Siebentes Kapitel


Hatiheu

Die Buchten von Anaho und Hatiheu sind an ihrer Basis getrennt durch den messerscharfen Grat eines einzigen Hügels – den Paß, den wir sooft erwähnten; aber diese Landzunge erweitert sich seewärts zu einer beträchtlichen Halbinsel, sehr kahl und grasbedeckt, von Schafen bevölkert; abends und morgens hört man die gellenden Rufe der Hirten, ein paar wilde Ziegen wandern über das Land hin; die Seeseite ist zerklüftet zu langen, dröhnenden Höhlen; davor liegen Klippen von der Farbe und der zertrümmerten Gestalt alter Torfhaufen. In einer dieser lärmvollen und sonnenlosen Schluchten sahen wir eine Gruppe fischender Frauen, wie Meeresvögel zusammengedrängt auf schaumbedecktem Felsvorsprung, wie Meeresvögel schrille Grüße dem vorbeigleitenden Boot nachsendend, nackt bis auf ihre bunten Unterkleider. (Das Brausen der Brandung und die dünnen Frauenstimmen hallen wider in meiner Erinnerung.) Wir hatten an diesem Tage eine Eingeborenenmannschaft, der Steuermann hieß Kauanui; es war unsere erste Erfahrung mit polynesischer Seefahrtkunst, die darin besieht, jeden Fleck Land gleichsam zu umarmen. Dabei denken die Leute nicht an Zeitersparnis, denn sie rudern lange Strecken, um ihr Boot an Stellen zu bringen, die von Land eingeschlossen sind. Es scheint, als ob sie ihre Häuser auf der einen Seite und ihre Boote auf der andern nie nahe genug an die Brandung herandrängen können. Im offenen Wasser ist das nicht so gefährlich, wie es aussieht, denn das von den Felsen abprallende Wasser schleudert das Boot zurück. Nahe dem Strand jedoch bei heftigem Seegang halte ich es auch heute noch für sehr wagehalsig, und die Ruhe der Eingeborenen ist ein ärgerlicher Anblick. Wir empfanden einen ungetrübten Genuß, als wir auf der Ausfahrt den Strand und die wundervollen Farben der Brandung so nahe vor uns hatten. Auf der Rückfahrt kam uns der Flutstrom heftig entgegen, und die Gleichgültigkeit des Steuermanns wurde immer beunruhigender. Als wir uns der äußersten Landspitze näherten, wo die Brandung sich am höchsten türmte, nahm Kauanui die Gelegenheit wahr, seine Pfeife anzuzünden, das Boot drehte sich um sich selbst, jeder nahm ein oder zwei Züge und füllte, ehe er sie weiterreichte, Lungen und Backen mit Rauch. Ihre Gesichter waren alle aufgeblasen wie Äpfel, als wir quer vor den Klippenausläufern lagen, und die berstende Brandung stürzte in Schauern über das Boot. An der nächsten Ecke war » cocanetti« das Stichwort, die Mannschaft borgte sich mein Messer und stellte die Arbeit ein, um Nüsse zu öffnen. Diese unzeitgemäßen Genüsse kann man mit dem Grogkessel vergleichen, der vor einer Seeschlacht die Runde macht.

Das erste Ziel bei unserm Besuch war die Knabenschule, denn Hatiheu ist die Universität der nördlichen Inseln. Das Gemurmel des Unterrichts drang uns entgegen. Dicht bei der Tür, wo die Luft am kühlsten weht, saß der Laienbruder, um ihn herum in engem Halbkreis ungefähr sechzig dunkelfarbige Gesichter mit starren Augen. Im Hintergrund des hüttenartigen Raumes sahen wir Bänke und Wandtafeln mit Zahlen in Kreideschrift. Der Bruder erhob sich, um uns in aufrichtiger Demut zu begrüßen. Dreißig Jahre war er bereits hier, erzählte er und fuhr durch seine weißen Locken, wie ein schüchternes Kind an seiner Schürze zupft. »Und keine Erfolge, mein Herr, fast keine Erfolge.« Er wies auf die Schüler: »Sie sehen hier die gesamte Jugend von Nuka-hiva und Ua-pu, der ganze Rest der Jugend zwischen sechs und fünfzehn, vor wenigen Jahren hatten wird hundertundzwanzig Zöglinge von Nuka-hiva allein. Ja, mein Herr, es geht rückwärts!« Beten, lesen, schreiben, wieder beten und rechnen, nochmals Gebet am Schluß: das schien der langweilige Verlauf des Unterrichts zu sein. Für das Rechnen haben alle Insulaner eine natürliche Begabung. Auf Hawaii machen sie gute Fortschritte in der Mathematik. In einem Dorf auf Majuro und allgemein auf den Marschallinseln sitzt die ganze Bevölkerung rund um den Händler, wenn er die Kopra auswiegt, und jeder schreibt die Zahlen auf seine eigene Schiefertafel und zieht die Summe. Der Händler fand sie sehr geschickt und ging zu Brüchen über, für die sie keine Regeln gelernt hatten. Zuerst waren sie ganz stutzig, aber schließlich fanden sie durch zähes Nachdenken das Resultat, und einer nach dem andern bestätigte dem Händler, daß er recht habe. Nicht viele Europäer hätten eine ähnliche Leistung vollbracht. Der Unterricht in Hatiheu ist also nicht so geisttötend für Polynesier, wie ein Fremder vermuten könnte, und doch, wie dürftig ist er im besten Falle! Ich fragte den Bruder, ob er ihnen keine Anekdoten erzähle, und er starrte mich an; ob er sie nicht Geschichte lehre, und er sagte: »Ach ja, ein bißchen Biblische Geschichte aus dem Neuen Testament«, und wiederholte seine Klagen über den Mangel an Erfolgen. Ich hatte nicht den Mut, weitere Fragen zu stellen, ich konnte nur antworten, es müsse sehr entmutigend sein, und widerstand der Versuchung, hinzuzufügen, das sei allzu natürlich. Er blickte auf: »Meine Tage sind gezählt,« sagte er, »der Himmel erwartet mich.« Möge dieser Himmel uns verzeihen, aber ich war ärgerlich auf den alten Mann und seinen bequemen Trost. Man denke die Möglichkeiten aus! Die Jugend von sechs bis fünfzehn Jahren wird von der Regierung aus den Elternhäusern genommen, in Hatiheu versammelt, wo man sie durch eine wöchentliche Nahrungsmittelsteuer unterhält und, mit Ausnahme eines einzigen Monats jährlich, völlig der priesterlichen Leitung übergibt. Seit der Ausreißerei, die wir schon erwähnten, sind die Ferien für Mädchen und Knaben getrennt gelegt, so daß Bruder und Schwester von den Marquesas sich nach Abschluß der Erziehung als völlig Fremde wiedersehen. Ein hartes und höchst unpopuläres Gesetz, aber welche Macht legt es in die Hände der Erzieher, und wie gleichgültig und langweilig wird diese Macht von den Missionen ausgenutzt! Die übermäßige Sorge, die Eingeborenen fromm zu machen, eine Absicht, die zugestandenermaßen verfehlt ist, gibt, wie ich vermute, die Erklärung für dies jammervolle System. Und doch könnten sie in der Mädchenschule zu Tai-o-hae bei den eifrigen, hausfraulichen Schwestern ein Bild wirklicher Tüchtigkeit sehen, voll Sauberkeit, Frische und begeisterten, sinnvollen Schaffens, das sie zu lebendigeren Unterrichtsmethoden anreizen sollte. Die Schwestern selbst beklagen sich über Mißerfolge. Sie behaupten, daß die jährlichen Ferien alle Arbeit zunichte machen, und daß die Mädchen von herzloser Gleichgültigkeit sind. Von den vielen hübschen und scheinbar liebevollen Zöglingen, die sie gelehrt und aufgezogen haben, kehrten nur zwei zurück, um einen Erinnerungsbesuch bei ihren Lehrerinnen zu machen. Sie kamen fast regelmäßig, aber die andern verschwinden nach ihrer Schulzeit in die Wälder wie gefangene Insekten. Man kann sich schwerlich etwas Entmutigenderes vorstellen, und doch glaube ich, die Damen sollten nicht verzweifeln. Eine Zeitlang halten sie die Mädchen lebendig und in unschuldiger Beschäftigung, und wenn es überhaupt eine Möglichkeit gäbe, das Volk zu retten, so wäre dies der Weg. Der Knabenschule zu Hatiheu kann man dies Lob nicht spenden. Die Tage für sie alle sind gezählt, auf Lehrer und Schüler wartet der Tod, er ist schon auf dem Marsche, und in der Zwischenzeit sitzen sie da und gähnen. Aber das Leben verfolgt auch mit den geringfügigsten Mitteln seine Absichten, auch die lahmste Anstrengung geht nicht verloren, und selbst die Schule von Hatiheu mag vielleicht mehr Nutzen stiften, als es scheint.

Hatiheu ist ein Ort von einigem Ansehen. Den letzten Teil der Bucht gegen Anaho zu könnte man das bürgerliche Viertel nennen, denn es brüstet sich mit dem Hause Kooamuas, und nahe am Strande steht unter einem großen Baume das des Gendarmen M. Armand Aussel mit seinen Glocken, seinen Gemälden, seiner Bibliothek und seiner ausgezeichneten Tafel, an der Fremde willkommen sind. Kein größerer Widerspruch ist denkbar als zwischen der Gendarmerie und der Priesterschaft, die übrigens in tiefem Gegensatz stehen und sich ständig übereinander beschweren. Eine Priesterküche auf den östlichen Inseln ist ein elender Anblick; viele machen keine Anstrengungen, einen Garten zu unterhalten, und leben kümmerlich von den zugeteilten Rationen. Aber mit einem Gendarmen kann man nicht speisen, ohne sich die Lippen zu lecken. M. Aussels Hausmacherwurst und der Salat aus seinem Garten sind unvergeßliche Leckerbissen. Pierre Loti mag erfreut sein zu hören, daß er M. Aussels Lieblingsdichter ist, und daß seine Bücher in der zu ihnen passenden Landschaft der Bucht von Hatiheu gelesen werden.

Auf der andern Seite der Bucht ist alles religiös. Hier ragt ein überhängendes, spitziges Horn, ein gutes Seefahrerzeichen von Hatiheu, kahl aus dem Grün des hinaufkletternden Waldes empor und stürzt in steilen Schluchten und Riffen zur Küste hinab. Von der Kante einer der höchsten Grate, vielleicht siebenhundert oder tausend Fuß über dem Strand, blickt eine Marienstatue unscheinbar herab wie eine arme verlorene Puppe, von einem Riesenkind dort oben vergessen. Dies mühselig aufgerichtete Wahrzeichen der Katholiken wirkt auf Protestanten immer befremdend; wir wundern uns darüber, daß Menschen es der Mühe wert erachten, sich viele Tage abzuplagen und auf Felsgipfeln herumzuklettern zu einem Zweck, über den wir lächeln. Und doch glaube ich, es war der weise Bischof Dordillon, der den Platz auswählte, und ich weiß, daß alle, die Hand anlegten, mit Stolz auf die bestandenen Gefahren zurückblickten. Die Knabenschule ist neueren Datums, sie war früher in Tai-o-hae, neben der Mädchenschule; aber erst vor einiger Zeit, nach der gemeinsamen Durchbrennerei, wurde die ganze Breite der Insel zwischen die Geschlechter gelegt. Hatiheu muß von jeher ein wichtiger Platz für Missionen gewesen sein. Ungefähr in der Mitte der Bucht stehen nicht weniger als drei Kirchen dicht hintereinander in einem Hain von Bananen und einigen Ananas. Zwei sind aus Holz: die zuerst erbaute Kirche, die jetzt nicht mehr benutzt wird, und eine zweite, die aus einem geheimnisvollen Grunde nie benutzt wurde. Die neue Kirche ist aus Stein, mit Doppeltürmen, Strebepfeilern an den Wänden und Skulpturen an der Fassade. Der Bau selbst ist gut, einfach und formgerecht, aber die Details überwuchern alles, der Architekt wurde vom Bildhauer verdrängt. In Worten kann man die Engel, die, beschwingten Erzbischöfen ähnlich, die Tür bewachen, nicht beschreiben, ebensowenig die Cherubim in den Ecken, die wahnwitzigen Wasserspeier oder die sonderbaren dramatischen Reliefs, auf denen der heilige Michael, der Patron des Künstlers, kurzen Prozeß macht mit dem widerspenstigen Luzifer. Wir wurden nicht müde, das Bildwerk zu betrachten, das unschuldig, manchmal lustig und doch im besten Sinne – im Sinne erfinderischen Geschmacks und großer Gestaltungskraft – künstlerisch ist. Ich weiß nicht, was sonderbarer ist – ein so gutes Bauwerk im Winkel einer wilden Insel oder ein so altertümliches Gebäude mit soviel glänzender moderner Beigabe. Der Erbauer, ein französischer Laienbruder, der noch lebt und wohlauf ist und weitere Gründungen plant, muß sich ohne Zweifel geschult haben an einem Meister der alten Kathedralen, und mir kam es bei der Betrachtung der Kirche von Hatiheu vor, als begriffe ich den geheimnisvollen Reiz mittelalterlicher Bildhauerkunst, diese Verbindung kindlichen Mutes von Amateuren, die wie Schulknaben auf der Schiefertafel alles versuchen mit der männlichen Ausdauer eines Künstlers, der nicht weiß, wann er besiegt ist.

Ich hatte später immer den lebhaften Wunsch, den Architekten, Bruder Michel, kennenzulernen, und eines Tages, als ich mich mit dem Residenten in Tai-o-hae, dem Haupthafen der Insel, unterhielt, wurden ein alter, ergrauter, halbblinder und asketisch aussehender Priester und ein Laienbruder zu uns hereingeführt, der Typ alles dessen, was in Frankreich von Gesundheit strotzt, breit, klug, ehrlich und voll Humor, mit sehr großen leuchtenden Augen und einem zur Wohlbeleibtheit neigenden Körper. Abgesehen davon, daß sein Gewand schwarz und sein Gesicht glattrasiert war, kann man Männer dieser Art heute in einem halben Dutzend französischer Provinzen finden, die fröhlich in ihrem eigenen kleinen Weinberg arbeiten; und doch besaß er für mich stets eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem alten lieben Freunde meiner Jugend, Dr. Paul von West-Kirk. Beinahe vom ersten Worte an wußte ich, er sei mein Architekt, und sofort befanden wir uns in lebhafter Unterhaltung über die Kirche von Hatiheu. Bruder Michel sprach von seinen Arbeiten immer mit feinem Humor, dem sichtlich ernsthafter Stolz zugrunde lag, und der Übergang von dem einen zum andern war oft durchaus menschlich und unterhaltsam. »Ihre mittelalterlichen Wasserspeier!« rief ich aus, »wie originell sie sind!« – »Nicht wahr? Sie sind sehr lustig!« sagte er breit lächelnd; und im nächsten Augenblick fügte er plötzlich ernst hinzu: »Einer von ihnen ist mißglückt, ich muß das einsehen.« Ich fragte ihn, ob er irgendein Vorbild gehabt habe, ein Punkt, den wir oft beredet hatten. »Nein,« sagte er schlicht, »es ist eine ideale Kirche.« Das Relief war seine Lieblingsleistung, und mit Recht. Die Engel an der Tür möchte er, wie er behauptete, am liebsten zertrümmern und ersetzen. »Sie haben kein Leben, ihnen fehlt das Leben. Sie sollten meine Kirche in Dominik sehen, ich habe dort eine heilige Jungfrau, die wahrhaft zierlich ist.« – »Ah,« rief ich aus, »man hat mir erzählt, Sie hätten geäußert, nie wieder eine Kirche bauen zu wollen, und ich schrieb in mein Tagebuch, ich könne das nicht glauben.« »Ja,« bekannte er und lächelte, »ich würde gern eine andere bauen!« Ein Künstler wird begreifen, wie sehr mich diese Unterhaltung fesselte. Nichts verbindet so nahe wie die Gemeinschaft des aufrichtigen Interesses und des fast schamhaften Stolzes, die den klugen, der Kunst verbundenen Mann auszeichnen. Er kennt die Grenzen seines Strebens, die Mängel seines Werkes, er lächelt darüber, angesichts des drohenden Todes auf diese Art beschäftigt zu sein, aber sieht in seiner Hingabe etwas Würdevolles. Wenn Künstler denselben Humor besäßen wie die Auguren, würden sie lächeln, wenn sie einander begegnen, aber das Lächeln würde nicht spöttisch sein.

Ich hatte Gelegenheit, diesen vortrefflichen Mann oft zu sehen. Er segelte mit uns von Tai-o-hae nach Hiva-oa, eine furchtbare Fahrt von neunzig Meilen gegen schwere See. Man nannte das eine gute Überfahrt, es war ein Ehrentag für die »Casco«, aber es waren die schlimmsten vierzig Stunden, die wir alle jemals erlebt hatten. Wir wurden die ganze Zeit herumgeworfen und durcheinandergewürfelt wie Schrot in einer Bühnendonnermaschine. Der Steuermann stürzte zu Boden und riß sich den Schädel auf, der Kapitän war krank an Deck, der Koch krank in der Kombüse. Von der gesamten Reisegesellschaft saßen nur zwei bei Tisch. Ich war der eine. Ich gestehe, daß ich mich schauderhaft schlecht fühlte, und von dem andern, der behauptete, ganz wohl zu sein, kann ich nur berichten, daß er sehr bald von der Tafel floh. Unter diesen Umständen fuhren wir an der Windseite der Küste dieser unbeschreiblichen Insel Ua-pu vorüber und sahen mit trüben Augen die Höhlen, Vorgebirge, Brecher, kletternden Wälder und unzugänglichen Felsspitzen über dem Gebirgsrücken. In einem dunklen Winkel unserer Erinnerung haftet dieser Anblick wie die Szenerie eines Alpdrucks. Der Abschluß dieser entsetzlichen Fahrt, die Landung unserer Passagiere, spielte sich unter ähnlich rauhen Verhältnissen ab. Die Brandung überflutete den Strand von Taahauku, das Boot legte sich breitseit und schlug um, die ganze Besatzung fiel ins Wasser. Nur der Bruder selbst, der an solche Dinge gewöhnt war, sprang, fast ohne einen Spritzer abzubekommen, mit einer geradezu wunderbaren Geschicklichkeit ans Land. Von nun ab war er während unseres Aufenthaltes in Hiva-oa unser Führer und Freund, er geleitete uns, machte Ausflüge mit uns, stand in jeder Beziehung zu unserer Verfügung und gewann täglich mehr und mehr unsere Liebe.

Michel Blanc war früher Tischler gewesen, hatte ein Vermögen gesammelt und sich zur Ruhe gesetzt im Glauben, die Arbeit seines Lebens sei getan, und hatte nur, weil er den Müßiggang als gefährlich empfand, Kapital und Fähigkeiten der Mission zur Verfügung gestellt. Er wurde ihr Tischler, Maurer, Architekt und Ingenieur, übte sich in der Bildhauerei und war berühmt wegen seiner Gartenbaukunst. Er sah aus wie ein beneidenswerter Mann, der einen Hafen gefunden hat nach des Lebens Irrfahrten und dort sicher vor Anker liegt, ging seinen Geschäften in heiterer Einfalt nach, beklagte sich nicht über Mangel an Erfolgen – im Innersten vielleicht zufrieden mit seinen Bildhauerleistungen – und war im großen Ganzen das Musterbeispiel eines Laienmissionars.

Achtes Kapitel


Der Haupthafen

Der Hafen – der Markt, die bürgerliche und religiöse Hauptstadt dieser wilden Insulaner – heißt Tai-o-hae und erstreckt sich längs der Küste einer steil abfallenden grünen Bucht von Nuka-hiva. Wir kamen mitten im Winter an, das Wetter war schwül, stürmisch und unbeständig. Bald blies der Wind böig vom Lande her durch Spalten zersplitterter Schluchten, bald kam er zwischen den der Reede vorgelagerten Inselchen von der See her. Schwere und dunkle Wolken hingen über den Berggipfeln, der Regen brauste nieder und hörte wieder auf, die Gebirgsbäche schäumten, und am nächsten Tage sahen wir die steilen Wände ringsum von Wasserfällen dicht berieselt. Den Strand entlang zieht sich eine schmale Häuserzeile der Stadt, meist weiß und eingebettet in das Laubwerk einer Allee von grünen Puraos. Ein Pier ermöglicht den Zuweg vom Meere aus über die Brandung hinweg; im Osten steht auf einem vorspringenden bebuschten Hügel das alte Fort, das jetzt Kalabuß oder Gefängnis ist; noch östlicher weht auf der Wohnung des Residenten die Fahne Frankreichs. Dicht vor dem Gefängnishügel schaukelt der kleine Regierungsschoner fast immer vor Anker, morgens um acht Glas – so ungefähr – entfaltet er die Flagge, und den Sonnenuntergang begrüßt er mit einem Musketenschuß.

Hier wohnen und teilen den Komfort eines Klubs (Billard, Absynth, eine Weltkarte in Mercators Projektion und eine der herrlichsten Veranden der Tropen) ein paar Weiße verschiedener Nationalität, meistens französische Beamte, deutsche und schottische kaufmännische Angestellte und die Agenten des Opiummonopols. Außerdem leben dort drei Gastwirte, der verschlagene Schotte, dem die Baumwollspinnerei gehört, zwei weiße Damen und eine Schar Leute » on the beach«, ein Südseeausdruck, der sich nicht genau wiedergeben läßt. Es ist eine liebenswürdige und gastfreundliche Gesellschaft. Aber ein Mann, den man oft auf den Pflöcken am Pierende sitzen sah, verdient wegen der Einzigartigkeit seines Schicksals und seiner Erscheinung ein besonderes Wort. Vor langer Zeit hatte er sich scheinbar in eine eingeborene Dame verliebt, einen weiblichen Oberhäuptling auf Ua-pu. Als er sich ihr näherte, erklärte sie, sie könne keinen nichttätowierten Mann heiraten, er sehe so nackt aus, worauf unser Held sich mit einer gewissen Seelengröße den Händen der Tahukus auslieferte und energisch ausharrte, bis der Prozeß erledigt war. Er hatte ohne Zweifel große Auslagen, denn ein Tahuku arbeitet nicht umsonst, und erduldete sicher furchtbare Qualen. Kooamua war als Oberhäuptling der alten Schule nur teilweise tätowiert, er konnte, wie er uns lebhaft gestikulierend erzählte, die Tortur nicht bis zu Ende ertragen, unser verliebter Landsmann besaß stärkere Willenskraft, er wurde vom Kopf bis zu den Füßen nach der allerbesten Methode tätowiert und stellte sich schließlich seiner Herzensdame als neuer Mensch vor. Die wankelmütige Schöne konnte ihn von diesem Tage an nur noch mit leisem Gelächter betrachten. Ich aber sah den Mann nicht ohne Bewunderung an, von ihm, wenn überhaupt von jemand, durfte man behaupten, daß er nicht aus Berechnung, sondern blindlings geliebt hatte.

Das Haus des Residenten steht allein, der Gefängnishügel trennt es vom Saume der Stadt an der vorderen Bucht. Es ist bequem und hat große Veranden, den ganzen Tag steht es hinten und vorn offen, und der Passatwind bläst frei über die kahlen Fußböden. An Wochentagen bietet der Garten ein Bild gänzlich untropischer Belebtheit, ein halbes Dutzend Sträflinge arbeiten heiter mit Spaten und Schiebkarren, ziehen den Hut und lächeln den Besucher wie altvertraute Diener der Familie an. Sonntags sind sie verschwunden, und man sieht nur Hunde aller Rassen und Größen friedlich auf schattigen Plätzen schlummern, denn die Hunde von Tai-o-hae sind sehr höfisch veranlagt und machen den Regierungssitz zum Schauplatz ihrer Spaziergänge und Mittagsruhe. Vor und hinter dem Hause verliert sich ein grüner Rasenstreifen in einen niedrigen Wald von Akazien vieler Spielarten, und tief im Walde umschließt eine verfallene Mauer den Friedhof der Europäer. Engländer und Schotten schlafen dort, Skandinavier, französische Soldaten und Handwerker, fremdem Staube vermischt. Tief in den Wäldern singt die Drossel oder, wie man sie hier nennt, die Inselnachtigall heimatliche Lieder, und das ewige Requiem der Brandung tönt herüber. Ich habe niemals einen ruhigeren Friedhof gesehen, aber die Gedanken wanderten weithin zu den Plätzen, von denen die Schläfer gekommen, und zu den vielen Heimatländern, von denen sie aufgebrochen waren, um schließlich hier beieinander zu ruhen.

