Siebentes Kapitel


Der König von Apemama

So gehorcht alles auf der Insel, selbst die Priester der Götter, dem Worte Tembinok’s. Er kann geben und nehmen, er kann töten und die Bedenken der Gewissenhaften zerstreuen, er kann offenbar alle Dinge tun, abgesehen von einer Einmischung in die Zubereitungsart einer Schildkröte. »Ich Macht haben!« ist sein Lieblingsspruch, er kehrt in seinen Reden immer wieder, der Gedanke verfolgt ihn und ist immer wieder neu, und wenn er Fragen stellt und nachdenkt über ferne Länder, blickt er lächelnd auf und erinnert daran: »Ich Macht haben!« Aber nicht der Besitz der Macht allein erfreut ihn, sondern die Anwendung, die krummen Pfade und die Gewalttätigkeit des Königsberufes entzücken ihn wie einen starken Mann ein Wettrennen oder wie einen Künstler seine Kunst. Seine Macht zu fühlen und sie zu gebrauchen, die Insel und das Bild des Insellebens nach seinem eigensten Ideal zu verschönen, die Einwohner kräftig zu schröpfen, sein einzigartiges Museum auszugestalten: das alles beschäftigt die Summe seiner Fähigkeiten und erfreut ihn. Niemals sah ich einen Menschen, der sich zu seinem Beruf vollkommener eignete.

Man sollte vermuten, daß sich diese Monarchie durch Generationen uneingeschränkt vererbt habe, aber das Gegenteil ist der Fall: sie stammt von gestern. Ich war schon ein Schulknabe, als Apemama noch republikanisch war, beherrscht von dem lärmenden Rat der Altmänner, von unaufhörlichen Fehden beunruhigt. Und Tembinok‘ ist kein Bourbone, eher der Sohn eines Napoleon. Selbstverständlich entstammt er einer alten Familie. Niemand kann auf den Inseln des Pazifischen Ozeans hohen Zielen nachjagen, wenn sein Stammbaum nicht alt und in den höheren Regionen sogar mythisch ist. Unser König zählt Verwandte in fast allen größeren Familien des Archipels und führt seine Abstammung zurück auf einen Hai und eine heldenhafte Frau. Von einem Orakel geleitet, schwamm sie ins Meer hinaus, außer Sicht, um sich mit ihrem furchtbaren Liebhaber zu treffen, und empfing auf See den Samen einer Familie, die zu großen Dingen bestimmt sein sollte. »Ich denken, Lüge«, so lautet des Königs lebhafter Kommentar, aber er ist stolz auf die Legende. Von diesem großartigen Beginn an muß das Glück der Sippe allmählich gesunken sein, und Tenkoriti, der Großvater Tembinok’s, war Häuptling eines Dorfes im Norden der Insel. Kuria und Aranuka waren noch unabhängig, Apemama selbst der Schauplatz verheerender Fehden. Durch diese unruhige Zeit der Geschichte schreitet denkwürdig die Gestalt Tenkoritis. Im Kriege war er rasch entschlossen und blutdürstig, mehrere Städte verfielen seinen Speeren, und die Eingeborenen wurden bis auf den letzten Mann hingeschlachtet. Im Privatleben war seine Arroganz unerhört. Wenn der Rat der Altmänner versammelt war, ging er zum Sprechhaus, tat seine Ansicht kund und ging fort, ohne die Antwort abzuwarten. Die Weisheit hatte gesprochen: mochten die anderen in ihrer Torheit denken, was sie wollten. Er war gefürchtet und gehaßt, und das bereitete ihm Vergnügen. Er war kein Dichter, er kümmerte sich nicht um Kunst und Wissenschaft. »Mein Großvater wissen eine Sache, wissen Kampf«, sagte der König. Als ihre eigenen Händel eine Weile schliefen, beschlossen die Altmänner von Apemama, sich die ganze Insel zu unterwerfen, und dieser rauhe Cajus Marius wurde zum General der vereinigten Truppen erwählt. Ihm war Erfolg beschieden, die Inseln wurden erobert, und Tenkoriti kehrte siegreich und verhaßt zu seiner eigenen Regierung zurück. Er starb 1860 im siebzigsten Jahre seines Lebens und in der Vollblüte seiner Unbeliebtheit. Er war groß und hager, so erzählt sein Enkel, sah außerordentlich bejahrt aus, aber »gehen wie junger Mann«. Derselbe Augenzeuge berichtete mir eine sehr bezeichnende Tatsache. Die überlebenden jener wilden Zeit waren alle von Speernarben entstellt – am Körper dieses hervorragenden Kämpfers war keine. »Ich alten Mann gesehen, haben kein Speer«, sagte der König. Tenkoriti hinterließ zwei Söhne, Tembaitake und Tembinatake. Tembaitake, der Vater unseres Königs, war klein, ziemlich dick, ein Dichter, ein guter Genealoge und auch ein einigermaßen guter Kämpfer. Es scheint, daß er sich selbst ernst nahm und vielleicht kaum wußte, daß er in jeder Beziehung geschröpft wurde und Spielball seines Bruders war. Zwischen beiden war nicht der Schatten eines Zwistes: der größere Mann füllte heiter und zufrieden den zweiten Platz aus, stand im Kriege an der Spitze und verwaltete im Frieden alle Hauptämter. Wenn sein Bruder ihn tadelte, hörte er zu und blickte schweigend zu Boden. Gleich Tenkoriti war er groß und hager und ein geschickter Sprecher – eine seltene Gabe auf den Inseln. Er war in jeder Beziehung durchgebildet, verstand die Zauberei, war der beste Stammbaumkenner seiner Zeit, war Dichter, konnte tanzen, Kanus und Waffen anfertigen, und der berühmteste Mast von Apemama, der um einen Baum höher ist als der Hauptmast eines Vollschiffes, ist von ihm geplant und entworfen. »Mein Onkel, wenn machen Krieg, er lachen«, sagte Tembinok‘. Er verbot die Anwendung von Feldbefestigungen, die die Streitigkeiten unter den Eingeborenen verlängerten; seine Leute mußten in offener Feldschlacht kämpfen und sofort gewinnen oder verlieren. Seine eigene Kühnheit trieb seine Gefolgschaft an, und die Schnelligkeit seiner Angriffe schlug innerhalb eines Menschenalters den Widerstand dreier Inseln nieder. Er machte seinen Bruder zum Herrscher und ließ seinen Neffen als Diktator zurück. »Mein Onkel alles glattmachen,« sagte Tembinok‘, »ich mehr König als mein Vata, ich Macht haben!« fügte er mit entsetzlicher Genugtuung hinzu.

Das ist das Porträt des Onkels, wie der Neffe es zeichnete. Ich kann ihm ein anderes entgegenstellen, das von einem anderen Künstler stammt, der mich oft – ich kann wohl sagen immer – durch die romantische Art seiner Erzählungen, aber nicht immer – und ich kann sagen, nicht oft – durch Zuverlässigkeit entzückte. Ich habe mir bereits die Wiedergabe so mancher höchst interessanter Einzelheit, die auf dieselbe Quelle zurückgeht, versagt, daß es vielleicht an der Zeit ist, mein gutes Benehmen zu belohnen. Sein Bericht über Tembinatake stimmt mit dem des Königs so genau überein, daß er, wie ich hoffe, den Tatsachen entspricht und nicht, wie ich argwöhne, ein heiteres Spinnen von Seemannsgarn ist. A., denn so will ich ihn lieber nennen, ging auf der Insel nach Hereinbruch der Dämmerung spazieren, als er zu einem hell erleuchteten, ziemlich großen Dorf kam, zum Hause des Häuptlings geführt wurde und bat, verweilen und eine Pfeife rauchen zu dürfen. »Du dich setzen, eine Pfeife rauchen und waschen und essen und schlafen,« erwiderte der Häuptling, »und morgen du wieder gehen«. Speisen wurden gebracht, Gebete wurden gesprochen – denn es war in den kurzen Tagen des Christentums –, und der Häuptling selbst betete mit beredten Worten und offenbarem Ernst. Den ganzen Abend saß A. am Feuer und bewunderte den Mann. Er war sechs Fuß hoch, hager, schien sehr alt zu sein und hatte das Aussehen eines Mannes von außergewöhnlicher Rassigkeit und Geisteskraft. »Er sah aus wie ein Mann, der lachend töten könnte«, sagte A. in bemerkenswerter Übereinstimmung mit den Aussagen des Königs. Und weiter: »Ich hatte gerade das Buch von den Drei Musketieren gelesen, und er erinnerte mich an Aramis.« Das ist das Porträt Tembinatakes, wie es ein erfahrener Romancier entwirft.

Wir hatten viele Geschichten gehört von »mein Vata«, niemals ein Wort von »mein Onkel«, bis zwei Tage bevor wir die Insel verließen. Als die Zeit unserer Abreise herankam, änderte sich Tembinok‘ außerordentlich. Ein sanfterer, melancholischerer und besonders ein vertrauensseligerer Mann zeigte sich statt seiner. Meiner Frau versuchte er mit größter Deutlichkeit klarzumachen, daß er zwar gewußt habe, er müsse seinen Vater nach dem natürlichen Lauf der Dinge verlieren, daß er es aber nicht bedacht und wirklich empfunden habe, bevor der Augenblick wirklich gekommen sei, und daß er jetzt diese Erfahrung von neuem mache, da er uns verlieren solle. Eines Abends machten wir Feuerwerk auf der Terrasse. Es war eine traurige Angelegenheit, das Vorgefühl der Trennung lag auf allen Gemütern, das Gespräch stockte. Der König war besonders mitgenommen, er saß trostlos auf seiner Matte und seufzte oft. Plötzlich kam eine seiner Frauen aus dem Dunkel hervor, kam näher und küßte ihn schweigend, um schweigend wieder zurückzugehen. Es war eine Liebkosung, wie man sie etwa einem traurigen Kind zuteil werden läßt, und der König nahm sie entgegen mit kindlicher Einfalt. Bald darauf wünschten wir gute Nacht und zogen uns zurück, aber Tembinok‘ hielt Mr. Osbourne fest, klopfte auf die Matte an seiner Seite und sagte: »Euch setzen, ich schlecht fühlen, ich sprechen wollen.« Osbourne setzte sich zu ihm. »Ihr wollen Bier?« sagte er, und eine der Frauen brachte eine Flasche. Der König trank nicht mit, sondern saß seufzend und eine Meerschaumpfeife rauchend da. »Ich sehr traurig, ihr gehen«, sagte er schließlich. »Miß Stevens er guter Mann, Frau er guter Mann, Diener er guter Mann. Frau er geschickt wie Mann. Meine Frau« – er sah zu seinen Frauen hinüber – »er gute Frau, nicht sehr geschickt. Ich glauben, Miß Stevens er großer Häuptling wie Käpp’n von Kriegsschiff. Ich glauben Miß Stevens er reicher Mann wie ich. Alle gehen Schoner. Ich sehr traurig. Mein Vata, er gehen, mein Onkel, er gehen, meine Vetter er gehen, Miß Stevens er gehen: alle gehen. Ihr nicht sehen vorher König weinen. König doch Mann: schlecht fühlen, er weinen. Ich sehr traurig.«

Am nächsten Morgen lief das Gerücht durch das ganze Dorf, der König habe geweint. Zu mir sagte er: »Gestern abend ich nicht können sprechen: zuviel hier!« und er legte die Hand auf seine Brust. »Nun Ihr gehen weg wie meine Familie. Meine Brüder, mein Onkel gehen weg. Ganz dasselbe.« Er sagte das mit einer leidenschaftlichen Niedergeschlagenheit. Und zum erstenmal hörte ich ihn nun seinen Onkel erwähnen oder überhaupt das Wort gebrauchen. Am selben Tage sandte er mir als Geschenk zwei Brustschilder, nach Inselart hergestellt aus geflochtenen Fasern, schwer und stark. Eins hatte Tenkoriti und das andere Tembaitake getragen, und da die Gabe dankend angenommen wurde, sandte er mir nach Rückkehr seiner Boten ein drittes, das Tembinatakes. Meine Neugier wurde rege, ich bat um Aufklärung über die drei Träger, und der König erzählte wohlgefällig die schon berichteten Einzelheiten. Sonderbar war es, daß er, der soviel von seiner Familie erzählt hatte, bisher niemals den Verwandten erwähnt hatte, auf den er offenbar am stolzesten war. Ja, noch mehr: er hatte sich bisher seines Vaters gerühmt, von nun an hatte er aber wenig über ihn zu sagen, und die Eigenschaften, derentwegen er ihn in der Vergangenheit gepriesen hatte, wurden nun dem zugeschrieben, der sie wirklich besessen hatte – dem Onkel. Unter Insulanern, die alle Söhne ihres Großvaters mit demselben Namen »Vater« bezeichnen, kann natürlich leicht Verwirrung entstehen. Bei Tembinok‘ war das aber nicht der Fall. Das Eis war jetzt gebrochen, das Wort Onkel war ununterbrochen in seinem Munde, er, der die beiden stets absichtlich verwechselt hatte, unterschied jetzt sehr sorgfältig. So wurde aus dem Vater allmählich ein selbstgefälliger, gewöhnlicher Mann, während der Onkel zu seiner wahren Größe heranwuchs als Held und Gründer des Geschlechts.

Je mehr ich hörte, und je eingehender ich nachdachte, desto mehr schien mir das Benehmen Tembinok’s rätselhaft und interessant. Und als die Erklärung kam, war sie so eigenartig, daß sie die Phantasie eines Dramatikers reizen konnte. Tembinok‘ hatte zwei Brüder. Einer wurde bei einem privaten Handelsgeschäft überrascht und verbannt, dann begnadigt und lebt bis heute auf der Insel. Er ist der Vater des Thronfolgers Paul. Der andere machte sich so schuldig, daß er keine Vergebung erlangen konnte. Ich hörte, es sei eine Liebesgeschichte gewesen mit einer der Frauen des Königs, und die Sache ist in diesem romantischen Archipel höchstwahrscheinlich richtig. Man versuchte einen Krieg anzuzetteln, aber Tembinok‘ war zu rasch für die Rebellen, und der schuldige Bruder floh in einem Kanu. Er ging nicht allein. Tembinatake war in die Verschwörung verwickelt, und der Mann, der für einen schwächlichen Bruder ein Königreich errichtet hatte, wurde vom Sohn dieses Bruders verbannt. Die Flüchtlinge landeten an den Küsten anderer Inseln, aber Tembinok‘ weiß bis heute nichts von ihrem Schicksal.

Soweit geht die Geschichte. Und nun wollen wir versuchen, zu kombinieren. Tembinok‘ verwechselte nicht nur regelmäßig die Titel und Verdienste seines Vaters und seines Onkels, sondern auch ihre verschiedene persönliche Erscheinung. Bevor er Tembinatake jemals erwähnt hatte oder daran dachte, ihn zu erwähnen, hatte er mir oft von einem großen, hageren Vater erzählt, der kriegstüchtig und sein eigener Lehrmeister in der Geschlechterkunde und den Inselkünsten war. Sollten vielleicht beide seine Väter gewesen sein, der eine der natürliche und der andere der Adoptivvater? Sollte der Erbe Tembaitakes, genau wie der Erbe von Tembinok‘ selbst, nicht ein Sohn, sondern ein Adoptivneffe sein? Sollte der Gründer der Monarchie, als er für seine Brüder arbeitete, gleichzeitig für das Kind seiner Lenden gewirkt haben? Sollten beim Tode Tembaitakes die zwei stärkeren Naturen, Vater und Sohn, König und Königmacher, zusammengeprallt sein, und sollte Tembinok‘, als er den Onkel vertrieb, den Urheber seines Daseins vertrieben haben? Hier ist vielleicht eine Tragödie von ungeheurer Größe.

Der König fuhr uns in seinem eigenen Boot an Bord, feierlich bekleidet mit der Marineuniform, er hatte wenig zu sagen, wies Erfrischungen zurück, schüttelte uns kurz die Hand und fuhr wieder an Land. In jener Nacht waren die Palmgipfel von Apemama hinter dem Meere untergetaucht, und der Schoner segelte einsam unter den Sternen.

Drittes Kapitel


Der Verbannte

Über die Schönheiten von Anaho könnte man Bände schreiben. Ich entsinne mich, daß ich um drei Uhr erwachte und die Luft warm und voll Wohlgeruch fand. Lange Dünung stand in der Bucht, schien sie ganz zu erfüllen und dann zurückzuweichen. Weich, tief und stumm rollte die »Casco«, nur manchmal kreischte die Kette wie ein Vogel. Seewärts strahlten die Sterne am Himmel und spiegelten sich im Wasser. Wenn ich dorthin blickte, hätte ich mit dem hawaiischen Dichter singen mögen:

Ua maomao ka lani, ua kahaea luna,
Ua pipi ka maka o ka hoku
.

(Die Himmel waren lieblich, sie dehnten sich da oben,
Zahlreich waren die Augen der Sterne.)

Und dann wandte ich mich landwärts, hohe Wolken waren über meinem Haupt, schwarz türmten sich die Berge, und es war mir, als wäre ich tausend Meilen von hier und läge vor Anker in einer Hochlandsbucht; wenn der Tag anbräche, würde ich Pinien, Heidekraut, grüne Farne und Rauchschwaden aus Torfdächern erblicken; die fremde Sprache, die gleich an mein Ohr schlagen würde, müsse gälisch, nicht kanakisch sein.

Und der Tag, als er kam, brachte andere Gesichte und Gedanken. Ich habe den Morgen anbrechen sehen in vielen Teilen der Welt: sicher eine der größten Freuden meines Daseins, und die Morgendämmerung, die ich mit höchster Bewegung betrachtete, leuchtete über der Bucht von Anaho. Die Berge hingen jäh über dem Hafen in allen erdenklichen Formen und Gestalten, grasbedeckt, zerklüftet und bewaldet, aber jeder besaß eine besondere Tönung von Saffran, Schwefel, Nelken oder Rosen. Der Glanz war wie Seide, die helleren Flecke schienen blütenhaft weich zu zerfließen, die dunkleren waren wie feierliches Erblühen. Das Licht selbst war das gewöhnliche Licht des Morgens, farblos und rein, und zeichnete auf diesem Juwelengrund alle Linien klar ab. Inzwischen verrieten rund um das Dorf unter den Palmen, wo blauer Schatten lagerte, rote Kokosfaserglut und leichte Rauchfahnen die erwachende Geschäftigkeit des Tages; am Strande kehrten Männer und Frauen, Knaben und Mädchen vom Bade zurück in strahlenden Gewändern, rot und blau und grün, wie wir sie entzückt schauten in den bunten kleinen Bilderbüchern unserer Kindheit, und bald darauf hatte die Sonne den östlichen Hügel erklommen, und der Glanz des Tages lag über allem.

Das Leuchten wuchs und mehrte sich, alle Tätigkeit hörte fast auf, ehe sie begonnen hatte. Zweimal am Tage bemerkte man eine gewisse Lebhaftigkeit der Hirten auf den Hügeln an der See. Bisweilen zog ein Kanu aus zum Fischfang. Bisweilen füllten eine oder zwei Frauen schläfrig einen Korb in der Baumwollpflanzung. Bisweilen drang Flötenton aus dem Schatten eines Hauses, spielerisch drei Töne wiederholend, in der Wirkung etwa wie » Que le your me dure«, endlos wiederholt. Oder bisweilen verständigten sich zwei Eingeborene über eine Biegung der Bucht hinweg durch das übliche Pfeifen. Sonst alles Schlaf und Schweigen. Der Gischt brandete und erglänzte rundumher am Ufer, eine Art schwarzer Kraniche fischte im seichten Wasser, die schwarzen Schweine galoppierten fortwährend umher aus irgendeinem Grunde, aber die Menschen hätten nie wieder zu erwachen brauchen oder alle tot sein können.

Mein Lieblingsversteck lag gegenüber dem Dorf, wo eine Landungsstelle war unter dem Hang einer lianenbewachsenen Klippe. Die Bucht war umsäumt von Palmen und einem » purao« genannten Baum, in der Größe zwischen Feige und Maulbeerbaum, mit Blüten wie großer gelber Mohn, in der Mitte ein kastanienbraunes Herz. An manchen Stellen schoben sich die Felsen über den Sand vor, der Strand war hier ganz überflutet, der Gischt spritzte lauwarm bis zu meinen Knien empor und spielte mit Kokosnußschalen, wie unser Ozean daheim mit Wrackstücken, Abfall und Flaschen spielt. Flutete das Wasser zurück, so strömten wunderbar farbige Dinge zwischen meinen Füßen. Griff ich nach ihnen, fehlte oder faßte sie, so hielten sie manchmal, was sie versprachen, waren Muscheln, die ein Museum oder in goldner Fassung die Hand einer Dame zieren konnten; manchmal war es nur farbiger Sand, zusammenklebende Nichtigkeiten, die getrocknet ebenso langweilig und alltäglich waren wie Kiesel auf Gartenwegen. Ich habe mich bei diesem kindischen Vergnügen stundenlang abgemüht unter der heißen Sonne, meiner unverbesserlichen Unwissenheit voll bewußt, aber zu herzhaft fröhlich, um mich zu schämen. Inzwischen flötete die Drossel oder ihre tropische Schwester im Dickicht über meinem Kopf.

Etwas weiter, an der Krümmung der Bucht, murmelte ein Bach unten in einer Grotte und fiel dann über eine Felsentreppe ins Meer. Der Luftzug drang unter dem Laubwerk bis tief in die Grotte vor, ein wahres Paradies der Kühle. Vorn öffnete sie sich auf die blaue Bucht, wo die »Casco« unter ihrem Schutze lag mit ihren fröhlichen Farben. Zu Häupten standen Puraobäume, und darüber wirbelten Palmen ihre glänzenden Fächer, wie ein Zauberer sich aus blanken Schwertern einen Heiligenschein wirkt. Denn hier strömt der Passatwind über den flachen Landstrich am Fuße des Gebirges fast immer mächtig und himmlisch kühl in die Bucht von Anaho.

Eines Tages war ich zufällig mit meiner Frau und dem Schiffskoch in dieser Grotte an Land gegangen. Abgesehen von der »Casco«, die vor uns lag, von ein oder zwei Kranichen und der immer bewegten See und dem Wind, war das Antlitz der Welt von vorgeschichtlicher Leere, das Leben schien stockstill zu stehen, und das Gefühl der Abgeschiedenheit war tief und wohltuend. Plötzlich erfaßte der Passatwind, der in einer Böe über die Landzunge strich, die Fächer der Palme oberhalb der Grotte. Und siehe da! In zwei der Kronen saß ein Eingeborener, bewegungslos wie ein Götzenbild, und beobachtete uns, sozusagen ohne mit der Wimper zu zucken. Im nächsten Augenblick schloß sich der Baum, und das Gesicht war verschwunden. Diese Entdeckung von menschlichen Seelen über unserm Kopf, während wir glaubten, allein zu sein, die Regungslosigkeit unserer Baumspione, und der Gedanke, daß wir vielleicht stets in ähnlicher Weise beobachtet wurden, wirkte ernüchternd. Unser Gespräch stockte, der Koch, dessen Gewissen nicht rein war, setzte nie wieder einen Fuß ans Land, und zweimal, als die »Casco« Gefahr lief, auf die Felsen getrieben zu werden, konnte man lachend den Arbeitseifer des Mannes beobachten, denn er glaubte, der Tod warte am Strande auf ihn. Erst auf den Gilbertinseln, über ein Jahr später, dämmerte mir die Erklärung auf: die Leute hatten Palmwein gezapft, was gesetzlich verboten ist, und als der Wind sie plötzlich verriet, waren sie ohne Zweifel stärker beunruhigt als wir.

