Sechsundfünfzigstes Kapitel.


Sechsundfünfzigstes Kapitel.

Mehrere Personen entzückt und der Preishahn entrüstet.

Der Midshipman war voll Leben. Mr. Toots und Susanna hatten sich endlich eingestellt. Susanna war sogleich wie eine Verrückte die Treppe hinaufgeeilt, während Mr. Toots und der Preishahn in dem Hinterstübchen zurückblieben.

»O meine herzige, liebe, süße Miß Floy!« rief die Nipper, in Florences Zimmer stürzend, »zu denken, daß es so weit kommen sollte und ich Euch hier finden muß, mein Herz, ohne daß Ihr jemanden habt, Euch zu bedienen, und keine Heimat, die Ihr die Eure nennen könnt. Aber nie will ich wieder fortgehen, Miß Floy; denn wenn ich auch vielleicht kein Moos ansetze, bin ich doch kein rollender Stein, und auch mein Herz ist nicht von Stein, sonst würde e« nicht brechen, wie es mir jetzt bricht, ach, ach!«

Diese Worte sprudelten ohne Pause unaufhörlich heraus, während Miß Nipper neben ihrer Gebieterin auf den Knien lag und sie mit ihren Armen umschlungen hielt.

»O meine Liebe!« rief Susanna, »ich weiß alles, was vorgegangen ist, ich weiß alles, mein Herz, und es hat mich aufs tiefste erschüttert.«

»Susanna, meine liebe, gute Susanna!« sagte Florence.

»O Gott behüte sie! Ich bin ihre junge Wärterin gewesen, als sie ein ganz kleines Kind war, und nun will sie wirklich und wahrhaftig heiraten!« rief Susanna in einem Ausbruch von Schmerz und Freude, von Stolz und Kummer, und der Himmel weiß, von wie vielen andern widerstreitenden Gefühlen.

»Wer hat dir das gesagt?« fragte Florence.

»O du lieber Himmel, jenes unschuldigste von allen Geschöpfen, der Toots«, entgegnete Susanna schluchzend. »Ich habe sogleich gewußt, daß er recht haben müsse, meine Liebe, weil er es sich so zu Herzen nahm; er ist das aufopferndste und unschuldigste Kind! Und es ist wirklich und wahrhaftig so, mein Herz«, fuhr Susanna mit einer abermaligen Umarmung und einem neuen Tränenguß fort, »daß Ihr heiraten wollt?«

Die Mischung von Teilnahme, Freude, Zärtlichkeit, Hineinreden und Bedauern, womit die Nipper stets wieder auf diesen Gegenstand zurückkam und dabei jedesmal ihren Kopf erhob, um ihre junge Gebieterin anzusehen und zu küssen, dann aber ihn unter schluchzenden Liebkosungen wieder auf ihre Schulter sinken ließ – war so weiblich und in seiner Art so innig, wie man nur je etwas Ähnliches auf der Welt sehen kann.

»So, so«, sagte darauf Florence mit beschwichtigender Stimme. »Jetzt bist du wieder ganz die Alte, meine liebe Susanna.«

Miß Nipper, die sich zu den Füßen ihrer Gebieterin auf den Boden gesetzt hatte, lachte, schluchzte, hielt mit der einen Hand ihr Tuch vor die Augen, während sie mit der andern Diogenes streichelte, der ihr Gesicht leckte, erklärte, daß sie gefaßter sei, und lieferte den Beweis dafür, indem sie noch ein bißchen mehr lachte und weinte.

»Ich – ich – ich habe nie einen solchen Menschen gesehen wie diesen Toots«, sagte Susanna, »nie in allen meinen Lebenstagen.«

»Er ist so freundlich«, bemerkte Florence.

»Und so unterhaltsam«, schluchzte Susanna. »Die Art, wie er im Wagen mit mir fortschwatzte, während dieser respektswidrige Preishahn auf dem Bock saß.«

»Wovon, Susanna?« fragte Florence schüchtern.

»O, von Leutnant Walter und Kapitän Gills und von Euch, liebe Miß Floy, und dem stillen Grab«, sagte Susanna.

»Vom stillen Grab!« wiederholte Florence.

»Er sagt« – Susanna brach jetzt in ungestümes hysterisches Lachen aus – »er wolle jetzt gleich und ganz gemächlich hineinsteigen. Aber Gott behüte Euer Herz, meine liebe Miß Floy, er läßt es wohl bleiben: denn er ist viel zu glücklich, andere Leute glücklich zu sehen; er ist zwar vielleicht kein Salomo«, fuhr die Nipper mit ihrer gewöhnlichen Zungengeläufigkeit fort, »und ich will ihm dieses auch nicht nachsagen; aber so viel behaupte ich von ihm, daß ich nie ein weniger selbstsüchtiges menschliches Wesen kennengelernt habe.«

Miß Nipper lachte nach dieser kräftigen Erklärung über die Maßen und teilte Florence dann mit, besagter junger Mann warte unten, um sie zu sehen. Das werde ihm ein reicher Lohn für die Mühe sein, die er bei dem letzten Ausflug gehabt habe.

Florence trug Susanna auf, Mr. Toots zu bitten, er möchte ihr das Vergnügen gönnen, ihm für sein Wohlwollen danken zu dürfen. Einige Augenblicke später führte Susanna den jungen Menschen herein, der noch immer sehr zerzaust war und mehr als je stotterte.

»Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, »daß es mir wieder gestattet ist, Euch – Euch – zu sehen – nein, nicht zu sehen, sondern – ich weiß wahrhaftig nicht, was ich sagen wollte, aber es ist von keinem Belang.«

»Ich muß Euch so oft danken«, entgegnete Florence, ihm ihre beiden Hände reichend, während ihr Gesicht von dem Gefühl der Anerkennung leuchtete, »daß ich keine Worte dafür finde und nicht weiß, wie ich es tun soll.«

»Miß Dombey«, sagte Mr. Toots mit schauerlicher Stimme, »wenn es möglich wäre, wenn es sich mit Eurem engelgleichen Wesen vertrüge, daß Ihr mich verwünschtet, so würdet Ihr mich unendlich weniger – wenn ich mich so ausdrücken darf – bedrücken, als durch diese unverdienten Freundlichkeitsäußerungen. Ihre Wirkung auf mich – ist – aber«, setzte Mr. Toots abgebrochen bei, »ich schweife ab, und es ist von durchaus keinem Belang.«

Da hierauf nicht wohl etwas zu entgegnen war, so dankte ihm Florence wieder und wieder.

»Wenn es mir erlaubt wäre, Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, »so möchte ich wohl diese Gelegenheit ergreifen, um ein Wort der Erklärung anzubringen. Es wäre mir wohl lieb gewesen, wenn ich hätte das Vergnügen haben können, mit – mit Susanna früher zurückzukehren. Aber erstens kannten wir den Namen des Verwandten nicht, nach dessen Haus sie sich begeben hatte, und da sie zweitens sich nicht mehr bei diesem Verwandten aufhielt, sondern zu einem andern in größerer Entfernung gezogen war, so glaube ich, daß kaum etwas anderes, als der Scharfsinn des Preishahn sie in dieser Zeit aufzufinden vermocht haben würde.«

Florence war davon überzeugt.

»Das ist es jedoch nicht, was ich meine«, sagte Mr. Toots. »Ich versichere Euch, Miß Dombey, in meinem Gemütszustand ist mir die Gesellschaft Susannas ein Trost und eine Beruhigung gewesen, die sich leichter denken als beschreiben lassen. Die Reise trug ihren Lohn in sich. Doch dies ist es auch nicht, was ich sagen wollte. Miß Dombey, ich habe schon früher bemerkt, daß ich wisse, ich sei durchaus nicht, was man einen schnell fassenden Menschen zu nennen pflegt. Ich weiß dies vollkommen. Ich glaube nicht, daß jemand besser – wenn es nicht etwa ein allzu starker Ausdruck ist – die Dicke seines Kopfes kennt als ich. Gleichwohl aber, Miß Dombey, begreife ich den Stand – der Dinge – mit Leutnant Walter. Wie peinlich mir dieser Stand der Dinge auch sein mag (es ist natürlich von durchaus keinem Belang), so halte ich es doch für meine Pflicht zu sagen, daß Leutnant Walter ein Mensch ist, der würdig zu sein scheint des Segens, der auf sein – seine Stirne heruntergefallen ist. Möge er sich lang seines Glückes erfreuen und es so schätzen, wie ein ganz anderes – ein sehr unwürdiges Individuum, dessen Name von keinem Belang ist, es geschätzt haben würde! Aber das ist übrigens noch immer nicht, was ich meine. Miß Dombey, Kapitän Gills ist mein Freund, und während der Zeit, die nun abläuft, würde es, glaube ich, Kapitän Gills Freude machen, wenn ich hin und wieder hier vorkomme. Auch mich würde es freuen, zu erscheinen. Aber ich kann nicht vergessen, daß ich mir einmal an der Ecke des Squares zu Brighton eine schändliche Blöße gegeben habe, und wenn meine Gegenwart Euch nur im mindesten unangenehm sein sollte, so möchte ich Euch bitten, dies mir jetzt einfach zu sagen. Ich versichere Euch, daß ich Euch vollkommen verstehen und es durchaus nicht für Unfreundlichkeit ansehen werde; denn ich finde stets nur ein Glück und eine Freude darin, wenn ich mit Eurem Vertrauen beehrt werde.«

»Mr. Toots«, entgegnete Florence, »wenn Ihr, der Ihr ein so alter und treuer Freund seid, jetzt von diesem Hause wegbleiben wolltet, so würdet Ihr mich sehr unglücklich machen. Es kann mir stets nur ein frohes Gefühl bereiten, wenn ich Euch sehe.«

»Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, sein Taschentuch herausziehend, »wenn ich eine Träne vergieße, so ist es eine Träne der Freude. Es ist übrigens von keinem Belang, und ich bin Euch sehr verbunden. Nach Eurer so freundlichen Versicherung möge mir die Bemerkung erlaubt sein, daß es nicht in meiner Absicht liegt, meine Person länger zu vernachlässigen.«

Florence nahm diese Andeutung mit einem allerliebsten Ausdruck von Verwirrung auf.

»Ich meine damit«, fuhr Mr. Toots fort, »daß ich es als Nebenmensch im allgemeinen für meine Pflicht halten werde, das Beste aus mir zu machen, bis mich das stille Grab abruft, und daß – daß ich meine Stiefel so schön gewichst tragen will, wie – wie es die Umstände gestatten. Dies ist das letztemal, Miß Dombey, daß ich mich mit irgendeiner Privat- und persönlichen Bemerkung aufdränge. Ich danke Euch in der Tat recht sehr. Wenn ich im allgemeinen nicht so gescheit bin, wie meine Freunde mich wünschen könnten oder wie ich auch mich selbst wünschen möchte, so kann ich Euch doch bei meinem Ehrenwort die Versicherung geben, daß ich recht wohl weiß, was die Rücksicht und die Nächstenliebe fordert. Es ist mir«, fügte er in leidenschaftlichem Ton hinzu, »als könnte ich gerade im gegenwärtigen Augenblick in höchst merkwürdiger Weise meine Gefühle ausdrücken, wenn – wenn – ich nur imstande wäre, einen Anfang zu finden.«

Damit wollte es nun freilich nicht gehen, und nachdem Mr. Toots einige Minuten gewartet hatte, ob es nicht doch noch kommen wolle, verabschiedete er sich rasch und begab sich die Treppe hinunter, um den Kapitän aufzusuchen, den er in dem Laden fand.

»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, »was jetzt zwischen uns stattfinden wird, soll unter dem heiligen Siegel des Vertrauens geschehen. Es ist eine Folge von dem, Kapitän Gills, was eben droben zwischen mir und Miß Dombey vorgegangen ist.«

»Unten und oben, he, mein Junge?« murmelte der Kapitän.

»Jawohl, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots, dessen Bejahungseifer sehr durch den Umstand erhöht wurde, weil er des Kapitäns Meinung nicht verstand. »Ich glaube, Kapitän Gills, Miß Dombey wird in Bälde mit Leutnant Walter vereinigt werden?«

»Nun ja, mein Junge. Wir sind alle hier Schiffskameraden. Wal’r und das Schätzchen werden sich im Hause des Bundes zusammentun, sobald das Aufgebot vorüber ist«, flüsterte ihm Kapitän Cuttle ins Ohr.

»Das Aufgebot, Kapitän Gills?« wiederholte Mr. Toots. »In der Kirche da unten«, sagte der Kapitän, mit dem Daumen über die Schulter deutend.

»O! ja!« entgegnete Mr. Toots.

»Und dann«, fuhr der Kapitän in heiserem Flüstern fort, während er Mr. Toots mit dem Rücken seiner Hand auf die Brust klopfte und dann mit einem Blicke ungemeiner Bewunderung zurücktrat, »was folgt darauf? Daß das hübsche Geschöpf, das so zart aufgezogen wurde, wie ein ausländischer Vogel, auf die brausende See geht, um mit Wal’r eine Reise nach China zu machen.«

»O Gott, Kapitän Gills!« rief Mr. Toots.

»Ja!« nickte der Kapitän. »Das Schiff, das ihn aufnahm, als er in dem Orkan verunglückte und so weit von seinem Kurs abgetrieben wurde, war ein Chinafahrer, und Wal’r machte die Reise mit. Da er ein so schmucker und guter Junge ist, wie nur je einer an Bord gesetzt wurde, so kam er bald am Land sowohl als bei seinen Kameraden in Gunst, und als der Oberaufseher zu Kanton starb, trat er, nachdem er zuvor den Dienst des Schreibers versehen hatte, in dessen Stelle ein. Jetzt ist er Oberaufseher am Bord eines andern Schiffes, das den nämlichen Reedern gehört. Und so, seht Ihr«, wiederholte der Kapitän gedankenvoll, »geht jetzt das hübsche Geschöpf mit Wal’r auf die wogende See, um eine Reise nach China zu machen.«

Mr. Toots und Kapitän Cuttle stießen im Einklang einen tiefen Seufzer aus.

»Nun, was liegt daran?« sagte der Kapitän. »Sie liebt ihn treu und er sie gleichfalls. Diejenigen, die sie hätten lieben und für sie sorgen sollen, behandelten sie wie Tiere und gaben sie dem Untergang preis. Als sie, von der Heimat verstoßen, zu mir herkam und auf diese Planken trat, wollte ihr das verwundete Herz brechen. Ich weiß es! Ich, Ed’ard Cuttle, habe es gesehen. Nichts als treue, innige, beständige Liebe konnte es wiederherstellen. Wenn ich dies nicht wüßte, und wenn ich nicht wüßte, daß Wal’r sie aus tiefster Seele liebt, Bruder, und sie ihn in gleicher Weise, so würde ich mir lieber diese blauen Arme und Beine da abhacken lassen, ehe ich sie ziehen ließe. Aber ich weiß es, und was weiter? Je nun, ich sage eben, der Himmel sei mit ihnen beiden, und so wird es auch der Fall sein, Amen!«

»Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots, »erlaubt mir das Vergnügen, Euch die Hand zu drücken. Ihr habt eine Art an Euch, Dinge zu sagen, so daß mir eine angenehme Wärme über den ganzen Rücken hinaufkriecht. Auch ich sage Amen. Es ist Euch bekannt, Kapitän Gills, daß ich gleichfalls Miß Dombey angebetet habe.«

»Hellauf!« entgegnete der Kapitän, Mr. Toots seine Hand auf die Schulter legend. »Halt bei. Junge!«

»Es ist meine Absicht, Kapitän Gills«, erwiderte der begeisterte Mr. Toots, »beizuhalten, so gut es mir möglich ist. Wenn das stille Grab seinen Mund auftut, Kapitän Gills, so werde ich bereit sein für die Beerdigung: früher nicht. Da ich aber im Augenblick meiner Macht über mich selbst nicht ganz sicher bin, so besteht das, was ich Euch zu sagen wünsche und was Ihr vielleicht gegen Leutnant Walter zu erwähnen die Güte haben werdet, in folgendem –«

»In folgendem«, echote der Kapitän. »Losgelegt!«

»Miß Dombey war so unaussprechlich freundlich«, fuhr Mr. Toots mit tränenfeuchten Augen fort, »mich zu versichern, daß ihr meine Gegenwart nichts weniger als unangenehm sei. Da Ihr nun wie jedermann hier nicht weniger nachsichtig und duldsam gegen einen Menschen seid, –der freilich«, fügte er mit augenblicklicher Niedergeschlagenheit bei, »wie es den Anschein hat, durch einen Irrtum auf die Welt gekommen ist, so will ich während der kurzen Zeit, in der wir noch beisammen sein können, abends zu Besuch kommen. Meine Bitte besteht aber darin: wenn ich je vorübergehend finde, daß ich das Glück des Leutnants Walter nicht mehr mit ansehen kann und deshalb hinausstürze, so hoffe ich, Kapitän Gills, daß Ihr und er, ihr beide, nicht eine Schuld von meiner Seite oder einen Mangel an innerem Kampf, sondern nur mein Unglück darin sehen werdet. Sicherlich seid Ihr überzeugt, daß ich gegen kein lebendes Wesen einen Groll trage – am allerwenigsten aber gegen Leutnant Walter –, und Ihr könntet ja dann gelegentlich bemerken, ich sei hinausgegangen, um einen Spaziergang zu machen, oder sehe wahrscheinlich nach, wieviel Uhr es auf der königlichen Börse sei. Kapitän Gills, wenn Ihr Euch auf diese Übereinkunft einlassen und auch für Leutnant Walter Gewähr leisten könntet, so wäre das eine Erleichterung für meine Gefühle, die ich mit Aufopferung eines beträchtlichen Teils meines Eigentums für wohlfeil erkauft halten würde.«

»Mein Junge, sprecht nicht mehr davon«, erwiderte der Kapitän. »Jede Farbe, die Ihr aufziehen werdet, soll von Wal’r und mir Anerkennung und Beantwortung finden.«

»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, »das Herz ist mir sehr erleichtert. Ich möchte mir die gute Meinung von allen hier bewahren. Ich – ich – meine es gut, auf Ehre, wie ungeschickt ich es auch herausbringen mag. Ihr wißt«, fügte er hinzu, »es ist geradeso wie wenn Burgeß und Co. einen Kunden mit einem ganz außerordentlichen Paar Beinkleidern zu erfreuen wünschten und nicht imstande wären, einen Zuschnitt zu machen, wie sie ihn im Sinne haben.«

Mit dieser sehr passenden Beleuchtung, auf die er ein wenig stolz zu sein schien, sagte er Kapitän Cuttle gute Nacht und entfernte sich.

Der ehrliche Kapitän war jetzt ein von Glück strahlender Mann, da er für die Herzensfreude in Susanna die geeignete Bedienung gefunden hatte. Während nun die Zeit entschwand, wurde sein Gesicht immer leuchtender und glücklicher. Nach einigen Besprechungen mit Susanna, vor deren Weisheit er eine tiefe Achtung hegte und deren tapferes Benehmen gegen Mrs. Mac Stinger er nie hatte vergessen können, machte er Florence den Vorschlag, daß die Tochter der älteren Dame, die gewöhnlich unter dem blauen Schirm auf dem Leadenhall Markt stand, aus Rücksichten der Klugheit und des Unentdecktbleibens ihrer jeweiligen häuslichen Verrichtungen durch eine Person enthoben werden solle, die ihnen nicht unbekannt wäre und der sie ohne Gefahr sich vertrauen könnten. Susanna, die dabei zugegen war, schlug auf einen Wink hin, den sie überdies zum voraus dem Kapitän zugeworfen, Mrs. Richards vor. Florences Antlitz heiterte sich auf bei Nennung dieses Namens, und Susanna, die noch am selben Nachmittag nach der Behausung der Toodle-Familie aufbrach, um Mrs. Richards zu holen, kehrte abends triumphierend mit derselben rosenwangigen, apfelgesichtigen Polly zurück, deren Freudenausbrüche, als sie Florence vorgeführt wurde, kaum weniger innig waren, als die der Susanne Nipper selbst.

Nachdem dieser Feldherrnzug ausgeführt war, von dem der Kapitän, wie überhaupt aus allem, was geschah, eine ungemeine Selbstbefriedigung ableitete, lag es Florence ob, Susanna auf die bevorstehende Trennung vorzubereiten. Dieses erschien eine viel schwierigere Aufgabe, da Miß Nipper ein entschlossener Charakter war und nicht anders glaubte, als sie sei zurückgekommen, um sich nie mehr von ihrer Gebieterin zu trennen.

»Was den Lohn betrifft, liebe Miß Florence, sagte sie, »so tut mir nur nicht weh damit, daß Ihr darauf hindeutet! denn ich habe Geld übrig und möchte in einer Zeit wie diese meine Liebe und meine Dienste nicht verkaufen, selbst wenn die Sparbank und ich nichts miteinander zu schaffen hätten und die Kasse heute noch bankerott würde. Ihr seid ja nie ohne mich gewesen, mein Herz, von der Zeit an, als Eure arme, liebe Mama abgerufen wurde, und obgleich ich mich mit nichts rühmen kann, so seid Ihr doch an mich gewöhnt und meine liebe Gebieterin durch so viele Jahre, Deshalb denkt ja nicht daran, irgendwohin zu gehen ohne mich. Denn das darf und kann nicht sein.«

»Liebe Susanna, ich habe eine lange, lange Reise vor.«

»Nun, Miß Floy, und was dann? Desto mehr werdet Ihr mich brauchen. Gott sei Dank, gegen lange Reisen habe ich durchaus nichts einzuwenden!« versetzte die hartnäckige Susanna Nipper.

