzival war ganz gefangen vom Liebreiz der Königin. »Vieledle Herrin«, versetzte er schlicht, »seid versichert, daß Ihr in mir einen Helfer habt gegen jeden Eurer Feinde!«

»Welch Trost sind mir Eure Worte«, rief sie beglückt; »habt innigen Dank, Herr Ritter!« Dann schlich sie leise in ihr Schlafgemach zurück. Niemand hatte den nächtlichen Besuch bemerkt.

Parzival aber konnte nicht wieder einschlafen; zu sehr bewegten ihn die Worte der schönen Königin.

In aller Frühe verlangte Parzival nach seinem Harnisch und ließ sich wappnen. Schon zeigte sich der grimme Kingrun vor dem Tore. Weit ritt er Klamides Heere, das mit vielen Streitbannern drohend heranrückte, voraus. Ohne Zaudern sprengte Parzival dem furchtbaren Gegner entgegen.

So wuchtig war der Anprall, daß die Pferde mit geborstenen Gurten und Bauchriemen zu Boden sanken. Behende aber sprangen die Ritter aus dem Sattel, zogen das Schwert und setzten den Kampf zu Fuß fort.

Es war Parzivals erster Schwertkampf. Doch er zeigte, was er bei Ritter Gurnemanz gelernt hatte. Seine Schwerthiebe trafen den Seneschall so wuchtig wie Würfe einer mächtigen Steinschleuder. Parzival bezwang ihn nach bitterem Kampfe und setzte ihm den Fuß auf die Brust, doch Herr Kingrun bat um sein Leben. »Ich biete Euch als Sühne, was Ihr verlangt«, rief er, und Parzival, der nicht nach Rache strebte, gewährte sie ihm. Er gebot ihm, an König Artus, Hof zur Jungfrau Kunneware zu gehen, die einst um Parzivals willen von dem Seneschall Keye so gröblich beleidigt war. »Sagt der edlen Jungfrau«, fügte er hinzu, »sie werde mich nimmer froh sehen, bis ich jene üble Tat gerächt und dort einen Schild durchbohrt habe!«

König Klamides Ritterheer ließ nach diesem Siege über den stärksten Streiter sogleich von weiteren Angriffen ab. Bejubelt von den Bürgern der Stadt, kehrte Parzival zurück. Alle riefen laut, der Heldenjüngling solle die Hand der jungen Königin erwerben und Krone und Reich in seine männliche Gewalt nehmen.

Freudig begrüßte ihn auch Kondwiramur, umarmte ihn vor allen Leuten und half ihm selber, Waffen und Harnisch abzulegen. »Nie auf Erden will ich eines anderen Weib werden als dessen, den ich hier umarmt habe«, sagte sie mit glückseligem Lächeln.

Da zeigten sich zwei braune Segel auf dem Meere, und schnell trieb der Wind zwei mächtige Kauffahrteischiffe in den Hafen; der Sturm hatte sie dorthin verschlagen. Zwei Schiffe, voll beladen mit Lebensmitteln! Gott selber machte es in seiner Weisheit so gefügt haben.

Parzival bot den Kaufleuten doppelten Preis für die Habe und sorgte für gerechte Verteilung an die hungernde Bevölkerung. Er selber überwachte fürsorglich, daß jeder zu seinem Recht kam. Unter inniger Anteilnahme der ganzen Stadt wurde sodann die Hochzeit des jungen Paares gefeiert.

Parzival war jetzt Ehegatte der schönen Kondwiramur und König von Belrapeire.

Der grimme König Klamide wollte die Unglücksbotschaften nicht glauben, die ihm von Kingruns Besiegung berichteten. Er war tief bedrückt über die Mutlosigkeit seines Heeres und wagte keinen neuen Angriff.

Parzival ließ die Tore zu einem Ausfall öffnen und stritt allen tapfer voran. Bald gelang es ihm, den König selber, der seiner jungen Gemahlin soviel Leid zugefügt hatte, zum Zweikampf zu stellen. Der Sieg in diesem Streit der beiden Könige, so wurde nach Ritterart vereinbart, sollte über den Ausgang des ganzen Krieges entscheiden.

Auch hier erwies sich Parzival als der Überlegene. Klamide hatte nicht die Ausdauer des starken Parzivals. Schließlich traf ihn ein so mächtiger Schwertstreich, daß er zu Boden stürzte und Parzival ihm den Helm vom Kopfe riß. Der Besiegte erwartete den Todesstreich.

Doch Parzival schonte in seinem Edelmut auch diesen Besiegten. Er gab auch ihm auf, an König Artus, Hof zu ziehen und sich der Jungfrau Kunneware als besiegt zu stellen. »Und sagt dem Seneschall Keye«, fügte er hinzu,»daß meine Rache nicht auf sich warten lassen wird.«

So war das Land von der lastenden Belagerung befreit.

Die beiden Besiegten ritten nach Parzivals Gebot an den Artushof in die Bretagne und richteten der Jungfrau Kunneware getreulich den Sühnebefehl ihres Besiegers aus. Wie staunte man dort über Parzivals Waffenerfolge!

Der junge König wußte die Krone mit Würde und in Ehren zu tragen. In kurzer Frist blühte das Land unter seiner weisen und kraftvollen Regierung wieder auf. Mit seiner schönen Gemahlin lebte Parzival in der glücklichsten Ehe. Kondwiramur hing mit inniger Liebe und Bewunderung an ihm.

Doch für Parzival konnte die heitere Ruhe nicht von Dauer sein. Es drängte ihn hinaus auf Abenteuer. Traurig ließ Kondwiramur den geliebten Gatten ziehen.

Auf der Gralsburg

Wieder überließ er dem Pferde den Zügel und ließ sich durch Wildnis und pfadloses Moor tragen. Als der Abend herabdunkelte, kam er an einen See. Dort ankerten Männer in Ufernähe, die auf Fischfang ausgingen und Wasservögel jagten. Parzival rief sie freundlich an. Es war einer unter ihnen, der hob sich durch seine Kleidung auffällig heraus. Er trug eine Pfauenfeder am Hute und auf dem Jagdrock prächtigen Pelzbesatz. Ihn fragte der fahrende Ritter, wo er für die Nacht wohl Herberge finden könne. Mit tiefer Traurigkeit gab der Gefragte Antwort: »Soviel mir bekannt ist, Herr, gibt es in dreißig Meilen rundum keine andere menschliche Behausung als eine feste Burg. Sie liegt dort hinter jenem Felsvorsprung. Wenn Ihr vom Burggraben aus um Einlaß bittet, so wird man Euch die Zugbrücke herablassen.«

Der Sprecher war der Burgherr selber.

Parzival folgte der Weisung und wurde gastfrei aufgenommen. Man bereitete ihm ein Bad und reichte ihm weiche Hauskleidung aus Seide. Als dann gemeldet wurde, der Burgherr sei zurückgekehrt, bat man den Gast zum Mahle.

Der Rittersaal erstrahlte in blendender Helle der Kronleuchter und der Kerzen. An den Wänden standen hundert Ruhepolster, die Platz für je vier Ritter boten. In drei marmornen Feuerstätten mitten im Saal strahlte wohlriechendes Holz einen milden Schein aus. Dort hatte sich der Burgherr auf seinem Ruhebett niedergelassen. Er begrüßte den Gast freundlich.

Welch ein Gegensatz war zwischen den beiden! Der kranke Ritter, obwohl in kostbare, pelzbesetzte Gewänder gehüllt, schien noch siecher, sein Antlitz noch gramvoller, als Parzival es am See bemerkt hatte. Und vor ihm stand der strahlende Recke in aller Fülle seiner Jugendkraft und Mannesschönheit, daß alle Ritter voller Bewunderung auf ihn blickten.

Auf einmal öffnete sich eine Tür, und ein Knappe trat ein. In der Hand trug er einen Speer, an dessen Schaft Blut herabtroff. Lautes Wehklagen erscholl nun durch den weiten Saal, als der Knappe mit der blutbedeckten Waffe an allen Rittern vorbeischritt; in tiefer Trauer hielten sie das Haupt gesenkt, bis er den Saal wieder verlassen hatte.

Parzival stand voll Staunen und blickte stumm auf die feierliche Handlung.

Da öffnete sich auf der anderen Seite des Saales eine stählerne Tür, und vier liebliche Jungfrauen, goldene Leuchter in den Händen, kamen herein. Schweigend setzten sie zwei Bänklein von Elfenbein vor dem Burgherrn nieder.

Es folgten vier Frauenpaare, köstlich in grünen Samt gekleidet. Sie trugen Kerzen und legten eine Tischplatte aus funkelndem Granat auf die elfenbeinenen Bänkchen vor den Burgherrn. Schweigend rückten die Jungfrauen dem Siechen den Tisch zurecht, verneigten sich tief und traten zurück.

Wieder öffnete sich die Stahltür: sechs schöne Jungfrauen, silbernes Tafelgeschirr in den Händen, richteten sorgsam den Tisch.

Parzival blickte in wachsendem Staunen auf das wundersame Bild; aber auch er brach mit keinem Worte das feierliche Schweigen, das über dem weiten Saale lag.

Abermals traten sechs Jungfrauen in kostbaren, golddurchwirkten Gewändern hervor. Sie waren das Ehrengeleit für die Königin.

Denn nun erschien die schönste der Schönen. Ihr Antlitz erstrahlte in Schönheit wie die Morgensonne im ersten Frühlicht. Auf grünseidenem Kissen trug sie eine Schale aus wundersam funkelndem Edelstein. Das war der Heilige Gral, der Wunderhort aller Christenheit.

Die Trägerin dieses Heiligtums war des Burgherrn Schwester, Repanse de Schoye; denn des Grals Wunderwesen gebietet, daß nur eine reine Hand ihn berührt. Es ist das heilige Gefäß, aus dem einst Christus beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern trank und in dem Joseph von Arimathia das Blut des gekreuzigten Heilands auffing, als die rohen Kriegsknechte ihm die Seite öffneten.

Die edle Jungfrau verneigte sich züchtig vor dem königlichen Bruder, setzte das heilige Gefäß vor ihn hin und zog sich mit ihren kerzentragenden Jungfrauen zu den übrigen zurück, die sich je zwölf und zwölf ihr zur Seite reihten.

Nun rüstete man sich zur festlichen Bewirtung der vierhundert Ritter. Knappen trugen hundert Tische herbei, deckten sie mit weißem Linnen und setzten sie vor die Ruhepolster.

