Drittes Kapitel


Rund um unser Haus

Als wir den Palast verließen, waren wir immer noch Seefahrer, die zufällig an Land sind, aber innerhalb einer Stunde hatten wir unser Hab und Gut in einem der sechs Fremdenhäuser von Butaritari untergebracht, nämlich in dem, das gewöhnlich von Maka, dem hawaiischen Missionar, bewohnt wurde. Zwei Firmen von San Franzisko haben hier Niederlassungen, Messrs. Crawford und Messrs. Wightman Brothers, die erstere beim Palast mitten in der Stadt, die zweite am Nordeingang, jede mit einem Laden und einer Bar. Unser Haus stand auf dem Gelände von Wightman, zwischen dem Laden und der Bar, innerhalb einer Umzäunung. Auf der anderen Seite der Straße lagen Eingeborenenhäuser versteckt im Buschrand, und eine dichte grüne Mauer von Palmen hielt jeden Windhauch ab. Eine kleine sandige Bucht der Lagune schnitt hinten in das Grundstück ein, begrenzt von einem Pier mit einer Veranda, der Arbeit von Königinnenhänden. Zur Flutzeit segelten die Boote hier herein, um Ladungen in Empfang zu nehmen. War die Flut nicht hoch genug, so ankerten die Boote eine halbe Meile entfernt, und eine große Menge von Eingeborenen stieg die Piertreppen hinunter, schob sich über den Sand in Reihen und Gruppen, watete mit Koprasäcken bis zum Gürtel im Wasser und schlenderte zurück, um neue Lasten zu holen. Das Geheimnis des Koprahandels plagte mich, als ich dasaß und den Profit auf Treppe und Sand fallen sah.

Vor dem Hause strömte von kurz nach vier Uhr morgens bis neun Uhr abends das Stadtvolk ununterbrochen auf der Straße vorüber, Familien gingen zu den entfernten Gebieten der Insel, um auf ihren Ländereien Kopra zu ernten, Frauen wandten sich dem Busch zu, um Blumen für die Abendtoilette zu sammeln, und zweimal täglich gingen die Palmweinzapfer mit Messer und Schale ausgerüstet vorbei. Beim ersten Morgengrauen und dann wieder am Spätnachmittag bummelten sie vorüber, um zu ihrem Geschäft in den Baumwipfeln zu gelangen, bogen hier und da in den Busch ab und verschwanden vom Angesicht der Erde. Ungefähr um dieselbe Stunde, wenn die Flut in der Lagune nicht zu hoch steht, ist man wahrscheinlich auch selbst auf dem Marsch über die Insel zum Bad und betritt dicht auf ihren Fersen die Wege des Palmenhains. Obgleich die Sonne noch nicht aufgegangen ist, flackern im Osten schon Feuerbrände auf, und die gewaltigen Passatwolken erglühen und verkünden als Vorboten der Sonne den kommenden Tag. Die Brise strömt uns entgegen, hoch oben in den Palmenwipfeln, ihrem Spielzeug, ertönt lautes Rauschen; wohin man auch blickt, nirgendwo ist ein menschliches Wesen, nur die Erde und der rauschende Wald. Und über unserem Kopf ertönt im dichten Laubwerk der Gesang eines unsichtbaren Sängers, von fernher antwortet ein zweiter Baumgipfel, und noch weiter weg, im Herzen der Wälder, sitzt verborgen und schaukelnd ein dritter Minnesänger. So hocken überall auf der Insel in der Höhe die Palmweinzapfer, ihr Gewerbe führt sie auf die Gipfel, sie blicken rundum auf die See, halten Ausschau nach Schiffen und schmettern wie große Vögel ihre Gesänge in die Morgenfrühe. Sie singen mit einer gewissen Wollust und bacchantischen Fröhlichkeit. Volltönig und melodiös senkt sich plötzlich ihre Stimme von den Baumwipfeln nieder, woher sonst das Gezwitscher der Vögel dringt. Und doch sind diese Lieder keineswegs leichter Singsang, die Worte sind uralt, außer Gebrauch und heilig, wenige verstehen sie, vielleicht niemand vollkommen, aber es wurde allgemein angenommen, daß die Zapfer »beten, um guten Wein zu bekommen, und von ihren früheren Kriegen singen«. Das Gebet wird denn auch erhört, und wenn die Schale mit dem schäumenden Naß zu unserer Tür gebracht wird, ist es ein Getränk, an dem man sein Wohlgefallen haben kann. Den ganzen Vormittag kann man immer wieder kosten, es gärt, wird immer schärfer und wird zu einem neuen Getränk, das nicht weniger köstlich ist, aber im Laufe des Tages schreitet die Gärung rasch fort, und der Trank wird herbe; nach zwölf Stunden ist es Brothefe, nach zwei Tagen ein teuflisches Rauschgift, die Ursache von Verbrechen.

Die Menschen haben bemerkenswert arabische Gesichtszüge, tragen oft Bärte und Schnurrbärte, sind oft buntfarbig gekleidet, manche haben Arm- und Fußspangen, sie schreiten alle einher wie spanische Edelleute und erwidern den Gruß mit hochmütiger Miene. Die Dandies beiderlei Geschlechts tragen das Haar turbanartig zu krausem Wust gedreht, und ein spitzer Stab wird wie die Dolche der Japaner als Kamm benutzt und zierlich zwischen die Locken gesteckt. Die Frauen schauen unter ihrem Haarbüschel entzückend aus. Die Rasse kann sich mit den Tahitiern an Weibesschönheit nicht messen; ich bezweifle, ob der Durchschnitt groß ist, aber manche der niedlichsten Mädchen und eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe, waren Gilbertinerinnen. Butaritari ist als Handelszentrum der Gruppe europäisiert, der farbige Überwurf oder das weiße Hemdgewand werden allgemein getragen, das letztere abends; der Exporthut, beladen mit Blumen, Früchten und Bändern, ist bedauerlicherweise nicht unbekannt und die charakteristische Frauenkleidung der Gilbertinseln nicht mehr allgemein im Gebrauch. Das Ridi ist sein Name, ein entzückendes Schürzchen oder Gürtelchen aus den geräucherten Fasern der Kokospalmblätter, nicht unähnlich geteerten Stricken; das untere Ende erreicht knapp die Mitte des Schenkels, das obere ist so niedrig über die Hüfte gelegt, daß es kaum zu haften scheint. Ein Niesen, denkt man, müßte genügen, um die Dame ganz zu enthüllen. »Das gefährliche, haarbreite Ridi« war unsere Bezeichnung dafür, und in dem Streit über die Frauenkleidung gefällt es unglücklicherweise niemand: die Prüden verdammen es als ungenügend, die Leichtsinnigeren finden es nicht liebenswert genug. Aber wenn eine zierliche Gilbertinerin am vorteilhaftesten aussehen soll, muß sie dies »Gewand« tragen. Mit ihm allein und sonst nur nackt bewegt sie sich in unvergleichlicher Ungezwungenheit, Grazie und Lebendigkeit, die die Dichtung Mikronesiens rühmt. Steckt man sie in ein langes Gewand, so flieht die Charme, und sie rudert einher wie eine Engländerin. Zur Zeit der Abenddämmerung waren die Vorübergehenden immer prächtiger gekleidet. Die Männer strömten herbei in allen Farben des Regenbogens – oder wenigstens der öffentlichen Läden – und Männer und Frauen schmückten sich mit wohlriechenden frischen Blumen. Eine kleine weiße Blüte wird bevorzugt, bald wie zierliche Sterne einzeln in das Frauenhaar gesät, bald zu dichtem Kranz geflochten. Bei Hereinbruch der Nacht wurde die Menge auf den Straßen manchmal dichter, und das Stapfen und Schurren nackter Füße nahm kein Ende, die Spaziergänger waren meistens ernst, das Stillschweigen wurde nur manchmal unterbrochen von kichernden und hin und her huschenden jungen Mädchen, selbst die Kinder waren still. Um neun schlug von der Kathedrale die Schlafglocke, und das Leben in der Stadt hatte ein Ende. Um vier am nächsten Morgen wird das Signal in der Dunkelheit wiederholt, und die unschuldigen Gefangenen werden in Freiheit gesetzt, aber sieben Stunden müssen alle im Hause weilen – ich wollte gerade sagen: hinter verschlossenen Türen, von einer Gegend, wo Türen und selbst Wände Ausnahmen sind –, sie müssen also wenigstens unter ihren luftigen Dächern verweilen oder sich unter zeltförmigen Moskitonetzen zusammenrollen. Wenn eine wichtige Botschaft übermittelt oder jemand auf die Reise geschickt werden soll, so muß der Bote sich der Polizei deutlich mit einem großen Feuerbrand von Kokosnußfasern ankündigen, das wie ein lebendiges Freudenfeuer die Häuser entlang flackert. Die Polizei selbst wandert im Dunkeln und späht in der Nacht aus nach Übeltätern. Ich haßte ihre heimtückische Anwesenheit; besonders ihr Hauptmann, ein gerissener alter Mann in weißer Kleidung, umschlich nachts meine Wohnung, so daß ich es fertiggebracht hätte, ihn zu verprügeln, aber der Kerl war ja vom Gesetz geschützt.

Keiner der elf Händler aus den Niederlassungen kam zur Stadt, kein Kapitän ging in der Lagune vor Anker, ohne daß wir sie innerhalb einer Stunde zu Gesicht bekamen. Das war zurückzuführen auf die Lage unseres Hauses zwischen dem Laden und der Bar Sanssouci, wie man sie nannte. Mr. Rick war nicht nur der Geschäftsführer von Messrs. Wightman, sondern auch Konsularagent für die Vereinigten Staaten, Mrs. Rick war die einzige weiße Frau auf der Insel und eine von den beiden einzigen im Archipel. Auch ihr Haus mit den kühlen Veranden, Bücherregalen und bequemen Möbeln hatte nicht seinesgleichen zwischen Jaluit und Honolulu. Jeder besuchte sie infolgedessen, außer denen, die sich nach Südseemanier herumstritten um den letzten Cent beim Koprahandel oder über irgendeine Differenz beim Geflügelkauf. Aber selbst diese wurden bald, wenn sie nicht von Norden erschienen, im Süden sichtbar, denn Sanssouci zog sie an wie mit Stricken. Auf einer Insel mit einer weißen Gesamtbevölkerung von zwölf Köpfen hätte man eine der beiden Schankstuben als überflüssig ansehen können, aber jeder Deckel paßt zu seinem Topf, und die beiden Lokale auf Butaritari sind in der Praxis für Kapitäne und Schiffsbesatzungen höchst angenehm: The Land we live in wird stillschweigend den Matrosen überlassen, Sanssouci gehört den Offizieren. So aristokratisch waren meine Gewohnheiten und so groß meine Furcht vor Mr. Williams, daß ich niemals die erstere Bar besuchte, aber in der anderen, dem Klublokal oder vielmehr dem Kasino der Insel, verbrachte ich regelmäßig meine Abende. Sie war klein, aber hübsch eingerichtet, und abends beim Lampenlicht funkelten die Gläser und strahlten die bunten Bilder wie ein Theater zur Weihnachtszeit. Die Bilder waren Plakate, das Glas schlecht genug, das Holz des Raumes von ungeschickter Hand zusammengefügt, aber das Ganze erschien auf dieser verwunschenen Insel wie unerhörter Luxus und unglaublicher Reichtum. Hier wurden Lieder gesungen, Geschichten erzählt, Kunststücke vorgeführt und Spiele gespielt. Ricks, wir, der Norweger Tom als Barkeeper, ein oder zwei Kapitäne von den Schiffen und die drei oder vier Handelsleute, die von abgelegenen Teilen der Insel in ihren Booten oder zu Fuß herbeigekommen waren, bildeten gewöhnlich die Gesellschaft. Die Händler, alle ehemalige Seeleute, sind komisch stolz auf ihren neuen Beruf. »Südseekaufleute« ist der Titel, den sie bevorzugen. »Wir sind alle Seeleute hier« – »Kaufleute, bitte« – »Südseekaufleute« – das war die Art der Unterhaltung, die sich endlos wiederholte, und die niemals ihren Reiz zu verlieren schien. Wir fanden sie immer schlicht, klug, heiter, tapfer und gefällig und erinnern uns von Zeit zu Zeit mit Vergnügen an diese Händler von Butaritari. Ein schwarzes Schaf war allerdings unter ihnen. Ich erzähle von ihm unter Angabe seines Wohnortes gegen meine sonstige Gepflogenheit, denn in diesem Falle habe ich keine Rücksicht zu nehmen; der Mann ist typisch für die Klasse der Schurken, die einstmals das ganze Gebiet der Südsee in Verruf brachten und noch heute auf den wenig besuchten Inseln von Mikronesien hausen. Man sagte von ihm im Hafen, daß er ein vollkommener Gentleman sei im nüchternen Zustande, aber ich habe ihn niemals anders als betrunken gesehen. Die wenigen unangenehmen und barbarischen Züge der Mikronesier hatte er mit der List eines Sammlers herausgefunden und sie tief in den Boden seiner ihm angeborenen Bosheit gepflanzt. Er hatte unter der Anklage eines verruchten Mordes gestanden, war freigesprochen worden und hatte sich der Tat seither immer großsprecherisch gerühmt, was mich vermuten läßt, daß er unschuldig war. Seine Tochter ist entstellt durch eine grausame Mißhandlung, die er versehentlich beging, denn er wollte seine Frau treffen und geriet in der Dunkelheit der Nacht und im Rausch des Kokosbrandys an das unrichtige Opfer. Die Frau floh und verbirgt sich seither im Busch bei den Eingeborenen, während der Gatte noch immer vor tauben Ohren ihre zwangsweise Rückkehr verlangt. Er kennt kein besseres Geschäft als Eingeborene betrunken zu machen, um ihnen dann die Summe der verwirkten Geldstrafe gegen Überlassung einer hohen Hypothek vorzuschießen. »Respekt vor den Weißen« ist sein ewiges Gerede: »Was dieser Insel fehlt, ist der Respekt vor den Weißen!« Auf seinem Wege nach Butaritari, wo ich mich damals aufhielt, fand er Spuren seiner Frau bei einigen Eingeborenen im Busch und machte einen Vorstoß, um sie gefangenzunehmen, worauf einer ihrer Begleiter ein Messer zog und der Gatte die Flucht ergriff. »Nennen Sie das den richtigen Respekt vor den Weißen?« rief er aus. Bald nachdem wir seine Bekanntschaft gemacht hatten, bewiesen wir unseren Respekt für diese Art von Weißen, indem wir ihm bei Todesstrafe das Betreten unseres Grundstückes verboten. Von nun ab lungerte er oft in der Nachbarschaft herum, möglicherweise mit Gefühlen des Neides oder Racheplänen, sein weißes hübsches Gesicht, das ich stets mit Verachtung sah, blickte uns über den Zaun zu allen Stunden des Tages an, und einmal rächte er sich, indem er uns eine niedrige Inselbeleidigung zurief, die uns keineswegs traf, aber seinen englischen Lippen unglaublich gemein stand.

Unser Gelände, das dieser Ausbund von Würdelosigkeit umwandelte, war ziemlich ausgedehnt. In einer Ecke war ein Gitterwerk mit einem langen Tisch aus rohem Holz, hier war vor einiger Zeit das Fest des vierten Juli mit seinen denkwürdigen Folgen, von denen wir noch berichten müssen, gefeiert worden, hier nahmen wir unsere Mahlzeiten ein, hier bewirteten wir den König und die Edlen von Makin mit einem Diner. In der Mitte stand das Haus mit Vorder- und Hinter- Veranda und drei Innenräumen. Auf der Veranda hängten wir unsere Kriegsschiffhängematten auf, dort arbeiteten wir tagsüber und schliefen wir nachts. Im Hause waren Betten, Stühle, ein runder Tisch, eine feine Hängelampe und Bilder der königlichen Familie von Hawaii. Das Bild der Königin Viktoria sagt nichts, aber die Gemälde von Kalakaua und Mrs. Bishop verraten allerlei, und wirklich waren wir heimliche Bewohner des Pfarrhauses. Am Tage unserer Ankunft war Maka abwesend, treulose Verwalter öffneten die Tore, und der liebenswürdige, sittenreine Mann, ein geschworener Feind von Alkohol und Tabak, fand bei der Rückkehr seine Veranda von Zigaretten bestreut und sein Wohnzimmer entwürdigt durch Flaschen. Er stellte nur eine Bedingung: auf den runden Tisch, den er zu Sakramentsfeiern benutzte, sollten wir keinen Alkohol setzen; in jeder anderen Beziehung beugte er sich vor den vollendeten Tatsachen, verweigerte die Annahme von Miete, zog sich in ein Eingeborenenhaus jenseits des Weges zurück und suchte die entlegensten Orte der Insel nach Lebensmitteln für uns ab, wobei er sein Boot selbst bediente. Er machte Schweine für uns ausfindig an geheimnisvollen Orten, denn man sah hier sonst überhaupt keine Schweine, er brachte uns Geflügel und Taro. Als wir dem Monarchen und dem Adel unser Festmahl gaben, besorgte er uns alles für die Tafel, überwachte die Kocherei, sprach das Gebet bei Tisch, und als auf das Wohl des Königs getrunken wurde, begann er mit einem englischen Hip-Hip-Hip das Hochrufen. Niemals hatte er eine glücklichere Eingebung, denn das Herz des verfetteten Königs schlug hoch in seiner Brust bei dem Ruf. Alles in allem hatte ich niemals ein liebenswürdigeres Wesen gesehen als diesen Pastor von Butaritari. Fröhlichkeit, Güte, edle und freundschaftliche Gefühle strahlten von diesem Manne aus in Rede und Geste. Er liebte es zu übertreiben, die Rolle des Augenblicks schauspielerisch zu gestalten, Lungen und Muskeln anzustrengen und mit seinem Körper zu reden und zu lachen. Er besaß die Morgenheiterkeit von Vögeln und gesunden Kindern, und sein Humor wirkte ansteckend. Wir waren allernächste Nachbarn und trafen uns täglich, aber unsere Begrüßungen dauerten minutenlang ohne Unterbrechung, wir schüttelten uns die Hände, klopften uns auf die Schultern, taten, als ob wir Seiltänzer und Hanswürste wären, und lachten, daß uns die Seiten weh taten über irgendeinen Witz, der kaum ein Kichern erregt hätte in einer Kinderschule. Es konnte fünf Uhr in der Frühe sein, die Palmweinzapfer waren soeben erst vorübergegangen, die Straße war leer, der Schatten der Insel erstreckte sich noch weit in die Lagune hinaus: aber diese Anregung stimmte mich den ganzen Tag hindurch fröhlich.

Trotzdem hatte ich Maka im Verdacht, daß er im geheimen melancholisch sei; dieses Höchstmaß von Frohsinn konnte kaum immer echt sein. Außerdem war er lang, hager, sein Gesicht war mit Runzeln und Furchen bedeckt, er war schon ein wenig ergraut, und seine Haltung am Sonntag war fast saturninisch. An diesem Tage gingen wir in Prozession zur Kirche oder, wie ich immer sagen muß, zur Kathedrale: Maka als dunkler Fleck in der heißen Landschaft in Zylinder, schwarzem Gehrock und schwarzen Hosen, unter dem Arm das Gesangbuch und die Bibel, seine Züge voll ehrwürdigem Ernst. Neben ihm Mary, sein Weib, eine ruhige, weise und ansehnliche ältere Dame, streng gekleidet; ich selbst folgte ihnen mit sonderbaren und lebhaften Gedanken. Lange Zeit vorher hatte ich unter Glockenklang, Flußrauschen und Vogelgesang Sonntag für Sonntag einen Geistlichen, in dessen Haus ich wohnte, durch ein grünes schottisches Tal begleitet, und tief berührten mich die Ähnlichkeiten, die Unterschiede und die große Zahl der Jahre und der Todesfälle. In der großen dämmerigen Palmholzkathedrale betrug die Zahl der Anwesenden selten mehr als dreißig, die Männer saßen auf der einen Seite, die Frauen auf der anderen, ich selbst ehrenhalber unter den Frauen, und da diese kleine Missionsgemeinde sich dicht um die Plattform scharte, fühlten wir uns winzig in dem runden Gewölbe. Die Texte wurden in Wechselrede gelesen, die Gemeinde wurde in der Kirchenlehre geprüft, ein blinder junger Mann wiederholte jede Woche eine große Anzahl von Psalmen. Hymnen wurden gesungen – ich habe niemals schlechter singen hören –, und dann folgte die Predigt. Zu sagen, daß ich nichts verstand, wäre eine Lüge. Gewisse Dinge hatte ich mit Gewißheit zu erwarten gelernt, die Namen Honolulu und Kalakaua, die Worte Cap’n-man-o’wa‘ und Schiff sowie die Beschreibung eines Sturmes auf hoher See kamen unfehlbar vor, und nicht selten wurde ich außerdem mit der Erwähnung meines eigenen Herrschers belohnt. Das übrige war Geräusch für meine Ohren und Schweigen für meinen Geist: immer größer wurde die Langeweile, unerträglich die Hitze, der harte Stuhl und der Blick durch die weit offenen Türen auf die glücklicheren Heiden im Grünen. Schlaf brütete in meinen Gliedern und Augen, Schlaf summte in meinen Ohren, er hatte die Herrschaft in der dämmerigen Kathedrale, die Versammelten drehten sich hin und her, streckten sich, stöhnten und grunzten laut, dehnten gähnend die Liedernoten: Laute, wie man sie manchmal von Hunden hört, wenn sie den Höhepunkt tragischer Bitternis und Langeweile erreicht haben. Vergebens schlug der Prediger auf den Tisch, vergebens rief er die Hörer einzeln beim Namen. Ich selbst war vielleicht ein wirksameres Reizmittel, und wenigstens einem alten Herrn bereitete der Anblick meines erfolgreichen Kampfes gegen den Schlaf – ich hoffe wenigstens, daß er erfolgreich war – einen heiteren Zeitvertreib. Wenn er nicht gerade Fliegen fing oder seinem Nachbarn einen Schabernack spielte, starrte er unverwandt und grausamen Blickes auf die einzelnen Stadien meiner Agonie, und einst, als sich der Gottesdienst seinem Ende näherte, zwinkerte er mir durch die Kirche hindurch zu.

Ich berichte lächelnd von diesem Gottesdienst, aber ich war immer anwesend, immer mit Hochachtung vor Maka, immer mit Bewunderung über seinen tiefen Ernst, seine flammende Energie, das Feuer seines begeisternden Auges und die bewegte Aufrichtigkeit seiner Rede. Ihm zuzusehen, wie er allwöchentlich ein totes Pferd peitschte und ein verloschenes Feuer anfachte, war stets eine Lehre der Stärke und Standhaftigkeit. Es ist fraglich, ob der Erfolg nicht größer gewesen wäre, wenn man die Mission besser unterstützt und ihn von geschäftlichen Belastungen befreit hätte. Ich selbst bin anderer Meinung und glaube, daß nicht Vernachlässigung, sondern Strenge seine Herde verringert hat, jene Strenge, die einstmals eine Revolution hervorrief, und die heute bei einem so lebensnahen und liebenswürdigen Mann den Betrachter in Erstaunen setzt. Kein Lied, kein Tanz, kein Tabak, kein Alkohol, keine Lebensfreude – nur Arbeit und Kirchenbesuch: das ist die Sprache seines Antlitzes, und das Antlitz ist das des polynesischen Esaus, aber die Stimme ist die Stimme eines Jakobs aus einer anderen Welt. Ein Polynesier ist im besten Falle eine höchst eigenartige Figur als Missionar auf den Gilbertinseln, denn er kommt aus einem Lande, das unkeusch in höchstem Maße ist, in Gegenden, die offensichtlich streng sittlich sind; er entstammt einem Volk, das von Gespensterfurcht besessen ist, und lebt unter Leuten, die verhältnismäßig kühn sind gegenüber den Schrecken der Nacht. Diese Gedankengänge drängten sich mir eines Morgens auf, als ich zufällig im Mondschein draußen war und die ganze Stadt im Dunkeln liegen sah, während am Bett des Missionars die treue Lampe brannte. Es bedarf keines Gesetzes, keines Feuers und keiner wachsamen Polizei, um Maka und seine Landsleute davon abzuhalten, während der Nacht ohne Laterne spazierenzugehen.

Viertes Kapitel


Geschichte eines Tabus

Am Morgen nach unserer Ankunft (Sonntag, 14. Juli 1889) waren unsere Photographen früh wach. Wieder einmal durchschritten wir eine schweigende Stadt, viele lagen noch schlafend im Bett, manche saßen träumend in ihren offenen Häusern, nirgendwo ein Laut der Unterhaltung oder Geschäftigkeit. In dieser Stunde vor den starken Schatten des Tageslichts schien das Stadtviertel beim Palast und Kanal ein Landungsplatz aus Tausendundeiner Nacht oder aus klassischen Dichtungen zu sein; hier war das richtige Ziel für Feenschiffe, hier mochte ein abenteuernder Prinz an Land gehen, um neue Bekanntschaften zu machen und Neues zu erleben, und das Inselgefängnis, das auf dem dämmerigen Antlitz der Lagune schwamm, lag da wie eine zweite Gralsburg. An solchem Ort und zu solcher Stunde empfing man nicht den Eindruck einer Reise in fremde Länder, sondern vielmehr den vergangener Zeiten; es schien uns, als hätten wir nicht viele Breitengrade durchquert, sondern als wären wir Hunderte von Jahren zurückversetzt und hätten gleichzeitig Heimat und Jetztzeit verlassen. Ein paar Kinder folgten uns, meistens nackt, alle schweigend; im klaren, pflanzenreichen Wasser des Kanals wateten einige schweigende junge Mädchen, die braunen Schenkel entblößt, und eines der Maniap’s vor dem Palasttor zog uns an durch leises, aber erregtes Stimmengesumm.