»Aber, Susanna, ich gehe mit Walter – und würde mit ihm überall hingehen – überall hin! Walter ist arm, und ich bin sehr arm. Ich muß daher jetzt lernen, mir selbst und ihm zu helfen.«

»Teure Miß Floy!« rief Susanna, aufs neue losbrechend und heftig ihren Kopf schüttelnd, »es ist Euch nichts Neues, Euch zu helfen und andern dazu und dabei doch das geduldigste und treueste von allen edlen Herzen zu sein. Aber laßt mich mit Mr. Walter Gay reden und die Sache mit ihm ins reine bringen. Ich will und kann nämlich nicht zugeben, daß Ihr allein in der Welt herumfahrt.«

»Allein, Susanna?« erwiderte Floren«. »Allein, wenn Walter mich mitnimmt!« Ach, und was für ein strahlendes, entzücktes Lächeln lag nicht auf ihrem Antlitz! – wenn er es nur hätte sehen können! »Ich bin überzeugt, du wirst Walter nicht damit behelligen, wenn ich dich darum bitte«, fügte sie mit Innigkeit bei. »Nicht wahr, meine Liebe?«

Susanna schluchzte ein »Warum nicht, Miß Floy?«

»Weil ich im Begriff bin«, sagte Floren«, »seine Gattin zu werden, ihm mein ganzes Herz zu widmen und mit ihm zu leben und zu sterben. Wenn du ihm sagst, was du eben zu mir sagtest, so könnte er glauben, ich fürchte mich vor dem, was mir bevorsteht, oder du habest irgendeine Ursache, um mich besorgt zu sein. Susanne, ich liebe ihn.«

Miß Nipper war von der ruhigen Wärme dieser Worte, wie auch von dem einfachen, tiefgefühlten Ernst, der das Antlitz der Sprecherin schöner und reiner als je erscheinen ließ, so ergriffen, daß sie sich nur aufs neue an sie anklammern und rufen konnte, ob denn wirklich und wahrhaftig ihre kleine Gebieterin heiraten wolle. Dabei liebkoste sie diese mit mitleidiger, schutzversprechender Miene, wie sie es schon früher getan hatte.

Aber die Nipper war, obgleich weiblichen Schwächen zugänglich, fast ebenso fähig, sich selbst Zwang aufzulegen, wie die furchtbare Mrs. Mac Stinger anzugreifen. Von Stunde an kam sie nie wieder auf den angeregten Gegenstand zurück, sondern benahm sich immer heiter, behend, geschäftig und hoffnungsvoll. In der Tat aber teilte sie Mr. Toots insgeheim mit, daß sie sich nur vorderhand so »aufrecht« halte, denn wenn alles vorüber und Miß Dombey fort sei, so werde sie wahrscheinlich einen erbärmlichen Anblick bieten. Mr. Toots erwiderte darauf, bei ihm sei es der gleiche Fall, und sie wollten dann ihre Tränen gemeinschaftlich strömen lassen. Indessen hing sie ihren geheimen Gefühlen nie in Florences Anwesenheit oder überhaupt unter dem Banne des Midshipman nach.

So einfach und beschränkt auch Florences Garderobe war – welch ein Gegensatz zu den Vorbereitungen für die letzte Hochzeit, an der sie teilgenommen hatte! – gab es doch allerlei zu tun, um sie in gehörigen Stand zu setzen. Susanna arbeitete an ihrer Seite den ganzen Tag darauf los, als ob der Eifer von fünfzig Näherinnen sich in ihr vereinigt hätte. Die Aufzählung der wundervollen Beiträge, die Kapitän Cuttle zu diesem Zweig der Ausstattung geliefert haben würde, wenn man es ihm gestattet hätte, – z.B. der rosenroten Sonnenschirme, der farbigen Seidenstrümpfe, der blauen Schuhe und anderer ebensowenig an Bord nötiger Artikel – könnte schon einen ziemlichen Raum einnehmen. Er ließ sich jedoch durch unterschiedliche betrügerische Vorstellungen bewegen, seine Lieferungen auf ein Arbeitskästchen und ein Toiletten-Etui zu beschränken, die er in so großem Maßstabe, wie sie für Geld zu haben waren, beschaffte. Beinahe zwei Wochen lang saß er während des größeren Teils des Tages vor diesen Geschenken und betrachtete sie mit einer Mischung von Bewunderung und der kleinmütigen Besorgnis, sie möchten nicht prächtig genug sein. Auch huschte er häufig in die Straßen hinaus, um irgendeinen ungereimten Gegenstand, der ihm zu ihrer Vervollständigung nötig schien, anzukaufen. Der Meisterzug aber bestand darin, daß er beide Kästchen eines Morgens plötzlich forttrug, um auf jedem Deckel ein Messingherz anbringen und die zwei Worte »FLORENCE GAY« eingravieren zu lassen. Nachdem dieses geschehen, rauchte er in dem kleinen Stübchen vier Pfeifen hintereinander, und man traf ihn nach Ablauf ebenso vieler Stunden, wie er noch immer vor sich hinkicherte.

Walter war den ganzen Tag über fort und beschäftigt, kam aber jeden Morgen, um nach Florence zu sehen, und brachte stets die Abende in ihrer Gesellschaft zu. Florence verließ ihr Dachstübchen nur, wenn seine Zeit kam. Dann ging sie herab, ihn unten zu erwarten oder ihn, von seinem umschlingenden Arm geschirmt, wieder nach der Tür zu begleiten und bisweilen in die Straße hinauszusehen, Um die Zeit des Zwielichts waren sie stets beisammen. O gesegnete Zeit! O irres Herz, da« jetzt Ruhe gefunden! O tiefer, unerschöpflicher, mächtiger Born der Liebe, in dem so viel versenkt lag!

Das grausame Mal war noch immer auf ihrer Brust sichtbar. Es legte Zeugnis ab gegen ihren Vater mit jedem Atemzug und lag zwischen ihr und ihrem Geliebten, wenn er sie an sein Herz drückte. Doch sie hatte es vergessen, dachte nicht mehr daran. In dem Klopfen seines Herzens für sie und in dem Klopfen ihres eigenen für ihn blieben alle rauheren Töne ungehört, alle finsteren, lieblosen Herzen vergessen. Ungeachtet ihrer zarten Gestalt wohnte eine Macht der Liebe in ihr, die aus einem einzigen Bild eine Welt zu schaffen vermochte und auch wirklich schuf – eine Welt, nach der sie flüchten und darin Ruhe finden konnte.

Wie oft traten zur Zeit der Dämmerung, wann sein Arm sie so stolz und so zärtlich umschlang und sie bei der Erinnerung sich dichter an ihn anschmiegte, das große Haus und die alten Tage vor ihre Seele! Wie oft, wann sie des Abends gedachte, als sie nach jenem Zimmer hinunterging und dem unvergeßlichen Blick begegnete, richtete sie nicht ihre Augen zu denen auf, die mit so liebevoller Innigkeit für sie gewacht hatten: und sie weinte dann in dem glücklichen Bewußtsein, einen solchen Zufluchtsort gefunden zu haben. Unter diese Bilder mischte sich auch stets das des lieben toten Kindes. Wenn sie aber ihres Vaters gedachte, so kam sie nie über die Stunde hinaus, in der sie ihn schlafend gesehen und sein Gesicht geküßt hatte.

»Lieber Walter«, sagte Florence eines Tages, als es fast dunkel war, »weißt du auch, an was ich heute gedacht habe?«

»Wohl an den schnellen Flug der Zeit und wie bald wir auf der See sein werden, meine süße Florence?«

»Das meine ich nicht, Walter, obschon ich oft daran denke. Ich machte mir Gedanken, wie teuer ich für dich werde.«

»O, wie überschwenglich teuer, mein Herz! Auch ich denke bisweilen daran.«

»Du spottest, Walter. Ich weiß, daß du öfter daran denkst, als ich: aber ich meine die Kosten.«

»Die Kosten, meine Liebe?«

»In Geld. Alle die Vorbereitungen, die Susanna und mir so viel zu tun machen – ich habe nur sehr wenig selbst anschaffen können. Du warst zuvor schon arm – um wie viel ärmer mußt du nicht durch mich werden, Walter!«

»Und um wie viel reicher, Florence!«

Florence lachte und schüttelte den Kopf.

»Außerdem«, fuhr Walter fort, »wurde mir vor langer Zeit, – ehe ich auf die See ging – eine Börse zum Geschenk gemacht, meine Liebe, in der sich Geld befand.«

»Ach!« entgegnete Floren« mit einem wehmütigen Lächeln, »nur wenig – sehr wenig, Walter! Aber du mußt nicht glauben«, und sie legte ihre leichte Hand auf seine Schulter, während sie ihm ins Gesicht sah, »daß es mir leid tut, für dich eine solche Last zu sein. Nein, Liebster, ich freue mich darüber und bin glücklich. Ich wünsche nicht um eine ganze Welt, daß es anders wäre.«

»Und wahrlich auch ich nicht, Florence.«

»Ich glaube dir, Walter, aber du kannst es nie so fühlen, wie ich. Ich bin so stolz auf dich! Das Herz schwillt mir vor Entzücken bei dem Bewußtsein, daß die, die von dir sprechen, sagen müssen, du heiratest ein armes, verstoßenes Mädchen, das hier Schutz suchte, das keine andere Heimat, keine andern Freunde – mit einem Worte nichts, gar nichts hatte! O Walter, wäre ich in der Lage gewesen, die Millionen mitzubringen, so hätte ich um deinetwillen nicht so glücklich sein können, wie ich es bin!«

»Und du, teure Florence – bist du nichts?« entgegnete er.

»Nein, nichts, Walter. Nichts als dein Weib.« Die leichte Hand stahl sich um seinen Nacken und die Stimme kam näher – näher. »In mir ist gar nichts mehr, was nicht dein wäre. Ich habe keine Erdenhoffnung, die nicht dir gehörte – nichts Teures mehr, als dich.«

O, wohl hatte Mr. Toots an jenem Abend Ursache, die kleine Gesellschaft zu verlassen, zweimal hinauszugehen, um seine Uhr nach der auf der königlichen Börse zu richten, einmal sich plötzlich der Bestellung eines Bankiers zu erinnern, und einmal einen kleinen Spaziergang nach dem Aldgate-Brunnen und zurück zu machen.

Aber ehe er diese Ausflüge antrat, ja, sogar noch ehe er kam und bevor die Lichter hereingebracht wurden, sagte Walter:

»Liebe Florence, unser Schiff ist nahezu geladen und wird wahrscheinlich an dem Tage unserer Hochzeit den Strom hinabfahren. Wollen wir nicht an jenem Morgen nach Kent gehen und dort bleiben, bis wir uns im Laufe der Woche zu Gravesend an Bord begeben können?«

»Wie du willst, Walter. Ich werde mich überall glücklich fühlen, aber – –«

»Ja, mein Leben.«

»Du weißt«, sagte Florence, »wir werden keine Hochzeitsgesellschaft haben, und an unserem Anzug wird uns niemand von andern Leuten unterscheiden können. Da wir am nämlichen Tag aufbrechen, willst du nicht – willst du nicht mich an jenem Morgen irgendwohin bringen, Walter – ich meine früh, ehe wir zur Kirche gehen?«

Walter schien sie zu verstehen, wie dieses von einem so innig geliebten treuen Liebhaber zu erwarten war, und bekräftigte seine Zusage mit einem Kuß – mit mehr als einem vielleicht, ja sogar mit mehr als zweien, dreien, fünfen oder sechsen; und an jenem ernsten, ruhigen, friedlichen Abend fühlte sich Florence sehr glücklich.

Dann brachte Susanna Nipper die Lichter herein. Bald nachdem kam der Tee, der Kapitän und der unstete Mr. Toots, der, wie bereits erwähnt wurde, sehr häufig auf dem Zuge war und einen recht unruhigen Abend verbrachte. Das war jedoch nicht immer so; denn in der Regel lief es ganz gut ab, indem er unter Miß Nippers Beihilfe mit dem Kapitän ein Spiel zu machen pflegte und sich den Kopf mit Berechnung der Möglichkeiten dieses Spiels zerbrach – wie er fand, ein sehr wirksames Mittel, um sich gänzlich zu verwirren.

Bei solchen Gelegenheiten gab das Gesicht des Kapitäns ein Pröbchen des schönsten Ausdrucks von Berechnung und Erfolg, den man nur sehen konnte. Sein instinktartiges Zartgefühl und seine Galanterie gegen Florence belehrte ihn, daß es nicht Zeit sei für eine geräuschvolle Heiterkeit oder eine ungestüme Kundgebung von Freude. Gewisse flüchtige Erinnerungen an die liebliche Peg rangen andererseits beharrlich nach Luft und drängten den Kapitän, sich durch irgendeine nicht wieder gutzumachende Demonstration bloßzustellen. Ja, er wurde von dem Anblick Florences und Walters – wie lieblich nahmen sie sich nicht aus, wenn sie in der vollen Anmut ihrer Jugend, Schönheit und Liebe beiseite saßen – oft so hingerissen, daß er seine Karten niederlegte, ihnen leuchtende Blicke zuwarf und dabei seinen ganzen Kopf mit dem Taschentuch betupfte, bis ihn vielleicht ein plötzliches Fortstürzen des Mr. Toots daran erinnerte, daß er unbewußt ein Werkzeug geworden sei, um diesen jungen Mann elend zu machen. Diese Betrachtung versetzte ihn dann in eine melancholische Stimmung, bis der Flüchtling wieder zurückkehrte, worauf der Kapitän mit vielen Seitwärtswinken und höflichen Schwenkungen des Hakens gegen Miß Nipper, als wolle er ihr andeuten, daß er sich in Zukunft in acht nehmen werde, abermals nach den Karten griff. Der Zustand, der auf solche Vorgänge folgte, war vielleicht sein bester; denn er konnte dann, wenn er sich Mühe gab, sein Gesicht allen Ausdrucks zu entladen, in den Raum starren und alle seine Gefühle, die unter sich um den Vorrang kämpften, in einen einzigen Zug zusammendrängen. Stets aber behielt entzückte Bewunderung bei dem Anblick Florences und Walters die Oberhand und zeigte sich siegreich ohne Maske, wenn nicht etwa Mr. Toots abermals ins Freie hinausstürmte. Dann pflegte der Kapitän wie ein von seinem Gewissen geschlagener Schuldiger dazusitzen, bis der Verscheuchte wieder zurückkam. Dabei ermunterte er sich gelegentlich mit gedämpfter, vorwurfsvoller Stimme zum »Beihalten« oder brummte dem »Ed’ard Cuttle, mein Junge« einen Verweis über den Mangel an Vorsicht zu, der sich in seinem Betragen bemerkbar mache.

Eine der schwersten Prüfungen des Mr. Toots wurde übrigens von ihm selbst herbeigeführt. Beim Herannahen des Sonntags, an dem das letzte Aufgebot in der Kirche stattfinden sollte, drückte er gegen Susanna Nipper seine Gefühle folgendermaßen aus.

»Susanna«, sagte Mr. Tool«, »ich werde mit Gewalt nach dem Gebäude hingezogen, Ihr wißt, die Worte, die mich für immer von Miß Dombey trennen, werden in meinem Ohr wie Grabgeläute tönen, aber auf Ehre, ich fühle, daß ich sie hören muß. Wollt Ihr mich deshalb morgen nach dem heiligen Haus begleiten?«

Miß Nipper drückte ihre Bereitwilligkeit aus, wenn Mr. Toots einen Trost darin finde, redete ihm aber zu, er solle den Gedanken daran aufgeben.

»Susanna«, entgegnete Mr. Toots mit großer Feierlichkeit, »noch ehe mein Backenbart von irgend jemandem außer mir bemerkt wurde, betete ich Miß Dombey an. Ich betete sie an, als ich noch ein Opfer der Blimberschen Knechtschaft war. Ich betete sie an, als mir, vom gesetzlichen Standpunkt aus betrachtet, mein Eigentum nicht länger vorenthalten werden konnte und ich demgemäß in den Besitz desselben kam. Das Aufgebot, das sie dem Leutnant Walter und mich der – der ewigen Finsternis überantwortet«, sagte Mr. Toots nach einigem Stocken, bis er einen gehörig kräftigen Ausdruck gefunden hatte, »mag wohl schrecklich – ja, wird sogar schrecklich sein; aber ich fühle, daß ich es mit anhören muß. Mein Inneres drängt mich zu dem Wunsch, die feste Überzeugung einzuholen, daß der Grund unabänderlich unter mir gesprengt ist und daß mir keine Hoffnung, keine Stütze mehr bleibt, an der ich mich halten kann.«

Susanna Nipper konnte nur die unglückliche Lage des armen jungen Menschen bedauern und sagte ihm zu, daß sie unter solchen Umständen ihn auf seinem Kirchgang begleiten wolle, was auch am andern Morgen geschah.

Das Gotteshaus, das Walter für diesen Zweck gewählt hatte, war eine moderige, von einem Begräbnisplatz umgebene alte Kirche, die inmitten eines Labyrinths von Hintergassen und Höfen selbst in einer Art Gewölbe, von den benachbarten Häusern gebildet und mit hallenden Steinen gepflastert, begraben zu sein schien – eine große, düstere, ärmlich aussehende Gebäudemasse mit hohen, alten Eichenstühlen, unter denen sich jeden Sonntag ein paar Dutzend Menschen verloren, während die Stimme des Geistlichen schläfrig durch die Leere schallte und die Orgel rumpelte und rollte, als ob die Kirche bei dem Anblick einer so kleinen Gemeinde die Kolik gekriegt habe. Aber dafür war diese Stadtkirche so weit entfernt, die Gesellschaft anderer Kirchen zu vermissen, daß sich vielmehr Türmchen darum her gruppierten, wie die Masten einer Anzahl von Schiffen auf dem Flusse. Es waren ihrer so viele, daß man sie von der Spitze des Hauptturms aus kaum zu zählen vermochte. Fast in jedem Hof, in jeder nahe gelegenen Sackgasse befand sich eine Kirche, weshalb denn auch, als Susanna und Mr. Toots am Sonntagmorgen ihren Gang antraten, die Glocken einen geradezu betäubenden Lärm machten. Wohl zwanzig dicht beieinander stehende Kirchen forderten das Volk auf, hereinzukommen.

Die zwei in Frage stehenden verirrten Schäflein wurden von einem Kirchendiener in einen bequemen Stuhl eingepfercht. Da es noch früh war, so blieben sie eine Weile sitzen, zählten die Gemeinde ab, hörten auf die getäuschten Glocken hoch oben im Turm oder blickten nach einem schäbigen alten Männlein hin, das seitwärts vom Portale hinter einem Schirm, den Fuß in einem Bügel, das Seil in Tätigkeit setzte. Nachdem Mr. Toots die großen Bücher auf dem Lesepult gemustert hatte, flüsterte er Miß Nipper zu, er sei doch neugierig, wo das Aufgebot gehalten werde. Aber die junge Dame schüttelte bloß mit Stirnrunzeln den Kopf und wollte sich vorderhand aller zeitlichen Gedanken entschlagen.

Mr. Toots dagegen konnte die seinen nicht von dem Aufgebot abwenden und hatte augenscheinlich wahrend des ganzen einleitenden Teils des Gottesdienstes für nichts anderes einen Sinn. Als die Zeit der Verlesung herankam, begann der arme junge Mann zu zittern, und die Beängstigung seine« Herzens ward nicht gemindert durch das unerwartete Erscheinen des Kapitäns in der Vorderreihe der Emporkirche. Der Küster übergab dem Geistlichen eine Liste. Mr. Toots, der Platz genommen hatte, vermochte sich nicht von seinem Sitze zu erheben. Als aber die Namen Walter Gay und Florence Dombey zum dritten und letzten Male verkündigt wurden, fühlte er sich so angegriffen, daß er ohne Hut aus der Kirche stürzte, hintendrein der Kirchendiener, die Stuhlöffnerin und zwei Herren ärztlichen Standes, die zufälligerweise anwesend waren. Der Kirchendiener kam bald wieder zurück, um das im Stich gelassene Eigentum zu holen, und machte Miß Nipper flüsternd die Mitteilung, sie brauche sich wegen des Gentleman nicht zu beunruhigen, da derselbe gesagt habe, sein Übelbefinden sei von keinem Belang.