Für jeden der Tische standen vier Knappen zur Bedienung bereit. Goldene Gefäße und kostbares Tafelgeschirr wurden auf zierlichen Wagen herbeigeführt. Und jetzt geschah das Wunder: Was jeder der ritterlichen Gäste sich wünschte an Speisen erlesenster Art, das spendete der Heilige Gral, und das wurde nun von den bedienenden Knappen eilfertig herbeigetragen. Und was sie auch zu trinken begehrten, das floß in den ausgestreckten Becher, alles von der Wunderkraft des Grals.

Die edlen Ritter waren beim Heiligen Gral zu Gaste.

Wie staunte Parzival über all diese Wunder! Aber eingedenk der Ritterlehre des edlen Gurnemanz unterließ er jede Frage.

Da brachte ein Knappe auf einen Wink des Burgherrn ein Schwert herbei. Griff und Klinge waren Wunder an kostbarer Arbeit. »Nehmt diese Waffe als mein Gastgeschenk«, sagte er zu Parzival; »tragt sie in Ehren, die mir in so manchem Streite zur Seite stand, ehe die tückische Krankheit mich schlug.«

Parzival nahm das Schwert entgegen. Daß er nicht den tieferen Sinn der feierlichen Umgebung erkannte! Er ahnte nicht, der junge Tor, daß es in seiner Hand lag, den Gastgeber von aller Last zu befreien! An Parzival lag es, das rechte Wort auszusprechen.

Aber auch jetzt sprach er kein Wort; kein Wort des Dankes oder des Mitleids oder eine Frage nach der Ursache des Leidens kam über seine Lippen.

Da gab der Kranke das Zeichen, das Mahl zu beenden. Eilfertig trugen die Knappen die Tafelgeräte hinaus, und in feierlichem Zuge führte die schöne Königin, geleitet von ihren Ehrenjungfrauen, den Heiligen Gral aus dem Saale.

Parzival schaute dem Kleinod schweigend nach. Da sah er durch die geöffnete Tür einen Greis auf dem Ruhebette liegen; sein Haar war weiß wie kristallner Frühreif. Niemals, so schien es dem jungen Ritter, hatte er solch friedestrahlende Altersschönheit erblickt.

Aber auch jetzt stellte der Jüngling keine Frage.

Wer mochte der ehrwürdige Alte sein?

»Ihr werdet müde sein,« wandte sich der Burgherr nun wieder seinem Gaste zu. »Schlafgemach und Nachtlager sind Euch bereitet. So wünsche ich Euch eine gesegnete Nachtruhe!«

Parzival verneigte sich zum Danke züchtig nach Ritterart, aber immer noch blieb er in törichter Verblendung schweigsam. Man führte ihn in eine ganz prächtig hergerichtete Kemenate, in der ein prunkvolles Bett für ihn bereitstand. Ritter, Knappen und edle Jungfrauen wetteiferten darin, ihm zu Diensten zu sein.

Aber die ersehnte Ruhe wollte nicht bei ihm einkehren. Wirre Träume schreckten ihn, Schwertschläge prasselten auf sein Bett, und Ritterscharen sprengten in wildem Turnier über ihn dahin.

Schweißgebadet wachte er auf. Der junge Tag schien schon freundlich zu ihm herein, doch keiner der aufmerksamen Diener zeigte sich. Erschrocken fuhr er auf, blickte sich voll Verwirrung im Raume um und rief nach den Knappen.

Doch niemand war zu seinem Dienste bereit.

Auf dem Teppich vor seinem Bette lag neben seinem Schwerte das Gastgeschenk des Burgherrn, daneben seine Rüstung.

In aller Eile wappnete er sich, band beide Schwerter um und trat auf den Hof. An der Treppe fand er sein Roß; daneben lehnten Schild und Speer.

Doch vergeblich blickte er sich nach den Bewohnern der Burg um; niemand zeigte sich. Auf dem Hofe fand er Erde und Gras von Pferdehufen zertreten.

Das Burgtor stand weit offen, und Spuren vieler Hufe wiesen hinaus. Entschlossen folgte er den Spuren zum Tore hinaus. Kaum aber hatte er die Zugbrücke verlassen, da wurde sie hinter ihm in die Höhe gezogen, und ein Knappe, der sich vorher verborgen gehalten hatte, rief ihm höhnisch nach: »Tölpel wie Euch erlebt man nicht alle Tage! Nach Ritterruhm scheint Euch nicht zu verlangen! Hättet Ihr Euren Mund nur einmal gerührt, um den Herrn zu fragen! Nun habt Ihr alle Ritterehre verspielt!«

Parzival blickte sich bei dieser unerwarteten Beschimpfung ganz erstaunt um und verlangte nach einer Erklärung. Aber der Knappe würdigte ihn keiner Antwort.

In tiefen Gedanken war er den Spuren der Ritter nachgeritten. Aber bald verloren sie sich im dichten Walde.

Da hörte er ganz in der Nähe eine weinende Frauenstimme. Unter einer breitästigen Linde saß eine schöne Frau, in ihren Armen einen toten Ritter.

Jetzt erkannte Parzival die Jungfrau. Es war seine Base Sigune, die immer noch um den erschlagenen Ritter, ihren Verlobten, trauerte. Sie hatte den Leichnam einbalsamieren lassen und bot, die starre Gestalt des Geliebten im Arm, ein Bild des Grauens.

»Du bist Parzival, meiner Mutterschwester Sohn«, rief sie ihn an; »sage mir doch, was du in diesem Walde suchst!« Von Sigune erfuhr er das Geheimnis der Gralsburg. Sie ist an aller irdischen Vollkommenheit reich. Aber nicht jedem Sterblichen ist sie zugänglich. Wer sie mit Fleiß sucht, der wird niemals zum Ziele kommen. Wer aber unbewußt und ohne Absicht zu ihr gelangt, dem wird sie sich öffnen, und aller Erdensegen und alle irdische Glückseligkeit wird dem Finder zuteil.

Parzival hörte schweigend zu.

»Du wirst von dieser Burg nichts wissen, Parzival«, fuhr Sigune fort. »Munsalwäsche ist ihr Name. Dort regiert als Gralskönig der edle Amfortas, den Gott mit schwerer Krankheit geschlagen hat. Er kann nicht gehen noch reiten noch liegen noch stehen und muß immerfort in einem Sessel lehnen.

Wärest du dorthin gelangt«, fuhr Sigune fort, ,»zu Amfortas und seinen trauernden Rittern, so wäre der Burgherr von seinem Leid befreit worden – dir aber winkte höchster Ritterruhm und alle irdische Erfüllung im Leben!«

»Ich war auf der Burg und habe vielerlei Wunder geschaut«, entgegnete Parzival düster.

»Du warst auf der Burg! Sahst du den unglückseligen Amfortas?« Sigune war außer sich vor Erregung. »Oh, wenn du sein Leid gewandt hast, Gott wird deine Reise dann segnen! Denn alles, was die Himmelsluft berührt, steht als dann unter deiner Hoheit, und dir ist bestimmt, alle Macht in Fülle zu erwerben!

Wenn du ihn von seinem Siechtum befreit hast«, fuhr Sigune fort, »so bist du höchsten Ruhmes wert. Du trägst sein Schwert, so wirst du seinen Segen kennenlernen. Deiner Hand muß alles dienen, was du an Wundern dort auf der Burg erblicktest. Allzeit wirst du der Seligkeit Krone tragen.« Parzival sprach kein Wort.

»Hast du der Frage ihr Recht getan?« fuhr sie auf.

»Ich habe nicht gefragt.«

»O du Unseliger«, rief die Jungfrau voll Entsetzen und bedeckte mit den Händen die Augen. »Du sahst das heilige Wunder und hattest nicht den Mut zu fragen! Geh mir aus den Augen, den das Schicksal verstoßen hat! Der du kein Erbarmen mit der Not deines Gastgebers hattest! Für alle Zeiten hast du dein Lebensglück verscherzt!«

»Sigune«, bat er, »ich erkenne meine Verfehlung; ich glaubte, ritterliches Zuchtgebot zu befolgen, so wie Gurnemanz es mich gelehrt hatte, und nun bin ich so sehr schuldig geworden. So zeige mir doch, ich bitte dich, den Weg, wie ich büßen und bessern kann!«

»Es ist zu spät«, versetzte sie hart. »Auf Munsalwäsche schwand deine Ritterehre dahin. Fortan wirst du von mir kein Wort mehr hören.«

So schied Parzival von ihr.

Einsam setzte Parzival seinen Ritt fort. So sehr hatte ihn das Schicksal mit Schuld überhäuft, daß er den entscheidenden Augenblick seines Ritterlebens verspielt hatte! Hatte er schuldhaft gehandelt, als er durch sein Schweigen unwissend so große Gnade verscherzte?

Da erblickte er vor sich ein seltsames Paar, einen wohlgerüsteten Ritter, dem in demütigem Abstande eine junge Frau folgte. Aber wie jammernswert war ihr Aufzug! Auf elendem, halbverhungertem Klepper hockte sie. Lumpen bedeckten dürftig ihren schönen Leib.

Als Parzival sie mit ritterlichem Anstand grüßte, erkannte sie ihn sofort: »Wieviel Leid habe ich um Euretwillen erleiden müssen,« stieß sie hervor; »denn Ihr seid es, dem ich dieses armselige Schicksal verdanken muß.«

Es war die unglückliche Frau Jeschute, der Parzival einst in gedankenlosem Übermut Ring und Kuß geraubt hatte und die dafür von ihrem Gemahl, dem Herzog Orilus, so schimpflich behandelt wurde.

Parzival war sofort entschlossen, die Ehre der schönen Frau wiederherzustellen. Schon hatte er den Speer eingelegt und ritt gegen den Herzog an. Wortlos, ohne sich Fehde anzusagen, prallten die beiden Recken aufeinander.

Beide Ritter gaben ihr Bestes. Lanzensplitter stoben, und Funken sprühten unter machtvollen Schwerthieben. Aber der kampferfahrene Herzog war der Urkraft des jungen Ritters nicht gewachsen. Parzival stürzte ihn zu Boden, daß das Blut aus dem Visier sprang. Da mußte sich Orilus ergeben.

»Ich werde dein Leben schonen«, rief der junge Sieger, »wenn du mir in die Hand gelobst, dein Ehgemahl wieder in ritterlichen Ehren aufzunehmen und ihr alles zu verzeihen.«

Herzog Orilus versprach die geforderte Sühne und nahm seine so lange verstoßene Frau wieder in aller Liebe auf.

Begegnung mit den Artusrittern

Parzival irrte weiter in der unendlichen Waldeinsamkeit umher. Seine Gedanken rissen ihn in Selbstvorwürfen und Zweifeln hin und her. Würde es ihm nun gelingen, die Gralsburg wiederzufinden? Das wußte er aus Sigunes Worten: Kein Sterblicher kann den Weg dorthin aus eigener Kraft erzwingen. Nur wer sich ebenso tapfer wie glaubensstark bewährt, dem weist Gott den Weg.