Auf der Höhe des Vorgebirges steht das Gefängnis, den ganzen Tag sind Türen und Fensterläden dem Passatwind geöffnet. Bei meinem ersten Besuch war ein Hund der einzige sichtbare Wächter. Er erhob sich allerdings so drohend, daß ich froh war, einen alten Faßreifen ergreifen zu können, und ich vermute, die Waffe war ihm schon bekannt, denn der Held zog sich sofort zurück, und als ich um den Hof herum und durch das Gebäude wanderte, sah ich ihn mit einer Anzahl Genossen demütig um die Ecken nachschleichen. Der Schlafraum der Gefangenen war ein weiter, luftiger Raum, ohne alle Möbel, die weiß getünchten Wände bedeckt mit marquesanischen Inschriften und unbeholfenen Zeichnungen: eine vom Pier, nicht schlecht gemacht, eine stellte einen Mord dar, mehrere andere französische Soldaten in Uniform. Eine französische Inschrift lautete: » Je n’est (sic!) pas le sou.« Aus dieser Mittagsstille darf man nicht schließen, daß das Gefängnis unbewohnt war, der Kalabuß von Tai-o-hae ist gut besetzt. Aber einige Insassen verrichteten Gartenarbeit beim Residenten, und der Rest war wahrscheinlich beim Straßenkehren, genau so frei, wie unsere Straßenfeger, wenn auch nicht so fleißig. Beim Hereinbrechen der Dunkelheit rief man sie wie Kinder vom Spielen, und der Hafenmeister – auch ein Zuchthäusler – schloß sie der Form wegen bis sechs Uhr morgens ein. Hatte ein Gefangener irgendeine Verabredung in der Stadt, geschäftlich oder zum Vergnügen, so brauchte er nur die Fensterläden auszuhängen und bei der Rückkehr sorgsam wieder einzusetzen, vor dem Morgenappell. Traf er dabei den Hafenmeister auf der Straße, so gab es keine Beschwerde und noch weniger Strafe. Aber das ist noch nicht alles. Der liebenswürdige französische Resident, M. Delaruelle, führte mich eines Tages gelegentlich eines amtlichen Besuches in das Gefängnis. Auf dem grünen Innenhof begrüßte uns lächelnd ein recht zerlumpter Gentleman; seine Beine waren von der Inselelephantiasis entstellt. »Einer unserer politischen Gefangenen – ein Aufständischer von Raiatea,« sagte der Resident, und dann zum Aufseher gewandt: »Ich dachte, ich hätte ihm eine neue Hose bestellt.« Inzwischen ließ sich kein anderer Gefangener blicken. »Nun,« fragte der Resident, »wo sind deine Sträflinge?« – »Herr Resident,« erwiderte der Aufseher und grüßte militärisch, »da Freitag ist, habe ich sie auf die Jagd gehen lassen.« Sie waren alle in den Bergen auf Ziegenjagd! Bald darauf kamen wir zu der Frauenabteilung, die ebenfalls verwaist war. »Wo sind unsere guten Frauen?« fragte der Resident, und der Aufseher antwortete heiter: »Ich glaube, Herr Resident, sie machen irgendwo einen Besuch.« M. Delaruelle, der die kleinen Reize seines engen Reiches liebt, hatte die Absicht, mir irgend etwas Komisches zu zeigen, aber selbst er hatte es in solcher Vollendung nicht erwartet. Um das Bild des Gefangenenlebens in Tai-o-hae zu vervollständigen, muß noch hinzugefügt werden, daß diese Verbrecher genau wie der Präsident der Republik einen regelmäßigen Gehalt beziehen. Zehn Sous täglich sind ihr Lohn. Sie haben also Geld, Nahrung, Obdach, Kleidung, und ich hätte fast geschrieben: ihre Freiheit. Die Franzosen sind sicher ein gutmütiges Volk und sanfte Herren, sie sind außerdem geneigt, die Marquesaner mit humorvoller Nachsicht zu behandeln. »Sie sterben aus, die armen Teufel!« sagte M. Delaruelle, »die Hauptsache ist, sie in Frieden sterben zu lassen.« Das war nicht nur gut gesagt, sondern auch die allgemeine Ansicht, wie ich glaube. Aber ein anderer Gesichtspunkt darf nicht vergessen werden: diese Gefangenen sind für die französische Verwaltung nicht nur nützlich, sondern wesentlich. Bei einem Volk, das unheilbar faul ist, entnervt durch Zustände, die sich nur als eingewurzelte Seuchen bezeichnen lassen, von Haß entflammt gegen die neuen Herren, sind Verbrechen und Zuchthausarbeit für die Regierung Gottesgaben.

Diebstahl ist tatsächlich das einzige Verbrechen. Früher Gelegenheitsbetrüger, beginnen die Leute von Tai-o-hae jetzt damit, Schlösser zu öffnen und Geldschränke zu knacken. Hunderte von Dollars sind manchmal geraubt worden, obgleich der marquesanische Einbrecher in seiner gewinnenden Mäßigung, die allen polynesischen Dieben eigen ist, immer nur etwas nimmt und das andere liegen läßt, um mit dem Besitzer gewissermaßen zu teilen. Erbeutet er chilenisches Hartgeld – die Inselwährung –, so erwischt man ihn nicht; nimmt er aber Gold, französisches Silber oder Banknoten, so wartet die Polizei, bis das Gold in Umlauf kommt, und macht ihren Mann bald dingfest. Und nun folgt eine Schändlichkeit. Offen gesagt wird der Gefangene so lange gepeinigt, bis er bekennt und, wenn es möglich ist, das Geld zurückgibt. Den Marquesaner Tag und Nacht in stockfinsterer Höhle in Einzelhaft zu halten, bedeutet für ihn unaussprechliche Qual. Selbst seine Räubereien führt er bei hellem Tageslicht aus, unter blauem Himmel, gereizt vom Außergewöhnlichen, stets mit einem Komplizen. Die Furcht vor der Finsternis ist immer noch unüberwindlich. Man begreift also, was er in seinem einsamen Loch erduldet, daß er sich sehnt, ein Bekenntnis abzulegen, ein vollgültiger Sträfling zu werden und neben den Kameraden zu schlafen. Während wir in Tai-o-hae weilten, befand sich ein Dieb in Untersuchungshaft. Er war gegen acht Uhr morgens in ein Haus eingedrungen, hatte den Geldschrank erbrochen und elfhundert Franken gestohlen, und nun, unter dem Schrecken der Finsternis, der Einsamkeit und einer mit Teufeln angefüllten Kannibalenphantasie, bekannte er zögernd und gab seine Beute preis. In einem Versteck, das er bereits angegeben hatte, waren dreihundert Franken gefunden worden, und man hoffte, er werde den Rest bald herausrücken. Das wäre schon häßlich genug, wenn es alles wäre, aber ich bin verpflichtet zu sagen, daß mir fortwährend Schlimmeres angedeutet wurde – Dinge, die die französische Regierung beseitigen sollte. Ich hörte, daß ein Mann sechs Tage hindurch festgehalten wurde, die Arme rückwärts an eine Tonne gebunden, und allgemein wird berichtet, daß jeder Gendarm in der Südsee eine Art Daumenschraube mit sich führt. Ich besaß nie den Mut, einen dieser Gendarmen – liebenswürdige, kluge und höfliche Menschen –, mit denen ich befreundet war, und deren Gastfreundschaft ich genoß, zu befragen; und vielleicht beruht die Erzählung, wie ich hoffe, auf einer Verwechslung mit der vorzüglichen Fessel, durch die der französische Polizeiagent die Gefangenen so leicht beherrscht, aber Torturen, körperliche oder geistige, werden bestimmt angewandt, und barbarische Ungerechtigkeit macht den Anklagezustand, in den auch ein Unschuldiger geraten kann, tatsächlich zur Qual, während der Strafvollzug, der ja nur Schuldige treffen soll, verhältnismäßig milde und tatsächlich angenehm ist. Was vielleicht noch schlimmer ist: nicht nur der Angeklagte, sondern manchmal auch seine Frau, seine Geliebte oder sein Freund werden denselben Qualen ausgesetzt. Ich bewunderte im Tabusystem die Schlauheit eingeborener Kriminalistik –, an der französischen Methode ist nicht viel zu bewundern. Ein furchtsames Kind in einen finstern Raum einzusperren und, wenn es hartnäckig leugnet, die Schwester in den nächsten, ist weder erfinderisch noch human.

Die Hauptveranlassung zu diesen Diebereien ist das neue Laster des Opiumessens. »Hier arbeitet niemand, und alle essen Opium«, sagte ein Gendarm, und Ah Fu kannte eine Frau, die täglich für einen Dollar verzehrte. Der erfolgreiche Dieb schenkt jedem seiner Freunde eine Handvoll Geld, seinem Weibe ein Kleid, verbringt einen Abend in einer Kneipe von Tai-o-hae, wo er alle Gäste freihält, verschafft sich ein großes Stück Opium und verschwindet im Busch, um es aufzuessen und den Rausch auszuschlafen. Ein Händler, der kein Opium führte, gestand mir, daß er sich nicht mehr zu helfen wisse. »Ich verkaufe nichts, aber die andern tun es,« sagte er, »die Eingeborenen arbeiten nur, um Opium zu kaufen; wenn sie zu mir kommen, um ihre Baumwolle zu verkaufen, müssen sie zu einem andern gehen, um es mit meinem Gelde einzuhandeln. Warum also sich die Mühe zweier Wege machen?« »Man kann sagen, was man will,« fügte er hinzu, »Opium ist das Zahlungsmittel hierzulande.«

Der Mann, der sich damals in Tai-o-hae in Untersuchungshaft befand, verlor die Geduld, als der chinesische Opiumhändler in seiner Gegenwart verhört wurde. »Selbstverständlich hat er mir Opium verkauft!« schrie er, »alle Chinesen hier verkaufen Opium; nur um Opium zu kaufen, habe ich gestohlen, nur um Opium zu kaufen, stiehlt überhaupt jemand. Sie sollten kein Opium hierherkommen lassen und keinen Chinesen!« Eben das führt die Eingeborenenregierung von Samoa durch, aber die Franzosen haben sich selbst die Hände gebunden und für vierzigtausend Franken ihre farbigen Untertanen dem Verbrechen und dem Tode ausgeliefert. Dieser entsetzliche Handel ist gewissermaßen durch Zufall entstanden. Hauptmann Hart hatte das Unglück, unbewußt der Anstifter zu sein, denn als seine Pflanzungen auf den Marquesas in Blüte standen, hatte er Schwierigkeiten, die chinesischen Kulis zu halten. Heute sind die Pflanzungen fast verödet, die Chinesen sind fort, aber inzwischen haben die Eingeborenen das Laster erlernt, die Handelserlaubnis bringt eine runde Summe ein, und die geldbedürftige Regierung in Papeete schließt die Augen und öffnet die Taschen. Allerdings hat der Händler nur die Erlaubnis an Chinesen zu verkaufen, aber anderseits kann natürlich niemand vierzigtausend Franken zahlen für das Privileg, eine Handvoll zerstreut lebender Chinesen zu versorgen, und jeder kennt die Wahrheit und schämt sich ihrer. Französische Beamte schütteln den Kopf, wenn man den Namen Opium erwähnt, und die Agenten der Farmer erröten über ihre Mittlertätigkeit. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen; als Untertan der britischen Krone bin ich unfreiwilliger Teilhaber am größten Opiumgeschäft unter dem Himmel. Aber der britische Fall liegt sehr schwierig, es handelt sich um den Lebensunterhalt von Millionen, und Reformen müssen mit Klugheit vorgenommen werden, wenn es überhaupt möglich ist, sie durchzuführen. Dies französische Geschäft aber ist eine Bagatelle und nichts als ein Auswuchs. Man wollte keine einheimische Industrie beleben, sondern das Gift wurde feierlich eingeführt. Keine Eingeborenensitte war zu berücksichtigen, sondern das Laster wurde willkürlich hierher verpflanzt. Kein Mensch hat einen Vorteil, außer der Negierung in Papeete, den wenig beneidenswerten Gentlemen, die ihr das Geld geben, und den chinesischen Schurken, die das schmutzige Geschäft betreiben.

Siebentes Kapitel


Der König von Apemama

So gehorcht alles auf der Insel, selbst die Priester der Götter, dem Worte Tembinok’s. Er kann geben und nehmen, er kann töten und die Bedenken der Gewissenhaften zerstreuen, er kann offenbar alle Dinge tun, abgesehen von einer Einmischung in die Zubereitungsart einer Schildkröte. »Ich Macht haben!« ist sein Lieblingsspruch, er kehrt in seinen Reden immer wieder, der Gedanke verfolgt ihn und ist immer wieder neu, und wenn er Fragen stellt und nachdenkt über ferne Länder, blickt er lächelnd auf und erinnert daran: »Ich Macht haben!« Aber nicht der Besitz der Macht allein erfreut ihn, sondern die Anwendung, die krummen Pfade und die Gewalttätigkeit des Königsberufes entzücken ihn wie einen starken Mann ein Wettrennen oder wie einen Künstler seine Kunst. Seine Macht zu fühlen und sie zu gebrauchen, die Insel und das Bild des Insellebens nach seinem eigensten Ideal zu verschönen, die Einwohner kräftig zu schröpfen, sein einzigartiges Museum auszugestalten: das alles beschäftigt die Summe seiner Fähigkeiten und erfreut ihn. Niemals sah ich einen Menschen, der sich zu seinem Beruf vollkommener eignete.

Man sollte vermuten, daß sich diese Monarchie durch Generationen uneingeschränkt vererbt habe, aber das Gegenteil ist der Fall: sie stammt von gestern. Ich war schon ein Schulknabe, als Apemama noch republikanisch war, beherrscht von dem lärmenden Rat der Altmänner, von unaufhörlichen Fehden beunruhigt. Und Tembinok‘ ist kein Bourbone, eher der Sohn eines Napoleon. Selbstverständlich entstammt er einer alten Familie. Niemand kann auf den Inseln des Pazifischen Ozeans hohen Zielen nachjagen, wenn sein Stammbaum nicht alt und in den höheren Regionen sogar mythisch ist. Unser König zählt Verwandte in fast allen größeren Familien des Archipels und führt seine Abstammung zurück auf einen Hai und eine heldenhafte Frau. Von einem Orakel geleitet, schwamm sie ins Meer hinaus, außer Sicht, um sich mit ihrem furchtbaren Liebhaber zu treffen, und empfing auf See den Samen einer Familie, die zu großen Dingen bestimmt sein sollte. »Ich denken, Lüge«, so lautet des Königs lebhafter Kommentar, aber er ist stolz auf die Legende. Von diesem großartigen Beginn an muß das Glück der Sippe allmählich gesunken sein, und Tenkoriti, der Großvater Tembinok’s, war Häuptling eines Dorfes im Norden der Insel. Kuria und Aranuka waren noch unabhängig, Apemama selbst der Schauplatz verheerender Fehden. Durch diese unruhige Zeit der Geschichte schreitet denkwürdig die Gestalt Tenkoritis. Im Kriege war er rasch entschlossen und blutdürstig, mehrere Städte verfielen seinen Speeren, und die Eingeborenen wurden bis auf den letzten Mann hingeschlachtet. Im Privatleben war seine Arroganz unerhört. Wenn der Rat der Altmänner versammelt war, ging er zum Sprechhaus, tat seine Ansicht kund und ging fort, ohne die Antwort abzuwarten. Die Weisheit hatte gesprochen: mochten die anderen in ihrer Torheit denken, was sie wollten. Er war gefürchtet und gehaßt, und das bereitete ihm Vergnügen. Er war kein Dichter, er kümmerte sich nicht um Kunst und Wissenschaft. »Mein Großvater wissen eine Sache, wissen Kampf«, sagte der König. Als ihre eigenen Händel eine Weile schliefen, beschlossen die Altmänner von Apemama, sich die ganze Insel zu unterwerfen, und dieser rauhe Cajus Marius wurde zum General der vereinigten Truppen erwählt. Ihm war Erfolg beschieden, die Inseln wurden erobert, und Tenkoriti kehrte siegreich und verhaßt zu seiner eigenen Regierung zurück. Er starb 1860 im siebzigsten Jahre seines Lebens und in der Vollblüte seiner Unbeliebtheit. Er war groß und hager, so erzählt sein Enkel, sah außerordentlich bejahrt aus, aber »gehen wie junger Mann«. Derselbe Augenzeuge berichtete mir eine sehr bezeichnende Tatsache. Die überlebenden jener wilden Zeit waren alle von Speernarben entstellt – am Körper dieses hervorragenden Kämpfers war keine. »Ich alten Mann gesehen, haben kein Speer«, sagte der König. Tenkoriti hinterließ zwei Söhne, Tembaitake und Tembinatake. Tembaitake, der Vater unseres Königs, war klein, ziemlich dick, ein Dichter, ein guter Genealoge und auch ein einigermaßen guter Kämpfer. Es scheint, daß er sich selbst ernst nahm und vielleicht kaum wußte, daß er in jeder Beziehung geschröpft wurde und Spielball seines Bruders war. Zwischen beiden war nicht der Schatten eines Zwistes: der größere Mann füllte heiter und zufrieden den zweiten Platz aus, stand im Kriege an der Spitze und verwaltete im Frieden alle Hauptämter. Wenn sein Bruder ihn tadelte, hörte er zu und blickte schweigend zu Boden. Gleich Tenkoriti war er groß und hager und ein geschickter Sprecher – eine seltene Gabe auf den Inseln. Er war in jeder Beziehung durchgebildet, verstand die Zauberei, war der beste Stammbaumkenner seiner Zeit, war Dichter, konnte tanzen, Kanus und Waffen anfertigen, und der berühmteste Mast von Apemama, der um einen Baum höher ist als der Hauptmast eines Vollschiffes, ist von ihm geplant und entworfen. »Mein Onkel, wenn machen Krieg, er lachen«, sagte Tembinok‘. Er verbot die Anwendung von Feldbefestigungen, die die Streitigkeiten unter den Eingeborenen verlängerten; seine Leute mußten in offener Feldschlacht kämpfen und sofort gewinnen oder verlieren. Seine eigene Kühnheit trieb seine Gefolgschaft an, und die Schnelligkeit seiner Angriffe schlug innerhalb eines Menschenalters den Widerstand dreier Inseln nieder. Er machte seinen Bruder zum Herrscher und ließ seinen Neffen als Diktator zurück. »Mein Onkel alles glattmachen,« sagte Tembinok‘, »ich mehr König als mein Vata, ich Macht haben!« fügte er mit entsetzlicher Genugtuung hinzu.

Das ist das Porträt des Onkels, wie der Neffe es zeichnete. Ich kann ihm ein anderes entgegenstellen, das von einem anderen Künstler stammt, der mich oft – ich kann wohl sagen immer – durch die romantische Art seiner Erzählungen, aber nicht immer – und ich kann sagen, nicht oft – durch Zuverlässigkeit entzückte. Ich habe mir bereits die Wiedergabe so mancher höchst interessanter Einzelheit, die auf dieselbe Quelle zurückgeht, versagt, daß es vielleicht an der Zeit ist, mein gutes Benehmen zu belohnen. Sein Bericht über Tembinatake stimmt mit dem des Königs so genau überein, daß er, wie ich hoffe, den Tatsachen entspricht und nicht, wie ich argwöhne, ein heiteres Spinnen von Seemannsgarn ist. A., denn so will ich ihn lieber nennen, ging auf der Insel nach Hereinbruch der Dämmerung spazieren, als er zu einem hell erleuchteten, ziemlich großen Dorf kam, zum Hause des Häuptlings geführt wurde und bat, verweilen und eine Pfeife rauchen zu dürfen. »Du dich setzen, eine Pfeife rauchen und waschen und essen und schlafen,« erwiderte der Häuptling, »und morgen du wieder gehen«. Speisen wurden gebracht, Gebete wurden gesprochen – denn es war in den kurzen Tagen des Christentums –, und der Häuptling selbst betete mit beredten Worten und offenbarem Ernst. Den ganzen Abend saß A. am Feuer und bewunderte den Mann. Er war sechs Fuß hoch, hager, schien sehr alt zu sein und hatte das Aussehen eines Mannes von außergewöhnlicher Rassigkeit und Geisteskraft. »Er sah aus wie ein Mann, der lachend töten könnte«, sagte A. in bemerkenswerter Übereinstimmung mit den Aussagen des Königs. Und weiter: »Ich hatte gerade das Buch von den Drei Musketieren gelesen, und er erinnerte mich an Aramis.« Das ist das Porträt Tembinatakes, wie es ein erfahrener Romancier entwirft.

Wir hatten viele Geschichten gehört von »mein Vata«, niemals ein Wort von »mein Onkel«, bis zwei Tage bevor wir die Insel verließen. Als die Zeit unserer Abreise herankam, änderte sich Tembinok‘ außerordentlich. Ein sanfterer, melancholischerer und besonders ein vertrauensseligerer Mann zeigte sich statt seiner. Meiner Frau versuchte er mit größter Deutlichkeit klarzumachen, daß er zwar gewußt habe, er müsse seinen Vater nach dem natürlichen Lauf der Dinge verlieren, daß er es aber nicht bedacht und wirklich empfunden habe, bevor der Augenblick wirklich gekommen sei, und daß er jetzt diese Erfahrung von neuem mache, da er uns verlieren solle. Eines Abends machten wir Feuerwerk auf der Terrasse. Es war eine traurige Angelegenheit, das Vorgefühl der Trennung lag auf allen Gemütern, das Gespräch stockte. Der König war besonders mitgenommen, er saß trostlos auf seiner Matte und seufzte oft. Plötzlich kam eine seiner Frauen aus dem Dunkel hervor, kam näher und küßte ihn schweigend, um schweigend wieder zurückzugehen. Es war eine Liebkosung, wie man sie etwa einem traurigen Kind zuteil werden läßt, und der König nahm sie entgegen mit kindlicher Einfalt. Bald darauf wünschten wir gute Nacht und zogen uns zurück, aber Tembinok‘ hielt Mr. Osbourne fest, klopfte auf die Matte an seiner Seite und sagte: »Euch setzen, ich schlecht fühlen, ich sprechen wollen.« Osbourne setzte sich zu ihm. »Ihr wollen Bier?« sagte er, und eine der Frauen brachte eine Flasche. Der König trank nicht mit, sondern saß seufzend und eine Meerschaumpfeife rauchend da. »Ich sehr traurig, ihr gehen«, sagte er schließlich. »Miß Stevens er guter Mann, Frau er guter Mann, Diener er guter Mann. Frau er geschickt wie Mann. Meine Frau« – er sah zu seinen Frauen hinüber – »er gute Frau, nicht sehr geschickt. Ich glauben, Miß Stevens er großer Häuptling wie Käpp’n von Kriegsschiff. Ich glauben Miß Stevens er reicher Mann wie ich. Alle gehen Schoner. Ich sehr traurig. Mein Vata, er gehen, mein Onkel, er gehen, meine Vetter er gehen, Miß Stevens er gehen: alle gehen. Ihr nicht sehen vorher König weinen. König doch Mann: schlecht fühlen, er weinen. Ich sehr traurig.«

Am nächsten Morgen lief das Gerücht durch das ganze Dorf, der König habe geweint. Zu mir sagte er: »Gestern abend ich nicht können sprechen: zuviel hier!« und er legte die Hand auf seine Brust. »Nun Ihr gehen weg wie meine Familie. Meine Brüder, mein Onkel gehen weg. Ganz dasselbe.« Er sagte das mit einer leidenschaftlichen Niedergeschlagenheit. Und zum erstenmal hörte ich ihn nun seinen Onkel erwähnen oder überhaupt das Wort gebrauchen. Am selben Tage sandte er mir als Geschenk zwei Brustschilder, nach Inselart hergestellt aus geflochtenen Fasern, schwer und stark. Eins hatte Tenkoriti und das andere Tembaitake getragen, und da die Gabe dankend angenommen wurde, sandte er mir nach Rückkehr seiner Boten ein drittes, das Tembinatakes. Meine Neugier wurde rege, ich bat um Aufklärung über die drei Träger, und der König erzählte wohlgefällig die schon berichteten Einzelheiten. Sonderbar war es, daß er, der soviel von seiner Familie erzählt hatte, bisher niemals den Verwandten erwähnt hatte, auf den er offenbar am stolzesten war. Ja, noch mehr: er hatte sich bisher seines Vaters gerühmt, von nun an hatte er aber wenig über ihn zu sagen, und die Eigenschaften, derentwegen er ihn in der Vergangenheit gepriesen hatte, wurden nun dem zugeschrieben, der sie wirklich besessen hatte – dem Onkel. Unter Insulanern, die alle Söhne ihres Großvaters mit demselben Namen »Vater« bezeichnen, kann natürlich leicht Verwirrung entstehen. Bei Tembinok‘ war das aber nicht der Fall. Das Eis war jetzt gebrochen, das Wort Onkel war ununterbrochen in seinem Munde, er, der die beiden stets absichtlich verwechselt hatte, unterschied jetzt sehr sorgfältig. So wurde aus dem Vater allmählich ein selbstgefälliger, gewöhnlicher Mann, während der Onkel zu seiner wahren Größe heranwuchs als Held und Gründer des Geschlechts.