Miß Nipper, die fühlte, daß die Augen jenes wesentlichen Bestandteils von Europa, der sich wöchentlich unter den hohen Kirchenstühlen verlor, auf ihr hafteten, würde schon durch diesen Vorfall, obwohl er bereits sein Ende erreicht hatte, hinreichend in Verlegenheit gesetzt worden sein. Das war aber um so mehr der Fall, als der Kapitän in der vorderen Reihe der Emporkirche so deutlich sein Schuldbewußtsein an den Tag legte, daß die Gemeinde notwendig irgendeinen geheimnisvollen Zusammenhang mit dem Ganzen argwöhnen mußte. Jedoch die außerordentliche Unruhe des Mr. Toots erhöhte und verlängerte noch das Verfängliche ihrer Lage. Dieser junge Herr nämlich, der bei seiner Gemütsverfassung nicht imstande war, als Raub seiner trostlosen Betrachtungen allein auf dem Kirchhof zu bleiben und ohne Zweifel auch seine Achtung vor dem Gottesdienst, den er einigermaßen unterbrochen hatte, kundgeben wollte, kehrte plötzlich wieder zurück, trat aber nicht wieder in den Kirchenstuhl ein, sondern nahm seinen Posten auf einem Freisitz des Ganges zwischen zwei älteren Frauen ein. Diese pflegten eine wöchentliche Brotration, die auf einem Sims des Portals ausgestellt war, in Empfang zu nehmen. In dieser Nachbarschaft verblieb Mr. Toots zur großen Störung der Gemeinde, die kein Auge von ihm ver- Zeile/n fehlen im Buch. Re werden konnte, bis seine Gefühle aufs neue übermächtig wurden und ihn zwangen, still und plötzlich wieder zu verschwinden. Da er sich jetzt nicht mehr in die Kirche hineinwagte, obschon er einigen geselligen Anteil an dem, was darin vorging, zu nehmen wünschte, so sah man ihn von Zeit zu Zeit mit betrübter Miene durch eines der Fenster hereinschauen. Von außen waren mehrere Fenster für ihn zugänglich, und bei der großen Unruhe des jungen Herrn wurde es nicht nur schwer, sich eine Vorstellung zu machen, wo er nun zunächst erscheinen würde, sondern die ganze Gemeinde sah sich in gleicher Weise genötigt, während der verhältnismäßigen Muße, die ihr durch die Predigt geboten wurde, über die Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Fenster Spekulationen anzustellen. Mr. Toots‘ Bewegungen in dem Kirchhof waren so exzentrisch, daß er in der Regel aller Berechnung Trotz zu bieten schien und wie die Gestalt des Beschwörers meist da auftauchte, wo man ihn am wenigsten erwartete. Die Wirkung dieser geheimnisvollen Erscheinungen war noch schlagender, weil er nicht gut ins Kirchenschiff hinunter-, jedermann aber recht gut ihn draußen sehen konnte. Dies hatte zur Folge, daß er jedesmal viel länger, als man wohl vermuten mochte, seine Nase dicht ans Fenster drückte, bis er, wenn er endlich die vielen auf ihm haftenden Augen bemerkte, mit einem Male verschwand.

Dieses Treiben des Mr. Toots und die sich so sichtlich kundgebenden Gewissensbisse des Kapitäns machten Miß Nippers Lage sehr peinlich, so daß sie erst beim Schlusse des Gottesdienstes wieder freier aufatmete. Auch war sie auf dem Rückwege gegen Mr. Toots kaum so freundlich wie sonst, als dieser ihr und dem Kapitän mitteilte, er wisse jetzt, daß er keine Hoffnung mehr habe, und fühle sich getrösteter – oder wenn auch nicht gerade getrösteter, so doch ruhiger in dem Übermaß seines Elends.

Die Zeit entschwand schnell, und der Abend vor dem Tag der Trauung kam heran. Alle waren im oberen Stübchen des Midshipman versammelt, ohne eine Störung zu besorgen; denn es gab für den Augenblick keine Mietleute im Hause, und der Midshipman konnte also allein wirtschaften. Der Hinblick auf den morgigen Tag stimmte sie ernst und ruhig, obschon auch die Heiterkeit ihrem Kreise nicht ferne blieb. Florence, an deren Seite sich Walter befand, vollendete eine kleine Arbeit, die sie dem Kapitän als Abschiedsgabe zurückzulassen gedachte. Der Kapitän machte mit Mr. Toots ein Spiel, und dieser ließ sich von Susanna beraten, die mit gebührender Umsicht bei dem Spiel mithalf. Diogenes hörte zu und brach gelegentlich in ein halb ersticktes Knurren aus, dessen er sich nachher halb zu schämen schien, als zweifle er, ob er irgendeinen Grund dafür gehabt habe.

»Ruhig, ruhig!« sagte der Kapitän zu Diogenes. »Was siehst du für Mäuse? Es scheint, als sei es diesen Abend nicht ganz richtig in deinem Kopf, Bürschlein.«

Diogenes wedelte mit dem Schwanze, spitzte aber unmittelbar darauf seine Ohren und stieß wieder ein kurzes Knurren aus, wofür er sich bei dem Kapitän mit einem abermaligen Wedeln entschuldigte.

»Ich bin der Meinung, Di«, sagte der Kapitän, während er gedankenvoll seine Karten ansah und mit dem Haken sich das Kinn streichelte – »es kommt mir vor, Di, als setzest du Mißtrauen in Mrs. Richards. Aber wenn du das Tier bist, für das ich dich halte, so wirst du dich eines Besseren besinnen, denn ihr Gesicht ist ihr Empfehlungsbrief. Na, Bruder«, fügte er gegen Mr. Toots bei, »wenn Ihr fertig seid, so schiebt los.«

Der Kapitän sprach mit aller Fassung und voller Aufmerksamkeit auf sein Spiel. Aber plötzlich entsanken seiner Hand die Karten, sein Mund und seine Augen taten sich weit auf, die Beine spreizten sich in die Luft, und in größtem Erstaunen starrte er nach der Tür hin. Dann sah er sich nach der Gesellschaft um, und als er wahrnahm, daß niemand auf ihn oder die Ursache seiner Überraschung achtete, so keuchte er tief auf, schlug mit Macht seinen Haken auf den Tisch, rief er mit Stentorstimme: »Sol Gills, ahoi!« und purzelte in die Ärmel eines vom Wetter schwer mitgenommenen Lotsenrockes, der mit Polly ins Zimmer gekommen war.

Im nächsten Augenblick war auch Walter von den Ärmeln des verwitterten Rocks umschlungen, und unmittelbar darauf ging ein Gleiches mit Florence vor. Kapitän Cuttle umarmte Mrs. Richards und Miß Nipper, drückte Mr. Toots ungestüm die Hand, schwenkte seinen Haken über dem Kopf und rief: »Hurra, mein Junge, hurra!« worauf Mr. Toots, der sich dieses Benehmen durchaus nicht zu erklären vermochte, mit größter Höflichkeit erwiderte: »Jawohl, Kapitän Gills, wenn Ihr es für passend haltet.«

Der verwitterte Lotsenrock und eine nicht weniger verwitterte Mütze samt dem dazu gehörigen Schal wandte sich von dem Kapitän und Florence wieder Walter zu. Aus dem Rock aber, der Mütze und dem Schal drangen Töne hervor, als ob ein alter Mann darunter schluchzte, während die rauhhaarigen Ärmel Walter dicht umfaßt hielten. Während dieser Pause herrschte ein tiefes Schweigen, und der Kapitän polierte mit großem Eifer seine Nase. Aber als der Lotsenrock, die Mütze und der Schal sich wieder erhoben, ging Florence auf sie zu, faßte sie unter Walters Beihilfe an und schälte so den alten Instrumentenmacher heraus, der jetzt ein wenig schmächtiger und sorgenschwerer aussah, als ehemals, aber immer noch die alte welsche Perücke und den alten kaffeefarbigen Rock mit den übersponnenen Knöpfen trug, wahrend die untrügliche Uhr laut in seiner Tasche tickte.

»Randvoll von Wissenschaft«, sagte der strahlende Kapitän, »wie er immer war! Sol Gills, Sol Gills, wo seid Ihr die lange, lange Zeit gewesen, alter Knabe?«

»Ich bin halb blind, Ned«, versetzte der alte Mann, »und fast taub und stumm vor Freude.«

»Auch seine Stimme«, sagte der Kapitän, mit einem Jubel umherschauend, dem sogar sein Gesicht kaum Gerechtigkeit widerfahren lassen konnte – »seine leibhaftige Stimme so randvoll von Wissenschaft, wie sie nur je war! Sol Gills, legt bei, mein Junge, auf Euren alten Rebstöcken und Feigenbäumen, Ihr zäher alter Patriarch, und überholt Eure Abenteuer mit Eurer väterlichen Stimme. Ja, es ist wahrhaftig die Stimme« – fügte der Kapitän nachdrücklich bei, indem er mit seinem Haken andeutete, daß ein Zitat folge– »des Siebenschläfers. Ich hörte ihn klagen: »Ihr habt mich zu bald geweckt, ich muß wieder schlummern.« Zerstreut seine Feinde und schlagt sie zurück!«

Der Kapitän setzte sich mit der Miene eines Mannes nieder, der glücklich die Gefühle jedes Anwesenden ausgedrückt hat, und erhob sich sogleich wieder, um Mr. Toots vorzustellen, der augenscheinlich sehr verwirrt über die Ankunft eines Mannes war, der den Namen Gills für sich in Anspruch nahm.

»Obgleich ich«, stammelte Mr. Toots, »nicht die Ehre Eurer Bekanntschaft habe, Sir, ehe Ihr – ehe Ihr –«

»Dem Gesicht entschwandet, aber doch der Erinnerung teuer«, ergänzte der Kapitän mit gedämpfter Stimme.

»Ganz richtig, Kapitän Gills!« pflichtete Mr. Toots bei. »Obschon ich nicht das Vergnügen Eurer Bekanntschaft hatte, Mr. – Mr. Sols«, sagte Toots, der in der Begeisterung einer glücklichen Idee auf diesen Namen traf, »ehe sich das alles zutrug, macht es mir doch die größte Freude, Euch kennenzulernen. Ich hoffe. Ihr seid so wohlauf, wie man es erwarten kann.«

Mit diesen höflichen Worten setzte sich Mr. Toots errötend nieder und kicherte.

Der alte Instrumentenmacher, der in einer Ecke zwischen Walter und Florence Platz gefunden hatte, nickte der vor Entzücken lächelnden Polly zu und antwortete dem Kapitän folgendermaßen:

»Ned Cuttle, mein lieber Junge, obgleich ich etwas über die Veränderungen hier von meiner angenehmen Freundin da erfahren habe, – es ist wahrhaftig ein so liebes Gesicht, wie nur je eines einen Wanderer willkommen heißen kann!« sagte der alte Mann plötzlich abbrechend und die Hände in seiner alten träumerischen Weise reibend.

»Hört ihr!« rief der Kapitän ernst, »Es ist das Weib, welches das ganze menschliche Geschlecht verführt. Überholt deshalb«, bemerkte er beiseite gegen Mr. Toots, »Eueren Adam und Eva, Bruder.«

»Ich werde es nicht versäumen, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots.

»Obgleich ich von ihr etwas über die Wechsel hier erfahren habe«, wiederholte der Instrumentenmacher, indem er seine Brille aus der Tasche langte und sie in der alten Weise auf die Stirne setzte, – »sie sind so groß und unerwartet, und ich bin so überwältigt von dem Anblick meines lieben Jungen und von dem –« da er Florences niedergeschlagene Augen erblickte, so versuchte er es nicht, den Satz zu beendigen – »daß ich heute nicht mehr viel sagen kann. Aber mein lieber Ned Cuttle, warum habt Ihr nicht geschrieben?«

Das Erstaunen, das sich in des Kapitäns Gesicht abmalte, erschreckte Mr. Toots dermaßen, daß er seine Blicke nicht mehr davon verwenden konnte.

»Geschrieben!« wiederholte der Kapitän. »Geschrieben, Sol Gills?«

»Ja«, sagte der alte Mann. »Entweder nach Barbados oder nach Jamaica oder nach Demerara. Dies war es, um was ich Euch bat.«

»Um was Ihr mich batet, Sol Gills?« entgegnete der Kapitän.

»Ja.«, versetzte der alte Mann. »Wißt Ihr es nicht, Ned? Sicherlich habt Ihr’s doch nicht vergessen? Ich schrieb Euch das jedesmal.«

Der Kapitän nahm seinen Glanzhut ab, hängte ihn an seinen Haken und strich sich von hinten mit der Hand das Haar zurecht. Dabei starrte er die Gruppe um ihn her wie ein vollkommenes Bild ergebungsvollen Staunens an.

»Ihr scheint mich nicht zu verstehen, Ned!« bemerkte der alte Sol.

»Sol Gills«, erwiderte der Kapitän, nachdem er den alten Mann und die übrigen eine Weile lautlos gemustert hatte, »ich glaube, ich bin völlig triftig gekappt. Laßt ein paar Worte in betreff jener Abenteuer hören, wollt Ihr so gut sein? Kann ich denn nirgends aufkommen? Nirgends?« fügte der Kapitän grübelnd hinzu, während seine großen Augen noch immer umherrollten.

»Ihr wißt, Ned, warum ich von hier wegging«, sagte Sol Gills. »Habt Ihr mein Paket geöffnet?«

»Aber ja, ja«, antwortete der Kapitän. »Natürlich öffnete ich da« Paket.«

»Und habt es gelesen?« fragte der alte Mann.

»Ja, auch gelesen«, versetzte der Kapitän, ihn aufmerksam betrachtend und aus dem Gedächtnis zitierend: »›Mein lieber Ned Cuttle. Als ich London verließ, um nach Westindien zu reisen und Kunde über meinen lieben Jungen einzuholen‹ – da sitzt er! hier ist Walter!« rief der Kapitän, als fühle er sich erleichtert, daß er doch an etwas Wirkliches und Unbestreitbares Hand legen konnte.

»Gut, Ned. Hört mich jetzt einen Augenblick an«, sagte der alte Mann. »Als ich Euch das erstemal schrieb – es war von Barbados – sagte ich, obschon Ihr den Brief lange vor Ablauf des Jahres erhalten würdet, sei es mir doch lieb, wenn Ihr das Paket öffnetet, weil es Euch den Grund meiner Entfernung erkläre. Sehr gut, Ned. In meinem zweiten, dritten und vierten Schreiben – sie liefen von Jamaica aus – teilte ich Euch mit, ich sei noch immer in dem nämlichen Zustand, könne keine Ruhe finden und wolle diesen Teil der Welt nicht verlassen, ehe ich die Überzeugung gewonnen habe, daß mein Junge verloren oder gerettet sei. Als ich das nächste Mal schrieb – ich glaube, e« war von Demerara aus – ist es nicht so?«

»Er glaubt, er sei von Demerara aus gewesen!« entgegnete der Kapitän, mit trostloser Miene umherschauend.

»– sagte ich«, fuhr der alte Sol fort, »daß ich noch immer ohne bestimmte Auskunft sei. Ich habe in diesem Teil der Welt viele Kapitäne und andere Personen getroffen, die mir, weil sie mich von früher her kannten, hier und da mit einer Fahrt aushalfen, während ich mit Gegendiensten, wie sie mir mein Handwerk möglich machte, mich dankbar dafür erweisen konnte. Jedermann hat mich bedauert und einigermaßen an meinen Wanderungen Anteil genommen. Auch glaube ich, es werde wohl mein Schicksal sein, nach meinem Jungen in der Welt umherzukreuzen, bis ich sterbe.«

»Glaubt, es sei sein Schicksal, als wäre er ein wissenschaftlicher fliegender Holländer!« sprach der Kapitän mit der früheren Miene und großem Ernst.

»Aber als eines Tags die Kunde einlief, Ned – das war zu Barbados, wohin ich wieder zurückgekehrt war – daß ein heimwärts ziehender Chinafahrer angesprochen worden sei, der meinen Jungen an Nord hatte, Ned, so machte ich im nächsten Schiff eine Überfahrt und bin nun, Gott sei Dank, heute abend hier angekommen, um zu finden, daß die Nachricht keine Lüge war.«

Nachdem der Kapitän mit großer Ehrerbietung sein Haupt verbeugt hatte, starrte er alle Anwesenden, mit Mr. Toots anfangend und dem Instrumentenmacher endigend, der Reihe nach an und sagte dann ernst:

»Sol Gills, die Bemerkung, die ich zu machen im Begriff bin, ist darauf berechnet, jeden Stich Segel, den Ihr führen könnt, rein aus den Bolztauen zu blasen und Euch mit einem einzigen Stoß auf die Balkenenden zu bringen. Nicht ein einziger von Euren Briefen wurde Ed’ard Cuttle überliefert. Nicht ein einziger von Euren Briefen«, wiederholte der Kapitän, um seine Erklärung noch feierlicher und eindrucksvoller zu machen, »gelangte je an Ed’ard Cuttle, englischen Seemann, der da ruhig zu Hause lebt und nur bei schönem Wetter auszugehen pflegt.«

»Und doch habe ich sie selbst auf die Post besorgt und eigenhändig nach Brig-PIace Nummer g überschrieben!« rief der alte Sol.

Aus dem Gesicht des Kapitäns wich alle Farbe, um im nächsten Augenblick in voller Glut wieder zurückzukehren.

»Sol Gill«, mein Freund, was meint Ihr mit Brig-Place Nummer g?« fragte der Kapitän.

»Was ich damit meine? Eure Wohnung, Ned«, antwortete der alte Mann. »Mistreß, wie heißt sie doch – ich werde bald meinen eigenen Namen vergessen. Aber ich bin hinter meiner Zeit zurück – Ihr wißt, ich war es stets – und es ist so wirr in meinem Kopf. Mistreß –«

»Sol Gills!« sagte der Kapitän, als lege er den unwahrscheinlichsten Fall von der Welt vor, »der Name, auf den Ihr Euch besinnt, ist doch nicht Mac Stinger?«

»Natürlich!« rief der Instrumentenmacher. »Welcher sonst? Mistreß Mac Stinger!«

Kapitän Cuttle, dessen Augen nun so weit wie möglich offen standen und dessen Gesichtsausbuchtungen eigentlich glühten, stieß ein schrilles, melancholisches Pfeifen aus und betrachtete seine Umgebung in sprachlosem Erstaunen.

»Wiederholt das noch einmal, Sol Gills, wollt Ihr so gut sein?« sagte er endlich.

»Alle diese Briefe«, entgegnete Onkel Sol, indem der Zeigefinger seiner rechten Hand auf der Fläche der linken mit einer Stetigkeit und Bestimmtheit den Takt schlug, die sogar der untrüglichen Uhr in seiner Tasche Ehre gemacht haben würden, »trug ich selbst auf die Post und überschrieb sie eigenhändig an Kapitän Cuttle bei Mistreß Mac Stinger. Brig-Place, Nummer g.«

Der Kapitän nahm den Glanzhut von seinem Haken, guckte hinein, setzte ihn auf und ließ sich auf einen Stuhl nieder.

»Ach, meine Freunde«, sagte der Kapitän, im Zustand größter Niedergeschlagenheit umherstarrend, »ich bin von dort ausgerissen und davongelaufen.«

»Und niemand wußte, wohin Ihr gegangen waret, Kapitän Cuttle?« rief Walter hastig.

»Gott segne Euer Herz, Wal’r«, sagte der Kapitän, den Kopf schüttelnd, »sie würde mir nie gestattet haben, hierher zu kommen und dieses Eigentum da in meine Obhut zu nehmen. Es blieb mir keine andere Wahl, als auszureißen und davonzulaufen. Ja, Wal’r«, fügte er bei, »Ihr habt sie nur in ihrer Ruhe gesehen; aber betrachtet sie einmal, wenn ihre zornigen Leidenschaften sich erheben – und biegt ein Ohr ein!«

»Ich wollte ihr’s geben!« bemerkte die Nipper gelassen.

»Glaubt Ihr, daß Ihr es könntet, meine Liebe?« entgegnete der Kapitän mit einem Anflug von Bewunderung. »Na, das macht Euch Ehre, mein Schatz. Aber was mich betrifft, so wollte ich mich lieber mit dem wildesten Tier einlassen. Es gelang mir nur durch Vermittlung eines Freundes, der nicht seinesgleichen hat, meine Truhe hierher zu bekommen. Ein schlimmer Einfall, Briefe dorthin zu senden: denn unter den obwaltenden Umständen hat sie gewiß keinen angenommen. Ihr habt es da in einer Weise gehalten, daß es nicht der Mühe wert war, ein Briefträger zu sein.«

»Es ist also klar, Kapitän Cuttle«, sagte Walter, »daß wir alle, namentlich aber Ihr und Onkel Sol, dieser Mistreß Mac Stinger viele Sorge zu danken haben.«

Das Gefühl einer derartigen Verpflichtung gegen die entschiedene Hinterbliebene des seligen Mac Stinger drückte sich so allgemein aus, daß der Kapitän keinen Widerspruch dagegen einzulegen geneigt war. Obschon übrigens niemand bei dem Gegenstand verweilte und namentlich Walter, der sich des Gesprächs darüber noch erinnerte, ihn absichtlich umging, so blieb doch der Kapitän beinahe fünf Minuten – für ihn eine außerordentliche Zeit – unter einer Wolke. Dann aber brach die Sonne wieder auf seinem Gesicht hervor und leuchtete allen Anwesenden mit außerordentlichem Glänze zu. Auch geriet er jetzt in eine eigentliche Wut, männiglich wieder und wieder die Hand zu schütteln.

In einer frühen Stunde, aber nicht ehe Onkel Sol und Walter sich gegenseitig über die Dauer und die Gefahren ihrer Reise ausgefragt hatten, räumten, mit Ausnahme Walters, alle Florences Zimmer und gingen nach dem Hinterstübchen hinunter. Dort schloß sich auch bald nachher Walter ihnen an, weil, wie er sagte, Florence sich ein wenig schwermütig fühle und zu Bette gegangen sei. Obschon sie die Ruhende von unten aus mit ihren Stimmen nicht stören konnten, sprachen sie jetzt doch insgesamt in Flüstertönen und drückten in so zarter Weise ihre Gefühle gegen Walters schöne junge Braut aus. Es folgte nun zur Belehrung des Onkel Sol ein ausführlicher Bericht über ihre Geschichte, und Mr. Toots hatte alle Ursache, die Zartheit anzuerkennen, mit der Walter seinem Namen und der Wichtigkeit seiner Dienstleistungen, desgleichen der Notwendigkeit, daß dieser junge Gentleman ihren Beratungen beiwohnte, Gerechtigkeit widerfahren ließ.