Die ovale Hütte war voll von Menschen, die mit gekreuzten Beinen dasaßen. Der König war anwesend in gestreiften Pyjamas, seine Rückendeckung bildeten vier Wachtsoldaten mit Winchesterbüchsen, seine Miene und Haltung zeigte ungewöhnliche Erregtheit und Entschlossenheit, Gläser und schwarze Flaschen machten die Runde, und das Gespräch war laut, allgemein und angeregt. Ich war zunächst geneigt, diese Szene als verdächtig zu betrachten. Aber die Stunde schien ungeeignet für ein Gelage, das Trinken war außerdem durch das Landesgesetz und die Vorschriften der Kirche verboten, und während ich noch zögerte, zerstreute die strenge Haltung des Königs meine letzten Zweifel. Wir waren gekommen, um ihn, umgeben von seinen Wachen, zu photographieren, und bei der ersten Andeutung dieser Absicht revoltierte seine Frömmigkeit. Wir wurden an die Heiligkeit des Tages, eines Sonntags, erinnert, an dem du nicht photographieren sollst, und kehrten mit einem Floh im Ohr zurück, die verschmähte Kamera unter dem Arm.

In der Kirche überraschte es mich ein wenig später, daß der Thron unbesetzt blieb. Ein so begeisterter Sonntagsanhänger mußte eigentlich Zeit gefunden haben, anwesend zu sein. Meine Zweifel belebten sich wieder, und bevor ich zu Hause war, erhielt ich Gewißheit. Tom, der Barkeeper von Sanssouci, war im Gespräch mit zwei Abgesandten des Hofes. Der » keen«, sagten sie, wünschte » din«, und wenn Gin nicht vorhanden sei, » perandi«, Brandy. Kein din, war Toms Antwort, und kein perandi, aber pira, Bier, wenn sie es wünschten. Anscheinend wollten sie kein Bier haben und zogen sich verdrießlich zurück.

»Was bedeutet das alles?« fragte ich, »veranstaltet die Insel ein Zechgelage?«

Es war in der Tat so. Am vierten Juli hatte man ein Festgelage gegeben, und der König hatte auf Anraten der Weißen das Tabu für alkoholische Getränke aufgehoben. Es gibt ein Sprichwort von Pferden, das sich kaum auf das höchstentwickelte Tier anwenden läßt, von dem man vielleicht richtiger sagt, ein einzelner könne es zum Trinken bringen, aber zwanzig nicht zum Aufhören. Das Tabu war vor zehn Tagen aufgehoben und noch nicht wieder auferlegt. Zehn Tage lang hatte die Flasche in der Stadt die Runde gemacht, oder man hatte, wie wir am gestrigen Nachmittag gesehen hatten, betäubt geschlafen. Der König, von den Altmännern und seinen eigenen Gelüsten bestimmt, hielt die Erlaubnis immer noch aufrecht, verschleuderte alle seine Ersparnisse im Trunk und nahm an Saufgelagen teil, ja, er gab den Ton an. Die Weißen waren die Anstifter dieser Krisis, auf ihren eigenen Vorschlag hin hatte man zuerst die Genehmigung erteilt, und eine Zeitlang war es ihnen im Interesse des Handels ohne Zweifel recht, daß das Trinken anhielt. Dies Vergnügen war ihnen nun schon eine Weile vergangen, das Gelage hatte sich, wie man zugab, über die Maßen hinausgezogen, und es entstand die Frage, wie man es zu einem Ende bringen könnte. Daher die Weigerung Toms. Aber diese Weigerung war nur für den Augenblick bestimmt und hatte offenbar keinen Erfolg, denn die Boten des Königs, von Tom in Sanssouci zurückgewiesen, würden in » The Land we live in« von dem habgierigen Mr. Williams versorgt werden.

Der Gefahrengrad war damals nicht leicht abzuschätzen, und ich neige heute zu der Ansicht, daß man ihn etwas übertrieb. Aber die Haltung von Trunkenbolden selbst bei uns in der Heimat ist immer eine ängstliche Angelegenheit, und bei uns zu Hause ist die Bevölkerung von den Niedrigsten bis zu den Höchsten nicht mit Revolvern und Repetiergewehren bewaffnet; auch gehen wir nicht städteweise auf den Bummel, oder ich möchte sagen staatweise, während hier König, Magistrat, Polizei und Armee sich alle zu allgemeiner Betrunkenheit vereinigten. Auch muß man bedenken, daß wir hier auf Barbareninseln weilten, die selten besucht werden und erst seit kurzer Zeit und nur teilweise zivilisiert sind. In der Tat ist auf den Gilbertinseln eine immerhin beträchtliche Anzahl von Weißen, hauptsächlich durch eigenes Verschulden, umgekommen, und die Eingeborenen haben in mehr als einem Fall Neigung gezeigt, eine Metzelei als Unglücksfall darzustellen und nichts übrigzulassen als abgenagte Knochen. Dieser letzte Umstand war der Hauptgrund gegen ein plötzliches Schließen der Bars, denn die Barkeeper standen mitten in der Bresche und hatten es mit Verrückten zu tun. Mit ziemlicher Sicherheit würde die Verweigerung von Alkohol jeden Augenblick eine Schlägerei hervorrufen können, und die Schlägerei könnte das Signal für ein Blutbad werden.

Montag, den 15. Juli. Zu derselben Stunde wie gestern kehrten wir zu demselben Maniap‘ zurück. Ausgerechnet Kümmel machte in Gläsern die Runde, in der Mitte saß der Kronprinz, ein fetter junger Mann, umgeben von vollen Flaschen, und gebrauchte eifrig den Korkenzieher. König, Häuptlinge und Volk hatten alle den hängenden Mund, die schlaffe Haltung und den starren, glänzenden Blick des Trinkers am frühen Morgen. Es war uns klar, daß wir ungeduldig erwartet wurden, der König zog sich schleunigst zurück, um sich anzuziehen, die Wachen wurden nach ihren Uniformen gesandt, und wir blieben in Erwartung dieser Vorbereitungen zurück mit einem Haus voll betrunkener Eingeborenen. Die Orgie war schon weiter fortgeschritten als am Sonntag. Der Tag versprach sehr heiß zu werden, es war bereits schwül, die Höflinge waren schon berauscht, und immer noch machte der Kümmel die Runde, der Kronprinz spielte den Kellner. Flämische Ungezwungenheit folgte flämischen Exzessen, und ein lustiger hübscher Kerl, bunt gekleidet, mit einem großen Turban von gekräuseltem Haar, erheiterte die Gesellschaft durch einen heiteren Flirt mit einer Dame in unbeschreiblicher Manier. Wir wurden in dieser Wartezeit abgelenkt durch die Betrachtung der sich versammelnden Wachtmannschaften, die europäische Waffen, europäische Uniformen und, zu ihrem Schmerz, europäische Schuhe trugen. Wir blickten zu, wie einer dieser Krieger mit diesem Kleidungsstück gleich Mars bewaffnet wurde: zwei Männer und eine starke Frau waren kaum stark genug, ihm die Schuhe anzuziehen, und nach einer einzigen Parade ist die Armee für eine Woche verkrüppelt.

Schließlich öffneten sich die Tore des Königshauses, die Armee schritt heraus, ein Mann nach dem andern, mit Gewehren und Achselstücken, die Fahnen senkten sich unter dem Torweg, Se. Majestät folgte in seiner goldbesetzten Uniform, die Gemahlin Sr. Majestät kam hinterher in Federhut und reich verziertem Seidengewande, die königlichen Sprößlinge folgten: so entwickelte sich der Hofstaat von Makin auf der selbstgewählten Bühne. Dickens könnte berichten, wie ernst sie alles nahmen, wie betrunken sie waren, wie der König unter dem aufgestülpten Hut in Schweiß zerfloß, wie er sich neben die größte seiner zwei Kanonen stellte, erhaben, majestätisch, aber nicht ganz gerade, wie die Truppen schwankten, ausgerichtet wurden und wieder zusammensanken, wie sie und ihre Donnerbüchsen gleich Schiffsmasten in die verschiedensten Richtungen wiesen, und wie ein Amateurphotograph sie nun in Augenschein nahm, gruppierte und zurechtrückte, um immer wieder alles verändert zu finden, bevor er den Apparat erreichte.

Die Sache sah sich lustig an, aber ich weiß nicht, ob es richtig war, darüber zu lachen, und unser Bericht über diese Umstände wurde bei unserer Rückkehr mit ernstem Kopfschütteln aufgenommen.

Der Tag hatte schlecht begonnen, elf Stunden trennten uns noch vom Sonnenuntergang, und jeden Augenblick konnten beim geringsten Anlaß Unruhen ausbrechen. Das Wightman-Gebäude war im militärischen Sinne unhaltbar, denn an drei Seiten standen Häuser und dichtes Buschwerk, die Stadt sollte nach Gerüchten über tausend ausgezeichnete neue Waffen beherbergen, und ein Rückzug auf die Schiffe war, wenn er dringlich wurde, unmöglich zu bewerkstelligen. Unsere Unterhaltung mochte an diesem Morgen stark der Unterhaltung in den englischen Garnisonen vor der Sepoy-Meuterei ähneln: hartnäckiges Bezweifeln kommenden Unheils, die feste Überzeugung, daß, wenn etwas geschähe, nichts übrigbliebe, als kämpfend zugrunde zu gehen, eine halb heitere, halb ängstliche Gemütsverfassung, in der wir die weiteren Entwicklungen abwarteten, alles das mochte ähnlich sein.

Der Kümmel war bald zu Ende, und wir waren kaum zurückgekehrt, als der König uns folgte, um mehr zu verlangen. Herr Leichnam hatte sein entsetzliches Gewand nun abgelegt, sein unförmiger Leib war wieder in gestreifte Pyjamas gehüllt, ein Wachtsoldat führte die Leibgarde an, das Gewehr nachschleifend, und Se. Majestät war außerdem begleitet von einem Walfischfänger aus Rarotongan und dem lustigen Höfling mit dem kraushaarigen Turban. Ich habe nie lebhaftere Abgesandte gesehen. Der Walfischfänger gaffte und weinte in seiner Betrunkenheit, der Höfling ging wie auf Eiern, der König selbst war sogar scherzhaft aufgelegt. Er saß auf einem Stuhl in Ricks Wohnzimmer und ließ sich durch unsere Bitten und Drohungen in keiner Weise bewegen. Er wurde sogar gescholten, man führte geschichtliche Beispiele an, drohte ihm mit Kriegsschiffen und befahl ihm, das Tabu sofort wiederherzustellen: nichts rührte ihn im geringsten. Es solle morgen geschehen, sagte er, heute stehe es außerhalb seiner Macht, heute dürfe er nicht. »Ist das königlich?« rief Mr. Rick unwillig aus. Nein, es war nicht königlich; wäre der König ein königlicher Charakter gewesen, so würden wir selbst eine andere Sprache geführt haben, und königlich oder nicht, er trug bei dieser Unterredung den Sieg davon. Die Kräfteverhältnisse waren allerdings nicht gleich, denn der König war der einzige Mann, der das Tabu wiederherstellen konnte, aber Ricks waren nicht die einzigen, die Getränke verkauften, er brauchte nur festzubleiben, um uns wankend zu machen. Sie stritten sich noch ein wenig herum, um das Gesicht zu wahren, und dann ging diese höchst berauschte Deputation in heller Freude fort und führte einen Kasten Brandy auf einer Schubkarre mit sich. Der Mann aus Rarotongan, den ich vorher niemals gesehen hatte, schüttelte mir die Hände, als ob er eine weite Reise anträte. »Mein liebe Freund!« rief er aus, »lebe wohl, mein liebe Freund!« Kümmeltränen standen in seinen Augen, der König torkelte, der Höfling tänzelte: eine äußerst eigenartige Gruppe trunkner Kinder, denen man diese Kiste voll Irrsinn anvertraut hatte.

Man konnte mit dem besten Willen nicht behaupten, daß die Stadt ruhig sei. Den ganzen Morgen war die Stimmung erregt, überall herrschte Bewegung, die Eingeborenen sammelten sich zu Rotten auf der Straße. Aber es war bereits halb zwei, als uns plötzlich Stimmengeschrei aus dem Hause rief, und wir fanden die ganze weiße Kolonie wie auf ein verabredetes Zeichen bereits versammelt. Sanssouci wurde vom Pöbel überrannt, Treppe und Veranda waren voll von Menschen, aus allen Kehlen rangen sich unaufhörlich unartikulierte Laute, unverständlich wie das Blöken junger Lämmer, aber ärgerlicher. Auf dem Wege stand Se. Königliche Hoheit, die ich vor kurzem noch als Kellner gesehen hatte, und schrie auf Tom ein; auf der obersten Stufe stand Tom mitten im Getöse und brüllte den Prinzen an. Eine Weile umschwärmte das Pack noch heulend die Bar, dann erfolgte ein wütender Angriff, der Mob wich zurück, kehrte wieder und wurde von neuem zurückgeworfen. Über der Treppe schwamm ein Meer von Köpfen, und plötzlich zogen drei Männer einen vierten in ihrer Mitte gewaltsam mit sich fort durch die auseinanderstiebende Menge. An Haar und Händen wurde er, den Kopf auf die Knie niedergedrückt, das Gesicht verborgen, von der Veranda heruntergerissen, worauf er heulend den Weg entlang ins Dorf entwischte. Hätte er sein Gesicht gehoben, so hätten wir gesehen, daß er blutüberströmt war, aber nicht von seinem eigenen Blut. Der Höfling mit dem kraushaarigen Turban hatte die Kosten dieses Krawalles mit dem unteren Teil eines Ohres bezahlt.

So ging der Tumult vorüber mit einer einzigen Verwundung, die für Herzlose komisch scheinen mag. Aber rund um uns sahen wir ernsthafte Gesichter, und Tom schloß die Läden der Bar, eine Tatsache, die Bände sprach. Mochte die Kundschaft zu anderen Türen gehen und Mr. Williams verdienen, soviel er wollte – Tom hatte für heute genug vom Schnapsverkauf. Tatsächlich hatte alles an einem Haar gehangen. Ein Mann hatte versucht, einen Revolver zu ziehen, aus welcher Ursache weiß ich nicht, und vielleicht hätte er selbst darüber keinen Aufschluß geben können. Ein Schuß in dem überfüllten Raum würde sicher jemand getroffen haben, und wo so viele Bewaffnete und Betrunkene zusammen waren, hätte er sicher weitere im Gefolge gehabt. Die Frau, die die Waffe sah, und der Mann, der sie an sich riß, hatten vielleicht die weiße Kolonie gerettet.

Der Pöbel zog sich allmählich stumpfsinnig zurück, und für den Rest des Tages ließ man unsere Nachbarn in Frieden, es wurde fast einsam um uns. Aber die Beruhigung beschränkte sich nur auf diesen Platz, » din« und » perandi« flossen an anderen Stellen in Strömen, und wir mußten noch einmal einer Gewalttätigkeit zuschauen, wie sie auf den Gilbertinseln üblich ist. In der Kirche, wohin wir gingen, um zu photographieren, wurden wir plötzlich durch ein heftiges Geschrei aufgeschreckt. Die Szene, auf die wir durch die Türen dieser großen schattigen Halle blickten, blieb uns unvergeßlich. Die Palmen, die sonderbaren, zerstreuten Häuser, die Inselflagge, die an dem hohen Mast wehte: alles lag in glühender, unerträglicher Sonnenhitze. Mitten dazwischen wälzten sich auf dem Gras zwei Weiber. Die Kämpfenden waren um so leichter voneinander zu unterscheiden, als die eine nackt war bis auf das Ridi und die andere ein Holoku (Hemdgewand) trug von ziemlich auffälliger Farbe. Die erstere lag oben, hatte ihre Zähne in das Gesicht der Gegnerin gegraben und schüttelte sie wie einen Hund, die andere schlug und kratzte vergebens. So sahen wir sie einen Augenblick wie Schlangen sich wälzen und winden, dann bildete der Pöbel einen Ring um sie und schloß sie ein.

Wir fragten uns ernsthaft, ob wir in dieser Nacht an Land schlafen sollten, aber wir waren fahrendes Volk, das weither gekommen war, um Abenteuer zu erleben. Es wäre in der Tat inkonsequent gewesen, wenn wir uns beim ersten Anzeichen eines wirklichen Abenteuers zurückgezogen hätten, und wir ließen statt dessen unsere Revolver von Bord holen. In der Erinnerung an Taahauku hielten Mr. Rick, Mr. Osbourne und meine Frau auf den öffentlichen Straßen eine Waffenprobe ab und schossen unter den bewundernden Blicken der Eingeborenen auf Flaschen. Kapitän Reid vom »Equator« blieb mit uns an Land, um nötigenfalls zur Hand zu sein, während wir uns zur gewohnten Stunde schlafen legten, angenehm erregt von den Ereignissen des Tages. Die Nacht war herrlich, die Stille bezaubernd, aber als ich in meiner Hängematte lag und in den hellen Mondschein und die riesigen Palmen sah, verfolgte mich das häßliche Bild der beiden Weiber, nackt und halb bekleidet, in feindlicher Umarmung verbissen. Die Verletzungen, die sie sich beibrachten, waren wahrscheinlich nicht erheblich, aber ich hätte mit geringerer Empörung Totschlag und Metzelei ansehen können. Die Rückkehr zu dieser alten Kampfmethode, der Anblick menschlicher Bestialität und Roheit erschütterten mich mehr als die Verlustziffern unserer Schlachten – Elemente unserer Staatsgeschichte, die wir gern vergessen, und bei denen wir, wenn wir klug sind, nicht verweilen. Verbrechen, Seuchen und Tod bringt jeder Tag, unsere Phantasie verarbeitet sie rasch. Sie sträubt sich aber instinktiv gegen alles, was uns den Zustand des Menschengeschlechtes auf den tiefsten Stufen der Entwicklung ins Gedächtnis zurückruft, da wir mit Tieren, selbst tierisch, ohne jede Ordnung wüst dahinlebten und als behaarte Männer mit behaarten Frauen in den Höhlenwohnungen alter Zeit hausten. Und doch, um gerecht zu sein gegen diese barbarischen Insulaner, dürfen wir die Scheunen und Verließe unserer Großstädte nicht vergessen, und ich darf nicht vergessen, daß ich, um zu speisen, einstmals durch Soho in London ging und, angewidert von dem, was ich sah, den Appetit verlor.

Zwölftes Kapitel


Die Geschichte einer Pflanzung

Taahauku an der Südwestküste der Insel Hiva-oa – Tahuku sagen die Weißen nachlässig – kann man den Hafen von Atuona nennen. Es ist ein schmaler und kleiner Ankerplatz, eingebettet zwischen niedrigen, spitzen Klippen; oberhalb öffnet sich ein waldiges Tal. Ein kleines französisches Fort, jetzt geschleift und verlassen, hängt über dem Tal und der Hafeneinfahrt. Atuona selbst, am Innenbogen der nächsten Bucht, ist von Bergen umgeben, die auch die nahe gelegenen Teile von Taahauku beherrschen und der Landschaft charakteristische Züge verleihen. Man schätzt sie auf nicht mehr als viertausend Fuß, aber Tahiti mit achttausend und Hawaii mit fünftausend bieten kein so zerrissenes Bild melancholischer Alpenszenerie. Wenn am Morgen die Sonne direkt die Vorderfront trifft, stehen sie da wie ein ungeheurer Wall, grün bis zum Gipfel, wenn der Gipfel überhaupt klar ist: Wasserläufe durchfurchen ihr Antlitz, schmal wie Risse. Gegen Nachmittag fällt das Licht schräger ein, und die Gliederung des Gebirgszuges tritt deutlicher hervor, ungeheure Schluchten versinken in Schatten, riesige zerklüftete Vorsprünge stehen von Sonne beglänzt. Sie bieten dem Auge zu jeder Tagesstunde neue Schönheiten dar und lasten auf dem Gemüt mit ihrer immer gleichen, drohenden Düsternis.

Die Berge spalten den unaufhörlichen Windstrom des Passats, leiten ihn ab und sind ohne Zweifel verantwortlich für das Klima. Starke Böen strichen Tag und Nacht über den Ankerplatz. Tag und Nacht jagten unentwegt phantastische, zerrissene Wolken am Himmel, eine düstere Regen- und Nebelkappe hob und senkte sich über die Berge. Die Landwinde strömten sehr heftig und kalt herein, und See und Luft waren in ständigem Aufruhr. Die Dünung drängte sich in den engen Hafen wie eine Schafherde in die Hürde, brach sich überall an beiden Ufern, bald hochgetürmt, bald flach, ließ an einer Stelle eine Felsspalte wie eine Kanone donnern und rauchen und verlief sich schließlich auf dem Strande.

Auf der Seite, die am weitesten von Atuona entfernt liegt, war unter dem Schutz des Vorgebirges eine Art Baumschule für Kokospalmen entstanden. Manche waren noch Knirpse, keine hatte bereits eine beträchtliche Größe erreicht, keine war schon himmelwärts emporgeschossen mit dem peitschenähnlichen Schaft der ausgereiften Palme. Die jungen Baume wechseln die Farbe mit dem Alter und Wachstum. Jetzt ist noch alles von grasartiger Zartheit, unendlich zierlich; bald wird die Blattrippe golden, während die Wedel grün wie Farnkraut bleiben; und nun, während die Stämme höher streben und den endgültigen grauen Schimmer annehmen, färben sich die Fächer männlicher und entschiedener dunkelgrün, sehen aus der Entfernung schwarz aus, stehen dunkel gegen das Sonnenlicht und blitzen wie silberne Fontänen im Windessausen. Im jungen Walde von Taahauku fanden sich alle diese Schattierungen und Entwicklungsstadien zu Dutzenden. Die Bäume wuchsen in schönen Abständen auf einer hügeligen Grasfläche, hier und dort stand ein Gestell zum Trocknen der Kopra oder eine halbverfaulte Hütte zum Sammeln der Ware; hier und dort konnte man im Umherstreifen die »Casco« auftauchen sehen, wie sie in dem schmalen Hafen tanzte; und jenseits hatte man stets das finstere Amphitheater der Gebirge von Atuona vor sich und das Klippengewirr, das es nach der See hin abschließt. Der Passatwind rauschte in den Palmfächern wie ewiger Sommerregen, und von Zeit zu Zeit erdröhnte die Brandung lärmend wie plötzlicher, ferner Trommelwirbel in einer Meeresgrotte.

Am oberen Ende des Hafens sinken die niedrigen, klippenreichen Ufer nach beiden Seiten in eine Bucht. Ein Kopralagerhaus steht im Schatten der Bäume am Strand, unablässig umsegelt von Zwergschwalben, und ein Eisenbahngeleise führt auf hohem Holzgerüst rückwärts zur Talöffnung. Schreitet der neuangekommene Reisende auf ihm weiter, so bemerkt er eine breite Süßwasserlagune, und wenn er den einen Arm überquert, drüben einen Hain edler Palmen, die das Haus des Händlers, Mr. Keane, beschatten. Droben vereinen sich die Kokospalmen zu einem undurchbrochenen, hohen Dach, Drosseln hört man lustig singen, der Inselhahn schreit jubelnd und schrill und spreizt sein goldenes Gefieder, Kuhglocken ertönen fern und nah im Hain, und wenn man auf der breiten Veranda sitzt, eingelullt von dieser Symphonie, mag man zu sich selbst sagen, wenn man kann: »Besser fünfzig Jahre Europa …« Weiter hinauf ist der Boden des Tals flach und grün, hier und da recken sich Kokospalmen. Durch die Mitte rinnt und raunt vieltönig der Fluß, und an seinen Ufern, wo wir nach Weiden suchen könnten, wachsen Puraos in Büschen an schattigen Buchten, die des Anglers Herz erfreuen. Ein reicheres und friedvolleres Tal, eine süßere Luft und ein süßeres Konzert ländlicher Laute habe ich nirgends entdeckt. Ein Umstand nur muß den Erfahrenen sonderbar berühren: hier ist bequemer Strand, tiefer Boden, gutes Wasser, und doch gibt es nirgends Hausplattformen und keine Spur von Behausungen Eingeborener.