Je mehr ich hörte, und je eingehender ich nachdachte, desto mehr schien mir das Benehmen Tembinok’s rätselhaft und interessant. Und als die Erklärung kam, war sie so eigenartig, daß sie die Phantasie eines Dramatikers reizen konnte. Tembinok‘ hatte zwei Brüder. Einer wurde bei einem privaten Handelsgeschäft überrascht und verbannt, dann begnadigt und lebt bis heute auf der Insel. Er ist der Vater des Thronfolgers Paul. Der andere machte sich so schuldig, daß er keine Vergebung erlangen konnte. Ich hörte, es sei eine Liebesgeschichte gewesen mit einer der Frauen des Königs, und die Sache ist in diesem romantischen Archipel höchstwahrscheinlich richtig. Man versuchte einen Krieg anzuzetteln, aber Tembinok‘ war zu rasch für die Rebellen, und der schuldige Bruder floh in einem Kanu. Er ging nicht allein. Tembinatake war in die Verschwörung verwickelt, und der Mann, der für einen schwächlichen Bruder ein Königreich errichtet hatte, wurde vom Sohn dieses Bruders verbannt. Die Flüchtlinge landeten an den Küsten anderer Inseln, aber Tembinok‘ weiß bis heute nichts von ihrem Schicksal.

Soweit geht die Geschichte. Und nun wollen wir versuchen, zu kombinieren. Tembinok‘ verwechselte nicht nur regelmäßig die Titel und Verdienste seines Vaters und seines Onkels, sondern auch ihre verschiedene persönliche Erscheinung. Bevor er Tembinatake jemals erwähnt hatte oder daran dachte, ihn zu erwähnen, hatte er mir oft von einem großen, hageren Vater erzählt, der kriegstüchtig und sein eigener Lehrmeister in der Geschlechterkunde und den Inselkünsten war. Sollten vielleicht beide seine Väter gewesen sein, der eine der natürliche und der andere der Adoptivvater? Sollte der Erbe Tembaitakes, genau wie der Erbe von Tembinok‘ selbst, nicht ein Sohn, sondern ein Adoptivneffe sein? Sollte der Gründer der Monarchie, als er für seine Brüder arbeitete, gleichzeitig für das Kind seiner Lenden gewirkt haben? Sollten beim Tode Tembaitakes die zwei stärkeren Naturen, Vater und Sohn, König und Königmacher, zusammengeprallt sein, und sollte Tembinok‘, als er den Onkel vertrieb, den Urheber seines Daseins vertrieben haben? Hier ist vielleicht eine Tragödie von ungeheurer Größe.

Der König fuhr uns in seinem eigenen Boot an Bord, feierlich bekleidet mit der Marineuniform, er hatte wenig zu sagen, wies Erfrischungen zurück, schüttelte uns kurz die Hand und fuhr wieder an Land. In jener Nacht waren die Palmgipfel von Apemama hinter dem Meere untergetaucht, und der Schoner segelte einsam unter den Sternen.

Drittes Kapitel


Der Verbannte

Über die Schönheiten von Anaho könnte man Bände schreiben. Ich entsinne mich, daß ich um drei Uhr erwachte und die Luft warm und voll Wohlgeruch fand. Lange Dünung stand in der Bucht, schien sie ganz zu erfüllen und dann zurückzuweichen. Weich, tief und stumm rollte die »Casco«, nur manchmal kreischte die Kette wie ein Vogel. Seewärts strahlten die Sterne am Himmel und spiegelten sich im Wasser. Wenn ich dorthin blickte, hätte ich mit dem hawaiischen Dichter singen mögen:

Ua maomao ka lani, ua kahaea luna,
Ua pipi ka maka o ka hoku
.

(Die Himmel waren lieblich, sie dehnten sich da oben,
Zahlreich waren die Augen der Sterne.)

Und dann wandte ich mich landwärts, hohe Wolken waren über meinem Haupt, schwarz türmten sich die Berge, und es war mir, als wäre ich tausend Meilen von hier und läge vor Anker in einer Hochlandsbucht; wenn der Tag anbräche, würde ich Pinien, Heidekraut, grüne Farne und Rauchschwaden aus Torfdächern erblicken; die fremde Sprache, die gleich an mein Ohr schlagen würde, müsse gälisch, nicht kanakisch sein.

Und der Tag, als er kam, brachte andere Gesichte und Gedanken. Ich habe den Morgen anbrechen sehen in vielen Teilen der Welt: sicher eine der größten Freuden meines Daseins, und die Morgendämmerung, die ich mit höchster Bewegung betrachtete, leuchtete über der Bucht von Anaho. Die Berge hingen jäh über dem Hafen in allen erdenklichen Formen und Gestalten, grasbedeckt, zerklüftet und bewaldet, aber jeder besaß eine besondere Tönung von Saffran, Schwefel, Nelken oder Rosen. Der Glanz war wie Seide, die helleren Flecke schienen blütenhaft weich zu zerfließen, die dunkleren waren wie feierliches Erblühen. Das Licht selbst war das gewöhnliche Licht des Morgens, farblos und rein, und zeichnete auf diesem Juwelengrund alle Linien klar ab. Inzwischen verrieten rund um das Dorf unter den Palmen, wo blauer Schatten lagerte, rote Kokosfaserglut und leichte Rauchfahnen die erwachende Geschäftigkeit des Tages; am Strande kehrten Männer und Frauen, Knaben und Mädchen vom Bade zurück in strahlenden Gewändern, rot und blau und grün, wie wir sie entzückt schauten in den bunten kleinen Bilderbüchern unserer Kindheit, und bald darauf hatte die Sonne den östlichen Hügel erklommen, und der Glanz des Tages lag über allem.

Das Leuchten wuchs und mehrte sich, alle Tätigkeit hörte fast auf, ehe sie begonnen hatte. Zweimal am Tage bemerkte man eine gewisse Lebhaftigkeit der Hirten auf den Hügeln an der See. Bisweilen zog ein Kanu aus zum Fischfang. Bisweilen füllten eine oder zwei Frauen schläfrig einen Korb in der Baumwollpflanzung. Bisweilen drang Flötenton aus dem Schatten eines Hauses, spielerisch drei Töne wiederholend, in der Wirkung etwa wie » Que le your me dure«, endlos wiederholt. Oder bisweilen verständigten sich zwei Eingeborene über eine Biegung der Bucht hinweg durch das übliche Pfeifen. Sonst alles Schlaf und Schweigen. Der Gischt brandete und erglänzte rundumher am Ufer, eine Art schwarzer Kraniche fischte im seichten Wasser, die schwarzen Schweine galoppierten fortwährend umher aus irgendeinem Grunde, aber die Menschen hätten nie wieder zu erwachen brauchen oder alle tot sein können.

Mein Lieblingsversteck lag gegenüber dem Dorf, wo eine Landungsstelle war unter dem Hang einer lianenbewachsenen Klippe. Die Bucht war umsäumt von Palmen und einem » purao« genannten Baum, in der Größe zwischen Feige und Maulbeerbaum, mit Blüten wie großer gelber Mohn, in der Mitte ein kastanienbraunes Herz. An manchen Stellen schoben sich die Felsen über den Sand vor, der Strand war hier ganz überflutet, der Gischt spritzte lauwarm bis zu meinen Knien empor und spielte mit Kokosnußschalen, wie unser Ozean daheim mit Wrackstücken, Abfall und Flaschen spielt. Flutete das Wasser zurück, so strömten wunderbar farbige Dinge zwischen meinen Füßen. Griff ich nach ihnen, fehlte oder faßte sie, so hielten sie manchmal, was sie versprachen, waren Muscheln, die ein Museum oder in goldner Fassung die Hand einer Dame zieren konnten; manchmal war es nur farbiger Sand, zusammenklebende Nichtigkeiten, die getrocknet ebenso langweilig und alltäglich waren wie Kiesel auf Gartenwegen. Ich habe mich bei diesem kindischen Vergnügen stundenlang abgemüht unter der heißen Sonne, meiner unverbesserlichen Unwissenheit voll bewußt, aber zu herzhaft fröhlich, um mich zu schämen. Inzwischen flötete die Drossel oder ihre tropische Schwester im Dickicht über meinem Kopf.

Etwas weiter, an der Krümmung der Bucht, murmelte ein Bach unten in einer Grotte und fiel dann über eine Felsentreppe ins Meer. Der Luftzug drang unter dem Laubwerk bis tief in die Grotte vor, ein wahres Paradies der Kühle. Vorn öffnete sie sich auf die blaue Bucht, wo die »Casco« unter ihrem Schutze lag mit ihren fröhlichen Farben. Zu Häupten standen Puraobäume, und darüber wirbelten Palmen ihre glänzenden Fächer, wie ein Zauberer sich aus blanken Schwertern einen Heiligenschein wirkt. Denn hier strömt der Passatwind über den flachen Landstrich am Fuße des Gebirges fast immer mächtig und himmlisch kühl in die Bucht von Anaho.

Eines Tages war ich zufällig mit meiner Frau und dem Schiffskoch in dieser Grotte an Land gegangen. Abgesehen von der »Casco«, die vor uns lag, von ein oder zwei Kranichen und der immer bewegten See und dem Wind, war das Antlitz der Welt von vorgeschichtlicher Leere, das Leben schien stockstill zu stehen, und das Gefühl der Abgeschiedenheit war tief und wohltuend. Plötzlich erfaßte der Passatwind, der in einer Böe über die Landzunge strich, die Fächer der Palme oberhalb der Grotte. Und siehe da! In zwei der Kronen saß ein Eingeborener, bewegungslos wie ein Götzenbild, und beobachtete uns, sozusagen ohne mit der Wimper zu zucken. Im nächsten Augenblick schloß sich der Baum, und das Gesicht war verschwunden. Diese Entdeckung von menschlichen Seelen über unserm Kopf, während wir glaubten, allein zu sein, die Regungslosigkeit unserer Baumspione, und der Gedanke, daß wir vielleicht stets in ähnlicher Weise beobachtet wurden, wirkte ernüchternd. Unser Gespräch stockte, der Koch, dessen Gewissen nicht rein war, setzte nie wieder einen Fuß ans Land, und zweimal, als die »Casco« Gefahr lief, auf die Felsen getrieben zu werden, konnte man lachend den Arbeitseifer des Mannes beobachten, denn er glaubte, der Tod warte am Strande auf ihn. Erst auf den Gilbertinseln, über ein Jahr später, dämmerte mir die Erklärung auf: die Leute hatten Palmwein gezapft, was gesetzlich verboten ist, und als der Wind sie plötzlich verriet, waren sie ohne Zweifel stärker beunruhigt als wir.

Oben in der Schlucht lebte ein alter, melancholischer, grauhaariger Mann namens Tari (Charlie) Sarg. Er war in Oahu auf den Sandwichinseln geboren und in seiner Jugend auf amerikanischen Walfischfängern zur See gegangen, ein Umstand, dem er seinen Namen, sein Englisch, seinen östlichen Dialekt und das Unglück seines schuldlosen Lebens verdankte. Denn ein Kapitän, der von Neubedford aus in See ging, verschleppte ihn nach Nuka-hiva und setzte ihn dort unter den Kannibalen aus. Diese Tat war glatter Mord. Taris Leben muß anfangs an einem Haar gehangen haben. In der Aufregung und dem Schrecken jener Zeit ist er wahrscheinlich irrsinnig geworden, eine Krankheit, an der er noch jetzt litt. Vielleicht hat sich ein Kind in ihn verliebt und um Schonung gebeten. Jedenfalls kam er mit dem Leben davon, heiratete auf der Insel und lebte, als ich ihn kennenlernte, als Witwer mit einem verheirateten Sohn und einer Nichte. Aber die Erinnerung an Oahu verfolgte ihn, sein Lob war stets auf seinen Lippen, er sah es vor sich als Ort ewiger Feste, Gesänge und Tänze, und in seinen Träumen mag er es freudestrahlend besucht haben. Ich möchte wissen, was er empfunden hätte, wenn man ihn wirklich dorthin versetzt und ihm das moderne Honolulu mit seinem lärmenden Verkehr gezeigt hätte, den Palast mit der Wache, das große Hotel und Mr. Bergers Kapelle mit ihren Uniformen und ausländischen Instrumenten; wenn er gesehen hätte, daß die braunen Gesichter so selten und die weißen so zahlreich geworden; daß seines Vaters Land an Zuckerplantagen verkauft und sein Haus völlig verschwunden ist, oder daß vielleicht der Letzte seiner Stammesgenossen leprakrank zwischen Brandung und Klippen auf Molokai gefangengehalten wird. So schnell und so traurig ändert sich das Dasein, auch auf den Südseeinseln.

Tari war arm und wohnte elend. Sein Haus war ein Holzgerüst, von Europäern zusammengezimmert; es war tatsächlich eine Amtswohnung, denn Tari war der Schafhirt des Vorgebirges. Ich kann ein vollständiges Inventar der Hütte geben: drei Bottiche, eine Blechdose, eine eiserne Pfanne, mehrere Näpfe aus Kokosschalen, eine Laterne und drei Flaschen, die wahrscheinlich Öl enthielten, während die Kleider der Familie und ein paar Matten über die freistehenden Balken geworfen waren. Gleich beim ersten Zusammentreffen brachte der Verbannte mir Inselfreundschaft entgegen, die ohne ersichtliche Gründe entsteht, gab mir Kokosmilch zu trinken und trug mich die Schlucht hinauf, um sein Haus zu besichtigen: das einzige Gastgeschenk, das er zu bieten hatte. Er liebte den »Amelican« und den »Inglisman«, aber der »Flesman« war ihm ein Abscheu, und er erklärte uns eifrig, daß wir als »Fles«, Franzosen, seine Nüsse nicht erhalten und sein Haus nicht zu Gesicht bekommen hätten. Seinen Haß gegen die Franzosen kann ich einigermaßen verstehen, aber seine Vorliebe für die Angelsachsen keineswegs. Am folgenden Tag brachte er mir ein Schwein, und einige Tage später traf einer von uns ihn auf dem Wege, ein zweites zu bringen. Wir waren noch fremd auf den Inseln und peinlich berührt durch die Freigebigkeit des armen Menschen, die er sich schlecht leisten konnte, und machten den verständlichen, aber unverzeihlichen Fehler, das Schwein zurückzuweisen. Wäre Tari ein Marquesaner gewesen, so hätten wir ihn nie wiedergesehen, da er aber jener höchst sanfte, leidgequälte, melancholische Mann war, nahm er eine viel empfindlichere Rache. Kaum hatte das Kanu mit den neun abschiednehmenden Dorfbewohnern die »Casco« verlassen, als das Schiff von der andern Seite bestiegen wurde. Es war Tari, der so spät kam, weil er kein eigenes Kanu besaß und sich nur unter Schwierigkeiten eins borgen konnte, und allein, wie wir ihn immer sahen – weil er ein Fremdling war im Lande und der langweiligste Gesellschafter. Meine ganze Familie floh vor dem Zusammensein mit ihm, und ich mußte unseren beleidigten Freund allein empfangen. Die Unterhaltung muß beinahe eine Stunde gedauert haben, denn es war ihm unmöglich, sich loszureißen. »Du gehen weg. Ich sehen dich nicht mehr – nein, Herr!« klagte er; und dann rief er, indem er mit schmerzlicher Bewunderung um sich blickte: »Dies guter Schiff – nein Herr! – guter Schiff!« Das »Nein, Herr!« stieß er scharf durch die Nase heraus unter starker Betonung, eine Erinnerung an New Bedford und den verruchten Walfischfänger. Von diesen Bezeugungen der Trauer und des Lobes kam er sofort zurück auf das zurückgewiesene Schwein. »Ich lieben schenken wie du,« beklagte er sich, »ich nur haben Schwein, du ihn nicht nehmen!« Er sei ein armer Mann, er könne die Geschenke nicht auswählen, er habe nur ein Schwein, wiederholte er, und ich habe es zurückgewiesen! Ich bin selten bedrückter gewesen, als da ich ihn so vor mir sitzen sah, alt, grau, hart geprüft, schmerzlich bewegt, und die Beleidigung immer deutlicher begriff, die ich ihm unschuldigerweise zugefügt hatte, aber es war einer jener Fälle, denen gegenüber die Sprache versagt.

Taris Sohn war heiter und lebhaft, seine Schwiegertochter – ein Mädel von sechzehn Jahren, hübsch, höflich und ernst, klüger als die meisten Frauen von Anaho – besaß leidliche französische Sprachkenntnisse, sein Enkelkind war ein winziges Geschöpfchen an ihrer Brust. Ich stieg eines Tages die Schlucht hinauf, als Tari nicht zu Hause war, und fand den Sohn bei der Arbeit, einen Sack aus Baumwolle zu knüpfen; seine Frau nährte das Kindlein. Als ich mit ihnen auf dem Fußboden saß, fragte mich das Mädchen über England aus, das ich zu beschreiben versuchte, indem ich die Pfanne und die Kokosschalen aufeinandertürmte, um Häuser darzustellen. Ich erzählte ihnen, so gut es möglich war, durch Worte und Gesten, von der Übervölkerung, dem Hunger und der ewigen Arbeitshast. » Pas de cocotiers? pas de popoi?« fragte sie. Ich erzählte ihr, es sei dort zu kalt, und suchte es ihr durch allerlei Mimik klarzumachen, indem ich so tat, als ob ich die Zugluft absperrte und mich über ein Phantasiefeuer beugte, damit sie mich verstände. Aber sie begriff mich sofort, sagte, das müsse schlimm sein für die Gesundheit, und saß eine Weile in ernstes Nachsinnen versunken über diese traurigen Zustände. Ich bin sicher, daß ihr Mitleid sich regte, denn ein anderer Gedanke, der stets in jeder marquesanischen Brust herrscht, regte sich in ihr. Mit traurigem Lächeln sah sie mich aus melancholischen Augen an und beklagte den Verfall ihres eigenen Volkes. » Ici pas de Canaques«, sagte sie, und reichte mir das Baby von ihrer Brust mit beiden Händen her. » Tenez – ein winziges Baby wie dies und dann tot. Alle Kanaken sterben. Dann keine mehr.« Das Lächeln und die Art, mit der diese jugendliche Mutter ihr eigenes überzartes Fleisch und Blut als lebenden Beweis darbot, berührte mich sonderbar: beides bewies stille Verzweiflung. Inzwischen arbeitete der Gatte lächelnd an seinem Sack, und das nichtsahnende Kindlein griff kriechend nach einem Topf mit Himbeermarmelade, den ich als Freundschaftsgabe soeben die Schlucht heraufgetragen hatte. Und im Ausblick auf die Jahrhunderte sah ich ihr Schicksal als das unsere, ich sah den Tod wie eine Flutwelle herankommen, den Tag schon bestimmt, da es kein »Beretani« mehr geben würde, überhaupt niemand mehr von irgendeiner Rasse und – was mich besonders anging – keine Literatur mehr und keine Leser.

Viertes Kapitel


Tod

Der Gedanke an den Tod beherrscht, wie gesagt, die Seele der Marquesaner. Es wäre sonderbar, wenn es anders wäre. Die Rasse ist vielleicht die schönste auf Erden. Sechs Fuß ist die mittlere Größe der Männer, sie haben starke Muskeln, kein Fett, sind flink in der Bewegung, graziös in der Ruhe; und die Frauen, obwohl dicker und langweiliger, sind doch edle Tiere. Dem Augenschein nach gibt es keine lebenstüchtigere Rasse, und doch hält der Tod seine Ernte mit beiden Händen. Als Bischof Dordillan zum erstenmal nach Tai-o-hae kam, schätzte er die Eingeborenen auf mehrere Tausend, aber gleich nach seinem Tode zählte Stanislao Moanatini in derselben Bucht acht seßhafte Insulaner. Oder man nehme das Tal von Hapaa, das den Lesern von Herman Melville unter der grotesk falschen Bezeichnung Hapar bekannt ist. Es gibt nur zwei Schriftsteller, die einigermaßen klug über die Südsee geschrieben haben: Melville und Charles Warren Stoddard, und bei der Taufe des ersten und größten müssen einige einflußreiche Feen schlecht behandelt worden sein. »Er soll sehen können, er soll erzählen können, er soll entzücken können,« sagten die freundlichen Patinnen, »aber er soll nicht hören können!« rief die letzte aus. Der Stamm der Hapaa soll vierhundert Seelen gezählt haben, als die Blattern kamen und ihn um ein Viertel verkleinerten. Sechs Monate später wurde eine Frau tuberkulös, und in weniger als einem Jahr flohen die letzten beiden Überlebenden, ein Mann und eine Frau, aus der plötzlich entstandenen Einsamkeit. Ein ähnliches Paar wird vielleicht eines Tages unter neuen Rassen dahinsiechen als tragisches Überbleibsel der Großbritannier. Als ich diese Geschichte zuerst hörte, machten mich die Zeitangaben stutzig, aber ich bin jetzt geneigt, sie für richtig zu halten. Zu Anfang meines Besuches zum Beispiel, oder im Spätjahr vorher, tauchte ein Fall von Phthisis in einer Hausgemeinschaft von siebzehn Personen auf, und im August, als man mir davon berichtete, lebte nur noch ein Knabe, der auf einer auswärtigen Schule gewesen war. Die Entvölkerung hat zwei Ursachen: die Tore des Todes stehen weit offen, und die Tore der Geburten sind fast geschlossen. So verzeichnete man im ersten Halbjahr 1888 zwölf Todesfälle und nur eine Geburt im Distrikt von Hatiheu. Sieben oder acht weitere Todesfälle waren nach menschlichem Ermessen noch zu erwarten, und Mr. Aussel, der diensthabende Gendarm, wußte nur von einer bevorstehenden Geburt. Unter solchen Umständen ist die Abnahme der Bevölkerung von sechshundert auf vierhundert im Laufe von vierzig Jahren nicht verwunderlich, Ziffern, die nach den Angaben von Mr. Aussel richtig geschätzt sind. Und das Tempo des Verfalls muß sich zum Schluß noch vergrößert haben.

Auf dem Landwege von Anaho nach Hatiheu an der nächsten Bucht kann man sich von der Entvölkerung ein richtiges Bild machen. Der Weg ist gut gangbar, aber grausam steil. Wir schienen an dem verlassenen höchsten Haus von Anaho soeben erst vorüber zu sein, als wir auch schon erstaunt auf das Dach blickten; die »Casco«, weit draußen in der Bucht, stark rollend, schrumpfte sichtbar zusammen, und bald sah man Ua-huna durch ein Loch der Landzunge von Tari wie eine Wolke am Horizont schweben. Jenseits des Gipfels, wo der Wind sehr kalt wehte, durch die schilfartigen Gräser pfiff und den Grasbehang des Pandanus zerzauste, gelangten wir plötzlich wie durch ein Tor in das nächste Tal und zur Bucht von Hatiheu. Ein Gebirgsmassiv umschließt das Tal von drei Seiten. Auf der vierten ist dies Bollwerk zersprengt zu Ruinen, stürzt abwärts zur See in steilen und zerklüfteten Felsblöcken und bildet so die einzige wegbare Bresche zu der blauen Bucht. Das Innere dieses Tales ist dicht bewachsen mit lieblichen und wertvollen Bäumen: Orangen, Brotfrucht, Mumienäpfeln, Kokospalmen, der Inselwallnuß und, an Stelle von Unkraut, mit Pinien und Bananen. Vier nie versiegende Flüsse halten es feucht und grün, und an den Ufern des einen und dann des andern führt der Weg ziemlich weit hinab in dies glückliche Tal. Der Sang der Wasser und der vertraute Anblick zerstreuter Felsblöcke erinnerte uns lebhaft an die Heimat, aber der Eindruck wurde, ehe wir ihn recht genossen, wieder zerstört durch das tropische Laubwerk, den sonderbaren Wuchs des Pandanus, die Säulenstämme der Banyan, die im Busch galoppierenden schwarzen Schweine und die Architektur der Eingeborenenhäuser.