Eines Morgens, als Parzival sich von dem harten Lager auf dem nackten Erdboden erhob, war ringsum alles verschneit. Da scheuchte ein Falke von König Artus‘ Rittern, die ganz in der Nähe ihr Zeltlager aufgeschlagen hatten, eine Schar Wildgänse auf. Eine von ihnen schlug er im Fluge unmittelbar über Parzival, daß drei Blutstropfen vor ihm in den Schnee fielen. Drei Tropfen Blut! Sinnend blickte der junge Recke auf das Bild: »Rot und weiß, wer ist es, an den mich diese Farben gemahnen?« Er starrte vor sich hin, und aus den drei Tropfen wurde Kondwiramurs Bild, das liebliche Antlitz seiner Gattin, weiß und rot so wie Milch und Blut.

Er verhielt auf seinem Rosse, die Umgebung versank ihm; mit erhobenem Speere stand er traumverloren da wie schlafend.

In der Nähe lagerte König Artus mit seinen Rittern; er wollte den kühnen Parzival, dessen Ruhm durch alle Lande erklang, für seine Tafelrunde gewinnen. Da kam einer seiner Knappen voller Erregung herbeigestürzt: er hatte einen Ritter zu Pferde angetroffen, der wie ein Standbild im Schnee verhielt. In kecker Streitlust zogen sogleich König Artus‘ Recken aus, um den Eindringling zu besiegen: Zuerst Segramor, der Neffe der Königin. Ohne die Wirklichkeit recht zu erfassen, schlug Parzival ihn aus dem Sattel. Ebenso erging es Herrn Keye, des Königs Seneschall; ohne es zu wissen, Iöste Parzival damit das Versprechen ein, das er einst Frau Kunneware gegeben hatte.

Erst als Ritter Gawan waffenlos anritt und über die drei Blutstropfen seinen Mantel warf, kehrte Parzival in die Wirklichkeit zurück.

Willig ließ der junge Recke sich in König Artus‘ Lager führen und in die Tafelrunde aufnehmen. Alle Tischgenossen boten ihm ritterliche Freundschaft an.

Doch da wurde die heitere Festesfreude pIötzlich durch eine grausig-seltsame Erscheinung aufgescheucht.

Auf gespenstigem Maultier, das hoch wie ein Streitroß war und klapperdürr, die Nüstern aufgeschlitzt und mit prunkvollem Zaumzeug, kam eine Jungfrau dahergesprengt. Eine Jungfrau, von welch erschreckendem Aussehen! Eine Nase hatte sie wie ein Hund, ihr Antlitz war struppig, und zwei Eberzähne ragten ihr wohl spannenlang aus dem Munde. Ohren hatte sie wie ein Bär, und unter ihrem Hut, der von golddurchwirkter Seide war, hing ein Zopf von Schweinsborsten bis auf den Rücken des Maultieres herab. Die Fingernägel waren wie die Krallen eines Löwen. Es war Kundrie, ein Bild weiblicher Häßlichkeit trotz der Pracht ihrer prunkvollen Gewänder. Aber sie war hoch gelehrt in aller Weisheit und kundig aller Sprachen – sie war die Fluchbotin des Grals!

»Weh über Euch, König Artus«, schrie sie den König gellend an. »Weh über Euch! Der Ruhm Eurer Tafelrunde ist geschändet durch den Unwürdigen, den Ihr in Eurer Mitte aufgenommen habt. Die Ehre Eurer Tafelrunde ist dahin!«

Die Tafelrunde erstarrte in Grauen. Ehe der König ein Wort erwidern konnte, wandte sie sich an Parzival. »Fluch über Euch, Fluch über Eure Jugendschönheit und Eure ritterliche Gestalt! Fluch über Euch!«

Unheimliches Schweigen lag über der Tafelrunde.

»Warum, so frage ich Euch, warum habt Ihr Amfortas, Seufzer und Klagen am See nicht beachtet, warum habt Ihr ihn nicht von seinen Leiden erlöst? Ihr sahet den Heiligen Gral und den blutigen Speer und habt dennoch keine Frage getan? Habt Ihr denn kein Erbarmen mit Amfortas, Not gehabt? Eine einzige Frage hätte all sein Elend wenden und Euch zu aller irdischen Glückseligkeit erheben können! Herzeleides Kind hat den Weg der Ehre verfehlt!«

Kundrie selbst aber hatte vor Erregung jede Fassung verloren. Sie warf Parzival einen haßerfüllten Blick zu und jagte ohne Abschiedsgruß davon. Parzival war bleich vor Schrecken. Sein Herz war zerrissen von Reue und Kummer.

»Durch Unwissenheit habe ich meine große Aufgabe verspielt«, sagte er; »nun bleibt mir nichts als die Pflicht, das Versäumte zu sühnen. Ich will nicht ruhen noch rasten, bis ich den Heiligen Gral gefunden und den unglücklichen Amfortas von seinen Qualen erlöst habe!«

Trauernd umringten die Ritter der Tafelrunde ihn zum Abschied, und Artus gelobte ihm ewige Freundschaft. Der edle Gawan, dem er sich in inniger Freundschaft verbunden fühlte, gab ihm eine Wegstrecke das Geleit. »Gott sei mit dir auf deinem Ritte«, wünschte er ihm.

»Weh, was ist Gott!« erwiderte Parzival mit Bitterkeit im Herzen. »Wäre er allmächtig, so hätte er mir wohl nicht solche Schande zugefügt. Nun aber bin ich entschlossen, ihm allen Dienst aufzusagen!«

Mit seinem Gotte verfallen, ritt er in die Welt hinaus.

Viele Jahre zog er als fahrender Ritter umher, ohne sein Ziel zu erreichen. In einer Einsiedlerklause traf er schließlich Sigune, seine Base, die dort – ein Bild des Erdenjammers um ihren erschlagenen Verlobten trauerte. Voll Betrübnis vernahm sie, daß Parzival vergeblich den Gral suche. Jeden Samstag, so erzählte sie ihm, erscheine Frau Kundrie, die Gralsbotin, bei ihr und versorge sie mit Nahrung.

Das gab dem jungen Ritter neue Hoffnung. Er folgte der Spur des Maultiers, doch bald verlor sie sich im Gesträuch.

So ging ihm abermals der Gral verloren.

An einem kalten Märzmorgen begegnete ihm in einem riesenhaften Walde ein seltsamer Zug. Barfuß und im Büßergewande kam ein graubärtiger Ritter daher, ihm zur Seite seine Gemahlin und zwei zarte Töchter in gleicher Kleidung; gesenkten Hauptes folgten Ritter und Knappen. Welchen Gegensatz bot der herrliche Recke in seiner strahlenden Rüstung zu dem bußfertigen Aufzug der Barfüßigen! »Ihr tut gar Unrecht, daß Ihr am heiligsten Tage des Jahres im Schmucke Eurer Waffen daherreitet«, redete der Alte ihn milde an.

Doch Parzival verstand nicht seinen Tadel. »Was kümmert mich des Jahres oder der Wochen Lauf, was die Namen der Tage? Es gab eine Zeit, da diente ich einem, der heißt Gott. Stets war ich beständig in diesem Dienst und wahrte ihm die Treue. Und er – er entgalt mir’s mit Schmach und verhängte schmählichen Spott über mich!«

»Wenn Ihr Christus meint mit Euren Worten, Herr, so versündigt Ihr Euch gar schwer. Denn wisset, daß heute Karfreitag ist, der Tag, an dem unser Heiland für die sündige Menschheit den Kreuzestod erlitt. Achtet die Heiligkeit dieses Tages! Folget uns zur Behausung des frommen Trevrizent. Der kann Euch auf den rechten Weg zurückweisen.«

Aber Parzivals Herz war zu verstockt. Er war nicht bereit, dem Rate des Alten zu folgen. Unwillig riß er sein Roß herum und ließ ihm die Zügel. Aber wie staunte er, als er erkennen mußte, daß das edle Pferd eigenwillig den Weg suchte und ihn geradewegs vor Trevrizents Behausung führte.

Der würdige Greis nahm ihn freundlich auf und verwies ihn auf die Güte Gottes. »Ich habe stets gemeint, ihm in Treue zu dienen«, sagte Parzival dumpf; ,»aber meine Treue hat mich in tiefstes Leid gestoßen!«

»Denkt Ihr denn, man könne Gottes Liebe und Hilfe erzwingen?« rief Trevrizent. »Wißt Ihr nicht, daß der Herr nur dem sich huldvoll zuneigt, der ihm in Treue dient, ohne Zweifel und Anfechtung? Nur wer gläubig und reinen Herzens ist, wer frei von Hochmut und schwächlichem Zweifel, erscheint des Grals würdig.«

Trevrizent redete ihm tröstend zu: »Als erstes sage ich dir: Gott hat dich nicht verlassen. Vertraue ihm mit gläubigem Herzen, so wird er dich aus aller Bedrückung befreien!«

Noch lange saß er im vertrauten Gespräch mit dem Alten, und dessen väterliche Mahnungen wurden ihm wie eine langersehnte Belehrung aus allen Zweifelsgedanken und gaben ihm Trost und Frieden nach der langen Irrfahrt. Als die beiden voneinander schieden, ritt Parzival versöhnt mit seinem Gott und frei von allen Zweifelsqualen neuem Leben entgegen.

Parzivals Berufung

Mannigfache Abenteuer hatte der Held noch zu bestehen, bis ihn der Weg wieder an König Artus‘ Hof führte. Beim festlichen Mahle feierte man dort die Rückkehr des Helden.

Da geschah es wie einst: auf dem häßlichen Maultier kam die häßliche Jungfrau angesprengt: Kundrie, die Gralsbotin, stand plötzlich wieder vor den Rittern der Tafelrunde!

Doch sie brachte dem leidgeprüften Parzival nicht neuen Fluch, sondern eine herrliche Botschaft: die Zeit seiner Prüfung war vorbei – er war nun zum Gralskönig auserkoren!

Erst jetzt erfuhr Parzival, daß die liebliche Kondwiramur ihm Zwillinge geboren hatte. Sein Sohn Lohengrin würde einst sein Nachfolger als Hüter des Grals sein. In Kundries Begleitung zog Parzival nun zur Gralsburg. Welche Gefühle bestürmten den Auserkorenen, als er den Saal betrat, in dem er einst die entscheidende Wende seines Lebens erlebt hatte!