»Mr. Toots«, sagte Walter, als er sich von ihm an der Haustür verabschiedete, »wir werden doch morgen früh einander sehen?«

»Leutnant Walter«, versetzte Mr. Toots, seine Hand mit Wärme ergreifend, »ich werde bestimmt da sein.«

»Das ist für lange Zeit der letzte Abend, an dem wir beisammen saßen – vielleicht der letzte für immer«, sagte Walter. »Ein so edles Herz, wie das Eure, muß es wohl fühlen, wenn ihm ein anderes entgegenschlägt. Ich hoffe, Ihr wißt, daß ich Euch aus tiefster Seele dankbar bin?«

»Walter«, versetzte Mr. Toots gerührt, »es würde mich freuen, wenn ich glauben dürfte, ich habe Euch Anlaß dazu gegeben.«

»Florence«, fuhr Walter fort, »nahm mir an diesem letzten Abend, an dem sie ihren eigenen Namen trägt, das Versprechen ab – es geschah erst vor kurzem, als ihr uns gemeinschaftlich verließet – ich solle Euch herzlich von ihr grüßen –«

Mr. Toots legte seine Hand auf den Türpfosten und sein Gesicht auf die Hand.

»– Euch herzlich von ihr grüßen«, fuhr Walter fort, »und Euch sagen, daß sie nie einen Freund haben könne, den sie mehr schätzen werde als Euch. Die Erinnerung an Euer rücksichtsvolles Benehmen gegen sie werde nie aus ihrer Seele weichen. Sie wolle Eurer eingedenk sein in ihren heutigen Gebeten und hoffe, daß Ihr sie nicht vergessen werdet, wenn sie in der Ferne weilt. Kann ich ihr etwas von Euch mitteilen?«

»Sagt ihr, Walter«, versetzte Mr. Toots in ersticktem Tone, »ich werde jeden Tag an sie denken, aber nie ohne die beglückende Überzeugung, daß sie mit dem Mann verbunden sei, den sie liebt und der sie zu schätzen weiß. Habt die Güte, ihr zu sagen, ich sei überzeugt, ihr Gatte verdiene sie – sogar sie – und ich freue mich über ihre Wahl.«

Diese letzten Worte sprach er mit größerer Bestimmtheit, indem er zugleich die Augen von dem Türpfosten aufrichtete. Er drückte dann abermals Walter mit Wärme die Hand – eine Begrüßung, die dieser in gleicher Weise erwiderte – und trat den Heimweg an.

Mr. Toots war von dem Preishahn begleitet, den er in letzter Zeit jeden Abend mitgebracht und in dem Laden gelassen hatte, weil er dachte, es könnten von außen her unvorhergesehene Umstände eintreten, in denen die Tapferkeit dieses ausgezeichneten Mannes dem Midshipman von Nutzen sein dürfte. Der Preishahn schien übrigens an jenem Abend nicht in der besten Stimmung zu sein. Wenn die Gaslampen nicht sehr trügerisch waren, so blinzelte und verdrehte er in gar häßlicher Weise die Nase, als Mr. Toots über die Straße hinüberging und noch einmal nach dem Fenster hinaufsah, wo Florence schlief. Auf dem Heimweg zeigte er gegen die andern Vorübergehenden eine größere Angriffslust, als sich mit seinem Beruf, die friedliche Kunst der Selbstverteidigung zu lehren, vertrug, und nachdem er Mr. Toots nach seiner Wohnung begleitet hatte, entfernte er sich nicht wie gewöhnlich, sondern blieb, mit beiden Händen seinen weißen Hut am Rand haltend, stehen, während er zu gleicher Zeit Kopf und Nase, die ihm oftmal zerschlagen und nur schlecht wieder geheilt worden waren, in der respektwidrigsten Weise aufwarf.

Sein Beschützer, der mit andern Gedanken beschäftigt war, achtete lange nicht darauf, bis der Preishahn, der nicht übersehen werden wollte, mit Zunge und Zähnen verschiedene schnalzende Töne hervorbrachte, um die Aufmerksamkeit des jungen Gentleman auf sich zu ziehen.

»Na, Master«, sagte der Preishahn trotzig, als endlich Mr. Toots‘ Auge auf ihm haften blieb, »ich möchte einmal wissen, ob die Komödie damit endigen soll oder ob Ihr darauf loszugehen und zu gewinnen gedenkt?«

»Preishahn«, versetzte Mr. Toots, »erklärt Euch.«

»Ei ja, es ist alles beieinander, Master«, sagte der Preishahn. »Ich bin nicht der Mann, der seine Worte wegwirft. Nur soviel – soll einer von ihnen geknickt werden?«

Bei dieser Frage ließ der Preishahn seinen Hut fallen, machte mit seiner linken Hand eine Finte und versetzte mit der rechten einem vermeintlichen Feind einen tüchtigen Schlag. Dann schüttelte er den Kopf und nahm seine frühere Stellung wieder ein.

»Na, Master«, sagte der Preishahn, »soll’s Lappalie oder Ernst sein, was von beiden?«

»Preishahn«, entgegnete Mr. Toots, »Eure Ausdrucksweise ist roh und der Sinn Eurer Worte dunkel.«

»Wohlan, so will ich Euch was sagen, Master«, erwiderte der Preishahn. »Rundweg – es ist gemein.«

»Was ist gemein, Preishahn?« fragte Mr. Toots.

»Dies«, versetzte der Preishahn mit einem schrecklichen Runzeln seiner zerbrochenen Nase. »Wie, jetzt, während Ihr hingehen und den Handel abschließen könnt mit dem Steifen«, mit dieser anrüchigen Benennung pflegte der Preishahn Mr. Dombey zu bezeichnen, »und während es Euch frei steht, den Gewinner und seine ganze Sippschaft tot aus Wind und Zeit zu schlagen, wollt Ihr nachgeben? Nachgeben!« fügte er mit verächtlichem Nachdruck bei. »Ja, es ist gemein.«

»Preishahn«, sagte Mr. Toots strenge, »Ihr seid ein wahrhaftiger Geier und habt eine abscheuliche Sinnesart.«

»Meine Sinnesart ist kampf- und regelrecht, Master«, entgegnete der Preishahn. »Ja, so ist meine Sinnesart. Ich kann keine Gemeinheit ertragen. Ich stehe vor dem Publikum, ich führe das Wort in der Schenkstube des kleinen Elefanten, und keiner meiner Prinzipale darf mir durch gemeines Benehmen Schande machen. Ja, ’s ist gemein«, fügte er mit erhöhtem Nachdruck bei. »Ich nehme kein Wort davon zurück. Es ist gemein.«

»Preishahn«, sagte Mr. Toots, »jetzt habe ich genug von Euch.«

»Master«, entgegnete der Preishahn, seinen Hut aufsetzend, »wir sind unserer zwei. So hört! Ihr habt ein paarmal mit mir von einem Wirtsgeschäft gesprochen. Gleichviel! Gebt mir morgen eine Fünfzigpfundnote und laßt mich gehen.«

»Preishahn«, erwiderte Mr. Tools, »bei der abscheulichen Gesinnungsweise, die ich an Euch kennenlernen mußte, ist es mir lieb, unter solchen Bedingungen Euch loszuwerden.«

»Top!« rief der Preishahn. »Es gilt. Ein Benehmen, wie das Eure, paßt nicht zu meinem Buch, Master. Es ist gemein«, fügte er hinzu, da er augenscheinlich nicht über diesen Punkt wegkommen konnte. »Ja, dies ist es – gemein!«

So kamen Mr. Toots und der Preishahn miteinander überein, ihre Verbindung auf die Grundlage der Unverträglichkeit ihrer gegenseitigen moralischen Auffassungsweise hin abzubrechen. Mr. Toots legte sich schlafen und träumte glücklich von Florence, die am letzten Abend ihres jungfräulichen Lebens seiner als ihres Freundes gedacht und ihm herzliche Grüße gesagt hatte.

Siebenundfünfzigstes Kapitel.


Siebenundfünfzigstes Kapitel.

Wieder ein Hochzeit.

Mr. Sownds, der Kirchendiener, und Mrs. Miff, die Kirchenstuhlöffnerin, sind in der Kirche, wo Mr. Dombey getraut wurde, früh auf ihrem Posten. Ein gelbgesichtiger alter Gentleman aus Indien will sich heute morgen mit einem jungen Weibe verbinden, und es werden sechs Wagen voll Gesellschaft erwartet: auch weiß Mrs. Miff, daß der gelbgesichtige alte Gentleman den Weg nach der Kirche mit Diamanten pflastern lassen könnte, ohne es zu spüren. Die Feierlichkeit soll sehr vornehm gehalten werden, da ein sehr ehrwürdiger Dekan für die Einsegnung bestellt ist und die Dame als ein außerordentliches Geschenk von jemand vergeben wird, der zu diesem Zweck ausdrücklich von den Horse Guards herkommt.

Mrs. Miff ist heute morgen gegen das gemeine Volk noch intoleranter als sonst, obschon sie in dieser Beziehung, da sie mit Freisitzen in Verbindung steht, zu allen Zeiten sehr entschiedene Ansichten hegt. Sie hat sich mit dem Studium der Staatswirtschaft nicht abgegeben – sie meint, diese Wissenschaft beziehe sich auf »Dissenters, Baptisten, Wesleyaner oder dergleichen Volk«, sagt sie – kann aber nicht begreifen, wie gemeine Leute auch heiraten wollen. »Zum Henker mit ihnen«, sagt Mrs. Miff, »man muß das nämliche mit ihnen vornehmen und kriegt statt Goldstücke Sixpence.«

Mr. Sownds, der Kirchendiener, ist liberaler als Mrs. Miff – freilich aber auch kein Stuhlöffner. »Es muß geschehen, Ma’am«, sagt er. »Wir müssen sie zusammengeben. Wir brauchen Nationalschulen, denen wir vorangehen müssen, und brauchen stehende Heere. Wir müssen sie zusammengeben, Ma’am«, fährt Mr. Sownds fort, »und das Land im Gang halten.«

Mr. Sownds sitzt auf der Portaltreppe, und Mrs. Miff fegt eben die Kirche aus, als ein einfach gekleidetes junges Paar eintritt. Mrs. Miffs zerbeulter Hut wendet sich rasch zu ihnen hin, denn sie erkennt in diesem frühen Besuch Anzeichen einer Entführungshochzeit. Das Paar will übrigens nicht heiraten – »nur sich in der Kirche umsehen«, sagt der Gentleman. Und da er ein höfliches Kompliment in Mrs. Miffs Handfläche gleiten läßt, so wird ihr Essiggesicht milder, während der zerbeulte Hut und ihre schmächtige, dürre Gestalt rasselnd sich ducken.

Mrs. Miff nimmt ihr Abstäuben wieder auf und klopft auf die Polster los – denn der gelbgesichtige alte Gentleman soll sehr empfindliche Knie haben – folgt aber mit ihrem stuhlöffnenden Auge ohne Unterlaß dem jungen Paare, das in der Kirche umhergeht. »Ahem«, hustet Mrs. Miff, deren Husten noch trockener ist als die Binsen in den ihrer Obhut vertrauten Matten, »wenn ich mich nicht sehr täusche, meine Lieben, so werdet ihr eines schönen Morgens auch herkommen!«

Sie betrachteten eine Wandtafel, die zum Andenken eines Toten eingefügt wurde. Ihre Entfernung von Mrs. Miff ist groß, aber letztere kann mit einem halben Auge sehen, wie sie sich auf seinen Arm lehnt und wie er den Kopf zu ihr niederbeugt. »Na, na«, sagt Mrs. Miff, »ihr könnt etwas Schlimmeres tun, denn ihr seid ein nettes Pärchen!«

Es liegt nichts Persönliches in Mistreß Miffs Bemerkung, da sie nur von ihrem Gewerbsvorrat spricht. Paare haben für sie ebensoviel Interesse wie Särge. Sie ist eine so schmächtige, stracke, ausgetrocknete alte Dame – ein solcher Kirchenstuhl von einer Weibsperson, daß man ebensoviele individuelle Sympathien in einem Zimmerspan finden könnte. Mr. Sownds dagegen, der fleischig ist und Scharlach an seinem Rocke trägt, besitzt ein ganz anderes Temperament. Während er auf der Kirchentreppe dem sich entfernenden jungen Paare nachsieht, bemerkt er, sie habe eine recht hübsche Figur und, so viel er sehen kann (denn sie trug beim Herauskommen den Kopf gesenkt), ein ungewöhnlich nettes Gesicht. »Sie ist im ganzen Mrs. Miff«, sagt Mr. Sownds mit Wohlbehagen, »was ich eine Rosenknospe nennen möchte.«

Mrs. Miff stimmt mit einem dürren Nicken ihres zerbeulten Huts zu, ist aber von der Bemerkung so wenig erbaut, daß sie in ihrem Innern sich vornimmt, sie möchte um kein Gold, das er ihr geben könne, das Weib des Mr. Sownds werden, Kirchendiener hin, Kirchendiener her.

Und was sagt das junge Paar, als es die Kirche verläßt und zum Gittertor des Hofs hinausgeht?

»Ich danke dir, lieber Walter, ich kann jetzt glücklich von hier scheiden.«

»Und nach unserer Zurückkunft besuchen wir sein Grab wieder, Florence.«

Florence erhebt ihre von Tränen glänzenden Augen zu seinem freundlichen Gesicht und schlingt die freie Hand in die andere, die bescheiden in seinem Arm ruht.

»Es ist noch sehr früh, Walter, und die Straßen sind fast noch leer. Laß uns einen Spaziergang machen.«

»Aber du wirst müde werden, meine Liebe.«

»O nein! das erstemal, als wir zusammen gingen, war ich allerdings müde, aber heute wird es nicht der Fall sein.«

Und so gingen Florence und Walter – nicht viel verändert – sie so unschuldig und warmherzig, er aber so offen und hoffnungsvoll, nur noch stolzer auf sie – an ihrem Brautmorgen miteinander durch die Straßen.

Nicht einmal bei jenem kindlichen Gang vorzeiten waren sie so weit entfernt von der ganzen sie umgebenden Welt wie heute. Die kindlichen Füße betraten damals keinen so bezauberten Boden wie jetzt. Die vertrauensvolle Liebe von Kindern mag oftmals verschenkt werden und an vielen Orten aufsprießen: aber ein so weibliches Herz wie das von Florence mit seinem ungeteilten Schatz kann sich nur einmal geben und unter Geringschätzung oder Wechsel bloß hinwelken und sterben.

Sie wählten nur die ruhigsten Straßen und vermieden die Gegend, wo Florences alte Heimat steht. Es ist ein schöner, warmer Sommermorgen, und die Sonne trifft sie mit ihren Strahlen, während sie in den Dünsten, die sich über der Stadt herbreiten, weiter wandeln. Reichtümer enthüllen sich in den Läden: Gold, Silber und Edelsteine blitzen in den sonnigen Fenstern der Goldarbeiter, und große Häuser werfen einen vornehmen Schatten auf sie, während sie vorübergehen. Aber durch Licht und Schatten wandeln sie liebevoll miteinander, ohne auf ihre Umgebung zu achten: sie denken an keine stolzere Heimat, an keine andern Reichtümer, als die sie sich selbst gegenseitig bieten.

Allmählich kommen sie in die dunkleren, schmaleren Straßen, wo die Sonne, bald gelb, bald rot, nur an den Straßenecken und an kleinen offenen Plätzen durch den Nebel zu sehen ist: sie erhellt daselbst einen verkümmerten Baum, eine von den zahlreichen Kirchen, einen gepflasterten Weg und eine Treppenflucht, ein wunderliches Streiflein Garten oder einen Friedhof, wo die wenigen Gräber und Grabsteine fast schwarz aussehen. Liebend und vertrauensvoll geht Florence, sich an seinem Arme festhaltend, durch alle die engen Höfe, Gäßchen und schattigen Straßen, um seine Gattin zu werden.

Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen, denn Walter sagt ihr, daß sie jetzt in der Nähe ihrer Kirche seien. Sie kommen an einigen großen Magazinen vorbei, wo Wagen vor den Türen stehen und geschäftige Fuhrleute den Weg versperren; aber Florence sieht und hört nichts von ihnen. Die Luft ist ruhig und das Licht des Tages gedämpft, als sie zitternd in eine Kirche tritt, die den dumpfigen Geruch eines Kellers verbreitet.

Das schäbige alte Männchen, das die hoffnungslose Glocke zu läuten pflegt, steht vor dem Portal. Sein Hut liegt in dem Taufstein, denn er ist der Totengräber, folglich hier ganz zu Hause. Er führt das Paar in eine von Alter gebräunte, getäfelte, staubige Sakristei, die wie ein Eckschrank mit herausgenommenen Simsbrettern aussieht. Die von Würmern zerfressenen Register riechen scharf nach altem Schnupftabak, so daß die tränenvolle Nipper niesen muß.

Wie schön und jugendlich sieht an dem staubigen alten Platz die junge Braut aus, der außer ihrem Gatten kein verwandtes Wesen zur Seite steht. Ein staubiger alter Küster ist da, der in einem gegenüberliegenden Bogengang hinter einem eigentlichen Bollwerk von Pfählen einen Laden unterhält und damit hinreichend beschäftigt zu sein glaubt. Ein staubiger alter Kirchendiener ist da (Kirchendiener und Stuhlöffnerin dieselben, denen am letzten Sonntag Mr. Toots zu schaffen machte), ein Mann im Dienste einer frommen Gesellschaft, die im nächsten Hof eine Halle mit einem farbigen Glasfenster hat, das noch nie einem Sterblichen zu Gesicht gekommen ist. Ferner sieht man hier ein- und ausspringende staubige Karniese, Holzleisten und Kränze über dem Altar, über der Schirmwand an der Empore herum, und über der Inschrift von dem, was der Gründer und die Direktoren der frommen Gesellschaft im Jahr tausendsechshundertvierundneunzig getan haben; desgleichen staubige alte Schalbretter über der Kanzel und dem Lesepult, die aussehen, als seien sie Deckel, um auf die funktionierenden Kirchendiener niedergelassen weiden zu können, im Falle sie ihrer Zuhörerschaft Anstoß geben. Kurz, einer bequemen Ablagerung von Staub ist überall die beste Gelegenheit geboten, nur im Kirchhofe nicht, der in dieser Beziehung nur sehr beschränkten Raum darbietet.

Der Kapitän, Onkel Sol und Mr. Toots sind angelangt. Der Geistliche zieht in der Sakristei seinen Kirchenrock an, während der Küster um ihn hergeht und den Staub abbläst; Braut und Bräutigam stehen vor dem Altare. Eine Brautjungfer fehlt, wenn man nicht etwa Susanna Nipper dafür gelten läßt, und in Ermangelung eines Besseren muß Kapitän Cuttle die Stelle des Vaters vertreten. Ein Mann mit einem hölzernen Beine, der an einem faulen Apfel nagt und einen blauen Sack in der Hand trägt, schaut herein, um zu sehen, was es gibt; da er aber nichts Unterhaltliches findet, so stelzt er wieder weiter und weckt draußen das Echo mit seinem Auftretens Man steht keinen freundlichen Lichtstrahl auf Florence fallen, die mit schüchtern gebeugtem Haupte vor dem Altare kniet. Der helle Morgen ist verbaut und scheint nicht herein. Draußen steht ein magerer Baum, auf dem die Sperlinge zirpen, und dem Fenster gegenüber sieht man in einem nadelöhrgroßen Sonnenblick an der Dachwohnung eines Färbers eine Amsel, die während des Gottesdienstes mit Macht ihre Kehle in Tätigkeit setzt; auch hört man das Holzbein weiterstelzen. Die Amen scheinen dem staubigen Küster wie dem Macbeth ein wenig in der Kehle stecken zu bleiben; aber Kapitän Cuttle leistet Aushilfe und tut dies mit so gutem Willen, daß er das Wort an drei ganz neuen Stellen anbringt, an denen man es nie zuvor während einer Trauung gehört hat.

Sie sind sich zur Ehe gegeben und haben ihre Namen in eines der alten Schnupftabak-Register eingezeichnet. Der Kirchenrock des Geistlichen ist wieder dem Staub überantwortet und der Geistliche nach Hause gegangen. In einer dunkeln Ecke der dunkeln Kirche hat Florence Susanna Nipper gefunden, und sie weint in ihren Armen. Die Augen des Mr. Toots sind rot. Der Kapitän poliert seine Nase. Onkel So! hat seine Brille von der Stirne nach den Augen niedergelassen und ist zur Tür hinausgegangen.

»Gott segne dich, Susanna, teuerste Susanna! Wenn du je Zeugnis geben kannst von der Liebe, die ich für Walter im Herzen trage, und von den Gründen, die mich zu dieser Liebe bewegen, so tue es um meinetwillen! Gott sei mit dir! Gott sei mit dir!«

Sie haben es für besser gehalten, nicht nach dem Midshipman zurückzugehen, sondern so zu scheiden. Eine Kutsche wartet auf sie in der Nähe.