Die Häuser auf der Hatiheuseite begannen hoch oben, noch höher aber der traurige Anblick verlassener Plattformen. Wenn ein Eingeborenenhaus leer steht, verrottet der Oberbau – Pandanusstroh, Bast, wenig haltbares tropisches Holz – sehr rasch und wird durch den Wind zerstreut. Nur die Steine der Terrasse bleiben, und keine Ruine, kein Grab, kein ragender Fels und keine zerstörte Festung kann ein traurigeres Bild des Alters darbieten. Wir müssen an sechs bis acht solcher häuserloser Plattformen vorübergekommen sein. An der Hauptstraße der Insel, wo sie das Tal von Taipi durchquert, sollen sie, wie mir Mr. Osbourne erzählt, zu Dutzenden stehen, und da die Straßen lange nach dem Bau der Häuser angelegt wurden, vielleicht sogar nach der Räumung, und einfach als Linien anzusehen sind, die willkürlich durch den Busch laufen, so muß der Wald zu beiden Seiten mit diesen Überbleibseln angefüllt sein: Grabdenkmälern ganzer Familien. Solche Ruinen sind streng tabu, kein Eingeborener darf sich ihnen nähern, sie sind zu Schildwachen des Königreiches der Gräber geworden. Es könnte scheinen, als ob es sich um eine natürliche und fromme Sitte der Hunderte handelte, die von untergegangenen Tausenden übrigblieben, sie wollten den Herd der Vorfahren nicht mit Füßen treten. Ich glaube jedoch, daß die Sitte auf anderen und düstereren Vorstellungen beruht. Haus, Grab und selbst der Körper des Toten wurden von den Marquesanern stets besonders geehrt. Bis vor einiger Zeit wurde ein Leichnam bisweilen von der Familie aufbewahrt und täglich eingeölt und gesonnt, bis er allmählich nach vielen Unannehmlichkeiten zu einer Art Mumie eintrocknete. Opfergaben werden noch heute auf die Gräber gelegt. In der Verräterbucht sah Mr. Osbourne einen Mann einen Spiegel kaufen und auf das Grab seines Sohnes legen. Und der Abscheu gegen die Entweihung der Grabstätten, die bei der Anlage neuer Wege gedankenlos zerstört wurden, ist einer der Hauptgründe für den Haß der Eingeborenen gegen die Franzosen.

Der Marquesaner blickt mit Trauer dem herannahenden Aussterben seines Volkes entgegen. Der Gedanke an den Tod sitzt mit ihm zu Tisch und steht mit ihm auf vom Nachtlager, er lebt und atmet im Schatten der Sterblichkeit, furchtbar zu ertragen, und wird von der Vorstellung so niedergedrückt, daß er das Ende wie eine Erlösung betrachtet. Er versucht nicht einmal, eine Enttäuschung zu überwinden; bei einer Beleidigung, beim Abbruch seiner flüchtigen und freien Liebesbeziehungen sucht er sofort Zuflucht im Grabe. Erhängen ist augenblicklich Sitte. Ich habe von drei Leuten gehört, die sich in der ersten Hälfte des Jahres 1888 an der westlichen Grenze vor Hiva-oa erhängten, aber obwohl das die gebräuchliche Form des Selbstmordes in anderen Teilen der Südsee ist, glaube ich nicht, daß sie sich auf den Marquesas erhält. Marquesanischem Empfinden näher steht die alte Art des Vergiftens mit der Frucht der Ewa, die dem Eingeborenen einen grausamen, aber mit vollem Bewußtsein empfundenen Tod spendet und ihm Zeit gibt für die kleinen Besorgungen der letzten Stunde, denen er so große Bedeutung beimißt. Der Sarg kann bereitgestellt, die Schweine können getötet werden und die Klageschreie bereits das Haus durchtönen; und erst dann, nicht vorher, ist sich der Marquesaner der Vollkommenheit bewußt, sein Leben ist ganz abgeschlossen, sein Gewand wie das Cäsars geordnet zum letzten Gang. Preise niemand vor seinem Tode glücklich, sagten die Alten; beneide niemand, bevor du seine Totenklage hörst, könnte die marquesanische Formel lauten. Der Sarg findet ganz besonderes Interesse, obwohl er erst seit einiger Zeit eingeführt ist. Für den erwachsenen Marquesaner bedeutet er ebensoviel wie eine Taschenuhr für den europäischen Schulknaben. Zehn Jahre lang bestürmte Königin Vaekehu ihren Rat, bis man ihr neulich willfahrte und ihr einen Sarg schenkte. Jetzt hat die liebe Seele Ruhe. Man erzählte mir eine sonderbare Geschichte von dieser Liebhaberei. Die Polynesier leiden mehr unter der Krankheit des Willens als des Körpers. Man sagte mir, die Tahitier hätten ein Wort dafür, erimatua, aber ich finde es nicht in meinem Wörterbuch. Ein Gendarm, M. Nouveau, sah Menschen dieser unheimlichen Krankheit anheimfallen, jagte sie aus ihren Behausungen, zwang sie zum Straßenbau, und in zwei Tagen waren sie geheilt. Aber ein anderes Heilmittel ist origineller: ein Marquesaner, der an Mutlosigkeit hinsiechte, oder besser gesagt an Müdigkeit, lebte beim bloßen Anblick der ersehnten Ruhestätte, seines Sarges, auf, erholte sich, schüttelte die Faust des Todes ab und widmete sich noch jahrelang seiner Beschäftigung, zum Beispiel dem Schnitzen von Tikis (Götzenbildern) oder dem Flechten von Bärten alter Männer. Man mag aus alledem ersehen, wie leichtherzig sie dem natürlichen Tode entgegenblicken. Ich hörte ein Beispiel, furchtbar und erstaunlich. Zur Zeit der Blattern in Hapaa wurde ein alter Mann von der Krankheit ergriffen, er rechnete nicht mit der Genesung, ließ sein Grab graben am Wegrande und lebte beinahe vierzehn Tage darin, aß, trank und rauchte mit den Vorübergehenden und sprach meistens von seinem Ende, unbesorgt um sich und die Freunde, die er ansteckte.

Diese Neigung zum Selbstmord und die lose Verbindung mit dem Leben ist nicht nur dem Marquesaner eigentümlich. Seltsam ist die allgemein verbreitete Entmutigung und der Glaube an das Aussterben des Volkes. Vergnügungen werden vernachlässigt, der Tanz schläft ein, die Lieder werden vergessen. Es ist wahr, daß manche und sogar viele vom Tode gezeichnet sind, aber viele würden überleben, wenn sie Lust hätten, sich zu erhalten und aufzurütteln. Beim letzten Fest des Sturmes auf die Bastille vergoß Stanislao Moanatini Tränen, da er die seelenlosen Vorführungen der Tänzer sah. Als die Leute in Anaho uns Lieder vorsangen, entschuldigten sie sich wegen der geringen Auswahl. Es seien nur junge Leute anwesend, sagten sie, und die Alten allein wüßten die Gesänge. Die ganze marquesanische Poesie und Musik ließ man aussterben, weil es einer einzigen Generation an Lebensmut gebrach. Die volle Bedeutung dieser Zustände wird dem klar, der andere polynesische Stämme kennt und weiß, daß der Samoaner bei jedem Anlaß ein neues Lied erfindet oder gehört hat, wie zum Beispiel auf Penrhyn Scharen kleiner lebhafter Mädchen von acht bis zwölf Jahren ihren Singsang ununterbrochen stundenlang fortsetzen und ein Lied dem andern ohne Pause folgen lassen. Gleichzeitig stellt der Marquesaner, der nie fleißig war, jetzt vollständig die Produktion ein. Der Export der Inselgruppe verringert sich unverhältnismäßig, auch wenn man die Sterbeziffern in Betracht zieht. »Die Koralle vermehrt sich, die Palme wächst, aber der Mensch geht von dannen«, sagt der Marquesaner und legt die Hände in den Schoß. Und das ist ohne Zweifel natürlich. Es mag eitel erscheinen, aber wir arbeiten und darben nicht für den Lohn, den unser Einzeldasein uns bietet, sondern blicken schüchtern voraus auf das Leben und das ehrende Gedenken unserer Nachkommen, und wäre niemand, der aus eigenem Blut oder Stamm uns nachfolgte – ich bezweifle, ob dann die Rothschilds Geld angehäuft hätten und Cato tugendhaft gewesen wäre. Es wäre gut, von Zeit zu Zeit den Marquesanern einen Anreiz zu geben, aus der Lethargie zu erwachen. An der ganzen Küste landeinwärts von Anaho wächst Baumwolle wie Unkraut, Männer und Frauen können, wenn sie sammeln, täglich einen Dollar verdienen, aber als wir ankamen, war das Lager des Händlers vollständig leer, und bevor wir abfuhren, war es nahezu voll. Solange wir als Schaustück da waren und die »Casco« in der Bucht ankerte, wollte jeder uns einen Besuch abstatten, und zu diesem Zweck brauchte jede Frau ein neues Gewand, jeder Mann Hemd und Hosen. Niemals zuvor hatte man nach Mr. Reglers Erfahrungen soviel Arbeitslust gezeigt.

In ihrer Mutlosigkeit steckt ein gut Teil Furcht. Die Angst vor Geistern und Dunkelheit ist tief eingegraben in das Gemüt des Polynesiers und nicht am wenigsten in das der Marquesaner. Der arme Taipi, Häuptling von Anaho, war in einer mondlosen Nacht dazu verurteilt, nach Hatiheu zu reiten. Er borgte sich eine Laterne, saß eine lange Weile still, um sich Mut zu machen für das Abenteuer, und als er schließlich fortging, schüttelte er uns die Hand, als ob wir uns für ewig trennten. Gewisse Wesen, Vehinehae genannt, bevölkern die Wege in der Nacht und machen sie furchtbar. Man erzählte mir, sie seien wie Nebel, und wenn der Wanderer näher käme, verflüchtigten sie sich und verschwänden; ein anderer beschrieb sie als Menschen mit Katzenaugen; von niemand konnte ich Aufklärung darüber bekommen, was sie anrichteten, und warum man sie fürchtete. Man darf aber überzeugt sein, daß sie Tote darstellen, und die Toten können nach der Ansicht der Insulaner alles durchdringen. »Wenn ein Eingeborener sagt, er sei ein Mensch,« schreibt Dr. Codrington, »so meint er, daß er ein Mensch und kein Geist, nicht etwa, daß er ein Mensch und kein Tier sei. Die vernünftigen Wesen in der Welt sind nach seiner Ansicht die lebenden Menschen, während die Geister tote Menschen sind.« Dr. Codrington spricht von Melanesien, aber nach meinen Erfahrungen gelten seine Worte auch von Polynesien. Und noch mehr. Unter Kannibalenvölkern ruht auf den Toten im allgemeinen ein furchtbarer Verdacht, und die Marquesaner, die größten Menschenfresser von allen, sind kaum frei von ähnlichen Vorstellungen. Ich glaube recht zu raten, wenn ich annehme, daß die Vehinehae die hungrigen Seelen der Verstorbenen sind, die das Geschäft ihres Lebens, auf Menschenfleisch zu jagen, fortsetzen und überall unsichtbar lauern, um die Lebendigen zu verschlingen. Von einem andern Aberglauben erfuhr ich durch das zweifelhafte Englisch Tari Sargs. Die Toten, erzählte er mir, kämen und tanzten nachts rund um das Paepae ihrer früheren Familie; die Familie geriete dadurch in eine gewisse Erregung – ob aus frommer Trauer oder aus Furcht, konnte ich nicht feststellen – und müßte ein Festmahl veranstalten, zu dem unbedingt Fisch, Schweinefleisch und Popoi gehören. Soweit ist alles klar. Aber nun führte Tari das neue Haus von Toma als Beispiel an mit dem Herdbrandfestmahl, das gerade damals in Vorbereitung war, und zwar als charakteristisches Beispiel. Dürfen wir diese Dinge tatsächlich miteinander verbinden und uns dabei der verlassenen Ruinen erinnern, um anzunehmen, daß die Toten beständig die Paepaes der Lebenden belagern, nur durch Versöhnungsfeste von der Zeit der Grundsteinlegung an verdrängt werden und sofort wieder Besitz ergreifen von ihrer alten Heimstätte, sobald das Feuer des Lebens auf den Herden erlischt?

Ich kann diesen marquesanischen Aberglauben nur erraten. Auf die menschenfresserischen Geister werde ich an anderer Stelle ausführlicher zurückkommen. Vorläufig genügt es festzustellen, daß die Marquesaner aus irgendwelchen Gründen vor der Gegenwart der Geister Furcht haben. Man begreift, wie sehr das auf die Nerven gehen muß in einem Inselreich, wo die Zahl der Toten die der Lebendigen schon so weit übertrifft, und wo die Toten sich so rasch vermehren, wie die Lebenden abnehmen. Man versteht, wie der Rest sich um die verlöschende Glut des Lebensfeuers schart, gleich alten Rothäuten, die allein in Steppe und Schnee zurückgelassen werden, während die Stammesangehörigen weiterziehen, die letzte Flamme erstirbt und die Nacht ringsum von Wolfen bevölkert ist.

Fünftes Kapitel


Entvölkerung

Überall in der Südsee finden wir Spuren früherer Übervölkerung, so daß selbst die Fruchtbarkeit tropischen Bodens kaum hinreichte und selbst der sorglose Polynesier um die Zukunft bangte. Man kann sich den Vorstellungen Darwins über die Koralleninseln anschließen und sich ausmalen, wie das Steigen des Meeres oder das Versinken eines Festlandes zahlreiche Flüchtlinge in die Gebirge trieb. Oder, nüchterner, daß ein Seeräubervolk aus fremden Landen eine Insel nach der andern eroberte und in Besitz nahm, um sich mit der Zeit in der neuen Heimat ungeheuer zu vermehren. In jedem Falle war der Erfolg derselbe: früher oder später mußte sich herausstellen, daß die Zahl der Menschen zu groß und eine Hungersnot auf dem Wege sei.

Die Polynesier begegneten dieser drohenden Gefahr durch verschiedene Mittel und Vorbeugungsmaßnahmen. Man fand eine Möglichkeit heraus, Brotfrucht zu konservieren, indem man sie in künstlichen Gruben aufbewahrte; Gruben von vierzig Fuß Tiefe und entsprechendem Durchmesser kann man noch heute auf den Marquesas sehen, wie man mir erzählte, aber selbst diese genügten nicht für das anwachsende Volk, so daß die Annalen der Vergangenheit finstere Berichte enthalten über Hungersnöte und Kannibalismus. Unter den Hawaiiern – einem zäheren Volk in gemäßigterem Klima – wurde die Landwirtschaft stark entwickelt, Kanäle durchzogen das Land, und die Fischteiche von Molokai beweisen die Zahl und den Fleiß der ehemaligen Einwohner. Inzwischen waren Abtreibung und Kindesmord an der Tagesordnung auf der ganzen Insel. Auf den Korallenatollen, wo die Gefahr am offensichtlichsten war, wurden sie sogar vom Gesetz befohlen und durch Strafen erzwungen. Auf Vaitupu in der Elliceengruppe waren jedem Ehepaar nur zwei Kinder erlaubt, und es wird berichtet, daß man manchmal eine Geldstrafe bezahlte, um das Kind verschonen zu dürfen.

Das ist charakteristisch. Denn kein Volk der Erde ist Kindern gegenüber so liebevoll und nachsichtig: Kinder sind der Jubel und der Schmuck ihrer Häuser, sie dienen ihnen als Spielzeug und Bildergalerie. »Glücklich der Mensch, der seinen Köcher voll von ihnen hat.« Der heimatlose Bastard wird umworben von vielen Familien, und die natürlichen und adoptierten Kinder spielen und wachsen unterschiedslos miteinander auf. Der Verzug, oder man kann beinahe sagen die Vergötterung des Kindes werden nirgends soweit getrieben wie auf den westlichen Inseln und am weitesten nach meinen Beobachtungsmöglichkeiten auf der Paumotugruppe, dem sogenannten niedrigen oder gefährlichen Archipel. Ich sah dort einen Eingeborenen sich erstaunt und unwillig von mir wenden, weil ich andeutete, daß einem Taugenichts die Rute gut täte. Täglich kann man auf den östlichen Inseln beobachten, wie ein Kind seine Mutter schlägt oder gar steinigt, und die Mutter, weit entfernt, zu strafen, wagt kaum, sich zu wehren. Auf manchen Inseln wurde ein Häuptling bei der Geburt seines Kindes abgesetzt und verzichtete auf seinen Namen, als ob er wie eine Drohne den Zweck seines Daseins erfüllt habe. Und auf anderen hatten nichtssagende Kindesworte das Gewicht von Orakelsprüchen. Vor nicht allzulanger Zeit wurde ein Fremdling, gegen den ein Kind Abneigung verspürte, erschlagen, wie man mir versicherte. Und an anderer Stelle werde ich ein entgegengesetztes Beispiel zu erzählen haben: wie ein Kind in Manihiki mich ins Herz schloß und seine Adoptiveltern sofort diese Tatsache anerkannten, indem sie mich mit Geschenken überhäuften.

Mit diesen Gefühlen mußte natürlich die Notwendigkeit der Kindervernichtung in Widerstreit geraten, und ich glaube, man findet Spuren dieser zwiespältigen Empfindungen in der tahitischen Brüderschaft des Oro. Einst wurde ein neuer Gott dem Olymp der Gesellschaftsinseln zugeführt oder ein früherer ausgegraben und populär gemacht. Oro war sein Name, und man kann ihn mit dem Bacchus der Alten vergleichen. Seine Anhänger segelten von Bucht zu Bucht und von Insel zu Insel, sie wurden überall mit Festgelagen empfangen, trugen feine Kleider, sangen, tanzten und spielten, zeigten ihre Gewandtheit und Kraft und waren die Künstler, Akrobaten, Barden und Dirnen der Gruppe. Ihr Leben war öffentlich und epikureisch, ihr Ursprung ein Geheimnis, und die Angesehensten des Landes bemühten sich um Aufnahme in die Bruderschaft. Wenn ein Ehepaar die nächste Erbberechtigung besaß für die Würde der Oberherrschaft, durfte es aus politischen Gründen ein Kind verschonen; alle anderen Kinder, deren Vater oder Mutter der Gesellschaft des Oro angehörte, waren vom Augenblick der Empfängnis an zum Tode verurteilt. Eine Art Freimaurerloge, eine geheimnisvolle Sekte, eine Gesellschaft von Künstlern, alle Mitglieder eidlich verpflichtet, Unzucht zu verbreiten, und alle unter dem Verbot, Nachkommen zu hinterlassen: ich weiß nicht, welchen Eindruck alles das auf andere macht, aber mir erscheint der Zweck klar. Hungersnot bedrohte die Inseln, das notwendige Gegenmittel war verhaßt, und so wurde es dem Eingeborenengemüt durch den Reiz des Geheimnisvollen, der Lustbarkeiten und der Schaustellung nähergebracht. Das wird noch wahrscheinlicher und der geheime, ernste Zweck der Institution noch deutlicher, wenn es wahr ist, daß nach einer gewissen Lebenszeit die Verpflichtung des Gelübdes geändert wurde: zuerst Ausschweifung, dann Keuschheit.

Hier haben wir also die eine Seite des Problems klar vor uns: Kannibalismus unter liebenswürdigen Menschen, Kindermord unter Kinderliebhabern, Fleiß unter geborenen Faulenzern, Erfindungsgabe unter Menschen, die dem Fortschritt abgeneigt sind, eine Art schrecklicher heidnischer Heilsarmee der Bruderschaft des Oro, die Berichte früherer Reisender, weit verstreute Reste älterer Wohnstätten, zusammen mit der allgemeinen Überlieferung der Insulaner: alles das deutet auf dieselbe Tatsache hin: Übervölkerung und Erregung darüber in früheren Zeiten. Und heute sehen wir das Gegenteil, heute finden wir dasselbe Volk auf den Marquesas, den acht Inseln von Hawaii, in Mangareva und auf der Osterinsel dahinsterben wie die Fliegen. Woher diese Veränderung? Wollte man das Eindringen der Weißen, den Wechsel der Sitten und die Einschleppung neuer Krankheiten und Laster für die Entvölkerung verantwortlich machen: warum ist diese Entvölkerung nicht allgemein? Die Einwohnerzahl von Tahiti ist, nach einer Periode erschreckender Abnahme, wieder stabil geworden. Ich höre von ähnlichen Tatsachen bei einigen Maoristämmen, auf vielen Paumotuinseln kann man eine leichte Zunahme feststellen, und die Samoaner sind heute ebenso gesund und mindestens ebenso fruchtbar wie vor den großen Veränderungen. Zugegeben, daß die Tahitier, Maoris und Paumotuaner sich an die neuen Zustände gewöhnt haben mögen: wie will man dann erklären, daß die Samoaner niemals darunter gelitten haben?

Wer nur eine einzige Inselgruppe kennt, ist geneigt, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. So schrieb man, wie ich höre, die größere Sterblichkeit der Maoris dem Wechsel der Wohnsitze zu, sie zogen von den befestigten Bergspitzen in die niedrig gelegenen marschigen Gegenden ihrer Pflanzungen. Wie einleuchtend! Und doch starben die Marquesaner aus in denselben Häusern, in denen sich ihre Vorfahren vermehrten. Oder man denke an das Opium. Die Marquesaner und Hawaiier sind diesem Laster am meisten verfallen, die Bevölkerung der einen Gruppe ist die zivilisierteste, die der andern die wildeste von Polynesien, und beide siechen am raschesten dahin. Dringende Verdachtsmomente gegen das Opium! Aber nehmen wir die Unzucht: wieder bestätigen die Verhältnisse bei den Marquesanern und auf Hawaii die Vermutung. So sind die Samoaner zum Beispiel die keuschesten Polynesier, und sie sind heute durchaus fruchtbar; die Marquesaner leben am ausschweifendsten, und wir haben gesehen, wie sie zugrunde gehen; die Hawaiier sind bekannt als sittenlos, und ihr Gebiet ist heute so schwach bewohnt wie eine Wüste. Die Beweise für die Theorie von der Unzucht sind also noch stärker, und doch erfahren sie eine Korrektur. Was immer die Tugenden der Tahitier sein mögen, weder Freund noch Feind darf sie keusch nennen, und trotzdem scheinen sie die Zeit der Gefahr überstanden zu haben. Ein letztes Argument: die Syphilis. Aber die Samoaner sind unter allen Umständen so fruchtbar wie zuvor, nach manchen Berichten sogar noch fruchtbarer, obwohl niemand ernsthaft behaupten kann, daß sie von der Syphilis verschont geblieben sind.

Diese Beispiele beweisen, wie gefährlich es ist, irgendeine Tatsache oder auch mehrere, die für eine Gruppe zutreffen, zu verallgemeinern. Ich erinnere mich an eine gut und mit viel Liebe geschriebene Broschüre des hochwürdigen Herrn S. G. Bishop: »Warum sterben die Hawaiier aus?« Jeder, den das Thema interessiert, sollte diese Abhandlung lesen, die viel Tatsachenmaterial enthält; und doch würde Bishop seine Ansichten geändert haben, wenn er andere Inselgruppen nur oberflächlich kennengelernt hätte. Samoa ist augenblicklich die größte und lehrreichste Ausnahme von der Regel. Die Bevölkerung ist durchaus keusch und die enthaltsamste aller Inselbewohner. Eine schwere Seuche hat sie nie heimgesucht und belastet. Ihre Kleidung hat man kaum gewaltsam geändert, über das einfache und zierliche »Tabard« der Mädchen würde Tartuffe auf manchen andern Inseln sich entrüstet haben; an Stelle des kühlen, gesunden und sittsamen Lava-Lava oder Lendenschurzes hat Tartuffe auf mancher andern Insel die Einführung der steifen und unbequemen Hosen erzwungen. Schließlich haben sich, was das wichtigste ist, ihre Vergnügungen nicht verringert, sondern im großen ganzen vermehrt. Der Polynesier verfällt leicht der Mutlosigkeit: Trauerfälle, Enttäuschungen, Furcht vor neuartigen Heimsuchungen, der Verfall oder das Verbot alter Volksbelustigungen machen ihn leicht traurig, und Traurigkeit löst ihn vom Leben. Die Melancholie der Hawaiier und die Leere ihres neuen Daseins sind deutlich sichtbar, und das gilt noch mehr von den Marquesanern. Auf Samoa anderseits machen Gesang und Tanz, ewige Spiele, Reisen und Vergnügungen das Inselleben lebhaft und liebenswürdig, und diese Samoaner sind heute die fröhlichsten und an Unterhaltungen reichsten Bewohner unseres Planeten. Die Wichtigkeit dieser Tatsache kann kaum übertrieben werden. In einem Klima und einem Lande, wo der Lebensunterhalt um nichts zu bekommen ist, ist Unterhaltung ein allererstes Erfordernis. Bei uns, wo das Leben uns täglich neuen Problemen gegenüberstellt, ist es ganz anders, wir haben ernsthaft zu kämpfen und Konflikte zu überwinden, wenn wir überhaupt existieren wollen. So hielt sich auf manchen Atollen, wo keine große Fröhlichkeit herrscht und der Mensch sich mit einer gewissen Kraftanstrengung nur um das tägliche Brot bemühen muß, die öffentliche Gesundheit und die Bevölkerungsziffer gut, aber auf den Lotosinseln schwindet mit den Vergnügungen auch das Leben selbst dahin. Von diesem Gesichtspunkt aus können wir auch den Verfall des Kriegsspieles zu den Ursachen der Entmutigung rechnen. In Europa sind wir so lange an das furchtbare Gewerbe des Krieges, der Seuchen und verpestete Leichen hinter sich läßt, gewöhnt, daß wir seinen Ursprung, den sehr gesunden und, rein menschlichen Freiluftsport: den Guerillakrieg, fast vergessen haben. Er ist den Insulanern wie seine sonstigen Belustigungen und Gewohnheiten neuerdings verboten worden, der Samoaner aber stellt hier wie in vielen andern Dingen noch immer seinen Mann.