Im Nebenzimmer lag der sieche Amfortas auf seinem Schmerzenslager. Schreckliche Schmerzen hatte der Todkranke in der langen Zeit durchleiden müssen. Neue Hoffnung ergriff ihn, als er seinen Retter erblickte. »Wie lange habe ich voll Sehnsucht auf dein Kommen gewartet«, rief er dem Neffen mit frohem Willkommensgruß zu. »Hilf mir nun, meine Not zu beenden!«

Jungfrauen hatten die segenspendende Schale des Grals enthüllt. Da sprach Parzival ein Gebet, trat dann vor Amfortas und fragte ihn ruhig: »Sag mir, lieber Oheim, woher kommen deine quälenden Schmerzen? Sag mir, wie ich dir helfen kann!«

Das war die erlösende Frage.

Mit verklärtem Gesicht erhob der König sich von seinem Schmerzenslager und umarmte den Neffen. Nach dem heiligen Gebot überreichte er Krone und Herrschaft an den neuen Herrn.

Sogleich ging die Freudenbotschaft an die edle Kondwiramur. Parzival ritt ihr entgegen und traf sie mit den beiden Söhnen Kardeis und Lohengrin auf einer Aue – es war die Stelle, wo er einst traumverloren vor den drei Blutstropfen gestanden hatte. In überströmendem Glück begrüßte er die Geliebte Frau und die zwei Kinder.

So wundersam fügte es das Schicksal.

In ehrenvollem Geleit der Gralsritter zog der junge König mit seiner Gattin und seinem Sohne Lohengrin, dem Gralserben, dann zur Gralsburg hinauf, während Kardeis mit dem Gefolge der Königin in die Heimat zurückkehrte. Es war tiefe Nacht, als das Ehrengeleit auf der Burg eintraf. Doch man hatte Fackeln und Kerzen in solcher Menge anzünden lassen, daß es aus der Ferne schien, die Burg stehe in Flammen.

Im großen Festsaale der Burg saß man dann beim Mahle.

Aber nicht wie einst, da der blutige Speer durch den Saal getragen wurde, herrschte Klage und Trauerlaut; nein Freude lag über dem weiten Saale, seit man aller Sorge ledig war.

Wieder vollzog sich die feierliche Handlung: Die edlen Jungfrauen geleiteten in züchtigem Anstand die schöne Repanse de Schoye, die das Gralsheiligtum trug; die Kämmerer rüsteten die Tische zum Festmahle und zogen auf den Speisewägelchen die kostbaren Goldgefäße herein, die Knappen standen zur Aufwartung bereit.

Und wieder wie damals erwies der Heilige Gral seine Wunderkraft und spendete an kostbarsten Speisen und Getränken, was jeder begehrte.

An der Seite der schönen Kondwiramur aber führte Parzival als Gralskönig viele Jahre die Herrschaft in weiser Ritterschaft und frommer Demut.

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Tannhäuser

Tannhäuser

Als unter der Herrschaft der Staufenkaiser das Reich sich von der Elbe bis in den fernsten Teil der italischen Halbinsel erstreckte, standen die schönen Künste in hoher Blüte. Minnesänger zogen von Burg zu Burg und fanden gastliche Aufnahme. Damals lebte im Österreichischen der Herr von Tannhäuser, ein Ritter aus altem Geschlecht. Als Lehnsmann des Grafen war er im Kaiserheere auf dem Kreuzzug mit ins Heilige Land gezogen, doch unter dem ritterlichen Panzer schlug das Herz des Sängers, und mehr als ritterliches Leben behagte ihm das freie, ungebundene Dasein des fahrenden Ritters, der seine Lieder zum Lobe von Frauenschönheit und züchtiger Minne, von Waffenlärm und Männerstreit durch die Lande trägt. Wo er als Gast einkehrte, wurde seine Kunst von schönen Frauen und edlen Herren wohl aufgenommen.

Doch längst war ruchbar geworden, daß der Tannhäuser von leichter und lockerer Wesensart war, und man wußte, er war ein Ritter Windbeutel, der das Geld nicht im Säckel halten konnte. Hätte sein Herzog Friedrich, der in Wien hofhielt, den leichtlebigen Sänger nicht immer wieder aus den Händen von Schankwirten und Wucherern befreit, so hätte der Tannhäuser trotz seines Ritterschildes wohl ein gut Teil seines Daseins im Schuldturm verbringen müssen. Der schöne Hofbesitz an der Donau, den der herzogliche Gönner ihm geschenkt hatte, zerrann dem unsteten Mann unter den Händen wie auch aller Geldvorrat, und der Tannhäuser war wieder arm wie zuvor.

Auf seinen Fahrten durch die deutschen Gaue gelangte er einst zur Wartburg, die im waldreichen Thüringen auf einer Bergeshöhe liegt. Gern erfüllte der Burgherr seine Bitte um ritterliche Herberge, denn Landgraf Hermann, der Herr der Wartburg, war den schönen Künsten wohlgesinnt. Auch er war bereit, ihm seine Leichtfertigkeit nachzusehen. Mehrfach war der Sänger bei ihm zu Gast gewesen, um im Wettkampf mit ritterlichen Sängern um den Preis zu ringen, den der Sieger aus den Händen Elisabeths, der lieblichen Nichte des Landgrafen, empfangen durfte.

Tannhäuser wußte alle Erwartungen wohl zu erfüllen, und beglückt lauschten die Bewohner der Burg seinem Gesang.

Wenn er von Minne und getreuer Liebe sang, so glaubte die schöne Elisabeth, daß er niemanden anders als sie selber preise.

Sie täuschte sich darin nicht, denn der Sänger war in Liebe zu ihr entbrannt, doch zugleich stürzte ihn diese Liebe in wilde Verzweiflung: Tannhäuser wußte, daß er, ein armer Ritter ohne eigenen Boden, ein Leichtfuß, der in Schenken heimisch war, niemals hoffen durfte, die Nichte des hochgeborenen, mächtigen Landgrafen zur Ehe zu gewinnen.

Auch zu dieser Zeit hatte der Landgraf zum Wettkampf in der Kunst des Gesanges aufrufen lassen, und aus allen Landen hatten sich die Sänger eingefunden, um den Preis zu erringen. Da waren als Gäste hochberühmte Sänger wie Herr Walther von der Vogelweide und der wackere Wolfram, Reimar Zweter und Heinrich von Ofterdingen.

Doch als die Gäste dann zum festlichen Mahl gerufen wurden, wartete man im Speisesaal vergeblich auf den Sänger. Als der Burgherr ihn holen ließ, fanden die Diener die Kammer leer. Ohne Abschiedswort an den gastfreien Hausherrn war Tannhäuser davon – auch ohne Grußwort an die jungfräuliche Elisabeth, die ihm alle Herzensneigung zugewandt hatte.

Liebeskrank und das Herz voller Unruhe, zog er durch die unendliche Einsamkeit der Wälder Thüringens.

Da hielt plötzlich ein Fremder vor ihm, ein Fahrender schien er zu sein wie er, denn auch er trug die Spielmannsfiedel auf dem Rücken.

»Holla, Gesell!« rief der Fremde ihn an.

Wie verschieden war beider Aussehen! Tannhäuser mit lichtblondem Haar und dem Kleid in hellen Farben, der andere trug einen wallenden schwarzen Umhang, und schwarz waren auch Haar und Bart; die dunklen Augen hatten schwarzen, stechenden Glanz.

»Wohin des Wegs?« rief der Fremde. »Wenn Ihr auf die Wartburg zum Sängerfest wollt, so kann Meister Klingsor Euch wohl den Weg weisen.«

Der Sänger blickte den andern ohne Freundlichkeit an. »Ich habe kein Ziel«, versetzte er düster. »Der Tannhäuser heiße ich, und vielleicht ist es mir wie einst meinen Ahnen beschieden, im Tann zu hausen . . .«

»Wenn es Euch recht ist«, sprach der Schwarze, »so laßt uns hier zusammen rasten. Auch ich habe kein Ziel.«

Sie lagerten auf dem Waldboden, und Klingsor hörte von den Liebesqualen, die den Ritter Habenichts bedrückten. »Wenn ich im Burggarten mit ihr lustwandelte und ihr meine Lieder sang. . .«

Da riß ihn die Stimme des Schwarzen aus seinem Träumen: »Die ist nichts für Euch, Tannhäuser. Euer Herz verlangt nach feinerer Kost und derberer Sinnenlust. Die schöne Elisabeth, sagt man, ist schon zu ihren Lebzeiten eine Heilige.«

Das Gesicht des Sängers verfinsterte sich, und unwillig antwortete er: ,»Ihr irrt, Klingsor, wenn Ihr glaubt, daß ich von nichts anderm zu singen weiß als von niederer Minne. Auch Elisabeth habe ich schon mit manchem Lied aus meiner Kreuzfahrerzeit erfreut. Wie traurig ist mir oft zumut, wenn ich heitere und übermütige Weisen zur Leier singen muß.«

Da lachte Meister Klingsor so laut und höhnisch, daß Tannhäuser zusammenschrak.

Seite an Seite ritten sie dann weiter. Tannhäuser grübelte düster vor sich hin. Plötzlich hielt er an und packte den Begleiter am Arme. »Horch!« sagte er tief betroffen. Über sein Gesicht, das von dem herben Leid gezeichnet gewesen war, glitt es wie ein Schein überirdischer Seligkeit. »Horch!« sagte er wieder. ,»Was sind das für wundersame Töne – was ist das für ein himmlisches Klingen und Singen?«

Der seltsame Begleiter lächelte wissend: »Der Bergwald hier vor uns ist von ganz besonderer Art. Er ist der Wohnsitz der göttlichen Venus, der Liebesgöttin, die dem Menschen alle Wonnen dieser Erde schenkt. Es ist der Hörselberg!«

Unwillig wandte Tannhäuser sich ab. Wer sollte ihm von der Liebe reden, da er doch seiner Minne zu entfliehen suchte und ihn nach nichts als nach Trost und Vergessen verlangte?

Da sah er, wie der Hörselberg sich öffnete. Aus dem Berginnern brach jäher Glanz wie Feuerschein. Im Innern der Grotte erblickte Tannhäuser nun liebliche Mädchengestalten von überirdischer Schönheit, die riefen und lockten ihn mit bezaubernden Tönen.

»Ein Wunder!« stammelte er geblendet; ihm war, als schaute er mitten hinein ins Paradies. Klingsors Worte klangen verlockend: »Vertraut Euch der Frau Venus an, Gesell, so schwindet aller Herzenskummer, himmlisches Vergessen winkt in neuer, paradiesischer Liebesseligkeit!«

Tannhäuser blickte ihn in tiefer Betroffenheit an. Sollte ihm hier die Erlösung aus seiner Herzensqual winken?