Noch vor einigen Jahren war dies Tal ein von Dschungeln beherrschter Platz, das umstrittene Gebiet und der Kampfplatz von Kannibalen. Zwei Stämme erhoben Anspruch darauf, keiner konnte ihn durchsetzen, die Wege lagen verlassen oder wurden nur von waffentragenden Männern aufgesucht. Gerade aus diesem Grunde bietet es jetzt einen so lieblichen Anblick: gerodet, bepflanzt, bebaut, von Bahnen durchzogen, mit Bootshäusern und Badehütten versehen. Da es nämlich Niemandsland war, wurde es bereitwilligst einem Fremden ausgeliefert. Der Fremde war Kapitän John Hart. Ima Hati, »Gebrochener Arm«, nennen ihn die Eingeborenen, weil er beim ersten Besuch der Inseln den Arm in einer Schlinge trug. Kapitän Hart, ein Mann englischer Herkunft, aber amerikanischer Untertan, hatte während des Amerikanischen Krieges den Plan gefaßt, auf den Marquesas Baumwollkulturen anzulegen, und sein Unternehmen war zunächst von Erfolg gekrönt. Seine Pflanzung bei Anaho war höchst ergiebig, die Inselbaumwolle erzielte hohe Preise, und die Eingeborenen stritten sich, wer die größere Macht sei, Ima Hati oder die Franzosen, und entschieden sich für den Kapitän, weil die Franzosen zwar die meisten Schiffe hatten, er aber mehr Geld.

Er wählte Taahauku als geeignetes Gelände, erwarb es und bot die Oberaufsicht Mr. Robert Stewart, einem Mann aus Fifeshire, an, der schon eine Zeitlang auf den Inseln weilte und soeben durch einen Krieg auf Tauata ruiniert worden war. Mr. Stewart hatte eine gewisse Abneigung gegen das abenteuerliche Unternehmen, denn er kannte Atuona und seinen berüchtigten Häuptling Moipu ein wenig. Einst, so erzählte er mir, war er dort gelandet und hatte die Überreste eines Mannes und einer Frau gefunden, die teilweise verzehrt waren. Er stutzte und empfand Grauen bei dem Anblick, aber einer der jungen Leute Moipus ergriff einen menschlichen Fuß, schaute den Fremdling herausfordernd an, grinste und knabberte an der Ferse. Man wird nicht erstaunt darüber sein, daß Mr. Stewart sofort in den Busch floh, dort die ganze Nacht in großer Seelenpein verharrte und bei Sonnenaufgang am Morgen wieder in See stach: »Atuona war immer ein schlechter Platz«, sagte Mr. Stewart in seinem heimatlichen Fifeshiredialekt. Trotz dieser grausigen Anfangserfahrung nahm er das Angebot des Kapitäns an, wurde mit drei Chinesen bei Taahauku an Land gesetzt und begann den Dschungel zu roden.

Krieg tobte zu jener Zeit fast ohne Unterbrechung zwischen den Leuten von Atuona und Haamau, und eines Tages raste die Schlacht – oder, besser gesagt, der Schlachtenlärm – auf beiden Seiten des Tales den ganzen Nachmittag, Schüsse und Schimpfreden der feindlichen Stämme flogen von Hügel zu Hügel über die Köpfe von Mr. Stewart und seinen Chinesen hinweg. Es war kein eigentliches Gefecht, sondern eher eine Streiterei zwischen Schuljungen, aber irgendein Narr hatte den Kindern Gewehre gegeben. Ein Mann starb von der Überanstrengung beim Laufen, das war der einzige Tote. Bei Einbruch der Nacht hörten die Schüsse und Flüche auf, die Leute von Haamau zogen sich zurück, und der Sieg wurde nach irgendeinem geheimnisvollen Grundsatz Moipu zugesprochen. Vielleicht veranstaltete Moipu infolgedessen eines Tages ein Festmahl, zu dem eine Anzahl Leute von Haamau unter freiem Geleit erschienen, um mitzuschmausen. Sie kamen in der Frühe an Taahauku vorbei, und einige der jungen Leute Moipus waren als Ehrengarde anwesend. Kurze Zeit danach, als sie weitergegangen waren, kamen ein Mann, seine Frau und ein zwölfjähriges Mädchen von Haamau, um Pilze zu bringen. Einige Burschen von Atuona trieben sich in der Nähe des Lagers umher, aber da Waffenstillstand herrschte an dem Tage, vermutete niemand Gefahr. Die Pilze wurden gewogen und bezahlt, der Mann von Haamau schlug vor, man möchte ihm als Zugabe noch eine Axt schleifen, und als Mr. Stewart wegen der Unbequemlichkeit die Bitte abschlug, boten einige Burschen aus Atuona sich an, sie für ihn zu schleifen, und setzten sie auf den Schleifstein. Während die Axt geschliffen wurde, flüsterte ein freundlich gesinnter Eingeborener Mr. Stewart zu, er solle sich in acht nehmen, böse Dinge bereiteten sich vor; und plötzlich wurde der Mann aus Haamau ergriffen und Kopf und Arme vom Rumpf getrennt, der Kopf durch einen Hieb seiner eigenen neugeschärften Axt. In der ersten Aufregung flüchtete das Mädchen zwischen die Baumwolle, und Mr. Stewart, der die Frau ins Haus gedrängt und die Tür hinter ihr geschlossen hatte, glaubte, daß die Angelegenheit erledigt sei. Aber das alles war nicht ohne Lärm vor sich gegangen, der zu einem älteren Mädchen drang, das sich in der Nähe umhertrieb und nun rasch das Tal heruntereilte und nach ihrem Vater schrie. Auch sie ergriffen und enthaupteten sie; ich weiß nicht, was sie mit der Axt gemacht hatten, sie führten ihre Bluttat an dem Mädchen mit einem stumpfen Messer aus; und das Blut floß in Strömen und färbte sie von Kopf zu Füßen. Grauenhaft durch ihre Verbrechen entstellt, kehrte die Horde nach Atuona zurück und schleppte die Köpfe zu Moipu. Man kann sich vorstellen, daß das Fest abgebrochen wurde, aber es ist bemerkenswert, daß man die Gäste unangetastet abziehen ließ. Sie kehrten in wilder Unordnung durch Taahauku zurück, kurze Zeit nachher war das Tal überschwemmt von schreienden und triumphierenden Tapferen, und da gleichzeitig ein Warnungsbrief bei Mr. Stewart anlangte, suchte er mit seinen Chinesen Zuflucht bei dem protestantischen Missionar in Atuona. In jener Nacht wurde das Lager geplündert, die Leichen wurden in eine Grube geworfen und mit Laub bedeckt. Drei Tage später war der erwartete Schoner eingelaufen, und da wieder Ruhe zu herrschen schien, gingen Mr. Stewart und der Kapitän in Taahauku an Land, um den Schaden zu berechnen und das Grab zu besichtigen, das bereits Verwesungsgeruch ausströmte. Als sie dabei waren, kamen einige von Moipus jungen Leuten, bekleidet mit rotem Flanell, dem Zeichen kriegerischer Absichten, über die Hügel von Atuona, gruben die Leichen aus, wuschen sie im Fluß und trugen sie auf Stöcken fort. In jener Nacht begann das Festmahl.

Alle, die Mr. Stewart vor diesen Ereignissen kannten, erklärten, der Mann habe sich vollständig geändert. Er verharrte jedoch auf seinem Platz, und einige Zeit später, als die Pflanzung schon gute Fortschritte gemacht hatte und sechzig Chinesen und siebzig Eingeborene beschäftigte, fand er sich neuen Gefahren gegenüber. Die Leute von Haamau, so hieß es, hatten geschworen, die Niederlassung zu plündern und auszurotten. Es kamen fortlaufend Briefe des hawaiischen Missionars, der als Nachrichtenbureau diente, und sechs Wochen lang schlief Mr. Stewart mit drei anderen Weißen im Baumwollager zwischen Barrikaden von Ballen und – was die beste Art der Verteidigung war – übte in aller Öffentlichkeit tagsüber Gewehrschießen an der Bucht. Eingeborene waren oft anwesend, um sie zu beobachten; die Schießübungen verliefen glänzend, und der Angriff fand nie statt, wenn er überhaupt beabsichtigt war, was ich bezweifle, denn die Eingeborenen sind tüchtiger im Erfinden falscher Gerüchte als in mutvollen Taten. Man erzählte mir, der letzte Französische Krieg habe das bewiesen, die Stämme an der Bucht warfen denen der Berge böse Pläne vor, die auszuführen sie niemals Wagemut genug besessen hätten. Und ähnliche Berichte über die Feigheit der Insulaner in offener Schlacht kamen von allen Seiten. Kapitän Hart landete einst nach einem Kampf an einer bestimmten Bucht, ein Mann hatte eine Handwunde, ein altes Weib und zwei Kinder waren erschlagen worden, und der Kapitän beruhigte die Leute, indem er die Hand verband und beide Parteien verspottete wegen der Lächerlichkeit der ganzen Angelegenheit. Tatsächlich waren diese Kriege oft reine Formsache wie Duelle bis zum ersten Blutvergießen. Hart besuchte eine Bucht, wo solch ein Krieg zwischen zwei Brüdern ausgetragen wurde, deren einer angeblich gegen die Gäste des anderen unhöflich gewesen war. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung leistete abwechselnd auf der einen oder andern Seite Kriegsdienste, um mit beiden gut Freund zu sein, wenn der unvermeidbare Friede käme. Die Befestigungen der Kriegführenden lagen sich dicht gegenüber. Schweine wurden gekocht, gut geölte Tapfere schritten mit gut geölten Gewehren auf den Paepaes auf und ab oder setzten sich nieder zum Festmahl. Kein noch so wichtiges Geschäft konnte erledigt werden, alle Gedanken schienen auf diesen lächerlichen Scheinkrieg gerichtet. Einige Tage darauf wurde durch einen bedauerlichen Zufall ein Mann getötet, man fühlte, daß man zu weit gegangen sei, der Streit wurde sofort beigelegt, aber ernsthafte Kriege wurden in ähnlichem Geiste geführt, ein Geschenk von Schweinen und ein Festmahl bildeten stets den Beschluß, die Tötung eines einzigen Mannes war ein großer Sieg, und die Ermordung Wehrloser wurde als Heldentat gepriesen.

Der Fuß der Klippen ist auf allen diesen Inseln der geeignete Platz zum Fischen. Zwischen Taahauku und Atuona sahen wir Männer, aber hauptsächlich Frauen, manche beinahe nackt, andere in dünnen weißen oder scharlachroten Kleidern, auf den gischtbespritzten Vorsprüngen hocken, braune Felsen über dem Kopf und ringsumher, als wollten sich die Leute von aller Hilfe absperren. Dort angelten sie fast den ganzen Vormittag, und sobald sie einen Fisch fingen, aßen sie ihn roh und lebendig, wo sie standen. Diese hilflos Einsamen pflegten die Krieger der gegenüberliegenden Insel Tauata zu erschlagen, heimzutragen und zu verspeisen, wofür man sie mächtige Kriegshelden nannte. Von einem solchen Überfall kann ich die Beschreibung eines Augenzeugen geben. »Portugal-Joe«, Mr. Keanes Koch, ruderte einst in einem Boot von Atuona, als die Besatzung einen Fremdling in einem Kanu erspähte mit einigen Fischen und einem Stück Tabu. Die Atuonaer riefen ihm zu, er solle herankommen und einen Zug aus der Pfeife tun. Er willfahrte, weil er vermutlich keine andere Wahl hatte, aber der arme Teufel wußte, was ihn erwartete, und »schien sich auf die Pfeife nicht sehr zu freuen«, wie Joe sagte. Einige Fragen folgten: woher er käme, und was er vorhabe. Er mußte sie beantworten und mußte auch an der unwillkommenen Pfeife saugen, während sein Herz in der Brust vertrocknete. Und dann lehnte sich ein riesiger Kerl aus Joes Boot plötzlich hinüber, stieß ihm das Messer in den Hals – hinein und hinunter, wie Joe durch Zeichensprache besser klarmachte als durch Wort – und hielt ihn wie ein Huhn unter Wasser, bis der Todeskampf vorüber war. Darauf wurde das »Langschwein« an Bord gezogen, das Boot nahm Kurs auf Atuona, und die tapferen Marquesaner ruderten heim. Moipu war am Strande und jauchzte mit ihnen, als sie landeten. Der arme Joe riß damals bleichen Angesichts an seinem Ruder, aber für sich selbst fürchtete er nichts. »Sie waren sehr gut zu mir, gaben mir eine Menge Brei zu essen, einen Weißen wollten sie nicht verzehren«, sagte er.

Wenn Mr. Stewart die furchtbarsten Erlebnisse hatte, so geriet dagegen Kapitän Hart in die größte persönliche Gefahr. Er hatte von Timau, dem Häuptling an einer benachbarten Bucht, ein Stück Land gekauft und ließ es von einigen Chinesen bearbeiten. Als er die Station mit einem der Leute Godeffroys besuchte, sah er seine Chinesen angsterfüllt am Strande versammelt: Timau hatte sie fortgejagt, ihre Habe geraubt und trug wie seine Soldaten Kriegsausrüstung. Ein Boot wurde eiligst nach Taahauku geschickt, um Verstärkungen zu holen, und während sie die Rückkehr abwarteten, sahen sie vom Deck des Schoners Timau und seine Leute auf dem Gipfel des Hügels bis nach Mitternacht den Kriegstanz tanzen. Sobald das Boot ankam, das drei mit Chassepots bewaffnete Gendarmen, zwei Weiße von der Station Taahauku und einige eingeborene Krieger brachte, brach die Gesellschaft auf, um den Häuptling zu ergreifen, ehe er erwachte. Der Tag war noch nicht angebrochen, und es war ein sehr heller Mondscheinmorgen, als sie den Gipfel erreichten, wo Timau in einer Hütte von Palmzweigen seinen Rausch ausschlief. Die Angreifer waren ohne jede Deckung, das Innere der Hütte ganz dunkel, die Lage also sehr gefährlich. Die Gendarmen knieten mit angeschlagenem Gewehr nieder, und Kapitän Hart ging allein vor. Als er sich dem Eingang näherte, hörte er den Hahn eines Gewehrs schnappen, und in reiner Selbstverteidigung – es gab keinen andern Ausweg – sprang er in die Hütte und packte Timau. »Timau, komm mit mir!« schrie er. Aber Timau, ein riesiger Kerl, die Augen blutrot vom übermäßigen Genuß von Kava, sechs Fuß und drei Zoll groß – stieß ihn in die Seite, und der Kapitän, der erwarten mußte, im nächsten Augenblick erschossen oder erschlagen zu werden, feuerte seine Pistole ab ins Dunkle. Als man Timau ins Mondlicht hinaustrug, war er bereits tot, und die Weißen scheinen bei diesem unerwarteten Abschluß ihres Angriffs alle Haltung verloren zu haben, zogen sich zu den Booten zurück und feuerten auf die Eingeborenen. Kapitän Hart, der an Popularität beinahe Bischof Dordillon gleichkommt, befolgte den Eingeborenen gegenüber dieselbe Politik der Nachsicht, betrachtete sie als Kinder, entschuldigte ihre Fehler und setzte sich immer für milde Behandlung ein. Der Tod Timaus hat also sein Gemüt einigermaßen belastet, um so mehr, da man die Waffe des Häuptlings ungeladen in der Hütte vorfand. Einem weniger empfindsamen Gewissen mag der Vorfall unbeträchtlich erscheinen. Wenn ein betrunkener Wilder zur Feuerwaffe greift, braucht ein ohne Deckung gegen ihn vorrückender Weißer nicht abzuwarten, ob sie geladen ist.

Ich habe die Popularität des Kapitäns erwähnt. Sie gehört zu den Tatsachen, die dem Fremden auf den Marquesas am meisten auffallen. Er stößt sofort auf zwei Namen, beide neu für ihn, aber beide berühmt in der ganzen Gegend, beide von allen in Liebe und Hochachtung genannt, die Namen des Bischofs und des Kapitäns. So wurde in mir der lebhafte Wunsch wach, den Überlebenden kennenzulernen, und er wurde mir zum Vorteil dieses Buches erfüllt. Viel später traf ich wieder einmal, bei dem sogenannten Ort der Schmerzen, auf Molokai, auf Spuren dieser herzlichen Anhänglichkeit. Ein blinder Aussätziger befand sich dort, ein alter Seemann – er nannte sich einen alten Seebären –, der lange Zeit die östlichen Inseln befahren hatte. Ich pflegte ihn zu besuchen, und da ich soeben vom Felde seiner Tätigkeit kam, erzählte ich ihm allerlei Neuigkeiten. Es handelte sich dabei, wie es die Inseln mit sich bringen, hauptsächlich um Berichte über Schiffsuntergänge, und zufällig erwähnte ich einen nicht sehr erfolgreichen Kapitän, der ein Schiff Mr. Harts verloren hatte. Da brach der blinde Aussätzige in Wehklagen aus: »Hat er ein Schiff John Harts verloren?« rief er, »armer John Hart! Das tut mir leid, daß es Harts Schiff war!«, mit allerlei unnötig kraftvollen Beiworten, die ich nicht wiedergeben möchte.

Hätte Kapitän Hart weiterhin Glück gehabt in seinen Geschäften, so wäre seine Popularität vielleicht geschwunden. Erfolg bringt Ruhm, aber tötet die Liebe, die das Unglück nährt. Und das Unglück, das über Kapitän Harts Unternehmungen hereinbrach, war wirklich einzigartig. Er hatte den Gipfel seiner Laufbahn erklommen, Ile Masse gehörte ihm, von den Franzosen als Entschädigung für die Plünderungen von Taahauku gewährt. Aber Ile Masse eignete sich nur für Viehzucht, und seine zwei Hauptstationen waren Anaho auf Nuka-hiva, nach Nordosten gelegen, und Taahauku auf Hiva-oa, einige hundert Meilen südwärts nach Südwest gelegen. Beide Stationen wurden am selben Tage von einer Flutwelle fortgeschwemmt, die man in keiner anderen Bucht oder Insel der Gruppe wahrnahm. Die Südküste von Hiva-oa war mit Bauholz und Kisten aus Kampferholz, die Waren enthielten, übersät. Die Eingeborenen brachten alles, nachdem man angemessene Bergegelder ausgesetzt hatte, ehrlich zurück, die Kisten waren offenbar nicht geöffnet, einiges Holz hatten sie vorher schon in ihre Häuser eingebaut. Aber die Rettung dieses Strandgutes konnte an dem Ausgang nichts ändern. Der Kapitän konnte dieser Parteilichkeit des Schicksals unmöglich Widerstand leisten, und mit seinem Fall endete der Wohlstand auf den Marquesas. Anaho ist vollkommen tot, Taahauku nur noch sein eigener Schatten; keine andere Pflanzung ist statt ihrer entstanden.

Dreizehntes Kapitel


Charaktere

Es herrschte ein gewisser Handelsverkehr auf unserem Ankerplatz bei Atuona, zum Unterschied von der toten Trägheit und Geruhsamkeit der Schwesterinsel Nuka-hiva. Man sah Segel durch die Einfahrt ziehen, bald war es ein Walfischfängerboot, bemannt mit eingeborenen Rowdies und hoch beladen mit Kopra, die verkauft werden sollte, bald ein einzelnes Kanu, das Lebensmittel eingehandelt hatte. Der Ankerplatz wurde auch von Fischern aufgesucht; nicht nur die einsamen Frauen hockten in den Nischen der Klippen, sondern ganze Gruppen, die sich manchmal häuslich niederließen, Feuerplätze am Strande bauten und bisweilen mitten im Hafen im Kanu lagerten und abwechselnd ins Wasser sprangen, das sie acht oder neun Fuß hoch aufspritzen ließen, um die Fische in ihre Netze zu treiben, wie wir vermuteten. Die Waren, die sie kauften, waren manchmal sonderbar. Ich beobachtete ein großes Ruderboot, das mit einem einzigen Schinken zurückkehrte, der an einer Stange am Stern schaukelte. Und eines Tages kam in Mr. Keanes Laden ein prachtvoller Junge mit ausgezeichneten Manieren, der korrekt Französisch sprach, wenn auch mit einem kindlichen Akzent; er war sehr hübsch und ein richtiger Dandy, wie nicht nur sein blitzsauberer Anzug, sondern auch die Natur seiner Einkäufe bewies. Es waren fünf Stück Schiffszwieback, eine Flasche Parfüm und zwei Beutel Waschblau. Er kam von Tauata, wohin er noch am selben Abend in seinem Boot zurückkehrte, der Meerestiefe trotzend mit seinen jungmädchenhaften Schätzen. Die meisten der einheimischen Passagiere waren vom Schicksal weniger begünstigt, es waren große gewaltige Burschen, gut tätowiert, mit beängstigenden Sitten. Irgend etwas Rauhes und Hohnvolles zeichnete sie aus, und ich wurde oft an die Scheunenviertel großer Städte erinnert. Eines Nachts, als die Dunkelheit hereinbrach, legte ein Walfischboot an einer Stelle der Bucht an, wo ich mich zufällig allein befand. Sechs oder sieben rauhbeinige Gesellen krochen heraus, alle konnten genug Englisch, um mir »good bye« zuzurufen, was der gebräuchlichste Gruß war, oder »good morning«, was sie als Steigerung zu betrachten schienen. Witze folgten, sie umschwärmten mich mit grobem Gelächter und frechen Blicken, und ich war froh loszukommen. Ich hatte Mr. Stewart noch nicht kennengelernt, sonst hätte ich mich seiner ersten Landung bei Atuona erinnert und des Witzboldes, der an der Menschenferse knabberte. Aber ihre Nähe bedrückte mich, und ich empfand, daß ich als Ausgestoßener und Hilfloser Grund gehabt hätte, mein Herz zu betrüben.

Der Verkehr im Hafen umfaßte nicht nur Eingeborene. Als wir vor Anker lagen, erfolgte ein merkwürdiges Zusammentreffen. Ein Schoner wurde auf See gesichtet, der hereinkommen wollte. Wir kannten alle Schoner der Gruppe, aber dieser schien größer als sie, er war auf englische Art getakelt, und als er in der Nähe der »Casco« Anker geworfen hatte, hißte er schließlich die blaue Flagge. In jener Zeit waren laut Gerüchten nicht weniger als vier Jachten im Pazifischen Ozean, aber es war sonderbar, daß zwei von ihnen gerade in diesem weltvergessenen Hafen Seite an Seite lagen, noch sonderbarer aber, daß ich im Besitzer der »Nyanza«, Kapitän Dewar, einen Landsmann aus meiner engeren Heimat wiedererkannte, den ich als Knabe an den Küsten der Meeralpen hatte lustwandeln sehen.

Wir hatten auch einen weißen Besucher von der Küste, der in einem dichtbesetzten Walfischboot mit einheimischer Besatzung kam und abfuhr. Er hatte in den Sonntagszeitungen von Jachten gelesen und den lebhaften Wunsch, eine zu sehen. Sie nannten ihn Kapitän Chase, er war ein alter Walfischfänger, vierschrötig und weißbärtig, mit stark indischem Akzent, jahrelang im Lande, ein wackerer Haudegen und einer jener Kunstschützen, deren Scheibenschießen den Tapferen von Haamau Schrecken einjagte. Kapitän Chase wohnte weiter östlich an einer Bucht namens Hanamate, mit einem Mr. M’Callum, oder sie hatten vielmehr einst zusammen gewohnt, lebten jetzt aber freundschaftlich getrennt. Den Kapitän findet man nahe dem einen Ende der Bucht in einem halbzerfallenen Haus, nur von einem Chinesen betreut. An der gegenüberliegenden Ecke liegt eine andere Behausung auf einer hohen Paepae. Die Brandung steht dort außergewöhnlich hoch, Seen von sieben und acht Fuß Höhe brechen sich unterhalb der Mauern des Hauses, das ständig von ihrem Gedröhn erfüllt ist und sich nur für einsame oder wenigstens schweigsame Bewohner eignet. Hier genießt Mr. M’Callum mit einem Shakespeare und einem Burns die Gesellschaft der Brecher. Sein Name und sein Burns sind Zeugen seines schottischen Blutes, aber er ist ein geborener Amerikaner, irgendwoher aus dem fernen Osten. Er war früher Schiffszimmermann und als Vorarbeiter von hundert Indern lange tätig beim Abwracken von Schiffen in der Nähe von Kap Flattery. Viele Weiße, die man verstreut auf den Südseeinseln findet, gehören zu den künstlerisch veranlagten Elementen ihrer Klasse, sie genießen nicht nur die Poesie jenes neuen Lebens, sondern kamen in der Absicht her, sie zu genießen. Ich war an Bord mit einem Mann, der nicht mehr jung war und sich auf die Reise begeben hatte aus Liebe zu Samoa. Einige Briefe in Zeitungen hatten ihn auf die Pilgerfahrt gelockt. Mr. M’Callum war solch ein Fall. Er hatte von der Südsee gelesen, gern von ihr gelesen und ihr Bild in sein Herz geschlossen, bis er nicht mehr widerstehen konnte und hinausfahren mußte wie ein zweiter Rudel zu dieser nie geschauten Heimat. Er lebte nun schon jahrelang in Hiva-oa und wird seine Gebeine dort voll befriedigt zur letzten Ruhe betten lassen, ohne Sehnsucht, die Stätten seiner Jugend wiederzusehen, nur vielleicht einmal noch, bevor er stirbt, die rauhe Winterlandschaft von Kap Flattery. Aber er ist ein tätiger Mann mit allerlei Plänen, er kaufte Land von den Eingeborenen, pflanzte fünftausend Kokospalmen, denkt daran, eine öde Insel zu mieten, und hat einen Schoner im Schuppen, den er selbst auf Kiel gelegt und gebaut hat und sogar fertigzustellen hofft. Mr. M’Callum und ich sind uns nie begegnet, aber wir haben wie tapfere Troubadoure in Versen korrespondiert. Ich hoffe, er betrachtet es nicht als Verletzung des Urheberrechts, wenn ich hier ein Produkt seiner Muse anführe. Er und Bischof Dordillon sind die beiden europäischen Barden der Marquesas.