Oben in der Schlucht lebte ein alter, melancholischer, grauhaariger Mann namens Tari (Charlie) Sarg. Er war in Oahu auf den Sandwichinseln geboren und in seiner Jugend auf amerikanischen Walfischfängern zur See gegangen, ein Umstand, dem er seinen Namen, sein Englisch, seinen östlichen Dialekt und das Unglück seines schuldlosen Lebens verdankte. Denn ein Kapitän, der von Neubedford aus in See ging, verschleppte ihn nach Nuka-hiva und setzte ihn dort unter den Kannibalen aus. Diese Tat war glatter Mord. Taris Leben muß anfangs an einem Haar gehangen haben. In der Aufregung und dem Schrecken jener Zeit ist er wahrscheinlich irrsinnig geworden, eine Krankheit, an der er noch jetzt litt. Vielleicht hat sich ein Kind in ihn verliebt und um Schonung gebeten. Jedenfalls kam er mit dem Leben davon, heiratete auf der Insel und lebte, als ich ihn kennenlernte, als Witwer mit einem verheirateten Sohn und einer Nichte. Aber die Erinnerung an Oahu verfolgte ihn, sein Lob war stets auf seinen Lippen, er sah es vor sich als Ort ewiger Feste, Gesänge und Tänze, und in seinen Träumen mag er es freudestrahlend besucht haben. Ich möchte wissen, was er empfunden hätte, wenn man ihn wirklich dorthin versetzt und ihm das moderne Honolulu mit seinem lärmenden Verkehr gezeigt hätte, den Palast mit der Wache, das große Hotel und Mr. Bergers Kapelle mit ihren Uniformen und ausländischen Instrumenten; wenn er gesehen hätte, daß die braunen Gesichter so selten und die weißen so zahlreich geworden; daß seines Vaters Land an Zuckerplantagen verkauft und sein Haus völlig verschwunden ist, oder daß vielleicht der Letzte seiner Stammesgenossen leprakrank zwischen Brandung und Klippen auf Molokai gefangengehalten wird. So schnell und so traurig ändert sich das Dasein, auch auf den Südseeinseln.

Tari war arm und wohnte elend. Sein Haus war ein Holzgerüst, von Europäern zusammengezimmert; es war tatsächlich eine Amtswohnung, denn Tari war der Schafhirt des Vorgebirges. Ich kann ein vollständiges Inventar der Hütte geben: drei Bottiche, eine Blechdose, eine eiserne Pfanne, mehrere Näpfe aus Kokosschalen, eine Laterne und drei Flaschen, die wahrscheinlich Öl enthielten, während die Kleider der Familie und ein paar Matten über die freistehenden Balken geworfen waren. Gleich beim ersten Zusammentreffen brachte der Verbannte mir Inselfreundschaft entgegen, die ohne ersichtliche Gründe entsteht, gab mir Kokosmilch zu trinken und trug mich die Schlucht hinauf, um sein Haus zu besichtigen: das einzige Gastgeschenk, das er zu bieten hatte. Er liebte den »Amelican« und den »Inglisman«, aber der »Flesman« war ihm ein Abscheu, und er erklärte uns eifrig, daß wir als »Fles«, Franzosen, seine Nüsse nicht erhalten und sein Haus nicht zu Gesicht bekommen hätten. Seinen Haß gegen die Franzosen kann ich einigermaßen verstehen, aber seine Vorliebe für die Angelsachsen keineswegs. Am folgenden Tag brachte er mir ein Schwein, und einige Tage später traf einer von uns ihn auf dem Wege, ein zweites zu bringen. Wir waren noch fremd auf den Inseln und peinlich berührt durch die Freigebigkeit des armen Menschen, die er sich schlecht leisten konnte, und machten den verständlichen, aber unverzeihlichen Fehler, das Schwein zurückzuweisen. Wäre Tari ein Marquesaner gewesen, so hätten wir ihn nie wiedergesehen, da er aber jener höchst sanfte, leidgequälte, melancholische Mann war, nahm er eine viel empfindlichere Rache. Kaum hatte das Kanu mit den neun abschiednehmenden Dorfbewohnern die »Casco« verlassen, als das Schiff von der andern Seite bestiegen wurde. Es war Tari, der so spät kam, weil er kein eigenes Kanu besaß und sich nur unter Schwierigkeiten eins borgen konnte, und allein, wie wir ihn immer sahen – weil er ein Fremdling war im Lande und der langweiligste Gesellschafter. Meine ganze Familie floh vor dem Zusammensein mit ihm, und ich mußte unseren beleidigten Freund allein empfangen. Die Unterhaltung muß beinahe eine Stunde gedauert haben, denn es war ihm unmöglich, sich loszureißen. »Du gehen weg. Ich sehen dich nicht mehr – nein, Herr!« klagte er; und dann rief er, indem er mit schmerzlicher Bewunderung um sich blickte: »Dies guter Schiff – nein Herr! – guter Schiff!« Das »Nein, Herr!« stieß er scharf durch die Nase heraus unter starker Betonung, eine Erinnerung an New Bedford und den verruchten Walfischfänger. Von diesen Bezeugungen der Trauer und des Lobes kam er sofort zurück auf das zurückgewiesene Schwein. »Ich lieben schenken wie du,« beklagte er sich, »ich nur haben Schwein, du ihn nicht nehmen!« Er sei ein armer Mann, er könne die Geschenke nicht auswählen, er habe nur ein Schwein, wiederholte er, und ich habe es zurückgewiesen! Ich bin selten bedrückter gewesen, als da ich ihn so vor mir sitzen sah, alt, grau, hart geprüft, schmerzlich bewegt, und die Beleidigung immer deutlicher begriff, die ich ihm unschuldigerweise zugefügt hatte, aber es war einer jener Fälle, denen gegenüber die Sprache versagt.

Taris Sohn war heiter und lebhaft, seine Schwiegertochter – ein Mädel von sechzehn Jahren, hübsch, höflich und ernst, klüger als die meisten Frauen von Anaho – besaß leidliche französische Sprachkenntnisse, sein Enkelkind war ein winziges Geschöpfchen an ihrer Brust. Ich stieg eines Tages die Schlucht hinauf, als Tari nicht zu Hause war, und fand den Sohn bei der Arbeit, einen Sack aus Baumwolle zu knüpfen; seine Frau nährte das Kindlein. Als ich mit ihnen auf dem Fußboden saß, fragte mich das Mädchen über England aus, das ich zu beschreiben versuchte, indem ich die Pfanne und die Kokosschalen aufeinandertürmte, um Häuser darzustellen. Ich erzählte ihnen, so gut es möglich war, durch Worte und Gesten, von der Übervölkerung, dem Hunger und der ewigen Arbeitshast. » Pas de cocotiers? pas de popoi?« fragte sie. Ich erzählte ihr, es sei dort zu kalt, und suchte es ihr durch allerlei Mimik klarzumachen, indem ich so tat, als ob ich die Zugluft absperrte und mich über ein Phantasiefeuer beugte, damit sie mich verstände. Aber sie begriff mich sofort, sagte, das müsse schlimm sein für die Gesundheit, und saß eine Weile in ernstes Nachsinnen versunken über diese traurigen Zustände. Ich bin sicher, daß ihr Mitleid sich regte, denn ein anderer Gedanke, der stets in jeder marquesanischen Brust herrscht, regte sich in ihr. Mit traurigem Lächeln sah sie mich aus melancholischen Augen an und beklagte den Verfall ihres eigenen Volkes. » Ici pas de Canaques«, sagte sie, und reichte mir das Baby von ihrer Brust mit beiden Händen her. » Tenez – ein winziges Baby wie dies und dann tot. Alle Kanaken sterben. Dann keine mehr.« Das Lächeln und die Art, mit der diese jugendliche Mutter ihr eigenes überzartes Fleisch und Blut als lebenden Beweis darbot, berührte mich sonderbar: beides bewies stille Verzweiflung. Inzwischen arbeitete der Gatte lächelnd an seinem Sack, und das nichtsahnende Kindlein griff kriechend nach einem Topf mit Himbeermarmelade, den ich als Freundschaftsgabe soeben die Schlucht heraufgetragen hatte. Und im Ausblick auf die Jahrhunderte sah ich ihr Schicksal als das unsere, ich sah den Tod wie eine Flutwelle herankommen, den Tag schon bestimmt, da es kein »Beretani« mehr geben würde, überhaupt niemand mehr von irgendeiner Rasse und – was mich besonders anging – keine Literatur mehr und keine Leser.

Viertes Kapitel


Tod

Der Gedanke an den Tod beherrscht, wie gesagt, die Seele der Marquesaner. Es wäre sonderbar, wenn es anders wäre. Die Rasse ist vielleicht die schönste auf Erden. Sechs Fuß ist die mittlere Größe der Männer, sie haben starke Muskeln, kein Fett, sind flink in der Bewegung, graziös in der Ruhe; und die Frauen, obwohl dicker und langweiliger, sind doch edle Tiere. Dem Augenschein nach gibt es keine lebenstüchtigere Rasse, und doch hält der Tod seine Ernte mit beiden Händen. Als Bischof Dordillan zum erstenmal nach Tai-o-hae kam, schätzte er die Eingeborenen auf mehrere Tausend, aber gleich nach seinem Tode zählte Stanislao Moanatini in derselben Bucht acht seßhafte Insulaner. Oder man nehme das Tal von Hapaa, das den Lesern von Herman Melville unter der grotesk falschen Bezeichnung Hapar bekannt ist. Es gibt nur zwei Schriftsteller, die einigermaßen klug über die Südsee geschrieben haben: Melville und Charles Warren Stoddard, und bei der Taufe des ersten und größten müssen einige einflußreiche Feen schlecht behandelt worden sein. »Er soll sehen können, er soll erzählen können, er soll entzücken können,« sagten die freundlichen Patinnen, »aber er soll nicht hören können!« rief die letzte aus. Der Stamm der Hapaa soll vierhundert Seelen gezählt haben, als die Blattern kamen und ihn um ein Viertel verkleinerten. Sechs Monate später wurde eine Frau tuberkulös, und in weniger als einem Jahr flohen die letzten beiden Überlebenden, ein Mann und eine Frau, aus der plötzlich entstandenen Einsamkeit. Ein ähnliches Paar wird vielleicht eines Tages unter neuen Rassen dahinsiechen als tragisches Überbleibsel der Großbritannier. Als ich diese Geschichte zuerst hörte, machten mich die Zeitangaben stutzig, aber ich bin jetzt geneigt, sie für richtig zu halten. Zu Anfang meines Besuches zum Beispiel, oder im Spätjahr vorher, tauchte ein Fall von Phthisis in einer Hausgemeinschaft von siebzehn Personen auf, und im August, als man mir davon berichtete, lebte nur noch ein Knabe, der auf einer auswärtigen Schule gewesen war. Die Entvölkerung hat zwei Ursachen: die Tore des Todes stehen weit offen, und die Tore der Geburten sind fast geschlossen. So verzeichnete man im ersten Halbjahr 1888 zwölf Todesfälle und nur eine Geburt im Distrikt von Hatiheu. Sieben oder acht weitere Todesfälle waren nach menschlichem Ermessen noch zu erwarten, und Mr. Aussel, der diensthabende Gendarm, wußte nur von einer bevorstehenden Geburt. Unter solchen Umständen ist die Abnahme der Bevölkerung von sechshundert auf vierhundert im Laufe von vierzig Jahren nicht verwunderlich, Ziffern, die nach den Angaben von Mr. Aussel richtig geschätzt sind. Und das Tempo des Verfalls muß sich zum Schluß noch vergrößert haben.

Auf dem Landwege von Anaho nach Hatiheu an der nächsten Bucht kann man sich von der Entvölkerung ein richtiges Bild machen. Der Weg ist gut gangbar, aber grausam steil. Wir schienen an dem verlassenen höchsten Haus von Anaho soeben erst vorüber zu sein, als wir auch schon erstaunt auf das Dach blickten; die »Casco«, weit draußen in der Bucht, stark rollend, schrumpfte sichtbar zusammen, und bald sah man Ua-huna durch ein Loch der Landzunge von Tari wie eine Wolke am Horizont schweben. Jenseits des Gipfels, wo der Wind sehr kalt wehte, durch die schilfartigen Gräser pfiff und den Grasbehang des Pandanus zerzauste, gelangten wir plötzlich wie durch ein Tor in das nächste Tal und zur Bucht von Hatiheu. Ein Gebirgsmassiv umschließt das Tal von drei Seiten. Auf der vierten ist dies Bollwerk zersprengt zu Ruinen, stürzt abwärts zur See in steilen und zerklüfteten Felsblöcken und bildet so die einzige wegbare Bresche zu der blauen Bucht. Das Innere dieses Tales ist dicht bewachsen mit lieblichen und wertvollen Bäumen: Orangen, Brotfrucht, Mumienäpfeln, Kokospalmen, der Inselwallnuß und, an Stelle von Unkraut, mit Pinien und Bananen. Vier nie versiegende Flüsse halten es feucht und grün, und an den Ufern des einen und dann des andern führt der Weg ziemlich weit hinab in dies glückliche Tal. Der Sang der Wasser und der vertraute Anblick zerstreuter Felsblöcke erinnerte uns lebhaft an die Heimat, aber der Eindruck wurde, ehe wir ihn recht genossen, wieder zerstört durch das tropische Laubwerk, den sonderbaren Wuchs des Pandanus, die Säulenstämme der Banyan, die im Busch galoppierenden schwarzen Schweine und die Architektur der Eingeborenenhäuser.

Die Häuser auf der Hatiheuseite begannen hoch oben, noch höher aber der traurige Anblick verlassener Plattformen. Wenn ein Eingeborenenhaus leer steht, verrottet der Oberbau – Pandanusstroh, Bast, wenig haltbares tropisches Holz – sehr rasch und wird durch den Wind zerstreut. Nur die Steine der Terrasse bleiben, und keine Ruine, kein Grab, kein ragender Fels und keine zerstörte Festung kann ein traurigeres Bild des Alters darbieten. Wir müssen an sechs bis acht solcher häuserloser Plattformen vorübergekommen sein. An der Hauptstraße der Insel, wo sie das Tal von Taipi durchquert, sollen sie, wie mir Mr. Osbourne erzählt, zu Dutzenden stehen, und da die Straßen lange nach dem Bau der Häuser angelegt wurden, vielleicht sogar nach der Räumung, und einfach als Linien anzusehen sind, die willkürlich durch den Busch laufen, so muß der Wald zu beiden Seiten mit diesen Überbleibseln angefüllt sein: Grabdenkmälern ganzer Familien. Solche Ruinen sind streng tabu, kein Eingeborener darf sich ihnen nähern, sie sind zu Schildwachen des Königreiches der Gräber geworden. Es könnte scheinen, als ob es sich um eine natürliche und fromme Sitte der Hunderte handelte, die von untergegangenen Tausenden übrigblieben, sie wollten den Herd der Vorfahren nicht mit Füßen treten. Ich glaube jedoch, daß die Sitte auf anderen und düstereren Vorstellungen beruht. Haus, Grab und selbst der Körper des Toten wurden von den Marquesanern stets besonders geehrt. Bis vor einiger Zeit wurde ein Leichnam bisweilen von der Familie aufbewahrt und täglich eingeölt und gesonnt, bis er allmählich nach vielen Unannehmlichkeiten zu einer Art Mumie eintrocknete. Opfergaben werden noch heute auf die Gräber gelegt. In der Verräterbucht sah Mr. Osbourne einen Mann einen Spiegel kaufen und auf das Grab seines Sohnes legen. Und der Abscheu gegen die Entweihung der Grabstätten, die bei der Anlage neuer Wege gedankenlos zerstört wurden, ist einer der Hauptgründe für den Haß der Eingeborenen gegen die Franzosen.

Der Marquesaner blickt mit Trauer dem herannahenden Aussterben seines Volkes entgegen. Der Gedanke an den Tod sitzt mit ihm zu Tisch und steht mit ihm auf vom Nachtlager, er lebt und atmet im Schatten der Sterblichkeit, furchtbar zu ertragen, und wird von der Vorstellung so niedergedrückt, daß er das Ende wie eine Erlösung betrachtet. Er versucht nicht einmal, eine Enttäuschung zu überwinden; bei einer Beleidigung, beim Abbruch seiner flüchtigen und freien Liebesbeziehungen sucht er sofort Zuflucht im Grabe. Erhängen ist augenblicklich Sitte. Ich habe von drei Leuten gehört, die sich in der ersten Hälfte des Jahres 1888 an der westlichen Grenze vor Hiva-oa erhängten, aber obwohl das die gebräuchliche Form des Selbstmordes in anderen Teilen der Südsee ist, glaube ich nicht, daß sie sich auf den Marquesas erhält. Marquesanischem Empfinden näher steht die alte Art des Vergiftens mit der Frucht der Ewa, die dem Eingeborenen einen grausamen, aber mit vollem Bewußtsein empfundenen Tod spendet und ihm Zeit gibt für die kleinen Besorgungen der letzten Stunde, denen er so große Bedeutung beimißt. Der Sarg kann bereitgestellt, die Schweine können getötet werden und die Klageschreie bereits das Haus durchtönen; und erst dann, nicht vorher, ist sich der Marquesaner der Vollkommenheit bewußt, sein Leben ist ganz abgeschlossen, sein Gewand wie das Cäsars geordnet zum letzten Gang. Preise niemand vor seinem Tode glücklich, sagten die Alten; beneide niemand, bevor du seine Totenklage hörst, könnte die marquesanische Formel lauten. Der Sarg findet ganz besonderes Interesse, obwohl er erst seit einiger Zeit eingeführt ist. Für den erwachsenen Marquesaner bedeutet er ebensoviel wie eine Taschenuhr für den europäischen Schulknaben. Zehn Jahre lang bestürmte Königin Vaekehu ihren Rat, bis man ihr neulich willfahrte und ihr einen Sarg schenkte. Jetzt hat die liebe Seele Ruhe. Man erzählte mir eine sonderbare Geschichte von dieser Liebhaberei. Die Polynesier leiden mehr unter der Krankheit des Willens als des Körpers. Man sagte mir, die Tahitier hätten ein Wort dafür, erimatua, aber ich finde es nicht in meinem Wörterbuch. Ein Gendarm, M. Nouveau, sah Menschen dieser unheimlichen Krankheit anheimfallen, jagte sie aus ihren Behausungen, zwang sie zum Straßenbau, und in zwei Tagen waren sie geheilt. Aber ein anderes Heilmittel ist origineller: ein Marquesaner, der an Mutlosigkeit hinsiechte, oder besser gesagt an Müdigkeit, lebte beim bloßen Anblick der ersehnten Ruhestätte, seines Sarges, auf, erholte sich, schüttelte die Faust des Todes ab und widmete sich noch jahrelang seiner Beschäftigung, zum Beispiel dem Schnitzen von Tikis (Götzenbildern) oder dem Flechten von Bärten alter Männer. Man mag aus alledem ersehen, wie leichtherzig sie dem natürlichen Tode entgegenblicken. Ich hörte ein Beispiel, furchtbar und erstaunlich. Zur Zeit der Blattern in Hapaa wurde ein alter Mann von der Krankheit ergriffen, er rechnete nicht mit der Genesung, ließ sein Grab graben am Wegrande und lebte beinahe vierzehn Tage darin, aß, trank und rauchte mit den Vorübergehenden und sprach meistens von seinem Ende, unbesorgt um sich und die Freunde, die er ansteckte.

Diese Neigung zum Selbstmord und die lose Verbindung mit dem Leben ist nicht nur dem Marquesaner eigentümlich. Seltsam ist die allgemein verbreitete Entmutigung und der Glaube an das Aussterben des Volkes. Vergnügungen werden vernachlässigt, der Tanz schläft ein, die Lieder werden vergessen. Es ist wahr, daß manche und sogar viele vom Tode gezeichnet sind, aber viele würden überleben, wenn sie Lust hätten, sich zu erhalten und aufzurütteln. Beim letzten Fest des Sturmes auf die Bastille vergoß Stanislao Moanatini Tränen, da er die seelenlosen Vorführungen der Tänzer sah. Als die Leute in Anaho uns Lieder vorsangen, entschuldigten sie sich wegen der geringen Auswahl. Es seien nur junge Leute anwesend, sagten sie, und die Alten allein wüßten die Gesänge. Die ganze marquesanische Poesie und Musik ließ man aussterben, weil es einer einzigen Generation an Lebensmut gebrach. Die volle Bedeutung dieser Zustände wird dem klar, der andere polynesische Stämme kennt und weiß, daß der Samoaner bei jedem Anlaß ein neues Lied erfindet oder gehört hat, wie zum Beispiel auf Penrhyn Scharen kleiner lebhafter Mädchen von acht bis zwölf Jahren ihren Singsang ununterbrochen stundenlang fortsetzen und ein Lied dem andern ohne Pause folgen lassen. Gleichzeitig stellt der Marquesaner, der nie fleißig war, jetzt vollständig die Produktion ein. Der Export der Inselgruppe verringert sich unverhältnismäßig, auch wenn man die Sterbeziffern in Betracht zieht. »Die Koralle vermehrt sich, die Palme wächst, aber der Mensch geht von dannen«, sagt der Marquesaner und legt die Hände in den Schoß. Und das ist ohne Zweifel natürlich. Es mag eitel erscheinen, aber wir arbeiten und darben nicht für den Lohn, den unser Einzeldasein uns bietet, sondern blicken schüchtern voraus auf das Leben und das ehrende Gedenken unserer Nachkommen, und wäre niemand, der aus eigenem Blut oder Stamm uns nachfolgte – ich bezweifle, ob dann die Rothschilds Geld angehäuft hätten und Cato tugendhaft gewesen wäre. Es wäre gut, von Zeit zu Zeit den Marquesanern einen Anreiz zu geben, aus der Lethargie zu erwachen. An der ganzen Küste landeinwärts von Anaho wächst Baumwolle wie Unkraut, Männer und Frauen können, wenn sie sammeln, täglich einen Dollar verdienen, aber als wir ankamen, war das Lager des Händlers vollständig leer, und bevor wir abfuhren, war es nahezu voll. Solange wir als Schaustück da waren und die »Casco« in der Bucht ankerte, wollte jeder uns einen Besuch abstatten, und zu diesem Zweck brauchte jede Frau ein neues Gewand, jeder Mann Hemd und Hosen. Niemals zuvor hatte man nach Mr. Reglers Erfahrungen soviel Arbeitslust gezeigt.