Miß Nipper kann nicht sprechen, sondern nur schluchzen und würgen, und umarmt ihre Gebieterin. Mr. Toots tritt heran, bittet sie guten Muts zu sein, und nimmt sie in seine Obhut. Florence reicht ihm ihre Hand – bietet ihm in der Überfülle ihres Herzen die Lippen – küßt Onkel Sol und Kapitän Cuttle, und wird von ihrem jungen Gatten fortgezogen.

Aber Susanna kann es nicht ertragen, daß Florence mit einer traurigen Erinnerung an sie scheiden soll. Sie hat sich so ganz anders verhalten wollen, daß sie sich bittere Vorwürfe macht. In der Absicht, durch eine letzte Anstrengung die Ehre ihrer Standhaftigkeit zu retten, reißt sie sich von Mr. Toots los und eilt fort, um die Kutsche zu suchen und noch ein Abschiedslächeln zur Schau zu stellen. Der Kapitän, der ihren Zweck ahnt, setzt ihr nach, denn er hält es gleichfalls für seine Pflicht, das Brautpaar womöglich mit einem Hurra zu entlassen. Onkel Sol und Mr. Toots bleiben miteinander zurück und warten vor der Kirche, bis sie wiederkehren.

Die Kutsche ist bereits abgefahren; aber die steile, schmale Straße muß irgendwo ein Hindernis bieten. Susanna gewinnt diese Überzeugung aus einem Stillstehen der Menschen in der Ferne. Kapitän Cuttle folgt der Berganfliegenden und schwenkt als allgemeines Signal, das vielleicht von der rechten Kutsche aufgefangen wird, seinen Glanzhut.

Susanna ist dem Kapitän weit voran und erreicht den Wagen. Sie schaut zum Fenster hinein, sieht Walter mit dem sanften Gesicht an seiner Seite, schlägt ihre Hände zusammen und ruft:

»Miß Floy, mein Herz, seht heraus! Wir alle sind jetzt so glücklich, meine Liebe. Nur noch ein Lebewohl, mein Kleinod – nur noch ein einziges!«

Wie es Susanna möglich wird, weiß sie nicht, aber sie erreicht das Fenster, küßt Florence und hat im Nu die Arme um ihren Hals geschlungen.

»Wir sind alle so – so glücklich jetzt, meine liebe Miß Floy!« sagt Susanna mit einem verdächtigen Drücken in ihrer Stimme. »Ihr werdet mir jetzt nicht zürnen – nicht wahr?«

»Zürnen, Susanna?«

»Nein, nein; ich wußte es ja. Ich sagte, Ihr würdet’s nicht, mein Liebling!« ruft Susanna. »Und da ist auch der Kapitän – Ihr wißt, Euer Freund, der Kapitän – um Euch noch einmal Lebewohl zu sagen.«

»Hurra, meine Herzensfreude!« brüllte der Kapitän mit sehr aufgeregtem Gesicht. »Hurra, Wal’r, mein Junge! Hurra! Hurra!«

Der junge Mann ist an dem einen Fenster, die junge Frau an dem andern; der Kapitän hängt rechts und Susanna links an dem Kutschenschlag; aber der Wagen muß vorwärts, mag er wollen oder nicht, da alle andern Karren und Kutschen wegen seines Zögerns aufrührerisch werden. Nie hat es eine solche Verwirrung auf vier Rädern gegeben. Aber Susanna Nipper führt standhaft ihr Vorhaben aus. Sie behauptet das lächelnde Gesicht bis auf den letzten Augenblick, während ihre Gebieterin gleichfalls durch ihre Tränen lächelt. Und sogar als sie schon zurückbleibt, fährt der Kapitän fort, mit dem Rufe: »Hurra, mein Junge! Hurra meine Herzensfreude!« vor dem Schlag aufzutauchen und zu verschwinden; sein Hemdkragen kommt dabei in sehr ungestüme Aufregung, bis er zuletzt die Hoffnungslosigkeit des Versuches, länger mit der Kutsche gleichen Schritt zu halten, einsieht. Zum Schlusse, nachdem der Wagen abgefahren ist, verfällt Susanna Nipper in einen Zustand der Bewußtlosigkeit, und der Kapitän muß sie in einen Bäckerladen führen, damit sie sich daselbst wieder erhole. Onkel Sol und Mr. Toots sitzen auf dem Schlußstein des Geländers und warten geduldig im Kirchhof, bis Kapitän Cuttle und Susanna zurückkommen. Obschon es ihnen durchaus nicht ums Sprechen oder Angeredetwerden zu tun ist, leisten sie sich doch trefflich Gesellschaft und sind vollkommen zufrieden. Wieder im kleinen Midshipman angelangt, setzen sich alle vier zum Frühstück nieder, aber niemand ist imstande, auch nur einen Bissen anzurühren. Kapitän Cuttle tut, als sei er ungeheuer gierig auf einige Röstschnitte, gibt es aber bald als einen Betrug wieder auf. Nachdem der Tisch wieder abgeräumt ist, verspricht Mr. Toots, am Abend wieder zurückzukommen, und wandert den ganzen Tag mit dem unbestimmten Gefühl in der Stadt umher, als sei er vierzehn Tage lang keines Bettes ansichtig geworden.

Es liegt ein eigentümlicher Zauber auf dem Hause und auf dem Stübchen, in dem sie zusammenzusitzen pflegten und das jetzt so viel verloren hat. Er erhöht und beschwichtigt zugleich den Schmerz des Abschieds. Mr. Tools teilt, als er abends zurückkommt, Susanna Nipper mit, er habe sich den ganzen Tag über nicht so elend gefühlt, und doch könne er sich von dem Stübchen nicht trennen. Da er mit ihr allein ist, so schenkt er ihr sein Vertrauen und erzählt ihr von seinen Gefühlen, als sie ihm so offen ihre Ansicht über die Unwahrscheinlichkeit mitteilte, daß Miß Dombey je ihn lieben werde. Das Vertrauen wird durch solche gemeinschaftliche Rückblicke und durch ihre Tränen erhöht, so daß Mr. Toots zuletzt seiner Gefährtin den Vorschlag macht, sie wollen miteinander ausgehen und Nachtessen kaufen. Miß Nipper gibt ihre Zustimmung, und sie schaffen allerlei Kleinigkeiten herbei, so daß unter Mithilfe von Mrs. Richards ein stattliches Souper aufgetragen werden kann, ehe der Kapitän und der alte Sol nach Hause kommen.

Der Kapitän und der alte Sol sind am Bord des Schiffes gewesen, um Diogenes dahin zu verpflanzen und die Ladung des Gepäcks zu überwachen. Sie wissen viel davon zu erzählen, wie beliebt Walter sei; er habe es ganz gemächlich und sei mit aller Ruhe früh und spät tätig, um seine Kajüte zu einem »Bildchen«, wie es der Kapitän nennt, zu machen und seine junge Frau damit zu überraschen. »Wohlverstanden«, sagt der Kapitän, »eine Admiralskajüte könnte nicht schmucker sein.«

Eine von des Kapitäns Hauptfreuden besteht jedoch darin, daß er weiß, die große Uhr, die Zuckerzange und die Teelöffel seien wohlbehalten an Bord. Man hört ihn wieder und wieder vor sich hinmurmeln: »Ed’ard Cuttle, mein Junge, du hast in deinem Leben nie auf einen so guten Kurs angelegt, als wie du das kleine Eigentum gemeinsam überwachtest. Du hast sogleich gemerkt, wo das Land lag, Ed’ard«, sagte der Kapitän, »und es macht dir Ehre, mein Junge.«

Der alte Instrumentenmacher ist zerstreuter und düsterer als sonst; er nimmt sich die Hochzeit und den Abschied sehr zu Herzen. Zum Trost gereicht es ihm übrigens, daß er seinen alten Bundesgenossen Ned Cuttle zur Seite hat, und er setzt sich mit dankbarem und zufriedenem Gesicht zum Nachtessen nieder.

»Mein Junge ist erhalten worden und gedeiht«, sagt der alte Sol Gills, indem er sich die Hände reibt. »Habe ich ein Recht, etwas anderes zu sein als dankbar und glücklich?«

Der Kapitän, der seinen Sitz am Tisch noch nicht eingenommen, aber sich eine Zeitlang sehr unruhig umgetrieben hat, sieht jetzt Mr. Gills zaudernd an und beginnt:

»Sol, wir haben noch die letzte Flasche alten Madeira drunten. Wünscht Ihr, mein Junge, daß sie heute abend Wal’r und seiner Frau zu Ehren angebrochen werde?«

Der Instrumentenmacher sieht den Kapitän nachdenklich an, steckt die Hand in die Brusttasche seines kaffeefarbigen Rocks, holt seine Brieftafel hervor und nimmt ein Schreiben heraus.

»An Mr. Dombey«, sagt der alte Mann. »Von Walter. Es soll ihm nach drei Wochen zugesendet werden. Ich will es lesen.«

»Sir.

Ich bin mit Eurer Tochter vermählt und sie hat mit mir eine weite Reise angetreten. Obschon ihr, Gott weiß es, mein ganzes Dasein gewidmet ist und ich sie über alle Erdendinge liebe, hätte ich doch meine Ansprüche nicht bis zu ihr oder zu Euch erheben sollen; indes sind Gründe vorhanden, die mich bewogen, ohne Gewissensbisse ihr Geschick mit den Unsicherheiten und Gefahren meines Lebens zu verflechten. Ich will nichts weiter sagen. Ihr seid ihr Vater und wißt warum. Macht ihr keine Vorwürfe. Sie hat Euch nie einen Vorwurf gemacht. – Ich denke und hoffe nicht, daß Ihr mir je vergeben werdet. Ich erwarte es am allermindesten. Wenn aber eine Stunde kommen sollte, in der Euch das Bewußtsein tröstlich wird, Florence habe stets jemand in der Nähe, der sich’s zur großen Aufgabe seines Lebens macht, die Erinnerungen an den vergangenen Kummer zu verwischen, so gebe ich Euch die feierliche Versicherung, daß Ihr Euch in einer solchen Stunde dieser Überzeugung hingeben dürft.«

Solomon legt das Schreiben bedächtig wieder in seine Brieftafel und steckt sie in seine Rocktasche.

»Wir wollen die letzte Flasche des alten Madeira noch nicht trinken, Ned«, sagte der alte Mann. »Noch nicht.«

»Nein«, pflichtete der Kapitän bei. »Nein, noch nicht.« Susanna und Mr. Toots sind derselben Ansicht. Nach einer schweigsamen Pause setzen sie sich zum Nachtessen nieder und trinken die Gesundheit des jungen Ehepaars in etwas anderem. Die letzte Flasche alten Madeiras bleibt unter dem Staub und den Spinngeweben noch ungestört.

Einige Tage sind vergangen, und ein stattliches Schiff sticht in die See, seine weißen Schwingen vor dem günstigen Winde ausbreitend. Auf dem Deck – für den rauhesten Mann an Bord ein Bild der Anmut, Schönheit und Unschuld, ein Bild von etwas Gutem und Angenehmem, das die Reise glücklich machen muß – befindet sich Florence. Es ist Abend. Sie und Walter sitzen allein und betrachten den feierlichen Lichtpfad auf dem Meer zwischen ihnen und dem Mond.

Endlich kann sie nicht mehr deutlich sehen, denn Tränen füllen ihre Augen. Sie lehnt ihr Haupt an seine Brust, schlingt die Arme um seinen Nacken und sagt:

»O Walter, mein teures Leben, ich bin so glücklich!« Der junge Gatte drückt sie an seine Brust. Ein stilles Glück erfüllt ihre Herzen, und das stattliche Schiff gleitet ruhig weiter.

»Wenn ich lauschend da sitze und das Rauschen des Meeres höre«, sagte Florence, »so kommen mir viele Tage der Vergangenheit in den Sinn. Es erinnert mich stets – –«

»An Paul, meine Liebe. Ich weiß es.«

»An Paul und Walter.«

Und die Stimmen in den Wellen flüstern in ihrem unablässigen Gemurmel Florence stets zu von Liebe – von Liebe, ewig und grenzenlos, nicht abgeschieden durch die Schranken dieser Welt oder durch das Ende der Zeit, sondern weiter sich breitend über Meer und Himmel, hinaus nach dem fernen unsichtbaren Lande!

Achtundfünfzigstes Kapitel.


Achtundfünfzigstes Kapitel.

Später.

Das Meer hatte während eines ganzen Jahres geebbt und geflutet. Ein ganzes Jahr waren die Winde gekommen und gegangen; die Zeit hatte ihre rastlose Arbeit getan in Sturm und Sonnenschein. Während eines ganzen Jahres waren die Fluten menschlicher Zufälligkeiten in den ihnen angewiesenen Strömungen fortgegangen. Während eines ganzen Jahres hatte das berühmte Haus Dombey und Sohn einen Lebenskampf gekämpft gegen widrige Zufälle, zweifelhafte Gerüchte, verunglückte Wagnisse und ungünstige Zeiten, am meisten aber gegen die Betörung seines Hauptes, das seine Unternehmungen nicht um eine Haaresbreite beschränken und nie dem warnenden Winke Gehör schenken wollte, das so hart gegen den Sturm gedrängte Schiff sei schwach und vermöge ihn nicht auszuhalten. Das Jahr war um, und das große Haus fiel.

An einem Sommernachmittag, nicht völlig ein Jahr nach der Hochzeit in der Citykirche, summte und flüsterte man auf der Börse von einem großen Bankrott. Ein dort wohlbekannter, kalter, stolzer Mann war nicht zugegen und auch durch niemand vertreten. Am nächsten Tage verbreitete sich da« Gerücht, Dombey und Sohn habe seine Zahlungen eingestellt, und am Abend darauf stand dieser Name obenan auf der Liste der Bankrotten.

Die Welt war in der Tat jetzt sehr geschäftig und wußte gar viel zu sagen. Es war eine unschuldige, leichtgläubige, eine viel mißhandelte Welt – eine Welt, in der es nie Bankrotte anderer Art gegeben hatte. Man erblickte darin keine Personen, die weit und breit auf mürben Ufern von Religion, Patriotismus, Tugend und Ehre Geschäfte machen. Es gab keinen auch nur des Zeitungspapiers werten Betrag, von dem dieser und jener sich recht hübsch durchbrachte – wir meinen, einen Betrag von Tugenden, der wohl versprochen, aber nicht bezahlt wird. Es gab nirgends und in nichts eine Verkürzung, als im Gelde. Die Welt war in der Tat sehr aufgebracht, und namentlich zeigten sich diejenigen besonders entrüstet, die in einer schlechteren Welt selbst des moralischen Bankrotts verdächtig gewesen wären.

Für den armen Spielball der Umstände, Mr. Perch, den Ausläufer, gab es jetzt neue Verlockung zu einem ungeregelten Leben. Das Schicksal schien diesen Mann dazu bestimmt zu haben, daß er stets aufwachen und sich berühmt finden mußte. Man möchte sagen, kaum gestern hatte es ihm das Verklingen des Rufs, den er der Entführung und den darauffolgenden Umständen verdankte, möglich gemacht, wieder in seinem ruhigen Gang fortzuwandeln, und nun wurde er durch den Bankrott zu einem bedeutsameren Mann als je. Wenn Mr. Perch von dem Trippel im Außenkontor, von wo aus er jetzt die fremden Gesichter der Rechnungsprüfer und anderer Personen musterte, die rasch fast alle alten Buchhalter verdrängten, herunterglitt, brauchte er sich nur im Hof draußen oder höchstens in der Schenkstube des Königswappens zu zeigen, um augenblicklich mit einer Menge Fragen überschüttet zu werden, unter denen die, was er zu trinken wünsche, obenan stand. Er pflegte dann über die Stunden bitterer Unruhe zu lamentieren, die er und Mrs. Perch in Balls Pond draußen erlitten hätten, seit zum erstenmal der Argwohn in ihnen aufgetaucht sei, »daß es schief gehe«. Dann eröffnete er den gaffenden Zuhörern mit gedämpfter Stimme, als ob die Leiche des gefallenen Hauses unbeerdigt im nächsten Zimmer liege, wie Mrs. Perch zuerst auf die Mutmaßung gekommen sei, daß es wirklich nicht richtig sein müsse, weil sie ihn im Schlaf hatte stöhnen hören: »Zwölf Schilling und neun Pence am Pfund, zwölf Schilling und neun Pence am Pfund.« Diese somnambulische Prophezeiung mußte wohl, wie er meinte, von dem Eindruck herrühren, den der Wechsel von Mr, Dombeys Gesicht auf ihn gemacht habe. Sodann teilte er seinem Auditorium mit, wie er einmal gesagt habe: »Darf ich mir wohl die Freiheit nehmen zu fragen, Sir, ob Ihr Euch im Gemüt bedrückt fühlt?« und wie Mr. Dombey darauf erwiderte: »Mein treuer Perch – aber nein, es kann nicht sein!« Und mit diesen Worten sei er mit der Hand über seine Stirn gefahren und habe gesagt: »Laßt mich allein, Perch!« Mit einem Wort: Mr. Perch, ein Opfer seiner Stellung, pflegte Lügen aller Art vorzubringen, rührte sich dabei selbst bis zu Tränen und glaubte am Ende wirklich, die Erfindungen von gestern seien durch die öftere Wiederholung heute zu einer Art Wahrheit geworden.

Mr. Perch schloß solche Konferenzen stets mit der bescheidenen Bemerkung, daß es natürlich, welchen Argwohn er auch gehabt haben möge (als ob er je einen gehabt hätte!), ihm nicht zustehe, das in ihn gesetzte Vertrauen zu verraten – eine Gesinnung, die, weil nie Gläubiger anwesend waren, unter Anerkennung der Ehrenhaftigkeit seiner Gefühle aufgenommen wurde. So brachte er in der Regel ein beruhigtes Gewissen wieder fort und hinterließ einen angenehmen Eindruck, wenn er wieder nach seinem Trippel zurückkehrte, um die fremden Gesichter der Rechnungssteller und anderer zu beobachten, die so frei mit den großen Geheimnissen der Bücher umgingen. Hin und wieder schlich er dann auf den Zehen in Mr. Dombeys leeres Zimmer, um das Feuer zu schüren, oder schöpfte Luft unter der Tür und plauderte mit irgendeinem vorübergehenden Bekannten über die klägliche Geschichte. Auch ließ er es nicht daran fehlen, dem Hauptrechnungssteller unterschiedliche kleine Aufmerksamkeiten zu erweisen und sich denselben dadurch günstig zu stimmen: denn er hoffte, der besagte Gentleman werde ihm, wenn die Angelegenheiten des Hauses abgeschlossen seien, zu einem Ausläuferposten bei einer Feuerversicherungs-Gesellschaft verhelfen.

Für Major Bagstock war der Bankrott eine richtige Kalamität. Der Major war kein sympathischer Charakter, da sich seine Aufmerksamkeit ganz auf J. B. konzentrierte, und auch keinen lebhaften Erregungen ausgesetzt, wenn wir von der physischen des Keuchens und Erstickenwollens absehen. Er hatte jedoch im Klub mit seinem Freund Dombey so groß getan, ihn den Mitgliedern desselben im allgemeinen so an den Kopf geworfen und den Reichtum des großen Mannes stets so nachdrücklich behauptet, daß der Klub, der nur ein menschlicher war, ein Entzücken darin fühlte, sich an dem Major zu rächen, indem er ihn mit dem Anschein großer Teilnahme fragte, ob dieser furchtbare Schlag überhaupt erwartet worden sei und wie sein Freund Dombey ihn ertrage. Auf solche Fragen pflegte der Major, der dabei ganz purpurrot wurde, zu antworten, es sei ganz und gar eine schlechte Welt, Sir, und Joe wisse ein und das andere, aber es sei jetzt aus mit ihm, Sir, aus wie mit einem Kinde: wenn man dies J. Bagstock vorausgesagt hätte, Sir, als er mit Dombey auf Reisen ging und jenem Vagabunden durch Frankreich auf und ab nachjagte, so würde J. Bagstock einem jeden, der etwas Derartiges behauptet hätte, ins Gesicht gehustet – ja, ins Gesicht gehustet haben, Sir – so wahr Gott lebt! Joe sei getäuscht, sei angeführt und geblendet worden, Sir, habe aber jetzt seine Augen wieder weit offen, in der Tat so weit, Sir, daß, wenn Joes eigener Vater morgen aus dem Grab aufstünde, er dem alten Kunden keinen Penny anvertrauen, sondern zu ihm sagen würde, sein Sohn Josh sei ein zu alter Soldat, um sich noch einmal über den Löffel barbieren zu lassen. Er sei ein argwöhnischer, schwieriger, vorsichtiger, aufgebrauchter J. B.-Heide, Sir, und wenn es sich mit der Würde eines rauhen und zähen alten Majors von der alten Schule, der die Ehre hatte, von Ihren königlichen Hoheiten, den Herzogen von Kent und Jork, ausgezeichnet zu werden, vertrüge, so würde er sich, bei Gott, in ein Faß zurückziehen und darin leben. Er würde sich morgen in Pall Mall ein Faß anschaffen, Sir, um damit seine Verachtung vor der Menschheit auszudrücken.