Allgemein gesprochen scheint mir das Problem folgendermaßen zu liegen: Wo der geringste Wechsel der Lebensbedingungen eintritt – wichtig oder unwichtig, heilsam oder unheilvoll –, dort geht das Volk zugrunde. Jeder Wechsel, sei er noch so klein, vermehrt die Summe der neuartigen Verhältnisse, an die die Rasse sich gewöhnen muß. Es mag auf den ersten Blick keine Vergleichsmöglichkeit geben zwischen dem Übergang von saurem Bier zu schlechtem Gin in Schottland und dem vom Insulanerschurz zu europäischen Hosen. Aber ich bin nicht überzeugt, daß das eine weniger gefährlich ist als das andere, und eine nicht eingewöhnte Rasse kann manchmal durch Nadelstiche aussterben. Wir stehen hier einer der Hauptschwierigkeiten des Missionars gegenüber. Auf polynesischen Inseln gewinnt er leicht überragende Autorität, der König wird sein Haushofmeister, er kann verdammen und befehlen, und die Versuchung ist groß, zu weit zu gehen. So haben – nach allen Berichten – die Katholiken in Mangareva und – nach meiner Erfahrung – die Protestanten in Hawaii den Neubekehrten das Leben mehr oder weniger unerträglich gemacht. Es ist leicht, den Missionar zu tadeln, aber es ist seine Aufgabe, Veränderungen herbeizuführen. Sicher ist es zum Beispiel seine Pflicht, Kriege zu verhindern, und doch habe ich das Kriegführen als ein Element der Gesundheit bezeichnet. Andererseits wäre es vielleicht möglich für den Missionar, vorsichtiger zu Werke zu gehen und jeden Wechsel als gewichtige Angelegenheit zu betrachten. Ich denke an den Durchschnittsmissionar, und ich glaube, daß ich ihm Gerechtigkeit widerfahren lasse, wenn ich vermute, daß er zögern würde, eine Stadt zu bombardieren, selbst wenn er dadurch einen ganzen Archipel bekehren könnte. Die Erfahrung lehrt uns allmählich, wenigstens auf den polynesischen Inseln, daß Gewohnheitswechsel eine blutigere Angelegenheit ist als ein Bombardement.

Bevor ich dies Kapitel schließe, will ich einen Punkt erwähnen, der mir vielleicht viel Kritik einträgt. Ich habe nichts gesagt über falsche Hygiene, Baden während des Fiebers, falsche Behandlung von Kindern, Kurpfuscherei der Eingeborenen und Abtreibung, alles Ursachen, die man für die Entvölkerung oft anführt. Und ich habe jene Zustände nicht erwähnt, die beiden Epochen gemeinsam sind und in der Vergangenheit sogar verhängnisvoller waren als jetzt. Gehört die Unzucht nicht dazu? könnte man fragen. War der Polynesier nicht immer unkeusch? Zweifellos war er es immer, zweifellos aber ist er es noch mehr seit der Ankunft seiner hervorragend keuschen Besucher aus Europa. Man denke an den Hawaiibericht von Cook – und ich bezweifle nicht, daß er durchaus richtig ist. Man denke an Krusensterns offenherzige, beinahe naive Erzählung vom Besuche eines russischen Kriegsschiffes auf den Marquesas; man erinnere sich der schmachvollen Missionsgeschichte auf Hawaii selbst, wo im Kampf um die Wollust die amerikanischen Missionen einst von einem englischen Abenteurer beschossen und ein andermal von der Mannschaft eines amerikanischen Kriegsschiffes überfallen und mißhandelt wurden; man füge dem die Gewohnheit der Walfischfänger hinzu, die auf den Marquesas zu landen und eine Anzahl Frauen auf die Reise mitzunehmen pflegten; man bedenke auch, daß die Weißen zuerst als Halbgötter angesehen wurden, wie aus dem Bericht über den Empfang Cooks auf Hawaii klar hervorgeht und aus der Geschichte von der Entdeckung Tutuilas, wo die wahrhaft züchtigen Frauen von Samoa sich öffentlich den Franzosen hingaben, und man vergesse nicht, daß es Sitte der Eroberer und, man kann beinahe sagen, Pflicht der Missionare war, die heilsamsten Tabus zu bespötteln und zu vernichten. Wir sehen also alle Zerstörungsmaßnahmen auf einmal gegen eine Tugend gerichtet, die nie und nirgends sehr stark oder volkstümlich war, und der Erfolg war selbst auf den entarteten Inseln weitere Entartung. Mr. Lawes, der Missionar von Savage Island, erzählte mir, daß die weibliche Keuschheit sich dort seit der Ankunft der Weißen verringert habe. In heidnischer Zeit habe der Vater oder Bruder eines Mädchens, das ein uneheliches Kind gebar, den Säugling die Klippen hinuntergeschleudert, heute aber sei der Skandal geringfügig. Oder man denke an die Marquesas. Stanislao Moanatini erzählte mir, daß nach seiner eigenen Erinnerung die jungen Leute früher streng bewacht wurden; man duldete nicht einmal, daß sie sich auf der Straße ansahen, sondern sie gingen, wie mein Berichterstatter sich ausdrückte, gleich Hunden aneinander vorbei – und vor einiger Zeit entwichen sämtliche Schulkinder von Nuka-hiva und Ua-pu in die Wälder und lebten dort vierzehn Tage in freier Vereinigung. Leser von Reiseberichten mögen vielleicht meine Autorität bezweifeln und sich für besser unterrichtet erklären. Ich würde die Aussage eines einzigen intelligenten Eingeborenen wie Stanislao – selbst wenn er allein stünde, was durchaus nicht der Fall ist – den Berichten der ehrenhaftesten Reisenden vorziehen. Ein Kriegsschiff läuft in einen Hafen ein, ankert, schickt einige Leute an Land, empfängt und erwidert Besuche, und der Kapitän schreibt ein Kapitel über die Sitten des Landes. Man überlegt nicht, welche Klasse Menschen man auf diese Weise meistens sieht! Aber wir wären nicht gerade befriedigt, wenn ein indischer Kuli England nach den Damen beurteilte, die sich an den Kais herumtreiben, und nach den Leuten, die sich von seiner Heuer bewirten lassen. Die Ansicht Stanislaos über den Verfall der Sitten selbst auf diesen tugendlosen Inseln wird mir von andern bestätigt; das von ihm angeführte Beispiel, die zunehmende Entsittlichung der Jugend, wird von Mr. Bishop auf Hawaii ebenfalls herangezogen. Und soweit die Marquesaner in Betracht kommen, so hätten wir einen gewissen Sittenverfall fast erraten können: ich glaube nicht, daß irgendein Volk bei den dort herrschenden Gewohnheiten blühen und sich vermehren könnte, und ich bin sicher, daß man sich nie die Mühe machte, nach der Vaterschaft zu forschen. Einzelheiten anzuführen, ist unmöglich, es mag genügen zu sagen, daß ihre Sitten den Träumen unwissender und lasterhafter Kinder entlehnt zu sein scheinen, und daß sie ihre Ausschweifungen so weit treiben, bis Energie, Vernunft und fast das Leben selbst zugrunde gehen.

Sechstes Kapitel


Häuptlinge und Tabus

Wir pflegten das feine und galante Benehmen des Häuptlings Taipi-Kikino außerordentlich zu bewundern. Ein eleganter Tafelgast, geübt im Gebrauch von Messer und Gabel, ein tapferer Held, wenn er, das Gewehr über der Schulter, auszog auf Hühnerjagd in den Wäldern, immer dienstbereit, immer liebenswürdig und heiter: ich wunderte mich manchmal, woher er seinen Frohsinn nahm. Er hatte sich bei seinem geringen amtlichen Gehalt genug abzuplagen, wie mir schien. Seine Ausgaben – er trug immer blendend weiße Gewänder – mußten sein Einkommen von sechs Dollars jährlich oder ungefähr zwei Schilling monatlich weit übersteigen. Er hatte kein Vermögen, sein Haus war das ärmlichste im Dorf. Man vermutete allgemein, daß sein älterer Bruder Kauanui ihm aushalf, aber wie kam es, daß sein älterer Bruder das Familiengut erbte und nun ein reicher Bürger war, während er, der jüngere, ein armer Mann, als Häuptling über Anaho herrschte? Daß der eine reich und der andere fast mittellos war, erklärt sich wahrscheinlich aus irgendeiner Adoption, denn verhältnismäßig wenig Kinder wachsen im Elternhause auf oder erben den Besitz ihrer Erzeuger. Daß der eine an Stelle des andern Häuptling war, erklärt sich aus der Tatsache, daß überhaupt keiner wirklich das Oberhaupt ist, ähnlich wie in Irland.

Seit der Rückkehr und den Kriegen der Franzosen wurden viele wirkliche Häuptlinge abgesetzt und viele scheinbare Häuptlinge neu ernannt. Wir sahen in einem Hause einen solchen Emporkömmling mit zwei abgesetzten Inselbourbonen beim Trinkgelage, Männern, deren Wort wenige Jahre zuvor Leben und Tod bedeutete, die jetzt aber zu Bauern herabgesunken waren, gleich ihren Nachbarn. Wenn also die Franzosen das Erbtyrannentum zerstörten, die gemeinen Leute auf den Marquesas zu freigeborenen Bürgern der Republik erklärten und ihnen das Stimmrecht verliehen für den Generalrat auf Tahiti, so glaubten sie sich wahrscheinlich auf dem Wege zur Popularität, in Wirklichkeit aber brachten sie das Volksempfinden in Aufruhr. Die Absetzung der Häuptlinge war vielleicht manchmal notwendig, ebenso wie die Ernennung neuer, aber die Angelegenheit war jedenfalls sehr delikat. Die Regierung Georgs II. verbannte viele schottische Hochlandsmagnaten, aber sie dachte nie daran, Ersatz zu schaffen, und wenn die Franzosen kühner waren, so müssen wir den Erfolg erst abwarten.

Unser Häuptling von Anaho wurde stets Taipi-Kikino genannt und nannte sich auch selbst so, aber das war nicht sein Name, sondern nur eine Kennzeichnung seiner falschen Stellung. Sobald er zum Häuptling ernannt worden war, geriet sein Name – der, wenn ich mich recht erinnere, »Prinz unter Blumen geboren« bedeutete – in Vergessenheit, und er wurde mit dem bezeichnenden Titel Taipi-Kikino belegt: »Hochwasser = Mann ohne Bedeutung« oder etwa »Bettler hoch zu Roß«, ein witziger und boshafter Hieb. Ein Spitzname zerstört in Polynesien fast ganz die Erinnerung an den ursprünglichen Namen. Wenn wir Polynesier wären, würde man von Gladstone heute nichts mehr wissen, man würde unseren Nestor nur noch als » Grand Old Man« bezeichnen und anreden, und er selbst hätte seine Briefe so unterschrieben. Hier muß man also nicht den üblichen Gebrauch, sondern die Bedeutung des Spitznamens beachten. Die neue Autorität genoß von Anfang an wenig Achtung. Taipi ist bereits eine Zeitlang im Amt und scheint sich durchaus zu bewähren. Er ist durchaus nicht unpopulär, und doch ist seine Macht gleich Null. Er ist Häuptling für die Franzosen und frühstückt mit dem Residenten, aber in der Praxis würde eine Puppe dieselben Dienste leisten.

Als wir drei Tage in Anaho waren, erhielten wir den Besuch des Häuptlings von Hatiheu, eines Mannes von Ansehen und Ruhm, früher Anführer in einem Krieg gegen die Franzosen, Gefangener in Tahiti und der letzte Menschenfresser von Nuka-hiva. Vor nicht allzu vielen Jahren sah man ihn einherstolzieren am Strand der Bucht von Anaho, den Arm eines Getöteten auf der Schulter. »So ergeht es den Feinden Kooamuas!« brüllte er den Vorübergehenden zu und biß in das rohe Fleisch. Und nun stelle man sich diesen Edelmann vor, der von den Franzosen klugerweise wieder in sein Amt eingesetzt wurde, wie er uns in europäischen Kleidern einen Morgenbesuch machte. Er war der Mann mit dem ausgeprägtesten Charakter, den wir bisher kennenlernten: sein Benehmen klug und sicher, seine Figur groß, sein Gesicht verwittert, schlau und furchtbar, aber er besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit Gladstone, abgesehen von der braunen Haut und der Tätowierung eines Oberhäuptlings, die eine Seite ganz und die andere zur Hälfte gleichmäßig blau bemalt. Die nähere Bekanntschaft verstärkte unsere hohe Meinung von seinem Verstande. Er betrachtete die »Casco« in einer damals noch ganz neuen Weise, prüfte ihre Linienführung und das Arbeiten des Steuerruders, verbrachte wohl zehn Minuten mit der geduldigen Beobachtung einer Strickarbeit, ließ nicht ab, bevor er die Grundregeln erforscht hatte, und war bis zur Erregung interessiert für eine Schreibmaschine, die er zu handhaben lernte. Als er fortging, nahm er eine Liste seiner Familie mit, seinen eigenen Namen hatte er selbst zum Schluß geschrieben. Ich muß hinzufügen, daß er sicher viel Humor besaß und kein geringer Heuchler war. So erzählte er uns, er sei von einer peinlichen Nüchternheit, wie er es seiner hohen Würde schuldig sei; die gemeinen Leute mochten immerhin Säufer sein, der Häuptling aber dürfe sich nicht so tief erniedrigen. Und wenige Tage später sahen wir ihn grinsend einhertorkeln, den Wimpel der »Casco« am beschmutzten entweihten Hut.

Aber uns geht hier der Zweck seines Besuches in Anaho an jenem Morgen an. Der Teufelsfisch, so schien es, vermehrte sich nur langsam auf dem Riff; man war also der Ansicht, daß man eine Schonzeit verhängen müsse, wie wir es nennen würden. In Polynesien muß zu diesem Zwecke ein »Tabu« erklärt werden, aber wer sollte das tun? Taipi? Er hätte es tun müssen, es gehörte zu seinen Pflichten, aber würde irgendjemand das Verbot eines »Bettlers hoch zu Roß« anerkennen? Er mochte Palmzweige einpflanzen: daraus folgte durchaus nicht, daß der Ort heilig war; er mochte den Zauberspruch aufsagen: man nahm pfiffig an, die Geister würden nicht lauschen. Und so mußte der alte legitime Kannibale über die Berge reiten, um es statt seiner zu tun, und der ehrenwerte Beamte im weißen Kleid durfte nur neidisch zuschauen. Ungefähr zu derselben Zeit, wenn auch auf andere Art, erließ Kooamua ein Waldschutzgesetz. Man beobachtete, daß die Kokospalmen litten, denn das Abpflücken von grünen Nüssen schwächt die Bäume und bringt sie schließlich in Gefahr. Nun konnte Kooamua zwar das Riff mit Tabu belegen, denn es war Staatseigentum, aber nicht anderer Leute Bäume, und der Ausweg, den er fand, war interessant; er belegte seine eigenen Bäume mit dem Bann, und sein Beispiel wurde in ganz Hatiheu und Anaho nachgeahmt. Ich fürchte, Taipi hätte alles für tabu erklären können, was er besaß, und niemand wäre ihm gefolgt. Das beweist die Mißachtung, die man der Würde eines aufgezwungenen Häuptlings entgegenbringt, und ein einziger Umstand zeigt, was diese Leute selbst von sich halten. Ich habe nie einen getroffen, der nicht bei der ersten Gelegenheit seine besondere Lage erklärt hätte: ja, es sei wahr, er sei nur ein ernannter Häuptling, wie er hier vor mir stehe, aber irgendwo sonst, etwa auf einer andern Insel, sei er Häuptling von Geblüt, er bat mich also gewissermaßen, ich möge sein zweifelhaftes Ehrenamt entschuldigen.

Staunend wird man feststellen, daß beide Tabus ihren durchaus vernünftigen Zweck hatten. Staunend, sage ich, weil die Natur dieser Maßnahmen in Europa vielfach mißverstanden wird. Man glaubt meistens, es handle sich um bedeutungslose, willkürliche Verbote, wie man heute noch in manchen Ländern Frauen das Rauchen untersagt oder früher in Schottland den Sonntagsspaziergang verbot. Der Irrtum ist ebenso natürlich wie ungerecht. Die Polynesier sind im scharfen und praktischen Denken des alten Rom nicht geübt, der Begriff Gesetz deckt sich bei ihnen mit dem Begriff von Schicklichkeit und Sitte, so daß das Tabu alles beherrscht und stets eine Handlung als verbrecherisch, unsittlich, gegen das allgemeine Wohl gerichtet, unziemlich und, wie wir sagen würden, gegen die gute Form verstoßend kennzeichnet. Manche Tabus waren infolgedessen lächerlich genug, wenn zum Beispiel Wörter aus der Sprache ausgemerzt wurden, besonders solche, die sich auf die Frauen bezogen. Vieles war den Männern verboten. Frauen war, wie man behaupten kann, wenig erlaubt. Sie durften nicht auf dem Paepae sitzen, nicht die Treppe hinaufgehen, kein Schweinefleisch essen, sich keinem Boot nähern, auf keinem Feuer kochen, das ein Mann angelegt hatte. Vor einiger Zeit, als die Wege gebaut wurden, sah man die Frauen an den Rändern durch das Strauchwerk schlüpfen und bei den Brücken durch das Wasser waten: Straßen und Brücken waren das Werk von Männern und tabu für den Fuß der Frau. Selbst den Sattel eines Mannes, der ein Eingeborener ist, wagt keine Dame von Selbstachtung zu benutzen. So besitzen auf der Anahoseite der Insel nur zwei Weiße, Mr. Regler und der Gendarm M. Aussel, Sättel, und wenn eine Frau eine Reise anzutreten hat, muß sie ihn von dem einen oder anderen borgen. Man beachte, daß diese Verbote zumeist auf eine verschärfte Trennung zwischen den Geschlechtern hinauslaufen. Die Achtung vor der weiblichen Züchtigkeit ist die gewöhnliche Entschuldigung für jene Entbehrungen, die die Männer mit Vorliebe ihren Frauen und Müttern auferlegen. Hier aber fehlt diese Achtung, und trotzdem sind die Frauen an Händen und Füßen gebunden durch bedeutungslose Formalitäten! Frauen, die noch in den alten Zuständen lebten, geben zu, daß das Leben nicht wert war, gelebt zu werden. Aber selbst damals gab es Ausnahmen. Es gab weibliche Häuptlinge und außerdem, wie man mir versichert, Priesterinnen; galante Sitten schmeichelten großen Damen; im heiligsten Innenraum eines Tempels zeigte man Pater Simeon Delmar einen Stein und erzählte ihm, es sei der Thron einer hochwohlgeborenen Dame. Wie genau entspricht das europäischem Brauch, wenn man Prinzessinnen gestattet, die strengste Klausur zu verletzen, und Frauen über ein Land herrschen dürfen, in dem man ihnen gleichzeitig das Recht verweigert, ihre eigenen Kinder selbst zu erziehen.

Aber häufiger sind Tabus Mittel zu weiser und notwendiger Beschränkung. Wir haben gesehen, wie sie väterlichem Regiment dienstbar gemacht werden. Sie dienen außerdem dazu, die Rechte des Privateigentums zu schützen, in dem seltenen Fall, da jemand sie schützen will. So erklärt ein Mann, der des ewigen Kommens und Gehens von marquesanischen Besuchern überdrüssig ist, seine Tür für Tabu, und bis auf den heutigen Tag kann man das Zeichen des Palmzweiges sehen. Oder ein anderer Fall. Anaho ist bekannt als »das Land ohne Popoi«. Das Wort »Popoi« dient auf den verschiedenen Inseln als Benennung der Hauptnahrung; so bezeichnet es auf Hawaii ein Gericht aus Taro, auf den Marquesas die Brotfrucht. Und ein Marquesaner hält das Leben nicht leicht für erträglich ohne seine Lieblingsspeise. Vor einigen Jahren richtete eine Dürre die Brotfruchtbäume und Bananen im Distrikt von Anaho zugrunde, und aus diesem Unglück und der Freigebigkeit, die auf der Insel herrscht, entstanden merkwürdige Verhältnisse. Das gut bewässerte Hatiheu hatte unter der Trockenheit nicht gelitten; jeder Familienvater in Anaho überquerte also den Paß, wählte irgend jemand in Hatiheu aus, »gab ihm seinen Namen« – ein lästiges Geschenk, das man aber nicht zurückweisen darf – und begann von diesem neuernannten Verwandten seine Nahrungsmittel zu beziehen, als ob er regelrecht dafür bezahlt hätte. Daher der ständige Verkehr auf der Straße; zu jeder Tageszeit kann man irgendeinen kräftigen Burschen, im Lendentuch, schweißbedeckt, einen Stock auf den nackten Schultern, unter einer Doppellast von grünen Früchten hastig dahertraben sehen. Und auf der andern Seite der Schlucht bezeichnen ein Dutzend Feldsteine am Wege im Schatten eines Hauses die Ruheplätze der Popoiträger. Etwas abseits vom Strande und keine halbe Meile von Anaho fand ich zu meinem großen Erstaunen eine gut entwickelte Gruppe von Brotfruchtbäumen, vollreif zur Ernte. »Warum nehmt ihr diese nicht?« fragte ich. »Tabu!« sagte Hoka, und ich dachte nach der Art stumpfsinniger Reisender bei mir selbst, wie kindisch und töricht diese Leute seien, Lasten über das Gebirge zu schleppen und die Nachbarn zu schädigen, da die Lebensmittel so dicht vor den Toren wüchsen. Um so mehr täuschte ich mich. Bei der allgemeinen Zerstörung reichten diese Bäume nur aus für die Familie des Eigentümers, und durch das einfache Mittel des Tabu erzwang er sein Recht.

Die Heilighaltung des Tabu ist ein Aberglaube, die Strafe entweder Siechtum oder Tod. Eine schleichende Krankheit folgt dem Genuß von Tabufisch und kann nur geheilt werden durch die Gräten desselben Fisches, die unter allerlei Mysterien verbrannt werden müssen. Das Kokosnuß- und Brotfruchttabu wirkt schneller. Hat man beispielsweise Tabufrucht gegessen am Abend, so ist der Schlaf unruhig; morgens ist der Hals geschwollen und schwarz, und die Färbung dehnt sich nach oben zu bis auf das Gesicht aus. In zwei Tagen muß man sterben, wenn man sich nicht der Kur unterzieht. Das Heilmittel wird aus zerriebenen Blättern des Baumes bereitet, von dem der Kranke Früchte gestohlen hat, so daß er nicht gerettet werden kann, ohne dem Tahuku die Person zu nennen, die er schädigte. Mein Gewährsmann hatte fast nie Tabus in Kraft treten sehen, außer den beiden beschriebenen, er hatte also keine Gelegenheit, Natur und Wirkung der andern kennenzulernen, und da die Kunst der Anwendung von den alten Leuten eifersüchtig gehütet wurde, wird nach seiner Ansicht das Geheimnis bald aussterben. Ich muß hinzufügen, daß es kein Marquesaner, sondern ein Chinese war, der seit seiner Kindheit auf der Insel wohnte und ehrfürchtig an die Zauberei glaubte, die er beschrieb. Die Weißen, zu denen Ah Fu sich rechnete, waren unantastbar, aber er erzählte von einer Tahitierin, die zu den Marquesanern gekommen war, Tabufisch gegessen hatte und, obwohl über Schuld und Gefahr nicht unterrichtet, erkrankte und genau wie ein Eingeborener geheilt wurde.

Zweifellos ist der Glaube stark; zweifellos ist er bei dieser weichen und phantasiebegabten Rasse in vielen Fällen stark genug, um zu töten; besonders stark aber bei denen, die ihre Bäume heimlich unter Tabu stellen, um einen Übeltäter an seiner Krankheit zu erkennen. Oder man muß vielleicht den Gedanken des versteckten Tabu anders auffassen, nämlich als schlaues Hilfsmittel, Angst zu erwecken und so Schuldbekenntnisse hervorzulocken. Wenn jemand krank wird, soll er sich den Kopf zerbrechen über die Möglichkeit eines Vergehens und sofort zu jedem Besitzer schicken, dessen Rechte er verletzt haben könnte. »Hattest du ein Tabu versteckt?« hören sie ihn gewissermaßen fragen, und ich kann mir nicht vorstellen, daß der Eigentümer es bestreitet. Und das ist vielleicht das sonderbarste an diesem System, daß es äußerlich mit soviel naiver geistiger Ehrfurcht betrachtet wird und, wenn man es von innen her scharf prüft, so viele offenbare Anzeichen der Absichtlichkeit trägt.