In ihrer Mutlosigkeit steckt ein gut Teil Furcht. Die Angst vor Geistern und Dunkelheit ist tief eingegraben in das Gemüt des Polynesiers und nicht am wenigsten in das der Marquesaner. Der arme Taipi, Häuptling von Anaho, war in einer mondlosen Nacht dazu verurteilt, nach Hatiheu zu reiten. Er borgte sich eine Laterne, saß eine lange Weile still, um sich Mut zu machen für das Abenteuer, und als er schließlich fortging, schüttelte er uns die Hand, als ob wir uns für ewig trennten. Gewisse Wesen, Vehinehae genannt, bevölkern die Wege in der Nacht und machen sie furchtbar. Man erzählte mir, sie seien wie Nebel, und wenn der Wanderer näher käme, verflüchtigten sie sich und verschwänden; ein anderer beschrieb sie als Menschen mit Katzenaugen; von niemand konnte ich Aufklärung darüber bekommen, was sie anrichteten, und warum man sie fürchtete. Man darf aber überzeugt sein, daß sie Tote darstellen, und die Toten können nach der Ansicht der Insulaner alles durchdringen. »Wenn ein Eingeborener sagt, er sei ein Mensch,« schreibt Dr. Codrington, »so meint er, daß er ein Mensch und kein Geist, nicht etwa, daß er ein Mensch und kein Tier sei. Die vernünftigen Wesen in der Welt sind nach seiner Ansicht die lebenden Menschen, während die Geister tote Menschen sind.« Dr. Codrington spricht von Melanesien, aber nach meinen Erfahrungen gelten seine Worte auch von Polynesien. Und noch mehr. Unter Kannibalenvölkern ruht auf den Toten im allgemeinen ein furchtbarer Verdacht, und die Marquesaner, die größten Menschenfresser von allen, sind kaum frei von ähnlichen Vorstellungen. Ich glaube recht zu raten, wenn ich annehme, daß die Vehinehae die hungrigen Seelen der Verstorbenen sind, die das Geschäft ihres Lebens, auf Menschenfleisch zu jagen, fortsetzen und überall unsichtbar lauern, um die Lebendigen zu verschlingen. Von einem andern Aberglauben erfuhr ich durch das zweifelhafte Englisch Tari Sargs. Die Toten, erzählte er mir, kämen und tanzten nachts rund um das Paepae ihrer früheren Familie; die Familie geriete dadurch in eine gewisse Erregung – ob aus frommer Trauer oder aus Furcht, konnte ich nicht feststellen – und müßte ein Festmahl veranstalten, zu dem unbedingt Fisch, Schweinefleisch und Popoi gehören. Soweit ist alles klar. Aber nun führte Tari das neue Haus von Toma als Beispiel an mit dem Herdbrandfestmahl, das gerade damals in Vorbereitung war, und zwar als charakteristisches Beispiel. Dürfen wir diese Dinge tatsächlich miteinander verbinden und uns dabei der verlassenen Ruinen erinnern, um anzunehmen, daß die Toten beständig die Paepaes der Lebenden belagern, nur durch Versöhnungsfeste von der Zeit der Grundsteinlegung an verdrängt werden und sofort wieder Besitz ergreifen von ihrer alten Heimstätte, sobald das Feuer des Lebens auf den Herden erlischt?

Ich kann diesen marquesanischen Aberglauben nur erraten. Auf die menschenfresserischen Geister werde ich an anderer Stelle ausführlicher zurückkommen. Vorläufig genügt es festzustellen, daß die Marquesaner aus irgendwelchen Gründen vor der Gegenwart der Geister Furcht haben. Man begreift, wie sehr das auf die Nerven gehen muß in einem Inselreich, wo die Zahl der Toten die der Lebendigen schon so weit übertrifft, und wo die Toten sich so rasch vermehren, wie die Lebenden abnehmen. Man versteht, wie der Rest sich um die verlöschende Glut des Lebensfeuers schart, gleich alten Rothäuten, die allein in Steppe und Schnee zurückgelassen werden, während die Stammesangehörigen weiterziehen, die letzte Flamme erstirbt und die Nacht ringsum von Wolfen bevölkert ist.

Fünftes Kapitel


Entvölkerung

Überall in der Südsee finden wir Spuren früherer Übervölkerung, so daß selbst die Fruchtbarkeit tropischen Bodens kaum hinreichte und selbst der sorglose Polynesier um die Zukunft bangte. Man kann sich den Vorstellungen Darwins über die Koralleninseln anschließen und sich ausmalen, wie das Steigen des Meeres oder das Versinken eines Festlandes zahlreiche Flüchtlinge in die Gebirge trieb. Oder, nüchterner, daß ein Seeräubervolk aus fremden Landen eine Insel nach der andern eroberte und in Besitz nahm, um sich mit der Zeit in der neuen Heimat ungeheuer zu vermehren. In jedem Falle war der Erfolg derselbe: früher oder später mußte sich herausstellen, daß die Zahl der Menschen zu groß und eine Hungersnot auf dem Wege sei.

Die Polynesier begegneten dieser drohenden Gefahr durch verschiedene Mittel und Vorbeugungsmaßnahmen. Man fand eine Möglichkeit heraus, Brotfrucht zu konservieren, indem man sie in künstlichen Gruben aufbewahrte; Gruben von vierzig Fuß Tiefe und entsprechendem Durchmesser kann man noch heute auf den Marquesas sehen, wie man mir erzählte, aber selbst diese genügten nicht für das anwachsende Volk, so daß die Annalen der Vergangenheit finstere Berichte enthalten über Hungersnöte und Kannibalismus. Unter den Hawaiiern – einem zäheren Volk in gemäßigterem Klima – wurde die Landwirtschaft stark entwickelt, Kanäle durchzogen das Land, und die Fischteiche von Molokai beweisen die Zahl und den Fleiß der ehemaligen Einwohner. Inzwischen waren Abtreibung und Kindesmord an der Tagesordnung auf der ganzen Insel. Auf den Korallenatollen, wo die Gefahr am offensichtlichsten war, wurden sie sogar vom Gesetz befohlen und durch Strafen erzwungen. Auf Vaitupu in der Elliceengruppe waren jedem Ehepaar nur zwei Kinder erlaubt, und es wird berichtet, daß man manchmal eine Geldstrafe bezahlte, um das Kind verschonen zu dürfen.

Das ist charakteristisch. Denn kein Volk der Erde ist Kindern gegenüber so liebevoll und nachsichtig: Kinder sind der Jubel und der Schmuck ihrer Häuser, sie dienen ihnen als Spielzeug und Bildergalerie. »Glücklich der Mensch, der seinen Köcher voll von ihnen hat.« Der heimatlose Bastard wird umworben von vielen Familien, und die natürlichen und adoptierten Kinder spielen und wachsen unterschiedslos miteinander auf. Der Verzug, oder man kann beinahe sagen die Vergötterung des Kindes werden nirgends soweit getrieben wie auf den westlichen Inseln und am weitesten nach meinen Beobachtungsmöglichkeiten auf der Paumotugruppe, dem sogenannten niedrigen oder gefährlichen Archipel. Ich sah dort einen Eingeborenen sich erstaunt und unwillig von mir wenden, weil ich andeutete, daß einem Taugenichts die Rute gut täte. Täglich kann man auf den östlichen Inseln beobachten, wie ein Kind seine Mutter schlägt oder gar steinigt, und die Mutter, weit entfernt, zu strafen, wagt kaum, sich zu wehren. Auf manchen Inseln wurde ein Häuptling bei der Geburt seines Kindes abgesetzt und verzichtete auf seinen Namen, als ob er wie eine Drohne den Zweck seines Daseins erfüllt habe. Und auf anderen hatten nichtssagende Kindesworte das Gewicht von Orakelsprüchen. Vor nicht allzulanger Zeit wurde ein Fremdling, gegen den ein Kind Abneigung verspürte, erschlagen, wie man mir versicherte. Und an anderer Stelle werde ich ein entgegengesetztes Beispiel zu erzählen haben: wie ein Kind in Manihiki mich ins Herz schloß und seine Adoptiveltern sofort diese Tatsache anerkannten, indem sie mich mit Geschenken überhäuften.

Mit diesen Gefühlen mußte natürlich die Notwendigkeit der Kindervernichtung in Widerstreit geraten, und ich glaube, man findet Spuren dieser zwiespältigen Empfindungen in der tahitischen Brüderschaft des Oro. Einst wurde ein neuer Gott dem Olymp der Gesellschaftsinseln zugeführt oder ein früherer ausgegraben und populär gemacht. Oro war sein Name, und man kann ihn mit dem Bacchus der Alten vergleichen. Seine Anhänger segelten von Bucht zu Bucht und von Insel zu Insel, sie wurden überall mit Festgelagen empfangen, trugen feine Kleider, sangen, tanzten und spielten, zeigten ihre Gewandtheit und Kraft und waren die Künstler, Akrobaten, Barden und Dirnen der Gruppe. Ihr Leben war öffentlich und epikureisch, ihr Ursprung ein Geheimnis, und die Angesehensten des Landes bemühten sich um Aufnahme in die Bruderschaft. Wenn ein Ehepaar die nächste Erbberechtigung besaß für die Würde der Oberherrschaft, durfte es aus politischen Gründen ein Kind verschonen; alle anderen Kinder, deren Vater oder Mutter der Gesellschaft des Oro angehörte, waren vom Augenblick der Empfängnis an zum Tode verurteilt. Eine Art Freimaurerloge, eine geheimnisvolle Sekte, eine Gesellschaft von Künstlern, alle Mitglieder eidlich verpflichtet, Unzucht zu verbreiten, und alle unter dem Verbot, Nachkommen zu hinterlassen: ich weiß nicht, welchen Eindruck alles das auf andere macht, aber mir erscheint der Zweck klar. Hungersnot bedrohte die Inseln, das notwendige Gegenmittel war verhaßt, und so wurde es dem Eingeborenengemüt durch den Reiz des Geheimnisvollen, der Lustbarkeiten und der Schaustellung nähergebracht. Das wird noch wahrscheinlicher und der geheime, ernste Zweck der Institution noch deutlicher, wenn es wahr ist, daß nach einer gewissen Lebenszeit die Verpflichtung des Gelübdes geändert wurde: zuerst Ausschweifung, dann Keuschheit.

Hier haben wir also die eine Seite des Problems klar vor uns: Kannibalismus unter liebenswürdigen Menschen, Kindermord unter Kinderliebhabern, Fleiß unter geborenen Faulenzern, Erfindungsgabe unter Menschen, die dem Fortschritt abgeneigt sind, eine Art schrecklicher heidnischer Heilsarmee der Bruderschaft des Oro, die Berichte früherer Reisender, weit verstreute Reste älterer Wohnstätten, zusammen mit der allgemeinen Überlieferung der Insulaner: alles das deutet auf dieselbe Tatsache hin: Übervölkerung und Erregung darüber in früheren Zeiten. Und heute sehen wir das Gegenteil, heute finden wir dasselbe Volk auf den Marquesas, den acht Inseln von Hawaii, in Mangareva und auf der Osterinsel dahinsterben wie die Fliegen. Woher diese Veränderung? Wollte man das Eindringen der Weißen, den Wechsel der Sitten und die Einschleppung neuer Krankheiten und Laster für die Entvölkerung verantwortlich machen: warum ist diese Entvölkerung nicht allgemein? Die Einwohnerzahl von Tahiti ist, nach einer Periode erschreckender Abnahme, wieder stabil geworden. Ich höre von ähnlichen Tatsachen bei einigen Maoristämmen, auf vielen Paumotuinseln kann man eine leichte Zunahme feststellen, und die Samoaner sind heute ebenso gesund und mindestens ebenso fruchtbar wie vor den großen Veränderungen. Zugegeben, daß die Tahitier, Maoris und Paumotuaner sich an die neuen Zustände gewöhnt haben mögen: wie will man dann erklären, daß die Samoaner niemals darunter gelitten haben?

Wer nur eine einzige Inselgruppe kennt, ist geneigt, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. So schrieb man, wie ich höre, die größere Sterblichkeit der Maoris dem Wechsel der Wohnsitze zu, sie zogen von den befestigten Bergspitzen in die niedrig gelegenen marschigen Gegenden ihrer Pflanzungen. Wie einleuchtend! Und doch starben die Marquesaner aus in denselben Häusern, in denen sich ihre Vorfahren vermehrten. Oder man denke an das Opium. Die Marquesaner und Hawaiier sind diesem Laster am meisten verfallen, die Bevölkerung der einen Gruppe ist die zivilisierteste, die der andern die wildeste von Polynesien, und beide siechen am raschesten dahin. Dringende Verdachtsmomente gegen das Opium! Aber nehmen wir die Unzucht: wieder bestätigen die Verhältnisse bei den Marquesanern und auf Hawaii die Vermutung. So sind die Samoaner zum Beispiel die keuschesten Polynesier, und sie sind heute durchaus fruchtbar; die Marquesaner leben am ausschweifendsten, und wir haben gesehen, wie sie zugrunde gehen; die Hawaiier sind bekannt als sittenlos, und ihr Gebiet ist heute so schwach bewohnt wie eine Wüste. Die Beweise für die Theorie von der Unzucht sind also noch stärker, und doch erfahren sie eine Korrektur. Was immer die Tugenden der Tahitier sein mögen, weder Freund noch Feind darf sie keusch nennen, und trotzdem scheinen sie die Zeit der Gefahr überstanden zu haben. Ein letztes Argument: die Syphilis. Aber die Samoaner sind unter allen Umständen so fruchtbar wie zuvor, nach manchen Berichten sogar noch fruchtbarer, obwohl niemand ernsthaft behaupten kann, daß sie von der Syphilis verschont geblieben sind.

Diese Beispiele beweisen, wie gefährlich es ist, irgendeine Tatsache oder auch mehrere, die für eine Gruppe zutreffen, zu verallgemeinern. Ich erinnere mich an eine gut und mit viel Liebe geschriebene Broschüre des hochwürdigen Herrn S. G. Bishop: »Warum sterben die Hawaiier aus?« Jeder, den das Thema interessiert, sollte diese Abhandlung lesen, die viel Tatsachenmaterial enthält; und doch würde Bishop seine Ansichten geändert haben, wenn er andere Inselgruppen nur oberflächlich kennengelernt hätte. Samoa ist augenblicklich die größte und lehrreichste Ausnahme von der Regel. Die Bevölkerung ist durchaus keusch und die enthaltsamste aller Inselbewohner. Eine schwere Seuche hat sie nie heimgesucht und belastet. Ihre Kleidung hat man kaum gewaltsam geändert, über das einfache und zierliche »Tabard« der Mädchen würde Tartuffe auf manchen andern Inseln sich entrüstet haben; an Stelle des kühlen, gesunden und sittsamen Lava-Lava oder Lendenschurzes hat Tartuffe auf mancher andern Insel die Einführung der steifen und unbequemen Hosen erzwungen. Schließlich haben sich, was das wichtigste ist, ihre Vergnügungen nicht verringert, sondern im großen ganzen vermehrt. Der Polynesier verfällt leicht der Mutlosigkeit: Trauerfälle, Enttäuschungen, Furcht vor neuartigen Heimsuchungen, der Verfall oder das Verbot alter Volksbelustigungen machen ihn leicht traurig, und Traurigkeit löst ihn vom Leben. Die Melancholie der Hawaiier und die Leere ihres neuen Daseins sind deutlich sichtbar, und das gilt noch mehr von den Marquesanern. Auf Samoa anderseits machen Gesang und Tanz, ewige Spiele, Reisen und Vergnügungen das Inselleben lebhaft und liebenswürdig, und diese Samoaner sind heute die fröhlichsten und an Unterhaltungen reichsten Bewohner unseres Planeten. Die Wichtigkeit dieser Tatsache kann kaum übertrieben werden. In einem Klima und einem Lande, wo der Lebensunterhalt um nichts zu bekommen ist, ist Unterhaltung ein allererstes Erfordernis. Bei uns, wo das Leben uns täglich neuen Problemen gegenüberstellt, ist es ganz anders, wir haben ernsthaft zu kämpfen und Konflikte zu überwinden, wenn wir überhaupt existieren wollen. So hielt sich auf manchen Atollen, wo keine große Fröhlichkeit herrscht und der Mensch sich mit einer gewissen Kraftanstrengung nur um das tägliche Brot bemühen muß, die öffentliche Gesundheit und die Bevölkerungsziffer gut, aber auf den Lotosinseln schwindet mit den Vergnügungen auch das Leben selbst dahin. Von diesem Gesichtspunkt aus können wir auch den Verfall des Kriegsspieles zu den Ursachen der Entmutigung rechnen. In Europa sind wir so lange an das furchtbare Gewerbe des Krieges, der Seuchen und verpestete Leichen hinter sich läßt, gewöhnt, daß wir seinen Ursprung, den sehr gesunden und, rein menschlichen Freiluftsport: den Guerillakrieg, fast vergessen haben. Er ist den Insulanern wie seine sonstigen Belustigungen und Gewohnheiten neuerdings verboten worden, der Samoaner aber stellt hier wie in vielen andern Dingen noch immer seinen Mann.

Allgemein gesprochen scheint mir das Problem folgendermaßen zu liegen: Wo der geringste Wechsel der Lebensbedingungen eintritt – wichtig oder unwichtig, heilsam oder unheilvoll –, dort geht das Volk zugrunde. Jeder Wechsel, sei er noch so klein, vermehrt die Summe der neuartigen Verhältnisse, an die die Rasse sich gewöhnen muß. Es mag auf den ersten Blick keine Vergleichsmöglichkeit geben zwischen dem Übergang von saurem Bier zu schlechtem Gin in Schottland und dem vom Insulanerschurz zu europäischen Hosen. Aber ich bin nicht überzeugt, daß das eine weniger gefährlich ist als das andere, und eine nicht eingewöhnte Rasse kann manchmal durch Nadelstiche aussterben. Wir stehen hier einer der Hauptschwierigkeiten des Missionars gegenüber. Auf polynesischen Inseln gewinnt er leicht überragende Autorität, der König wird sein Haushofmeister, er kann verdammen und befehlen, und die Versuchung ist groß, zu weit zu gehen. So haben – nach allen Berichten – die Katholiken in Mangareva und – nach meiner Erfahrung – die Protestanten in Hawaii den Neubekehrten das Leben mehr oder weniger unerträglich gemacht. Es ist leicht, den Missionar zu tadeln, aber es ist seine Aufgabe, Veränderungen herbeizuführen. Sicher ist es zum Beispiel seine Pflicht, Kriege zu verhindern, und doch habe ich das Kriegführen als ein Element der Gesundheit bezeichnet. Andererseits wäre es vielleicht möglich für den Missionar, vorsichtiger zu Werke zu gehen und jeden Wechsel als gewichtige Angelegenheit zu betrachten. Ich denke an den Durchschnittsmissionar, und ich glaube, daß ich ihm Gerechtigkeit widerfahren lasse, wenn ich vermute, daß er zögern würde, eine Stadt zu bombardieren, selbst wenn er dadurch einen ganzen Archipel bekehren könnte. Die Erfahrung lehrt uns allmählich, wenigstens auf den polynesischen Inseln, daß Gewohnheitswechsel eine blutigere Angelegenheit ist als ein Bombardement.

Bevor ich dies Kapitel schließe, will ich einen Punkt erwähnen, der mir vielleicht viel Kritik einträgt. Ich habe nichts gesagt über falsche Hygiene, Baden während des Fiebers, falsche Behandlung von Kindern, Kurpfuscherei der Eingeborenen und Abtreibung, alles Ursachen, die man für die Entvölkerung oft anführt. Und ich habe jene Zustände nicht erwähnt, die beiden Epochen gemeinsam sind und in der Vergangenheit sogar verhängnisvoller waren als jetzt. Gehört die Unzucht nicht dazu? könnte man fragen. War der Polynesier nicht immer unkeusch? Zweifellos war er es immer, zweifellos aber ist er es noch mehr seit der Ankunft seiner hervorragend keuschen Besucher aus Europa. Man denke an den Hawaiibericht von Cook – und ich bezweifle nicht, daß er durchaus richtig ist. Man denke an Krusensterns offenherzige, beinahe naive Erzählung vom Besuche eines russischen Kriegsschiffes auf den Marquesas; man erinnere sich der schmachvollen Missionsgeschichte auf Hawaii selbst, wo im Kampf um die Wollust die amerikanischen Missionen einst von einem englischen Abenteurer beschossen und ein andermal von der Mannschaft eines amerikanischen Kriegsschiffes überfallen und mißhandelt wurden; man füge dem die Gewohnheit der Walfischfänger hinzu, die auf den Marquesas zu landen und eine Anzahl Frauen auf die Reise mitzunehmen pflegten; man bedenke auch, daß die Weißen zuerst als Halbgötter angesehen wurden, wie aus dem Bericht über den Empfang Cooks auf Hawaii klar hervorgeht und aus der Geschichte von der Entdeckung Tutuilas, wo die wahrhaft züchtigen Frauen von Samoa sich öffentlich den Franzosen hingaben, und man vergesse nicht, daß es Sitte der Eroberer und, man kann beinahe sagen, Pflicht der Missionare war, die heilsamsten Tabus zu bespötteln und zu vernichten. Wir sehen also alle Zerstörungsmaßnahmen auf einmal gegen eine Tugend gerichtet, die nie und nirgends sehr stark oder volkstümlich war, und der Erfolg war selbst auf den entarteten Inseln weitere Entartung. Mr. Lawes, der Missionar von Savage Island, erzählte mir, daß die weibliche Keuschheit sich dort seit der Ankunft der Weißen verringert habe. In heidnischer Zeit habe der Vater oder Bruder eines Mädchens, das ein uneheliches Kind gebar, den Säugling die Klippen hinuntergeschleudert, heute aber sei der Skandal geringfügig. Oder man denke an die Marquesas. Stanislao Moanatini erzählte mir, daß nach seiner eigenen Erinnerung die jungen Leute früher streng bewacht wurden; man duldete nicht einmal, daß sie sich auf der Straße ansahen, sondern sie gingen, wie mein Berichterstatter sich ausdrückte, gleich Hunden aneinander vorbei – und vor einiger Zeit entwichen sämtliche Schulkinder von Nuka-hiva und Ua-pu in die Wälder und lebten dort vierzehn Tage in freier Vereinigung. Leser von Reiseberichten mögen vielleicht meine Autorität bezweifeln und sich für besser unterrichtet erklären. Ich würde die Aussage eines einzigen intelligenten Eingeborenen wie Stanislao – selbst wenn er allein stünde, was durchaus nicht der Fall ist – den Berichten der ehrenhaftesten Reisenden vorziehen. Ein Kriegsschiff läuft in einen Hafen ein, ankert, schickt einige Leute an Land, empfängt und erwidert Besuche, und der Kapitän schreibt ein Kapitel über die Sitten des Landes. Man überlegt nicht, welche Klasse Menschen man auf diese Weise meistens sieht! Aber wir wären nicht gerade befriedigt, wenn ein indischer Kuli England nach den Damen beurteilte, die sich an den Kais herumtreiben, und nach den Leuten, die sich von seiner Heuer bewirten lassen. Die Ansicht Stanislaos über den Verfall der Sitten selbst auf diesen tugendlosen Inseln wird mir von andern bestätigt; das von ihm angeführte Beispiel, die zunehmende Entsittlichung der Jugend, wird von Mr. Bishop auf Hawaii ebenfalls herangezogen. Und soweit die Marquesaner in Betracht kommen, so hätten wir einen gewissen Sittenverfall fast erraten können: ich glaube nicht, daß irgendein Volk bei den dort herrschenden Gewohnheiten blühen und sich vermehren könnte, und ich bin sicher, daß man sich nie die Mühe machte, nach der Vaterschaft zu forschen. Einzelheiten anzuführen, ist unmöglich, es mag genügen zu sagen, daß ihre Sitten den Träumen unwissender und lasterhafter Kinder entlehnt zu sein scheinen, und daß sie ihre Ausschweifungen so weit treiben, bis Energie, Vernunft und fast das Leben selbst zugrunde gehen.

Sechstes Kapitel


Häuptlinge und Tabus

Wir pflegten das feine und galante Benehmen des Häuptlings Taipi-Kikino außerordentlich zu bewundern. Ein eleganter Tafelgast, geübt im Gebrauch von Messer und Gabel, ein tapferer Held, wenn er, das Gewehr über der Schulter, auszog auf Hühnerjagd in den Wäldern, immer dienstbereit, immer liebenswürdig und heiter: ich wunderte mich manchmal, woher er seinen Frohsinn nahm. Er hatte sich bei seinem geringen amtlichen Gehalt genug abzuplagen, wie mir schien. Seine Ausgaben – er trug immer blendend weiße Gewänder – mußten sein Einkommen von sechs Dollars jährlich oder ungefähr zwei Schilling monatlich weit übersteigen. Er hatte kein Vermögen, sein Haus war das ärmlichste im Dorf. Man vermutete allgemein, daß sein älterer Bruder Kauanui ihm aushalf, aber wie kam es, daß sein älterer Bruder das Familiengut erbte und nun ein reicher Bürger war, während er, der jüngere, ein armer Mann, als Häuptling über Anaho herrschte? Daß der eine reich und der andere fast mittellos war, erklärt sich wahrscheinlich aus irgendeiner Adoption, denn verhältnismäßig wenig Kinder wachsen im Elternhause auf oder erben den Besitz ihrer Erzeuger. Daß der eine an Stelle des andern Häuptling war, erklärt sich aus der Tatsache, daß überhaupt keiner wirklich das Oberhaupt ist, ähnlich wie in Irland.