Unschlüssig starrte er zum Berg hinüber. Da gewahrte er voller Überraschung einen Mann, der ihm auf dem Waldweg entgegengeschritten kam. Der Greis mit dem wallenden weißen Bart war uralt wie die Baumriesen ringsum, doch von aufrechter Haltung, als wäre er ein blühender Jüngling. Sein Blick strahlte väterliche Milde aus. Ein Pilgersmann schien er zu sein, denn er trug Pilgerstab und Pilgertasche.

»Gott zum Gruß, Ritter Tannhäuser!« redete der Alte den Sänger freundlich an. Unwirsch erwiderte der Ritter den Gruß, denn sein Blick hing wie gebannt an dem lockenden Bild in der Grotte.

»Ritter Tannhäuser« sagte der eisgraue Alte und legte ihm die Hand auf den Arm, als wolle er ihn zurückhalten. ,»Folget nicht der lockenden Verführung!« Warnend hob er den Finger: »Verderben droht allen, die den Venusberg betreten!«

»Wer seid Ihr«, fragte Tannhäuser erstaunt, »daß Ihr mir solche Mahnung aussprecht? Etwa ein Waldgeist?«

Der Alte lächelte nachsichtig und schüttelte den Kopf. »Den getreuen Eckart heißt man mich. Meine Lebensaufgabe ist es, irrende Menschenkinder vor den Gefahren des Hörselbergs zu bewahren. Höre meine Warnung, Tannhäuser: Betritt nicht den Berg hier vor dir, denn dort herrscht die höllische Venus! Denk an den Frieden deiner Seele und reite ungesäumt von hinnen! Wer in diesen verlockenden Berg eintritt und seine Freuden genießt, darf nimmermehr zurückkehren! Er wird die ewige Seligkeit verlieren!«

Betroffen wandte sich Tannhäuser nach Klingsor, seinem geheimnisvollen Begleiter, um. Ob dieser ihm die Warnungen des Alten deuten konnte? Aber der schwarze Spielmann, dessen Lachen so gellend geklungen hatte, war verschwunden.

Tannhäuser, der Leichtfuß, war nicht bereit, seinen Seelenfrieden zu opfern. »Dank für deinen Rat, guter Alter!« rief er und wandte sich zum Gehen.

Zufrieden blickte der getreue Eckart ihm nach.

Doch das Klingen und Singen wurde lauter. Immer lockender, berückender wurden die Töne, die aus dem Zauberberge erklangen. Ob er wollte oder nicht – Tannhäuser hielt inne und blickte in seligem Verlangen zur Höhe hinauf.

»Denk an dein Seelenheil!« rief Eckart wieder warnend, doch zu stark waren die betörenden Klänge, die den Lauschenden umschmeichelten und in liebliche Träume einwiegten.

Jetzt wurde deutlich eine Stimme vernehmbar: »So komm doch in mein paradiesisches Reich!« Vor Tannhäusers Blicken hatte sich der Berg weit geöffnet, und dort, dort ruhte auf duftigem Lager, das ganz von Rosen überquoll, Venus selber, die Liebesgöttin. Jetzt hob sie die Hand und winkte ihm zu kommen.

Da wurde der arme Sänger von dem lockenden Zauberbild übermannt, daß er Eckarts mahnenden Warnruf nicht mehr hörte. Vergessen war auch die Minne zur schönen Elisabeth. Mit unwiderstehlicher Gewalt zog es ihn in das Reich der Göttin; sie empfing ihn mit weit geöffneten Armen.

In ihrer Sehnsucht nach dem geliebten Sänger blickte Elisabeth über das weite Thüringer Land. Niemand wußte ihr von Tannhäusers Verbleib zu sagen. Doch ihr gütiger Oheim, der Landgraf, hatte längst ihre stille Seelenqual erkannt und sann auf einen Weg, ihr zu helfen: Er wollte die berühmtesten Sänger aus deutschen Landen zum Wettstreit aufrufen. Sicherlich würde solcher Ruf den so lange Vermißten erreichen, und sicherlich würde auch er auf der Wartburg erscheinen.

Ein Jahr lang hatte Tannhäuser die Freuden in Venus‘ Reich genossen, doch Frieden hatte er nicht gefunden. Nur Überdruß und Ekel erfüllten seine Seele. Und sein Herz entbrannte in tiefer Reue über seine schwere Schuld.

Da hielt es ihn nicht mehr in dem Zauberberge, und er bat die Göttin um Urlaub. Frau Venus wollte den Liebhaber nicht freigeben, doch schließlich ließ sie ihn ziehen. »Ich stelle dir die Bedingung«, sagte sie hart, »daß du zu mir zurückkehrst, wenn du keine Erlösung von deinen Sünden findest!«

Damit versetzte sie ihn in tiefen Schlaf. Als Tannhäuser daraus erwachte, lag er auf dem Waldesgrund, wo er einst Meister Klingsor und dem getreuen Eckart begegnet war.

Der arme Tannhäuser fühlte im tiefsten Herzen die Schwere seiner Schuld. Als er das Betglöcklein einer nahen Kirche läuten hörte, wanderte er dem Klange nach. In der Waldkapelle, zu der er gelangte, warf er sich vor dem Priester auf die Knie und beichtete ihm all seine Sünden.

Als aber der Priester hörte, daß der Beichtende geradewegs aus dem Hörselberg komme, bekreuzigte er sich voll Entsetzen. »Wenn du auch von Reue zerknirscht bist«, sagte der geistliche Vater, »so bin ich doch nicht in der Lage, dich von deiner Sünde loszusprechen.«

Gegen Abend gelangte Tannhäuser an ein Kloster. Doch der Abt verbot ihm, die geweihte Stätte zu betreten.

Verzweifelt irrte der Verworfene in der Waldeseinsamkeit umher. Er wußte sich keinen Ausweg – und er wußte auch nichts von dem Sängerkrieg, zu dem Landgraf Hermann aufgerufen hatte aber nie hätte er, der sich als Ausgestoßener fühlte, es gewagt, sich dort im Kreise der edlen Menschen auf der Wartburg zu zeigen.

Seine unstete Wanderung führte ihn bis in die Nähe der Wartburg. Dort führte das Schicksal eine seltsame Begegnung herbei. Denn mit den ritterlichen Sängern, die dem Aufruf zum Wettstreit auf der Wartburg gefolgt waren, war der Landgraf zu fröhlicher Jagd ausgezogen. Wie staunte er mitsamt seinen Gästen, als sie pIötzlich den Sänger erblickten, den sie so sehr in ihrem Kreise vermißten – und wie betroffen und bestürzt zeigte sich Tannhäuser bei dieser Begegnung, die er so sehr hatte vermeiden wollen!

»Willkommen, edler Sänger!« grüßte ihn Landgraf Hermann, und froh grüßten ihn seine Begleiter.

Sie alle spürten nicht, was den Wiedergefundenen so schuldhaft bedrückte, und führten ihn im Triumph zur Wartburg.

»Allzulange habt Ihr gesäumt!« rief der Landgraf dann. »Nun mag der Sängerkrieg beginnen!« In festlicher Erwartung scharten sich im Saale die Gäste um den Prunksessel, in dem er, die schöne Elisabeth an seiner Seite, thronte.

Als erster wurde Wolfram von Eschenbach, der derbfrohe Landedelmann, aufgerufen. Andachtsvolle Stille lag über dem Saal, als er seine Minnelieder von Reinheit und edler Keuschheit, aus der alles Gute in dieser Welt erwächst, vortrug. Auch Herr Walther von der Vogelweide fand warmen Beifall.

»Es singt der Herr von Tannhäuser!« klang dann die Stimme des Herolds durch den Saal. Während er dem Aufruf folgte, klangen ihm die Verdammungsworte des getreuen Eckarts in den Ohren: »Nie wirst du dein Heil finden!«

Doch als er dann über den festlich gestimmten Zuhörerkreis hinwegblickte, packte ihn unwiderstehlich die Erinnerung an jene betörenden Erlebnisse im Zauberberg der Venus. Und so schlug der Tannhäuser in die Saiten und sang von einer Liebe, die nur nach Wonnen und nach Genuß verlangt, nach triebhaftem Genuß. »Armselig nenn ich euch und eure tugendhaften Worte«, so rief er in vermessener Verwegenheit den Minnesängern zu, »denn ihr habt die Liebe nie genossen! Wer sie kennenlernen will, der ziehe in den Berg der Venus!«

Wie Eiseskälte legte es sich auf die Festversammlung. Dann ging wilder Taumel durch den Saal. Edle Damen zeigten, wie tief sie in ihrer Frauenehre verletzt waren, ritterliche Herren griffen erregt zum Schwerte, um die Ungebührlichkeit zu bestrafen.

Nur mit Mühe konnte der Landgraf die zornige Aufwallung beschwichtigen. Elisabeth selber bat für Tannhäusers Leben.

In tiefer Scham blickte er auf die hochgesinnte Jungfrau, die mit solchem Edelmut für den Verwegenen eintrat. Sie riet ihm, Sühne zu suchen am Stuhle Petri in Rom.

Als Bußpilger zog er gen Süden, schleppte sich barfüßig über die tief verschneiten Pässe der Alpen, er mied die Wohnungen der Menschen und nächtigte in Felsspalten und in hohlen Bäumen.

Als ein Bild unsagbaren menschlichen Jammers trat Tannhäuser vor den Heiligen Vater. Es war im päpstlichen Garten, wo der Papst lustwandelte.

»Habt Erbarmen mit mir reuigem und verworfenem Sünder!« rief der Verfemte bebend. Ganz gebrochen berichtete er von der Verfehlung, die er im Venusberg auf sich geladen hatte.

»Wer gefehlt hat wie du, bleibt in ewiger Verdammung verworfen«, sagte der Heilige Vater hart und unbeugsam. »Sieh diesen Krummstab, den ich führe: Eher grünt dieses tote Holz, als daß du deiner Sünden ledig wirst.«

Mit diesen Worten stieß er seinen Stab in die Erde seines Gartens. Aller Hoffnung beraubt, taumelte Tannhäuser von dannen.

Am dritten Tage nach der Begegnung mit dem unseligen Tannhäuser wandelte der Heilige Vater durch den Garten. Da fiel sein Auge auf den im Boden steckenden Krummstab. Der tote Stecken war mit Trieben und keimenden Blättern bedeckt.

Ein Gotteswunder war hier geschehen. Der Höchste hatte in göttlicher Offenbarung dargetan, daß er dem reuigen Sünder seine Vergebung schenkte.

Vergeblich suchten die Diener des Papstes nach dem fremden Pilger.