Wir lesen in Dr. Campbells Poenamo von einer jungen Neuseeländerin, der man törichterweise erzählte, sie habe Tabuyam gegessen, und die sofort erkrankte und innerhalb zweier Tage aus bloßer Furcht starb. Der Zeitraum ist derselbe wie bei den Marquesanern, die Symptome waren ohne Zweifel auch die gleichen. Wie sonderbar die Vorstellung, daß ein Aberglaube von solcher Gewalt möglicherweise wohlüberlegt eingeimpft wurde und daß, falls er ursprünglich auch nicht erfunden wurde, alle Einzelheiten offenbar von einer Art polynesischem Polizeipräsidium arrangiert worden sind. Erklärlicherweise ist der Glaube heute – und war es wahrscheinlich immer – durchaus nicht allgemein. Die Hölle ist bei uns daheim für manche ein starkes Abschreckungsmittel, für andere ein gleichgültiger Gedanke; wieder andere machen sich öffentlich darüber lustig, wenn sie auch ihrer Sache nicht ganz sicher sind, und so geht es auf den Marquesas mit dem Tabu. Mr. Regler hat beide Extreme des Skeptizismus und der naiven Furcht beobachtet. In dem Hain der Tabubäume entdeckte er einen jungen Burschen, der lachend und ohne Scheu wie ein Straßenjunge Brotfrucht stahl, und nur durch Androhung einer Anzeige ließ er sich etwas aus der Fassung bringen. Der andere Fall war in jeder Beziehung das genaue Gegenteil. Mr. Regler bat einen Eingeborenen, ihn auf einer Reise zu begleiten. Der Mann folgte frohgemut, aber plötzlich entdeckte er einen toten Tabufisch auf dem Boden des Bootes, sprang mit einem Schrei zurück und konnte selbst durch das Versprechen eines Dollars nicht veranlaßt werden zurückzukommen.

Die Marquesaner leben also, wie man sieht, in der alten Vorstellung, daß Glaube und Pflicht örtlich verschieden sind. Die Weißen sind nicht nur von den üblen Folgen ausgenommen, sondern ihre Übertretungen scheinen auch keinen Abscheu zu erregen. Mr. Regler hatte den Fisch getötet, aber der gläubige Eingeborene war nicht etwa aufgebracht gegen ihn, sondern weigerte sich nur, sein Boot zu betreten. Ein Weißer ist ein Weißer: der Diener anderer und liberalerer Götter sozusagen, und man darf ihn nicht tadeln, wenn er von seiner Freiheit Gebrauch macht. Die Juden brachen vielleicht zum ersten Male diesen alten Frieden zwischen den verschiedenen Religionen, und der jüdische Geist lebt noch immer im Christentum. Alle Welt muß unsere Tabus beachten, sonst knirschen wir mit den Zähnen.

Sechstes Kapitel


Das fünftägige Fest

Donnerstag, den 25. Juli. Die Straße war an diesem Tage stark belebt durch die Anwesenheit der Leute von Klein-Makin. Sie sind durchgängig größer als die Leute von Butaritari, waren wegen des Festtages mit gelben Blättern bekränzt und trugen prächtige, grellfarbige Gewänder. Man sagt, daß sie wild und auf diese Auszeichnung stolz sind. Tatsächlich schien es uns, als ob sie, ihrer barbarischen Tugenden wohl bewußt, in der Stadt umherstolzierten wie die Hochländer in ihren Plaids auf den Straßen von Inverneß.

Am Nachmittag sah man das Sommerhaus gerammelt voll von Menschen, viele standen draußen und drängelten wie Kinder bei uns zu Hause vor einem Zirkus, um einen Blick unter das niedrige Dach zu werfen. Es war die Gesangstruppe von Makin, die ihre Proben abhielt für den Tag des Wettbewerbes. Karaiti saß in der ersten Reihe dicht bei den Sängern, wohin auch wir gebeten wurden, um neben ihm zu sitzen, wahrscheinlich zu Ehren der Königin Viktoria. Eine gewaltige, atemraubende Hitze lag unter dem eisernen Dach, und die Luft war schwanger vom Duft der Kränze. Die Sänger saßen gruppenweise auf der Erde, feingeflochtene Matten um die Hüften, Kokosnußfedern als Ringe auf den Fingern, die Häupter gekrönt mit gelben Blättern. Eine verschiedene Anzahl von Solisten erhob sich zu den verschiedenen Gesängen, die den Hauptteil der Musik ausmachten. Aber alle Gruppen in ihrer Gesamtstärke trugen ständig zur Wirkung bei, auch wenn sie nicht sangen. Sie markierten scharf den Takt, äfften einander nach, schnitten Grimassen, warfen Köpfe und Blicke hin und her, ließen die Federn an ihren Fingern flattern, klatschten in die Hände oder schlugen an ihre linke Brust, daß es laut dröhnte wie eine Kesselpauke. Der Rhythmus war prächtig, die Musik barbarisch, aber voll bewußter Kunst. Ich bemerkte, daß gewisse Kunstgriffe ständig angewandt wurden. Eine plötzliche Änderung des Schlusses, glaube ich, wurde ohne Unterbrechung des Rhythmus vorgenommen, der durch plötzliche dramatische Erhöhung der Stimmlage und schwingendes allgemeines Gestikulieren betont wurde. Die Stimmen der Solisten begannen in großen Tonunterschieden und rauhem Mißklang, um allmählich zusammenzufließen. Dann fiel der volle Chor ein und übertönte sie. Die gewöhnlich gehetzte, bellende, unmelodische Tonfolge wurde manchmal herrlich unterbrochen von einer psalmenähnlichen Melodie, die oft gut erfunden war oder es wenigstens schien, aus dem Gegensatz heraus. Der Rhythmus wechselte oft, und am Schlusse jedes Vortrages, wenn das Tempo rasch und wild geworden war, folgten diese Takte:

Es ist schwer zu begreifen, wie sie soviel Feuer und Besessenheit in diese gehämmerten Schlußrhythmen legen können. Alles vereinigt sich: Stimme, Hände, Augen, Blätter und flatternde Fingerringe, der Chor schwingt hin und her vor unseren Augen, der Gesang dröhnt pulsierend in den Ohren, die Gesichter verzerren sich vor Begeisterung und Anstrengung.

Bald darauf erhob sich die ganze Truppe, die Trommler bildeten einen Halbkreis für die Solisten, die manchmal fünf oder mehr zählten. Die folgenden Gesänge waren höchst dramatisch. Obgleich ich niemand hatte, der mir irgendeine Erklärung gab, konnte ich manchmal schattenhafte, aber entschiedene Umrißlinien einer Handlung feststellen, und ich wurde beständig an gewisse streithaft verwickelte Szenen unserer großen Opern daheim erinnert: genau so heben sich hier einzelne Stimmen aus dem allgemeinen Vortrag heraus und treten wieder zurück, genau so trennen sich die Darsteller und kommen wieder zusammen, schütteln die erhobene Faust und rollen das Auge zum Himmel – oder zur Galerie. Schon das geht über das primitive Vorbild des Tespiskarrens hinaus, die Kunst dieses Volkes ist bereits jenseits des Embryostadiums: Gesang, Tanz, Trommeln, Quartett und Solo – es ist ein vollentwickeltes Drama, wenn auch in kleinen Umrissen. Von allen sogenannten Tänzen in der Südsee waren die in Butaritari bei weitem die besten. Das »Lula«, das der eilige Globetrotter in Honolulu sehen kann, ist ohne Zweifel die langweiligste aller menschlichen Erfindungen, und der Zuschauer gähnt ob seiner Länge wie bei einer Universitätsvorlesung oder einer Parlamentsdebatte. Aber der Tanz der Gilbertinseln hat geistige Elemente, er erregt, reißt mit sich fort und hält im Bann, er besitzt das Wesen aller echten Kunst, eine unerforschliche innere Bedeutung. Wo so viele mitwirken und alle im gegebenen Augenblick dieselbe rasche, kunstvolle und oft willkürliche Bewegung machen müssen, ist die Belastung durch Proben selbstverständlich außerordentlich groß. Aber sie beginnen als Kinder, man kann oft ein Kind und einen Mann zusammen in einem Maniak sehen: der Mann singt und gestikuliert, das Kind steht vor ihm mit strömenden Tränen und ahmt zitternd Bewegung und Ton nach; der Künstler auf den Gilbertinseln muß wie alle Künstler seine Kunst in Schmerzen lernen.

Es könnte den Anschein haben, als ob ich in meinem Lob zu weit ginge, aber ich gebe hier eine Stelle aus dem Tagebuch meiner Frau wieder, die beweist, daß nicht ich allein bewegt war, und die das Bild abrundet: »Der Dirigent gab das Zeichen, und alle Tänzer schwangen die Arme, bewegten ihre Körper hin und her und klopften in vollendetem Rhythmus gegen die Brust. Das war die Einleitung. Die Darsteller blieben sitzen, ausgenommen von zweimal drei und zweimal einem einzigen Solisten. Diese standen in der Gruppe und machten kleine Bewegungen mit den Füßen, während ihr Körper bei dem Gesang leise rhythmisch mitschwang. Nach diesem Vorspiel trat eine Pause ein, und dann begann die richtige Oper – denn es war nichts Geringeres als das –, eine Oper, in der jeder Sänger ein vollendeter Schauspieler war. Der Hauptdarsteller schien sich in leidenschaftlicher Ekstase, die ihn vom Kopf bis zu den Füßen beherrschte, zu verwandeln. Einmal war es, als wehe ein starker Wind über die Bühne – die Arme und die befiederten Finger erbebten in einer so starken Bewegung, daß auch meine Nerven mitzitterten: Kopf und Körper beugten sich wie ein Kornfeld im Stoßwind. Mein Blut wurde heiß und kalt, Tränen drangen mir in die Augen, meine Gedanken verwirrten sich, ich fühlte einen fast unwiderstehlichen Drang, mich den Tänzern anzuschließen. Ich glaube das eine Drama ziemlich genau verstanden zu haben; ein wüster, wilder alter Mann spielte die Solopartie. Er sang von der Geburt eines Prinzen, und wie er zärtlich gewiegt wurde in den Armen der Mutter, von seiner Kindheit, da er sich vor den Freunden auszeichnete im Schwimmen, Klettern und allen athletischen Sports, von seiner Jünglingszeit, da er mit dem Boot ins Meer hinausfuhr und fischte, von seiner Manneszeit, da er eine Frau heiratete, die einen Sohn von ihm in ihren Armen trug. Dann folgte Kriegsalarm und eine große Schlacht, deren Ausgang eine Zeitlang zweifelhaft war, aber der Held siegte wie alle Helden, und mit einem riesigen Siegesgeschrei schloß das Stück. Es gab auch komische Stücke, die großes Vergnügen bereiteten. Während eines Vortrages ergriff mich ein alter Mann hinter mir am Arm, drohte mir mit schelmischem Lächeln und sagte kichernd irgend etwas, was ich ungefähr auslegte wie: ›O ihr Frauen, ihr Frauen, es ist wahr, ihr seid alle gleich!‹ Ich fürchte, es war kein Kompliment. Niemals sah man das geringste Zeichen jener häßlichen Unanständigkeiten der östlichen Inseln. Alles war reine und einfache Poesie. Die Musik war so schwierig wie die unsere, obgleich sie nach anderen Gesetzen aufgebaut war. Ein oder zweimal überraschte mich eine Tonfolge, die der besten englischen Kirchenmusik sehr ähnlich war, aber sie dauerte nur einen Augenblick. Schließlich fand eine längere Pause statt, und diesmal waren die Tänzer alle auf den Beinen. Mit der Entwicklung des Dramas wuchs das Interesse. Die Schauspieler munterten einander auf und riefen die Zuhörer und den Himmel droben an, berieten sich miteinander, und die Verschwörer bildeten eine Gruppe. Es war genau wie in der Oper, die Trommeln fielen an geeigneten Stellen ein, Tenor, Bariton und Baß waren vorschriftsmäßig, nur daß die Stimmen alle denselben Umfang besaßen. Eine Frau sang einmal von der hinteren Reihe mit einer sehr feinen Altstimme, die verdorben war, weil man sie künstlich nasal gemacht hatte. Ich bemerkte, daß alle Frauen diese unangenehme Unsitte angenommen hatten. Einmal war ein Knabe von engelhafter Schönheit der Solist, und ein andermal wurde ein Kind von sechs oder acht Jahren, sicher ein Wunderkind, das ausgebildet wurde, in die Mitte gestellt. Der kleine Kerl war zuerst entsetzlich furchtsam und scheu, aber zum Schluß wurde er warm und zeigte viel dramatisches Talent. Der wechselnde Ausdruck auf den Gesichtern der Tänzer war so sprechend, daß man sehr dumm sein mußte, um sie nicht zu verstehen.«

Unser Nachbar bei der Vorstellung, Karaiti, ist Sr. Butaritarischen Majestät in Gestalt und Gesichtsschnitt ähnlich, er ist gleich ihm würdig, trägt einen Bart und sieht aus wie ein Orientale. Im Charakter scheint er das Gegenteil zu sein: beweglich, lächelnd, jovial, witzig und fleißig. Zu Hause arbeitet er auf seiner eigenen Insel wie ein Sklave und läßt sein Volk wie ein Sklaventreiber arbeiten. Er hat Interesse für neue Ideen. Der Händler George erzählte ihm von Flugmaschinen. »Ist das wahr, George?« fragte er. »Es steht in der Zeitung«, antwortete George. »Nun gut,« sagte Karaiti, »wenn jener Mann das mit seiner Maschine tun kann, so kann ich es ohne Maschine.« Und er entwarf und verfertigte ein Paar Flügel, befestigte sie an seinen Schultern, ging zum Ende des Piers, warf sich in den freien Raum und fiel plump ins Meer. Seine Weiber fischten ihn heraus, denn seine Flügel hinderten ihn am Schwimmen. »George,« sagte er innehaltend, als er nach Hause ging, um sich umzuziehen, »George, du lügst«. Er hatte acht Frauen, denn in seinem kleinen Reich befolgte man noch die alten Gebräuche, aber er schien verwirrt, als man es meiner Frau erzählte. »Erzähle ihr, daß ich nur eine mitgebracht habe«, sagte er besorgt. Im großen ganzen gefiel uns dieser schwarze Douglas sehr, und als wir weitere Einzelheiten über die Beunruhigung des Königs hörten und mit unseren eigenen Augen sahen, daß alle Waffen im Sommerhaus versteckt worden waren, beobachteten wir mit um so mehr Bewunderung den Urheber all dieser Furcht, der auf seinen mächtigen Beinen mit seinem großen lächelnden Gesicht offenbar unbewaffnet und bestimmt ohne Begleitung durch die feindliche Stadt trottete. Der rote Douglas, der dickbäuchige Kuma, hatte wohl von dem Gelage gehört und war auf seinem Lehen geblieben; seine Vasallen kamen also ohne Befehlshaber zum Fest und vermehrten die Gefolgschaft Karaitis.

Freitag, den 26. Juli. Abends in der Dunkelheit marschierten die Sänger von Makin auf der Straße vor unserem Hause auf und sangen den Gesang der Prinzessin: »Dies ist der Tag, heute wurde sie geboren, Nei Kamaunava wurde heute geboren, eine wunderschöne Prinzessin, die Königin von Butaritari.« So ging es, wie man mir sagte, in endloser Wiederholung. Das Lied paßte natürlich nicht für den Tag, die Vorstellung war nur eine Probe. Aber sie war gleichzeitig eine Serenade, eine zarte Aufmerksamkeit für uns von unserem neuen Freund Karaiti.

Sonnabend, den 27. Juli. Wir hatten für den heutigen Abend eine Vorstellung mit der Laterna magica in der Kirche angekündigt, und das veranlaßte den König, uns zu besuchen. Zu Ehren des schwarzen Douglas (wie ich vermute) waren seine gewöhnlichen zwei Wächter nun auf vier vermehrt, und die Rotte machte einen ausländischen Eindruck, wie sie hinter ihm hertrottete in Strohhüten, kurzen Röcken und Jacken. Drei von ihnen trugen ihre Gewehre umgedreht, die Kolben über den Schultern, die Mündungen drohend gegen den plumpen Rücken des Königs gerichtet; der vierte hatte seine Flinte auf den Nacken geworfen und hielt sie mit ausgestreckten Armen wie einen Geradehalter. Der Besuch dauerte außerordentlich lange; der König, nun nicht mehr von Gin angeregt, sagte und tat nichts. Er saß zusammengebrochen im Stuhl und ließ seine Zigarre ausgehen. Es war heiß, es war einschläfernd, es war grausam langweilig; keine Abwechslung, als in der Gestalt Tebureimoas nach letzten Spuren des »Herrn Leichnam«, des Menschenschlächters, zu suchen. Seine Habichtsnase, roh eingedrückt und abgeplattet an der Spitze, schien uns wahrhaftig nach mitternächtiger Mordtat zu riechen. Als er sich verabschiedete, bat mich Maka, ihn beim Herabschreiten der Verandatreppe oder vielmehr -leiter zu beobachten. »Alter Mann«, sagte Maka. »Ja,« sagte ich, »und doch glaube ich, nicht bejahrt.« »Junger Mann,« erwiderte Maka, »vielleicht vierzig«. Und ich habe inzwischen gehört, daß er wahrscheinlich noch jünger ist. Während die Laterna magica vorgeführt wurde, strich ich draußen im Dunkeln umher. Die Stimme Makas, der erregt die Bibelbilder erklärte, schien nicht nur die Kirche, sondern auch die ganze Nachbarschaft zu erfüllen. Sonst war alles still. Bald darauf erhob sich in der Ferne leises Singen und näherte sich; eine Prozession kam auf dem Wege heran, und der heiße, reine Geruch von Männern und Frauen traf mein Gesicht. An der Ecke hielten sie an, stutzig geworden durch die Stimme Makas und das Aufflammen und Verdunkeln der Kirche. Sie hatten keine Lust näherzugehen, das war klar. Es waren die Leute von Makin, wahrscheinlich unentwegte Heiden, wie ich glaube, Verächter des Missionars und seines Werkes. Plötzlich brach jedoch ein Mann aus der Gesellschaft aus, rannte so schnell er konnte und floh in die Kirche hinein; im nächsten Augenblick folgten ihm drei weitere, und gleich darauf war es eine Horde von zwanzig, die alle für ihr Leben dahinstürzten. So stand die kleine Horde der Heiden unentschlossen an der Ecke und schmolz angesichts der Verlockungen einer Laterna magica wie ein Gletscher im Frühling zusammen. Die Entschlosseneren redeten vergebens auf die Deserteure ein; noch drei folgten in schuldbewußtem Schweigen und flohen, und als der Führer schließlich den Witz oder die Autorität fand, seine Truppe in Bewegung zu setzen und den Gesang wieder zu beleben, zogen die Musikanten mit stark verminderten Kräften ihres Weges dahin im Dunkeln.

Inzwischen leuchteten im Innern die Lichtbilder auf und verblaßten. Ich stand eine Weile unbeobachtet hinter den Zuschauern und sah vor mir ein Liebespaar das Schauspiel mit Interesse verfolgen, wobei der Jüngling Erklärungen gab und wie Adam Zärtlichkeiten mit den Unterweisungen verband. Die wilden Tiere, besonders ein Tiger, und jenes alte Schulbeispiel, der Schläfer und die Maus, wurden mit Freudenschreien begrüßt, aber das Hauptwunder und größte Entzücken bildeten die Bilder aus den Evangelien. Maka war nach Ansicht seines betrübten Weibes der Situation nicht ganz gewachsen. »Was ist mit meinem Mann los? Warum kann er nicht reden?« rief sie aus. Ich glaube, daß die große Gunst der Gelegenheit den Mann verwirrt hatte, er taumelte gewissermaßen vor Glück, und ob er nun gut oder schlecht sprach: die Vorführung dieser frommen »Gespenster« brachte tatsächlich in diesem ganzen Inselbezirk die Stimmen der Spötter zum Schweigen. »Da seht ihr,« ging die Rede, »die Bibel ist wahr!« Und als wir später zu dieser Insel zurückkehrten, erzählte man uns, daß der Eindruck immer noch lebendig sei, und daß diejenigen, die die Bilder gesehen hatten, zu den anderen sagten: »O ja, es ist alles wahr, diese Dinge haben sich zugetragen, wir haben die Bilder gesehen.« Die Beweisführung ist nicht so kindlich, wie sie scheint, denn ich bezweifle, ob diese Inselbewohner außer der Photographie irgendein anderes Wiedergabeverfahren kennen, so daß das Bild irgendeines Vorkommnisses für einen starken Beweis des wirklichen Geschehens gelten mußte. Alles nach dem alten englischen Melodramagrundsatz: »Die Kamera kann nicht lügen, Joseph!« Diese Tatsachen belustigten uns um so mehr, als unsere Platten teilweise albern und spaßhaft waren, und ein Bild (Christus vor Pilatus) wurde mit großer Heiterkeit aufgenommen, in die selbst Maka sich veranlaßt sah einzustimmen.

Sonntag, den 28. Juli. Karaiti kam mit einer Bitte um Wiederholung der »Gespenster« – dieses war das gebräuchliche Wort –, und als er die Zusage bekommen hatte, wandte er sich ab und verließ meine bescheidene Hütte ohne den Schatten eines Abschiedsgrußes. Es schien mir unklug, auch nur die winzigste Geringschätzung einzustecken. Die Zeiten waren zu schwierig gewesen und immer noch kritisch. Königin Viktorias Sohn war gezwungen, die Ehre seines Hauses aufrechtzuerhalten. Karaiti wurde also am Abend zu Ricks geladen, wo Frau Rick mit scharfen Worten über ihn herfiel und Königin Viktorias Sohn ihn mit entrüsteten Blicken musterte. Ich war der Esel im Löwenfell, ich konnte nicht brüllen in der Sprache der Gilbertinseln, aber ich konnte ihn anstarren. Karaiti erklärte, er habe mich nicht beleidigen wollen, entschuldigte sich in vernünftiger, herzlicher und männlicher Weise und gewann sofort seine Unbefangenheit wieder. Er ließ sich einen Dolch zur Prüfung vorlegen und verkündete, er wolle morgen in der Frühe kommen, um einen Preis zu machen, heute sei Sonntag. Diese Höflichkeit eines Helden mit acht Frauen überraschte mich. Der Dolch sei gut, »um Fische zu töten«, sagte er verschlagen und hatte vermutlich Fische mit zwei Beinen im Auge. Sonderbar genug ist es, daß in Ostpolynesien »Fisch« der gebräuchliche beschönigende Ausdruck für Menschenopfer ist. Nach der Bevölkerung seiner Insel gefragt, rief Karaiti seine Vasallen, die draußen vor der Tür saßen und auf ihn warteten, und sie nannten die Zahl vierhundertfünfzig, aber Karaiti fügte heiter hinzu, es würden bald viel mehr sein, denn alle Frauen seien in anderen Umständen. Lange bevor wir uns trennten hatte ich seine Beleidigung ganz vergessen. Er jedoch trug sie im Gedächtnis und hatte den anmutigen Einfall, in der Frühe des nächsten Tages zurückzukehren, uns einen langen Besuch abzustatten und sich höchst förmlich zu verabschieden, als er fortging.

Montag, den 29. Juli. Endlich kam der große Tag. In den ersten Abendstunden erklang lautes Händeklatschen und der Lobgesang auf Nei Kamaunava. Die melancholischen, langsamen und manchmal drohenden Rhythmen wurden stellenweise von schrecklichem Geschrei unterbrochen. Das kleine Menschenkind, das in den dunklen Stunden auf diese Weise gefeiert wurde, sah man mittags im Grünen ganz nackt, völlig unbeachtet und gleichmütig spielen.

Das Sommerhaus auf dem künstlichen Inselchen hob sich ab gegen die schimmernde Lagune und erglänzte in der Sonne, die auf dem Wellblech lag. Den ganzen Tag war es umgeben von heiteren Männern und Frauen, drinnen dichtgefüllt mit Insulanern jeden Alters und jeder Größe, in allen Stadien der Nacktheit und Eleganz. Wir saßen so dichtgedrängt, daß ich einmal eine wunderbar schöne Frau auf meinen Knien trug, während zwei nackte kleine Straßenjungen ihre Füße gegen meinen Rücken stemmten. War irgendwo eine Dame im feierlichen Gewand des Holoku, in Hut und Blumen, so konnte die nächste Nachbarin im nächsten Augenblick irgendeinen kleinen Tuchfetzen von ihren fetten Schultern streifen und wie ein Denkmal von Fleisch dastehen, eher bestrichelt als bedeckt von dem haarbreiten Ridi. Kleine Damen, die sich zu groß dünkten, unbekleidet auf einem so hohen Fest zu erscheinen, sah man draußen im hellen Sonnenschein stillstehen, ihre zierlichen Ridis in der Hand: einen Augenblick später waren sie voll bekleidet und betraten den Konzertsaal.