Sail, ho! Ahoy! Casco,
First among the pleasure fleet
That came around to greet
These isles from San Francisco.

And first, too; only one
Among the literary men
That this way has ever been –
Welcome, then, to Stevenson.

Please not offended be
At this little notice
Of the Casco, Captain Otis,
With the novelist’s family.

Avoir une voyage magnifical
Is our wish sincer,
That you’ll have from here
Allant sur la Grande Pacifical.

Aber unser Hauptbesucher war ein gewisser Mapiao, ein großer Tahuku, was Priester zu bedeuten scheint, Zauberer, Tätowierer, Ausüber jeglicher Kunst oder, in einem Wort, eine esoterische Persönlichkeit – und berühmt wegen seiner Beredsamkeit bei öffentlichen Versammlungen und seiner witzigen Unterhaltung im privaten Kreise. Sein erstes Auftreten war typisch für den Mann. Laut rufend kam er zum östlichen Landungsplatz herunter, wo die Brandung sehr hoch stand, verachtete alle unsere Winke, um die Bucht herumzugehen, überwand alle Schwierigkeiten, wurde unter einiger Gefahr für unsere Jolle an Bord gebracht und setzte sich in einer Ecke des Cockpit nieder zu seiner Arbeit. Er war, als erfahrener Mann in dieser Art Kunst, berufen worden, meine Greisenbärte zu einem Kranz zu flechten. Sein eigener Bart, den er der größeren Sicherheit halber in einem Seemannsknoten trug, war nicht nur die Zierde seines Alters, sondern ein bedeutendes Besitztum. Hundert Dollar war der Schätzungswert, und da Bruder Michel keinen Eingeborenen kannte, der eine größere Summe bei Bischof Dordillon hinterlegt hätte, war unser Freund durch sein Kinn ein reicher Mann. Er besaß etwas von einem Ostindier, aber war etwas größer und stärker, hatte eine Hakennase, ein schmales Gesicht, eine sehr hohe Stirn und war sehr sorgfältig tätowiert. Ich kann behaupten, daß ich niemals einen so lästigen Gast hatte. In den kleinsten Dingen mußte man ihn betreuen, er wollte nicht einmal aus dem Wassergefäß selbst schöpfen oder den Arm ausstrecken, das Glas zu nehmen, man mußte es ihm in die Hand geben. Verweigerte man ihm eine Dienstleistung, so faltete er die Arme, neigte das Haupt und verzichtete, aber die Arbeit litt darunter. Früh am ersten Vormittag verlangte er laut Zwieback und Lachs, man brachte Zwieback und Schinken, er sah es geheimnisvoll an und gab ein Zeichen, daß man es beiseitestelle. Eine Reihe von Überlegungen ging mir durch den Kopf: wahrscheinlich war die Arbeit, mit der er sich befaßte, in hohem Maße tabu, vielleicht sollte sie eigentlich auf einer Tabuplattform ausgeübt werden, der sich kein weibliches Wesen nähern durfte, und es war möglich, daß Fisch die richtigste Diät war. Ich brachte ihm also etwas Salzfisch und dazu ein Glas Rum, aber beim Anblick des Gerichtes zeigte Mapiao außerordentliche Erregung, wies zum Zenit, hielt eine lange Rede, aus der ich das Wort umati auffing – die Bezeichnung für Sonne –, und bedeutete mir von neuem, diese Leckerbissen außer Reichweite zu stellen. Schließlich hatte ich begriffen, und jeden Tag war das Programm gleich. In früher Morgenstunde mußte das Mittagessen auf das Dach des Kartenhauses gesetzt werden, in genügender Entfernung, voll sichtbar, aber außer Reichweite, und unser Kunsthandwerker aß nicht vor der passenden Zeit, nämlich pünktlich um zwölf Uhr. Dieser feierliche Gebrauch war die Ursache eines absurden Mißverständnisses. Er arbeitete wie gewöhnlich an seinen Bärten, sein Essen stand auf dem Dach und nicht weit davon ein Glas Wasser. Offenbar wollte er trinken, war aber ein viel zu feiner Herr, um aufzustehen und das Wasser selbst zu holen, und als er meine Frau erblickte, wies er sie majestätisch an, es ihm zu reichen. Das Zeichen wurde falsch verstanden, meine Frau war bereits auf alle Tollheiten von seiner Seite vorbereitet, und, anstatt ihm das Wasser zu reichen, warf sie sein Essen über Bord. Ich muß Mapiao Gerechtigkeit widerfahren lassen: alle lachten, aber sein Gelächter schallte am lautesten.

Diese Dienstleistungen plagten uns nur gelegentlich, sein verwirrendes Gerede aber unaufhörlich. Er war ohne Zweifel ein geübter Plauderer, das sagten uns die Zierlichkeiten seiner Verneigungen, die Eleganz seiner Gesten und das feine Spiel seines Gesichtsausdruckes. Wir saßen inzwischen wie Fremde im Theater, sahen die Schauspieler mit wichtigen Dingen beschäftigt und gut spielen, aber die Handlung des Dramas blieb uns verborgen. Ortsnamen, der Name von Kapitän Hart und gelegentliche, aus dem Zusammenhang gerissene Worte quälten uns, ohne uns verständlich zu sein, und je weniger wir begriffen, desto tapferer und energischer und mit um so eindringlicheren Gesten wiederholte Mapiao seinen Angriff. Wir konnten sehen, wie seine Eitelkeit litt, da er an einem Ort war, wo seine gesellschaftlichen Talente ihm keine Anerkennung verschafften, und er machte Zeiten der Verzweiflung durch, in denen er alle Bemühungen aufgab, und Augenblicke der Gereiztheit, in denen er uns mit unverhohlener Verachtung betrachtete. Mir allerdings, der ich ein geheimnisvolles Handwerk betrieb, dem seinen ähnlich, bezeugte er bis zuletzt eine gewisse Hochachtung. Während wir unter dem Sonnendach in den gegenüberliegenden Ecken des Cockpits saßen, er das Kinnhaar toter Männer flechtend, ich Runen zeichnend auf einem Stück Foliopapier, pflegte er zu mir herüberzunicken wie ein Tahuku zum anderen, oder er querte das Deck, studierte eine Weile mein formloses Gekritzel und ermutigte mich mit einem herzlichen » mitai – gut«. So mag ein tauber Maler aus weiter Ferne mit einem Musiker sympathisieren als dem Sklaven und Meister einer unfaßlichen, aber verwandten Kunst. Er betrachtete mein Tun ohne Zweifel als törichtes Handwerk, aber ein Mann muß Barbaren gegenüber nachsichtig sein – jedes Land hat seine Sitten! –, und er fühlte: die gute Absicht war bei mir vorhanden.

Die Zeit kam schließlich heran, da seine Arbeit, die mehr der der Penelope als der des Herkules ähnelte, nicht mehr gestreckt werden konnte, und es blieb nichts übrig, als ihn zu bezahlen und ihm Lebewohl zu sagen. Nach langen, gelehrten Auseinandersetzungen auf marquesanisch begriff ich, daß seine Seele sich nach Angelhaken sehnte, und ich überlegte, daß drei Stück mit einem Häuflein Dollar wohl eine angemessene Belohnung seien dafür, daß er seine Vormittage auf unserem Deck verbracht hatte, essend, trinkend, seine Meinungen verkündend und die ganze Schiffsgesellschaft mit verrückten Dienstleistungen in Atem haltend. Trotz alledem war er ein Mann von stolzer Haltung und so ähnlich einem Onkel von mir – wenn er irrsinnig würde und sich tätowieren ließe –, daß ich mich, als wir beide an Land waren, bei ihm erkundigte, ob er zufrieden sei. » Mitai ehipe?« fragte ich. Und er antwortete sehr salbungsvoll, indem er mir die Hand reichte: » Mitai ehipe, mitai kaekae; kaoha nui!« oder frei übersetzt: »Das Schiff ist gut, die Speisen sind ausgezeichnet; wir scheiden in Freundschaft!« Als er dies Zeugnis ausgestellt hatte, schritt er am Strande dahin, das Haupt gebeugt, mit der Miene eines tief Gekränkten.

Ich meinerseits sah ihn erleichtert fortziehen. Es wäre interessanter gewesen zu erfahren, was Mapiao von unserem Verhältnis zueinander dachte. Seine Forderungen, so dürfen wir vermuten, waren durchaus angemessen. Er war von Unwissenden gebeten worden, eine Arbeit zu verrichten, und er war verpflichtet, sie gut zu vollenden. Unzählige Hindernisse und andauernder törichter Spott vermochten nicht, ihn zu entmutigen. Man stellte ihm sein Mittagessen hin, er beobachtete es, wie es sich geziemte, während er arbeitete, aß es zur rechten Zeit, wurde in jeder Beziehung gut bedient und konnte schließlich mit reinem Gewissen seinen Lohn in Empfang nehmen, indem er sich selbst sagte, daß das Mysterium pflichtgemäß erledigt, die Bärte richtig geflochten und wir trotz unserer Fehler anständig behandelt worden seien. Seine Ansicht über unsere Dummheit zum Ausdruck zu bringen, mußten selbst ihm, dem großen Redner, die Worte mangeln. Er unterbrach niemals meine Tahukuarbeit, lobte sie höflich, so töricht sie schien, setzte höflich voraus, daß ich mein eigenes Mysterium beherrschte: so benahm sich ein kluger und wohlerzogener Mann! Und wir andererseits, die wir doch am meisten zu gewinnen oder zu verlieren hatten, da das Produkt uns gehören sollte; die wir unsere Unfähigkeit eben dadurch zugegeben hatten, daß wir ihn beauftragten: wir waren nie müde geworden, ihn in seinen viel wichtigeren Arbeiten zu behindern, und hatten oft die Vernunft und die Höflichkeit vermissen lassen, uns des Lachens zu enthalten.

Vierzehntes Kapitel


Ein Kannibalental

Der Weg von Taahauku nach Atuona lief am Nordwestufer des Hafenplatzes vorüber, und zwar in einiger Höhe, umsäumt und manchmal überschattet von den herrlichen Blüten des Flamboyant, dessen englischen Namen ich nicht kenne. An der Straßenbiegung kam Atuona in Sicht: ein langer Strand, eine heftig donnernde Brandung, ein Uferdorf unter Bäumen zerstreut liegend, die zerklüfteten Berge auf beiden Seiten nah heranrückend an eine enge, reich bewachsene Schlucht. Sein böser Ruf beeinflußte mich vielleicht, aber ich hielt es für den lieblichsten und zugleich unheilvollsten und traurigsten Ort auf Erden. Schön war es sicher und vielleicht noch mehr gesundheitsspendend. Das gesunde Klima der ganzen Inselgruppe ist erstaunlich, das Atuonas fast ein Wunder. In Atuona, einem Dorf errichtet auf einer Ufermarsch, wo die Häuser überall zwischen den Teichen der Tarogärten stehen, finden sich alle Bedingungen tropischer Gefahren und Unzuträglichkeiten, und doch gibt es dort nicht einmal Moskitos – selbst nicht die verhaßte Tagfliege von Nuka-hiva –, und das Fieber mit seiner Begleiterscheinung, der Elefantiasis, in der Insulanersprache fe’efe’e genannt, ist hier unbekannt.

Dies ist die Hauptstation der Franzosen auf der Menschenfresserinsel Hiva-oa. Der Gendarmerieunteroffizier erfreut sich der Lebenshaltung eines Vizeresidenten und hißt die französische Flagge über einem recht ansehnlichen Gebäude. Ein Chinese, ein Flüchtling von der Pflanzung, hat eine Wirtschaft im zurückgelegenen Teil des Dorfes, und die Mission ist durch die Schwesternschule und Bruder Michels Kirche gut vertreten. Pater Orens, ein wunderbarer Achtziger, mit ungebeugtem Rücken und unvermindertem Feuer des Auges, hat seit 1843 in diesem Ort gelebt, gebangt und gelitten. Immer wieder wurde er, wenn Moipu Kokosnußbrandy bereitete, von seinem Haus in die Wälder vertrieben. »Eine Maus, die im Ohr der Katze lebt«, hätte ein ruhigeres Heim gehabt, und doch sah ich nie einen Mann, den die Jahre weniger bedrückten. Er mußte uns unbedingt die Kirche zeigen, noch verziert mit dem anspruchslosen Papierschmuck des Bischofs, der letzten Arbeit fleißiger Greisenhände und der letzten irdischen Freude eines Mannes, der viel von einem Helden an sich hatte. In der Sakristei mußten wir seine geweihten Geräte betrachten und besonders ein Gewand, das eine »wahre Sehenswürdigkeit« darstellte, weil es das Geschenk eines Gendarmen war. Einem Protestanten bereitet der Eifer, mit dem erwachsene, dem Heiligtum geweihte Männer diese unbedeutenden Dinge behüten, immer einige Verlegenheit, aber es war rührend und schön, wie Pater Orens mit glänzenden Greisenaugen seine geweihten Schätze vorzeigte.

26. August. Das Tal hinter dem Dorf verengte sich rasch zur Schlucht und war dicht besät mit Nußbäumen. Ein Fluß rauschte in der Mitte. Droben bildeten zunächst die hohen Kokospalmen ein Dach, darüber war die Schlucht von einem Bergwall zum andern mit Wolkenschleiern überhangen, so daß wir unten zwischen üppigem Pflanzenwuchs wie in einem gedeckten Treibhaus wandelten. Zu beiden Seiten standen alle hundert Meter statt der häuserlosen, niedergedrückten Paepaes von Nuka-hiva menschenreiche Häuser, und die Bewohner strömten heraus und riefen den Vorübergehenden ihr »Kaoha!« zu. Auch die Straße war bevölkert: Scharen von Mädchen, hübsch und häßlich wie in minder begünstigten Ländern; brotfruchttragende Männer; Nonnen mit einer kleinen Schutzwache von Zöglingen; ein Bursche, der sich auf einem Pferde tummelte; ein ununterbrochener Zug von Passanten, die uns begrüßten; bald war es ein Chinese, der zum Tor seines Blumengartens eilte und uns guten Tag wünschte in seinem ausgezeichneten Englisch, und etwas weiter forderten uns Eingeborene auf, uns am Wegrande niederzulassen, bereiteten uns ein Mahl aus Mumienäpfeln und unterhielten uns während des Essens mit Trommeln auf einer Blechdose. Bei aller herrlichen Fülle von Menschen und Früchten ist auch hier der Tod am Werke. Die Bevölkerung zählt nach den höchsten Schätzungen im ganzen Tal von Atuona nicht mehr als sechshundert, und trotzdem nannte Bruder Michel, als ich ihn einmal zufällig fragte, zehn Menschen, die krank daniederlagen ohne Hoffnung auf Genesung. Hier konnte ich auch meine Neugier nach einem Haus im Zustande des tatsächlichen Verfalls befriedigen. Es war längs des Paepae zu Boden gefallen, die Stützen spreizten sich häßlich, Regen und Termiten zerfraßen es; was übrigblieb, schien noch gesund, aber vieles war schon verschwunden, und es war bequem zu sehen, wie die Insekten die Wände wie Brot verzehrten und Lust und Regen sie wie Vitriol anfraßen.

Etwas voraus war ein junger Mann, sehr gut tätowiert und bekleidet mit weißen Hosen und einem Flanellhemd, unbekümmert einhergeschritten. Plötzlich, ohne sichtbaren Grund, wandte er sich um, ergriff Besitz von uns und führte uns, ohne Widerspruch zu dulden, einen Seitenpfad entlang zum Flußufer. Dort, in einem Winkel von bezauberndster Lieblichkeit, bat er uns auszuruhen. Der Strom brauste dicht an uns vorüber, ein Dach unbeschreiblich dichten Grüns überschattete uns, und nach kurzer Abwesenheit brachte er eine Kokosnuß, ein Stück Sandelholz und einen Handstock, den er zu schnitzen begonnen hatte; die Nuß zur sofortigen Erfrischung, das Sandelholz als kostbares Geschenk und den Stock in der Einfalt seiner Eitelkeit, um Vorschußlorbeeren zu ernten. Nur ein Stück war bereits geschnitzt, obgleich der ganze Stock schon durch Bleistiftstriche eingeteilt war; als ich vorschlug, ihn zu kaufen, fuhr Poni, wie der Künstler hieß, entsetzt zurück. Aber ich ließ mich nicht bewegen und verweigerte einfach die Rückgabe, denn ich hatte mich seit langer Zeit gewundert, warum ein Volk, das in seinen Tätowierungen eine so starke Begabung für arabeske Empfindungen bewies, dies Talent sonst in keiner Weise entfaltete. Hier hatte ich endlich etwas gefunden, was die Fähigkeit der Anwendung in anderem Material belegte, und ich hielt die Nichtvollendung für ein glückliches Zeichen der Echtheit in diesen Zeiten weitverbreiteten Fälschungsschwindels. Ich war nicht in der Lage, meine Gründe und Absichten Poni klarzumachen, ich konnte den Stock nur festhalten und den Künstler bitten, mir zur Gendarmerie zu folgen, wo ich Dolmetscher und Geld vorfinden würde, aber wir schenkten ihm inzwischen für sein Sandelholz eine Bootspfeife als Gegengabe. Als er hinter uns das Tal hinabstieg, ließ er sie ununterbrochen ertönen. Und fortwährend strömten aus den Häusern am Wege kleine Gruppen von Mädchen in Rot und Männer in Weiß heraus. Und ihnen mußte Poni erzählen, wer die Fremdlinge seien, was sie getan hätten, warum Poni eine Bootspfeife habe, und warum er nun zur Vizeresidentschaft geführt werde, ungewiß, ob zur Bestrafung oder Belohnung, ungewiß, ob er einen Stock verloren oder ein Geschäft gemacht habe, aber im ganzen hoffnungsvoll und inzwischen hocherfreut über die Bootspfeife. Darauf riß er sich von dieser einen Gruppe Neugieriger los, und wir hörten von neuem den schrillen Ruf hinter uns ertönen.

27. August. Ich unternahm mit Bruder Michel einen ausgedehnten Rundgang im Tal. Wir bestiegen zwei ruhige Gäule, geeignet für diese rauhen Pfade, das Wetter war prächtig und die Gesellschaft, in der ich mich befand, nicht weniger angenehm als die Landschaft, die an mir vorüberzog. Wir kletterten zunächst einen steilen Grat hinauf bis zum Gipfel eines jener gewundenen Felsvorsprünge, die aus der Entfernung gesehen die sonnigen und schattigen Partien der Gebirgsabhänge abgrenzen. Das Gestein fiel nach beiden Seiten äußerst schroff ab. Von beiden Seiten stieg aus tiefen Schlünden der Gesang von Wasserfällen und der Rauch von Herdfeuern auf. Hier und dort teilten sich die Laubhügel, und unser Auge fiel auf eine jener tief eingenisteten Behausungen. Und hoch oben erhob sich die schroffe Gebirgswand, von Grün bedeckt, wo anscheinend kaum eine Glockenblume Nahrung fand, und bezwungen von gewundenen Menschenpfaden, wo eine Ziege kaum Fuß fassen zu können schien. Auf der Rückwand wird der Pfad, trotz aller Arbeit, die er gekostet hat, selbst von den Marquesanern als unwegbar angesehen, sie wünschen ihre Pferde beim Aufstieg nicht in Gefahr zu bringen, und die im Westen wohnenden Leute kommen und scheiden in ihren Kanus. Ich habe nie einen Berg gesehen, der sowenig verlor bei dichter Annäherung, eine Folge seiner erstaunlichen Steilheit, wie ich vermute. Als wir uns umdrehten, war ich über die Tiefe des Ausblicks hinter uns erstaunt und über den hohen Rücken der blauen See, gekrönt von der walfischähnlichen Insel Motane. Und doch war die Bergwand über uns nicht ersichtlich niedriger geworden, und ich hätte mir einbilden können, als ich die Augen hob, sie zu messen, daß sie noch höher hinaufragte als zuvor.

Wir drangen nun ein in verdeckte Wege, überschritten die Sturzbäche, hörten das Rauschen aus unmittelbarer Nähe und kosteten die Kühle der Nischen, in denen die Häuser standen. Die Vögel sangen ringsum, während wir hinunterstiegen. Überall am Wege wurde mein Führer begrüßt mit dem Ruf: »Mikael Kaoha, Mikael!« Aus Türen, Baumwollfeldern oder den tiefen Hainen der Inselkastanien drangen diese freundlichen Rufe und wurden im Vorübergehen herzlich erwidert. An einem scharfen Knick des Tales, bei einem rauschenden Bach und unter kühlem Laubgehänge, trafen wir ein Haus auf gut gebautem Paepae, das Feuer brannte flackernd unter dem Popoidach und kochte das Nachtmahl. Hier wurden die Rufe zum Chor, die Hausbewohner liefen herbei und zwangen uns abzusitzen und auszuruhen. Es schien eine zahlreiche Familie zu sein, wir sahen wenigstens acht Personen, von denen mich die eine mit einer besonderen Aufmerksamkeit bedachte. Es war die Mutter, eine bis zum Gürtel nackte Frau, schon gebeugt, aber mit reichlichem schwarzen Haar und aufrechten, jugendlichen Brüsten. Bei unserer Ankunft merkte ich, wie sie mich beobachtete, aber anstatt mir irgendeinen Gruß darzubieten, verschwand sie sofort im Busch. Bald darauf kam sie mit zwei roten Blumen zurück. » Good bye!« lautete ihre Begrüßung, die sie nicht ohne Koketterie aussprach, und als sie es sagte, drückte sie die Blumen in meine Hand: » Good bye! Ich sprechen Englisch!« Von einem Walfischfänger, der, wie sie mich unterrichtete, ein »viel guter Junge« war, hatte sie meine Sprache erlernt, und ich konnte mir vorstellen, wie hübsch sie in jener Zeit der Jugend gewesen, und erriet, daß allerlei Erinnerungen an den schmucken Walfischjäger ihre Aufmerksamkeiten mir gegenüber veranlaßten. Auch darüber mußte ich nachdenken, was wohl aus ihrem Geliebten geworden sei, welche regennassen und schmutzigen Hafenstädte er seitdem durchwandert, in welch dumpfen und lärmenden Kneipen er sein Vergnügen gefunden und in welchem Krankenhaus er den letzten Traum von den Marquesas geträumt hatte. Sie aber, die Glücklichere, lebte weiter auf ihrer grünen Insel. Die Unterhaltung in diesem weltverlorenen Haus des Gebirges drehte sich hauptsächlich um Mapiao und seine Besuche auf der »Casco«, die Nachricht hatte sich wahrscheinlich schon über die ganze Insel verbreitet, so daß es kein Paepae auf Hivu-oa gab, wo man sie nicht erregt erörterte.

Etwas tiefer abwärts gelangten wir zu einem Festplatz im Grunde der Schlucht. Zwei Pfade durchschnitten ihn und kreuzten sich in der Mitte. Abgesehen von dieser Teilung, war das Amphitheater sonderbar vollkommen und ähnelte römischen Bauten, wenn es auch roher war. Dichtes Laubwerk und das Gebirgsmassiv machten es angenehm schattig. Auf den Bänken saßen junge Leute in Gruppen oder allein. Ein junges Mädchen von ungefähr vierzehn Jahren, stattlich und reizend, erregte die Aufmerksamkeit von Bruder Michel. Warum sie nicht in der Schule sei? – Sie habe die Schule schon hinter sich. – Was sie hier tue? – Sie lebe jetzt hier. – Warum? – Keine Antwort, nur tiefes Erröten. Es lag keine Strenge in Bruder Michels Benehmen, die Verwirrung des jungen Mädchens sprach deutlich genug. »Sie schämt sich,« bemerkte der Missionar, als wir fortritten. Nahebei im Fluß badete ein herangewachsenes Mädchen nackt in einer Vertiefung zwischen zwei stufenartigen Steinen, und wir sahen mit Vergnügen, wie hastig und ehrlich erschrocken sie zu ihren bunten Unterkleidern stürzte. Selbst in diesen Töchtern der Kannibalen war das Schamgefühl lebendig.