Der unselige Tannhäuser war in seiner Verzweiflung der Heimat zugewankt. Wieder schleppte er sich über die Schneepässe der Alpen. In fieberndem Verlangen strebte er zum Hörselberge, wo ihn einst Venus in Liebe empfangen hatte.

Alles Suchen nach ihm war vergebens. Wohl hatten Bauern auf dem Felde am Fuße der Wartburg einen Pilger in härenem Gewande gesehen, der eilenden Schrittes vorüberzog. Doch von dem unglücklichen Tannhäuser erhielt man nie mehr Kunde.

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Lohengrin


Lohengrin

Über dem Lande Brabant, wo der Scheldestrom sich mit dem Rhein ins weite Nordmeer ergießt, lastete tiefe Trauer, denn Herzog Gottfried, der weise und gerechte Herrscher, lag im Sterben. Viele Jahre hatte er das Herzogtum am Niederrhein regiert. Der Kaiser wußte, daß er nicht allen seiner Vasallen so unbeschränkt vertrauen konnte wie ihm, wenn er mit wehendem Banner gegen die Feinde des Reiches zog. Herzog Gottfried wiederum hatte waffenstarke Vasallen in seinem Dienst, die seine milde und weise Regierung stützten; unter ihnen galt sein besonderes Vertrauen dem Grafen Friedrich von Telramund.

Nun forderte das Alter seinen Tribut, die Strapazen der langen Kriegszüge hatten dem Helden die Lebenskraft erschöpft. Herzog Gottfried wußte um seinen nahen Tod.

In seinem Schmerz, aus dem Leben scheiden zu müssen, blickte er zugleich mit banger Zukunftssorge auf seine Tochter Elsa, die an seinem letzten Lager kniete.

»Elsa, liebe Tochter«, stieß er mit schwindender Kraft hervor, »der Himmel hat mir einen männlichen Erben versagt, denn deine Mutter verschied bei deiner Geburt. Aber ich weiß, daß du stark und tapfer bist, und ich weiß dich im Schutz treuer Vasallen. Ruf darum Graf Telramund zu mir!«

Der Todgeweihte erhob sich mit letzter Kraft von seinem Lager und bestand darauf, daß man ihm zur Besprechung mit dem Lehnsmann die herzogliche Rüstung anlegte. So saß er an der Seite seiner jugendschönen Tochter auf dem Throne, als Graf Telramund ergeben sein Knie vor ihm beugte.

»Tretet näher, Graf Friedrich« sagte der Herzog, und hoffnungsvoll ruhte sein Auge auf dem starken Vasallen. »In den heftigsten Schlachten habt Ihr mir treu gedient«, fuhr er fort, »und in der Lenkung meines brabantischen Kronlandes konnte ich mich auf keinen Ratgeber verlassen wie auf Euch. Jetzt schlägt für mich die Stunde des Abschieds . . .«

Telramund hob den Arm. »So dürft Ihr nicht sprechen, gnädiger Herr Herzog. Noch viele Jahre . . .«

Herzog Gottfried war in diesen Augenblicken wie in der Vollkraft seiner Mannesjahre. »Laßt solche Einwände, Graf Friedrich. Wir Menschen kennen das unabwendbare Gesetz des Todes, wir wissen von der Spanne Zeit, die Gott uns gesetzt hat. Der Tod wäre für mich ohne Schrecken, wenn mich nicht die Sorge um meine Elsa erfüllte, die ich ohne väterlichen Schutz zurücklasse . . .«

»Erlaubt mir wiederum Einwand und Widerspruch, Herr Herzog. Eure Tochter ist nicht ohne Schutz. Wenn Ihr mit Recht meine Hilfe in Rat und Tat gelobt habt, so seht darin meine Treue zu Euch. Und brauche ich Euch zu versichern, daß diese Treue unwandelbar von Bestand ist, auch wenn . . .«

Herzog Gottfried blickte ihn an: »Fahret fort«, befahl er.

». . . unwandelbar von Bestand ist, auch wenn das Schicksal Euch von dieser Erde abberufen würde! Meine Treue gilt auch dem, der nach Euch Euren Thron besteigen wird!«

Aufatmend blickte der alte Herzog seinen Vasallen an. »Solche Worte sind Labsal für einen Sterbenden«, sagte er leise; »ich habe Euer Wort, Telramund. Laßt mich jetzt allein.«

Mit tiefer Verneigung schied der Graf von seinem Herrn. Als die Tür sich hinter ihm schloß, sank der Herzog in sich zusammen. Behutsam führten die Diener ihn auf sein Lager. Die Augen voll Tränen, beugte Elsa sich über den Sterbenden. »Du darfst nicht von mir gehen, geliebter Vater«, rief sie aufschluchzend und bedeckte des Vaters Wangen mit Tränen.

Mit inniger Rührung blickte er auf Elsa. »Weine nicht, mein liebes Kind«, sagte er milde; »gegen den Tod sind wir Menschen ohne Macht, und für mich hat er seine Schrecken verloren, seit mich die drückende Sorge verlassen hat. Diese Sorge galt dir, Tochter . . .«

Sie wollte ihn unterbrechen, doch der Vater winkte ab. Zärtlich glitten seine welken Hände ihr über das blonde Haar; mit brechender Stimme fuhr er fort: »Graf Telramund wird seinen Schwur halten und dir als Herzogin ein treuer Beschützer und Berater sein, so wie er bisher die Stütze meines Thrones war. Ich weiß, er ist aufbrausend und von anmaßendem Stolz, aber nie wird er in seiner Treue zu dir wankend werden.«

Herzog Gottfried sprach mit letzter Lebenskraft. »Gerätst du je in ernstliche Bedrängnis, so wende dich vertrauensvoll an Kaiser Heinrich. Er steht als weiser und starker Herrscher über uns allen, er weiß meine Dienste und Taten zu würdigen, und er wird als gerechter Richter sein Urteil sprechen . .«

Als Elsa den gebeugten Kopf hob, blickte sie in zwei gebrochene Augen. Herzog Gottfried hatte ausgelitten.

Mit hohen Ehren trugen die Getreuen den geliebten Herrn zu Grabe. Eilboten trugen die Nachricht an den Kaiserhof, und ebenso schnell kam die Antwort des Kaisers, in der er Gottfrieds Tochter Elsa als Herzogin von Brabant bestätigte.

Im Thronsaal des Schlosses hatte die neue Herrin die Vasallen ihres Vaters um sich versammelt, um sie in neuen Lehnseid zu nehmen. Mancher von ihnen mochte wohl wünschen, an ihrer Seite als ihr Gemahl zu stehen.

»Beugt Euer Knie und schwöret mir Vasallentreue, so wie Ihr meinem Vater gedient habt«, gebot Elsa den Erschienenen.

Gehorsam knieten die Gefolgsleute vor den Stufen des Herzogsthrones und hoben die Hand zum Schwur: »Heil Herzogin Elsa, der Herrin von Brabant!«

Doch mit finsterem, undurchdringlichem Blick, gestützt auf sein mächtiges Schwert, stand Graf Friedrich von Telramund aufrecht; er sprach nicht das Treuegelöbnis, das Elsa als Herzogin rechtmäßig verlangte, und er zeigte sich nicht bereit, ihr zu huldigen.

Die junge Herzogin zwang sich zur Festigkeit.

»Ihr wißt, was Euer Treuegelöbnis von Euch verlangt, Graf Telramund«, rief sie.

»Mir ist nicht bekannt, wovon Ihr sprecht, Frau Elsa. Doch Ihr wißt, was Euer Vater als seinen letzten Wunsch ausgesprochen hat: daß ich als Euer Gemahl an Eure Seite trete und als Herzog von Brabant den Thron Eures Vaters besteige!«

Elsa erbleichte. »Wie könnt Ihr solche anmaßenden Worte, wie könnt Ihr solche abscheuliche Lüge wagen?«

Ungerührt blickte der Telramund sie an: »Wenn Ihr wahrhaftig seid, Frau Elsa, so müßt Ihr eingestehen, wer hier lügnerische Worte spricht. . .«

Elsa stand fassungslos. »Mein Vater hat Euch stets für einen ehrlichen Vasallen gehalten, Graf Friedrich«, sagte sie leise; »Schande über den Lehnsmann, der die Schwäche seiner Herrin auszunutzen sucht.« Damit wandte sie sich zum Gehen.

»Ich werde mein Recht zu erzwingen wissen«, rief der Telramund ihr nach.

Allein in ihrer Kemenate, suchte Elsa Trost in der Erinnerung an ihren Vater. Wenn du in Bedrängnis bist, so wende dich an den Kaiser Heinrich, hatte der Vater gesagt. So schnell also würde sie des Vaters Rat befolgen müssen!

Selbstsicher zeigte sich die Herzogstochter im Kreise ihrer Vasallen, und nur wenige wußten von den schweren Qualen des Zweifels, die ihr Herz erfüllten. In unendlich vielen Gefechten hatte Graf Telramund sich als tapferer Kämpe unter dem Banner des Herzogs Gottfried – bewährt, und Kaiser Heinrich wußte die Leistung dieses starken Recken wohl zu schätzen. Sollte er nicht auch der eidlichen Versicherung des berühmten Vasallen Glauben schenken – und damit Elsas Forderung ohne Wohlwollen gegenüberstehen? Und zum andern: Welcher Ritter würde es wagen, als Widersacher gegen den ausgezeichneten Telramund anzutreten?

Bittere Sorgen, drückende Zweifel erfüllten Elsas Herz. Welch schweres Erbe hatte der Vater ihr hinterlassen! Wie dringlich vermißte sie jetzt seine hilfreiche Fürsorge! Mit gefalteten Händen saß sie im Garten der Burg, der den Blick in die Ferne freigab, und sandte ihre Gebete zum Himmel. Würde Gott sie in ihrer Not im Stiche lassen?

Ihr Blick blieb an einem Pünktchen im Himmelsblau haften, das größer und größer wurde, es wuchs im Näherkommen – und nun sauste vom hohen Äther ein Falke auf sie zu, ein Jagdfalke, der ein feines Silberglöckchen um den Hals trug. Zutraulich ließ das Tier sich auf Elsas Schoß nieder.