Solcher Vorträge mit allerlei Variationen über das gleiche Thema entledigte sich der Major mit so vielen schlagflüssigen Symptomen, einem so einschüchternden Rollen des Kopfes und einem so ungestümen Brummen des Ärgers über seine mißbrauchte Persönlichkeit, daß die jüngeren Mitglieder des Klubs auf die Vermutung kamen, er habe bei dem Hause seines Freundes Dombey Geld angelegt und es verloren, obschon die älteren Soldaten und die schlaueren Männer, die Joe besser kannten, nichts von dergleichen hören wollten. Der unglückliche Eingeborene, der keine Ansicht ausdrückte, litt furchtbar, nicht bloß in seinen moralischen Gefühlen, die von dem Major jede Stunde des Tages mit einem regelmäßigen Feuer bearbeitet wurden, sondern auch körperlich durch Püffe und Stöße, so daß er keinen Augenblick zu einer leiblichen Ruhe kommen konnte. Sechs volle Wochen nach dem Bankrott lebte der unglückliche Ausländer in einer Regenzeit von Stiefelziehern und Bürsten.

Über den schrecklichen Umschwung der Dinge hatte Mrs. Chick drei Vorstellungen. Die erste war, daß sie ihn nicht begreifen könne, die zweite, daß ihr Bruder keine Anstrengung gemacht habe, und die dritte, daß dies, wie sie schon damals gesagt habe, nie hätte vorkommen können, wenn sie an dem bewußten ersten Tag zum Diner eingeladen worden wäre.

Die Ansicht von niemand trat auf die Seite des Unglücks, erleichterte es oder machte es schwerer. Man wußte, die Angelegenheiten des Hauses würden so gut, als es gehen wolle, zum Abschluß kommen, und Mr. Dombey habe freiwillig auf all sein Eigentum verzichtet, ohne sich von irgend jemand eine Gunst zu erbitten. Von einer Wiederaufnahme des Geschäfts könne keine Rede sein, da er von keinem gütlichen Vergleich, dessen Möglichkeit in Aussicht stehe, etwas wissen wolle; auch habe er alle Posten des Vertrauens und der Auszeichnung, die ihm als einem unter den Kaufleuten geachteten Mann übertragen worden, abgegeben. Die einen erklärten, er sei todkrank, die andern wollten wissen, die Schwermut habe ihm den Verstand verwirrt, alle aber vereinigten sich dahin, daß er ein zugrunde gerichteter Mann sei.

Die Angestellten zerstreuten sich nach einem kleinen Beileids-Diner, das durch Possenlieder belebt wurde, und fanden wunderbar guten Abgang. Einige nahmen Plätze im Ausland an, andere erhielten ein Unterkommen in englischen Häusern, wieder einige erinnerten sich plötzlich, daß sie eine besondere Vorliebe für gewisse Bekanntschaften im Land hätten, und andere boten ihre Dienste in den Zeitungen an. Nur Mr. Perch blieb in dem Hause und betrachtete sich von seinem Trippel aus die Rechnungssteller oder stürzte von seinem Posten herunter, um den Hauptrechner, der ihn bei der Feuerversicherungs-Gesellschaft unterbringen sollte, für sich zu gewinnen. Das Kontor sah bald sehr schmutzig und vernachlässigt aus. Der Hauptpantoffel- und Hundehalsband-Verkäufer an der Ecke des Hofs hatte seine Bedenken, ob er nicht eine Ungebühr begehe, wenn er bei Mr. Dombeys Heraustreten auch nur seinen Zeigefinger an den Rand seines Hutes lege, und der Zettelträger mit den Händen unter der weißen Schürze moralisierte in sehr nüchterner Weise über das Sprichwort, daß Hochmut vor dem Fall komme.

Mr. Morfin, der braunäugige Junggeselle mit dem graugesprenkelten Haar und Bart, war vielleicht in der Atmosphäre des Hauses die einzige Person – natürlich den Prinzipal ausgenommen – dem das hereingebrochene Unglück tief und schwer zu Herzen ging. Er hatte Mr. Dombey durch eine Reihe von Jahren mit der gebührenden Achtung behandelt, aber nie seinen natürlichen Charakter verheimlicht oder zu Förderung selbstsüchtiger Zwecke mit der Leidenschaft seines Herrn ein Spiel getrieben, weshalb es denn auch bei ihm keine Mißachtung zu rächen, überhaupt keine lang angespannten Federn gab, die mit einem raschen Rückprall sich losmachten. Er arbeitete früh und spät, um die verwickelten oder schwierigen Verhältnisse des Hauses zu entwirren, war stets bereit, etwa verlangte Auskunft zu erteilen, blieb bisweilen bis tief in die Nacht hinein auf dem alten Kontorstübchen, um sich so weit in die Verhältnisse hineinzuarbeiten, daß er Mr. Dombey den Schmerz einer persönlichen Vernehmung ersparen konnte, und ging dann nach seiner Wohnung in Islington, wo er vor Schlafengehen seinen Geist durch die ungeheuerlichsten Töne, die er seinem Violoncello entlockte, zu beruhigen suchte.

Er unterhielt sich eines Abends mit diesem melodischen Gekratze und holte, da er den Tag über sehr niedergeschlagen gewesen, sich Trost aus den tiefsten Baßtönen seines Instruments, als seine Hauswirtin, die zum Glück nicht gut hörte und von künstlerischen Leistungen ihres Mieters keinen andern Eindruck erhielt, als ob etwas in ihren Knochen knarre, den Besuch einer Dame ankündigte.

»In Trauer«, sagte sie.

Der Violoncellobogen hörte augenblicklich auf zu streichen, und nachdem der Musiker mit großer Sorgfalt sein Instrument auf ein Sofa gelegt hatte, deutete er durch ein Zeichen an, daß die Dame kommen könne. Zugleich ging er zur Tür hinaus, um den Besuch zu empfangen, und traf Harriet Carker auf der Treppe.

»Allein«, sagte er; »und John war heute morgen hier? Ist etwas vorgefallen, meine Liebe? Doch nein«, fügte er hinzu; »Euer Gesicht läßt mich etwas ganz anderes lesen.«

»Dann fürchte ich, Ihr findet darin nur eine selbstsüchtige Enthüllung«, antwortete sie.

»Jedenfalls eine sehr angenehme«, sagte er, »und ist sie selbstsüchtig, so wird sie noch obendrein zu einer Neuigkeit, die man nicht leicht bei Euch zu hören bekommt. Ich glaube es übrigens nicht.«

Er hatte ihr inzwischen einen Stuhl angeboten und nahm ihr gegenüber Platz, während das Violoncello behaglich zwischen ihnen auf dem Sofa lag.

»Ihr werdet Euch nicht wundern, daß ich allein komme oder daß John von meinem beabsichtigten Besuche nichts gegenüber Euch erwähnt hat«, sagte Harriet, »wenn ich Euch mitteile, weshalb ich hier bin? Darf ich?«

»Ihr könnt nichts Besseres tun.«

»Ihr waret nicht beschäftigt?«

Er deutete nach dem auf dem Sofa liegenden Violoncello und sagte:

»Ich war’s den ganzen Tag. Hier ist mein Zeuge. Ihm habe ich alle meine Sorgen vertraut. Wollte Gott, ich hätte ihm keine als meine eigenen mitzuteilen.«

»Ist’s mit dem Haus zu Ende?« fragte Harriet dringlich.

»Völlig zu Ende.«

»Und wird nie wieder aufgenommen werden?«

»Nie.«

Der glänzende Ausdruck ihres Gesichtes wurde nicht überschattet, als ihre Lippen leise das Wort wiederholten. Er schien dies mit einer unwillkürlichen kleinen Überraschung zu bemerken und fuhr fort:

»Nie. Ihr erinnert Euch, was ich Euch sagte. Es ist unmöglich gewesen, ihn zu überzeugen, unmöglich, ihm Vernunft beizubringen, bisweilen sogar unmöglich, ihm nur nahezukommen. Das Schlimmste ist eingetroffen und das Haus gefallen, um nicht wieder aufgerichtet zu werden.«

»Und ist Mr. Dombey persönlich zugrunde gerichtet?«

»Ja.«

»Wird denn kein Privatvermögen übrig bleiben? Nichts?«

Eine gewisse Hast in ihrer Stimme und ein Ausdruck in ihrem Gesicht, der fast freudig zu sein schien, überraschte ihn noch mehr, und zwar nicht in angenehmer Weise, da seine eigenen Gefühle dadurch widerlich berührt wurden. Er trommelte mit den Fingern der einen Hund auf den Tisch, blickte sie fragend an, schüttelte den Kopf und sagte nach einer Pause:

»Ich weiß nicht genau, wie weit sich Dombeys Hilfsquellen erstrecken, aber wenn sie auch ohne Zweifel sehr groß sind, stehen ihnen doch ungeheure Verbindlichkeiten gegenüber. Er ist ein Gentleman von Ehre und hoher Rechtschaffenheit. Mancher in seiner Lage hätte sich retten können und würde sich auch gerettet haben durch Anbieten von Bedingungen, die die Verluste der Geschäftsfreunde nur gering, fast unmerklich vergrößert und ihm doch noch einen Rest gelassen hätten, von dem er leben kann. Aber er ist entschlossen, bis auf den letzten Heller seines Vermögens Zahlung zu leisten. Seine eigenen Worte lauten, sein Haus werde dadurch zwar geleert oder nahezu geleert werden, indes könne im schlimmsten Fall niemand viel verlieren. Ach, Miß Harriet, es würde uns nicht schaden, wenn wir öfters daran dächten, daß Laster bisweilen nur übertriebene Tugenden sind. Wir sehen hierin wieder seinen Stolz.«

Sie hörte ihn mit geringem oder gar keinem Wechsel in dem Ausdruck ihres Gesichts und mit einer geteilten Aufmerksamkeit an, die zeigte, daß ihr Inneres mit etwas anderem beschäftigt war. Als er schwieg, fragte sie ihn abermals:

»Habt Ihr ihn in letzter Zeit gesehen?«

»Er läßt niemand vor. Wenn dieser Wendepunkt seiner Angelegenheiten es nötig macht, sein Haus zu verlassen, so zeigt er sich, geht wieder nach Hause und sperrt sich gegen jedermann ab. Er hat mir ein Schreiben zugehen lassen, in dem er unsere frühere gegenseitige Beziehung höher anschlägt, als sie es verdiente, und von mir Abschied nimmt. Das Zartgefühl verbietet mir, mich ihm jetzt aufzudringen, da ich in besseren Zeiten nie viel Verkehr mit ihm hatte; aber gleichwohl habe ich einen Versuch dazu gemacht. Ich schrieb ihm, ging zu ihm und bat ihn um Gehör, aber völlig vergeblich.«

Er sah sie an, in der Hoffnung, sie dürfte eine größere Teilnahme kundgeben, als sie bisher an den Tag gelegt hatte. Obschon er ernst und gefühlvoll gesprochen, als wolle er den Tatbestand ihr näher ans Herz legen, ließ sich doch kein Wechsel in ihr bemerken.

»Doch lassen wir das, Miß Harriet«, sagte er mit der Miene getäuschter Erwartung: »es führt zu nichts. Ihr seid nicht hierhergekommen, um dies zu hören. Es liegt Euch ein anderer, angenehmerer Gegenstand auf dem Herzen. Laßt mich teilnehmen daran, und wir werden unter gleicheren Verhältnissen uns besprechen können.«

»Nein, es ist derselbe Gegenstand«, entgegnete Harriet mit unverhohlenem Erstaunen. »Warum sollte dies nicht der Fall sein? Ist es nicht natürlich, daß John und ich in letzter Zeit oft und viel an die kürzlichen großen Veränderungen dachten und davon sprachen? Mr. Dombey, dem er so viele Jahre gedient hat – Ihr wißt, unter welchen Verhältnissen – so heruntergekommen, wie Ihr sagt, und wir dagegen eigentlich reich.« So gut und ehrlich auch ihr Gesicht war und so lieblich es Mr. Morfin, dem braunäugigen Junggesellen, seit der Zeit geworden sein mochte, als er es zum erstenmal erblickte, gefiel es ihm in diesem Moment, in dem ein Strahl von Freude darüber hinblitzte, weniger als je zuvor.

»Ich brauche Euch nicht daran zu erinnern«, sagte Harriet, nach ihrem schwarzen Gewand niederbückend, »durch welche Mittel unsere Umstände so verändert wurden. Ihr habt nicht vergessen, daß unser Bruder James an jenem schrecklichen Tage kein Testament und außer uns keine Verwandten hinterließ.«

Das Gesicht kam ihm jetzt wieder lieblicher vor, obschon es blaß und schwermütig aussah. Er schien freier aufzuatmen.

»Ihr kennt unsere Geschichte«, sagte sie, »die Geschichte meiner beiden Brüder in ihrer Beziehung zu dem unglücklichen Gentleman, von dem Ihr eben mit so viel Wärme gesprochen habt. Ihr wißt, wie wenig wir – John und ich – bedürfen und wie wir nach der Lebensweise, die wir so viele Jahre gemeinschaftlich geführt haben, keinen großen Aufwand nötig haben: auch verdankt er Eurer gütigen Verwendung einen Posten, dessen Ertrag für uns vollständig ausreicht. Ihr könnt Euch jetzt wohl denken, um welcher Bitte willen ich zu Euch gekommen bin?«

»Ich weiß es kaum. Vor einer Minute meinte ich, es mir denken zu können, jetzt aber glaube ich, daß ich in einem Irrtum befangen war.«

»Von meinem verstorbenen Bruder will ich nicht sprechen. Wüßte der Tote, was wir tun – aber Ihr versteht mich. Von meinem lebenden Bruder könnte ich viel sagen: doch wozu bedarf es einer weiteren Erklärung, als daß die pflichtmäßige Handlung, bei der wir Eure Mithilfe nicht entbehren können, von ihm ausgeht, und daß er weder rasten noch ruhen kann, bis sie erfüllt ist!«

Sie erhob abermals ihren Blick, und das Licht der Freude auf ihrem Gesicht erschien wunderlieblich in den Augen dessen, der es betrachtete.

»Mein teurer Sir«, fuhr sie fort, »es muß in aller Stille und Heimlichkeit geschehen. Eure Erfahrung und Sachkenntnis wird Euch ein Mittel an die Hand geben, uns dabei behilflich zu sein. Man kann vielleicht Mr. Dombey den Glauben beibringen, von den Trümmern seiner Habe sei unerwarteterweise etwas gerettet worden; es handle sich dabei um einen freiwilligen Zoll, der von einem seiner bedeutenderen früheren Geschäftsfreunde seinem ehrenhaften und aufrichtigen Charakter gebracht werde, oder um eine alte für verloren gegebene Schuld, für welche Zahlung einlief. O, es gibt viele Arten, die Sache einzuleiten, und ich weiß, Ihr werdet die beste wählen. Nur bitte ich Euch um die Gunst, in Eurer eigenen freundlichen, ehrenhaften und rücksichtsvollen Weise für uns zu handeln. Sprecht mit John nicht davon, denn er fühlt sich am glücklichsten, wenn dieser Akt der Rückerstattung im geheimen, unbekannt und ohne Lob geschieht. Nur ein sehr kleiner Teil der Erbschaft soll uns vorbehalten bleiben, Mr. Dombey aber die Nutznießung des übrigen für Lebenszeit bekommen. Aber Ihr müßt treulich unser Geheimnis bewahren – ich bin überzeugt, daß Ihr es werdet, und von Stunde an wollen auch wir beide darüber schweigen, denn ich sehe nur einen neuen Grund darin, dem Himmel zu danken und auf meinen Bruder stolz zu sein.«

Solch ein frohlocken mag sich auf den Gesichtern der Engel ausdrücken, wenn unter neunundneunzig Gerechten der einzige reuige Sünder in den Himmel eingeht. Es wurde nicht getrübt oder gemindert durch die frohen Tränen, die ihre Augen füllten, sondern erschien dadurch nur um so glänzender.

»Meine teure Harriet«, sagte Mr. Morfin nach einer Pause, »hierauf war ich nicht vorbereitet. Wenn ich Euch recht verstehe, so wünscht Ihr Euren eigenen Anteil an der Erbschaft ebensogut Einem schönen Zweck dienstbar zu machen als den Eures Bruders John?«

»Ja«, entgegnete sie. »Nachdem wir so lange Zeit alles miteinander geteilt haben und uns keine weitere Sorge oder Hoffnung vorbehalten bleibt, hatte ich mich wohl von der Beteiligung ausschließen können? Darf ich nicht verlangen, bis auf den letzten Augenblick in allem seine Gesellschafterin und Teilhaberin zu sein?«

»Verhüte der Himmel, daß ich dies bestreite!« erwiderte er.

»Wir dürfen uns also auf Eure freundliche Beihilfe verlassen?« sagte sie. »Ich wußte wohl, daß ich keine Fehlbitte tun werde.«

»Ich wäre ein schlechterer Mensch, als – ich hoffentlich bin oder zu sein glaube, wenn ich Euch nicht aus vollem Herzen und von ganzer Seele diese Versicherung gäbe. Zählt unbedingt auf mich. Bei meiner Ehre, ich will Euer Geheimnis bewahren, und stellt sich wirklich heraus, daß Mr. Dombey so weit herabgekommen ist, als ich besorge, so soll Euch bei Ausführung des Plans, zu dem Ihr Euch mit Eurem Bruder verbunden habt, mein ganzer Einfluß zur Seite stehen.«

Sie gab ihm ihre Hand und dankte ihm mit herzlichem, glücklichem Gesicht.

»Harriet«, fuhr er fort, die ihm dargebotene Rechte festhaltend, »es wäre eitel und anmaßend, mit Euch über den Wert irgendeines Opfers, das Ihr jetzt bringen könnt, namentlich aber eines bloßen Geldopfers sprechen zu wollen, und mein Inneres sagt mir, daß jede Aufforderung, Euer Vorhaben noch einmal zu überlegen oder ihm engere Grenzen zu stecken, die gleiche Bezeichnung verdiente. Ich habe kein Recht, das großartige Ende einer großen Geschichte durch eine Aufdrängung meines eigenen schwachen Ichs zu verderben, sondern muß mein Haupt beugen vor dem, was Ihr mir vertraut, in der festen Überzeugung, daß es aus einer höheren und besseren Begeisterungsquelle stammt, als mein armes weltliches Wissen zu bieten vermag. Laßt mich nur noch hinzufügen, daß ich Euer getreuer Verwalter sein werde. Da ich nicht Ihr selbst sein kann, so ziehe ich es allem in der Welt vor, von Euch zum Freund gewählt worden zu sein.«

Sie dankte ihm abermals herzlich und wünschte ihm gute Nacht.

»Geht Ihr nach Hause?« fragte er. »Erlaubt mir, Euch zu begleiten.«

»Nein, heute nicht. Ich gehe nicht nach Hause, sondern habe noch einen Besuch zu machen. Wollt Ihr morgen kommen?«

»Ja, ja, ich komme morgen«, versetzte er. »Inzwischen will ich mir die Sache überlegen und sehen, wie sie sich am besten einleiten läßt. Vielleicht denkt Ihr gleichfalls darüber nach, teure Harriet, und – und denkt dabei auch ein wenig an mich.«

Er geleitete sie nach der Kutsche hinunter, die vor der Tür wartete, und wenn seine Hauswirtin nicht halb taub gewesen wäre, so hätte sie, als er nach Abfahrt des Wagens wieder die Treppe hinaufstieg, wohl hören müssen, wie er vor sich hin murmelte, wir seien doch schlimme Gewohnheitsgeschöpfe, und am meisten ärgere ihn die Gewohnheit, daß es alte Junggesellen gebe.

Da das Violoncell zwischen den beiden Stühlen auf dem Sofa lag, so nahm er es auf, ohne den leeren Sitz beiseite zu rücken, und begann auf den Saiten zu streichen, während er zugleich lange, lange Zeit mit dem Kopf nach dem verlassenen Stuhle nickte. Der Ausdruck, den er anfänglich in die Töne seines Instrumentes legte, war zwar ungeheuerlich und pathetisch genug, aber doch nichts gegen den, den er dem leeren Sitze gegenüber seinem eigenen Gesichte mitteilte, denn es lag darin eine so große Aufrichtigkeit, daß er mehr als einmal zu Kapitän Cuttles Hilfsmittel seine Zuflucht nehmen mußte. Allmählich glitt jedoch, im Einklang mit seiner eigenen Gemütsstimmung, das Violoncell melodisch in den fröhlichen Hammerschmied über, den er wieder und wieder spielte, bis sein rötliches, heiteres Gesicht ganz wie das Metall auf dem Ambos eines wahrhaftigen Hammerschmiedes glühte. Mit einem Wort, das Violoncell und der leere Stuhl waren bis fast um Mitternacht die Gefährten seines Junggesellenstandes, und als er sein Instrument, geschwellt von der verborgenen Harmonie einer ganzen Gießerei voll lustiger Hammerschmiede, in die Sofaecke legte, um sein Nachtessen einzunehmen, schien ihn der leere Stuhl in ungemein vielsagender Weise aus seinen gekrümmten Augen anzugucken.

Nachdem Harriet das Haus verlassen hatte, schlug der Kutscher eine Richtung ein, die ihm augenscheinlich keine neue war. Es ging auf Nebenwegen durch einen Teil der Vorstädte, bis er einen offenen Grund erreichte, wo einige ruhige alte Häuschen in den Gärten standen. An einem Gartentürchen machte der Kutscher halt, und Harriet stieg aus.