Die beiden Sängergruppen auf den beiden Seiten standen auf, um zu singen, und setzten sich, um auszuruhen: Kuma und Klein-Makin im Norden, Butaritari und die anliegenden Dörfer im Süden, beide Gruppen in barbarischer Pracht. In der Mitte zwischen diesen gegnerischen Lagern der Troubadoure war eine Bank aufgestellt, und hier thronten der König und die Königin zwei oder drei Fuß über der horchenden Menge auf dem Boden – Tebureimoa wie gewöhnlich in seinem gestreiften Pyjama mit einer Tasche über einer Schulter, die nach Inselsitte ohne Zweifel seine Pistolen enthielt; die Königin in einem purpurnen Holoku, das weiße Haar herunterhängend, einen Fächer in der Hand. Die Bank war so gestellt, daß den Fremden die Frontseite zugekehrt war, eine wohlberechnete Höflichkeitsbezeugung. Wenn nun die Reihe an Butaritari war zu singen, so mußte das Paar sich auf der Bank umdrehen, die Ellbogen auf die Lehne stützen und uns den Anblick ihrer breiten Rücken zeigen. Das königliche Paar erquickte sich manchmal an einer Tonpfeife, und das stattliche Gepränge wurde außerdem noch erhöht durch die Gewehre einer Wachabteilung.

In dieser königlichen Umgebung hörten wir, während wir selbst am Boden hockten, verschiedene Lieder von der einen oder anderen Partei; dann zogen sich der königliche Hofstaat und die Wachen zurück, und Königin Viktorias Sohn und Schwiegertochter wurden durch Zuruf aufgefordert, den freien Thron einzunehmen. Unser Stolz wurde vielleicht ein wenig gedämpft, als sich uns auf unseren erhabenen Plätzen ein gewisser verschwenderischer Taugenichts von einem Weißen zugesellte, und doch war ich froh darüber, denn der Mann hatte eine oberflächliche Kenntnis der Eingeborenensprache und konnte mir eine gewisse Vorstellung vom Inhalt der Lieder geben. Das eine war patriotisch und forderte Tembinok‘ von Apemama, den Schrecken der Inselgruppe, zu einem Überfall heraus. Ein anderes Lied sang vom Tarosäen und Erntefest. Manche hatten historische Themen und feierten Könige und berühmte Ereignisse ihrer Zeit, zum Beispiel ein Trinkgelage oder einen Krieg. Eines zum mindesten war eine Art Familiendrama und wurde von der Makintruppe ausgezeichnet gespielt. Es erzählte die Geschichte eines Mannes, der sein Weib verloren hat, zunächst ihren Verlust beklagt und dann eine andere sucht; die ersteren Strophen werden ausnahmslos von Männern gespielt, aber gegen Schluß erscheint eine Frau, die ihren Gatten verloren hat, und es schien so, als ob das Paar sich miteinander tröste, denn der Schluß schien von glücklicherer Vorbedeutung. Von einigen Liedern sagte mir mein Nachbar kurz, sie handelten wahrscheinlich von Frauen, aber das hatte ich auch selbst erraten. Jede Gruppe wurde, wie ich erwähnen will, durch eine oder zwei Frauen verstärkt. Sie waren alle Solisten, wirkten nicht sehr oft mit, sondern standen untätig im Hintergrund der Bühne und sahen mit Ridi, Halsband und aufgestecktem Haar tatsächlich aus wie europäische Ballettänzerinnen. Wenn die Lieder irgendwie dreister wurden, traten diese Damen besonders in den Vordergrund, und es war sonderbar zu sehen, daß nach jedem Auftritt die Vortänzerin so tat, als werde sie von Scham überwältigt und sei weitergegangen, als sie gewollt habe. Ihre männlichen Mittänzer taten, als trieben sie sie fort wie jemand, der sich mit Schande bedeckt hat. Derartige Zierereien begleiteten gewisse wirklich unanständige Tänze auf Samoa, wo sie sehr wohl am Platze sind. Hier war es anders, die Worte in dieser offenherzigen Welt waren vielleicht kraß genug, um einen Droschkenkutscher erröten zu machen, aber die freieste Gebärde war eben dies Spiel angeblicher Scham. Für diese Rollen zeigten die Frauen manche Begabung, sie waren keck, sie waren niedlich, sie waren gewandt, sie waren zeitweise wirklich amüsant, und einige von ihnen waren hübsch. Aber alles das ist nicht das Gebiet des Künstlers: die ganze Weite des Himmelsraumes liegt zwischen diesem Herumspringen und Äugeln und den fremdartigen rhythmischen Bewegungen und leidenschaftlichen, fast wahnsinnigen Gesichtern, mit denen die besten männlichen Tänzer uns in einem Ballett auf den Gilbertinseln gefangenhielten.

Fast vom ersten Augenblick an war es klar, daß die Leute der Stadt unterlegen waren. Ich hatte sie sicher für gleich gut gehalten, wenn ich nicht die andere Truppe vor Augen gehabt hätte, um mein Urteil zu korrigieren und mich ständig daran zu erinnern, daß hier irgend etwas Unbestimmbares noch hinzukam, das eigentlich Entscheidende. Als der Chor von Butaritari sich in den Hintergrund gedrängt sah, wurde er verwirrt, machte Fehler und brach zusammen. Inmitten dieses Wirrwarrs von Rhythmen würde ich selbst die Mängel gar nicht bemerkt haben, aber die Zuhörerschaft erfaßte sie rasch und begann zu spotten. Um allem die Krone aufzusetzen, begann die Makin-Gruppe einen Tanz von wahrhaft ausgezeichneter Schönheit. Ich weiß nicht, um was es sich handelte, ich war zu sehr gefangen, um zu fragen. In einem Akt brachte ein Teil des Chors fast die Wirkung unserer Orchester hervor, indem man in einem sonderbar fremdartigen Falsett kreischte; in einem anderen hüpften die Tänzer mit ausgestreckten Armen wie Clowns umher und rannten reihenweise durcheinander mit ungeheurer Schnelligkeit und Ausgelassenheit. Ich sah nie eine humoristischere Szene; in jedem europäischen Theater würden sie einen Sensationserfolg gehabt haben, und die Inselzuhörer krümmten sich vor Lachen und Beifall. Das brachte die andere Gruppe außer sich, und sie vergaßen sich selbst und jeden Anstand. Nach jedem Akt oder jeder Figur des Balletts pausieren die Darsteller einen Augenblick stehend, und der nächste Akt wird durch Händeklatschen im Dreitakt eingeleitet. Kurz vor Schluß der ganzen Ballettaufführung setzen sie sich hin, das Zeichen für die andere Gruppe aufzustehen, aber nun wurden alle Regeln durchbrochen. In der Pause, die dem Beifallssturm folgte, sprang die Gruppe von Butaritari plötzlich auf die Füße und begann in höchst unschöner Weise eine eigene Darbietung. Es war sonderbar zu sehen, wie die Leute von Makin sie anstarrten; niemals sah ich in Europa einen Tenor mit derselben verwirrten Würdigkeit in eine zischende Zuschauermenge starren. Aber gleich darauf wurden sie zu meiner Überraschung ruhiger, gaben den ungesungenen Teil ihres Balletts auf, nahmen ihre Sitze ein und duldeten, daß ihre ungalanten Gegner zu Ende spielten. Aber das genügte nicht. Bei der ersten Pause schritt Butaritari wieder in häßlicher Weise ein, Makin folgte erregt ihrem Beispiel, und die beiden Tänzergruppen blieben nun dauernd stehen, klatschten in die Hände und lösten sich willkürlich nach jeder Pause ab. Ich erwartete, daß jeden Augenblick eine Schlägerei beginnen würde, wobei unsere Lage inmitten der Gruppen höchst fatal gewesen wäre. Aber die Leute von Makin fanden einen besseren Ausweg, nach einer neuerlichen Unterbrechung wandten sie sich ab und verließen das Haus. Wir folgten ihnen, erstens, weil sie die wirklichen Künstler waren, und zweitens, weil sie Gäste und in gemeiner Weise behandelt worden waren. Eine große Anzahl unserer Nachbarn tat dasselbe, so daß der Laufsteg von einem Ende zum andern angefüllt war mit Deserteuren und der Butaritarichor zu seiner eigenen Unterhaltung im leeren Hause allein weiterspielen konnte; er hatte den Streit gewonnen und die Zuhörerschaft verloren. Es war ohne Zweifel ein Glück, daß niemand betrunken war, aber betrunken oder nüchtern: wo wäre sonst eine so erregte Versammlung ohne Schlägerei auseinandergegangen?

Die letzte Vorführung und der Höhepunkt dieses Festtages war von uns vorbereitet: die zweite und unwiderruflich letzte Vorführung der »Gespenster«. Rund um die Kirche saßen Gruppen draußen in der Nacht, wo sie nichts sehen konnten; vielleicht schämten sie sich hineinzugehen, sicher aber bereitete es ihnen ein schattenhaftes Vergnügen, sich auch nur in der Nähe aufzuhalten. Drinnen war ungefähr die Hälfte des großen Raumes gedrängt voll. In der Mitte auf dem königlichen Thronsessel qualmte die leuchtende Laterna magica; einige Lichtstrahlen fielen auf das ernste Gesicht unseres Chinesen, der eine Drehorgel spielte, in mattem Schein sah man die Sparren des Dachgewölbes und ihre Schatten, die Bilder erschienen und verschwanden auf der Leinwand. Bei jedem neuen erhob sich Raunen, Flüstern und ein Geräusch von erschauernd hin und her rückenden Menschen, in das sich ein Chor kleiner Schreie mischte. Neben mir saß der Steuermann eines schiffbrüchigen Schoners. »In Europa oder den ›Staaten‹ würden sie sich wundern über solche Vorstellung«, sagte er, »in einem solchen Gebäude, das nur mit ein paar Stricken zusammengehalten wird.«

Siebentes Kapitel


Mann und Frau

Ein Händler, der an die Sitten Polynesiens gewöhnt ist, hat auf den Gilbertinseln umzulernen. Das Ridi ist nur ein spärliches Gewand. Noch vor dreißig Jahren gingen die Frauen nackt bis zur Hochzeit, innerhalb von zehn Jahren kam der Brauch ab, und diese Tatsachen vermitteln, besonders wenn man sie nur vom Hörensagen kennt, eine ganz falsche Vorstellung von den Sitten dieser Inselgruppe. Ein sehr kluger Missionar bezeichnete die Insel in ihrem früheren Zustand als »ein Paradies nackter Frauen« für die ansässigen Weißen. Jedenfalls war es ein platonisches Paradies, wo Lothario auf eigene Gefahr Abenteuer suchte. Seit 1860 haben vierzehn Weiße auf einer einzigen Insel aus demselben Grunde ihr Leben eingebüßt, alle wurden an Orten gefunden, wo sie keine Geschäfte hatten, und von einem erbosten Familienvater aufgespießt. Die Ziffer wurde von einem ihrer Zeitgenossen angegeben, der klüger gewesen und am Leben geblieben war. Die sonderbare Hartnäckigkeit dieser vierzehn Märtyrer sieht fast aus wie Monomanie oder eine ununterbrochene Folge romantischer Leidenschaften: Gin ist wahrscheinlich der eigentliche Hintergrund. Die armen Kerle saßen allein in ihren Häusern bei dem offenen Schnapskasten, sie tranken, ihr Verstand verwirrte sich, sie taumelten auf gut Glück zum nächsten Haus, und der Wurfspieß durchdrang ihre Leber. An Stelle eines Paradieses fand der Händler einen Archipel mit eifersüchtigen Gatten und tugendhaften Frauen. »Wenn man ihnen natürlich den Hof machen will, ist es wie überall sonst«, sagte ein Händler unschuldig, aber er und seine Begleiter taten es selten.

Man muß den Händler loben wegen eines Vorzugs: er ist oft ein liebevoller und treuer Gatte. Einige der schlimmsten Herumtreiber im Stillen Ozean, die Letzten der alten Schule, sind mir auf meinen Wegen begegnet, manche von ihnen waren von einem bewundernswerten Benehmen gegen ihre eingeborenen Frauen und einer ein verzweifelter Witwer. Die Stellung der Frau eines Händlers auf den Gilbertinseln ist übrigens außergewöhnlich beneidenswert. Sie teilt die Unverletzlichkeit ihres Gatten, die Abendglocke läutet in Butaritari vergeblich für sie. Lange nachdem das Geläute vorüber ist und die großen Damen der Insel für die Nacht in ihr Haus verwiesen sind, dürfen die privilegierten Freigelassenen noch durch die öden Straßen laufen und kichern oder im Dunkeln zum Bade gehen. Das ganze Warenlager ist zu ihrer Verfügung, sie gehen wie eine Königin gekleidet und schlemmen jeden Tag in Leckerbissen aus Konservenbüchsen. Sie, die vielleicht unter den Eingeborenen weder Achtung noch Stellung besaß, sitzt jetzt mit Kapitänen zusammen und wird an Bord der Schoner bewirtet. Fünf dieser privilegierten Damen waren zeitweise unsere Nachbarinnen. Vier davon waren hübsche, leichtfertige Mädel, verspielt wie Kinder und zum Schmollen geneigt wie Kinder. Sie trugen am Tage Kleider, aber neigten dazu, beim Dunkelwerden diese übernommenen Dinge abzustreifen und im angestammten Ridi auf dem Grundstück laut schreiend herumzutollen. Beständig spielten sie Karten, wobei Muscheln als Zahlpfennige dienten; man betrog sich fast immer untereinander, und das Ende einer Partie war, besonders wenn ein Mann mit dabei war, ein allgemeines Greifen nach den Muscheln. Die fünfte war eine Matrone. Es war ein malerischer Anblick, sie Sonntags zur Kirche segeln zu sehen, einen Schirm in der Hand, ein Kindermädchen folgend, das Baby in einem großen Hut vergraben, bewaffnet mit einer Patentmilchflasche. Der Gottesdienst wurde belebt durch ständiges Überwachen und Tadeln des Mädchens. Man konnte sich der Vorstellung nicht erwehren, daß das Baby eine Puppe und die Kirche ein europäisches Kinderzimmer sei. Alle diese Frauen waren gesetzlich verheiratet. Es ist wahr, daß die Heiratsurkunde der einen, die sie uns stolz zeigte, so lautete, daß sie »auf eine Nacht verheiratet« sei, und daß es ihrem lieblichen Partner freistehe, »sie zur Hölle zu schicken« am nächsten Morgen, aber sie war durch diesen feigen Trick weder besser noch schlechter daran. Eine andere war, wie ich hörte, auf einem meiner Bücher, in einer unberechtigten Nachdruckausgabe, verheiratet worden, es erfüllte den Zweck ebensogut wie die Bibel im Gerichtssaal. Trotz dieser Verlockungen der gesellschaftlichen Ausnahmestellung, der ausgezeichneten Kleidung, der verhältnismäßig vollkommenen Befreiung von Arbeit und einer regelrechten Eheschließung, die sogar Gesetzeskraft hatte, auch wenn sie über einer unberechtigten Buchausgabe geschlossen wurde, muß ein Händler oft lange suchen, bevor er sich verheiraten kann. Während ich mich auf der Inselgruppe aufhielt, ging einer schon acht Monate auf Freiersfüßen und war immer noch Junggeselle.

Innerhalb der reinen eingeborenen Gesellschaft waren die alten Gesetze und Gebräuche streng, aber nicht ohne den Stempel einer gewissen Großherzigkeit. Heimlicher Ehebruch wurde mit dem Tode bestraft, öffentliches Verlassen des Gatten dagegen vergleichsweise mit Recht als Tugend angesehen und ausgeglichen durch eine Beschlagnahme von Landbesitz. Der männliche Ehebrecher allein scheint bestraft worden zu sein. Die korrekte Haltung für einen eifersüchtigen Mann ist es, sich aufzuhängen, eine eifersüchtige Frau hat ein anderes Hilfsmittel: sie beißt ihre Rivalin. Vor zehn oder zwanzig Jahren war es ein mit der Todesstrafe bedrohtes Verbrechen, das Ridi einer Frau hochzuheben, noch heute ist es mit hoher Strafe an Besitz belegt, und das Bekleidungsstück selbst ist immer noch symbolisch heilig. Wenn in Butaritari ein Stück Land umstritten ist, so hat derjenige seinen Prozeß gewonnen, der zuerst ein Ridi am Tabupfosten aufhängt, da niemand außer ihm es berühren oder entfernen darf.

Das Ridi war das Kennzeichen nicht der Frau, sondern des Weibes, das Abzeichen nicht ihres Geschlechts, sondern ihrer Stellung. Es war das Halsband des Sklaven und das Fabrikzeichen von Waren. Die ehebrecherische Frau scheint man verschont zu haben: war der Gatte beleidigt, so würde es einen traurigen Trost bedeutet haben, seine Zugtiere zum Schlachthaus zu führen. Karaiti nennt seine acht Weiber bis auf den heutigen Tag »seine Pferde«, nachdem ihm ein Händler die Verwendung dieser Tiere auf dem Lande erklärt hat, und Nanteitei vermietete seine Weiber für Maurerarbeiten. Ehegatten, wenigstens diejenigen von hohem Rang, hatten Gewalt über Leben und Tod, selbst Weiße scheinen sie besessen zu haben, und ihre Weiber, die sich über die Grenze des Verzeihens hinaus vergangen hatten, beeilten sich, die Abbitteformel zu sprechen: » I Kana Kim.« Diese Wortfolge besitzt so große Kraft, daß ein verurteilter Verbrecher, der sie an einem bestimmten Tage vor dem König, seinem Richter, ausspricht, sofort freigelassen werden muß. Es ist ein Angebot der Demütigung, und merkwürdig genug ist das Gegenteil – eine Nachahmung – eine schwere Beleidigung in Großbritannien bis auf den heutigen Tag. Ich gebe eine Szene wieder zwischen einem Händler und seiner Frau, einer Gilbertinsulanerin, wie sie mir von dem Gatten, jetzt einem der ältesten Ansitzer, damals aber noch unerfahren, erzählt wurde.

»Geh und mache Feuer,« sagte der Händler, »und wenn ich Öl gebracht habe, werde ich Fische kochen.«

Die Frau grunzte ihn an nach Inselsitte.

»Ich bin kein Schwein, daß du mich angrunzen darfst«, sagte er.

»Ich weiß, daß du kein Schwein bist,« sagte die Frau, »aber ich bin auch nicht deine Sklavin.«

»Um sicher zu sein, daß du nicht meine Sklavin bist, und wenn es dir nicht paßt, bei mir zu bleiben, tust du besser, zu deiner Familie nach Hause zurückzukehren,« sagte er, »aber inzwischen geh und mache Feuer, und wenn ich Öl gebracht habe, will ich Fische kochen.«

Sie ging fort, scheinbar um zu gehorchen, und bald darauf, als der Händler sich umsah, hatte sie ein so gewaltiges Feuer entfacht, daß das Küchenhaus in Flammen aufging.

» I Kana Kim!« rief sie aus, als sie ihn herankommen sah, aber er beachtete es nicht und schlug sie mit einem Kochtopf. Der Fuß durchdrang ihren Schädel, Blut strömte heraus, man glaubte, sie sei tot, und die Eingeborenen umgaben in feindlicher Haltung das Haus. Ein anderer Weißer war anwesend, ein Mann von mehr Erfahrung. »Du wirst uns beide in den Tod bringen, wenn du so fortfährst,« rief er aus, »sie hatte gesagt ›I Kana Kim‹!« Wenn sie nicht » I Kana Kim« gesagt hätte, hätte er sie mit einem Kessel schlagen können; nicht der Schlag an sich war das Verbrechen, sondern die Mißachtung einer geheiligten Formel.

Polygamie, die besondere Unantastbarkeit der Frauen, ihre halb sklavische Stellung, ihre Absperrung im Harem des Königs, selbst ihr Vorrecht, beißen zu dürfen – alles das scheint eine mohammedanische Gesellschaftsordnung anzudeuten und die Ansicht, daß Frauen keine Seelen haben. Aber das ist durchaus nicht so, es hat nur den Anschein. Nachdem man diese eigenartigen Zustände in einem Hause kennengelernt hat, geht man zum nächsten und findet alles umgekehrt, die Frau ist Herrin, der Mann nur der erste ihrer Sklaven. Die Autorität liegt nicht beim Gatten als solchem oder bei der Frau als solcher, sie liegt beim Häuptling oder der Häuptlingsfrau, bei ihm oder ihr, je nachdem, wer die Ländereien der Sippe geerbt hat und Elternrechte der Sippe gegenüber vertritt, ihre Dienstleistungen entgegennimmt und ihre Abgaben bezahlt. Es gibt nur eine Quelle der Macht und einen Grund der Würde: Rang. Der König heiratete einen weiblichen Häuptling, und sie wurde seine Dienerin und mußte mit ihren Händen beim Pierbau von Messrs. Wightman arbeiten. Der König ließ sich von ihr scheiden, und sie gewann sofort ihre frühere Stellung und Macht zurück. Sie heiratete einen hawaiischen Seemann, und nun ist der Mann ihr Bedienter und kann jederzeit fortgejagt werden. Ja, diese niedriggeborenen Herren werden sogar körperlich bestraft und müssen wie erwachsene, aber gehorsame Kinder Züchtigungen hinnehmen.

Wir waren gute Freunde in einem solchen Haushalt, dem von Nei Takauti und Nan Tok‘. Ich nenne die Dame des Hauses notwendigerweise zuerst. Eine Woche lang war meine Frau in unserem Narrenparadies allein zum Seestrand der Inseln gegangen, um Muscheln zu suchen. Es ist mir heute klar, daß das leichtsinnig war, und sie bemerkte bald einen Mann und eine Frau, die sie beobachteten. Was immer sie tat, ihre Wächter hielten sie ständig im Auge, und wenn der Nachmittag sich neigte und sie glaubten, sie sei nun lange genug draußen, nahmen sie sie in ihre Obhut und befahlen ihr durch Zeichen und in gebrochenem Englisch, nach Hause zurückzukehren. Auf dem Wege zog die Dame eine Tonpfeife aus dem Ohrringloch, der Gatte zündete sie an und händigte sie meiner unglücklichen Frau aus, die nicht wußte, wie man dieser unbequemen Gunstbezeugung ausweichen konnte, und als sie alle bei unserem Hause angelangt waren, setzte sich das Paar neben sie auf den Boden und benutzte die Gelegenheit, um zu beten. Seit jenem Tage waren sie Freunde unserer Familie, brachten dreimal am Tage wunderschöne Inselkränze von weißen Blumen, besuchten uns jeden Abend und brachten uns oft zu ihrem eigenen Maniap‘, wobei das Weib meine Frau an der Hand führte wie ein Kind das andere.

Nan Tok‘, der Gatte, war jung, außergewöhnlich hübsch, von bewährter Gutmütigkeit und litt in seiner sonderbaren Stellung unter der Unterdrückung seiner Heiterkeit. Nei Takauti, die Frau, wurde schon alt, ihr erwachsener Sohn aus einer früheren Ehe hatte sich gerade vor den Augen der Mutter in Verzweiflung über eine wohlverdiente Rüge aufgehängt. Vielleicht war sie niemals schön gewesen, aber ihr Gesicht war charaktervoll, und ihre Augen hatten ein dunkles Feuer. Sie war ein hoher weiblicher Häuptling, aber für eine Person ihres Ranges ausnahmsweise klein, zart und sehnig, mit mageren kleinen Händen und hagerem Hals. Ihr großes Abendgewand war stets ein weißes Hemd, und als Schmuck trug sie grüne Blätter oder zuweilen weiße Blüten im Haar und in den großen Ohrringlöchern. Der Gatte sah im Gegensatz dazu wechselvoll aus wie ein Chamäleon. Schenkte meine Frau Nei Takauti irgendeine hübsche Sache – eine Perlenschnur, ein Band, ein Stück buntes Zeug –, so erschien es am nächsten Abend an der Person von Nan Tok‘. Es war klar, daß er eine Art Kleiderständer war, daß er Livree trug und in einem Wort die Frau seiner Frau war. Sie vertauschten die Rollen tatsächlich bis in die geringste Kleinigkeit, der Gatte zeigte sich als hilfsbereiter Engel in Krankheitsstunden, während die Frau Gefühls- und Herzlosigkeit spielte, wie man sie dem Manne nachsagt.