Sie fuhr ihm mit der Hand zärtlich über das weiche Gefieder: »Willst du mir Trost zusprechen in meiner Bedrängnis und in meinem Herzenszweifel, oder kommst du gar als Bote eines ritterlichen Mannes, der sich meiner Not annehmen und für meine Ehre eintreten will?«

In tiefem Sinnen ging ihr Blick in die Zukunft. Sie sah vor sich den Kaiser, wie er unter der tausendjährigen Linde zu Gericht saß, sie sah seinen Blick voll Wohlwollen auf den grimmen Telramund gerichtet, der mit abweisender Miene auf seinem Anspruch bestand, sie hörte den Kaiser das Gottesgericht ausrufen, sie sah einen Ritter, der in silberglänzender Rüstung herantrat und das Knie in Ehrfurcht vor dem Kaiser und dann vor ihr beugte. »Ich bin bereit, für Elsa von Brabant in die Schranken zu treten«, sagte er fest. . .

Die Herzogstochter, die einsam auf der Steinbank im Burggarten saß, fuhr auf. Es war nur ein Traum gewesen, den die Hoffnung ihr eingegeben hatte. Wo sollte sich wohl ein Ritter finden, der bereit und stark genug wäre, dem grimmigen Telramund den Anspruch streitig zu machen?

Der Termin des kaiserlichen Hoftages war gekommen. Von der Rheinstadt Köln her war Kaiser Heinrich, den man den Vogler nennt, den Strom hinaufgefahren, und nun wehten am Ufer des Scheldestromes die bunten Kaiserwimpel und Fahnen, und vor dem Seidenzelt inmitten des riesigen Heerlagers flatterte das Kaiserbanner in dem Winde, der von der Nordsee herüberwehte. Von überall waren die Edlen herbeigeeilt, das festliche Ereignis mitzuerleben.

Der Herold trat vor die Schranken und ließ die Posaunen ertönen. »Im Namen des Kaisers, unseres Kaisers Heinrich«, rief er schallend, »gebiete ich Stille für den Gerichtstag. Wer eine Forderung vorzubringen hat, trete vor!«

Er sah fragend auf Elsa von Brabant, die an des Kaisers Seite saß, und alle folgten seinem Blick und sahen mit Bewunderung auf die jugendschöne blonde Herzogstochter, deren Wangen sich in der erregenden Spannung lieblich gerötet hatten. Doch ehe sie das Wort zu ihrer Anklage ergreifen konnte, erhob sich Graf Telramund und trat mit seiner trügerischen Forderung vor des Herrschers Thron.

»Ich heische Recht«, klang seine Stimme über die Menge hin, »und erhebe Klage gegen Elsa, die sich Herzogin von Brabant nennt; ihr Vater, der Herzog Gottfried, hat sie mir vor seinem Tode als eheliche Gemahlin zugesagt.«

»Und die Herzogin?« wandte Kaiser Heinrich sich an Elsa. Doch bevor sie antworten konnte, hatte der Graf wieder das Wort an sich gerissen. »Widerrechtlich verweigert sie mir die Ehe«, gab er finster zurück. »Sie will in mir nicht mehr als den dienstpflichtigen Vasallen sehen!«

»An dem Worte, das ein hundertfach bewährter Ritter beschworen hat, kann der Kaiser nicht Zweifel hegen«, erklärte Heinrich hoheitsvoll. »Doch die Gerechtigkeit gebietet, daß ich auch die Beschuldigte anhöre.«

Elsa nahm alle Kraft zusammen, ihre Sache mit Überzeugungskraft zu vertreten. »Ich begehre nichts als mein Recht« sagte sie. »Was ich ausspreche, ist die Wahrheit.«

Betroffen blickte der Kaiser auf die reine Schönheit, die aus ihren Zügen sprach. Er konnte nicht glauben, daß Graf Telramund, bewährt in so viel Ritterkämpfen, falsches Zeugnis ablege, aber ebenso war er überzeugt, daß eine Herzogstochter wie die schöne Elsa die lautere Wahrheit aussage.

Wie sollte er als Kaiserliche Majestät hier gerechtes Urteil finden? Telramund scheute sich nicht, den Himmel zum Zeugen anzurufen, als er, der Herzogstochter gegenübergestellt, seine Forderung wiederholte.

Auch Elsa blieb bei ihrer Aussage: »Niemals hat mein seliger Vater, der nun in Gottes Frieden ruht, dem Grafen solche Zusage gegeben!«

»Hier versagt Menschenweisheit. Keiner wird sich bei solcher gleichen Aussage anmaßen dürfen, Richteramt zu üben. Jetzt muß ein Gottesurteil entscheiden«, erklärte der Kaiser.

Damit wandte er sich an den Grafen: »Seid Ihr einverstanden, Graf Telramund?«

Die Eisenfaust auf den Schwertknauf gestützt, reckte der Gefragte sich siegessicher: »Ich bin einverstanden!«

Da wandte sich der Kaiser an die Herzogin: »Und Ihr, Elsa von Brabant, ich frage Euch, seid auch Ihr damit einverstanden, daß ein Gottesgericht die Entscheidung fällt?«

Elsas Stimme hatte nicht die selbstbewußte Kraft des herausfordernden Telramund, aber sie zwang sich zur Festigkeit: »Ich stimme dem Gottesurteil zu!«

Der Herold trat in die Schranken und ließ wieder die Posaunen ertönen:

»Die Entscheidung in dem Rechtsstreit des Grafen Telramund gegen Elsa von Brabant obliegt einem Gottesgericht!« rief er. Und dann trat er wieder vor die Herzogin: »So nennt mir, edle Fraue, den Streiter, der Eure Sache vertritt.«

Tiefes Rot zog jäh über Elsas Wangen. Wen sollte sie als Verfechter ihres Anspruchs namhaft machen? Wer würde es wagen, gegen Telramund, den kampfbewährten Recken, in die Schranken zu treten?

»So stellen wir öffentlich die Anfrage«, gebot der Kaiser. Da nahm der Herold seine Trompete, setzte sie an den Mund und blies sein Ankündigungszeichen in alle vier Himmelsrichtungen. »In des Kaisers Namen gebiete ich wiederum Schweigen!« rief er. Und mit weithin schallender Stimme berichtete er den versammelten Edlen von dem Rechtsstreit zwischen Elsa von Brabant, der Herzogstochter, und Friedrich Graf von Telramund. »Ist jemand bereit, die Sache der Herzogin zu verfechten, der trete vor den Kaiser!«

Gespannt blickte der Herrscher über die Menge der erschienenen Ritter hin, mit gesenktem Kopf saß Elsa und wagte nicht, die Augen aufzuheben. Wie sehr entbehrte sie in diesem Augenblick die gütige Zusprache des Vaters! Im Kreise der Ritter blieb es still. Niemand regte sich.

Wieder erklang des Herolds Trompetensignal. »Ich wiederhole die Anfrage«, rief er, für jeden vernehmbar. Doch wieder war sein Rufen vergeblich.

Zum dritten Male setzte der Mann seine Trompete an und blies in alle vier Winde, nach Osten und Westen, nach Norden und Süden. »Zum dritten Male frage ich an, wer bereit ist zum freiwilligen Kampfe für Elsa von Brabant. . .«

Sollte sich das Gottesgericht so schmählich gegen die Herzogstochter und rechtmäßige Herzogin entscheiden?

Da – plötzlich ging eine Bewegung durch die Reihen der Zuschauer, ein Raunen erst und dann erregtes Rufen: »Da, da!« Alle Blicke wandten sich zum Strome hin. Und siehe: Auf der Schelde nahte ein Kahn, in dem stand aufrecht ein Ritter in schimmernder Waffenrüstung. Und – o Wunder: Nicht Segel oder Ruder trieben das Fahrzeug – es wurde an silbernen Kettchen gezogen von einem silberglänzenden Schwan.

»Ein Wunder – ein Wunder!« ging es durch die versammelte Menge, die sich ungläubig und staunend um die unerhörte Erscheinung drängte. Was wollte dieser herrliche Ritter auf dem Hoftag des Kaisers?

Leichtfüßig sprang der Fremde ans Ufer. »Nun sei bedankt, du lieber Schwan«, sagte er mit ritterlicher Gebärde. »Kehr jetzt heim in deine himmlischen Gefilde.« Gehorsam wandte sich das Tier zur Umkehr und schwamm den Strom hinab, wo er ins weite Meer einmündet.

Der Ankömmling schritt in selbstbewußter Haltung durch den Kreis der Ritter auf den Thronsessel zu, beugte vor dem Kaiser das Knie und verneigte sich dann ehrfurchtsvoll vor Elsa, der Herzogin von Brabant. »Verstattet mir, edle Frau, Eure Sache zu verteidigen. Ich bin gekommen, Euch zu Eurem Recht zu verhelfen.«

Mit tiefem Erröten nickte Elsa dem Fremden ihre Zustimmung zu. »Ich danke Euch, Herr Ritter«, sagte sie kaum vernehmbar, »und ich vertraue mich Euch an in dem Gottesgericht, das über mein Schicksal entscheiden soll.«

Elsa atmete tief auf. So hatte ihr Träumen sie also nicht getäuscht!

Auch der Kaiser gab sein Einverständnis. »So nennt nach Ritterbrauch Euren Namen«, sagte er zu dem Recken, der gegen den gefürchteten Grafen für Elsas Frauenehre in die Schranken zu treten bereit war.

»Ich bin Lohengrin«, gab der stattliche Mann zurück und verneigte sich mit ritterlichem Anstand. »Vernehmet aber, ihr schönen Damen und ihr hochgeborenen Herren ringsum, was ich euch sagen muß: Über meine Herkunft darf ich nichts kundtun; ich habe die Gebote meines Ordens beschworen, und diese binden mich zu strenger Verschwiegenheit.«

Des Kaisers Blick ruhte wohlwollend auf dem Fremden, der den riesenstarken Telramund im Kampf bestehen wollte. »Niemand wird an Eurem Rittertum zweifeln«, sagte er ruhig. Dann wandte er sich an den Herold. »Lasset sogleich die Schranken vermessen! Der Kampf soll beginnen!«

Die Menge der Ritter und Damen drängte sich eilfertig zu dem erregenden Waffengang, aus dem nun das Gottesurteil sprechen sollte. Nur mit Mühe wußte Elsa die Fassung zu wahren, als die beiden Kämpfer einander gegenübertraten. Düsteren Haß und Verachtung in seinem Blick, so stand der Brabanter Ritter, in strahlender Jugendkraft Lohengrin, der geheimnisvolle Fremde; als Helmzier trug er einen silberglänzenden Schwan.

Auf des Herolds Zeichen drangen die beiden aufeinander ein. Ungeheuer war die Kraft, mit der Telramund sein Schwert niedersausen ließ, und er war es nicht gewohnt, daß ein Gegner seinen Streichen widerstand. Doch der Schwanenritter erwies sich als Meister behender, gewandter Schwertkunst. Der ungefüge Schlag des Brabanters glitt an seiner Klinge kraftlos ab, und im selben Augenblick traf Lohengrins Waffe mit voller Kraft den Panzer des Gegners, daß der riesenstarke Telramund wankte. Ein Raunen der Bewunderung ging durch die erregte Menge. Bisher hatte noch niemand Graf Telramund im Kampfe straucheln sehen. Des Kaisers Blick glitt zu Elsa hinüber, die neben ihm mit blassem Gesicht den Kampf verfolgte. Wie herrlich vertrat der fremde Ritter die Sache ihrer Ehre!