In Hiva-oa wurde wegen des eingewurzelten Kannibalismus der Eingeborenen der überlieferte Glaube auf roheste Art mit Füßen getreten. Hier wurden drei fromme Häuptlinge unter eine Brücke gesetzt und die Frauen des Tals gezwungen, über ihre Häupter hinweg auf der Straße vorüberzuziehen: die armen entehrten Gesellen saßen da, wie alle Zuschauer übereinstimmend berichteten, in Tränen aufgelöst. Nicht nur ein Weg wurde über den Versammlungsplatz gebahnt, sondern zwei, die sich in der Mitte schnitten. Es ist kein Grund zur Annahme, daß es absichtlich geschah, denn es war vielleicht unmöglich, den vielen heiligen Stätten der Inseln auszuweichen. Aber es hatte seine Folgen. Ich habe bereits erzählt von der Achtung vor den Toten bei den Marquesanern, die einen so starken Gegensatz bildet zu der Gleichgültigkeit gegen den Tod. Am frühen Morgen dieses Tagesrittes begegneten wir beispielsweise einem unbedeutenden Häuptling, der natürlich fragte, wohin wir wollten, und uns einen besseren Vorschlag machen wollte: »Warum zeigst du ihm nicht lieber den Friedhof?« Ich sah ihn, er war eben erst eröffnet worden, der dritte in acht Jahren. Es gibt große Baumeister in Hiva-oa, ich sah auf meinem Ritt Paepaes, die kein europäischer Maurermeister so vollendet bauen könnte, die schwarzen vulkanischen Steine waren höchst genau gefügt, die Ecken scharf und die Flächen ganz eben, aber die Umfassungsmauer des neuen Friedhofs übertraf alles und glich einem Werk der Liebe. Das Gefühl der Ehrfurcht vor den Verstorbenen ist also nicht erloschen. Aber man beachte die Folgen rücksichtsloser Vergewaltigung menschlicher Gläubigkeit. Von den vier Gefangenen in Atuona waren drei natürlich Diebe, der vierte war wegen Grabschändung verurteilt. Er hatte ein Stück des Friedhofes geebnet, um, wie er dem Gericht mitteilte, ein Festmahl auf dem Platz zu veranstalten, und erklärte, er habe keinen Gedanken an ein Unrecht gehabt. Warum auch? Er war mit aufgepflanztem Bajonett gezwungen worden, die heiligen Stätten seines Glaubens zu zerstören, und als er zurückgeschreckt war, hatte man ihn als abergläubischen Narren verlacht. Und nun erwartete man von ihm, er solle unseren europäischen Aberglauben achten wie aus einer zweiten Natur heraus.

Fünfzehntes Kapitel


Die beiden Häuptlinge von Atuona

Zufällig hatte die »Casco«, als sie die Bordelais-Meerenge nach Taahauku durchfurchte, sich auf der einen Seite der gegenüberliegenden Insel Tauata stark genähert, wo Häuser in einem Hain hoher Kokospalmen sichtbar wurden. Bruder Michel deutete auf den Fleck. »Ich bin hier zu Hause,« sagte er, »ich glaube, mir gehören viele dieser Kokospalmen, und in jenem Hause wohnt meine Frau Mutter mit ihren zwei Ehegatten!« – »Mit zwei Ehegatten?« fragte jemand. – » C’est ma honte, das ist meine Schande,« antwortete der Bruder trocken.

Ein Wort nebenbei über die beiden Gatten. Ich glaube, der Bruder hatte sich etwas ungenau ausgedrückt. Man findet oft genug eine eingeborene Dame mit zwei Lebensgefährten, aber es sind nicht zwei Gatten. Der erste ist und bleibt der Ehegemahl, die Frau wird nach wie vor mit seinem Namen genannt, und die Stellung des Neuhinzugekommenen oder »Pikio« ist zwar eine durchaus gesetzliche, aber unzweifelhaft untergeordnete. Wir hatten Gelegenheit, einen derartigen Haushalt zu beobachten. Der »Pikio« war voll anerkannt, trat öffentlich zusammen mit dem Gemahl auf, wenn nach ihrer Ansicht die Dame beleidigt worden war, und das Paar machte gemeinsame Sache wie Brüder. Zu Hause trat die Ungleichheit deutlicher hervor. Der Gatte empfing und bewirtete die Gäste sitzend, der »Pikio« mußte indessen wie ein Dienstbote im Laufschritt Kokosnüsse holen, und ich beobachtete, daß er für diese Botengänge noch vor dem Sohn des Hauses auserkoren wurde. Offenbar haben wir hier keinen zweiten Gatten vor uns, sondern den geduldeten Liebhaber. Nur muß er auf den Marquesas, anstatt seiner Dame Fächer und Mantel zu tragen, die Hausarbeit des Mannes verrichten.

Der Anblick des Familienbesitztums Bruder Michels führte für eine Weile das Gespräch auf die Methode der künstlichen Verwandtschaften und ihre Folgeerscheinungen. Unsere Neugier war aufs höchste gereizt, der Bruder schlug vor, uns alle adoptieren zu lassen, und etwa zwei Tage später wurden wir infolgedessen die Kinder von Paaaeua, des von den Franzosen eingesetzten Häuptlings von Atuona. Ich war nicht in der Lage, der Zeremonie beizuwohnen, die außerordentlich einfach verlief. Die beiden Damen Stevenson und Mrs. Osbourne setzten sich mit Paaaeaua, seinem Weibe und einem adoptierten Kind, dem Sohn eines Österreichers, der durch eine Schiffskatastrophe hierher verschlagen war, zu einem ausgezeichneten Insulanermahl nieder, dessen hauptsächlicher und allein vorgeschriebener Gang Schweinefleisch war. Eine große Menschenmenge beobachtete sie durch die Öffnungen des Hauses, aber niemand, selbst Bruder Michel nicht, durfte teilnehmen, denn das Mahl hatte religiösen Charakter und schuf oder verkündete die neue Verwandtschaft. Auf Tahiti sind die Zeremonien nicht so genau vorgeschrieben; als Ori und ich Brüderschaft schlossen, saßen unsere beiden Familien mit zu Tisch, aber nur er und ich, die mit einer bestimmten Absicht gegessen hatten, wurden nach dem Glauben der Eingeborenen von der Zeremonie berührt. Die Adoption eines kleinen Kindes verlangte meines Wissens keine Formalität, das Kind wird von den natürlichen Eltern abgegeben und erbt, wenn es erwachsen ist, das Besitztum der Adoptiveltern. Geschenke werden ohne Zweifel ausgetauscht wie bei allen wichtigen gesellschaftlichen oder staatlichen Ereignissen der Inselwelt, aber ich habe nie etwas von einem Festmahl gehört, vielleicht genügt die Anwesenheit des Kindes bei der Tagesmahlzeit. Vielleicht findet sich die Uridee in der alten arabischen Vorstellung, daß gleiche Nahrung gleiches Blut ergibt, mit dem hieraus abgeleiteten Grundgesetz, daß der der Vater ist, der dem Kinde den Morgentrunk reicht. Im marquesanischen Brauch wäre der Sinn also schon halb verloren, auf Tahiti, wo nur noch Reste bestehen, fast ganz geschwunden. Eine interessante Parallele wird wahrscheinlich manchem meiner Leser einfallen.

Was ist die Natur der Verpflichtung, die bei einem solchen Festessen eingegangen wird? Sie wird je nach den beteiligten Personen und den Umständen des besonderen Falles verschieden sein. So wäre es lächerlich, unsere Adoption in Atuona ernst zu nehmen. Auf seiten Paaaeuas handelte es sich um sozialen Ehrgeiz. Als der Mann einwilligte, uns in seine Familie aufzunehmen, hatte er uns kaum gesehen und wußte nur, daß wir außerordentlich reich seien und in einem schwimmenden Palast reisten. Wir unsererseits aßen von seinen gebratenen Speisen nicht im wahren animus affiliandi, sondern nur vom Gefühl der Neugier gedrängt. Es war eine sehr förmliche Angelegenheit und eine Art Schaustück, wie wenn in Europa Fürsten sich Vettern nennen. Wären wir aber in Atuona geblieben, so hätte Paaaeua sch verpflichtet gefühlt, uns auf seinem Land anzusiedeln und junge Leute zu unserem Dienst und Bäume zu unserer Ernährung zur Verfügung zu stellen. Ich habe den Österreicher erwähnt. Er fuhr auf einem von zwei Schwesterschiffen, die die Clyde mit Kohlenladungen verließen. Beide umsegelten Kap Horn und gerieten mehrere hundert Meilen voneinander entfernt, aber fast zu gleicher Zeit, auf hoher See im Pazifischen Ozean in Brand. Eins ging unter; der verlassene Eisenrumpf des anderen wurde nach langem vergeblichen Suchen endlich gefunden, wieder instand gesetzt und fährt heute von San Franzisko aus. Die Insassen eines Bootes dieser Unglücksschiffe erreichten nach Ertragung großer Strapazen die Insel Hiva-oa. Einige dieser Männer schwuren, sie würden nie wieder das Glück des Meeres erproben, aber nur der Österreicher war seinem Eide ganz treu, er bleibt, wo er landete, und hat beschlossen zu sterben, wo er gelebt hat. Gerät ein solcher Mann unter die Insulaner und faßt dort Fuß, so kann man den beschriebenen Vorgang dem Pfropfen eines Gärtners vergleichen. Er geht körperlich in das Geschlecht der Eingeborenen über, hört völlig auf, ein Fremdling zu sein, er ist in die Blutsgemeinschaft eingegangen, teilt Besitz und Ruf seiner neuen Familie, und man erwartet von ihm, daß er die Früchte seines europäischen Berufes und seine Kenntnisse ebenso bereitwillig zur Verfügung stellt. Diese stillschweigende Verpflichtung stößt den hierher verpflanzten Weißen oft ab. Um einen augenblicklichen Vorteil zu erhaschen, zum Beispiel eine Station für sein Warenlager, macht er sich die einheimischen Gebräuche zunutze und wird Sohn oder Bruder auf Zeit, indem er sich selbst zuschwört, die Leiter fortzustoßen, auf der er emporsteigen will, und die Verwandtschaft zu verleugnen, sobald sie ihm lästig wird. Und plötzlich entdeckt er, daß zwei Parteien zu diesem Geschäft gehören. Vielleicht ist sein polynesischer Verwandter einfältig und faßte die Blutsbrüderschaft wörtlich auf; oder er ist verschlagen und schloß den Pakt um des eigenen Gewinnes wegen. In beiden Fällen wird das Warenlager geplündert, das Haus wimmelt von eingeborenen Tagedieben, und je reicher der Mann wird, desto zahlreicher, fauler und zärtlicher werden seine farbigen Verwandten. Die meisten Leute versuchen sich unter diesen Umständen loszukaufen oder die Unabhängigkeit brutal zu erzwingen, aber viele vegetieren hoffnungslos dahin, erdrosselt von Parasiten.

Wir hatten keine Ursache, mit Bruder Michel zu erröten. Unsere neuen Eltern waren liebenswürdig, höflich, gutgesittet und freigebig mit Geschenken, die Frau war ein höchst mütterliches Weib, der Gatte ein Mann, der bei seinen Vorgesetzten gerechterweise in hohem Ansehen stand. Zur Genüge wurde schon bewiesen, daß Moipu abgesetzt werden mußte, und in Paaaeua hatten die Franzosen einen achtenswerten Ersatz gefunden. Er war stets peinlich sauber gekleidet und sah aus wie die personifizierte Ehrbarkeit, wie ein schwarzer, hübscher, dummer und wahrscheinlich frommer junger Mann, der von einem europäischen Leichenbegängnis heimkehrt. Im Charakter schien er das Ideal des guten Staatsbürgers zu sein. Er trug seine Ernsthaftigkeit wie einen Schmuck. Niemand hätte die Würde eines von Amts wegen eingesetzten Häuptlings besser zur Schau getragen, als Vorbild der Zivilisation und Reform. Und doch: zögen die Franzosen ab, und lebten die Eingeborenensitten wieder auf, so könnte man sich in der Phantasie ausmalen, wie er sich mit Greisenbärten geschmückt unter den allerersten zum Kannibalenmahl drängen würde. Aber ich will nicht den Anschein erwecken, als sei ich ungerecht gegen Paaaeua. Seine Ehrbarkeit ging tiefer als die Haut, sein Sinn für Schicklichkeit trieb ihn manchmal zu überraschender Härte.

Eines Abends waren Kapitän Otis und Mr. Osbourne an Land im Dorf. Alles war in Bewegung, der Tanz hatte begonnen, offenbar sollte eine Festnacht folgen, und unsere Abenteurer waren voll Freude über ihr Glück. Ein starker Regenschauer trieb sie schutzsuchend ins Haus von Paaaeua, wo man sie willkommen hieß, in eine Kammer lockte und einschloß. Bald darauf hörte der Regen auf, das Fest sollte in allem Ernst beginnen, und die jungen Leute von Atuona liefen um das Haus und riefen durch die Spalten der Wände nach meinen Freunden. Bis spät in die Nacht hinein wurden die Rufe fortgesetzt und wiederholt und oft mit Sticheleien gewürzt; bis spät in die Nacht hinein erneuerten die Gefangenen, vom Lärm des Festes gereizt, ihre Anstrengungen, zu entkommen. Aber alles war vergeblich, quer vor der Türe lag der gottesfürchtige Hausherr, Paaaeua, und heuchelte Schlaf, und meine Freunde mußten auf ihre Belustigung verzichten. In diesem Geschehnis, das so reizend europäisch ist, glaubten wir drei verschiedene Gefühlsgruppen entdecken zu können. Zunächst hatte Paaaeua Seelen zu betreuen: es waren junge Leute, und er hielt es für richtig, sie vom Pfade der Liebe fernzuhalten. Zweitens war er eine offizielle Persönlichkeit, und es war nicht angebracht, daß seine Gäste an einer Festlichkeit teilnahmen, die er mißbilligte. So mag ein strenger Geistlicher in der Heimat einen weltlichen Besucher etwa anreden: »Geh zum Theater, wenn du magst, aber bitte nicht von meinem Hause aus!« Drittens war Paaaeua eifersüchtig und, wie wir noch zeigen werden, nicht ohne Grund, und die Festteilnehmer waren Anhänger seines nächsten Rivalen, Moipu.

Denn die Adoption hatte großes Aufsehen erregt im Dorf, es machte die Fremdlinge populär. Paaaeua hatte aus dieser Verbindung für sein schwieriges Amt als ernannter Häuptling Kraft und Ansehen gewonnen, und nur Moipu und seine Anhänger waren verdrossen. Aus irgendeinem Grunde scheint niemand außer mir Moipu ungern zu sehen. Kapitän Hart, der von ihm beraubt und bedroht wurde; Pater Orens, auf den er feuerte, und den er wiederholt in die Wälder jagte; meine eigene Familie und selbst die französischen Beamten: alle schienen von unwiderstehlicher Zuneigung für den Mann hingerissen zu sein. Sein Sturz war sanft erfolgt, sein Sohn sollte bei seinem Tode Paaaeua in der Häuptlingswürde folgen, er lebte zur Zeit unseres Besuches in einem guten Hause im Küstenteil des Dorfes, mit einer zahlreichen Gefolgschaft junger Leute, seinen früheren Kriegern und Jägern. In dieser Gesellschaft wurde die Ankunft der »Casco«, die Adoption, der festliche Gegenbesuch an Bord und der Geschenkaustausch zwischen den Weißen und ihren neuen Eltern ohne Zweifel eifrig und ärgerlich besprochen. Man wußte, daß wenige Jahre zuvor die Ehren auf einen anderen gehäuft worden wären. Bei diesem unerwarteten Ereignis, diesem Empfang eines sagenhaften fremden Machthabers wäre noch vor einigen Jahren Moipu die Aufgabe zugefallen, den Helden und Gastgeber zu spielen, und seine jungen Leute hätten als anerkannte Führer der feinen Gesellschaft die Festlichkeiten mit ihrer Anwesenheit geziert. Und nun mußte Moipu auf Grund eines böswilligen Geschicks gänzlich mißachtet zu Hause sitzen, und seine Anhänger mußten vom Tore aus zuschauen, wenn ihre Gegner Feste feierten. Vielleicht empfand M. Grévy ein Gefühl der Bitterkeit gegen seinen Nachfolger, als er ihn bei der Jahrhundertfeier der Revolution im Jahre 1889 vom Rampenlicht bestrahlt sah: der Besuch der »Casco«, den Moipu um wenige Jahre verfehlt hatte, war für Atuona ein viel ungewöhnlicheres Ereignis als eine Jahrhundertfeier in Frankreich, und der entthronte Häuptling beschloß, in der Öffentlichkeit Eindruck zu machen.

Mr. Osbourne war nach Atuona gegangen, um zu photographieren, die Bevölkerung des Dorfes hatte sich aus diesem Anlaß auf dem Platz vor der Kirche versammelt, und Paaaeua, höchst erfreut über dies neuerliche Auftreten seiner Familie, spielte den Zeremonienmeister. Die Kirche mit ihrem heiteren Baumeister vor der Tür, die Nonnen mit ihren Zöglingen, allerlei junge Mädel in den alten und merkwürdig unkleidsamen Tapagewändern und Pater Orens inmitten einer Gruppe von Pfarrkindern waren aufgenommen worden. Ich weiß nicht, was nun folgen sollte, als der Photograph eine Erregung in der Menge bemerkte, und da er sich umblickte, sah er die hochedle Gestalt eines Mannes am Rande eines Dickichts auftauchen und gleichgültig heranschlendern. Die Gleichgültigkeit war sichtbarlich erkünstelt, offenbar kam er, um Aufsehen zu erregen, und der Erfolg trat sofort ein. Er wurde vorgestellt, er war höflich, verbindlich, war stets vollendet überlegen und selbstsicher, ein gottbegnadeter Schauspieler. Man schlug ihm alsbald vor, in seiner Kriegsausrüstung zu erscheinen, er willigte huldvoll ein, kehrte zurück in jenem sonderbaren, unangebrachten und übelbeleumdeten Aufzug, der seiner hübschen Figur sehr gut stand, umgeben von einer Schar Bewunderer, und war hinfort der Mittelpunkt jeder Photographie. So hatte Moipu es verstanden, sich wie zufällig bei den weißen Fremdlingen einzufinden, er verschenkte seine feinen Manieren wie eine Gnade und wies seinem Rivalen die zweite Rolle auf der Bühne des heiß umstrittenen Dorftheaters zu. Paaaeua fühlte den Hieb und behauptete seine Vormachtstellung mit einem Mut, den wir ihm nie zugetraut hätten. Es stellte sich heraus, daß es an jenem Tage unmöglich sei, eine Photographie von Moipu allein aufzunehmen, denn sobald er sich vor der Kamera aufstellte, trat sein Nachfolger unaufgefordert an seine Seite und verharrte höflich aber energisch auf seinem Posten. Die Porträts des Paares, gleich Jakob und Esau, Schulter an Schulter, der eine in sauberem, europäischem Anzug, der andere in seinem Barbarenstaat, repräsentieren Vergangenheit und Gegenwart ihrer Insel. Ein Friedhof mit bescheidenen Kreuzen würde das geeignetste Symbol der Zukunft sein.

Wir waren alle überzeugt, daß Moipu sein Vorgehen von Anfang bis Ende überlegt hatte. Sicherlich verlor er keine Zeit, seinen Vorteil auszunutzen. Mr. Osbourne wurde in sein Haus genötigt, aus einer alten Seekiste wurden verschiedene Geschenke ausgegraben, Pater Orens wurde gebeten, den Dolmetscher zu spielen, und Moipu schlug in aller Form vor, Bruderschaft zu schließen mit »Mata-Galahi«, Glasauge, dem nicht gerade schmeichelhaften Namen, unter dem Mr. Osbourne unter den Marquesanern bekannt war. Das Festmahl der Bruderschaft fand an Bord der »Casco« statt. Paaaeua war wie ein einfacher Mann mit seiner Familie erschienen, seine zahlreichen Geschenke waren nacheinander im Laufe mehrerer Tage eingetroffen. Moipu trat mit einem gewissen fürstlichen Gepränge auf, als wollte er in jeder Beziehung den Gegensatz unterstreichen, umgeben von Vasallen, die Geschenke aller Art trugen, von Federn aus Altmännerbärten bis zu unscheinbaren, frommen, katholischen Stichen.

Ich war diesem Manne schon vorher im Dorf begegnet und hatte ihn auf den ersten Blick verabscheut, in seinen Augen und Bewegungen lag etwas unbeschreiblich Gemeines, das mir Übelkeit bereitete, und als man die Sitte der Menschenfresserei erwähnte und er ein leises grausames Lachen ausstieß, trotzig und kriecherisch zugleich, als erinnere man ihn an ein wagemutiges Verbrechen, mischte sich Ekel in meinen Abscheu. Das ist kein sehr menschlicher Standpunkt, besonders nicht für einen Reisenden, und je näher man dem Manne kam, desto mehr gewann er. Etwas Negerhaftes im Charakter und Gesicht mißfiel mir stets, aber sein häßlicher Mund wurde anziehend, wenn er lächelte, seine Gestalt und sein Benehmen waren sicherlich edel und seine Augen prachtvoll. In seinem Gefallen an Marmelade und Pickles, in seinem Entzücken über die einander gegenüberliegenden Spiegel und die endlose Reihe von Moipus und Mata-Galahis zeigte er sich kindlich liebenswürdig. Aber ich bin mir nicht sicher: was Kindlichkeit zu sein schien, konnte auch gekünstelte Höflichkeit sein. Sein Benehmen war mir verdächtig, als übertriebe er, er war höflich und zärtlich bis zur Grenze der Belästigung, und wenn ich mich der heiteren Geistesabwesenheit erinnere, mit der er sich uns zum ersten Male näherte, und dann daran denke, wie er auf Händen und Knien über die Kajütensofas lief, den Samt betastete, sich in die Kissen vergrub und wohlgefällige »Mitais« ausstieß wie ein ungeheurer, übermäßig wohlerzogener Affe, so bin ich um so sicherer, daß beides berechnet war. Und daraufhin frage ich mich manchmal, ob Moipu ganz allein dies höfliche Doppelspiel trieb, und ob die »Casco« wirklich so aufrichtig von den Marquesanern angestaunt wurde, wie unsere Besucher uns glauben machen wollten.

Ich will diese Skizze eines unverbesserlichen Kannibalenhäuptlings durch zwei widerspruchsvolle Züge ergänzen. Sein besonderer Leckerbissen war die menschliche Hand, von der er noch heute mit widerlicher Lüsternheit spricht, aber als er sich von meiner Frau verabschiedete, ihre Hand ergriff, sie mit tränenerfüllten Augen anblickte und sein Lebewohlgestammel im Falsett der hohen marquesanischen Gesellschaftssprache vortrug, hinterließ er in ihrem Herzen tiefe Gefühle, die ich vergeblich zu teilen versuche.

Erstes Kapitel


Der gefährliche Archipel – Atolle in der Nähe

Am frühen Morgen des 4. September schleppte uns ein mit Eingeborenen bemanntes Walfischboot den grünen Kanal des Ankerplatzes entlang und um das wellengepeitschte Vorgebirge herum. Auf der Höhe der Küste war der Morgen heiß, windstill und doch kristallklar, aber hoch oben die Hügel von Atuona waren ganz in Wolken gehüllt, und der Ozeanstrom der Passatwinde jagte ohne Unterlaß dahin. Als wir aus dem unmittelbaren Schutz des Landes herauskrochen, erreichten wir endlich das Gebiet ihrer Herrschaft. Der Wind warf sich auf unsere Segel in Stößen, die stärker und gleichmäßiger wurden. Bald begann die »Casco« ihr Tagewerk, das Walfischfängerboot fiel zurück und schlug einen Augenblick lärmend gegen ihre Planken, Brot, Rum und Tabak wurden vereinbarungsgemäß hinübergereicht, noch einen Augenblick, und das Boot schwamm in unserem Kielwasser, und unsere ehemaligen Lotsen riefen uns ihre Abschiedsgrüße zu. –

Dies wirkte um so ermutigender, als wir auf Gegenden zusteuerten, die so ganz anders waren und, obgleich es eine kurze Fahrt war, doch ein neues Stück der Schöpfung bedeuteten. Jenes große Gebiet des Ozeans, das man leichthin Südsee nennt, erstreckt sich von einer tropischen Zone zur andern und ungefähr von 123 Grad westlicher bis 150 Grad östlicher Breite: ein Parallelogramm von 100 mal 47 Graden, wo diese am breitesten sind. Viel davon ist öde, viel dicht besät mit Inseln, und diese Inseln sind von zweierlei Art. Kein Unterschied wird in Südseegesprächen so durchgehend betont wie der zwischen niedrigen und hohen Inseln, und keiner macht sich in der Natur deutlicher bemerkbar. Der Himalaja ist nicht verschiedener von der Sahara. Einerseits erheben sich, fast immer in Gruppen von acht zu zwölf, vulkanische Inseln über dem Meeresspiegel, wenige sind unter 4000 Fuß hoch, eine ist höher als 13 000. Die Gipfel ihrer Berge sind oft in Wolken gehüllt, alle sind mit verschiedenartigen Wäldern bedeckt, alle haben Nahrung in Fülle, und alle verdienen Beachtung wegen ihrer malerischen und feierlichen Landschaft. Andererseits gibt es die Atolle, fragwürdig nach Ursprung und Geschichte, berühmte Gebilde eines offenbar noch nicht bekannten Insekts, von ungefähr ringförmiger Gestalt, selten größer als eine Viertelmeile in der größten Breite, oft in den höchsten Punkten niedriger als die Gestalt eines Menschen, der Mensch selbst, Ratten und Landkrabben ihre hauptsächlichsten Bewohner; nicht bunt mit Pflanzenarten bedeckt, dem Auge selbst in ihrer vollendetsten Gestalt nur einen Ring glitzernden Laubwerkes und grünen Strandes darbietend, innen und außen blaue See.