Seit der Rückkehr und den Kriegen der Franzosen wurden viele wirkliche Häuptlinge abgesetzt und viele scheinbare Häuptlinge neu ernannt. Wir sahen in einem Hause einen solchen Emporkömmling mit zwei abgesetzten Inselbourbonen beim Trinkgelage, Männern, deren Wort wenige Jahre zuvor Leben und Tod bedeutete, die jetzt aber zu Bauern herabgesunken waren, gleich ihren Nachbarn. Wenn also die Franzosen das Erbtyrannentum zerstörten, die gemeinen Leute auf den Marquesas zu freigeborenen Bürgern der Republik erklärten und ihnen das Stimmrecht verliehen für den Generalrat auf Tahiti, so glaubten sie sich wahrscheinlich auf dem Wege zur Popularität, in Wirklichkeit aber brachten sie das Volksempfinden in Aufruhr. Die Absetzung der Häuptlinge war vielleicht manchmal notwendig, ebenso wie die Ernennung neuer, aber die Angelegenheit war jedenfalls sehr delikat. Die Regierung Georgs II. verbannte viele schottische Hochlandsmagnaten, aber sie dachte nie daran, Ersatz zu schaffen, und wenn die Franzosen kühner waren, so müssen wir den Erfolg erst abwarten.

Unser Häuptling von Anaho wurde stets Taipi-Kikino genannt und nannte sich auch selbst so, aber das war nicht sein Name, sondern nur eine Kennzeichnung seiner falschen Stellung. Sobald er zum Häuptling ernannt worden war, geriet sein Name – der, wenn ich mich recht erinnere, »Prinz unter Blumen geboren« bedeutete – in Vergessenheit, und er wurde mit dem bezeichnenden Titel Taipi-Kikino belegt: »Hochwasser = Mann ohne Bedeutung« oder etwa »Bettler hoch zu Roß«, ein witziger und boshafter Hieb. Ein Spitzname zerstört in Polynesien fast ganz die Erinnerung an den ursprünglichen Namen. Wenn wir Polynesier wären, würde man von Gladstone heute nichts mehr wissen, man würde unseren Nestor nur noch als » Grand Old Man« bezeichnen und anreden, und er selbst hätte seine Briefe so unterschrieben. Hier muß man also nicht den üblichen Gebrauch, sondern die Bedeutung des Spitznamens beachten. Die neue Autorität genoß von Anfang an wenig Achtung. Taipi ist bereits eine Zeitlang im Amt und scheint sich durchaus zu bewähren. Er ist durchaus nicht unpopulär, und doch ist seine Macht gleich Null. Er ist Häuptling für die Franzosen und frühstückt mit dem Residenten, aber in der Praxis würde eine Puppe dieselben Dienste leisten.

Als wir drei Tage in Anaho waren, erhielten wir den Besuch des Häuptlings von Hatiheu, eines Mannes von Ansehen und Ruhm, früher Anführer in einem Krieg gegen die Franzosen, Gefangener in Tahiti und der letzte Menschenfresser von Nuka-hiva. Vor nicht allzu vielen Jahren sah man ihn einherstolzieren am Strand der Bucht von Anaho, den Arm eines Getöteten auf der Schulter. »So ergeht es den Feinden Kooamuas!« brüllte er den Vorübergehenden zu und biß in das rohe Fleisch. Und nun stelle man sich diesen Edelmann vor, der von den Franzosen klugerweise wieder in sein Amt eingesetzt wurde, wie er uns in europäischen Kleidern einen Morgenbesuch machte. Er war der Mann mit dem ausgeprägtesten Charakter, den wir bisher kennenlernten: sein Benehmen klug und sicher, seine Figur groß, sein Gesicht verwittert, schlau und furchtbar, aber er besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit Gladstone, abgesehen von der braunen Haut und der Tätowierung eines Oberhäuptlings, die eine Seite ganz und die andere zur Hälfte gleichmäßig blau bemalt. Die nähere Bekanntschaft verstärkte unsere hohe Meinung von seinem Verstande. Er betrachtete die »Casco« in einer damals noch ganz neuen Weise, prüfte ihre Linienführung und das Arbeiten des Steuerruders, verbrachte wohl zehn Minuten mit der geduldigen Beobachtung einer Strickarbeit, ließ nicht ab, bevor er die Grundregeln erforscht hatte, und war bis zur Erregung interessiert für eine Schreibmaschine, die er zu handhaben lernte. Als er fortging, nahm er eine Liste seiner Familie mit, seinen eigenen Namen hatte er selbst zum Schluß geschrieben. Ich muß hinzufügen, daß er sicher viel Humor besaß und kein geringer Heuchler war. So erzählte er uns, er sei von einer peinlichen Nüchternheit, wie er es seiner hohen Würde schuldig sei; die gemeinen Leute mochten immerhin Säufer sein, der Häuptling aber dürfe sich nicht so tief erniedrigen. Und wenige Tage später sahen wir ihn grinsend einhertorkeln, den Wimpel der »Casco« am beschmutzten entweihten Hut.

Aber uns geht hier der Zweck seines Besuches in Anaho an jenem Morgen an. Der Teufelsfisch, so schien es, vermehrte sich nur langsam auf dem Riff; man war also der Ansicht, daß man eine Schonzeit verhängen müsse, wie wir es nennen würden. In Polynesien muß zu diesem Zwecke ein »Tabu« erklärt werden, aber wer sollte das tun? Taipi? Er hätte es tun müssen, es gehörte zu seinen Pflichten, aber würde irgendjemand das Verbot eines »Bettlers hoch zu Roß« anerkennen? Er mochte Palmzweige einpflanzen: daraus folgte durchaus nicht, daß der Ort heilig war; er mochte den Zauberspruch aufsagen: man nahm pfiffig an, die Geister würden nicht lauschen. Und so mußte der alte legitime Kannibale über die Berge reiten, um es statt seiner zu tun, und der ehrenwerte Beamte im weißen Kleid durfte nur neidisch zuschauen. Ungefähr zu derselben Zeit, wenn auch auf andere Art, erließ Kooamua ein Waldschutzgesetz. Man beobachtete, daß die Kokospalmen litten, denn das Abpflücken von grünen Nüssen schwächt die Bäume und bringt sie schließlich in Gefahr. Nun konnte Kooamua zwar das Riff mit Tabu belegen, denn es war Staatseigentum, aber nicht anderer Leute Bäume, und der Ausweg, den er fand, war interessant; er belegte seine eigenen Bäume mit dem Bann, und sein Beispiel wurde in ganz Hatiheu und Anaho nachgeahmt. Ich fürchte, Taipi hätte alles für tabu erklären können, was er besaß, und niemand wäre ihm gefolgt. Das beweist die Mißachtung, die man der Würde eines aufgezwungenen Häuptlings entgegenbringt, und ein einziger Umstand zeigt, was diese Leute selbst von sich halten. Ich habe nie einen getroffen, der nicht bei der ersten Gelegenheit seine besondere Lage erklärt hätte: ja, es sei wahr, er sei nur ein ernannter Häuptling, wie er hier vor mir stehe, aber irgendwo sonst, etwa auf einer andern Insel, sei er Häuptling von Geblüt, er bat mich also gewissermaßen, ich möge sein zweifelhaftes Ehrenamt entschuldigen.

Staunend wird man feststellen, daß beide Tabus ihren durchaus vernünftigen Zweck hatten. Staunend, sage ich, weil die Natur dieser Maßnahmen in Europa vielfach mißverstanden wird. Man glaubt meistens, es handle sich um bedeutungslose, willkürliche Verbote, wie man heute noch in manchen Ländern Frauen das Rauchen untersagt oder früher in Schottland den Sonntagsspaziergang verbot. Der Irrtum ist ebenso natürlich wie ungerecht. Die Polynesier sind im scharfen und praktischen Denken des alten Rom nicht geübt, der Begriff Gesetz deckt sich bei ihnen mit dem Begriff von Schicklichkeit und Sitte, so daß das Tabu alles beherrscht und stets eine Handlung als verbrecherisch, unsittlich, gegen das allgemeine Wohl gerichtet, unziemlich und, wie wir sagen würden, gegen die gute Form verstoßend kennzeichnet. Manche Tabus waren infolgedessen lächerlich genug, wenn zum Beispiel Wörter aus der Sprache ausgemerzt wurden, besonders solche, die sich auf die Frauen bezogen. Vieles war den Männern verboten. Frauen war, wie man behaupten kann, wenig erlaubt. Sie durften nicht auf dem Paepae sitzen, nicht die Treppe hinaufgehen, kein Schweinefleisch essen, sich keinem Boot nähern, auf keinem Feuer kochen, das ein Mann angelegt hatte. Vor einiger Zeit, als die Wege gebaut wurden, sah man die Frauen an den Rändern durch das Strauchwerk schlüpfen und bei den Brücken durch das Wasser waten: Straßen und Brücken waren das Werk von Männern und tabu für den Fuß der Frau. Selbst den Sattel eines Mannes, der ein Eingeborener ist, wagt keine Dame von Selbstachtung zu benutzen. So besitzen auf der Anahoseite der Insel nur zwei Weiße, Mr. Regler und der Gendarm M. Aussel, Sättel, und wenn eine Frau eine Reise anzutreten hat, muß sie ihn von dem einen oder anderen borgen. Man beachte, daß diese Verbote zumeist auf eine verschärfte Trennung zwischen den Geschlechtern hinauslaufen. Die Achtung vor der weiblichen Züchtigkeit ist die gewöhnliche Entschuldigung für jene Entbehrungen, die die Männer mit Vorliebe ihren Frauen und Müttern auferlegen. Hier aber fehlt diese Achtung, und trotzdem sind die Frauen an Händen und Füßen gebunden durch bedeutungslose Formalitäten! Frauen, die noch in den alten Zuständen lebten, geben zu, daß das Leben nicht wert war, gelebt zu werden. Aber selbst damals gab es Ausnahmen. Es gab weibliche Häuptlinge und außerdem, wie man mir versichert, Priesterinnen; galante Sitten schmeichelten großen Damen; im heiligsten Innenraum eines Tempels zeigte man Pater Simeon Delmar einen Stein und erzählte ihm, es sei der Thron einer hochwohlgeborenen Dame. Wie genau entspricht das europäischem Brauch, wenn man Prinzessinnen gestattet, die strengste Klausur zu verletzen, und Frauen über ein Land herrschen dürfen, in dem man ihnen gleichzeitig das Recht verweigert, ihre eigenen Kinder selbst zu erziehen.

Aber häufiger sind Tabus Mittel zu weiser und notwendiger Beschränkung. Wir haben gesehen, wie sie väterlichem Regiment dienstbar gemacht werden. Sie dienen außerdem dazu, die Rechte des Privateigentums zu schützen, in dem seltenen Fall, da jemand sie schützen will. So erklärt ein Mann, der des ewigen Kommens und Gehens von marquesanischen Besuchern überdrüssig ist, seine Tür für Tabu, und bis auf den heutigen Tag kann man das Zeichen des Palmzweiges sehen. Oder ein anderer Fall. Anaho ist bekannt als »das Land ohne Popoi«. Das Wort »Popoi« dient auf den verschiedenen Inseln als Benennung der Hauptnahrung; so bezeichnet es auf Hawaii ein Gericht aus Taro, auf den Marquesas die Brotfrucht. Und ein Marquesaner hält das Leben nicht leicht für erträglich ohne seine Lieblingsspeise. Vor einigen Jahren richtete eine Dürre die Brotfruchtbäume und Bananen im Distrikt von Anaho zugrunde, und aus diesem Unglück und der Freigebigkeit, die auf der Insel herrscht, entstanden merkwürdige Verhältnisse. Das gut bewässerte Hatiheu hatte unter der Trockenheit nicht gelitten; jeder Familienvater in Anaho überquerte also den Paß, wählte irgend jemand in Hatiheu aus, »gab ihm seinen Namen« – ein lästiges Geschenk, das man aber nicht zurückweisen darf – und begann von diesem neuernannten Verwandten seine Nahrungsmittel zu beziehen, als ob er regelrecht dafür bezahlt hätte. Daher der ständige Verkehr auf der Straße; zu jeder Tageszeit kann man irgendeinen kräftigen Burschen, im Lendentuch, schweißbedeckt, einen Stock auf den nackten Schultern, unter einer Doppellast von grünen Früchten hastig dahertraben sehen. Und auf der andern Seite der Schlucht bezeichnen ein Dutzend Feldsteine am Wege im Schatten eines Hauses die Ruheplätze der Popoiträger. Etwas abseits vom Strande und keine halbe Meile von Anaho fand ich zu meinem großen Erstaunen eine gut entwickelte Gruppe von Brotfruchtbäumen, vollreif zur Ernte. »Warum nehmt ihr diese nicht?« fragte ich. »Tabu!« sagte Hoka, und ich dachte nach der Art stumpfsinniger Reisender bei mir selbst, wie kindisch und töricht diese Leute seien, Lasten über das Gebirge zu schleppen und die Nachbarn zu schädigen, da die Lebensmittel so dicht vor den Toren wüchsen. Um so mehr täuschte ich mich. Bei der allgemeinen Zerstörung reichten diese Bäume nur aus für die Familie des Eigentümers, und durch das einfache Mittel des Tabu erzwang er sein Recht.

Die Heilighaltung des Tabu ist ein Aberglaube, die Strafe entweder Siechtum oder Tod. Eine schleichende Krankheit folgt dem Genuß von Tabufisch und kann nur geheilt werden durch die Gräten desselben Fisches, die unter allerlei Mysterien verbrannt werden müssen. Das Kokosnuß- und Brotfruchttabu wirkt schneller. Hat man beispielsweise Tabufrucht gegessen am Abend, so ist der Schlaf unruhig; morgens ist der Hals geschwollen und schwarz, und die Färbung dehnt sich nach oben zu bis auf das Gesicht aus. In zwei Tagen muß man sterben, wenn man sich nicht der Kur unterzieht. Das Heilmittel wird aus zerriebenen Blättern des Baumes bereitet, von dem der Kranke Früchte gestohlen hat, so daß er nicht gerettet werden kann, ohne dem Tahuku die Person zu nennen, die er schädigte. Mein Gewährsmann hatte fast nie Tabus in Kraft treten sehen, außer den beiden beschriebenen, er hatte also keine Gelegenheit, Natur und Wirkung der andern kennenzulernen, und da die Kunst der Anwendung von den alten Leuten eifersüchtig gehütet wurde, wird nach seiner Ansicht das Geheimnis bald aussterben. Ich muß hinzufügen, daß es kein Marquesaner, sondern ein Chinese war, der seit seiner Kindheit auf der Insel wohnte und ehrfürchtig an die Zauberei glaubte, die er beschrieb. Die Weißen, zu denen Ah Fu sich rechnete, waren unantastbar, aber er erzählte von einer Tahitierin, die zu den Marquesanern gekommen war, Tabufisch gegessen hatte und, obwohl über Schuld und Gefahr nicht unterrichtet, erkrankte und genau wie ein Eingeborener geheilt wurde.

Zweifellos ist der Glaube stark; zweifellos ist er bei dieser weichen und phantasiebegabten Rasse in vielen Fällen stark genug, um zu töten; besonders stark aber bei denen, die ihre Bäume heimlich unter Tabu stellen, um einen Übeltäter an seiner Krankheit zu erkennen. Oder man muß vielleicht den Gedanken des versteckten Tabu anders auffassen, nämlich als schlaues Hilfsmittel, Angst zu erwecken und so Schuldbekenntnisse hervorzulocken. Wenn jemand krank wird, soll er sich den Kopf zerbrechen über die Möglichkeit eines Vergehens und sofort zu jedem Besitzer schicken, dessen Rechte er verletzt haben könnte. »Hattest du ein Tabu versteckt?« hören sie ihn gewissermaßen fragen, und ich kann mir nicht vorstellen, daß der Eigentümer es bestreitet. Und das ist vielleicht das sonderbarste an diesem System, daß es äußerlich mit soviel naiver geistiger Ehrfurcht betrachtet wird und, wenn man es von innen her scharf prüft, so viele offenbare Anzeichen der Absichtlichkeit trägt.

Wir lesen in Dr. Campbells Poenamo von einer jungen Neuseeländerin, der man törichterweise erzählte, sie habe Tabuyam gegessen, und die sofort erkrankte und innerhalb zweier Tage aus bloßer Furcht starb. Der Zeitraum ist derselbe wie bei den Marquesanern, die Symptome waren ohne Zweifel auch die gleichen. Wie sonderbar die Vorstellung, daß ein Aberglaube von solcher Gewalt möglicherweise wohlüberlegt eingeimpft wurde und daß, falls er ursprünglich auch nicht erfunden wurde, alle Einzelheiten offenbar von einer Art polynesischem Polizeipräsidium arrangiert worden sind. Erklärlicherweise ist der Glaube heute – und war es wahrscheinlich immer – durchaus nicht allgemein. Die Hölle ist bei uns daheim für manche ein starkes Abschreckungsmittel, für andere ein gleichgültiger Gedanke; wieder andere machen sich öffentlich darüber lustig, wenn sie auch ihrer Sache nicht ganz sicher sind, und so geht es auf den Marquesas mit dem Tabu. Mr. Regler hat beide Extreme des Skeptizismus und der naiven Furcht beobachtet. In dem Hain der Tabubäume entdeckte er einen jungen Burschen, der lachend und ohne Scheu wie ein Straßenjunge Brotfrucht stahl, und nur durch Androhung einer Anzeige ließ er sich etwas aus der Fassung bringen. Der andere Fall war in jeder Beziehung das genaue Gegenteil. Mr. Regler bat einen Eingeborenen, ihn auf einer Reise zu begleiten. Der Mann folgte frohgemut, aber plötzlich entdeckte er einen toten Tabufisch auf dem Boden des Bootes, sprang mit einem Schrei zurück und konnte selbst durch das Versprechen eines Dollars nicht veranlaßt werden zurückzukommen.

Die Marquesaner leben also, wie man sieht, in der alten Vorstellung, daß Glaube und Pflicht örtlich verschieden sind. Die Weißen sind nicht nur von den üblen Folgen ausgenommen, sondern ihre Übertretungen scheinen auch keinen Abscheu zu erregen. Mr. Regler hatte den Fisch getötet, aber der gläubige Eingeborene war nicht etwa aufgebracht gegen ihn, sondern weigerte sich nur, sein Boot zu betreten. Ein Weißer ist ein Weißer: der Diener anderer und liberalerer Götter sozusagen, und man darf ihn nicht tadeln, wenn er von seiner Freiheit Gebrauch macht. Die Juden brachen vielleicht zum ersten Male diesen alten Frieden zwischen den verschiedenen Religionen, und der jüdische Geist lebt noch immer im Christentum. Alle Welt muß unsere Tabus beachten, sonst knirschen wir mit den Zähnen.

Siebentes Kapitel


Hatiheu

Die Buchten von Anaho und Hatiheu sind an ihrer Basis getrennt durch den messerscharfen Grat eines einzigen Hügels – den Paß, den wir sooft erwähnten; aber diese Landzunge erweitert sich seewärts zu einer beträchtlichen Halbinsel, sehr kahl und grasbedeckt, von Schafen bevölkert; abends und morgens hört man die gellenden Rufe der Hirten, ein paar wilde Ziegen wandern über das Land hin; die Seeseite ist zerklüftet zu langen, dröhnenden Höhlen; davor liegen Klippen von der Farbe und der zertrümmerten Gestalt alter Torfhaufen. In einer dieser lärmvollen und sonnenlosen Schluchten sahen wir eine Gruppe fischender Frauen, wie Meeresvögel zusammengedrängt auf schaumbedecktem Felsvorsprung, wie Meeresvögel schrille Grüße dem vorbeigleitenden Boot nachsendend, nackt bis auf ihre bunten Unterkleider. (Das Brausen der Brandung und die dünnen Frauenstimmen hallen wider in meiner Erinnerung.) Wir hatten an diesem Tage eine Eingeborenenmannschaft, der Steuermann hieß Kauanui; es war unsere erste Erfahrung mit polynesischer Seefahrtkunst, die darin besieht, jeden Fleck Land gleichsam zu umarmen. Dabei denken die Leute nicht an Zeitersparnis, denn sie rudern lange Strecken, um ihr Boot an Stellen zu bringen, die von Land eingeschlossen sind. Es scheint, als ob sie ihre Häuser auf der einen Seite und ihre Boote auf der andern nie nahe genug an die Brandung herandrängen können. Im offenen Wasser ist das nicht so gefährlich, wie es aussieht, denn das von den Felsen abprallende Wasser schleudert das Boot zurück. Nahe dem Strand jedoch bei heftigem Seegang halte ich es auch heute noch für sehr wagehalsig, und die Ruhe der Eingeborenen ist ein ärgerlicher Anblick. Wir empfanden einen ungetrübten Genuß, als wir auf der Ausfahrt den Strand und die wundervollen Farben der Brandung so nahe vor uns hatten. Auf der Rückfahrt kam uns der Flutstrom heftig entgegen, und die Gleichgültigkeit des Steuermanns wurde immer beunruhigender. Als wir uns der äußersten Landspitze näherten, wo die Brandung sich am höchsten türmte, nahm Kauanui die Gelegenheit wahr, seine Pfeife anzuzünden, das Boot drehte sich um sich selbst, jeder nahm ein oder zwei Züge und füllte, ehe er sie weiterreichte, Lungen und Backen mit Rauch. Ihre Gesichter waren alle aufgeblasen wie Äpfel, als wir quer vor den Klippenausläufern lagen, und die berstende Brandung stürzte in Schauern über das Boot. An der nächsten Ecke war » cocanetti« das Stichwort, die Mannschaft borgte sich mein Messer und stellte die Arbeit ein, um Nüsse zu öffnen. Diese unzeitgemäßen Genüsse kann man mit dem Grogkessel vergleichen, der vor einer Seeschlacht die Runde macht.