Der Brabanter Graf setzte zu neuem Schlag an, sein Gegner erwehrte sich leicht und schlug zurück. Hieb und Gegenhieb wechselten in hastiger Folge – da traf Lohengrin den Widersacher so furchtbar am Halsschutz, daß Graf Telramund in die Knie sank. Für den Schwanenritter war es ein leichtes, nun den Todesstreich folgen zu lassen.

Doch da zeigte er, daß er nicht nur ein Meister im ritterlichen Schwertkampf, sondern auch ein auserwählter Edeling von ritterlicher Gesinnung war. Ihn verlangte nicht nach dem Tode des Gegners. Er wollte nur dessen Widerstand brechen, und so begnügte er sich mit einem Hieb seiner flachen Klinge, der Telramund in den Sand streckte. Blitzschnell entriß Lohengrin ihm die Waffe, setzte dem Wehrlosen das Knie auf den Brustpanzer und forderte ihn auf, sich zu ergeben.

Zähneknirschend gehorchte Graf Telramund dem Befehl des Siegers – und sprach damit zugleich das Urteil des anberaumten Gottesgerichts: Es hatte gegen den Grafen Friedrich von Telramund entschieden, es hatte sein Wort als Lüge entlarvt!

»Heil dem Ritter Lohengrin!« erscholl es ringsum. »Heil Elsa, unserer Herzogin!« erhoben sich die Stimmen zu aufbrandendem Chor.

Der Schwanenritter schritt durch die jubelnde Menge, verneigte sich nach Ritterart vor dem Kaiser und trat vor Elsa hin. »Herzogin«, sagte er schlicht, »der Zweikampf, der um Eure Ehre ging, ist beendet. Graf Telramund wird Euch kein Schmähwort mehr sagen. Euer Erbe ist frei.«

Über die Wangen der schönen Elsa glitt flammendes Rot. »Ihr habt mir die Ehre zurückgegeben, Ritter Lohengrin«, sagte sie, »wie soll ich Euch meinen Dank bezeigen?«

Als er antworten wollte, unterbrachen ihn die Zurufe der Menge. Sie galten dem besiegten Telramund; mit Schimpfworten überhäuft, mußte er sich davonstehlen.

»Einen Beweis Eures Dankes, Frau Herzogin?« nahm Lohengrin die Worte Elsas auf. »So gewährt mir die Bitte, die mich hergeführt hat, weil ich von Eurer liebenswerten Schönheit reden hörte: Erlaubet mir, daß ich um Eure Hand bitte, Herzogin Elsa, daß ich Euch bitte, mit mir in ritterlicher Minne den Ehebund zu schließen.«

Niemandem der Umstehenden war zweifelhaft, wie Elsas Antwort lauten würde. Kaiser Heinrich selber weihte den Liebesbund, als er die Hände der schönen Herzogin und des edlen Ritters zusammenfügte. Mit unendlichem Jubel umringten die Ritter und Damen das schöne Paar.

In Anwesenheit des Kaisers wurde die Hochzeit gefeiert. Bevor Lohengrin seine schöne Frau heimführte, erinnerte er sie an das Gelöbnis, an das er gebunden sei durch das Gebot seines Ritterordens. »Niemals darfst du mich nach meiner Herkunft fragen, Elsa«, sagte er mahnend, »niemals. Brichst du dieses Gelöbnis, so bin ich dir auf immer verloren!«

Auf des Kaisers Geheiß war Telramund in die Acht des Reiches getan und des Landes verwiesen; sein gräfliches Wappenschild wurde zerbrochen, sein Adelsname getilgt.

In echtem Eheglück aber lebte das schöne Paar, für jeden ein Vorbild ritterlicher Minne, im Herzogspalast, der »Schwanenburg« von Brabant. Die Landschaft am Unterlauf des Rheines blühte auf unter der weisen und gerechten Herrschaft des Herzogspaares, das gemeinsam den Thron innehatte. Kaum einem seiner fürstlichen Lehnsleute vertraute der Kaiser wie Lohengrin, dem starken Schwanenritter, denn sein Schwertarm war der zuverlässigste Schutz jener Landschaft an der Grenze des Reiches. Das Glück der beiden wurde vollständig durch die beiden Kinder, die ihrer Liebe erwuchsen.

Wenn Lohengrin als Gefolgsmann des Kaisers auf Heerfahrt mit auszog, flog der geheimnisvolle Schwan den Kämpfern voraus und führte sie zum glänzenden Sieg.

Einst hatte Kaiser Heinrich, vom Feldzug gegen die Sarazenen heimgekehrt, sein Hoflager am Mittelrhein aufgeschlagen. Glänzende Festtage und ritterliche Waffenspiele feierten den Sieg über die »Ungläubigen«, an dem Herzog Lohengrin ganz entscheidenden Anteil hatte. Elsa war mit den Kindern erschienen, um den geliebten Gemahl zu begrüßen.

Beim ritterlichen Turnier war wieder das Lob des Schwanenritters in aller Munde. Niemand konnte der ungestümen Gewalt seines Schwertes und der behenden Kraft seiner Kampfesweise widerstehen. Wie liebliche Musik klang alles Lob, das Lohengrin galt, in Elsas Ohren.

Doch da mischte sich in den jubelnden Beifall der Zuschauer eine Stimme, die sie wie giftiger Schlangenbiß traf: ,»Wie kann man denn einen Ritter mit Lob und Preis erheben, wenn man nicht einmal seine Herkunft weiß? Jeder hochgeborene Mann nennt mit Stolz seines Vaters Namen. Nur wer von dunkler Abstammung ist, verheimlicht sie!«

Elsa blickte sich um und erkannte eine Ritterdame, die einst zum Freundeskreis des Grafen Telramund gehört hatte.

»Und wer etwas zu verheimlichen hat, von dem darf man Böses argwöhnen«, fuhr die giftige Stimme fort. »Sollte der geheimnisvolle Lohengrin, der sich zu unserm Herzog gemacht hat, etwa mit dem Teufel verbündet sein?«

Soeben klang Jubel über den Festplatz hin, denn wieder hatte der unüberwindliche Lohengrin seinen Turniergegner in den Sand gesetzt. Doch Elsa konnte sich nicht dagegen wehren, daß ihre Augen von Tränen schimmerten, als der Gemahl ihr in strahlender Freude entgegentrat.

In seiner Siegesstimmung erkannte er nicht den Grund für ihren Kummer, doch die kränkenden Worte hafteten wie ein giftiger Pfeil in Elsas Seele. Sie bohrten tiefer und tiefer und streuten Zweifel über Zweifel, sie raubten ihr die Herzensruhe und verdunkelten allen Sonnenschein, der dem Eheglück der beiden gestrahlt hatte.

Schließlich wußte sich Elsa in ihrem zermürbenden Zweifel keinen Ausweg mehr. »Geliebter Mann«, begann sie zaghaft, »müssen Menschen, die sich Liebe gelobt haben, nicht gegenseitiges Vertrauen zeigen?«

Lohengrin wußte sofort, wohin ihre Frage zielte, und blickte sie warnend an: »Diese Frage muß ich an dich richten, Elsa!«

Doch sie wollte seinen warnenden Vorwurf nicht verstehen. »Sind wir es nicht unsern Kindern schuldig, daß sie die Herkunft ihrer Eltern kennen?«

Lohengrin fuhr auf. »Elsa«, rief er beschwörend, »du spielst mit unserm Eheglück! Elsa, halt ein!«

Aber ihr Wort war nicht mehr zurückzuhalten. »Wenn du mich ehrlich liebst, so sag mir, Lohengrin, welcher Herkunft du bist. . .«

Totenbleich blickte er auf die Frau, die er so liebte. ,»Elsa, nun ist es um unser Eheglück geschehen. Das verhängnisvolle Wort ist gesprochen. Sieh dort hinüber!«

Sie blickte in die Richtung zum Strom, wohin sein ausgestreckter Arm zeigte. Ruhig und gemessen näherte sich von dorther der Schwan, den sie kannte, mit dem Boot, das ihr einst den Geliebten zugeführt hatte.

»Der Schwan«, stieß sie tonlos hervor und brach zusammen.

»Ja, der Schwan«, wiederholte Lohengrin düster; »meines Bleibens ist nicht länger.« Liebevoll hob er die Frau empor.

»Bevor ich scheide«, sagte Lohengrin mit fester Stimme, »sollst du erfahren, was zu wissen dich drängte: du sollst meine Abkunft kennen.«

»So höret«, wandte er sich mit fester Stimme an die Ritter und die Menge der edlen Damen, die ihn – auch Kaiser Heinrich war hinzugetreten – umringten, »höret, aus welchem Geschlecht ich stamme. Vernimm es du, geliebte Elsa: Mein Vater ist Parzival, der Hüter des Heiligen Grals und der Hochmeister des Templeisen-Ordens. Diesem Orden gehöre auch ich an. Nach unserer Ordensregel haben wir die Aufgabe, edlen Menschen in ihrer Bedrängnis beizustehen, so wie ich für Elsa eingetreten bin. Wenn jetzt meines Bleibens nicht länger ist, so bitte ich Euch, Herr Kaiser: nehmt Euch meines geliebten Weibes und meiner vaterlosen Kinder an . . .«

»Ihr habt mein sicheres Versprechen«, rief Kaiser Heinrich. Vom Ufer her erklang der Ruf des Schwans. »Ich komme« sagte Lohengrin. In inniger Liebe umarmte er die untröstliche Elsa und seine Kinder, grüßte in ritterlicher Art den Kaiser samt den Edlen, die im Kreise standen, und sprang in den Kahn. Das geheimnisvolle Tier steuerte mit seiner Last schnell auf die Mitte des Stromes zu und entführte den herrlichen Ritter. Niemandem war es beschieden, ihn jemals wiederzusehen.

Elsa, die mit der verbotenen Frage ihr strahlendes Eheglück jäh zerstört hatte, wußte, was nun ihre Aufgabe war. Im Sinne des herrlichen Ehegatten führte sie die Regierung des Landes Brabant und erzog ihre Kinder nach dem Vorbild des Vaters. Von diesen entstammen viele adlige Geschlechter, die den Rhein hinauf und hinab mit hohem Ritterruhm gelebt haben.

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