Nirgend sind die Atolle so dicht beisammen, nirgend so verschiedenartig in der Form, von der größten zu der winzigsten, und nirgend ist die Schiffahrt so von Gefahren bedroht wie in dem Archipel, den wir jetzt durchqueren sollten. Das große System der Passate wird aus gewissen Gründen durch diese zahlreichen Riffe völlig zerrissen, der Wind dreht fortwährend, Böen von Westen und Südwesten sind häufig, Wirbelstürme kommen vor. Die Strömungen geraten zudem unentwirrbar durcheinander, jede sichere Berechnung wird zur Farce, den Karten kann man nicht trauen, und so groß ist die Zahl und Ähnlichkeit dieser Inseln, daß man nicht klüger wird, wenn man eine von ihnen erreicht hat. Der Ruf dieses Meeresstriches ist entsprechend schlecht, Versicherungsgesellschaften schließen ihn von ihrem Bereich aus, und nur widerstrebend setzte mein Kapitän die »Casco« in diesen Wassern aufs Spiel. Ich glaube sogar, ein stillschweigendes Übereinkommen sieht vor, daß Jachten diesen gefährlichen Archipel meiden sollen, und nur mein dringliches Bitten – und die ganze Abenteurerlust Mr. Otis‘ – vermochten unseren Kurs durch ihre Mitte zu lenken.

Einige Tage segelten wir unter ständigem Wind, und eine ständige westliche Strömung versetzte unseren Kurs leewärts; gegen Sonnenuntergang am siebenten Tage hätten wir, wie wir vermuteten, Takaroa sichten müssen, eine von Cooks sogenannten König-Georg-Inseln. Die Sonne ging unter, aber einige Zeit nachher segelte der alte Mond – halb beleuchtet er selbst, mit einem silbernen Kreisfortsatz, der sich bald auffüllen sollte – zwischen heraufkommenden Wolken. Auch er verließ uns; Sterne, glitzernd in allen Schattierungen, und Wolken aller möglichen Formationen stritten sich um die Herrschaft in der dämmrigen Nacht, und noch blickten wir vergeblich nach Takaroa aus. Der Maat stand am Bugspriet, seine große graue Gestalt hob und senkte sich gegen das Licht der Sterne, und immer noch

Nihil astra praeter
Vidit et undas.

Wir anderen standen in Gruppen am Backbordanker und starrten mit nicht geringerem Eifer, aber mit abnehmender Hoffnung auf den dunklen Horizont. Inseln sahen wir in Fülle, aber sie waren aus dem Stoff, aus dem alle Träume sich gestalten, und verschwanden im nächsten Augenblick, um an anderen Plätzen wieder zu erscheinen. Nach und nach begannen nicht nur Inseln, sondern auch blitzende und drohende Lichter die Finsternis zu erhellen, Leuchtfeuer der Phantasie oder der überanstrengten Sehnerven, feierlich aufleuchtend und winkend, während wir vorüberzogen. Schließlich verzweifelte auch der Maat, kroch von seinem ruhelosen Nest wieder an Deck und verkündete, daß wir unser Ziel verfehlt hätten. Er war der einzige Mensch mit Erfahrung in diesen Wassern, unser einziger Lotse, den wir zu diesem Zweck in Tai-o-hae an Bord genommen hatten. Wenn er erklärte, daß wir Takaroa verfehlt hätten, so stand es uns nicht an, diese Tatsache zu bestreiten, sondern sie zu erklären, wenn wir es vermochten. Wir hatten ohne Zweifel unseren südlichen Kurs verloren. Die gekrümmte Linie unseres Kielwassers und unser einigermaßen trunkner Kurs auf der Karte bewiesen uns beide mit nicht geringer Sicherheit, daß eine heftige Westströmung vorhanden sei. Es blieb uns nichts anderes übrig als einzusehen, daß wir wieder weit nach Lee versetzt waren, und wir konnten nichts Besseres tun, als die »Casco« beizudrehen, gut Wache zu halten und den Morgen abzuwarten.

Ich schlief in dieser Nacht an Deck auf der Cockpitbank, wie es damals meine etwas gefährliche Gewohnheit war. Schließlich erwachte ich unruhig und sah den ganzen östlichen Himmel blaßorangenfarben aufleuchten, die Kompaßlampe versank schon gegen die Helligkeit des Tages, und der Steuermann lehnte erregt am Rad. »Dort ist sie, Herr!« rief er und zeigte mitten in den Sonnenaufgang. Eine Weile konnte ich nichts sehen als die bläulichen Reste der Morgenwolkenbank, die weithingestreckt lag am Horizont wie schmelzende Eisberge. Dann ging die Sonne auf, durchbrach die Nebelreste und enthüllte ein unscheinbares Inselchen, das flach wie ein Teller auf der See lag und mit Palmen von überraschender Größe besät war.

Soweit war alles gut. Hier war sicherlich ein Atoll, und wir waren sicherlich mitten im Archipel. Aber welche Insel? Und wo? Die Insel war zu klein für Takaroa: in der ganzen Nachbarschaft war schlechterdings keine, die so unscheinbar war, ausgenommen Tikei, und Tikei, eine von Roggeweins sogenannten Inseln des Verderbens, schien ebensowenig in Betracht zu kommen. In diesem Falle hätten wir, anstatt nach Westen zu treiben, dreißig Meilen windwärts gewinnen müssen. Und wie war es mit der Strömung? Sie hatte uns nach unseren Beobachtungen während aller dieser Tage nach Lee versetzt, und aus der Beobachtung des Kielwassers ergab sich, daß sie uns auch jetzt noch abtrieb. Wann hatte sie aufgehört, wann hatte sie wieder begonnen, und welche Art Strömung hatte uns in der Zwischenzeit nach Osten geworfen? Auf diese Fragen, die für die Navigation zwischen jenen Inseln so typisch sind, finde ich keine Antwort. Dies waren schließlich die Tatsachen: es stellte sich heraus, daß wir Tikei vor uns hatten, und unsere erste Erfahrung in dem gefährlichen Archipel war, daß wir dreißig Meilen von unserem Ziel entfernt angelangt waren.

Der Anblick von Tikei, scharf gegen den Glanz des Morgens gesetzt, aller Farbe beraubt und entstellt von hohen Bäumen, die wie Reiser eines Besens zum Himmel ragten, konnte den Atollen schwerlich unsere Liebe gewinnen. Später am gleichen Tage sahen wir unter günstigeren Bedingungen die Insel Taiaro. »Verloren im Meere« ist ungefähr die Bedeutung des Namens. Und so sahen wir sie, verloren zwischen blauer See und dem Himmel, ein Ring von weißem Strand, grünem Unterholz und wehenden Palmen, edelsteinartig in der Farbe, von feenhafter, himmlischer Zierlichkeit. Die Brandung umspielte sie ringsumher weiß wie Schnee und brach sich an einem Punkt weit draußen in der See, an einem offenbar auf den Karten nicht verzeichneten Riff. Kein Rauch, kein Anzeichen von Menschen. Tatsächlich ist die Insel nicht bewohnt und wird nur von Zeit zu Zeit besucht. Und doch beobachtete uns ein Händler (Mr. Narii Salmon) von der Küste und verwunderte sich über das unerwartete Schiff. Ich habe seither lange Monate auf niedrigen Inseln zugebracht, ich kenne die Langeweile ihrer immer gleichen Tage und die Schwierigkeit der Beschaffung des Lebensunterhaltes. Wie groß auch der Neid gewesen sein mag, mit dem wir von Deck aus das grüne Dickicht erblickten: Mr. Salmon und seine Kameraden sahen uns mit zehnfach größerem Neid in unserem stolzen Schiff seewärts steuern.

Äußerst lieblich brach die Nacht herein. Nachdem der Mond versunken war, strahlte der Himmel wunderbar in seiner Sternenpracht. Und als ich in dem Cockpit lag und dem Steuermann zuschaute, glitten mir Emersons Verse ins Gedächtnis:

And the lone seaman all the night
Sails astonished among stars.

In dieser glitzernden und gedämpften Helligkeit erreichten wir ungefähr um vier Glas während der ersten Wache unser drittes Atoll, Raraka. Niedrig lagen die Umrisse der Insel direkt über dem Horizont, so daß ich zunächst an einen Saumpfad erinnert wurde und wir einen kanalisierten und schiffbar gemachten Fluß zu befahren schienen. Bald darauf erschien ein roter Stern ungefähr von der Höhe und Helligkeit eines Haltesignals, und damit wechselte mein Vergleich: wir schienen an einem Eisenbahndamm entlang zu fahren, und das Auge begann instinktiv nach Telegraphenpfählen zu suchen und das Ohr einen ankommenden Zug zu erwarten. Hier und da, aber selten, wurde die flache Linie von blassen Baumwipfeln unterbrochen. Und der Lärm der Brandung begleitete uns, bald monoton rauschend, bald drohend aufbrausend.

Die Insel erstreckte sich ungefähr von Ost nach West und hinderte die Annäherung an Fakarava. Wir mußten deshalb an der Küste entlang fahren, bis wir das Westende erreichten, wo wir durch eine Meerenge von acht Meilen Breite südwärts segeln konnten zwischen Raraka und der nächsten Insel, Kauehi. Wir lagen frei im Winde, einer leichten Brise, aber Wolken von tintiger Schwärze begannen heraufzukommen, und zeitweise blitzte es, ohne zu donnern. Irgend etwas, ich weiß nicht was, trieb uns fortgesetzt gegen die Insel. Wir lagen im Kurs immer mehr nordwärts, und man konnte fast glauben, die Küste mache unsere Manöver mit und übersegele uns. Einmal oder zweimal lagen wir Raraka wieder gegenüber, wieder wurde nach Seemannsart der ganz unschuldige Steuermann gescholten, und wieder strebte die »Casco« fort. Hätte man mir aufgetragen, auf Grund unserer Erfahrungen den Umriß dieser Insel zu zeichnen, so hätte ich eine Serie von ausbuchtenden Vorgebirgen angegeben, die einander nordwärts überragten, und hätte das Land von Südosten nach Nordwesten verlaufen lassen, während es sich auf der Karte fast ostwestlich in gerader Linie erstreckte.

Gerade hatten wir unser Manöver wiederholt und waren von Land weggekommen – nicht länger als fünf Minuten war der Eisenbahndamm unseren Augen entschwunden und die Brandung unhörbar gewesen –, als ich von neuem Land sah, nicht nur auf der Wetterseite, sondern direkt vor uns. Ich spielte die Rolle der vorsichtigen Landratte und schwieg bis zum letzten Augenblick; gleich darauf sahen die Seeleute es selbst:

»Land in Sicht!« sagte der Steuermann.

»Bei Gott, es ist Kauehi!« rief der Maat.

So war es, und damit begann ich die Kartographen zu bedauern. Wir fuhren ungefähr drei und einen halben Knoten, und sie wollten mich glauben machen, daß wir innerhalb fünf Minuten eine Insel verlassen, acht Meilen offenes Meer durchfahren hatten und beinahe auf den Strand der nächsten Insel gerannt waren. Aber mein Kapitän tat sich selber noch mehr leid, daß er in einem solchen Labyrinth spazierenfuhr, drehte bei, ließ die Lotleine herunter, setzte sich auf die Vorderreling und wartete, bis der Morgen anbrach. Er hatte genug von der Nachtfahrt in den Paumotus.

Bei Tagesanbruch, am 9. September, begannen wir Kauehi zu umfahren und hatten nun Gelegenheit, die Geographie der Atolle aus nächster Nähe zu betrachten. Hier und da ragte die gegenüberliegende Seite auf, wenn sie hoch war; hier und da tauchte das uns zugekehrte Ende ganz unter und zeigte eine breite Wasserstraße in die Lagune hinein; hier und da waren beide Seiten gleich niedrig, und wir konnten durch den unterbrochenen Ring zum Seehorizont im Süden hinübersehen. Man stelle sich in vergrößertem Maßstabe den eintauchenden Ring eines Entenjägers vor, der mit grünem Schilf besetzt ist, um seinen Kopf zu verbergen – Wasser drinnen und draußen –, so hat man das Bild eines vollkommenen Atolls. Man stelle sich nun einen solchen Ring vor, der teilweise seines Schilfrandes beraubt ist, und man hat das Atoll Kauehi vor sich. Und um sich die beiden Küsten nahebei zu vergegenwärtigen, denke man an eine alte römische Heerstraße, die einen feuchten Sumpf durchzieht, hier versunken und dort sich wieder erhebend, gekrönt mit grünem Gestrüpp, nur an Stelle des stehenden Wassers der Marsch den lebendigen Ozean, der den schwachen Wall bald immer wieder bespült, bald unter sich begräbt. Die Eindrücke der letzten Nacht wurden also vom Tage bestätigt und änderten sich nicht. Wir segelten in der Tat auf einer Art Seestraße, die durch die Natur selbst geschaffen war, aber sie war nicht größer als manches Menschenwerk.

Die Insel war unbewohnt, alles war grünes Buschwerk und weißer Sand, zwischen durchsichtiges blaues Wasser gesetzt, selbst Kokospalmen waren selten, obgleich manche die leuchtende Farbenharmonie vervollständigten durch herabhängende goldgelbe Fächer. Lange Zeit bemerkten wir kein Leben außer dem der Pflanzen und hörten keinen Laut außer dem der Brandung. Schweigend und verlassen glitten diese schönen Küsten an uns vorüber, tauchten unter und erhoben sich wieder aus der See, mit dichtem Buschwerk überwuchert. Und dann erschienen ein oder zwei Vögel, flatternd und schreiend, schnell wurden sie zahlreicher, und bald sahen wir über unseren Köpfen eine ungeheure Fülle beschwingten Lebens. An dieser Stelle war die ringförmige Insel meistens unter Wasser und trug hier und da auf ihrer untertauchenden Fläche ein bewaldetes Inselchen. Über einem dieser Inselchen hingen und flogen die Vögel in unglaublicher Dichte wie Schwärme von Mücken oder zahmen Bienen; weiß und schwarz sausten sie durcheinander, erhoben sich und flatterten, und das Geschrei übertönte in schrillem, grellem Gekreisch die Stimme der Brandung. Wenn man irgendein Inseltal herabsteigt, verkündet ein nicht unähnlicher Laut die Nähe einer Mühle und eines herunterstürzenden Baches. Streifend kamen einige, wie ich schon sagte, uns entgegengeflogen, einige umkreisten das Schiff, als wir wegfuhren. Der Lärm starb ab, das letzte Paar Flügel verschwand, und wieder flossen die Küsten von Kauehi an unserem Auge schweigend wie ein Gemälde vorüber. Ich vermutete damals, daß die Vögel wie unsere Ameisen oder Städter zusammenlebten, wo wir sie erblickten. Man hat mir aber später erzählt – ob zuverlässig oder nicht, weiß ich nicht –, daß die ganze Insel oder ein großer Teil ähnlich bevölkert ist, und daß die Häufung auf einem einzigen Fleck der Beweis von der Anwesenheit eines Bootes mit Eiersammlern von einem bewohnten Nachbaratoll war. So daß hier bei Kauehi, wie am Tage vorher bei Taiaro, die »Casco« unter dem Feuer von Augen segelte, die man nicht ahnte. Und eines ist sicher richtig: daß selbst auf diesem schmalen Landstreifen eine Armee verborgen liegen könnte, ohne daß der vorüberfahrende Seemann ihre Anwesenheit erriete.

Zweites Kapitel


Fakarava: Auf einem Atoll

Etwas vor Mittag fuhren wir an der Küste von Fakarava, unserem Ziel, entlang. Der Wind war sehr schwach, die See nahezu glatt, obgleich uns noch das unaufhörliche Brausen vom Strande begleitete wie das Geräusch eines fernen Zuges. Die Insel ist von ungeheurer Länge, die Lagune im Innern dreißig Meilen mal zehn oder zwölf und die Korallenstraße, die man Land nennt, achtzig oder neunzig Meilen lang, bei einer Breite von ungefähr zweihundert Metern. Die Teile, an denen wir entlang segelten, waren alle hoch, das Unterholz ausgezeichnet grün, der Wald von Kokospalmen in der Höhe ohne Unterbrechung, ein Anzeichen für menschliche Kultur, was ich damals noch nicht wußte. Wieder und von neuem, ohne es zu wissen, waren wir in Rufweite von Mitmenschen, und dieser verlassene Strand war nur einen Pistolenschuß entfernt von der Hauptstadt des Archipels. Aber das Leben auf einem Atoll, das nicht eingedämmt ist, spielt sich nur an den Küsten der Lagune ab, dort liegen die Dörfer, dort ankern die Kanus und werden sie auf den Strand gezogen; die Küste des Ozeans dagegen ist ein verrufener und gemiedener Ort, der Schauplatz nur für Hexerei und Schiffbruch und nach dem Eingeborenenglauben der Jagdgrund blutgieriger Gespenster. Nach einiger Zeit entdeckten wir eine Lücke in dem niedrigen Wall, der Wald hörte auf, eine blitzende Landzunge lief in die See hinaus und kennzeichnete durch eine smaragdene Untiefe die Einfahrt. Als wir uns näherten, fanden wir eine leise Strömung, die abgeschlossene See der Lagune hatte dort ihren Anfang und ihr Ende und versuchte sich in den Schranken dieses Torweges vergeblich mit den gewaltigen Wogen des Pazifischen Ozeans zu messen. Die »Casco« entging knapp einem Anprall, aber es gibt Zeiten und Umstände, da diese Hafenmündungen der Inlandbecken Fluten ausströmen und Schiffe fortschleudern, umwerfen und ihnen die Masten brechen. Man stelle sich vor, daß eine Lagune vollständig abgeschlossen ist bis auf einen einzigen Punkt von kaum schiffbarer Breite, und bedenke, daß durch Flut und Winde stundenlang eine ungeheure Wassermenge sich in dieser Korallenfalte angesammelt hat, daß dann die Ebbe kommt und der Wind nachläßt: die offenen Schleusen großer Wasserbecken bei uns zu Hause geben eine Vorstellung von der unhemmbaren Strömung.

Kaum hatten wir den Kanal befahren, als alle Köpfe sich über Bord beugten. Denn das seichte Wasser unter unserem Kiel wandelte sich plötzlich zu überraschenden Tönungen von Blau und Grau; in der durchsichtigen Flut sah man die Verästelungen und Blüten der Koralle, und die Fische der Binnensee schossen sichtbar unter uns hin und her, mit Punkten, Streifen und Köpfen wie Papageien. Ich habe manchmal Gold ausgegeben für Kuriositäten, aber niemals für etwas so Einzigartiges wie für diesen seltenen Blick über die Schiffsreling in der Lagune von Fakarava. Der Leser möge sich jedoch nicht durch falsche Hoffnungen täuschen lassen. Ich bin, glaube ich, ein dutzendmal in verschiedenen Teilen des Pazifischen Ozeans in Atolle hineingefahren, aber der Anblick hat sich nie wiederholt. Diese wunderbare Schönheit und Klarheit des Unterseelebens und diese Massen von Regenbogenfischen haben mich nicht ein zweites Mal entzückt.

Bevor wir unsere Augen von diesem hinreißenden Bilde wenden konnten, war der Schoner durch die Kopfenden des Riffes geglitten und lag schon ganz in der Binnensee. Die Küsten ringsumher sind so niedrig, und die Lagune selbst ist so groß, daß sie an den meisten Stellen ohne Unterbrechung bis zum Horizont zu reichen schien. Hier und dort, wo das Riff ein Inselchen wie einen Siegelring auf einem Finger trug, sah man leicht angedeutet Palmen stehen. Stellenweise verlief die grüne Böschung des dichten Waldes einige Meilen weit, und vor uns blitzten unter den höchsten Gipfeln ein paar Häuser weiß auf: Rotoava, die Hauptniederlassung der Paumotus. In dreimaligem Kreuzen gelangten wir dorthin und warfen in der Nähe der Küste Anker, im ersten ruhigen Wasser seit unserer Ausfahrt von San Franzisko, fünf Faden tief, wo der Mensch den ganzen Tag über Bord blicken kann, hinunter zu dem verschwimmenden Kabelstrang, den Korallenbänken und den bunten Fischen.

Fakarava wurde nur aus Schiffahrtsgründen zum Sitz der Regierung gewählt. Es liegt nicht im Mittelpunkt der Inselwelt, die Produkte sind selbst für eine niedrige Insel geringfügig, die Bevölkerung ist weder zahlreich noch im Vergleich zu den Bewohnern anderer niedriger Inseln fleißig. Aber die Lagune hat zwei gute Durchfahrten, leewärts und windwärts, so daß sie unter allen Windverhältnissen angefahren und verlassen werden kann; und dieser Vorteil war für die Regierung versprengter Inseln entscheidend. Ein Korallenpier, Landungsstege, eine Hafenbeleuchtung auf einem Block und Pfeiler und zwei geräumige Regierungsbungalows in einer hübschen Umzäunung verliehen dem Nordende von Rotoava den Anschein großer Bedeutung. Das wird noch betont durch ein leeres Gefängnis und eine Gendarmerie, die mit Plakaten über und über beklebt ist in tahitischer Sprache, landgesetzlichen Ankündigungen von Papeete und republikanischen Gefühlsergüssen von Paris, gezeichnet (ein wenig veraltet): »Jules Grévy, Perihidente.« Ganz am anderen Ende der Stadt steht eine katholische Kapelle mit Glockenturm, und dazwischen auf weichem weißen Korallensand, unter dem luftigen Baldachin der Kokospalmen, liegen unregelmäßig verstreut die Eingeborenenhäuser, die einen dicht an der Lagune, aus Vorliebe für frische Luft, die andern rückwärts unter den Palmen wegen des Schattens.

Keine Menschenseele war zu sehen. Wäre nicht das Donnern der Brandung an der Außenseite gewesen, so hätte man überall in dieser Hauptstadt eine Nadel fallen hören können. Es lag etwas Erregendes in dieser erwartungsvollen Stille, aber noch erregender war das überraschende Getöse. Hier vor uns erstreckte sich ein Meer bis zum Horizont, gekräuselt wie ein Binnensee, und dicht hinter uns brandete ein anderes Meer mit heftiger Wut gegen das Land. Abends brachte man die Laterne, die den verödeten Pier erleuchtete. In einem Hause sah man Lichter und hörte Stimmen, die Bevölkerung, so erzählte man uns, saß dort beim Kartenspiel. Etwas weiter weg sahen wir aus der tiefen Finsternis des Palmenhains die Glut verbrannter Kokosnußschalen leuchten und rochen ihren aromatischen Duft, Überbleibsel eines abendlichen Küchenfeuers. Grillen zirpten, irgendein schriller Pfeifton erklang aus Grasbüscheln, und die Moskitos summten und stachen. Keine andere Spur von Mensch, Vogel oder Insekt war in jener Nacht auf der Insel zu entdecken. Der Mond, drei Tage alt und immer noch eine silberne Sichel auf sichtbarer Scheibe, schien durch den Palmenbaldachin mit starkem und zitterndem Licht. Die Straßen, auf denen wir gingen, waren geebnet und von Unkraut gesäubert wie ein Boulevard, hier und dort hatte man sie bepflanzt, hier und dort kauerten dunkle Häuschen im Schatten, einige mit Veranden. Ein öffentlicher Park bei Nacht und ein reicher und vornehmer Badeort in der Nachsaison bietet einen nicht unähnlichen Anblick dar. Und immer noch erstreckte sich auf der einen Seite der leise bewegte Binnensee, und von der andern grollte in der Nacht das tiefe Meer. Aber besonders an Bord, in den Stunden der Nacht, da ich besser geschlafen hätte, ergriff und beherrschte mich der Reiz von Fakarava. Der Mond war untergegangen, die Hafenlaterne und zwei der größten Planeten warfen vielfarbige Strahlenbündel auf die Lagune. Von der Küste erhob sich in Zwischenräumen der heitere Weckruf der Hähne über das Orgelgebrause der Brandung. Und der Gedanke an diese entvölkerte Hauptstadt, diese lang hingestreckte ringförmige Insel mit der Krone von Kokospalmen und dem Saum von Brechern, und jener ruhige Inlandsee, der sich vor mir ausdehnte, bis er die Sterne berührte, bezauberte mein Herz für lange Stunden.