Ihr leichter Zug an der Klingel rief ein kläglich aussehendes Weib mit blasser Gesichtsfarbe, hochgezogenen Augenbrauen und seitwärts gesenktem Kopfe herbei, die bei ihrem Anblick knixte und sie durch den Garten nach dem Hause fühlte.

»Wie geht es heute abend Eurer Kranken, Wärterin?« fragte Harriet.

»Ich fürchte, schlimm, Miß. O wie erinnert sie mich bisweilen cm meines Onkels Betsey Jane!« entgegnete die Frau mit der blassen Gesichtsfarbe in einer Art melancholischen Entzückens.

»In welcher Beziehung?« fragte Harriet.

»In allen Beziehungen, Miß«, versetzte die andere, »den einzigen Umstand ausgenommen, daß sie erwachsen ist, und Betsey Jane, als sie am Tor des Todes stand, nur ein Kind war.«

»Ihr habt mir aber erzählt, das Kind sei mit dem Leben davongekommen«, bemerkte Harriet mild; »es ist daher um so mehr Grund zur Hoffnung vorhanden, Mrs. Wickam.«

»Ach, Miß, die Hoffnung ist wohl etwas Schönes für solche, die heiter genug sind, um sich damit zu tragen«, sagte Mrs. Wickam, den Kopf schüttelnd. »Ich beneide diejenigen, welche so gesegnet sind, denn mein Geist kann sich nicht so weit erheben, obschon ich nicht darüber murre.«

»Ihr solltet es versuchen, ob Ihr Euch nicht aufheitern könnt«, versetzte Harriet.

»Danke schön, Miß«, entgegnete Mrs. Wickam grämlich. »Wenn ich auch Lust dazu hätte, so würde die Einsamkeit dieses Platzes – Ihr entschuldigt mich, daß ich so frei spreche – mir es in vierundzwanzig Stunden verleiden. Dies ist übrigens bei mir nicht der Fall, und ich lasse den Versuch lieber ganz und gar. Das bißchen Heiterkeit, da« ich je besaß, wurde mir vor einigen Jahren zu Brighton genommen, und ich denke, es ist mir um deswillen jetzt nur wohler.«

In der Tat war die Sprecherin dieselbe Mrs. Wickam, die Mrs. Richards in der Pflege des kleinen Paul verdrängt hatte und durch den fraglichen Verlust unter dem Dach der liebenswürdigen Pipchin gewonnen zu haben glaubte. Das ausgezeichnete und verständige, durch lange Vorschrift geheiligte alte System, das gewöhnlich die traurigsten und unleidlichsten Personen, die nur aufzutreiben sind, zu Jugend- Erziehern, Tugend-Weisern, Ermahnern, Krankenwärtern und dergleichen auswählt, hatte Mrs. Wickam auf dem Boden der Krankenpflege zu einem recht guten Geschäft verholfen und dazu Anlaß gegeben, daß ihre ernsten Eigenschaften von vielen Bewunderern ganz besonders löblich gefunden wurden.

Die Augenbrauen aufgezogen und den Kopf auf die eine Seite geneigt, leuchtete Mrs. Wickam die Treppe hinauf nach einem reinlichen Zimmer, das nach einem matt erhellten Zimmer mit einem Bette führte. In dem ersten Zimmer saß ein altes Weib, das vor dem offenen Fenster mechanisch in die Dunkelheit hinausstierte; im zweiten aber lag, auf dem Bette ausgestreckt, der Schatten einer Gestalt, die in einer bekannten Winternacht dem Wind und Regen Trotz geboten hatte, jetzt aber kaum an etwas anderem zu erkennen war, als an dem langen dunkeln Haar, das gegen das farblose Gesicht und das weiße Bettzeug auffallend abstach.

O, die großen Augen und der hinfällige Körper! die Augen, die sich so hastig und funkelnd der Tür zuwandten, als Harriet hereinkam – der schwache Kopf, der sich nicht aufrichten konnte und so langsam auf dem Kissen sich umdrehte!

»Alice«, sagte der Besuch mit milder Stimme, »komme ich heute spät?«

»Ihr scheint immer spät zu kommen, kommt aber stets früh.«

Harriet hatte sich neben dem Bett niedergelassen und die auf der Decke liegende abgezehrte Hand mit der ihrigen erfaßt.

»Geht es besser?«

Mrs. Wickam, die wie ein trostloses Gespenst unten an dem Bett stand, schüttelte entschieden und nachdrücklich den Kopf, um die Frage zu verneinen.

»Es liegt sehr wenig daran«, versetzte Alice mit einem matten Lächeln. »Heute besser oder schlimmer, es macht nur den Unterschied eines Tages aus – vielleicht nicht so viel.«

Mrs. Wickam drückte als ernster Charakter ihre Zustimmung in einem Seufzer aus. Dann befühlte sie die Füße der Patientin, die sie eiskalt zu finden erwartete, und klapperte unter den Arzneiflaschen auf dem Tisch umher, als wollte sie sagen: »Weil’s doch einmal so ist, so wollen wir die Mixtur wie bisher wiederholen.«

»Ein elendes Leben«, fuhr Alice flüsternd zu ihrem Besuch fort, »Gewissensbisse, das Umherziehen, Mangel und Unwetter, Sturm innen und Sturm von außen haben mein Leben aufgezehrt. Es wird nicht lange mehr währen.«

Sie zog bei diesen Worten Harriets Hand an sich und legte ihr Gesicht dagegen.

»Wenn ich so daliege, denke ich bisweilen, ich möchte wohl noch eine Weile am Leben bleiben, um Euch zu zeigen, wie dankbar ich sein könnte! Doch dies ist eine Schwäche, die bald vorüber geht. Für Euch ist’s besser so, wie es ist – und auch besser für mich!«

Wie ganz anders hielt sie jetzt die Hand fest, wenn man dabei an die Art denkt, wie sie dieselbe an dem kalten Winterabend neben dem Kamin ergriffen hatte! Geringschätzung, Wut, Trotz und Sorglosigkeit – schaut her! Dies ist das Ende.

Mrs. Wickam, die nun genug mit den Flaschen geklirrt hatte, brachte die Arznei. Als die Kranke sie nahm, sah sie mit aufgeworfenem Mund und in die Höhe gezogenen Augenbrauen zu, indem sie zugleich den Kopf schüttelte, als wollte sie sagen, nicht einmal die Folter sei imstande, sie zu überzeugen, daß dies ein hoffnungsloser Fall sei. Sie sprengte dann mit der Miene einer weiblichen Totengräberin, die Asche auf Asche, Staub auf Staub streut – denn sie war ein ernster Charakter – eine kühlende Feuchtigkeit im Zimmer umher und entfernte sich, um drunten gewisse leichenhaft gebackene Speisen zu sich zu nehmen.

»Wie lange ist es«, frug Alice, »seit ich zu Euch kam, um Euch zu sagen, was ich getan hatte – ich meine die Zeit, als man Euch versicherte, es sei zu spät, um einem gewissen Menschen zu folgen?«

»Es ist ein Jahr und darüber,« antwortete Harriet.

»Ein Jahr und darüber«, sagte Alice, gedankenvoll zu ihrem Gesicht aufblickend, »Und schon Monate und Monate, seit Ihr mich hierher gebracht habt!«

Harriet antwortete mit einem »Ja«.

»Mich hierher gebracht durch die Gewalt der Güte und Freundlichkeit. Mich!« sagte Alice, ihr Gesicht hinter der Hand verbergend. »Und mich durch die Blicke und Worte eines Weibes und durch die Handlungen eines Engels menschlich gemacht!«

Harriet beugte sich über sie nieder und suchte sie zu beruhigen. Alice hatte, die Hand noch immer an ihr Gesicht drückend, ihre frühere Lage wieder eingenommen und bat, man möchte ihre Mutter herbeirufen.

Harriet tat dies mehr als einmal, aber die Alte war an dem offenen Fenster so in die Nacht vertieft, daß sie nicht hörte. Erst als Harriet hinausging und sie berührte, richtete sie sich auf und kam herein.

»Mutter,« sagte Alice, die Hand wieder ergreifend und ihre glänzenden Augen mit Innigkeit auf Harriet heftend, während sie die Anwesenheit der Alten nur mit einer Bewegung des Fingers anerkannte, »sagt ihr, was Ihr wißt.«

»Heute, mein Herzchen?«

»Ja, Mutter«, antwortete Alice mit matter, aber feierlicher Stimme, »heute!«

Die Alte, deren Verstand durch Schrecken, Gewissensbisse oder Kummer irregeworden zu sein schien, schlich an der andern Seite des Bettes hin, kniete nieder, so daß ihr welkes Gesicht in gleicher Höhe mit der Decke war, streckte ihre Hand aus, um den Arm ihrer Tochter zu berühren, und begann:

»Mein schönes Mädel –«

Himmel, welch ein Schrei war das, mit dem sie innehielt, wahrend sie die klägliche Gestalt auf dem Bette ansah.

»Schon längst verändert, Mutter! schon längst hingewelkt«, sagte Alice, ohne sie anzusehen. »Grämt Euch jetzt nicht darüber.«

»Meine Tochter«, stotterte die Alte – »mein Mädel – sie wird bald besser werden und alle mit ihrem guten Aussehen beschämen.« Alice lächelte wehmütig zu Harriet hin und drückte die Hand inniger an sich, sprach aber nichts.

»Ich sage, sie wird bald besser werden«, wiederholte die Alte, mit der abgezehrten Faust in die leere Luft drohend, »und wird alle durch ihr gutes Aussehen beschämen. Ja, das wird sie – das soll sie!«

Sie rief es, als liege sie in leidenschaftlichem Kampf mit irgendeinem unsichtbaren Feind neben dem Bett, der ihr widersprach.

»Man hat sich von meiner Tochter abgewandt und sie verstoßen, aber sie könnte sich doch der Verwandtschaft mit stolzen Leuten rühmen, wenn sie wollte! Ah! diese stolzen Leute! Es gibt eine Verwandtschaft ohne eure Pfaffen und eure Trauringe – sie können sie machen, aber nicht brechen – und meine Tochter ist von gutem Blute. Zeigt mir Mrs. Dombey, und ich will Euch ein Geschwisterkind meiner Alice zeigen.«

Harriet blickte von der Alten nach den glänzenden Augen, die so angelegentlich auf ihrem Gesichte hafteten, und fand darin die Bestätigung dieser Worte.

»Was meint Ihr?« rief die Alte, den nickenden Kopf in unheimlicher Eitelkeit aufwerfend, »Obschon ich jetzt alt und häßlich bin, – viel älter durch das, was ich durchgemacht habe, als den Jahren nach – so war ich doch einmal so jung als eine. Ja, und obendrein so hübsch wie viele! Ich war meiner Zeit eine frische Landdirne, mein Schätzchen«, sie streckte über das Bett herüber ihren Arm nach Harriet aus, »und mein Aussehen war darnach. In meiner Gegend drunten waren Mrs. Dombeys Vater und sein Bruder die lebenslustigsten Gentlemen, die beliebtesten unter denen, die von London auf Besuch kamen – freilich sind sie jetzt längst tot! O Himmel, wie lange schon! Der Bruder, der der Vater meiner Ally war, am längsten von beiden.«

Sie richtete den Kopf ein wenig auf und blickte in das Gesicht ihrer Tochter, als führe sie die Erinnerung an ihre eigene Jugend auf die von der Jugend ihres Kindes. Dann drückte sie plötzlich ihr Gesicht auf das Bett nieder und verbarg ihren Kopf mit den Händen und Armen.

»Sie waren sich so ähnlich«, fuhr die Alte, ohne aufzublicken, fort, »wie Ihr nur zwei Brüder sehen könnt, auch fast gleichaltrig – soviel ich mich erinnere, nicht mehr als ein Jahr zwischen ihnen – und wenn Ihr mein Mädel hättet sehen können, wie ich sie einmal gesehen habe, Seite an Seite mit der Tochter des andern, so hättet Ihr trotz des Unterschieds in der Kleidung und Lebensweise bemerken müssen, daß sie einander glichen. O, ist diese Ähnlichkeit denn ganz dahin und mußte mein Mädel – nur mein Mädel – sich so verändern!«

»Es kommt an alle die Reihe des Anderswerdens«, sagte Alice.

»Die Reihe?« rief die Alte. »Aber warum kommt sie nicht ebenso bald an sie wie an mein Mädel? Die Mutter muß sich verändert haben – sie sah so alt aus wie ich und war ebenso runzlig, ungeachtet ihrer Schminke – aber sie war schön. Was habe ich getan, ich – was habe ich Schlimmeres getan als sie, daß nur mein Mädel so hinschwindend daliegt!«

Mit demselben Schrei wie früher eilte sie in das äußere Zimmer hinaus, kehrte aber in ihrer verwirrten Stimmung augenblicklich wieder zurück, kroch zu Harriet heran und sagte:

»Dies ist’s, was Alice mir Euch mitzuteilen auftrug, mein Schatz. Dies ist alles. Ich machte die Entdeckung, als ich eines Sommers mich in Warwickshire nach ihr und ihren Verhältnissen erkundigte. Damals waren solche Verwandte nicht gut für mich. Sie würden mich nicht anerkannt haben und hatten nichts zu verschenken. Nachher hätte ich sie vielleicht um ein bißchen Geld angehen können, wenn meine Alice nicht gewesen wäre; aber ich glaube, sie würde mich fast umgebracht haben, wenn ich’s getan hätte. Sie war in ihrer Art so stolz wie die andere«, sagte die Alte, furchtsam das Gesicht ihrer Tochter berührend und ihre Hand wieder zurückziehend, »obschon sie jetzt so ruhig ist. Aber sie wird sie noch mit ihrem guten Aussehen beschämen. Ha, ha. Meine schöne Tochter wird sie noch beschämen.«

Das Lachen, mit dem sie sich zurückzog, war noch schlimmer als ihr Schrei, schlimmer als der Ausbruch kleinmütigen Wehklagens, mit dem es endigte, schlimmer als das faselnde Gesicht, mit dem sie ihren alten Platz wieder einnahm und in die Dunkelheit hinausstierte.

Alice hatte diese ganze Zeit über kein Auge von Harriet verwandt und ihre Hand unablässig festgehalten.

»Wie ich so dalag«, sagte sie jetzt, »kam mir der Gedanke, es dürfte gut sein, wenn Ihr dies erfahrt. Es wird vielleicht einen Umstand erklären, der dazu mithalf, mich zu verhärten. Wenn ich unrecht tat, mußte ich so viel von Pflichtübertretung hören, daß der Glaube in mir Wurzel griff, an mir sei die Pflicht verabsäumt worden, und wie man säe, so müsse auch die Ernte ausfallen. Ich kam irgendwie auf die Ansicht, wenn vornehme Frauen schlimme Mütter und eine schlimme Heimat hätten, so gingen sie wohl auch in ihrer Art auf unrechten Pfaden, aber doch nicht auf so schlimmen, wie der meinige war, und sie hatten Ursache, Gott dafür zu danken. Doch das ist jetzt vorbei. Es kommt mir vor wie ein Traum, dessen ich mich nicht ganz erinnere, den ich nicht recht verstehen kann. Es wurde mir mit jedem Tag mehr und mehr zum Traum, seit Ihr mich zu besuchen und mir vorzulesen anfinget. Ich sage Euch dies nur, wie es eben in meiner Erinnerung ist. Wollt Ihr mir noch ein wenig vorlesen?«

Harriet wollte ihre Hand zurückziehen, um das Buch zu öffnen, aber Alice hielt sie noch einen Augenblick fest.

»Ihr werdet meine Mutter nicht vergessen? Ich vergebe ihr, wenn ich Ursache dazu habe, und weiß, daß sie mir verzeiht – daß ihr Herz traurig ist. Ihr werdet sie nicht vergessen?«

»Nein, Alice!«

»Noch einen Augenblick. Legt meinen Kopf so, daß ich, wenn Ihr lest, in Eurem lieben Gesicht die Worte sehen kann.«

Harriet entsprach ihrem Wunsch und las – las das ewige Buch für alle Müden und Schwerbeladenen, für alle Unglücklichen, Gefallenen und Verwahrlosten auf Erden, las die heilige Geschichte, in der der blinde und lahme Bettler, der Verbrecher, das mit Schande befleckte Weib und der von unserem ekeln Staub Gemiedene seinen Anteil findet, den weder menschlicher Stolz noch die Gleichgültigkeit oder Sophistik aller Jahrhunderte irdischen Bestands hinwegnehmen oder auch nur um das Gewicht eines Sonnenstäubchens verkürzen kann – las von dem Wirken dessen, der durch die ganze Runde des menschlichen Lebens mit seinen Hoffnungen und Schmerzen von der Geburt an bis zum Tode und von der Kindheit bis ins hohe Alter, für jede Szene und Abstufung desselben, für jeden Kummer und jedes Leid die innigste Teilnahme empfand.

»Ich will morgen sehr früh wiederkommen«, sagte Harriet, als sie das Buch zumachte.

Die glänzenden, noch immer auf ihr Antlitz gehefteten Augen schlossen sich für einen Moment und öffneten sich wieder. Alice küßte die Leidende und sprach einen Segenswunsch über sie.

Dieselben Augen folgten ihr bis zur Tür, die sich hinter der Abgehenden schloß; in ihrem Glanze und auf dem ruhigen Gesichte lag ein Lächeln.

Sie wandten sich nicht wieder ab. Die Kranke legte ihre Hand auf die Brust, murmelte den heiligen Namen, von dem ihr vorgelesen worden war, und das Leben wich aus ihrem Antlitz wie ein erlöschendes Licht.

Es lag nichts mehr da als die Trümmer der irdischen Hütte, auf die der Regen niedergefallen war, und das schwarze Haar, das im winterlichen Winde geflattert hatte.

Vierunddreißigstes Kapitel.


Vierunddreißigstes Kapitel.

Wieder eine Mutter und eine Tochter.

In einer häßlichen, dunklen Stube saß ein unangenehmes, braungelbes, altes Weib über ein dürftiges Feuer gekauert und hörte auf Wind und Regen draußen. Mehr auf die erstere Beschäftigung erpicht, als auf die letztgenannte, änderte sie ihre Haltung nie, wenn nicht etwa verirrte Regentropfen zischend auf die glimmende Asche niederfielen und sie bewogen, mit aufgerichtetem Kopf dem Pfeifen und Klatschen draußen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dann aber sank sie allmählich mehr und mehr wieder zusammen, in ein Brüten sich vertiefend, in dem das Getöse der Nacht ihr nur so unbestimmt zum Bewußtsein kam, wie das eintönige Rollen der Meereswogen dem, der gedankenvoll am Ufer sitzt.

In der Stube war kein anderes Licht, als das, welches von dem Feuer ausging. Von Zeit zu Zeit greller aufblitzend, gleich dem Auge eines halb im Schlaf liegenden wilden Tieres, enthüllte es keine Gegenstände, die eine bessere Beleuchtung hätten wünschen können. Ein Haufen Lumpen, eine Schicht Knochen, ein schlechtes Bett, zwei oder drei verstümmelte Stühle oder Schemel und die schwarzen Wände nebst einer noch schwärzeren Decke waren alles, was durch das gelegentliche Auflodern einer Flamme erhellt werden konnte. Wie die Alte so dasaß auf dem feuchten Herde des Kamins und sich über die paar losen Ziegel, aus denen er bestand, niederbeugte, ein riesiges verzerrtes Bild ihres Ichs halb auf die Wand hinter ihr, halb auf die Decke oben werfend, nahm sie sich aus, als laure sie an einem Hexen-Altar auf ein günstiges Zeichen; und wenn nicht die Bewegungen ihrer murmelnden Lippen und des zitternden Kinns für das langsame Aufflackern des Feuers allzu häufig und zu schnell gewesen wären, so hätte man sie wohl für Täuschungen des kommenden und gehenden Lichts auf einem Gesicht halten können, das ebenso regungslos war wie die Gestalt, der es angehörte.

Hätte Florence in der Stube gestanden und das Original des Schattens, der sich an Wand und Dach abmalte, so über das Feuer gekauert gesehen, so würde ein Blick ausgereicht haben, ihr die Gestalt der guten Mrs. Brown wieder zu vergegenwärtigen, obschon vielleicht die Erinnerung an jene schreckliche Alte, der kindlichen Phantasie entnommen, die Wahrheit ebenso übertrieb, wie der Schatten an der Wand. Doch Florence war nicht zugegen, und die gute Mrs. Brown konnte unerkannt und unbemerkt nach ihrem Feuer hinstarren.

Durch ein lauteres Sprühen als gewöhnlich geweckt, da der Regen in einem kleinen Strome zischend durch den Kamin herunterkam, richtete die Alte ungeduldig ihren Kopf auf, um aufs neue zu lauschen. Diesmal sank sie nicht wieder zusammen, denn sie hörte eine Hand auf der Türklinke und einen Fußtritt in der Stube.

»Wer ist da?« fragte sie sich umblickend.

»Jemand, der Euch Neuigkeiten bringt«, antwortete eine Weiberstimme.

»Neuigkeiten? Woher?«

»Vom Ausland.«

»Übers Meer her?« rief die Alte auffahrend.