Das erste Ziel bei unserm Besuch war die Knabenschule, denn Hatiheu ist die Universität der nördlichen Inseln. Das Gemurmel des Unterrichts drang uns entgegen. Dicht bei der Tür, wo die Luft am kühlsten weht, saß der Laienbruder, um ihn herum in engem Halbkreis ungefähr sechzig dunkelfarbige Gesichter mit starren Augen. Im Hintergrund des hüttenartigen Raumes sahen wir Bänke und Wandtafeln mit Zahlen in Kreideschrift. Der Bruder erhob sich, um uns in aufrichtiger Demut zu begrüßen. Dreißig Jahre war er bereits hier, erzählte er und fuhr durch seine weißen Locken, wie ein schüchternes Kind an seiner Schürze zupft. »Und keine Erfolge, mein Herr, fast keine Erfolge.« Er wies auf die Schüler: »Sie sehen hier die gesamte Jugend von Nuka-hiva und Ua-pu, der ganze Rest der Jugend zwischen sechs und fünfzehn, vor wenigen Jahren hatten wird hundertundzwanzig Zöglinge von Nuka-hiva allein. Ja, mein Herr, es geht rückwärts!« Beten, lesen, schreiben, wieder beten und rechnen, nochmals Gebet am Schluß: das schien der langweilige Verlauf des Unterrichts zu sein. Für das Rechnen haben alle Insulaner eine natürliche Begabung. Auf Hawaii machen sie gute Fortschritte in der Mathematik. In einem Dorf auf Majuro und allgemein auf den Marschallinseln sitzt die ganze Bevölkerung rund um den Händler, wenn er die Kopra auswiegt, und jeder schreibt die Zahlen auf seine eigene Schiefertafel und zieht die Summe. Der Händler fand sie sehr geschickt und ging zu Brüchen über, für die sie keine Regeln gelernt hatten. Zuerst waren sie ganz stutzig, aber schließlich fanden sie durch zähes Nachdenken das Resultat, und einer nach dem andern bestätigte dem Händler, daß er recht habe. Nicht viele Europäer hätten eine ähnliche Leistung vollbracht. Der Unterricht in Hatiheu ist also nicht so geisttötend für Polynesier, wie ein Fremder vermuten könnte, und doch, wie dürftig ist er im besten Falle! Ich fragte den Bruder, ob er ihnen keine Anekdoten erzähle, und er starrte mich an; ob er sie nicht Geschichte lehre, und er sagte: »Ach ja, ein bißchen Biblische Geschichte aus dem Neuen Testament«, und wiederholte seine Klagen über den Mangel an Erfolgen. Ich hatte nicht den Mut, weitere Fragen zu stellen, ich konnte nur antworten, es müsse sehr entmutigend sein, und widerstand der Versuchung, hinzuzufügen, das sei allzu natürlich. Er blickte auf: »Meine Tage sind gezählt,« sagte er, »der Himmel erwartet mich.« Möge dieser Himmel uns verzeihen, aber ich war ärgerlich auf den alten Mann und seinen bequemen Trost. Man denke die Möglichkeiten aus! Die Jugend von sechs bis fünfzehn Jahren wird von der Regierung aus den Elternhäusern genommen, in Hatiheu versammelt, wo man sie durch eine wöchentliche Nahrungsmittelsteuer unterhält und, mit Ausnahme eines einzigen Monats jährlich, völlig der priesterlichen Leitung übergibt. Seit der Ausreißerei, die wir schon erwähnten, sind die Ferien für Mädchen und Knaben getrennt gelegt, so daß Bruder und Schwester von den Marquesas sich nach Abschluß der Erziehung als völlig Fremde wiedersehen. Ein hartes und höchst unpopuläres Gesetz, aber welche Macht legt es in die Hände der Erzieher, und wie gleichgültig und langweilig wird diese Macht von den Missionen ausgenutzt! Die übermäßige Sorge, die Eingeborenen fromm zu machen, eine Absicht, die zugestandenermaßen verfehlt ist, gibt, wie ich vermute, die Erklärung für dies jammervolle System. Und doch könnten sie in der Mädchenschule zu Tai-o-hae bei den eifrigen, hausfraulichen Schwestern ein Bild wirklicher Tüchtigkeit sehen, voll Sauberkeit, Frische und begeisterten, sinnvollen Schaffens, das sie zu lebendigeren Unterrichtsmethoden anreizen sollte. Die Schwestern selbst beklagen sich über Mißerfolge. Sie behaupten, daß die jährlichen Ferien alle Arbeit zunichte machen, und daß die Mädchen von herzloser Gleichgültigkeit sind. Von den vielen hübschen und scheinbar liebevollen Zöglingen, die sie gelehrt und aufgezogen haben, kehrten nur zwei zurück, um einen Erinnerungsbesuch bei ihren Lehrerinnen zu machen. Sie kamen fast regelmäßig, aber die andern verschwinden nach ihrer Schulzeit in die Wälder wie gefangene Insekten. Man kann sich schwerlich etwas Entmutigenderes vorstellen, und doch glaube ich, die Damen sollten nicht verzweifeln. Eine Zeitlang halten sie die Mädchen lebendig und in unschuldiger Beschäftigung, und wenn es überhaupt eine Möglichkeit gäbe, das Volk zu retten, so wäre dies der Weg. Der Knabenschule zu Hatiheu kann man dies Lob nicht spenden. Die Tage für sie alle sind gezählt, auf Lehrer und Schüler wartet der Tod, er ist schon auf dem Marsche, und in der Zwischenzeit sitzen sie da und gähnen. Aber das Leben verfolgt auch mit den geringfügigsten Mitteln seine Absichten, auch die lahmste Anstrengung geht nicht verloren, und selbst die Schule von Hatiheu mag vielleicht mehr Nutzen stiften, als es scheint.

Hatiheu ist ein Ort von einigem Ansehen. Den letzten Teil der Bucht gegen Anaho zu könnte man das bürgerliche Viertel nennen, denn es brüstet sich mit dem Hause Kooamuas, und nahe am Strande steht unter einem großen Baume das des Gendarmen M. Armand Aussel mit seinen Glocken, seinen Gemälden, seiner Bibliothek und seiner ausgezeichneten Tafel, an der Fremde willkommen sind. Kein größerer Widerspruch ist denkbar als zwischen der Gendarmerie und der Priesterschaft, die übrigens in tiefem Gegensatz stehen und sich ständig übereinander beschweren. Eine Priesterküche auf den östlichen Inseln ist ein elender Anblick; viele machen keine Anstrengungen, einen Garten zu unterhalten, und leben kümmerlich von den zugeteilten Rationen. Aber mit einem Gendarmen kann man nicht speisen, ohne sich die Lippen zu lecken. M. Aussels Hausmacherwurst und der Salat aus seinem Garten sind unvergeßliche Leckerbissen. Pierre Loti mag erfreut sein zu hören, daß er M. Aussels Lieblingsdichter ist, und daß seine Bücher in der zu ihnen passenden Landschaft der Bucht von Hatiheu gelesen werden.

Auf der andern Seite der Bucht ist alles religiös. Hier ragt ein überhängendes, spitziges Horn, ein gutes Seefahrerzeichen von Hatiheu, kahl aus dem Grün des hinaufkletternden Waldes empor und stürzt in steilen Schluchten und Riffen zur Küste hinab. Von der Kante einer der höchsten Grate, vielleicht siebenhundert oder tausend Fuß über dem Strand, blickt eine Marienstatue unscheinbar herab wie eine arme verlorene Puppe, von einem Riesenkind dort oben vergessen. Dies mühselig aufgerichtete Wahrzeichen der Katholiken wirkt auf Protestanten immer befremdend; wir wundern uns darüber, daß Menschen es der Mühe wert erachten, sich viele Tage abzuplagen und auf Felsgipfeln herumzuklettern zu einem Zweck, über den wir lächeln. Und doch glaube ich, es war der weise Bischof Dordillon, der den Platz auswählte, und ich weiß, daß alle, die Hand anlegten, mit Stolz auf die bestandenen Gefahren zurückblickten. Die Knabenschule ist neueren Datums, sie war früher in Tai-o-hae, neben der Mädchenschule; aber erst vor einiger Zeit, nach der gemeinsamen Durchbrennerei, wurde die ganze Breite der Insel zwischen die Geschlechter gelegt. Hatiheu muß von jeher ein wichtiger Platz für Missionen gewesen sein. Ungefähr in der Mitte der Bucht stehen nicht weniger als drei Kirchen dicht hintereinander in einem Hain von Bananen und einigen Ananas. Zwei sind aus Holz: die zuerst erbaute Kirche, die jetzt nicht mehr benutzt wird, und eine zweite, die aus einem geheimnisvollen Grunde nie benutzt wurde. Die neue Kirche ist aus Stein, mit Doppeltürmen, Strebepfeilern an den Wänden und Skulpturen an der Fassade. Der Bau selbst ist gut, einfach und formgerecht, aber die Details überwuchern alles, der Architekt wurde vom Bildhauer verdrängt. In Worten kann man die Engel, die, beschwingten Erzbischöfen ähnlich, die Tür bewachen, nicht beschreiben, ebensowenig die Cherubim in den Ecken, die wahnwitzigen Wasserspeier oder die sonderbaren dramatischen Reliefs, auf denen der heilige Michael, der Patron des Künstlers, kurzen Prozeß macht mit dem widerspenstigen Luzifer. Wir wurden nicht müde, das Bildwerk zu betrachten, das unschuldig, manchmal lustig und doch im besten Sinne – im Sinne erfinderischen Geschmacks und großer Gestaltungskraft – künstlerisch ist. Ich weiß nicht, was sonderbarer ist – ein so gutes Bauwerk im Winkel einer wilden Insel oder ein so altertümliches Gebäude mit soviel glänzender moderner Beigabe. Der Erbauer, ein französischer Laienbruder, der noch lebt und wohlauf ist und weitere Gründungen plant, muß sich ohne Zweifel geschult haben an einem Meister der alten Kathedralen, und mir kam es bei der Betrachtung der Kirche von Hatiheu vor, als begriffe ich den geheimnisvollen Reiz mittelalterlicher Bildhauerkunst, diese Verbindung kindlichen Mutes von Amateuren, die wie Schulknaben auf der Schiefertafel alles versuchen mit der männlichen Ausdauer eines Künstlers, der nicht weiß, wann er besiegt ist.

Ich hatte später immer den lebhaften Wunsch, den Architekten, Bruder Michel, kennenzulernen, und eines Tages, als ich mich mit dem Residenten in Tai-o-hae, dem Haupthafen der Insel, unterhielt, wurden ein alter, ergrauter, halbblinder und asketisch aussehender Priester und ein Laienbruder zu uns hereingeführt, der Typ alles dessen, was in Frankreich von Gesundheit strotzt, breit, klug, ehrlich und voll Humor, mit sehr großen leuchtenden Augen und einem zur Wohlbeleibtheit neigenden Körper. Abgesehen davon, daß sein Gewand schwarz und sein Gesicht glattrasiert war, kann man Männer dieser Art heute in einem halben Dutzend französischer Provinzen finden, die fröhlich in ihrem eigenen kleinen Weinberg arbeiten; und doch besaß er für mich stets eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem alten lieben Freunde meiner Jugend, Dr. Paul von West-Kirk. Beinahe vom ersten Worte an wußte ich, er sei mein Architekt, und sofort befanden wir uns in lebhafter Unterhaltung über die Kirche von Hatiheu. Bruder Michel sprach von seinen Arbeiten immer mit feinem Humor, dem sichtlich ernsthafter Stolz zugrunde lag, und der Übergang von dem einen zum andern war oft durchaus menschlich und unterhaltsam. »Ihre mittelalterlichen Wasserspeier!« rief ich aus, »wie originell sie sind!« – »Nicht wahr? Sie sind sehr lustig!« sagte er breit lächelnd; und im nächsten Augenblick fügte er plötzlich ernst hinzu: »Einer von ihnen ist mißglückt, ich muß das einsehen.« Ich fragte ihn, ob er irgendein Vorbild gehabt habe, ein Punkt, den wir oft beredet hatten. »Nein,« sagte er schlicht, »es ist eine ideale Kirche.« Das Relief war seine Lieblingsleistung, und mit Recht. Die Engel an der Tür möchte er, wie er behauptete, am liebsten zertrümmern und ersetzen. »Sie haben kein Leben, ihnen fehlt das Leben. Sie sollten meine Kirche in Dominik sehen, ich habe dort eine heilige Jungfrau, die wahrhaft zierlich ist.« – »Ah,« rief ich aus, »man hat mir erzählt, Sie hätten geäußert, nie wieder eine Kirche bauen zu wollen, und ich schrieb in mein Tagebuch, ich könne das nicht glauben.« »Ja,« bekannte er und lächelte, »ich würde gern eine andere bauen!« Ein Künstler wird begreifen, wie sehr mich diese Unterhaltung fesselte. Nichts verbindet so nahe wie die Gemeinschaft des aufrichtigen Interesses und des fast schamhaften Stolzes, die den klugen, der Kunst verbundenen Mann auszeichnen. Er kennt die Grenzen seines Strebens, die Mängel seines Werkes, er lächelt darüber, angesichts des drohenden Todes auf diese Art beschäftigt zu sein, aber sieht in seiner Hingabe etwas Würdevolles. Wenn Künstler denselben Humor besäßen wie die Auguren, würden sie lächeln, wenn sie einander begegnen, aber das Lächeln würde nicht spöttisch sein.

Ich hatte Gelegenheit, diesen vortrefflichen Mann oft zu sehen. Er segelte mit uns von Tai-o-hae nach Hiva-oa, eine furchtbare Fahrt von neunzig Meilen gegen schwere See. Man nannte das eine gute Überfahrt, es war ein Ehrentag für die »Casco«, aber es waren die schlimmsten vierzig Stunden, die wir alle jemals erlebt hatten. Wir wurden die ganze Zeit herumgeworfen und durcheinandergewürfelt wie Schrot in einer Bühnendonnermaschine. Der Steuermann stürzte zu Boden und riß sich den Schädel auf, der Kapitän war krank an Deck, der Koch krank in der Kombüse. Von der gesamten Reisegesellschaft saßen nur zwei bei Tisch. Ich war der eine. Ich gestehe, daß ich mich schauderhaft schlecht fühlte, und von dem andern, der behauptete, ganz wohl zu sein, kann ich nur berichten, daß er sehr bald von der Tafel floh. Unter diesen Umständen fuhren wir an der Windseite der Küste dieser unbeschreiblichen Insel Ua-pu vorüber und sahen mit trüben Augen die Höhlen, Vorgebirge, Brecher, kletternden Wälder und unzugänglichen Felsspitzen über dem Gebirgsrücken. In einem dunklen Winkel unserer Erinnerung haftet dieser Anblick wie die Szenerie eines Alpdrucks. Der Abschluß dieser entsetzlichen Fahrt, die Landung unserer Passagiere, spielte sich unter ähnlich rauhen Verhältnissen ab. Die Brandung überflutete den Strand von Taahauku, das Boot legte sich breitseit und schlug um, die ganze Besatzung fiel ins Wasser. Nur der Bruder selbst, der an solche Dinge gewöhnt war, sprang, fast ohne einen Spritzer abzubekommen, mit einer geradezu wunderbaren Geschicklichkeit ans Land. Von nun ab war er während unseres Aufenthaltes in Hiva-oa unser Führer und Freund, er geleitete uns, machte Ausflüge mit uns, stand in jeder Beziehung zu unserer Verfügung und gewann täglich mehr und mehr unsere Liebe.

Michel Blanc war früher Tischler gewesen, hatte ein Vermögen gesammelt und sich zur Ruhe gesetzt im Glauben, die Arbeit seines Lebens sei getan, und hatte nur, weil er den Müßiggang als gefährlich empfand, Kapital und Fähigkeiten der Mission zur Verfügung gestellt. Er wurde ihr Tischler, Maurer, Architekt und Ingenieur, übte sich in der Bildhauerei und war berühmt wegen seiner Gartenbaukunst. Er sah aus wie ein beneidenswerter Mann, der einen Hafen gefunden hat nach des Lebens Irrfahrten und dort sicher vor Anker liegt, ging seinen Geschäften in heiterer Einfalt nach, beklagte sich nicht über Mangel an Erfolgen – im Innersten vielleicht zufrieden mit seinen Bildhauerleistungen – und war im großen Ganzen das Musterbeispiel eines Laienmissionars.

Achtes Kapitel


Der Haupthafen

Der Hafen – der Markt, die bürgerliche und religiöse Hauptstadt dieser wilden Insulaner – heißt Tai-o-hae und erstreckt sich längs der Küste einer steil abfallenden grünen Bucht von Nuka-hiva. Wir kamen mitten im Winter an, das Wetter war schwül, stürmisch und unbeständig. Bald blies der Wind böig vom Lande her durch Spalten zersplitterter Schluchten, bald kam er zwischen den der Reede vorgelagerten Inselchen von der See her. Schwere und dunkle Wolken hingen über den Berggipfeln, der Regen brauste nieder und hörte wieder auf, die Gebirgsbäche schäumten, und am nächsten Tage sahen wir die steilen Wände ringsum von Wasserfällen dicht berieselt. Den Strand entlang zieht sich eine schmale Häuserzeile der Stadt, meist weiß und eingebettet in das Laubwerk einer Allee von grünen Puraos. Ein Pier ermöglicht den Zuweg vom Meere aus über die Brandung hinweg; im Osten steht auf einem vorspringenden bebuschten Hügel das alte Fort, das jetzt Kalabuß oder Gefängnis ist; noch östlicher weht auf der Wohnung des Residenten die Fahne Frankreichs. Dicht vor dem Gefängnishügel schaukelt der kleine Regierungsschoner fast immer vor Anker, morgens um acht Glas – so ungefähr – entfaltet er die Flagge, und den Sonnenuntergang begrüßt er mit einem Musketenschuß.

Hier wohnen und teilen den Komfort eines Klubs (Billard, Absynth, eine Weltkarte in Mercators Projektion und eine der herrlichsten Veranden der Tropen) ein paar Weiße verschiedener Nationalität, meistens französische Beamte, deutsche und schottische kaufmännische Angestellte und die Agenten des Opiummonopols. Außerdem leben dort drei Gastwirte, der verschlagene Schotte, dem die Baumwollspinnerei gehört, zwei weiße Damen und eine Schar Leute » on the beach«, ein Südseeausdruck, der sich nicht genau wiedergeben läßt. Es ist eine liebenswürdige und gastfreundliche Gesellschaft. Aber ein Mann, den man oft auf den Pflöcken am Pierende sitzen sah, verdient wegen der Einzigartigkeit seines Schicksals und seiner Erscheinung ein besonderes Wort. Vor langer Zeit hatte er sich scheinbar in eine eingeborene Dame verliebt, einen weiblichen Oberhäuptling auf Ua-pu. Als er sich ihr näherte, erklärte sie, sie könne keinen nichttätowierten Mann heiraten, er sehe so nackt aus, worauf unser Held sich mit einer gewissen Seelengröße den Händen der Tahukus auslieferte und energisch ausharrte, bis der Prozeß erledigt war. Er hatte ohne Zweifel große Auslagen, denn ein Tahuku arbeitet nicht umsonst, und erduldete sicher furchtbare Qualen. Kooamua war als Oberhäuptling der alten Schule nur teilweise tätowiert, er konnte, wie er uns lebhaft gestikulierend erzählte, die Tortur nicht bis zu Ende ertragen, unser verliebter Landsmann besaß stärkere Willenskraft, er wurde vom Kopf bis zu den Füßen nach der allerbesten Methode tätowiert und stellte sich schließlich seiner Herzensdame als neuer Mensch vor. Die wankelmütige Schöne konnte ihn von diesem Tage an nur noch mit leisem Gelächter betrachten. Ich aber sah den Mann nicht ohne Bewunderung an, von ihm, wenn überhaupt von jemand, durfte man behaupten, daß er nicht aus Berechnung, sondern blindlings geliebt hatte.

Das Haus des Residenten steht allein, der Gefängnishügel trennt es vom Saume der Stadt an der vorderen Bucht. Es ist bequem und hat große Veranden, den ganzen Tag steht es hinten und vorn offen, und der Passatwind bläst frei über die kahlen Fußböden. An Wochentagen bietet der Garten ein Bild gänzlich untropischer Belebtheit, ein halbes Dutzend Sträflinge arbeiten heiter mit Spaten und Schiebkarren, ziehen den Hut und lächeln den Besucher wie altvertraute Diener der Familie an. Sonntags sind sie verschwunden, und man sieht nur Hunde aller Rassen und Größen friedlich auf schattigen Plätzen schlummern, denn die Hunde von Tai-o-hae sind sehr höfisch veranlagt und machen den Regierungssitz zum Schauplatz ihrer Spaziergänge und Mittagsruhe. Vor und hinter dem Hause verliert sich ein grüner Rasenstreifen in einen niedrigen Wald von Akazien vieler Spielarten, und tief im Walde umschließt eine verfallene Mauer den Friedhof der Europäer. Engländer und Schotten schlafen dort, Skandinavier, französische Soldaten und Handwerker, fremdem Staube vermischt. Tief in den Wäldern singt die Drossel oder, wie man sie hier nennt, die Inselnachtigall heimatliche Lieder, und das ewige Requiem der Brandung tönt herüber. Ich habe niemals einen ruhigeren Friedhof gesehen, aber die Gedanken wanderten weithin zu den Plätzen, von denen die Schläfer gekommen, und zu den vielen Heimatländern, von denen sie aufgebrochen waren, um schließlich hier beieinander zu ruhen.

Auf der Höhe des Vorgebirges steht das Gefängnis, den ganzen Tag sind Türen und Fensterläden dem Passatwind geöffnet. Bei meinem ersten Besuch war ein Hund der einzige sichtbare Wächter. Er erhob sich allerdings so drohend, daß ich froh war, einen alten Faßreifen ergreifen zu können, und ich vermute, die Waffe war ihm schon bekannt, denn der Held zog sich sofort zurück, und als ich um den Hof herum und durch das Gebäude wanderte, sah ich ihn mit einer Anzahl Genossen demütig um die Ecken nachschleichen. Der Schlafraum der Gefangenen war ein weiter, luftiger Raum, ohne alle Möbel, die weiß getünchten Wände bedeckt mit marquesanischen Inschriften und unbeholfenen Zeichnungen: eine vom Pier, nicht schlecht gemacht, eine stellte einen Mord dar, mehrere andere französische Soldaten in Uniform. Eine französische Inschrift lautete: » Je n’est (sic!) pas le sou.« Aus dieser Mittagsstille darf man nicht schließen, daß das Gefängnis unbewohnt war, der Kalabuß von Tai-o-hae ist gut besetzt. Aber einige Insassen verrichteten Gartenarbeit beim Residenten, und der Rest war wahrscheinlich beim Straßenkehren, genau so frei, wie unsere Straßenfeger, wenn auch nicht so fleißig. Beim Hereinbrechen der Dunkelheit rief man sie wie Kinder vom Spielen, und der Hafenmeister – auch ein Zuchthäusler – schloß sie der Form wegen bis sechs Uhr morgens ein. Hatte ein Gefangener irgendeine Verabredung in der Stadt, geschäftlich oder zum Vergnügen, so brauchte er nur die Fensterläden auszuhängen und bei der Rückkehr sorgsam wieder einzusetzen, vor dem Morgenappell. Traf er dabei den Hafenmeister auf der Straße, so gab es keine Beschwerde und noch weniger Strafe. Aber das ist noch nicht alles. Der liebenswürdige französische Resident, M. Delaruelle, führte mich eines Tages gelegentlich eines amtlichen Besuches in das Gefängnis. Auf dem grünen Innenhof begrüßte uns lächelnd ein recht zerlumpter Gentleman; seine Beine waren von der Inselelephantiasis entstellt. »Einer unserer politischen Gefangenen – ein Aufständischer von Raiatea,« sagte der Resident, und dann zum Aufseher gewandt: »Ich dachte, ich hätte ihm eine neue Hose bestellt.« Inzwischen ließ sich kein anderer Gefangener blicken. »Nun,« fragte der Resident, »wo sind deine Sträflinge?« – »Herr Resident,« erwiderte der Aufseher und grüßte militärisch, »da Freitag ist, habe ich sie auf die Jagd gehen lassen.« Sie waren alle in den Bergen auf Ziegenjagd! Bald darauf kamen wir zu der Frauenabteilung, die ebenfalls verwaist war. »Wo sind unsere guten Frauen?« fragte der Resident, und der Aufseher antwortete heiter: »Ich glaube, Herr Resident, sie machen irgendwo einen Besuch.« M. Delaruelle, der die kleinen Reize seines engen Reiches liebt, hatte die Absicht, mir irgend etwas Komisches zu zeigen, aber selbst er hatte es in solcher Vollendung nicht erwartet. Um das Bild des Gefangenenlebens in Tai-o-hae zu vervollständigen, muß noch hinzugefügt werden, daß diese Verbrecher genau wie der Präsident der Republik einen regelmäßigen Gehalt beziehen. Zehn Sous täglich sind ihr Lohn. Sie haben also Geld, Nahrung, Obdach, Kleidung, und ich hätte fast geschrieben: ihre Freiheit. Die Franzosen sind sicher ein gutmütiges Volk und sanfte Herren, sie sind außerdem geneigt, die Marquesaner mit humorvoller Nachsicht zu behandeln. »Sie sterben aus, die armen Teufel!« sagte M. Delaruelle, »die Hauptsache ist, sie in Frieden sterben zu lassen.« Das war nicht nur gut gesagt, sondern auch die allgemeine Ansicht, wie ich glaube. Aber ein anderer Gesichtspunkt darf nicht vergessen werden: diese Gefangenen sind für die französische Verwaltung nicht nur nützlich, sondern wesentlich. Bei einem Volk, das unheilbar faul ist, entnervt durch Zustände, die sich nur als eingewurzelte Seuchen bezeichnen lassen, von Haß entflammt gegen die neuen Herren, sind Verbrechen und Zuchthausarbeit für die Regierung Gottesgaben.