Solange ich auf dieser Insel weilte, lebten diese Gedanken ständig in mir. Ich legte mich hin zum Schlaf und erwachte von neuem mit unverminderter Empfindungsfreudigkeit für meine Umgebung. Immer wieder erschien mir das Bild dieser schmalen Straße, auf der ich wohnte, wie eine zusammengerollte Schlange, die sich in den Schwanz beißt, mitten im wütenden Ozean, und nie wurde ich müde, von der einen Seite zur andern zu wandern – beinahe nur ein Spaziergang wie über das Schiffsdeck –, von den schattigen bewohnbaren Gestaden der Lagune zu der blendend strahlenden Wüste und den hochgetürmten Wogen der gegenüberliegenden Küste. Das Gefühl der Unsicherheit auf so schmalem Wohnsitz ist mehr als phantastisch. Wirbelstürme und Flutwellen überrennen diese bescheidenen Hindernisse, der Ozean erinnert sich seiner Kraft, und wo Häuser standen und Palmen blühten, wirft er seinen weißen Gischt wieder über den einsamen Korallenstreifen. Fakarava selbst hat gelitten, die Bäume dicht hinter meinem Hause waren alle erst vor kurzem angepflanzt, und Anaa hatte sich soeben erst von einer heftigen Katastrophe erholt. Ich kannte jemand, der damals auf der Insel wohnte. Er erzählte mir, daß er und zwei Kapitäne zum Strande des Meeres gingen. Dort beobachteten sie eine Zeitlang die herankommenden Wogen, bis einer der Kapitäne plötzlich seine Hand vor die Augen legte und laut schrie, daß er den Anblick nicht länger ertragen könne. Das war am Nachmittag; in den finsteren Stunden der Nacht brach die See wie eine Flutwelle über die Insel herein, die Niederlassung wurde bis auf die Kirche und die Pfarrei fortgespült, und als der Tag wiederkehrte, fanden sich die Überlebenden in einem Chaos von entwurzelten Kokospalmen und zerstörten Häusern angeklammert.

Die Gefahr spielt jedoch nicht die entscheidende Rolle. Der Mensch ist viel empfindlicher für Unbequemlichkeiten, und die Atolle sind eine unbequeme Heimat. Auf manchen und wahrscheinlich älteren Inseln hat sich tiefer Boden gebildet, auf dem höchst wertvolle Fruchtbäume gedeihen. Ich ging spazieren auf einer, verwundert und überrascht, durch einen Wald großer Brotfruchtbäume, aß Bananen und stolperte über Tarowurzeln. Es war auf dem Atoll Namorik in der Marschallgruppe, und es ist meine einzige derartige Erfahrung. Um das entgegengesetzte Extrem zu kennzeichnen, das jedoch dem Durchschnitt weit nähersteht, will ich den Boden und die Produkte von Fakarava beschreiben. Die Oberfläche dieses schmalen Streifens besieht zum. größten Teil aus zerbrochenem Korallenkalk, der vulkanischem Gestein ähnelt und den nackten Fuß peinigt. Auf manchen Atollen, glaube ich, allerdings nicht in Fakarava, gibt er einen feinen metallischen Ton, wenn man ihn schlägt. Hier und da trifft man eine Sandbank, außergewöhnlich fein und weiß, und diese Stellen sind am unfruchtbarsten. Die Pflanzen in ihrer Art entsprießen aus dem gebrochenen Korallenstein und lieben ihn, sie tragen jenes wunderbare Grün, das die Schönheit des Atolls von der See her ausmacht. Besonders die Kokospalme gedeiht prächtig auf diesem harten Boden, senkt ihr Wurzelwerk in das klare Brackwasser nieder und erhebt ihr grünes Haupt in die Winde, strotzend von Gesundheit und Anmut. Aber selbst der Kokospalme muß man in der Jugend durch künstliche Ernährung helfen, und an vielen Stellen des niedrigen Archipels pflanzt man mit jeder Nuß ein Stück Schiffszwieback und einen verrosteten Nagel ein. Der Pandanus ist der nächstwichtige Baum, ebenfalls prächtig tragend, und auch er entwickelt sich tapfer. Ein grünes Buschwerk, Miki genannt, wuchert überall, manchmal sieht man einen Purao, und es findet sich manches wertlose Unkraut. Nach M. Cuzent macht die Gesamtzahl der Pflanzenarten auf einem Atoll wie Fakarava kaum mehr als zwanzig aus, wenn diese Ziffer erreicht wird. Nirgendwo ein Grashalm, nirgendwo ein Körnchen Humus, es sei denn, daß ein oder zwei Sack importiert wurden, um eine Art Garten anzulegen, Gärten, wie sie in Städten auf dem Fensterbrett blühen. Das Insektenleben ist manchmal reich, eine Wolke von Moskitos und, was noch schlimmer ist. ein Schwarm von Fliegen, die unsere Nahrung beschmutzten, haben uns manchmal von einer Mahlzeit auf Apemama vertrieben, und selbst auf Fakarava waren die Moskitos eine Plage. Die Landkrabbe kann man zu ihrem Loch kriechen sehen, und während der Nacht belagerten Ratten die Häuser und künstlichen Gärten. Die Krabbe ist gut eßbar, wahrscheinlich auch die Ratte, ich habe es nicht versucht. Die Pandanusfrucht wird auf den Gilbertinseln zu einem angenehmen Leckerbissen verarbeitet, wie man ihn am Schluß eines ausgedehnten Diners genießen mag. Als eigentliche Mahlzeit kann ich sie nicht schätzen, der Rest der Nahrung kann auf einer einsamen Insel wie Fakarava mit dem beliebten Inselwitz bezeichnet werden: Kokosnuß-Beefsteak, Kokosnuß grün, Kokosnuß reif, Kokosnuß mit Keimen, Kokosnuß zum Essen und zum trinken, Kokosnuß roh und gekocht, Kokosnuß heiß und kalt – das ist die Speisenfolge. Einige der Vorspeisen sind ohne Zweifel kostbar. Die keimende Nuß in der Schale gekocht und mit dem Löffel gegessen ist ein guter Pudding, Kokosmilch – der ausgepreßte Saft einer reifen Nuß, nicht das Wasser einer grünen – schmeckt gut zum Kaffee und ist eine wertvolle Zutat der Kochkunst in der ganzen Südsee, und Kokosnußsalat ist, wenn man Millionär ist und den Wert eines Kornfeldes als Nachtisch verzehren kann, ein Gericht, dessen man sich mit Wohlgefallen erinnert. Aber alles in allem herrscht Gleichförmigkeit, und die Israeliten der niedrigen Inseln murren über ihr Manna.

Der Leser könnte denken, ich habe die See vergessen. Die beiden Küsten sind sicherlich voll von Leben, und sie sind eigentümlich verschieden. In der Lagune wird das Wasser langsam seichter über dem Grund von seinem, schleimigem Sand, der von Bröckchen wachsender Korallen übersät ist. Dann kommt der Streifen Flutstrandes, auf dem leichter Wellenschlag spielt. In den Korallenwucherungen wächst üppig die große Muschel Tridacna; ein wenig tiefer liegen die Bänke der Perlenauster und segeln die strahlenden Fische, die uns bei unserer Ankunft entzückten, sie sind alle mehr oder weniger leuchtend gefärbt. Aber die anderen Muscheln sind weiß wie Kalk oder leicht rosafarben überhaucht in den zartesten Farben; viele von ihnen sind außerdem tot und vom Seegang stark beschädigt. Auf der Ozeanseite, in den Schluchten der steilen Küste, über die ganze Breite des Riffes, wo die Brandung tost, in jedem Spalt, unter jedem kleinsten Stück Koralle breitet sich eine unglaubliche Fülle des Wasserlebens aus in wunderbarster Mannigfaltigkeit und strahlendsten Farben. Es gibt keine Farbennuance des Riffes, die nicht von irgendeiner Muschel angenommen ist. Purpurn, rot, weiß, grün, gelb, gesteckt, gestreift und verwaschen: die lebenden Muscheln tragen in allen Schattierungen die Buntheit des toten Riffes – wenn das Riff wirklich tot ist –, so daß das Auge fortwährend verwirrt und der Sammler fortwährend getäuscht wird. Ich habe Muscheln für Steine und Steine für Muscheln gehalten, das eine sooft wie das andere. Die Koralle ist vorherrschend mit kleinen, roten Punkten gesteckt, und es ist wunderbar, wie viele Muschelarten diesen Brauch angenommen haben: die Verkleidung durch den roten Fleck. Eine Muschel, die ich in großen Mengen auf den Marquesas fand, war auch hier in jeder Beziehung gleich vorhanden, aber sie trug die roten Flecke. Eine lebhafte kleine Krabbe trug dieselben Merkmale. Der Fall des Einsiedler- oder Taschenkrebses war noch überzeugender, da es sich hier um bewußte Wahl handelte. Dieser lästige kleine Zerstörer, Unratjäger und Räuber hat den Wert eines gesteckten Hauses erfahren; wenn es nur die richtige Farbe hat, begnügt er sich mit dem kleinsten Obdach, verbirgt sich in der winzigsten Ecke einer zerbrochenen Schale und wandert halb nackt in der Welt herum; aber niemals fand ich ihn in seiner unvollkommenen Rüstung, ohne daß sie mit dem roten Fleck gezeichnet gewesen wäre.

Ungefähr zweihundert Meter entfernt ist der Stand der Lagune. Sammelt man Muscheln von beiden Seiten und hält sie nebeneinander, so könnte man vermuten, daß sie von verschiedenen Erdteilen stammen, die einen blaß, die andern leuchtend, die einen hauptsächlich weiß, die andern buntfarbig und mit dem scharlachnen Fleck wie mit einer Krankheit behaftet. Das ist um so wunderbarer, da die Einsiedlerkrebse über die Insel hin und her wandern, und ich habe sie sogar in der Nähe des Brunnens des Regierungsgebäudes gefunden, der ungefähr in der Mitte des Weges vom Meere zur Lagune liegt. Ohne Zweifel sind die meisten Muscheln in der Lagune tot. Aber warum sind sie tot? Ohne Zweifel haben die lebenden Muscheln für ihre Anpassung einen sehr verschiedenen Meeresboden unter sich. Aber warum sind sie von den toten so verschieden? Wir stehen erst an der Schwelle der Naturgeheimnisse.

Jede der beiden Küsten, habe ich gesagt, strotzt von Leben. Auf der Meeresseite und auf manchen Atollen ist diese Überfülle von Leben geradezu erschreckend: der Fels unter dem Fuß wimmelt davon. Ich habe besonders auf Funafuti und Arorai große Stücke alten verwitterten Felsens abgebrochen, der unter meinen Schlägen wie Eisen erklang, und die Bruchstelle war voll von heraushängenden Würmern, die so lang wie meine Hände, so dick wie ein Kinderfinger, leicht rosaweiß gefärbt und so dicht gesät waren, daß drei oder vier auf einen Quadratzoll kamen. Selbst in der Lagune, wo manche Schalentiere zu kränkeln scheinen, entwickeln sich andere bemerkenswerterweise ausgezeichnet und bilden den Reichtum dieser Inseln. Auch Fische sind reichlich vorhanden, die Lagune ist ein geschlossener Fischteich, wie er das helle Entzücken eines Abtes darstellen würde. Haie schwammen hier herum und umkreisten besonders die Einfahrten, um sich von dieser Fülle zu nähren, und man sollte glauben, daß der Mensch nur seine Angel auszuwerfen hätte. Ach, es ist nicht so. Manche dieser buntfarbigen Fische, die die »Casco« bei ihrer Ankunft umschwärmten, haben giftige Stacheln, andere sind giftig im Genuß. Der Fremde muß sich zurückhalten oder das Risiko einer qualvollen und gefährlichen Krankheit tragen. Der Eingeborene ist auf seiner Insel ein sicherer Führer, aber versetzt auf die nächste, ist er hilflos wie wir selbst. Denn alles hängt ab von Zeit und Art. Ein Fisch, in der Lagune gefangen, mag tödlich sein, fängt man ihn aber an demselben Tage im Meere, nur ein paar hundert Meter von der Einfahrt entfernt, liefert er eine angenehme Mahlzeit. Auf einer Nachbarinsel liegt der Fall vielleicht umgekehrt, und vierzehn Tage später kann man ihn draußen und drinnen vielleicht ohne Gefahr verzehren. Nach Ansicht der Eingeborenen wird diese höchst erstaunliche Erscheinung hervorgerufen durch die Konstellation der Himmelskörper. Der schöne Planet Venus spielt eine große Rolle in allen Inselerzählungen und -sitten, und außer anderen Funktionen, die zum Teil schrecklich sind, regelt er das Erscheinen der eßbaren Fische. Bei einer bestimmten Konstellation der Venus, wie wir sie antrafen, sind gewisse Fische in der Lagune giftig, bei anderen Konstellationen sind dieselben Fische harmlos und als Nahrungsmittel hochgeschätzt. Die Weißen erklären diese Veränderung aus den Entwicklungsstadien der Koralle.

Einen letzten Schauer des Schreckens verleiht dem Gedanken an diesen sonderbaren ringförmigen Pfad im Meere die Tatsache, daß alles Vorhandene nicht aus festem Fels besteht, sondern organisch und teils lebendig, teils angefault ist; selbst die klare See und der glänzende Fisch ringsherum sind giftig, das härteste Gestein von Würmern durchwühlt, der leichteste Staub toddrohend wie Apothekerdrogen.

Drittes Kapitel


Ein Haus zu vermieten auf einer niedrigen Insel

Nie stark bevölkert, geschah es doch durch eine Reihe von Zufällen, daß ich die Insel so ganz und gar verlassen fand und kein Laut menschlichen Daseins die Stunden belebte. Wir wanderten in jenem sauberen Stadtpark zwischen geschlossenen Häusern, die nicht einmal durch Zettel in den Fenstern bekundeten, daß in den rückwärtigen Räumen Bewohner verweilten, und als wir das Regierungsbungalow besuchten, begrüßte uns nur Mr. Donat, der Vizeresident, und bewirtete uns mit Kokosnußpunsch im Sitzungssaal, dem Gerichtshof jenes großen Archipels, so daß unsere Gläser mitten zwischen Haftbefehlen und Steuerzetteln standen. Die Unbeliebtheit eines früheren Vizeresidenten hatte den Auszug seiner eingeborenen Angestellten verursacht, die ihre Stellungen bei Hofe aufgaben und sich alle zu ihren eigenen kleinen Kokospalmenbesitzungen in den entlegeneren Teilen der Insel zurückgezogen hatten. Daraufhin hatte der Gouverneur in Papeete einen Befehl erlassen: »Alles Land auf den Paumotus muß bis zu einem bestimmten Datum ausgemessen und registriert werden.« Nun lebt das Volk des Archipels halbwegs wie Nomaden, man kann schwerlich von einem Menschen sagen, er gehöre zu einem bestimmten Atoll; er gehört zu mehreren, besitzt vielleicht Land und Verwandte auf dutzenden, und besonders die Bewohner von Rotoava, Männer, Frauen und Kinder, vom Gendarmen bis zum Mormonenpropheten und dem Schulmeister, besaßen – ich hätte beinahe gesagt Land –, besaßen wenigstens Korallenbänke und junge Kokospalmen auf irgendeiner benachbarten Insel. Vom Gendarmen bis zum Baby im Mutterarm, vom Pastor, dem seine Gemeinde folgte, bis zum Schulmeister, der seine Schüler mit sich führte, die wiederum ihre Bücher und Schiefertafel mitschleppten, hatten sie alle ungefähr zwei Tage vor unserer Ankunft ihre Schiffe bestiegen und waren nun alle damit beschäftigt, sich über die Grenzlinien zu streiten. In der Phantasie hörten wir ihre schrillen zankenden Stimmen sich mit der Brandung und dem Gekreisch der Seevögel mischen. Erstaunlich, ihre Flucht mit Sack und Pack zu beobachten, die der von Zugvögeln glich; nichts bleibt zurück als leere Häuser, gleich alten gestern, die im Frühling wieder bezogen werden sollen; selbst den harmlosen und entbehrlichen Schulmeister hatten sie auf ihre Wanderung mitgenommen. Ungefähr fünfzig waren ausgezogen und nur sieben zurückgeblieben, wie man mir sagte. Aber als ich an Bord der »Casco« ein Festmahl gab, erschienen mehr denn sieben und eher sieben mal sieben als meine Gäste. Woher sie kamen, wer sie eingeladen hatte, und wohin sie verschwanden, als das Mahl verzehrt war, vermag ich nicht zu erraten. Denkt man an die Märchen der niedrigen Inseln und jene unheimlichen Besucher, die den Menschen fernhalten von den Küsten der Atolle, so mögen manche, die mit uns aßen, bei dieser Gelegenheit aus dem Reich des Todes zurückgekehrt sein.

Diese Einsamkeit brachte uns auf den Gedanken, ein Haus zu mieten und einstweilen Bewohner der Insel zu werden – eine Gewohnheit, die ich seither immer einhielt, wenn es möglich war. Mr. Donat stellte uns zu diesem Zweck unter die Führung eines gewissen Taniera Mahinui, der die beiden widerspruchsvollen Berufe eines Katecheten und Sträflings in sich vereinigte. Der Leser mag lächeln, aber ich kann versichern, daß er sich für beide gut eignete, für den des Zuchthäuslers in erster Linie durch einen recht erheblichen Betrug, der in allen Ländern den Urheber in Ketten und Gefängniszellen bringt. Taniera war ein Mann von Geburt und vor einiger Zeit noch der Häuptling eines Distriktes von Anaa mit achthundert Einwohnern, wie er zu erzählen liebte. In einer bösen Stunde fiel es den Autoritäten auf Papeete ein, die Häuptlinge mit der Sammlung der Steuern zu beauftragen. Es fragt sich, wieviel gesammelt wurde; sicherlich wurde nichts abgeliefert, und Taniera, der sich durch einen Besuch in Papeete und hohe Zechen in Wirtshäusern ausgezeichnet hatte, wurde zum Sündenbock auserkoren. Der Leser muß wissen, daß nicht Taniera, sondern die Autoritäten in Papeete den Hauptfehler begingen. Es war falsch, den Auftrag zu erteilen. Ich habe noch von keinem Polynesier gehört, der eine solche Probe bestanden hätte; ehrliche und aufrichtige Hawaiier, insbesondere einer, der selbst von den Weißen als unbestechlicher Beamter bewundert wurde, sind gestrauchelt auf dem schmalen Pfade eines Treuhänders. Und Taniera weigerte sich, als er gefaßt wurde, die Mitschuldigen zu denunzieren; andere hatten an der Beute teilgenommen, er allein erduldete die Strafe. Er wurde zu fünf Jahren verurteilt. Die Zeit war noch nicht abgelaufen, als ich das Vergnügen hatte, seine Freundschaft zu erwerben; er bezog noch Gefängnisrationen, die einzige und nicht unwillkommene Erinnerung an seine Ketten, und blickte dem Termin seiner Befreiung, wie ich glaube, nur mit Schrecken entgegen. Denn er empfand keine Scham über seine Lage, beklagte sich über nichts als über den zerbrochenen Tisch seiner Haftwohnung und bedauerte nichts als den Mangel an Hühnern, Eiern und Fischen, die man auf seiner eigenen gesegneten Insel besaß. Und was seine Pfarrkinder betraf, so schätzten sie ihn nicht um einen Deut geringer. Ein Schulknabe, der zehntausend Zeilen Griechisch zur Strafe lernen und auf dem Schlafsaal verbannt wohnen muß, genießt die uneingeschränkte Bewunderung seiner Mitschüler. So erging es Taniera: er war ein berühmter Mann, nicht ein Ehrloser. Er war von der Zuchtrute unsichtbarer Götter getroffen worden, ein Hiob etwa oder ein Taniera in der Löwengrube. Wahrscheinlich wird man über diesen heiligen Robin Hood Lieder verfassen und singen. Andererseits war er sogar hochbegabt für sein kirchliches Amt, denn er war von Natur aus ein ruhiger, rücksichtsvoller und liebenswürdiger Mensch, sein Gesicht trug ernste Falten, sein Lächeln war herzhaft; er beherrschte mehrere Handelszweige, konnte Boote und Häuser bauen, besaß eine gute Rednerstimme und eine so vortreffliche Gabe der Beredsamkeit, daß er am Grabe des früheren Häuptlings von Fakarava alle Anwesenden zu Tränen rührte. Ich habe niemals einen kirchlicheren Mann getroffen, er liebte es, über Dogmen und Sektengeschichte zu disputieren und sich zu unterrichten, und als ich ihm die Stiche in einem Bande von Chambers‘ Enzyklopädie zeigte, richtete sich seine ganze Begeisterung auf Kardinalshüte, Weihrauchgefäße, Leuchter und Kathedralen – abgesehen von dem Bild eines Affen. Ich glaube, als er einen Kardinalshut anblickte, flüsterte eine leise Stimme in sein Ohr: »Dein Fuß sieht auf der Leiter!«

Unter der Führung Tanieras waren wir bald untergebracht in einem Privathause, das nach meiner Ansicht das bestgelegene von Fakarava war. Es stand dicht hinter der Kirche auf einem länglichen Streifen Kulturlandes. Mehr als dreihundert Sack Erde waren von Tahiti für den Residentschaftsgarten eingeführt worden, und man mußte es bald wiederholen, denn die Erde weht fort, sinkt in die Höhlungen der Korallen und wird schließlich vergeblich gesucht. Ich weiß nicht, wieviel Erde für den Garten meines Landhauses verwandt worden ist, aber ziemlich viel sicher, denn eine Allee üppiger Bananen führte zur Tür, und auf dem übrigen Teil des eingezäunten Grundstückes, das mit den üblichen klinkerartigen Stücken zertrümmerter Korallen bedeckt war, wuchsen nicht nur Kokospalmen und Wikis, sondern auch Feigenbäume in herrlichem Blätterschmuck. Selbstverständlich gab es keinen Grashalm. Vorn trennte uns ein Holzzaun von der weißen Straße, dem palmenumrandeten Bande der Lagune und der Lagune selbst, die am Tage die Wolken und nachts die Sterne widerspiegelte. Im Hintergrund schloß uns eine Art Mauer von mörtellosen Korallen ab von dem schmalen Buschgürtel und dem nahen Strande des Ozeans, wo die See erdröhnte und ihr Tosen und Branden bis in die Kammern unseres Hauses sandte.

Das Haus selbst war einstöckig, mit einer Veranda vorn und hinten. Es enthielt drei Zimmer, drei Nähmaschinen, drei Seekisten, Stühle, Tische, ein paar Betten, eine Wiege, eine doppelläufige Flinte, ein paar vergrößerte farbige Photographien, ein paar Buntdrucke nach Wilkie und Mulready und eine französische Lithographie mit der Unterschrift: »Die Brigade des Generals Lepasset verbrennt ihre Fahne vor Metz.« Unter den Pfosten des Hauses rostete ein Ofen, bis wir ihn herauszogen und in Tätigkeit setzten; nicht weit entfernt war eine Öffnung in den Korallen, wo wir uns mit Brackwasser versorgten. Auch Lebewesen waren auf dem Grundstück, Hähne und Hühner und ein Wurf schlecht erzogener Katzen, die Taniera jeden Morgen bei Sonnenaufgang mit geschabter Kokosnuß fütterte. Seine Stimme war unser regelmäßiger Weckruf, wenn er sie über den Garten hin erklingen ließ: »Put, put, put, put, put!«

Waren wir auch fern von den öffentlichen Gebäuden, so machte doch die Nähe der Kapelle die Lage unseres Hauses »bevorzugt«, wie man in einer Anzeige gesagt hätte, und erlaubte uns manchen Einblick in das Eingeborenenleben. Jeden Morgen setzte Taniera, sobald er die Hühner gefüttert hatte, die Glocke in dem kleinen Glockenturm in Schwung, und die Gläubigen, die nicht sehr zahlreich waren, versammelten sich zum Gebet. Einmal war ich anwesend, es war der Tag des Herrn, und sieben Frauen und acht Männer hatten sich versammelt. Eine Frau spielte den Vorsänger, sie hob an mit einem langgezogenen Ton, der Katechet setzte beim zweiten Takt ein, und dann folgten die Gläubigen alle miteinander. Einige hatten gedruckte Gesangbücher, aus denen sie lasen, manche sangen nur »eh – eh – eh«, das do-re-mi der Paumotus. Nach der Hymne wurden ein oder zwei Wechselgebete gesprochen, und dann erhob sich Taniera von der Vorderbank, wo er in seinem Katechetengewande gesessen hatte, öffnete die tahitische Bibel und begann nach seinen Notizen zu predigen. Ich verstand nur ein Wort, den Namen Gottes, aber der Prediger beherrschte geschmackvoll sein Organ, hatte gewählte und ausdrucksvolle Gesten und machte durchaus den Eindruck der Aufrichtigkeit. Der einfache Gottesdienst, die Bibel in der Eingeborenensprache, die Gesangmelodien meist nach englischem Vorbilde – » God save the Queen« ist eine Lieblingsmelodie, wie man mir sagte –, alles das, abgesehen von einigen Papierblumen auf dem Altar, schien nicht nur obenhin, sondern bewußt protestantisch. Auf diese Weise sind die Katholiken ihren Proselyten auf den niedrigen Inseln auf halbem Wege entgegengekommen.