Wenn Nei Takauti Kopfschmerzen hatte, war Nan Tok‘ voll Aufmerksamkeit und Mitleid. Wenn der Gatte sich erkältet oder rasende Zahnschmerzen hatte, beachtete die Frau es nicht, wenn sie nicht spottete. Es ist immer die Aufgabe der Frau, die Pfeife zu füllen und anzuzünden: Nei Takauti gab die ihre schweigend dem angeheirateten Pagen, aber sie trug sie selbst, als ob der Page nicht ganz vertrauenswürdig sei. So verwahrte sie auch das Geld, aber er machte mit emsigem Eifer die Besorgungen. Eine Wolke auf ihrer Stirn verdunkelte sofort seine leuchtenden Blicke, und bei einem Morgenbesuch in dem Maniap‘ sah meine Frau, daß er Grund hatte, vorsichtig zu sein. Nan Tok‘ hatte einen Freund bei sich, einen unbesonnenen jungen Mann seines eigenen Alters und Geschlechts, und sie hatten sich gegenseitig zu lebhaftester Heiterkeit gesteigert, wobei man dann oft die Folgen nicht beachtet. Nei Takauti nannte ihren eigenen Namen, sofort hielt Nan Tok‘ zwei Finger hoch, sein Freund tat das gleiche, beide in höchster Verschlagenheit. Offenbar hatte die Dame zwei Namen, und soviel man aus dem lauten Lachen der beiden und der Zornesader auf der Stirn der Frau entnehmen konnte, hatte der zweite Name etwas Verfängliches. Der Gatte sprach ihn aus: sofort traf ihn eine wohlgezielte Kokosnuß von der Hand seines Weibes am Schädel, und die heiteren Stimmen der indiskreten jungen Leute verstummten für diesen Tag.

Die Bevölkerung von Ostpolynesien ist niemals in Verlegenheit, ihre Gesellschaftsformen sind alle festgelegt und umfassend, sie schreiben ihnen in allen Lebensumständen vor, was sie zu tun haben, und wie sie sich verhalten sollen. Die Gilbertiner sind offenbar freier und bezahlen diese Freiheit wie wir mit häufiger Verlegenheit. Das war auch der Fall bei diesem verdrehten Paar. Wir hatten ihnen einst bei einem Besuche eine Pfeife mit Tabak angeboten, und als sie genug hatten und Abschied nehmen wollten, fanden sie sich vor die Frage gestellt, ob sie den Rest des Tabaks mitnehmen oder zurücklassen sollten. Sie hoben den Block auf, legten ihn wieder zurück, reichten ihn sich untereinander zu und stritten sich, bis die Frau ganz verstört und der Gatte ganz alt aussah. Schließlich nahmen sie ihn mit, und ich wette, sie hatten das Grundstück noch nicht verlassen, als sie sich schon klar waren, das Falsche getan zu haben. Ein anderes Mal hatten wir sie recht ausgiebig mit einer großen Tasse Kaffee bewirtet, und Nan Tok‘ trank die seinige unter Schwierigkeiten und mit Unlustgefühlen aus. Nei Takauti nippte daran, sie mochte nicht mehr, glaubte offenbar, es sei ein Formfehler, die Tasse halb voll niederzusetzen, und befahl dem angeheirateten Knecht, den Rest auszutrinken. »Ich habe schon soviel getrunken, ich kann nicht mehr, es ist mir physisch unmöglich«, schien er zu sagen, aber sein strenger Vorgesetzter wiederholte mit heimlichen herrischen Zeichen den Befehl. Der unglückliche Kerl! Wir kamen ihm aus lauter Menschlichkeit zu Hilfe und nahmen die Tasse fort.

Ich kann über diesen komischen Haushalt nur lachen, aber ich erinnere mich der guten Leute mit Liebe und Hochachtung. Ihre Anhänglichkeit an uns war überraschend. Die Kränze stehen in hoher Achtung, die Blüten müssen in großer Entfernung gesammelt werden, und obgleich sie viele Diener hatten, die sie zu Hilfe rufen konnten, sahen wir sie oft selbst umherwandern, um Blüten zu sammeln, und die Frau beschäftigt, sie eigenhändig zu binden. Es war auch keine Herzlosigkeit, die Nei Takauti gegen die Leiden von Nan Tok‘ unempfindlich machte, sondern jene Gleichgültigkeit, die Männern oft eigen ist. Als meine Frau krank war, bewies sie sich als eifrige und liebenswürdige Pflegerin, und das Paar setzte sich im Krankenzimmer fest, was der Leidenden äußerst lästig war. Diese rauhe, tüchtige, herrschsüchtige alte Dame mit den wilden Augen hatte liebenswürdige und zärtliche Eigenschaften: sie schien den Stolz auf ihren jungen Gatten zu verbergen aus Furcht, ihn zu verwöhnen, und wenn sie von ihrem toten Sohn sprach, legte sich etwas wie Trauer auf ihr Gesicht. Aber ich glaube bei den Gilbertinern eine Männlichkeit des Empfindens und Gefühls festgestellt zu haben, die sie wie ihre harte und rauhe Sprache von ihren Brüdern auf den östlichen Inseln unterscheidet.

Zweites Kapitel


Unsere neuen Freunde

Das Hindernis des Sprachunterschiedes wurde besonders von mir überschätzt. Die polynesischen Dialekte lernt man leicht radebrechen, wenn es auch schwer ist, sie elegant zu sprechen. Sie sind einander äußerst ähnlich, so daß jemand, der eine Ahnung von einem oder zweien hat, die andern ziemlich hoffnungsvoll in Angriff nehmen darf.

Außerdem stehen Dolmetscher reichlich zur Verfügung. Missionare, Händler und herabgekommene Weiße, die von der Gastfreundschaft der Eingeborenen leben, findet man fast auf jeder Insel und in jedem Dorf; wo sie nicht zur Verfügung stehen, haben die Eingeborenen selbst oft einige Brocken Englisch aufgeschnappt und in der französischen Zone – wenn auch viel seltener – etwas Englisch-Französisch, oder sie verstehen hinreichend Pidginenglisch, das man im Westen » Beach-la-Mar« nennt. Es wird übrigens jetzt in den Schulen Von Hawaii gelehrt, und wegen der großen Anzahl englischer Schiffe und der Nähe der Vereinigten Staaten auf der einen Seite und der englischen Kolonien auf der andern kann man es die Sprache des Pazifischen Ozeans nennen, die es ziemlich sicher einst sein wird. Ich will einige Beispiele anführen. Ich traf in Majuro einen Jungen von den Marschallinseln, der ein ausgezeichnetes Englisch sprach; er hatte es bei einer deutschen Firma in Jaluit gelernt, ohne ein deutsches Wort zu kennen. Ich hörte von einem Gendarmen, der in Rapa-iti unterrichtet hatte, daß die Kinder nur schwer und widerwillig französisch lernten, während sie das Englische spielend und wie von ungefähr aufnahmen. Mein Freund Benjamin Hird fand zu seinem Erstaunen auf einer der entlegensten Atollen in der Karolinengruppe Jungens Kricket spielen und englisch sprechen, und auf englisch unterhielt sich die Mannschaft der »Janet Nicoll«, eine Anzahl Farbiger von verschiedenen melanesischen Inseln, mit anderen Eingeborenen während der ganzen Fahrt, auf englisch wurden die Befehle erteilt und manchmal Witze erzählt auf dem Vorderdeck. Aber wohl am meisten überraschte mich ein Wort, das ich auf der Veranda des Gerichtsgebäudes von Noumea hörte. Man hatte gerade über den Kindesmord einer affenähnlichen Eingeborenen verhandelt, und die Zuhörer erwarteten Zigaretten rauchend das Urteil. Eine besorgte, liebenswürdige Französin ereiferte sich für einen Freispruch, sie war dem Weinen nahe und erklärte, sie wolle die Gefangene als Kindermädchen zu sich nehmen. Die Zuhörer schrien auf bei dieser Zumutung und sagten, das Weib sei eine Wilde, sie spreche keine fremde Sprache. »Aber es ist doch bekannt,« entgegnete die weichherzige Schöne, »daß sie rasch Englisch lernen!«

Jedoch sprechen können zum Volk ist nicht alles. Im Anfang meiner Beziehungen zu Eingeborenen kamen mir zwei Umstände zustatten. Zunächst war ich der Wundermann der »Casco«. Das Schiff, seine feinen Linien, die hohen Masten und schneeweißen Decks, die roten Vorhänge des Speiseraums, das Weiß und Gold und die vielen Spiegel der zierlichen Kajüte brachten uns hunderte Besucher. Die Männer berechneten die Abmessungen mit den Armen, wie ihre Väter die Schiffe Cooks ausgemessen hatten, die Frauen erklärten die Kajüten für schöner als Kirchen, stattliche junonische Gestalten wurden nicht müde, sich in den Sesseln niederzulassen und ihre strahlenden Gesichter im Spiegel zu betrachten, und ich sah eine Dame ihr Gewand hochheben und unter Rufen der Bewunderung und des Entzückens ihre nackten Schenkel an den Samtkissen reiben. Zwieback, Marmelade und Sirup waren Leckerbissen, und das Photographiealbum wanderte wie in europäischen Salons von Hand zu Hand. Diese nüchterne Gemäldegalerie, die alltäglichen Kleider und Gesichter hatten sich während der dreiwöchigen Fahrt in wunderbare, köstliche und fremdartige Dinge verwandelt; fremde Antlitze und barbarische Gewänder wurden nun in der überfüllten Kajüte mit aufrichtiger Erregung und Überraschung angestaunt und betastet. Die Königin von England wurde oft erkannt, und ich sah französische Untertanen ihr Bild küssen; Hauptmann Speedy – in abessinischer Kriegstracht, die für eine Uniform des englischen Heeres gehalten wurde – fand viel Beifall, und das Bildnis des Herrn Andrew Lang erregte Bewunderung auf den Marquesas. Das ist der Platz, wohin er gehen sollte, wenn er Middlesex und Homer satt hat.

Doch vielleicht war es noch wichtiger, daß ich in meiner Jugend unser schottisches Volk im Hochland und auf den Inseln ein wenig kennengelernt hatte. Nicht viel mehr als ein Jahrhundert ist vergangen, seit es ähnliche Umwälzungen und Übergänge erlebt hat wie heute die Marquesaner. In beiden Fällen das Aufdrängen einer fremden Herrschaft, die Entwaffnung der Stämme, die Absetzung der Häuptlinge, die Einführung neuer Sitten und besonders der Gewohnheit, Geld als Existenzmittel und begehrenswert anzusehen. Das Zeitalter des Handels folgte in beiden Fällen unvermittelt einer Periode äußerer Kriege und innerer patriarchalischer Gemeinwirtschaft, hier wurde die liebgewordene Sitte des Tätowierens, dort die Landestracht verboten. In beiden Fällen wurde man des delikatesten Genußmittels beraubt: das Rind, im Schatten der Nacht von den Weiden des Flachlandes gestohlen, wurde dem fleischliebenden Hochländer, und das »Langschwein«, aus den Hütten des Nachbardorfes entführt, dem menschenfressenden Kanaken verwehrt. Murren, heimlicher Aufruhr, Furcht und Mißtrauen, Alarme und plötzliche Versammlungen der marquesanischen Häuptlinge erinnerten mich fortwährend an die Tage von Lovat und Struan. Gastfreundschaft, Takt, natürliche feine Sitten und Empfindlichkeit sind beiden Rassen gleich eigen: gemeinsam ist beiden Sprachen die Eigenart, Zwischenkonsonanten fortzulassen. Ich zähle einige polynesische Wörter auf:

Haus Liebe
Tahiti: Fare Aroha
Neuseeland: Whare
Samoa: Fale Talofa
Manihiki: Fale Aloha
Hawaii: Hale Aloha
Marquesas: Ha’e Kaoha

Die Ausstoßung der Zwischenkonsonanten, so bemerkenswert im marquesanischen Dialekt, ist im Gälischen und im schottischen Unterland ebenso häufig. Noch wunderbarer ist es, daß der vorherrschende polynesische Laut, der Hiatus, als Apostroph geschrieben, oft oder immer der Grabstein eines untergegangenen Konsonanten, bis auf den heutigen Tag in Schottland zu hören ist. Spricht der Schotte die Wörter water, better oder bottlewa’er, be’er oder bo’le –, so entspricht der Laut genau dem Hiatus, und ich glaube, man könnte weitergehen und behaupten: Würde ein solches Volk isoliert und der Sprachfehler zur Regel, so wäre das der erste Schritt zum Übergang vom t zum k, der Krankheit aller polynesischen Sprachen.

Das Bestreben der Polynesier ist aber ein Ausrottungskrieg gegen Konsonanten, wenigstens gegen den sehr häufigen Buchstaben l. Ein Hiatus ist angenehmer für jedes polynesische Ohr, selbst das Gehör des Fremden gewöhnt sich an diese barbarischen Lücken, aber nur im Marquesanischen findet man Namen wie Haaii und Paaaena, in denen jeder Vokal gesondert gesprochen werden muß.

Diese Ähnlichkeiten zwischen einem Südseevolk und einem Teil meiner eigenen Stammesbrüder in der Heimat beschäftigten mich viel und machten mich nicht nur geneigt, meine neuen Bekannten mit Wohlwollen zu betrachten, sondern änderten allmählich auch mein Urteil. Ein wohlerzogener Engländer kommt heute zu den Marquesanern und findet die Leute zu seiner Verblüffung tätowiert; ein wohlerzogener Italiener kam vor nicht allzu langer Zeit nach England und fand unsere Vorfahren mit gelbem Pflanzensaft beschmiert, und als ich einen Gegenbesuch machte als kleiner Junge, war ich höchst erstaunt über die Rückschrittlichkeit der Italiener: so unsicher und so abhängig von Zeit und Umständen ist die Überlegenheit einer Rasse. Auf diese Weise lernte ich den Umgang mit den Eingeborenen und empfehle sie allen Reisenden. Wollte ich Einzelheiten wilder Gebräuche und abergläubischer Handlungen erforschen, so blickte ich zurück auf die Gesichter meiner Vorfahren und suchte nach irgendeinem Anhaltspunkte für verwandte Züge der Barbarei: Michael Scott, Lord Derwentwaters Kopf, das zweite Gesicht: alles das waren starke Stücke; die Geschichte vom schwarzen Stier zu Stirling ließ mich die Sage von Rahero begreifen, und meine Kenntnis von den Cluny-Macphersons und den Appin-Stewarts half mir, einzudringen in das Verständnis der Tevas von Tahiti. Der Eingeborene schämte sich nicht mehr, das Gefühl der Vertraulichkeit wurde stärker, und seine Lippen öffneten sich. Dies Gefühl der Vertraulichkeit muß der Reisende wecken und nähren, sonst täte er besser, vom Bett zum Sofa zu reisen. Und die Anwesenheit eines echten Londoner Spötters ist oft Ursache, daß eine ganze Reisegesellschaft in nebelhafter Dunkelheit wandelt.

Das Dorf Anaho steht auf einem Streifen flachen Landes zwischen dem Westufer der Bucht und dem Fuß der hohen Berge. Ein Palmenhain mit ewig rauschenden grünen Fächern überstreut es wie zum Triumph mit fallenden Zweigen und beschattet es gleich einer Laube. Ein Weg läuft von einem Ende des Hains zum andern zwischen Blumenbeeten, den Kleiderläden der Allgemeinheit, und hier und dort, in angenehmem Zwielicht und einer von Wohlgerüchen aller Art geschwängerten Luft, stehen willkürlich verstreut die Häuser der Eingeborenen, noch in Hörweite der Riffbrandung. Dasselbe Wort bezeichnet, wie wir gesehen haben, in vielen Dialekten Polynesiens mit geringen Abweichungen die menschliche Behausung. Aber obgleich das Wort gleich ist, weichen die Bauarten ständig voneinander ab, und der Marquesaner wohnt am behaglichsten, wenn er auch der rückständigste und barbarischste aller Insulaner ist. Die Grashütten von Hawaii, die Vogelkäfighäuser von Tahiti oder der offene Verschlag des gebildeten Samoaners, mit den sonderbaren venetianischen Blenden – sie alle halten den Vergleich nicht aus mit dem paepaehae, der Wohnplattform der Marquesaner. Das paepae ist eine längliche Terrasse, gebaut aus schwarzem, vulkanischem Gestein ohne Zement, zwanzig bis fünfzig Fuß lang, vier bis acht Fuß über der Erde; eine breite Treppe führt hinauf. An der Rückseite erhebt sich die Wand des vorn offenen Hauses, das einer gedeckten Galerie gleicht und etwa halb so breit ist wie die Plattform. Das Innere ist manchmal hübsch und fast elegant in seiner Kahlheit, der Schlafraum ist abgeteilt durch eine Trennungswand, irgendein buntes Tuch hängt vielleicht an einem Nagel, eine Lampe und eine Mähmaschine sind die einzigen Anzeichen der Zivilisation. Draußen brennt an einem Ende der Terrasse das Herdfeuer unter einem Verschlag, am andern Ende ist manchmal ein Schweinestall. Der restliche Platz gehört der Abendruhe und ist der luftige Speisesaal aller Bewohner. Für manche Häuser wird das Wasser herbeigeschafft von den Bergen, in Bambusrohren, die durchlöchert sind, um es süß zu erhalten. Die Erinnerung an die schottischen Berge im Herzen, dachte ich schaudernd an die feuchten Höhlen aus Torf und Stein, in denen ich geweilt und mich unterhalten hatte – auf den Hebriden und den nördlichen Inseln. Zweierlei, glaube ich, erklärt die Gegensätze: in Schottland ist Holz selten, und das rauhe Material von Torf und Stein schließt jede Hoffnung auf Zierlichkeit aus; und in Schottland ist es kalt. Obdach und Wärme sind so notwendige Lebensbedingungen, daß der Mensch nicht weiterblickt; er ist den ganzen Tag beschäftigt, sich den kärglichsten Unterhalt zu beschaffen, und wenn er abends sagen kann: »Aha, es ist warm!«, wünscht er sich nichts mehr. Aber wenn schon, dann etwas Höheres: feiner Sinn für Poesie und Gesang in diesen rauhen Behausungen und eine Melodie wie die des schottischen Volksliedes » Lochaber no more« ist ein überzeugenderer und unvergänglicherer Beweis der Kultur als ein Palast.

Zu einer solchen Wohnplattform nimmt eine beträchtliche Anzahl von Verwandten und Angehörigen Zuflucht. In der Stunde der Dämmerung, wenn das Feuer flackert, der Duft kochender Brotfrucht die Luft erfüllt und vielleicht die Lampe schon zwischen Pfeilern und Haus glimmt, sieht man Männer, Frauen und Kinder schweigend sich zum Mahle versammeln. Hunde und Schweine drängen sich auf der Treppe, mißgünstig mit den Schwänzen wedelnd. Die Fremden vom Schiff waren bald gleicherweise willkommen: willkommen, ihre Finger in das hölzerne Geschirr zu tauchen, Kokosnüsse auszutrinken, an der herumwandernden Pfeife zu saugen und der hohen Debatte über die Missetaten der Franzosen, den Panamakanal, die geographische Lage von San Franzisko und New Yo’ko zu lauschen oder sich daran zu beteiligen. In einem Hochlanddorf, ganz abseits von Touristenwegen, habe ich dieselbe einfache und würdevolle Gastfreundschaft angetroffen.

Ich habe zwei Dinge erwähnt – das geschmacklose Benehmen unserer ersten Besucher und den Fall der Dame, die sich an den Kissen rieb –, die einen ganz falschen Eindruck von Marquesanersitten geben könnten. Die große Mehrzahl der Polynesier hat ausgezeichnete Manieren, aber die Marquesaner machen eine Ausnahme, sie sind lästig und reizend, wild, scheu und taktvoll zugleich. Macht man ihnen ein Geschenk, so geben sie vor, es zu vergessen, und man muß es ihnen beim Abschied nochmals anbieten: eine entzückende Art, die ich sonst nirgendwo fand. Eine Andeutung genügt, all und jeden zu verabschieden; sie sind erstaunlich stolz und bescheiden, während viele der liebenswürdigeren, aber aufdringlicheren Insulaner sich in Massen an den Fremden herandrängen und schwer zu vertreiben sind wie Fliegen. Eine Entgleisung oder Beleidigung scheint der Marquesaner niemals zu vergessen. Eines Tages unterhielt ich mich am Wegrande mit meinem Freunde Hoka, als ich seine Augen plötzlich aufflammen und seinen Körper sich straffen sah. Ein berittener Weißer kam aus den Bergen, und als er vorüberzog und Grüße mit mir austauschte, starrte Hoka immer noch vor sich hin und zitterte wie ein Kampfhahn. Es war ein Korse, der ihn vor Jahren ein cochon sauvage – coçon chauvage, wie Hoka es aussprach – genannt hatte. Es war kaum zu erwarten, daß unsere Gesellschaft von Greenhorns so fein empfindliche Leute nicht unabsichtlich beleidigen würde. Hoka fiel bei einem seiner Besuche plötzlich in brütendes Stillschweigen und verließ gleich darauf das Schiff unter kalten Höflichkeitsbezeigungen. Als ich wieder in seiner Gunst stand, beschwerte er sich geschickt und bestimmt über die Natur meines Vergehens: ich hatte ihn gebeten, mir Kokosnüsse zu verkaufen, und nach Hokas Ansicht soll ein Gentleman Nahrungsmittel verschenken, nicht verkaufen, wenigstens nicht an seinen Freund. Bei anderer Gelegenheit gab ich meiner Bootsmannschaft Schokolade und Zwieback zum Frühstück. Ich hatte mich dabei gegen irgendeinen Punkt der Etikette versündigt, habe aber nie erfahren inwiefern; man dankte mir trocken, aber ließ meine Geschenke am Strande liegen. Jedoch der schlimmste Fehler war unser Benehmen gegen Toma, Hokas Adoptivvater, der sich für den rechtmäßigen Häuptling von Anaho hielt. Zunächst machten wir ihm keinen Besuch, wie es vielleicht unsere Pflicht war, in seinem feinen und neuen europäischen Hause, dem einzigen im Dorf, und dann, als wir an Land gingen, um seinen Widersacher Taipi-Kikino aufzusuchen, sahen wir Toma am Ende des Strandes stehen, eine herrliche Mannesgestalt, herrlich tätowiert, und gerade Toma fragten wir: »Wo ist der Häuptling?« – »Welcher Häuptling?« rief Toma, und wandte den Gotteslästerern den Rücken. Er hat uns nie verziehen. Hoka besuchte und begleitete uns täglich, aber von allen Bewohnern des Landes, glaube ich, waren Toma und sein Weib die einzigen, die nie den Fuß an Bord der »Casco« setzten. Was es hieß, dieser Versuchung zu widerstehen, ist für einen Europäer schwer zu verstehen. Die fliegende Stadt von Laputa für vierzehn Tage in den Londoner St.-James-Park versetzt, ist nur ein schwacher Vergleich mit der vor Anoha ankernden »Casco«, denn der Londoner hat Abwechslung in seinen Vergnügungen, aber der Marquesaner wandert zum Grabe durch eine ununterbrochene Reihe gleichförmiger Tage.

Am Nachmittag vor unserer Abreise kam eine Gruppe Eingeborener an Bord, um Abschied zu nehmen: neun unserer besonderen Freunde, mit Geschenken beladen und festlich gekleidet. Hoka, der beste Tänzer und Sänger, der größte Dandy von Anaho, einer der hübschesten jungen Männer der ganzen Welt – trotzig, eitel, schauspielerhaft, beweglich wie eine Feder und stark wie ein Stier –, war bei dieser Gelegenheit kaum wiederzuerkennen, er saß bedrückt und schweigsam da, das Gesicht ernst und grau. Es war sonderbar, den Jungen so bewegt zu sehen; noch sonderbarer, in seinem Geschenk etwas ganz Außergewöhnliches wiederzuerkennen, was wir am ersten Tage zu kaufen uns geweigert hatten, und dabei zu wissen, daß unser Freund, festlich gekleidet und offensichtlich tief gerührt über den Abschied, einer von denen war, die uns bei unserer Ankunft belagert und beleidigt hatten. Am sonderbarsten aber war es vielleicht, festzustellen, daß dieser geschnitzte Fächergriff die letzte der Kuriositäten des ersten Tages war, die uns inzwischen restlos von den Besitzern geschenkt worden waren: ihre Haupthandelsartikel, mit deren Hilfe sie uns auszuplündern suchten, solange wir uns fremd gegenüberstanden, und die sie uns aufzwangen ohne Gegenleistung, sobald wir Freunde geworden. Der letzte Besuch wurde nicht lange ausgedehnt. Einer nach dem andern reichte uns die Hand und kletterte in sein Kanu. Während Hoka dem Schiffe sofort den Rücken drehte, so daß wir sein Gesicht nicht wiedersahen, blieb Taipi stehen und blickte uns unter weichen Abschiedsgesten an. Als Kapitän Otis die Flagge senkte, grüßte die ganze Gruppe mit ihren Hüten. Das war der Abschied, die Episode unseres Besuches in Anaho wurde als abgeschlossen betrachtet, und obgleich die »Casco« noch ungefähr vierzig Stunden vor Anker blieb, kehrte keiner an Bord zurück, und ich bin geneigt zu glauben, daß sie jedes Erscheinen am Strande vermieden. Diese Zurückhaltung und Würde ist der feinste Charakterzug der Marquesaner.