Diebstahl ist tatsächlich das einzige Verbrechen. Früher Gelegenheitsbetrüger, beginnen die Leute von Tai-o-hae jetzt damit, Schlösser zu öffnen und Geldschränke zu knacken. Hunderte von Dollars sind manchmal geraubt worden, obgleich der marquesanische Einbrecher in seiner gewinnenden Mäßigung, die allen polynesischen Dieben eigen ist, immer nur etwas nimmt und das andere liegen läßt, um mit dem Besitzer gewissermaßen zu teilen. Erbeutet er chilenisches Hartgeld – die Inselwährung –, so erwischt man ihn nicht; nimmt er aber Gold, französisches Silber oder Banknoten, so wartet die Polizei, bis das Gold in Umlauf kommt, und macht ihren Mann bald dingfest. Und nun folgt eine Schändlichkeit. Offen gesagt wird der Gefangene so lange gepeinigt, bis er bekennt und, wenn es möglich ist, das Geld zurückgibt. Den Marquesaner Tag und Nacht in stockfinsterer Höhle in Einzelhaft zu halten, bedeutet für ihn unaussprechliche Qual. Selbst seine Räubereien führt er bei hellem Tageslicht aus, unter blauem Himmel, gereizt vom Außergewöhnlichen, stets mit einem Komplizen. Die Furcht vor der Finsternis ist immer noch unüberwindlich. Man begreift also, was er in seinem einsamen Loch erduldet, daß er sich sehnt, ein Bekenntnis abzulegen, ein vollgültiger Sträfling zu werden und neben den Kameraden zu schlafen. Während wir in Tai-o-hae weilten, befand sich ein Dieb in Untersuchungshaft. Er war gegen acht Uhr morgens in ein Haus eingedrungen, hatte den Geldschrank erbrochen und elfhundert Franken gestohlen, und nun, unter dem Schrecken der Finsternis, der Einsamkeit und einer mit Teufeln angefüllten Kannibalenphantasie, bekannte er zögernd und gab seine Beute preis. In einem Versteck, das er bereits angegeben hatte, waren dreihundert Franken gefunden worden, und man hoffte, er werde den Rest bald herausrücken. Das wäre schon häßlich genug, wenn es alles wäre, aber ich bin verpflichtet zu sagen, daß mir fortwährend Schlimmeres angedeutet wurde – Dinge, die die französische Regierung beseitigen sollte. Ich hörte, daß ein Mann sechs Tage hindurch festgehalten wurde, die Arme rückwärts an eine Tonne gebunden, und allgemein wird berichtet, daß jeder Gendarm in der Südsee eine Art Daumenschraube mit sich führt. Ich besaß nie den Mut, einen dieser Gendarmen – liebenswürdige, kluge und höfliche Menschen –, mit denen ich befreundet war, und deren Gastfreundschaft ich genoß, zu befragen; und vielleicht beruht die Erzählung, wie ich hoffe, auf einer Verwechslung mit der vorzüglichen Fessel, durch die der französische Polizeiagent die Gefangenen so leicht beherrscht, aber Torturen, körperliche oder geistige, werden bestimmt angewandt, und barbarische Ungerechtigkeit macht den Anklagezustand, in den auch ein Unschuldiger geraten kann, tatsächlich zur Qual, während der Strafvollzug, der ja nur Schuldige treffen soll, verhältnismäßig milde und tatsächlich angenehm ist. Was vielleicht noch schlimmer ist: nicht nur der Angeklagte, sondern manchmal auch seine Frau, seine Geliebte oder sein Freund werden denselben Qualen ausgesetzt. Ich bewunderte im Tabusystem die Schlauheit eingeborener Kriminalistik –, an der französischen Methode ist nicht viel zu bewundern. Ein furchtsames Kind in einen finstern Raum einzusperren und, wenn es hartnäckig leugnet, die Schwester in den nächsten, ist weder erfinderisch noch human.

Die Hauptveranlassung zu diesen Diebereien ist das neue Laster des Opiumessens. »Hier arbeitet niemand, und alle essen Opium«, sagte ein Gendarm, und Ah Fu kannte eine Frau, die täglich für einen Dollar verzehrte. Der erfolgreiche Dieb schenkt jedem seiner Freunde eine Handvoll Geld, seinem Weibe ein Kleid, verbringt einen Abend in einer Kneipe von Tai-o-hae, wo er alle Gäste freihält, verschafft sich ein großes Stück Opium und verschwindet im Busch, um es aufzuessen und den Rausch auszuschlafen. Ein Händler, der kein Opium führte, gestand mir, daß er sich nicht mehr zu helfen wisse. »Ich verkaufe nichts, aber die andern tun es,« sagte er, »die Eingeborenen arbeiten nur, um Opium zu kaufen; wenn sie zu mir kommen, um ihre Baumwolle zu verkaufen, müssen sie zu einem andern gehen, um es mit meinem Gelde einzuhandeln. Warum also sich die Mühe zweier Wege machen?« »Man kann sagen, was man will,« fügte er hinzu, »Opium ist das Zahlungsmittel hierzulande.«

Der Mann, der sich damals in Tai-o-hae in Untersuchungshaft befand, verlor die Geduld, als der chinesische Opiumhändler in seiner Gegenwart verhört wurde. »Selbstverständlich hat er mir Opium verkauft!« schrie er, »alle Chinesen hier verkaufen Opium; nur um Opium zu kaufen, habe ich gestohlen, nur um Opium zu kaufen, stiehlt überhaupt jemand. Sie sollten kein Opium hierherkommen lassen und keinen Chinesen!« Eben das führt die Eingeborenenregierung von Samoa durch, aber die Franzosen haben sich selbst die Hände gebunden und für vierzigtausend Franken ihre farbigen Untertanen dem Verbrechen und dem Tode ausgeliefert. Dieser entsetzliche Handel ist gewissermaßen durch Zufall entstanden. Hauptmann Hart hatte das Unglück, unbewußt der Anstifter zu sein, denn als seine Pflanzungen auf den Marquesas in Blüte standen, hatte er Schwierigkeiten, die chinesischen Kulis zu halten. Heute sind die Pflanzungen fast verödet, die Chinesen sind fort, aber inzwischen haben die Eingeborenen das Laster erlernt, die Handelserlaubnis bringt eine runde Summe ein, und die geldbedürftige Regierung in Papeete schließt die Augen und öffnet die Taschen. Allerdings hat der Händler nur die Erlaubnis an Chinesen zu verkaufen, aber anderseits kann natürlich niemand vierzigtausend Franken zahlen für das Privileg, eine Handvoll zerstreut lebender Chinesen zu versorgen, und jeder kennt die Wahrheit und schämt sich ihrer. Französische Beamte schütteln den Kopf, wenn man den Namen Opium erwähnt, und die Agenten der Farmer erröten über ihre Mittlertätigkeit. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen; als Untertan der britischen Krone bin ich unfreiwilliger Teilhaber am größten Opiumgeschäft unter dem Himmel. Aber der britische Fall liegt sehr schwierig, es handelt sich um den Lebensunterhalt von Millionen, und Reformen müssen mit Klugheit vorgenommen werden, wenn es überhaupt möglich ist, sie durchzuführen. Dies französische Geschäft aber ist eine Bagatelle und nichts als ein Auswuchs. Man wollte keine einheimische Industrie beleben, sondern das Gift wurde feierlich eingeführt. Keine Eingeborenensitte war zu berücksichtigen, sondern das Laster wurde willkürlich hierher verpflanzt. Kein Mensch hat einen Vorteil, außer der Negierung in Papeete, den wenig beneidenswerten Gentlemen, die ihr das Geld geben, und den chinesischen Schurken, die das schmutzige Geschäft betreiben.

Zweites Kapitel


Unsere neuen Freunde

Das Hindernis des Sprachunterschiedes wurde besonders von mir überschätzt. Die polynesischen Dialekte lernt man leicht radebrechen, wenn es auch schwer ist, sie elegant zu sprechen. Sie sind einander äußerst ähnlich, so daß jemand, der eine Ahnung von einem oder zweien hat, die andern ziemlich hoffnungsvoll in Angriff nehmen darf.

Außerdem stehen Dolmetscher reichlich zur Verfügung. Missionare, Händler und herabgekommene Weiße, die von der Gastfreundschaft der Eingeborenen leben, findet man fast auf jeder Insel und in jedem Dorf; wo sie nicht zur Verfügung stehen, haben die Eingeborenen selbst oft einige Brocken Englisch aufgeschnappt und in der französischen Zone – wenn auch viel seltener – etwas Englisch-Französisch, oder sie verstehen hinreichend Pidginenglisch, das man im Westen » Beach-la-Mar« nennt. Es wird übrigens jetzt in den Schulen Von Hawaii gelehrt, und wegen der großen Anzahl englischer Schiffe und der Nähe der Vereinigten Staaten auf der einen Seite und der englischen Kolonien auf der andern kann man es die Sprache des Pazifischen Ozeans nennen, die es ziemlich sicher einst sein wird. Ich will einige Beispiele anführen. Ich traf in Majuro einen Jungen von den Marschallinseln, der ein ausgezeichnetes Englisch sprach; er hatte es bei einer deutschen Firma in Jaluit gelernt, ohne ein deutsches Wort zu kennen. Ich hörte von einem Gendarmen, der in Rapa-iti unterrichtet hatte, daß die Kinder nur schwer und widerwillig französisch lernten, während sie das Englische spielend und wie von ungefähr aufnahmen. Mein Freund Benjamin Hird fand zu seinem Erstaunen auf einer der entlegensten Atollen in der Karolinengruppe Jungens Kricket spielen und englisch sprechen, und auf englisch unterhielt sich die Mannschaft der »Janet Nicoll«, eine Anzahl Farbiger von verschiedenen melanesischen Inseln, mit anderen Eingeborenen während der ganzen Fahrt, auf englisch wurden die Befehle erteilt und manchmal Witze erzählt auf dem Vorderdeck. Aber wohl am meisten überraschte mich ein Wort, das ich auf der Veranda des Gerichtsgebäudes von Noumea hörte. Man hatte gerade über den Kindesmord einer affenähnlichen Eingeborenen verhandelt, und die Zuhörer erwarteten Zigaretten rauchend das Urteil. Eine besorgte, liebenswürdige Französin ereiferte sich für einen Freispruch, sie war dem Weinen nahe und erklärte, sie wolle die Gefangene als Kindermädchen zu sich nehmen. Die Zuhörer schrien auf bei dieser Zumutung und sagten, das Weib sei eine Wilde, sie spreche keine fremde Sprache. »Aber es ist doch bekannt,« entgegnete die weichherzige Schöne, »daß sie rasch Englisch lernen!«

Jedoch sprechen können zum Volk ist nicht alles. Im Anfang meiner Beziehungen zu Eingeborenen kamen mir zwei Umstände zustatten. Zunächst war ich der Wundermann der »Casco«. Das Schiff, seine feinen Linien, die hohen Masten und schneeweißen Decks, die roten Vorhänge des Speiseraums, das Weiß und Gold und die vielen Spiegel der zierlichen Kajüte brachten uns hunderte Besucher. Die Männer berechneten die Abmessungen mit den Armen, wie ihre Väter die Schiffe Cooks ausgemessen hatten, die Frauen erklärten die Kajüten für schöner als Kirchen, stattliche junonische Gestalten wurden nicht müde, sich in den Sesseln niederzulassen und ihre strahlenden Gesichter im Spiegel zu betrachten, und ich sah eine Dame ihr Gewand hochheben und unter Rufen der Bewunderung und des Entzückens ihre nackten Schenkel an den Samtkissen reiben. Zwieback, Marmelade und Sirup waren Leckerbissen, und das Photographiealbum wanderte wie in europäischen Salons von Hand zu Hand. Diese nüchterne Gemäldegalerie, die alltäglichen Kleider und Gesichter hatten sich während der dreiwöchigen Fahrt in wunderbare, köstliche und fremdartige Dinge verwandelt; fremde Antlitze und barbarische Gewänder wurden nun in der überfüllten Kajüte mit aufrichtiger Erregung und Überraschung angestaunt und betastet. Die Königin von England wurde oft erkannt, und ich sah französische Untertanen ihr Bild küssen; Hauptmann Speedy – in abessinischer Kriegstracht, die für eine Uniform des englischen Heeres gehalten wurde – fand viel Beifall, und das Bildnis des Herrn Andrew Lang erregte Bewunderung auf den Marquesas. Das ist der Platz, wohin er gehen sollte, wenn er Middlesex und Homer satt hat.

Doch vielleicht war es noch wichtiger, daß ich in meiner Jugend unser schottisches Volk im Hochland und auf den Inseln ein wenig kennengelernt hatte. Nicht viel mehr als ein Jahrhundert ist vergangen, seit es ähnliche Umwälzungen und Übergänge erlebt hat wie heute die Marquesaner. In beiden Fällen das Aufdrängen einer fremden Herrschaft, die Entwaffnung der Stämme, die Absetzung der Häuptlinge, die Einführung neuer Sitten und besonders der Gewohnheit, Geld als Existenzmittel und begehrenswert anzusehen. Das Zeitalter des Handels folgte in beiden Fällen unvermittelt einer Periode äußerer Kriege und innerer patriarchalischer Gemeinwirtschaft, hier wurde die liebgewordene Sitte des Tätowierens, dort die Landestracht verboten. In beiden Fällen wurde man des delikatesten Genußmittels beraubt: das Rind, im Schatten der Nacht von den Weiden des Flachlandes gestohlen, wurde dem fleischliebenden Hochländer, und das »Langschwein«, aus den Hütten des Nachbardorfes entführt, dem menschenfressenden Kanaken verwehrt. Murren, heimlicher Aufruhr, Furcht und Mißtrauen, Alarme und plötzliche Versammlungen der marquesanischen Häuptlinge erinnerten mich fortwährend an die Tage von Lovat und Struan. Gastfreundschaft, Takt, natürliche feine Sitten und Empfindlichkeit sind beiden Rassen gleich eigen: gemeinsam ist beiden Sprachen die Eigenart, Zwischenkonsonanten fortzulassen. Ich zähle einige polynesische Wörter auf:

Haus Liebe
Tahiti: Fare Aroha
Neuseeland: Whare
Samoa: Fale Talofa
Manihiki: Fale Aloha
Hawaii: Hale Aloha
Marquesas: Ha’e Kaoha

Die Ausstoßung der Zwischenkonsonanten, so bemerkenswert im marquesanischen Dialekt, ist im Gälischen und im schottischen Unterland ebenso häufig. Noch wunderbarer ist es, daß der vorherrschende polynesische Laut, der Hiatus, als Apostroph geschrieben, oft oder immer der Grabstein eines untergegangenen Konsonanten, bis auf den heutigen Tag in Schottland zu hören ist. Spricht der Schotte die Wörter water, better oder bottlewa’er, be’er oder bo’le –, so entspricht der Laut genau dem Hiatus, und ich glaube, man könnte weitergehen und behaupten: Würde ein solches Volk isoliert und der Sprachfehler zur Regel, so wäre das der erste Schritt zum Übergang vom t zum k, der Krankheit aller polynesischen Sprachen.

Das Bestreben der Polynesier ist aber ein Ausrottungskrieg gegen Konsonanten, wenigstens gegen den sehr häufigen Buchstaben l. Ein Hiatus ist angenehmer für jedes polynesische Ohr, selbst das Gehör des Fremden gewöhnt sich an diese barbarischen Lücken, aber nur im Marquesanischen findet man Namen wie Haaii und Paaaena, in denen jeder Vokal gesondert gesprochen werden muß.

Diese Ähnlichkeiten zwischen einem Südseevolk und einem Teil meiner eigenen Stammesbrüder in der Heimat beschäftigten mich viel und machten mich nicht nur geneigt, meine neuen Bekannten mit Wohlwollen zu betrachten, sondern änderten allmählich auch mein Urteil. Ein wohlerzogener Engländer kommt heute zu den Marquesanern und findet die Leute zu seiner Verblüffung tätowiert; ein wohlerzogener Italiener kam vor nicht allzu langer Zeit nach England und fand unsere Vorfahren mit gelbem Pflanzensaft beschmiert, und als ich einen Gegenbesuch machte als kleiner Junge, war ich höchst erstaunt über die Rückschrittlichkeit der Italiener: so unsicher und so abhängig von Zeit und Umständen ist die Überlegenheit einer Rasse. Auf diese Weise lernte ich den Umgang mit den Eingeborenen und empfehle sie allen Reisenden. Wollte ich Einzelheiten wilder Gebräuche und abergläubischer Handlungen erforschen, so blickte ich zurück auf die Gesichter meiner Vorfahren und suchte nach irgendeinem Anhaltspunkte für verwandte Züge der Barbarei: Michael Scott, Lord Derwentwaters Kopf, das zweite Gesicht: alles das waren starke Stücke; die Geschichte vom schwarzen Stier zu Stirling ließ mich die Sage von Rahero begreifen, und meine Kenntnis von den Cluny-Macphersons und den Appin-Stewarts half mir, einzudringen in das Verständnis der Tevas von Tahiti. Der Eingeborene schämte sich nicht mehr, das Gefühl der Vertraulichkeit wurde stärker, und seine Lippen öffneten sich. Dies Gefühl der Vertraulichkeit muß der Reisende wecken und nähren, sonst täte er besser, vom Bett zum Sofa zu reisen. Und die Anwesenheit eines echten Londoner Spötters ist oft Ursache, daß eine ganze Reisegesellschaft in nebelhafter Dunkelheit wandelt.

Das Dorf Anaho steht auf einem Streifen flachen Landes zwischen dem Westufer der Bucht und dem Fuß der hohen Berge. Ein Palmenhain mit ewig rauschenden grünen Fächern überstreut es wie zum Triumph mit fallenden Zweigen und beschattet es gleich einer Laube. Ein Weg läuft von einem Ende des Hains zum andern zwischen Blumenbeeten, den Kleiderläden der Allgemeinheit, und hier und dort, in angenehmem Zwielicht und einer von Wohlgerüchen aller Art geschwängerten Luft, stehen willkürlich verstreut die Häuser der Eingeborenen, noch in Hörweite der Riffbrandung. Dasselbe Wort bezeichnet, wie wir gesehen haben, in vielen Dialekten Polynesiens mit geringen Abweichungen die menschliche Behausung. Aber obgleich das Wort gleich ist, weichen die Bauarten ständig voneinander ab, und der Marquesaner wohnt am behaglichsten, wenn er auch der rückständigste und barbarischste aller Insulaner ist. Die Grashütten von Hawaii, die Vogelkäfighäuser von Tahiti oder der offene Verschlag des gebildeten Samoaners, mit den sonderbaren venetianischen Blenden – sie alle halten den Vergleich nicht aus mit dem paepaehae, der Wohnplattform der Marquesaner. Das paepae ist eine längliche Terrasse, gebaut aus schwarzem, vulkanischem Gestein ohne Zement, zwanzig bis fünfzig Fuß lang, vier bis acht Fuß über der Erde; eine breite Treppe führt hinauf. An der Rückseite erhebt sich die Wand des vorn offenen Hauses, das einer gedeckten Galerie gleicht und etwa halb so breit ist wie die Plattform. Das Innere ist manchmal hübsch und fast elegant in seiner Kahlheit, der Schlafraum ist abgeteilt durch eine Trennungswand, irgendein buntes Tuch hängt vielleicht an einem Nagel, eine Lampe und eine Mähmaschine sind die einzigen Anzeichen der Zivilisation. Draußen brennt an einem Ende der Terrasse das Herdfeuer unter einem Verschlag, am andern Ende ist manchmal ein Schweinestall. Der restliche Platz gehört der Abendruhe und ist der luftige Speisesaal aller Bewohner. Für manche Häuser wird das Wasser herbeigeschafft von den Bergen, in Bambusrohren, die durchlöchert sind, um es süß zu erhalten. Die Erinnerung an die schottischen Berge im Herzen, dachte ich schaudernd an die feuchten Höhlen aus Torf und Stein, in denen ich geweilt und mich unterhalten hatte – auf den Hebriden und den nördlichen Inseln. Zweierlei, glaube ich, erklärt die Gegensätze: in Schottland ist Holz selten, und das rauhe Material von Torf und Stein schließt jede Hoffnung auf Zierlichkeit aus; und in Schottland ist es kalt. Obdach und Wärme sind so notwendige Lebensbedingungen, daß der Mensch nicht weiterblickt; er ist den ganzen Tag beschäftigt, sich den kärglichsten Unterhalt zu beschaffen, und wenn er abends sagen kann: »Aha, es ist warm!«, wünscht er sich nichts mehr. Aber wenn schon, dann etwas Höheres: feiner Sinn für Poesie und Gesang in diesen rauhen Behausungen und eine Melodie wie die des schottischen Volksliedes » Lochaber no more« ist ein überzeugenderer und unvergänglicherer Beweis der Kultur als ein Palast.

Zu einer solchen Wohnplattform nimmt eine beträchtliche Anzahl von Verwandten und Angehörigen Zuflucht. In der Stunde der Dämmerung, wenn das Feuer flackert, der Duft kochender Brotfrucht die Luft erfüllt und vielleicht die Lampe schon zwischen Pfeilern und Haus glimmt, sieht man Männer, Frauen und Kinder schweigend sich zum Mahle versammeln. Hunde und Schweine drängen sich auf der Treppe, mißgünstig mit den Schwänzen wedelnd. Die Fremden vom Schiff waren bald gleicherweise willkommen: willkommen, ihre Finger in das hölzerne Geschirr zu tauchen, Kokosnüsse auszutrinken, an der herumwandernden Pfeife zu saugen und der hohen Debatte über die Missetaten der Franzosen, den Panamakanal, die geographische Lage von San Franzisko und New Yo’ko zu lauschen oder sich daran zu beteiligen. In einem Hochlanddorf, ganz abseits von Touristenwegen, habe ich dieselbe einfache und würdevolle Gastfreundschaft angetroffen.