Taniera besaß die Schlüssel unseres Hauses, mit ihm schloß ich meinen Mietvertrag, wenn man es so nennen will, da alles meiner Freigebigkeit anheimgestellt wurde; er fütterte die Katzen und Hühner, er besuchte uns und aß mit uns wie ein alter Freund, und wir vermuteten selbstverständlich lange Zeit, daß er der Hausbesitzer sei. Dieser Glaube rechtfertigte sich nicht durch die Tatsache, und wie meine Erzählung zeigen wird, erlangten wir keinerlei Gewißheit darüber. Wir verbrachten einige Tage in windloser Stille und großer Hitze, Muschelsammler mußten sich vom Ozeanstrand zurückziehen, wo der Sonnenstich ihrer wartete von zehn bis vier Uhr; die höchsten Palmen standen regungslos, nichts war zu hören als die Stimme der See in der Ferne. Schließlich um vier Uhr eines Nachmittags wurde die Oberfläche der Lagune von langen Strichen durchzogen, und bald erwachte in den Baumwipfeln das angenehme Rauschen des Passatwindes. Alle Häuser und Gassen der Insel wurden ausgelüftet. Mehr als einem verzauberten Schiff, das angesichts des grünen Strandes ruhig daliegen mußte, brachte der Wind Erlösung, und bei Tagesanbruch lagen ein Schoner und zwei Kutter am Kai im Hafen von Rotoava. Nicht nur auf offener See, sondern auch in der Lagune selbst erwachte mit der auffrischenden Brise ein gewisser Verkehr, und unter anderem setzte ein gewisser François, ein Halbblut, die Segel beim ersten Tageslicht auf seinem eigenen halbverdeckten Kutter. Er hatte früher eine Stellung bei Hofe innegehabt, und zwar war er, wie ich vermutete, Zimmerreiniger in der Residentschaft gewesen. Als das Zerwürfnis mit dem unbeliebten Vizeresidenten entstand, hatte er auf seine Ehren verzichtet und war zum fernsten Ende des Atolls geflohen, um Kohl zu bauen – oder wenigstens Kokospalmen. Von dort trieben ihn nun Bedürfnisse her, die selbst ein Cincinnatus anerkennen muß, und er fuhr nach der Hauptstadt, dem Schauplatz seiner früheren Beamtenlaufbahn, um eine halbe Tonne Kopra gegen das lebensnotwendige Mehl einzutauschen. Und hier muß die Geschichte seiner Reise für eine Weile unterbrochen werden.

Ich muß statt dessen von unserem Hause erzählen, wo gegen sieben Uhr abends plötzlich der Katechet eintrat, mit der Miene eines Mannes, der weiß, daß er willkommen ist, bewaffnet mit einem großen Bund Schlüssel, die er an den Seekisten versuchte, indem er sie einzeln von ihrem Platz an der Wand hervorzog. Unbekannte Köpfe erschienen in der Türfüllung und suchten ihren Rat anzubringen. Alles vergebens. Entweder waren es die falschen Schlüssel oder die falschen Kisten, oder der falsche Mann benutzte sie. Eine Zeitlang schwitzte und schimpfte Taniera, dann entschloß er sich zu dem mehr summarischen Verfahren einer Axt; eine Kiste wurde erbrochen und ein Arm voll weiblicher und männlicher Kleider herausgeholt und den Fremdlingen auf der Veranda ausgehändigt.

Es war François mit Weib und Kind. Ungefähr um acht Uhr morgens war der Kutter beim Kreuzen in der Mitte der Lagune gekentert. Sie richteten ihn auf und setzten das Kind an Bord, obgleich er noch voll Wasser war. Das Hauptsegel war fortgetrieben, aber das Focksegel schleppte das Schiff langsam vorwärts, und François und sein Weib schwammen hinterdrein und bedienten das Steuer mit den Händen. Die Kälte war grausam, die Müdigkeit wurde mit der Zeit entsetzlich, und Furcht umlauerte sie in diesen Jagdgründen der Haifische. Immer wieder wollte François, das Halbblut, aufgeben und versinken, aber die Frau, Vollblut einer dem Wasser verschwisterten Rasse, richtete ihn mit anspornenden Worten auf. Ich erinnere mich einer hawaiischen Frau, die mit ihrem Manne ich weiß nicht wie viele Meilen auf hoher See schwamm und schließlich mit dem Leichnam im Arm die Küste erreichte. Ungefähr um fünf Uhr nachmittags, nach neun Stunden Schwimmen, langten Franyois und sein Weib in Rotoava an, der tapfere Kampf war gewonnen, und alsbald kam die kindliche Seite ihres Eingeborenencharakters zum Durchbruch. Sie hatten gegessen und immer wieder ihre Geschichte erzählt, triefend, wie sie angekommen waren; der Körper des Weibes, dem meine Frau beim Umziehen half, war kalt wie Stein, und François saß, nachdem er ein trockenes baumwollenes Hemd und Hosen angezogen hatte, den ganzen Rest des Abends auf meinem Fußboden zwischen offenen Türen in der Zugluft. Aber François, der Sohn eines französischen Vaters, sprach selbst ausgezeichnet Französisch und scheint intelligent zu sein.

Unser erster Gedanke war, daß der Katechet, treu seinem Evangelistenberuf, die packten kleidete von seinem Überfluß. Dann stellte es sich heraus, daß François nur über sein Eigentum verfügte. Die Kleider gehörten ihm, genau wie die Kiste und das Haus. François war tatsächlich der Hausbesitzer, und doch hatte er sich zurückgehalten auf der Veranda, während Taniera seine ungeschickte Hand an den Schlössern versuchte, und selbst jetzt, als sein wahrer Stand sich offenbarte, machte er von seinen Eigentumsrechten keinen anderen Gebrauch, als daß er die Kleider seiner Familie am Zaun trocknen ließ. Immer noch war Taniera der Freund des Hauses, immer noch fütterte er die Hühner und besuchte uns täglich, indes François sich schamhaft in der Ferne hielt während der Restzeit seines Aufenthaltes; und noch sonderbarere Dinge geschahen. Da François die gesamte Ladung seines Kutters verloren hatte, seine halbe Tonne Kopra, eine Axt, Schüsseln, Messer und Kleider, da er also gewissermaßen ganz von vorn wieder anfangen mußte und das notwendige Mehl weder gekauft noch bezahlt war, schlug ich ihm vor, ihm für seinen Bedarf einen Vorschuß auf die Miete zu geben. Zu meinem großen Erstaunen lehnte er ihn ab, und der Grund, den er angab – wenn man das einen Grund nennen kann, was die Verhältnisse nur noch mehr verdunkelte – war, daß Taniera sein Freund sei. Man beachte: sein Freund, nicht etwa sein Gläubiger. Ich erkundigte mich, und man versicherte mir, daß Taniera, der als Verbannter einer fremden Insel hier wohnte, selbst möglicherweise Schulden habe, aber bestimmt niemandes Gläubiger sei.

Eines Morgens wurden wir in aller Frühe durch Geräusche auf dem Hofe geweckt und stellten fest, daß unsere Lagerstatt von einer großen mageren alten Dame überrascht worden war, die offenbar Witwentracht trug. Wir sahen auf den ersten Blick, daß sie eine ansehnliche Frau war, eine Hausfrau, streng praktisch, mit Energie geladen und allerlei Temperament verratend» Tatsächlich war an ihr außer der Haut nichts von einer Eingeborenen, und der Typ ist überall in unserer Heimat vorhanden und geschätzt. Wir sahen mit Vergnügen, wie sie das Gelände reinigte, die Pflanzen begoß, die Küken fütterte und alles genau prüfte, säuberte und grimmig und bestimmt mit Beschlag belegte. Als sie sich dem Hause näherte, bröckelte unsere Sympathie ab, und als sie zu der erbrochenen Kiste kam, wünschte ich mich weit fort. Wir wechselten kaum ein Wort, aber ihr ganzer hagerer Körper sprach für sich mit beredter Verdrießlichkeit. »Meine Kiste!« rief er aus, mit starker Betonung auf dem mein. »Meine Kiste – erbrochen! Das ist ja eine nette Geschichte!« Ich beeilte mich, den Tadel an die richtige Stelle zu lenken, nämlich auf François und sein Weib, aber es stellte sich heraus, daß ich die Lage verschlechtert statt verbessert hatte. Sie wiederholte die Namen zuerst ungläubig, dann verzweifelt. Eine Weile schien sie stutzig, dann räumte sie plötzlich die Kiste aus, warf die Sachen auf den Boden, prüfte sichtlich den Umfang von François‘ Raub, und bald darauf sahen wir sie heftig mit Taniera reden, der die Ohren hangen ließ, wie jemand, der ein schlechtes Gewissen hat.

Hier also mußte sich aller Wahrscheinlichkeit nach endlich meine Hauswirtin gefunden haben, hier waren alle Anzeichen eines Besitzers üppig entwickelt. Sollte ich mich ihr nicht nähern, um die Frage der Miete endlich zu klären? Ich trug die Angelegenheit einem Kenner vor. »Unsinn,« rief er aus, »Unsinn! das ist die Alte, die Mutter, ihr gehört nichts, ich glaube, daß dem Manne dort das Haus gehört«, und er zeigte auf eine der bunten Photographien an der Wand. Damit gab ich jeden Wunsch auf, alles das zu verstehen, und als die Zeit des Abschieds kam, zahlte ich im Gerichtssaal des Archipels und unter der düsteren Zustimmung des stellvertretenden Gouverneurs ordnungsgemäß meine Miete an Taniera. Er war zufrieden und ich auch. Aber was hatte er damit zu tun? Mr. Donat, der stellvertretende Gerichtsherr und ein Mann mit einer Beimischung von Eingeborenenblut, konnte kein Licht in die geheimnisvolle Angelegenheit bringen, und von einem einfachen Privatmann mit einer Neigung zur Literatur kann man schlechterdings auch nichts anderes erwarten.

Erstes Kapitel


Die Landung

Nahezu vier Jahre ging es mit meiner Gesundheit bergab, eine Zeitlang vor meiner Ausreise glaubte ich, der letzte Abschnitt meines Lebens sei gekommen, und nur Krankenschwester und Totengräber warteten noch auf mich. Man riet mir, ich solle es einmal mit der Südsee versuchen, und ich war nicht abgeneigt, wie ein Geist oder Gespenst in jenen Gegenden aufzutauchen, die mich einst in Jugend und Gesundheit entzückt hatten. Ich charterte also Dr. Merrits Schonerjacht »Casco«, ein Schiff von vierundsiebzig Registertonnen, segelte Ende Juni 1888 von San Franzisko ab, besuchte die östlichen Inseln und befand mich Anfang des folgenden Jahres in Honolulu. Der Mut, zu meinem ehemaligen Krankenzimmerleben zurückzukehren, fehlte mir, und so segelte ich von dort mit dem Handelsschoner »Equator«, etwas über siebzig Tonnen, südwestlich, verbrachte vier Monate zwischen den Atollen (niedrigen Koralleninseln) der Gilbertgruppe und erreichte Samoa gegen Ende 1889. Zu dieser Zeit begannen Dankbarkeit und Gewohnheit mich an die Inseln zu fesseln, ich hatte neue Kräfte gesammelt, Freundschaften geschlossen und mir neue Interessengebiete gewonnen, die Reisezeit war wie ein Traum verflogen, und ich entschloß mich zu bleiben. Auf einer dritten Fahrt mit dem Handelsdampfer »Janet Nicoll« begann ich mit der Vorbereitung dieses Buches. Werden mir noch mehr Tage geschenkt, so sollen sie dort verbracht werden, wo ich das Leben am angenehmsten und die Menschen am interessantesten fand; die Äxte meiner Schwarzen beginnen bereits das Gelände zu roden für mein zukünftiges Heim, und ich muß lernen, zu meinen Lesern zu sprechen von den fernsten Fernen des Ozeans.

Daß ich auf diese Weise der Behauptung von Lord Tennysons Helden widersprechen mußte, ist weniger absonderlich, als es den Anschein hat. Wenige Menschen, die zu den Inseln kommen, verlassen sie wieder; sie werden grau, wo sie landeten, Palmen beschatten und Passatwinde umfächeln sie bis zum Tode. Sie spielen vielleicht bis zuletzt mit dem Gedanken, die Heimat wieder zu besuchen, aber er wird selten durchgeführt, noch seltener mit Genuß und am seltensten zum zweitenmal. Kein Teil der Welt übt einen bezaubernderen Einfluß auf den Besucher aus, und meine Aufgabe ist es, dem Reisenden am Kaminfeuer einen Begriff zu geben von seinem verführerischen Reiz und das Leben zu Wasser und zu Lande der vielen Hunderttausende zu beschreiben, die teilweise nach Blut und Sprache zu uns gehören und alle unsere Zeitgenossen sind, in Denken und Sitten aber uns so fernstehen wie Rob Roy dem Kaiser Barbarossa oder die Apostel den Cäsaren.

Erste Eindrücke wiederholen sich nie. Die erste Liebe, der erste Sonnenaufgang, die erste Südseeinsel sind einzigartige Erinnerungen, mit jungfräulichem Empfinden aufgenommen. Am 28. Juli 1888 war der Mond um vier Uhr morgens schon eine Stunde untergegangen. Im Osten verkündete sprühender Glanz den Tag, darunter, am Horizont, bildete sich bereits die morgendliche Nebelbank, schwarz wie Tinte. Wir haben alle gelesen von der Schnelligkeit, mit der in niedrigen Breiten der Tag kommen und gehen soll, wissenschaftliche und gefühlvolle Reisende sind sich darüber einig, und hübsche Gedichte singen davon. Sicher wechselt die Dauer mit der Jahreszeit, aber hier ist ein genau beobachteter Fall. Obgleich die Morgendämmerung um vier Uhr begann, war die Sonne nicht vor sechs Uhr aufgegangen, und wir konnten vor halb sechs Uhr die zu erwartenden Inseln nicht von den Wolken am Horizont unterscheiden. Acht Grad südlich brauchte der Tag zwei Stunden, um heraufzukommen. Inzwischen verharrten wir an Deck in stillschweigender Erwartung, die gewöhnliche Erregung vor einer Landung wurde gesteigert durch die Fremdheit der Küsten, denen wir uns damals näherten. Langsam gewannen sie Gestalt in der weichenden Dunkelheit. Ua-huna mit hochgerecktem, stumpfem Gipfel erschien zuerst an Steuerbord, fast geradeaus erhob sich Nuka-hiva, unser Ziel, in Nebel gehüllt, und dazwischen und südwärts umspielten die ersten Sonnenstrahlen die spitzigen Höhen von Ua-pu. Sie durchlöcherten die Linie des Horizonts und standen in der sprühenden Helligkeit des Morgens wie die Türme einer mit phantastischen Ornamenten überladenen Kirche als Wahrzeichen einer Welt der Wunder.

Niemand an Bord der »Casco« hatte jemals den Fuß auf diese Inseln gesetzt oder kannte mehr als einige Brocken der Sprache, und wir näherten uns den geheimnisvollen Ufern mit jener angstvollen Freude, die das Herz von Entdeckern bewegen mag. Das Land hob sich zu steilen Bergen und ansteigenden Tälern, es fiel ab in Klippen und Zacken, die Farben spielten in fünfzig Schattierungen von Perlgrau, Rosa und Oliv, gekrönt von opalisierenden Wolken. Wallende Schleier täuschten den Blick, die Wolkenschatten verschmolzen mit den Bergrücken, und die Insel mit ihrem luftigen Gewande erhob sich schimmernd vor uns wie eine einzige Masse. Kein Signal, kein Rauch von Städten, kein sorgsamer Lotse erwartete uns. Irgendwo verborgen im verschwommenen Wirrwarr der Klippen und Nebel lag unser Hafen und irgendwo östlich davon als einziger Anhaltspunkt ein gewisses Vorgebirge, ungenau bekannt als Kap Adam und Eva, erkennbar an zwei Kolossalfiguren, klotzigen Bildwerken der Natur. Sie mußten wir finden, nach ihnen spähten und forschten wir mit Augen und Fernrohren, sie suchten wir laut streitend nach den Karten, und die Sonne stand hoch, das Land lag dicht vor uns, bevor wir sie fanden. Für ein von Norden herankommendes Schiff wie die »Casco« waren sie tatsächlich am allerwenigsten bemerkbar an dieser einzigartigen Küste; Gischt spritzte hoch auf an ihrem Sockel, seltsame, düstere und zerklüftete Berge lagen im Hintergrund, und Adam und Eva hingen über den Brechern wie ein paar Warzen.

Wir fuhren nun an der Küste entlang, an der Landseite hörten wir das Getöse der Brandung, einige Vögel flogen fischend am Bug hin und her: kein anderes Lebenszeichen, kein Laut von Mensch und Tier in dieser Gegend der Insel. Beschwingt von eigener Sehnsucht und der abflauenden Brise strich die »Casco« an den Klippen vorbei, erschloß uns eine Bucht, einen Strand, einige grüne Bäume, glitt weiter, wiegte sich auf der Dünung. Die Bäume glichen aus der Entfernung Haselnußsträuchern, der Strand hätte in Europa liegen können, die Berge ähnelten fast den Alpen, und der Wald an den Abhängen schien nicht bemerkenswerter als der schottischer Heidegebiete. Wieder öffneten sich die Klippen, aber diesmal war die Einfahrt tiefer, und die »Casco« begann unter gutem Wind in die Bucht von Anaho zu gleiten. Wir sahen Kokospalmen, diese Giraffen unter den Bäumen, graziös, anspruchslos, dem europäischen Auge so fremdartig, zahlreich am Strande wachsen und die steilen Berghänge hinaufklettern und einsäumen. Rauhe und kahle Hügel umschlossen die Bucht zu beiden Seiten, landeinwärts erhoben sich gewaltige, zerklüftete Berge. Überall in den Schluchten wuchs Wald, wie Vögel auf Ruinen horsten und nisten, und hoch oben bekränzte er mit seinem Grün die messerscharfen Grate der Gipfel.

Am Ostufer schob sich unser Schoner nun ohne jede Brise langsam weiter: ein feines Fahrzeug, das in sich beweglich schien, wenn es einmal unterwegs war. Ganz nahebei am Ufer blökten Lämmer, ein Vogel sang am Abhang, der Duft des Bodens und hunderter Früchte oder Blumen strömte uns entgegen, und plötzlich tauchten ein oder zwei Häuser auf, hinaufgeschoben am Hügelabhang, das eine scheinbar von einem Garten umgeben. Diese sofort ins Auge fallenden Behausungen waren, ohne daß wir es wußten, Spuren von Weißen, Tupfen der Kultur, und wir hätten uns hundert Inseln nähern können, ohne ihresgleichen zu finden. Erst später entdeckten wir das Eingeborenendorf, nach allgemeiner Sitte dicht am Strande und unter einer Palmengruppe gelegen; davor die See weiß brandend im konkaven Bogen der Korallenriffe. Denn die Kokospalme und die Menschen sind beide Freunde und Nachbarn der Brandung. »Die Koralle wächst, die Palme sprießt, aber der Mensch verschwindet«, sagt das traurige tahitische Sprichwort, aber alle drei sind, solange sie leben, Nachbarn am Strande. Der Ankerplatz, den wir wählten, war gekennzeichnet durch ein Windloch in den Felsen, nahe der Südostecke der Bucht. Pünktlich wie für uns bestimmt drang ein Wasserstrom durch das Loch, der Schoner drehte sich auf dem Fleck, der Anker tauchte unter. Ein winziger Laut, ein großes Ereignis: meine Seele versank mit den Ketten in die Tiefe, keine Winde und kein Taucher mögen sie je wieder heraufholen, ich und manche meiner Schiffsgenossen waren von dieser Stunde Leibeigene der Insel Viviens.

Bevor noch der Anker versank, paddelte schon ein Kanu vom Dorf her. Es enthielt zwei Männer, der eine weiß, der andere braun, quer über das Gesicht mit blauen Strichen tätowiert, beide in tadellosen europäischen Kleidern: der hier ansässige Händler, Mr. Regler, und der Eingeborenenhäuptling, Taipi-Kikino.

»Ist es erlaubt, an Bord zu kommen, Kapitän?« waren die ersten Worte, die wir auf den Inseln vernahmen. Kanu folgte Kanu, bis das Schiff wimmelte von stämmigen, sechs Fuß hohen Männern in jedem Stadium der Unbekleidetheit; einige kamen im Hemd, andere im Lendentuch, einer hatte ein Taschentuch geschickt angebracht; einige, und zwar die vornehmsten, waren von Kopf zu Fuß mit entsetzlichen Mustern tätowiert, manche sahen wild aus, mit Messern bewaffnet, einer, der wie ein tierähnliches Wesen vor meinem Gedächtnis steht, rutschte in seinem Kanu auf dem Gesäß herum, sog eine Orange aus und spie die Reste nach beiden Seiten mit affenähnlicher Beweglichkeit aus. Alle schwatzten, und wir verstanden kein Wort; alle wollten handeln mit uns, während wir an Handel nicht dachten, und boten uns Inselkuriositäten zu lächerlich hohen Preisen an. Kein Wort des Willkommens, keine Spur von Höflichkeit, kein Handschlag, abgesehen von Mr. Regler und dem Häuptling. Als wir die angebotenen Gegenstände ausschlugen, machten sie uns lärmend und grob Vorwürfe, und einer, der Witzbold der Bande, machte sich über unsere Erbärmlichkeit unter wieherndem Gelächter lustig. »Ein äußerst vornehmes Schiff!« rief er unter anderen ärgerlichen Liebenswürdigkeiten aus, »kein Geld an Bord zu haben!« Ich gebe zu, daß ich sehr verdrossen und sogar beunruhigt war. Das Schiff war offenbar in ihrer Gewalt, wir hatten Frauen an Bord, und ich wußte nichts von meinen Gästen, außer daß sie Menschenfresser waren; unser Reiseführer, aus dem ich mich unterrichtet hatte, enthielt viele besorgniserregende Warnungen, und was den Händler betraf, dessen Anwesenheit mich sonst beruhigt hätte: waren nicht Weiße im Stillen Ozean gewöhnlich die Anstifter und Mitverschwörer bei den Missetaten der Eingeborenen? Wenn unser liebenswürdiger Freund Mr. Regler dies Bekenntnis liest, mag er gern lächeln.

Später am Tage, als ich in meinem Tagebuch schrieb, war die Kajüte bis zum letzten Platz mit Marquesanern angefüllt: drei braunhäutige Generationen saßen mit gekreuzten Beinen auf dem Fußboden und betrachteten mich schweigend mit beängstigenden Blicken. Die Augen aller Polynesier sind groß, leuchtend und wie schmelzend, sie gleichen den Augen von Tieren und manchen Italienern. Eine Art Verzweiflung überfiel mich, ich saß hilflos zwischen diesen mich anstarrenden Wilden und war in meiner Kajütenecke von der schweigenden Horde eingeschlossen: und ich war wütend, daß es keine Möglichkeit gab, sich durch Worte zu verständigen, als wären diese Menschen pelzbedeckte Tiere, taub geboren oder Bewohner eines fernen Planeten.

Für einen zwölfjährigen Knaben bedeutet eine Kanalüberfahrt etwas wie eine Weltreise; dagegen ändert ein Mann von vierundzwanzig Jahren kaum seine Mahlzeiten, wenn er den Atlantik überquert. Aber ich war nun dem Bereich des römischen Reiches entflohen, unter dessen erdrückenden Monumenten unser aller Wiege steht, dessen Gesetze und Geist uns führen, einkapseln und behüten. Ich sah nun, daß es Menschen gibt, deren Väter niemals Virgil gelesen hatten, die niemals von Cäsar bezwungen und von der Weisheit des Gajus oder Papinian regiert wurden. So hatte ich also die angenehmeren Gegenden verlassen, wo verwandte Sprachen geredet und der Fluch des Turmbaus zu Babel leicht überwunden wird, und meine neuen Landsleute saßen vor mir wie stumme Statuen. Ich dachte, alle menschlichen Beziehungen seien auf diesen Reisen ausgeschaltet, und wenn ich heimkehrte – denn in jenen Tagen dachte ich noch an eine Heimreise –, würde es mir vorkommen, als hätte ich in einem Bilderbuch geblättert ohne Text. Ja, ich überlegte, ob ich überhaupt noch weiterreisen könnte, vielleicht war meiner Fahrt ein schnelles Ende beschieden; vielleicht würde mein späterer Freund Kauanui, der mit den übrigen dort schweigend vor mir saß, als Mann von einigem Ansehen plötzlich aufspringen, ein ohrenbetäubendes Signal ausstoßen, die Mannschaft im Nu überrumpeln und die ganze Reisegesellschaft zum Mittagessen schlachten.

Nichts lag näher als diese Befürchtungen, und nichts war unbegründeter. Während meiner gesamten Erfahrungen auf den Inseln war ein Empfang niemals bedrohlicher; würde er mir heute irgendwo bereitet, so würde ich unruhiger und zehnmal überraschter sein. Mit den meisten Polynesiern kommt man leicht in Berührung, sie sind offenherzig, ehrgeizig, sehnen sich nach dem geringsten Zeichen der Zuneigung wie gutartige, schmeichelnde Hunde, und selbst die Marquesaner, die erst vor kurzem und noch nicht vollkommen aus blutiger Barbarei befreit wurden, wollten alle unsere Busenfreunde werden, und einer wenigstens trauerte aufrichtig bei unserer Abreise.