Ich habe zwei Dinge erwähnt – das geschmacklose Benehmen unserer ersten Besucher und den Fall der Dame, die sich an den Kissen rieb –, die einen ganz falschen Eindruck von Marquesanersitten geben könnten. Die große Mehrzahl der Polynesier hat ausgezeichnete Manieren, aber die Marquesaner machen eine Ausnahme, sie sind lästig und reizend, wild, scheu und taktvoll zugleich. Macht man ihnen ein Geschenk, so geben sie vor, es zu vergessen, und man muß es ihnen beim Abschied nochmals anbieten: eine entzückende Art, die ich sonst nirgendwo fand. Eine Andeutung genügt, all und jeden zu verabschieden; sie sind erstaunlich stolz und bescheiden, während viele der liebenswürdigeren, aber aufdringlicheren Insulaner sich in Massen an den Fremden herandrängen und schwer zu vertreiben sind wie Fliegen. Eine Entgleisung oder Beleidigung scheint der Marquesaner niemals zu vergessen. Eines Tages unterhielt ich mich am Wegrande mit meinem Freunde Hoka, als ich seine Augen plötzlich aufflammen und seinen Körper sich straffen sah. Ein berittener Weißer kam aus den Bergen, und als er vorüberzog und Grüße mit mir austauschte, starrte Hoka immer noch vor sich hin und zitterte wie ein Kampfhahn. Es war ein Korse, der ihn vor Jahren ein cochon sauvage – coçon chauvage, wie Hoka es aussprach – genannt hatte. Es war kaum zu erwarten, daß unsere Gesellschaft von Greenhorns so fein empfindliche Leute nicht unabsichtlich beleidigen würde. Hoka fiel bei einem seiner Besuche plötzlich in brütendes Stillschweigen und verließ gleich darauf das Schiff unter kalten Höflichkeitsbezeigungen. Als ich wieder in seiner Gunst stand, beschwerte er sich geschickt und bestimmt über die Natur meines Vergehens: ich hatte ihn gebeten, mir Kokosnüsse zu verkaufen, und nach Hokas Ansicht soll ein Gentleman Nahrungsmittel verschenken, nicht verkaufen, wenigstens nicht an seinen Freund. Bei anderer Gelegenheit gab ich meiner Bootsmannschaft Schokolade und Zwieback zum Frühstück. Ich hatte mich dabei gegen irgendeinen Punkt der Etikette versündigt, habe aber nie erfahren inwiefern; man dankte mir trocken, aber ließ meine Geschenke am Strande liegen. Jedoch der schlimmste Fehler war unser Benehmen gegen Toma, Hokas Adoptivvater, der sich für den rechtmäßigen Häuptling von Anaho hielt. Zunächst machten wir ihm keinen Besuch, wie es vielleicht unsere Pflicht war, in seinem feinen und neuen europäischen Hause, dem einzigen im Dorf, und dann, als wir an Land gingen, um seinen Widersacher Taipi-Kikino aufzusuchen, sahen wir Toma am Ende des Strandes stehen, eine herrliche Mannesgestalt, herrlich tätowiert, und gerade Toma fragten wir: »Wo ist der Häuptling?« – »Welcher Häuptling?« rief Toma, und wandte den Gotteslästerern den Rücken. Er hat uns nie verziehen. Hoka besuchte und begleitete uns täglich, aber von allen Bewohnern des Landes, glaube ich, waren Toma und sein Weib die einzigen, die nie den Fuß an Bord der »Casco« setzten. Was es hieß, dieser Versuchung zu widerstehen, ist für einen Europäer schwer zu verstehen. Die fliegende Stadt von Laputa für vierzehn Tage in den Londoner St.-James-Park versetzt, ist nur ein schwacher Vergleich mit der vor Anoha ankernden »Casco«, denn der Londoner hat Abwechslung in seinen Vergnügungen, aber der Marquesaner wandert zum Grabe durch eine ununterbrochene Reihe gleichförmiger Tage.

Am Nachmittag vor unserer Abreise kam eine Gruppe Eingeborener an Bord, um Abschied zu nehmen: neun unserer besonderen Freunde, mit Geschenken beladen und festlich gekleidet. Hoka, der beste Tänzer und Sänger, der größte Dandy von Anaho, einer der hübschesten jungen Männer der ganzen Welt – trotzig, eitel, schauspielerhaft, beweglich wie eine Feder und stark wie ein Stier –, war bei dieser Gelegenheit kaum wiederzuerkennen, er saß bedrückt und schweigsam da, das Gesicht ernst und grau. Es war sonderbar, den Jungen so bewegt zu sehen; noch sonderbarer, in seinem Geschenk etwas ganz Außergewöhnliches wiederzuerkennen, was wir am ersten Tage zu kaufen uns geweigert hatten, und dabei zu wissen, daß unser Freund, festlich gekleidet und offensichtlich tief gerührt über den Abschied, einer von denen war, die uns bei unserer Ankunft belagert und beleidigt hatten. Am sonderbarsten aber war es vielleicht, festzustellen, daß dieser geschnitzte Fächergriff die letzte der Kuriositäten des ersten Tages war, die uns inzwischen restlos von den Besitzern geschenkt worden waren: ihre Haupthandelsartikel, mit deren Hilfe sie uns auszuplündern suchten, solange wir uns fremd gegenüberstanden, und die sie uns aufzwangen ohne Gegenleistung, sobald wir Freunde geworden. Der letzte Besuch wurde nicht lange ausgedehnt. Einer nach dem andern reichte uns die Hand und kletterte in sein Kanu. Während Hoka dem Schiffe sofort den Rücken drehte, so daß wir sein Gesicht nicht wiedersahen, blieb Taipi stehen und blickte uns unter weichen Abschiedsgesten an. Als Kapitän Otis die Flagge senkte, grüßte die ganze Gruppe mit ihren Hüten. Das war der Abschied, die Episode unseres Besuches in Anaho wurde als abgeschlossen betrachtet, und obgleich die »Casco« noch ungefähr vierzig Stunden vor Anker blieb, kehrte keiner an Bord zurück, und ich bin geneigt zu glauben, daß sie jedes Erscheinen am Strande vermieden. Diese Zurückhaltung und Würde ist der feinste Charakterzug der Marquesaner.

Erstes Kapitel


Der König von Apemama, ein königlicher Händler

Es gibt eine große Persönlichkeit auf den Gilbertinseln: Tembinok‘ von Apemama, einzigartig hervorragend, der Held aller Lieder, der Gegenstand des Geredes, überall auf allen anderen Inseln der Gruppe sind die Könige erschlagen oder in Abhängigkeit geraten: Tembinok‘ allein ist übriggeblieben, der letzte Tyrann, das letzte aufrechte Wahrzeichen einer toten Gesellschaft. Der weiße Mann ist überall sonst zu finden, er baut seine Häuser, trinkt seinen Gin und schlägt sich herum mit den schwachen Eingeborenenregierungen. Auf Apemama gibt es nur einen Weißen, und er wird nur geduldet, lebt fern vom Hof und ist vorsichtig bedacht auf alle seine Schritte wie eine Maus im Katzenohr. Über alle anderen Inseln ergießt sich ein Strom von eingeborenen Besuchern, die mit ihren Familien reisen und ganze Jahre auf der Fahrt sind. Nur Apemama lassen sie links liegen, denn der Wandersmann fürchtet sich, dem Zugriff von Tembinok‘ zu nahe zu kommen. Und die Furcht vor demselben Schreckgespenst verfolgt und quält sie auch daheim. Maiana zahlte ihm einst Tribut, er überfiel und beherrschte Nonuti: die ersten Schritte zur Errichtung eines Kaiserreiches im Archipel. Ein britisches Kriegsschiff eilte herbei und zwang den Eroberer, seine Beute herauszugeben, sein Siegeszug wurde ihm gleich zu Anfang verlegt, die teuer bezahlte Heeresrüstung versank in der Lagune seiner eigenen Insel. Aber er hatte Eindruck gemacht, die Furcht vor ihm erschreckte alle Inseln von Zeit zu Zeit, man raunte, daß er seine Kanus herrichte für einen neuen Überfall, man nennt sogar das Ziel, und Tembinok‘ ist der Held patriotischer Kriegslieder der Gilbertinseln wie Napoleon zu Zeiten unserer Großeltern.

Wir waren auf See, um von Mariki nach Nonuti und Tapituea zu fahren, als der Wind sich plötzlich drehte und auf Apemama zu stand. Der Kurs wurde sofort geändert, die ganze Mannschaft mußte das Schiff waschen, die Decks scheuern, die ganze Kabine und das Warenlager herrichten. Auf unserer ganzen Fahrt war die »Equator« nie so sauber wie jetzt für den Empfang von Tembinok‘. Auch handelte es sich nicht um eine Speziallaune von Kapitän Reid, denn ich stellte fest, daß ein anderer Schoner, der zufällig während meines Aufenthaltes in Apemama anlief, ebenfalls für diese Gelegenheit aufgeputzt war. Und diese beiden Fälle sind einzigartig in der Erfahrung, die ich mit Südseefrachtschiffen machte.

An Bord hatten wir eine Familie von eingeborenen Touristen, vom Großvater bis zum Säugling, die in langer Pechsträhne bisher vergeblich versucht hatten, ihre Heimatinsel Peru in der Gilbertgruppe wieder zu erreichen. Fünfmal hatten sie bereits das Fahrgeld bezahlt und waren an Bord gegangen, fünfmal waren sie enttäuscht und ohne Pfennig auf fremden Inseln ausgesetzt oder nach Butaritari, woher sie kamen, zurückgebracht worden. Dieser letzte Versuch stand unter keinem guten Stern, ihre Vorräte waren erschöpft, Peru zu erreichen war keine Hoffnung mehr, und sie hatten sich heiter damit abgefunden, eine neue Zeit der Verbannung auf Tapituea oder Nonuti zu verleben. Als sich der Wind drehte, änderte sich ihr Zufallsziel von neuem, und sie wechselten ihre Farbe und schlugen sich gegen die Brust, wie jener Lotse des »Calendar«, als die schwarzen Berge in Sicht kamen. Ihr Lager, das sie mittschiffs an Deck aufgeschlagen hatten, hallte wider von Klagen: man würde sie zur Arbeit zwingen, sie würden zu Sklaven gemacht werden, Entrinnen sei unmöglich, sie würden auf Apemama unter der Macht des Tyrannen leben, arbeiten und sterben müssen. Mit diesem Gerede setzten sie ihre Kinder in so große Furcht, daß ein großer, strammer Junge schließlich unter Geschrei vom Schoner gezerrt werden mußte. Ihre Befürchtungen waren gänzlich grundlos. Ich bezweifle nicht, daß ihnen nicht gestattet wurde, müßig zu sein, aber ich kann mich dafür verbürgen, daß sie freundlich und anständig behandelt wurden, denn ungefähr ein Jahr später fuhr ich wieder einmal als Passagier mit diesen ewigen Wandersleuten an Bord der »Janet Nicoll«. Die Überfahrt war von Tembinok‘ bezahlt worden; sie, die die »Equator« arm verlassen hatten, erschienen auf der »Janet Nicoll« in neuen Kleidern, beladen mit Matten und Geschenken und reichlich mit Nahrungsmitteln versehen, von denen sie wie Kampfhähne während der ganzen Reise zehrten; ich sah sie schließlich in ihre Heimat zurückkehren, und ich muß sagen, sie bedauerten mehr, Apemama verlassen zu müssen, als sie sich freuten, ihre Heimat wiederzufinden.

Wir fuhren hinein durch den Nordkanal am Sonntag, dem 1. September, zwischen Untiefen kreuzend. Es war ein Tag brennender Äquatorsonne, aber die Brise war stark und kühl, und der Steuermann, der den Schoner von der Querrahe aus lotste, kehrte fröstelnd an Deck zurück. Die Lagune hatte dichte, buntfarbige, kurze Wellen, das Donnern des Ozeans dröhnte von draußen ständig zum Ankerplatz herüber, und die langen schwanken Sicheln der Palmen rauschten und glänzten im Wind. Gegenüber unserem Ankerplatz erhob sich am Strande eine weiße längliche Korallenterrasse, sieben oder acht Fuß hoch, gekrönt von den zerstreut liegenden und verschiedenartigen Gebäuden des Palastes. Das Dorf schließt sich im Süden an, eine Gruppe Maniap’s mit hohen Dächern. Dorf und Palast schienen ausgestorben.

Aber wir hatten kaum angelegt, als in der Ferne hin und her laufende Gestalten erschienen, ein Boot ins Wasser gelassen wurde und ein paar Leute zu uns herausruderten, um die Leiter des Königs zu bringen. Tembinok‘ hatte einmal einen Unfall erlebt und sich seither immer gescheut, seine Person dem elenden Gerät der Südseehändler anzuvertrauen. Infolgedessen hatte er ein Holzgestell anfertigen lassen, das nach Ankunft eines Schiffes sofort an Bord gebracht wird und bis zur Abfahrt dort an der Flanke befestigt bleibt. Die Bootsmannschaft kehrte, nachdem sie das Gestell angebracht hatte, sofort wieder an Land zurück. Sie durfte nicht an Bord gehen, noch war es uns erlaubt, das Land zu betreten, ohne den König zu beleidigen, der persönlich seine Genehmigung erteilt. Es folgte nun eine Pause, während der auf den hohen Herrn mit dem Mittagessen gewartet wurde. Das Vorspiel mit der Leiter, das uns eine Ahnung von seiner gewaltigen Körperlichkeit und seinem klugen, erfinderischen Verstand gab, hatte unsere Neugier aufs höchste gereizt, und mit einer gewissen Erregung sahen wir plötzlich Strand und Terrasse sich mit Höflingen füllen, den König und seine Leute einsteigen und das Boot (eine Kriegsschiffsjolle) direkt vor dem Winde auf uns zufliegen. Der königliche Bootsführer landete geschickt längsseits, stieg die Leiter mit argwöhnischem Mißtrauen empor und betrat schwerfällig das Deck.

Vor nicht langer Zeit war er mit einer Fettschicht überwachsen, ließ sich selten in der Öffentlichkeit sehen und war sich selbst zur Last. Kapitäne, die die Inseln besuchten, rieten ihm, spazierenzugehen, und obgleich dadurch die Gewohnheiten eines ganzen Lebens und die Tradition seiner Stellung umgestoßen wurden, wandte er das Heilmittel mit Erfolg an. Seine Korpulenz ist jetzt tragbar, man konnte ihn eher kräftig als fett nennen, aber sein Gang ist noch immer schwerfällig, schwankend und wie der eines Elefanten. Er zögert oder hastet nicht, sondern geht seinen Geschäften mit unerschütterlicher Bedachtsamkeit nach. Wenn wir ihn sahen, machten seine außergewöhnliche, natürliche Begabung für die Bühne immer großen Eindruck auf uns: ein vorspringendes Profil wie das auf Dantes Totenmaske, ein Mähne von langem, schwarzem Haar, das Auge glänzend, herrisch und fragend: für gewisse Rollen und für jemand, der es zu verwenden wußte, war dieses Gesicht ein Vermögen. Seine Stimme paßte gut dazu, sie war schrill, gewaltig und unschön, mit einem Klang wie dem einer Seevogelstimme. Da es keine Modevorschriften gibt, niemand, der sie aufstellt, und wenige, die sie befolgen würden, wenn sie vorhanden wären, und jedenfalls keinen Kritiker, so kleidet er sich – wie Sir Charles Grandison lebte – »nach seinem eigenen Herzen«. Bald trägt er ein Frauenkleid, bald eine Marineuniform, und dann wiederum, und zwar öfter, erscheint er in einem Maskeradekostüm, das er selbst entworfen hat: Hosen und eine sonderbare Jacke mit kurzen Schößen, Schnitt und Sitz vorzüglich für Inselschneiderkunst geeignet, die Stoffe immer kleidsam, manchmal grüner Samt und dann wieder kardinalrote Seide. Dieses Maskeradekostüm steht ihm ausgezeichnet, ich sehe ihn vor mir, wie er in der grellen Sonne auf mich zuschreitet, einzigartig, eine Figur aus Hoffmanns Erzählungen.

Ein Besuch auf einem Schiff wie der, an dem wir jetzt teilnahmen, bildet den Hauptinhalt und bei weitem die hauptsächlichste Zerstreuung im Leben von Tembinok‘. Er ist nicht nur der alleinige Herrscher, sondern auch der alleinige Kaufmann in seinem dreifachen Königreich von Apemama, Aranuka und Kuria, gut bepflanzten Inseln. Der Taro geht an die Häuptlinge, die ihn nach ihrem Wohlgefallen unter ihren nächsten Anhängern verteilen, aber bestimmte Fische, die Schildkröten, die auf Kuria reichlich vorhanden sind, und das Gesamtprodukt der Kokospalmen gehören ausschließlich Tembinok‘. »Alle Kopra mir gehören«, bemerkte Se. Majestät mit einer großen Geste seiner Hand, und er zahlt und verkauft die Ware nach Häusern. »Habt Ihr Kopra, König?« hörte ich einen Händler fragen. »Ich haben zwei, drei Haus,« antwortete Se. Majestät, »ich glauben drei!« Darauf beruht die Bedeutung Apemamas, wo der Gesamthandel dreier Inseln in einer einzigen Hand vereint liegt, und aus diesem Grunde haben so viele Weiße vergebens versucht, dort Fuß zu fassen und ansässig zu werden. Eben darum schmückt man Schiffe aus und gibt den Köchen besondere Befehle, während die Kapitäne sich lächelnd in Reih‘ und Glied aufstellen, um den König zu begrüßen. Wenn er mit dem Willkommen und der Speisekarte zufrieden ist, verbringt er manchmal ganze Tage an Bord, und jeder Tag, manchmal auch jede Stunde, gereicht dem Schiff zum Vorteil. Er pendelt hin und her zwischen der Kabine, wo man ihm sonderbare Gerichte vorsetzt, und dem Warenlager, wo er die Freuden des Einkaufs in großem Stil genießt, wie es seiner Person entspricht; einige unterwürfige Diener lauern vor der Tür und erwarten seine leisesten Befehle. Im Boot, das man achteraus angelegt hat, liegen eine oder zwei seiner Frauen unter dem Schutz von Matten in der Sonne, das Fahrzeug schaukelt auf den kurzen Wellen der Lagune, und die Frauen erleiden Todesängste in der Hitze und Langeweile. Diese Strenge wird manchmal gemildert, und er erlaubt den Frauen, an Bord zu kommen. Drei oder vier erlangten diese Gunst am Tage unserer Ankunft: wohlbeleibte Damen, luftig bekleidet mit dem Ridi. Jede hatte ihren Anteil Kopra bei sich, ihr persönliches Eigentum, mit dem sie nach Belieben verfahren kann. Die Ausstellung im Warenlager – Hüte, Bänder, Kleider, Parfüms, Büchsen mit Lachs – Augenweide und Fleischeslust – berührten sie nicht im geringsten. Sie hatten nur einen Wunsch: Tabak, die Inselwährung, gleichbedeutend mit gemünztem Gold; sie kehrten mit ihm beladen frohlockend an Land zurück, und spät in der Nacht sahen wir sie auf der Königsterrasse sitzen und die Tabakstangen beim Lampenlicht unter freiem Himmel zählen.

Der König ist nicht so sparsam. Er ist begierig auf neue und fremdartige Dinge, Haus an Haus, Kiste über Kiste im Palastbezirk ist bereits vollgepackt mit Uhren, Spieldosen, blauen Brillen, Schirmen, Strickwesten, Stoffballen, Werkzeugen, Gewehren, Vogelflinten, Arzneimitteln, europäischen Nahrungsmitteln, Nähmaschinen und, was noch merkwürdiger ist, Öfen: alles, was jemals unter seine Augen kam, reizte seinen Appetit, gefiel ihm wegen seiner Brauchbarkeit oder setzte ihn wegen seiner offenbaren Unbrauchbarkeit in Erstaunen. Und noch immer ist diese Habgier unbefriedigt, er ist besessen von den sieben Teufeln des Sammlers. Hört er von irgendeiner Sache sprechen, so legt sich ein Schatten über sein Gesicht: »Ich glauben, ich es nicht haben«, pflegt er zu sagen, und alle Schätze die er besitzt, scheinen ihm wertlos im Vergleich dazu. Läuft ein Schiff Apemama an, so zergrübelt der Kaufmann sein Gehirn, um irgendeine Neuigkeit auszudenken. Er läßt sie scheinbar nachlässig in seiner Hauptkabine stehen oder versteckt sie halbwegs in seiner eigenen Koje, so daß der König sie selbst ausspionieren kann. »Wieviel du wollen?« fragt Tembinok‘, indem er vorübergeht und darauf zeigt. »Nein, König, das zu teuer«, antwortet der Händler. »Ich denke, ich es lieben«, sagt der König. Einmal war es ein Goldfischglas, bei einer anderen Gelegenheit war es parfümierte Seife. »Nein, König, das kosten zuviel,« sagte der Händler, »zu gut für einen Kanaka«. »Wieviel du haben? Ich nehmen ihn alle«, antwortete Seine Majestät und bekam siebzehn, jedes Stück Seife für zwei Dollar. Oder aber der Händler behauptet, der Gegenstand sei nicht zu verkaufen, er sei Privateigentum, ein Erbstück oder ein Geschenk, und dieser Trick hat immer Erfolg. Durchkreuzt man die Absichten des Königs, so hat man ihn fest in der Hand. Seine autokratische Natur bäumt sich gegen den Widerstand auf, er faßt ihn als Herausforderung auf, beißt die Zähne zusammen wie ein Jagdpferd vor einer Hürde, und ohne jedes Erregungszeichen, scheinbar ohne Interesse, bezahlt er törichterweise jeden Preis. So ergriff ihn, wohl damit wir für unsere Sünden bestraft würden, reges Interesse für das Toilettetäschchen meiner Frau, ein Ding ohne jeden Wert für den Mann und durch jahrelangen Gebrauch stark abgenutzt. An einem Vormittag kam er in der Frühe zu unserem Haus, setzte sich und erbot sich plötzlich, es zu kaufen. Ich sagte ihm, daß ich nichts verkaufe, und daß die Tasche außerdem das Geschenk eines Freundes sei, aber er war solche Vorwände von jeher gewohnt und wußte, was sie wert waren, und wie man ihnen begegnete. Er wandte also das an, was man, glaube ich, Anschauungsunterricht nennt, zog einen Beutel mit englischem Gold, Zwanzig- und Zehnmarkstücken, heraus und begann sie einzeln schweigend auf den Tisch zu legen, bei jedem neuen Stück unsere Gesichter mit einem Blick streifend. Vergebens sagte ich ihm immer wieder, daß ich kein Händler sei, er würdigte mich keiner Antwort. Schon lagen wohl zwanzig Pfunde auf dem Tisch, er ließ sich nicht stören, und unsere Verwirrung begann bereits in Zorn umzuschlagen, als ein glücklicher Gedanke uns zu Hilfe kam. Da Seine Majestät soviel von dem Täschchen hielte, sagten wir, möchten wir sie bitten, es als Geschenk anzunehmen. Das war die überraschendste Wendung in Tebinok’s Erinnerung, er begriff zu spät, daß seine Beharrlichkeit unhöflich sei, ließ den Kopf eine Weile schweigend hängen, hob ihn dann wieder, und nun sagte der Tyrann höchst einfältig dreinblickend: »Ich mich schämen.« Es war das erste und letztemal, daß er in unserer Gegenwart einen Fehler im Benehmen zugestand. Eine halbe Stunde später sandte er uns eine Kampferkiste, die nur einige Dollar wert war, aber der Himmel mag wissen, was Tembinok‘ dafür bezahlt hatte.

Da er von Natur schlau und durch vierzig Regierungsjahre gewitzigt ist, darf man nicht von ihm annehmen, daß er sich blindlings betrügen läßt oder sich widerstandslos zur Milchkuh der reisenden Händler herabgewürdigt hat. Er hat sogar heldenhafte Anstrengungen gemacht, er war Eigentümer von Schonern wie Nakaeia von Makin, und, glücklicher als Nakaeia, hat er sogar Kapitäne gefunden. Seine Schiffe fuhren bis zu den englischen Kolonien, er hat mit seiner eigenen Flotte direkt einen Neuseelandhandel betrieben. Aber selbst so und in diesen Gegenden behinderte ihn die über die ganze Welt verbreitete Unehrlichkeit des weißen Mannes, seine Gewinne schmolzen dahin, seine Schiffe kehrten verschuldet zurück, das Geld für die Versicherung wurde unterschlagen, und als die »Coronet« unterging, fand er zu seinem Erstaunen, daß er alles verloren hatte. Da senkte er die Waffen, war überzeugt, er könne ebenso aussichtsreich mit den Winden des Himmels kämpfen, und bot hinfort sein Fell wie ein erfahrenes Schaf den Scherern dar. Er ist der letzte in der Welt, der das Unabänderliche beklagt, er nimmt es mit zynischer Ruhe hin, verlangt von allen, mit denen er zu tun hat, nichts als eine gewisse anständige Selbstbeherrschung, handelt so gut er kann, und wenn er glaubt, daß er außergewöhnlich stark beschwindelt ist, schreibt er sich den Namen des Händlers ins Gedächtnis. Er ging einst eine Liste von Kapitänen und Superkargos mit mir durch, mit denen er Geschäfte gemacht hatte, und die er nach drei Stichworten gruppiert hatte: »Er betrügen ein wenig« – »Er betrügen viel« – und »Ich glauben, er betrügen zu viel«. Für die ersten beiden Klassen drückte er völlige Verzeihung aus und manchmal sogar, wenn auch nicht immer, für die dritte. Ich war anwesend, als ein gewisser Kaufmann mit seinen Waren abgewiesen wurde, und da ich seit der Geschichte mit dem Täschchen bedeutenden Einfluß hatte, konnte ich den Streit schlichten. Selbst am Tage unserer Ankunft hätte sich leicht ein Zwist mit Kapitän Reid ergeben können, dessen Ursache vielleicht wert ist, erzählt zu werden. Unter den Waren, die speziell für Tembinok‘ exportiert werden, befindet sich ein Getränk, das unter dem Namen Henessybrandy bekannt ist und so bezeichnet wird. Es ist weder Henessy noch Brandy, es hat ungefähr die Farbe von Sherry, ist aber kein Sherry, es schmeckt nach Kirsch und ist auch kein Kirsch. Jedenfalls hat der König sich an dieses staunenswerte Getränk gewöhnt und ist sogar auf seinen Geschmack stolz. Jeder Ersatz ist eine doppelte Beleidigung, denn er glaubt einerseits man wolle ihn betrügen und anderseits seinen guten Geschmack bezweifeln. Eine ähnliche Empfindlichkeit kann man bei allen »Kennern« beobachten. Nun befand sich in der letzten Kiste, die vom Kapitän der »Equator« verkauft wurde, ein anderes und nach meiner Meinung besseres Getränk, und die Unterhaltung wurde sehr finster für Kapitän Reid. Aber Tembinok‘ ist ein bescheidener Mann, man erinnerte ihn daran, daß alle Menschen irren können, auch er selbst gab es zu, erkannte an, daß ein freiwillig zugegebener Fehler verziehen werden müsse, und schloß die Debatte mit dem Vorschlag: »Wenn ich machen Fehler, ihr mir sagen; wenn ihr machen Fehler, ich euch sagen. Viel besser!«

Nachdem das Mittag- und Abendessen in der Kabine mit einem oder zwei Glas »Henetti« – das echte Getränk diesmal mit der Kirschblume – genossen war und Seine Majestät fünf Stunden am Warenraumschalter herumgelungert hatte, fuhr sie nach Haus. Nach dreimaligem Kreuzen geriet das Boot vor dem Palast auf Grund, die Frauen wurden auf dem Rücken der Vasallen an Land getragen, Tembinok‘ schritt über eine Plattform mit Geländer ähnlich der Laufplanke eines Dampfers und wurde schulterhoch durch das seichte Wasser getragen, den Strand hinauf und über eine abschüssige mit Kieseln bepflasterte Ebene hinauf zur funkelnden Terrasse, wo er wohnt.

Zweites Kapitel


Der König von Apemama: Die Gründung von Equatorstadt

Unsere erste Begegnung mit Tembinok‘ war für unsere ganze Reisegesellschaft eine Angelegenheit von Bedeutung, ja beinahe von großer Aufregung. Wir waren gekommen, um eine Gunst zu erlangen, wir mußten uns in angemessen höflicher Art nähern wie Bittsteller: entweder gefielen wir ihm, oder wir verfehlten den Hauptzweck unserer Reise. Es war unser Wunsch, auf Apemama zu landen und zu leben und den sonderbaren Charakter des Mannes und die sonderbaren oder vielmehr altertümlichen Zustände seiner Insel aus der Nähe zu sehen. Auf allen andern Inseln der Südsee kann ein weißer Mann mit seiner Kiste landen, ein Haus auf Lebzeiten errichten, wenn es ihm paßt, wenn er das Geld hat oder Handelsbeziehungen anknüpfen will; eine Behinderung ist unvorstellbar. Aber Apemama ist eine verschlossene Insel, sie liegt im Ozean mit verschlossenen Toren, der König steht wie ein Wachtoffizier an der Pforte, bereit, zudringliche Besuche zu mustern und zurückzuweisen. Daher der Reiz unseres Unterfangens: nicht nur war es ziemlich schwierig, sondern die soziale Abgeschlossenheit, die schon an sich merkwürdig ist, ließ viele andere Sonderbarkeiten bestehen bleiben.

Tembinok‘ ist wie die meisten Tyrannen konservativ, begrüßt wie viele Konservative lebhaft neue Ideen und neigt zu praktischen Reformen außer auf dem Gebiet der Politik. Als die Missionare erschienen und vorgaben, im Besitz der Wahrheit zu sein, nahm er sie willig auf, wohnte ihrem Gottesdienst bei, lernte selbst öffentlich vorbeten und setzte sich zu ihren Füßen als Wißbegieriger. Auf diese Weise hat er, indem er ähnliche vorübergehende Gelegenheiten benutzte, Lesen, Schreiben, Rechnen und sein sonderbares persönliches Englisch gelernt, das vom gewöhnlichen » Beach – la – Mar« so verschieden ist, viel dunkler, ausdrucksvoller und knapper. Als seine Erziehung fortschritt, fand er es an der Zeit, die neuen Einwohner kritisch zu betrachten. Wie Nakaeia von Makin ist er ein Anhänger des Stillschweigens auf der Insel, er behorcht das Land wie ein großes Ohr, Spione erstatten ihm täglich Bericht, und er hat es lieber, wenn seine Untertanen singen, als wenn sie sprechen. Der Gottesdienst und insbesondere die Predigt mußten also bald zu Verstößen werden. »Hier auf meine Insel ich sprechen«, sagte er einmal zu mir. »Meine Häuptlinge nicht sprechen – tun, was ich sagen.« Er blickte auf den Missionar, und was sah er? »Sehen Kanaka sprechen in großes Haus!« rief er mit starkem Sarkasmus. Aber er ertrug das verdächtige Schauspiel und würde es auch auf die Dauer ertragen haben, wenn sich nicht ein neuer Streitpunkt ergeben hätte. Er schaute wieder hin, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, und der Kanaka sprach nun nicht mehr, sondern tat etwas weit Schlimmeres: er baute ein Koprahaus. Der König war in seinem Hauptinteresse berührt, seine Einnahmen und Vorrechte waren bedroht. Außerdem glaubte er, und viele sind mit ihm derselben Meinung, daß Handel und Missionsarbeiten nicht zu vereinigen sind. »Glauben, Missionar guter Mann sein wollen: sehr gut. Glauben, er an Kopra denken: nicht gut. Ich senden ihn fort Schiff.« Das war die kurze Geschichte des Evangelisten auf Apemama.

Ähnliche Deportationen sind häufig. »Ich senden ihn fort Schiff« ist die Grabrede für nicht wenige: Se. Majestät bezahlt die Überfahrt des Verbannten zum nächsten Anlegeplatz. Da er europäische Speisen leidenschaftlich liebt, hatte er verschiedene Male für seinen Haushalt weiße Köche angestellt, aber sie wurden alle nacheinander deportiert. Sie schwören ihrerseits, daß sie ihren Lohn nicht erhalten hätten, er andererseits, daß sie ihn über Gebühr beraubt und beschwindelt hätten; vielleicht ist beides richtig. Ein wichtigerer Fall war der eines Agenten, der von einer Kaufmannsfirma, wie man mir erzählte, hergeschickt worden war, um sich die Gunst des Königs zu erschleichen, wenn möglich Ministerpräsident zu werden und den Koprahandel zugunsten seiner Brotherren zu leiten. Er erhielt die Erlaubnis zu landen, ließ seine Reize spielen, Tembinok‘ hörte ihm andächtig zu, er glaubte schon auf dem besten Wege zum Erfolg zu sein, und doch! – als das nächste Schiff Apemama anlief, wurde der zukünftige Ministerpräsident in ein Boot gesteckt, seine Passage wurde an Bord bezahlt und dann: lebe wohl für immer. Aber warum weitere Beispiele anführen, jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Als wir nach Apemama kamen, war von allen Weißen, die sich einen Platz in diesem reichen Handelsgebiet sichern wollten, nur ein einziger übriggeblieben, ein schweigsamer, nüchterner, einsamer und geiziger Mensch, der zurückgezogen lebte, und von dem der König sagte: »Ich glauben, er gut, er nicht sprechen.«

Man warnte mich gleich zu Anfang, daß wir vielleicht unser Ziel nicht erreichen würden, ich ließ mir aber nie träumen, daß es so kommen würde, wie es kam, daß wir nämlich vierundzwanzig Stunden in Ungewißheit schweben sollten und tatsächlich beinahe endgültig zurückgewiesen worden wären. Kapitän Reid hatte sich gut vorbereitet, kaum war der König an Bord und die Henetti-Angelegenheit erledigt, als er meine Bitte vortrug und eine Darstellung meiner Wünsche und Vorzüge gab. Der Unsinn vom Sohn der Königin Viktoria war gut genug für Butaritari, hier verfing er nicht, und ich fungierte nun als »einer der Altmänner von England«, als Persönlichkeit von großen Kenntnissen, die gekommen sei, um in erster Linie Tembinok’s Reich zu besuchen, und willens sei, der ebenso wißbegierigen Königin Viktoria Bericht darüber zu erstatten. Der König gab nicht die geringste Antwort und leitete bald auf ein anderes Thema über. Man hätte glauben können, er habe es nicht gehört oder nicht verstanden, aber wir sahen uns bald einer ständigen Prüfung unterworfen. Während der Mahlzeiten nahm er uns einzeln vor und richtete auf jeden von uns ungefähr eine Minute lang denselben harten und gedankenvoll starrenden Blick. Während er uns so ansah, schien er sich selbst, den Gesprächsgegenstand und die Gesellschaft zu vergessen und ganz in Nachdenken versunken zu sein, sein Blick war völlig unpersönlich, ich habe ihn sonst wohl in den Augen von Porträtmalern gesehen. Die Gründe, derentwegen Weiße deportiert wurden, sind, hauptsächlich vier: Betrug an Tembinok‘, zuviel Beschäftigung mit dem Koprahandel, der die Quelle seiner Reichtümer und eine der Hauptstützen seiner Macht ist, »Sprechen« und politische Intrigen. Ich fühlte mich schuldlos in allen diesen Punkten, aber wie sollte ich es zeigen? Kopra hätte ich nicht einmal als Geschenk genommen, aber wie sollte ich diese Eigenschaft bei der Tafel deutlich machen? Die anderen Teilnehmer der Fahrt waren ebenso unschuldig und ebenso verlegen, sie teilten auch meinen Ärger, als Tembinok‘ nach zwei vollen Mahlzeiten und der freien Zeit eines Nachmittags, die er seiner Prüfung gewidmet hatte, schweigend Abschied nahm. Am nächsten Morgen wiederholte sich dasselbe undurchdringliche Studieren, dasselbe Schweigen, und der zweite Tag ging schon zur Neige, als mir endlich in knappster Form mitgeteilt wurde, daß ich die Prüfung bestanden habe. »Ich sehen Euer Auge: Ihr guter Mann. Ihr nicht lügen«, sagte der König: ein zweifelhaftes Kompliment für einen Romanschreiber. Später erklärte er mir, daß er nicht allein nach dem Auge, sondern auch nach dem Munde urteile. »Wenn ich sehen Mann,« erklärte er, »ich nicht wissen guter Mann, schlechter Mann. Ich sehen Auge, sehen Mund. Dann ich wissen. Sehen Auge, sehen Mund«, wiederholte er. Und tatsächlich hatte in unserem Fall der Mund das meiste damit zu tun, und durch unsere Gespräche erhielten wir die Erlaubnis, die Insel zu betreten, denn der König versprach sich selbst eine Fülle von nützlichen Erkenntnissen von unserem Besuch, und ich glaube, seine Annahme war nicht falsch.

Die Bedingungen, unter denen wir zugelassen wurden, waren die folgenden: Wir sollten einen Platz aussuchen, auf dem der König uns eine Stadt bauen wollte. Seine Untertanen sollten für uns arbeiten, aber nur der König durfte ihnen Befehle geben. Einer seiner Köche sollte täglich kommen, um den meinen zu helfen und von ihm zu lernen. Sollten unsere Vorräte zu Ende gehen, so wollte er uns versorgen, um bei der Rückkehr der »Equator« alles wiederzuerhalten. Andererseits durfte er die Mahlzeiten mit uns einnehmen, wenn es ihm paßte. Blieb er zu Haus, so mußten wir ihm die Gerichte unserer Tafel schicken. Ich mußte mich feierlich verpachten, seinen Untertanen keinen Alkohol oder Geld zu geben, was sie beides nicht besitzen dürfen, und keinen Tabak, den sie nur aus seiner königlichen Hand empfangen. Soviel ich mich erinnere, habe ich mich gegen die Härte dieser letzten Vorschrift gewehrt, jedenfalls wurde sie gemildert, und wenn ein Mann für mich arbeitete, durfte ich ihm eine Pfeife Tabak im Hause geben, aber er durfte nichts mitnehmen.

Das Land für die »Equatorstadt« – wir nannten die Stadt nach dem Schoner – war bald gewählt. Der Küstenstrich unmittelbar an der Lagune war windig und blendete; Tembinok‘ selbst ist froh, wenn er in blauen Brillen auf seiner Terrasse herumtappen kann, und wir mieden die Begleiterscheinungen der Bindehautentzündung, nämlich eiternde Augäpfel und Bettler, die alle Reisenden verfolgen und um Augenwasser angehen. Hinter der Stadt gewährt das Land einen verschiedenartigen Anblick, bald ist es offen, sandig, uneben und mit Zwergpalmen bestanden, bald von Tarofurchen durchzogen, tief oder flach, und hat je nach dem Wachstum der Pflanzen das Aussehen einer sandigen Gerberei oder eines von Alleen durchzogenen grünen Gartens. Ein Paßpfad führt zur See und steigt unvermittelt zur Hochfläche der Insel an – zwanzig oder sogar dreißig Fuß, obgleich Findlay nur fünf angibt. Ganz in der Nähe des höchsten Punktes, wo die Kokospalmen anfangen sich gut zu entwickeln, fanden wir einen Pandanushain und ein Geländestück, das mit grünem Unterholz angenehm bewachsen war. Eine Quelle war nicht weit entfernt unter einem ländlichen Schuppen, und noch näherbei fand sich in einer sandigen Vertiefung ein Teich, wo wir unsere Kleider waschen konnten. Der Platz war vor Wind und Sonne geschützt und vom Dorf aus nicht zu sehen. Wir zeigten ihn dem König, und die Stadt wurde für den morgigen Tag versprochen.

Der Morgen kam, Mr. Osbourne landete, fand nichts getan und beklagte sich bei Tembinok‘. Der König hörte ihn an, erhob sich, verlangte eine Winchesterbüchse, trat aus der Umzäunung des Palastes heraus und feuerte zwei Schüsse in die Luft. Ein Schuß in die Luft ist das stärkste Warnungssignal von Apemama, er hat die Gewalt einer Proklamation in gesprächigeren Ländern, und Se. Majestät bemerkte freundlich, daß er seine Arbeiter gleich auf die Beine bringen werde. In weniger als einer halben Stunde waren die Leute angetreten, die Arbeit wurde begonnen, und man sagte uns, wir möchten unser Gepäck bringen, wann es uns gefiele.

Das erste Boot wurde nicht vor zwei Uhr nachmittags auf den Strand gezogen, und dann begann die lange Prozession der Kisten, Kasten und Säcke durch die sandige Wüste nach Equatorstadt zu ziehen. Tatsächlich war der Pandanushain jetzt ein Stück der Vergangenheit, Feuer und Rauch drangen ringsum aus dem grünen Unterholz, in weitem Umkreis krachten noch die Äste. Der erste Gedanke des Königs war gewesen, gerade die Vorteile, derentwegen wir den Platz gewählt hatten, aus der Welt zu schaffen, und inmitten dieser Verwüstungen stand bereits ein ziemlich großer Maniap‘ und ein kleines geschlossenes Haus. Eine Matte für Tembinok‘ war in der Nähe ausgebreitet worden, er saß dort, um die Arbeit zu überwachen, in kardinalrotem Kleid, einen Tropenhut auf dem Kopfe, eine Meerschaumpfeife im Munde, ein Weib hinter ihm, das niederkauerte und Streichhölzer und Tabak bewachte. Zwanzig oder dreißig Fuß vor ihm hockte die Mehrzahl der Arbeiter am Boden; ein Teil des Busches stand hier noch, und die Leute saßen fast bis zu den Schultern darin und bildeten nur einen Kreis von braunen Gesichtern, schwarzen Schädeln und aufmerksamen Augen, die auf Se. Majestät gerichtet waren. Lange Pausen herrschten, während die Untertanen starrten und der König rauchte. Dann pflegte Tembinok‘ seine Stimme zu erheben und schrill und kurz zu rufen. Niemals erfolgte eine Antwort in Worten, aber wenn seine Rede witzig gewesen war, so ertönte unterwürfiges Lachen als vorsichtiges Echo, ein Lachen, wie man es wohl in Klassenzimmern hört; war sie aber ernst, so erhoben sich die Leute plötzlich und eilten davon. Zweimal verschwanden sie und kehrten mit weiterem Aufbaumaterial der Stadt zurück, einem zweiten Haus und einem zweiten Maniap‘. Einzigartig war der Anblick, als sich von der Ferne durch die Kokospalmen das Maniap‘ schweigend näherte, zuerst, wie es schien, selbständig in der Luft schwebend, aber bei näherem Zusehen erblickte man unter den Dachgiebeln viele Dutzend nackter Beine sich bewegen; bei alledem war der knechtische Gehorsam nicht weniger bemerkenswert als die knechtische Bedächtigkeit. Dieser Trupp hatte sich eingefunden auf den Ruf einer todbringenden Waffe, der Mann, der ihnen zusah, war unbeschränkter Herr ihres Lebens, aber abgesehen von ihrer Höflichkeit drückten sie sich ebensosehr von der Arbeit wie viele amerikanische Hotelbediente. Der Zuschauer bemerkte eine versteckte aber unbesiegbare Trägheit, angesichts derer der Kapitän unseres schmucken Seglers sich fast das Haar ausgerauft hätte.

Aber das Werk war vollendet, als die Dämmerung herabsank und Se. Majestät sich zurückzog, die Stadt war gegründet und fertig, ein moderner und rauher Amphion hatte sie mit drei Flintenschüssen aus dem Nichts hervorgezaubert. Und am nächsten Morgen überraschte uns derselbe Zauberer mit einem neuen Wunder: eine mystische Mauer umgab uns, so daß der Pfad, der an unseren Türen vorbeilief, plötzlich unwegsam geworden war, die Eingeborenen, die jenseits der Insel zu tun hatten, einen weiten Umweg machen mußten und wir in der Mitte saßen in durchsichtiger Abgeschlossenheit: wir sahen, wurden gesehen, aber waren unnahbar wie Bienen in einer gläsernen Wohnung. Das äußere und sichtbare Zeichen dieses Wunders waren nur ein paar zerzauste Kokosnußblättergirlanden zwischen den Stämmen der umstehenden Palmen, aber ihre Bedeutung beruhte auf der unantastbaren Furchtbarkeit des Tabu und den Gewehren Tembinok’s.

Wir nahmen an jenem Abend unsere erste Mahlzeit ein in der improvisierten Stadt, wo wir zwei Monate verweilen sollten, und die, sobald wir sie verließen, an einem Tage verschwinden würde, wie sie auftauchte. Das Baumaterial wird dorthin zurückkehren, woher es gekommen ist, das Tabu wird aufgehoben, der Verkehr auf dem Pfad wieder aufgenommen, Sonne und Mond werden vergeblich unter den Palmenzweigen nach dem früheren Werk suchen und der Wind über eine öde Stätte wehen. Aber der Ort, der jetzt nur noch in der Erinnerung einiger Menschen eine Rolle spielt, schien für die Dauer vieler Jahre gebaut zu sein. Es war ein lebhafter Platz. Einen der Maniap’s hatten wir zum Speisezimmer, den anderen zur Küche gemacht. Die Häuser wurden nur zum Schlafen benutzt. Sie waren nach dem ausgezeichneten Stil von Apemama erbaut, das bei weitem die besten Häuser in der Südsee hat. Drei Fuß über der Erde standen sie auf Pfosten, die Seitenwände bestanden aus geflochtenen Matten, die man hochheben konnte, um Licht und Luft hereinzulassen, oder senken, um Wind und Regen abzuwehren: luftig, gesund, sauber und wasserdicht. Wir hatten ein Huhn von bemerkenswerter Eigenart: beinahe einzigartig nach meiner Erfahrung, denn es war ein Huhn, das gelegentlich ein Ei legte. Nicht weit davon entfernt bewirtschaftete meine Frau einen Garten mit Salat und Schalotten. Der Salat wurde von der Henne verzehrt, für die er Gift war, die Schalotten wurden blattweise serviert und wie Pfirsiche willkommen geheißen und genossen. Palmwein und grüne Kokosnüsse wurden uns täglich gebracht. Einmal sandte uns der König Fisch zum Geschenk und einmal eine Schildkröte. Manchmal schossen wir sogenannte Regenpfeifer an der Küste oder Wildhühner im Busch. Der Rest unserer Speisetafel bestand aus Konserven.

Unsere Beschäftigung war sehr verschiedenartig. Während einige der Reisegenossen fortgingen, um zu zeichnen, brüteten Mr. Osbourne und ich über einem Roman. Wir lasen Gibbon und Carlyle laut vor, bliesen Flageolett, zupften Gitarre, photographierten beim Licht der Sonne, des Mondes und bei Blitzlicht und spielten manchmal Karten. Die Jagd nahm einen Teil unserer Zeit in Anspruch, ich selbst habe ganze Nachmittage verbracht bei aufregenden, aber harmlosen Vogeljagden mit dem Revolver, und es war ein Glück, daß wir auch bessere Schützen unter uns hatten, und daß uns der König eine geeignetere Waffe leihen konnte, sonst wäre unser Küchenzettel noch einförmiger gewesen.

Nachts mußte man unsere Stadt schauen, wenn der Mond hoch oben stand, wenn die Lampen brannten und das Feuer noch in der Küche flackerte. Wir litten unter einer Fliegen- und Moskitoplage, die man nur mit der ägyptischen vergleichen konnte. Unser Speisetisch, den uns der König wie alle Möbel geliehen hatte, mußte von einem geflochtenen Zelt umgeben werden, unsere Zitadelle und Zuflucht, und dieses ganze Zelt war von Licht erfüllt, es leuchtete hell unter den niedrigen Dachgiebeln wie die Hohlkugel einer riesigen Lampe unter dem Rande ihres Schirmes. Unsere Schlafkojen warfen sonderbar eckige Lichtreflexe, da die Seiten der Häuser sehr verschiedene Neigungswinkel hatten. In der gedeckten, aber offenen Küche sah man Ah Fu beim Licht der Lampe und des Feuers mit den Töpfen hantieren. Über allem lag zeitweise der wunderbare Glanz weichen Mondlichtes, der Sand sprühte, als sei er voll von Diamantsplittern, die Sterne waren verschwunden. Manchmal flatterte ein dunkler Nachtvogel leise und niedrig durch die Säulen der hohen Stämme und stieß einen rauhen, krächzenden Schrei aus.