»Ja, übers Meer.«

Die Alte schürte hastig das Feuer zusammen, ging dicht auf die Eingetretene zu, welche die Tür geschlossen hatte und jetzt in der Mitte der Stube stand, faßte den durchnäßten Mantel und riß die nicht Widerstrebende vorwärts, so daß sie von dem Feuer voll beleuchtet wurde. Sie mußte nicht gefunden haben, was sie erwartete, denn sie ließ den Mantel wieder los und stieß einen kläglichen Ruf schmerzlich getäuschter Erwartung aus.

»Was gibt es?« fragte der Besuch.

»Oho! oho!« rief die Alte, mit einem schrecklichen Geheul ihr Gesicht aufwärts richtend.

»Nun, was habt Ihr denn?« fragte der Besuch abermals.

»Das ist nicht mein Mädel!« rief die Alte, ihre Arme aufwerfend und die Hände über dem Kopfe zusammenschlagend. »Wo ist meine Alice? Wo ist meine schöne Tochter? Man hat sie unter die Räder gebracht.«

»Sie ist bis jetzt noch nicht unter den Rädern, wenn Ihr Marwood heißt«, sagte der Besuch.

»Ihr habt also mein Mädel gesehen?« rief die Alte. »Hat sie mir geschrieben?«

»Sie sagte, Ihr könntet nicht lesen«, entgegnete die andere.

»Ich kann’s nicht mehr!« rief die Alte, ihre Hände ringend.

»Habt Ihr Licht da?« fragte die andere, sich in der Stube umsehend.

Murmelnd, den Kopf schüttelnd und von ihrer schönen Tochter vor sich hinplappernd, brachte die Alte aus einem Eckschrank eine Kerze, hielt sie mit zitternder Hand gegen das Feuer, so daß sie kaum zünden wollte, und setzte sie dann auf den Tisch. Der schmutzige Docht brannte anfangs nur trüb, da er in seinem eigenen Fett wieder ersticken wollte, und als die blöden triefenden Augen der Alten bei seinem Licht die Gegenstände unterscheiden konnten, saß der Besuch mit verschlungenen Armen und auf den Boden gehefteten Blicken da, während auf dem Tisch neben ihr ein Tuch lag, das sie um den Kopf getragen hatte.

»Mein Mädel Alice läßt mir also mündlich etwas mitteilen?« murmelte die Alte, nachdem sie eine Weile gewartet hatte. »Was sagte sie?«

»Schaut«, erwiderte der Besuch.

Die Alte wiederholte die Worte in verstörter, unsicherer Weise; dann hielt sie die Hand über ihre Augen, sah die Sprecherin an, schaute sich in der Stube um und blickte dann wieder nach ihrem Besuch hin.

»Alice heißt Euch noch einmal hersehen, Mutter«, sagte die andere, ihre Augen fest auf sie richtend.

Die Alte sah sich wieder in der Stube um, dann nach ihrem Besuch hin und ließ endlich aufs neue ihre Augen durch das Gemach schweifen. Dann ergriff sie, von ihrem Sitze aufstehend, hastig das Licht, hielt es gegen das Gesicht ihres Gastes, setzte die Kerze mit einem lauten Schrei wieder nieder und fiel ihm um den Hals.

»Es ist mein Mädel! Es ist meine Alice! Es ist meine schöne Tochter, die lebt und zurückgekommen ist!« kreischte die Alte sich an der Brust der andern hin und her wiegend, die ihre Umarmung nur mit Kälte duldete. »Es ist mein Mädel! Es ist meine Alice! Es ist meine schöne Tochter, die lebt und zurückgekommen ist!« rief sie abermals, indem sie sich vor ihr auf den Boden warf, ihre Knie umfaßte, den Kopf an diese drückte und noch immer mit jeder wilden Kundgebung, deren ihre Lebenskraft noch fähig war, sich hin und her schaukelte.

»Ja, Mutter«, entgegnete Alice, die sich für einen Augenblick niederbeugte und die Alte küßte, aber zugleich bemüht war, sich ihrer Umarmung zu erwehren. »Ich bin endlich wieder hier. Laßt mich los, Mutter – laßt mich gehen. Steht auf und setzt Euch auf Euern Stuhl. Was hat solches Getue für einen Zweck?«

»Sie ist härter zurückgekommen, als sie ging!« rief die Mutter zu ihr aufblickend und noch immer ihre Knie umschlingend. »Sie kümmert sich nicht um mich – nach so vielen Jahren, die ich im Elend verlebte!«

»Nun, Mutter«, versetzte Alice, indem sie ihr zerlumptes Kleid schüttelte, um die Alte von sich abzuwehren, »die Sache hat zwei Seiten. Für mich so gut, wie für Euch, sind es Jahre des Elends gewesen. Steht auf – steht auf!«

Ihre Mutter erhob sich, rang weinend die Hände und blieb in einiger Entfernung von ihr stehen, um sie zu betrachten. Dann nahm sie die Kerze wieder auf, ging unter dumpfem Stöhnen um sie herum und musterte sie vom Kopf bis zu den Füßen. Nachdem sie das Licht wieder niedergestellt hatte, kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück, schlug zu einer Art trauriger Melodie ihre Hände zusammen, wiegte sich von Seite zu Seite und fuhr fort, zu ächzen und wehzuklagen. Auch Alice stand auf, um ihren nassen Mantel abzuwerfen und ihn beiseite zu legen. Als das geschehen war, setzte sie sich wie früher mit verschlungenen Armen wieder nieder und schaute ins Feuer, stumm und mit verächtlicher Miene den unartikulierten Klagen ihrer alten Mutter zuhörend.

»Habt Ihr erwartet, ich werde so jugendlich wieder zurückkehren, wie ich ging, Mutter?« sagte sie endlich, ihre Augen der Alten zuwendend. »Glaubt Ihr, ein Leben in der Fremde, wie das meinige, könne dem guten Aussehen förderlich sein? Wenn man Euch hört, sollte man es fast denken!«

»Es ist nicht das!« rief die Mutter. »Sie weiß es!«

»Was ist es dann?« entgegnete die Tochter. »Im besten Falle etwas, das nicht bleibt, Mutter, sonst ist mein Ausgang leichter, als mein Eingang.«

»Höre man nur!« rief die Mutter. »Nach so vielen Jahren droht sie, mich schon im Augenblick ihrer Ankunft wieder zu verlassen.«

»Ich sage Euch zum zweitenmal, Mutter, es sind für mich so gut wie für Euch schwere Jahre gewesen«, erwiderte Alice. »Ich sei härter zurückgekommen? Natürlich bin ich’s. Was habt Ihr anderes erwartet?«

»Härter gegen mich – gegen deine eigene arme Mutter!« rief die Alte.

»Ich weiß nicht, wer mich zu verhärten anfing, wenn es nicht meine eigene arme Mutter war«, entgegnete sie mit verschlungenen Armen, gefurchter Stirne und zusammengepreßten Lippen, als wolle sie gewaltsam jedes weichere Gefühl aus ihrer Brust ausschließen. »Hört noch ein paar Worte, Mutter. Wenn wir uns jetzt gegenseitig verstehen, so trennen wir uns vielleicht nicht wieder. Ich kam fort als ein Mädchen und bin als Weib zurückgekehrt. Wenn ich nicht viel Liebe hatte zu der Zeit, als ich meinen Weg antrat, so könnt Ihr darauf schwören, daß es seitdem nicht besser geworden ist. Aber habt Ihr je Eure Pflicht gegen mich erfüllt?«

»Ich – gegen mein Mädel?« rief die Alte. »Eine Mutter soll Pflichten erfüllen gegen ihr eigenes Kind!«

»Nicht wahr, dies klingt unnatürlich?« versetzte die Tochter, mit ihrem strengen, harten, schönen Gesicht kalt nach ihr hinsehend. »Aber ich habe im Laufe meiner einsamen Jahre mir bisweilen Gedanken darüber gemacht und mich daran gewöhnt. Von Anfang bis zum Ende habe ich stets von Pflichten schwatzen hören, obschon man immer nur von meinen Pflichten gegen andere Leute sprach. Da dachte ich denn zum Zeitvertreib darüber nach, ob niemand je eine Pflicht gegen mich gehabt habe.«

Ihre Mutter verzog den Mund, murmelte und schüttelte den Kopf, wenn sich schon nicht unterscheiden ließ, ob dies im Zorn, aus Reue, in der Absicht des Widerspruches, oder nur infolge ihrer körperlichen Schwäche geschah.

»Es gab ein Kind, Alice Marwood genannt«, fuhr die Tochter mit einem schrecklichen Gelächter fort, indem sie dabei an sich selber hinunterschaute, »das in Armut und Vernachlässigung geboren und herangezogen wurde. Niemand unterrichtete es, keine Seele kümmerte sich darum, und niemand zeigte sich bereit, ihm zu helfen.«

»Niemand?« wiederholte die Mutter, auf sich selbst deutend und an ihre Brust schlagend.

»Die einzige Sorgfalt, die ihm zuteil wurde, bestand in Schlägen«, entgegnete die Tochter. »Man gab ihm für Hungersterben zu essen und mißhandelte es. Das hätte es wohl entbehren können. Alice Marwood lebte in Höhlen, wie diese hier, oder auf den Straßen unter einem Haufen ebenso elender kleiner Geschöpfe, wie sie selbst war, und doch trug sie nach dieser Kindheit ein gutes Aussehen davon. Um so schlimmer für sie. Es wäre besser für sie gewesen, wenn man sie wegen ihrer Häßlichkeit verfolgt und zu Tod gequält hätte.«

»Nur zu! nur zu!« rief die Mutter.

»Sogleich!« sagte die Tochter. »Es gab ein Mädchen, namens Alice Marwood. Sie war schön. Der Unterricht kam zu spät, und man lehrte sie alles unrecht. Man sorgte zu gut für sie, half ihr zu gut fort und sah zu viel nach ihr. Ihr hattet sie sehr lieb – Ihr wart damals besser daran. Was über jenes Mädchen erging, betrifft jedes Jahr Tausende. Nichts als Verderben, und sie war geboren dazu.«

»Nach allen diesen Jahren fängt mein Mädel so an«, winselte die Alte.

»Sie wird bald zu Ende sein«, versetzte die Tochter. »Es gab eine Verbrecherin, namens Alice Marwood – zwar noch ein Mädchen, aber verlassen und verstoßen. Sie wurde vor Gericht gestellt und verurteilt. Du mein Himmel, wie die Gentlemen im Gerichtshof ein Wesens davon machten und wie ernst der Richter sie an ihre Pflichten erinnerte und ihr vorstellte, welchen Mißbrauch sie gemacht habe von den Gaben der Natur – als ob er nicht besser als irgend einer dort gewußt hätte, daß sie ihr zum Fluch gemacht wurden! – Und wie er predigt von dem starken Arm des Gesetzes – so gar stark in der Zeit, als es galt sie zu retten, während sie noch eine hilflose kleine Unschuldige war! Wie feierlich und religiös nahm sich nicht alles aus, und ich habe seitdem in der Tat oft und vielmal daran gedacht!«

Sie preßte ihre Arme fest an ihre Brust und lachte in einem Ton, gegen den sogar das Geheul der Alten Musik war.

»So wurde Alice Marwood deportiert, Mutter«, fuhr sie fort, »und sollte an einem Platz ihre Pflichten lernen, wo es zwanzigmal weniger Pflichtmäßigkeit, wohl aber mehr Laster, Unrecht und Schande gab, als hier. Und Alice Marwood ist als ein Weib zurückgekommen – als ein Weib, wie sie es nach solchen Vorgängen sein muß. Zu guter Zeit wird es höchst wahrscheinlich noch feierlichere und schönere Reden vom starken Arm des Gesetzes geben, und es wird dann aus mit ihr sein. Aber die Gentlemen brauchen nicht zu fürchten, unbeschäftigt bleiben zu müssen. Es gibt noch Scharen kleiner Elenden, Knaben sowohl wie Mädchen, die in jeder Straße, wo die gestrengen Herren wohnen, aufwachsen, und das wird sie schon in Tätigkeit erhalten, bis sie sich ein Vermögen gemacht haben.«

Die Alte lehnte ihre Ellenbogen auf den Tisch und unterstützte ihr Gesicht mit beiden Händen – scheinbar oder vielleicht wirklich in großer Betrübnis.

»So! ich bin jetzt fertig, Mutter«, sagte die Tochter mit einer Kopfbewegung, als wolle sie diesen Gegenstand verlassen. »Ich habe genug gesprochen. Was immer auch zwischen uns vorgehen mag, laßt uns nur nicht von Pflichten sprechen. Eure Kindheit war vermutlich wie die meine. Um so schlimmer für uns beide. Ich will Euch keine Vorwürfe machen, oder überhaupt mich rechtfertigen – warum sollte ich auch? Dies ist alles längst vorüber. Aber ich bin jetzt ein Weib – kein Mädchen mehr – und wir brauchen unsere Geschichte nicht zur Schau zu stellen, wie die Gentlemen in dem Gerichtshof. Uns ist sie nur zu gut bekannt.«

Trotz der Herabwürdigung lag doch in ihrem Gesicht und in ihrer Gestalt noch eine Schönheit, die selbst in ihrem schlimmsten Ausdruck von jedem, der sie nur mit der mindesten Aufmerksamkeit betrachtete, anerkannt werden mußte. Sie schwieg jetzt, und ihr aufgeregtes Gesicht wurde ruhiger, während in ihren dunkeln, auf das Feuer gehefteten Augen der wilde Blick, der sie belebt hatte, den weicheren Ausdruck der Bekümmernis annahm. Es schien darin ein Strahl von dem entschwundenen Glänze des gefallenen Engels durch all das verzehrende Elend ihres Lebens zu leuchten.

Ihre Mutter, die sie eine Weile stumm beobachtet hatte, wagte es jetzt, ihre Hand über den Tisch hinüber mehr in ihre Nähe gleiten zu lassen; und als sie fand, daß die Tochter sich dies gefallen ließ, ging sie weiter, indem sie ihr Gesicht und Haar streichelte. Augenscheinlich in dem Gefühl, daß die Alte in dieser Kundgebung von Teilnahme es wenigstens aufrichtig meine, tat ihr Alice keinen Einhalt. Darum schickte sich auch die gute Mrs. Brown zuletzt an, ihr das Haar frisch aufzubinden, die durchnäßten Schuhe, wenn sie diesen Namen verdienten, wegzunehmen und etwas Trockenes über ihre Schultern zu breiten. Dabei humpelte sie scheu um sie her und sprach murmelnd mit sich selbst, je mehr sie in dem Gesicht die alten Züge wiedererkannte.

»Ich sehe, Ihr seid sehr arm, Mutter«, sagte Alice, die, nachdem sie eine Weile still gesessen, in der Stube umherschaute.

»Bitter arm, mein Herzchen«, versetzte die Alte.

Sie bewunderte ihre Tochter und fürchtete sich vor ihr. Vielleicht hatte ihre Bewunderung, so wie sie war, ihren Ursprung in längst vergangener Zeit, als sie zum erstenmal etwas Schönes in der Mitte ihres schmutzigen Ringens um das Dasein auftauchen sah, während möglicherweise ihre Furcht sich einigermaßen auf den Rückblick bezog, der ihr eben vorgehalten worden war. Wie dem übrigens sein mochte, sie stand unterwürfig und demütig vor ihrem Kind, den Kopf geneigt, als bitte sie flehentlich um Verschonung mit weiteren Vorwürfen.

»Wovon habt Ihr gelebt?«

»Vom Betteln, mein Herzchen.«

»Und Stehlen, Mutter?«

»Bisweilen, Ally – aber nur in sehr geringem Maße. Ich bin alt und furchtsam. Hin und wieder habe ich Kindern Kleinigkeiten weggenommen, mein Herzchen, aber nicht oft. Ich kam weit im Lande herum, meine Liebe, und weiß, was ich weiß. Ich habe mich auf die Lauer gelegt.«

»Auf die Lauer?« versetzte die Tochter, nach ihr hinsehend.

»Ja, bei einer Familie, mein Herzchen«, entgegnete die Mutter noch demütiger und unterwürfiger als zuvor.

»Bei welcher Familie?«

»Pst, mein Liebling. Du mußt mir nicht zürnen. Ich tat es um deinetwillen – eingedenk meines armen Mädchens über dem Meere.«

Sie streckte abbittend ihre Hand aus, zog sie wieder zurück und legte sie an ihre Lippen.

»Vor Jahren, mein Herzchen«, fuhr sie fort, schüchtern nach dem aufmerksamen finsteren Gesicht ihr gegenüber hinschauend, »kam mir zufällig sein kleines Kind in den Weg.«

»Wessen Kind?«

»Nicht das seine, liebe Alice. Sieh mich nicht in solcher Weise an. Nicht das seine. Wie wäre das auch möglich? Du weißt, er hat keins.«

»Wessen denn?« erwiderte die Tochter. »Ihr habt von dem seinen gesprochen.«

»Pst, Ally – du erschreckst mich, mein Herzchen. Mr. Dombeys – nur Mr. Dombeys. Seit jener Zeit, meine Liebe, habe ich sie oft gesehen. Auch ihn

Bei diesem letzteren Wort wich die Alte, wie in plötzlicher Furcht, daß ihre Tochter sie schlagen werde, zurück. Aber wenn auch Alice die Augen auf ihr haften ließ und in ihrem Gesicht die ungestümste Leidenschaft sich zeigte, so blieb sie doch still, obschon ihre Arme sich dichter und dichter vor ihrer Brust ineinander verklammerten, als wolle sie diese hindern, daß sie nicht in der blinden Wut des Zorns, die sich ihrer so plötzlich bemächtigte, sich selbst oder jemandem anders ein Leides zufügten.

»Er ließ sich wenig träumen, wer ich war!« sagte die Alte, ihre geballte Hand schüttelnd.

»Und kümmerte sich auch wenig darum!« murmelte die Tochter zwischen ihren Zähnen.

»Aber wir standen einander Angesicht in Angesicht«, sagte die Alte. »Ich sprach mit ihm und er mit mir. Ich sah ihm nach, als er durch eine lange Allee hinunterging, und bei jedem Schritt, den er tat, verfluchte ich ihn mit Leib und Seele.«

»Das wird ihn nicht hindern, in Hülle und Fülle zu leben«, entgegnete die Tochter verächtlich.

»Ja, er lebt in Hülle und Fülle«, sagte die Mutter.

Sie hielt inne; denn das Gesicht und die Gestalt vor ihr wurde durch die Wut völlig umgewandelt. Es schien, als ob der Busen bersten wolle unter den Bewegungen, die unter ihm kämpften. Die Anstrengung, dem Sturme Einhalt zu tun, war nicht minder furchtbar, als die Nut selbst, und ließ in gleicher Weise den ungestümen, gefährlichen Charakter des Weibes, das so mit sich selbst rang, erkennen. Endlich gelang ihr die Bemühung, und sie fragte nach einem langen Schweigen:

»Ist er verheiratet?«

»Nein, mein Herzchen«, versetzte die Mutter.

»Verlobt?«

»Meines Wissens nicht, meine Liebe. Aber sein Herr und Freund ist verheiratet. O, wir können ihm Glück wünschen – wir können allen miteinander Glück wünschen!« rief die Alte, in ihrem Jubel mit ihren dürren Armen sich selbst umfassend. »Denk‘ an mich – nichts als Freude für uns wird aus dieser Heirat hervorgehen!«

Die Tochter sah sie an, als wünsche sie weitere Aufklärung.

»Doch du bist durchnäßt und müde, hungrig und durstig«, sagte die Alte, nach dem Eckschrank humpelnd. »Es ist nicht viel da, nur wenig« – sie griff in ihre Tasche und warf ein paar Halbpence auf den Tisch – »gar wenig. Hast du Geld, Alice, mein Herzchen?«

Das gierige, hastige Gesicht, mit dem sie die Frage stellte und mit dem sie Alice ansah, als diese die kürzlich erhaltene Gabe aus ihrem Busen hervorzog, erzählte fast ebenso viel von der Geschichte der Mutter und ihres Kindes, als das Kind selbst in Worten ausgedrückt hatte.

»Ist das alles?« fragte die Mutter.

»Ja. Ich würde nicht einmal so viel haben, wenn es mir nicht eine mitleidige Person als Almosen gegeben hätte.«

»Wie, als Almosen, mein Herzchen?« versetzte die Alte, sich gierig über den Tisch beugend, um nach dem Geld zu sehen, dem sie nicht recht zu trauen schien, weil ihre Tochter es noch immer in der Hand behielt. »Hm! Sechs und sechs ist zwölf, und sechs ist achtzehn – nun – wir müssen damit auszureichen suchen, so lang es geht. Ich will jetzt etwas zu essen und zu trinken einkaufen.«

Mit größerer Behendigkeit, als man von ihrem Äußeren hätte erwarten sollen – denn Alter und Elend schienen sie ebenso gebrechlich wie häßlich gemacht zu haben – begann sie einen alten Hut auf ihrem Kopf festzuknüpfen und mit zitternden Händen ein zerlumptes Halstuch überzuwerfen. Dabei betrachtete sie das Geld in der Hand ihrer Tochter stets mit der gleichen Habgier.

»Welche Freude soll uns aus dieser Heirat erwachsen, Mutter?« fragte die Tochter. »Ihr habt mir das noch nicht gesagt.«

»Die Freude«, versetzte sie, mit unsicheren Händen ihren Anzug vollendend, »daß statt der Liebe Stolz und Haß darin herrschen wird, mein Herzchen. Die Freude der Verwirrung, des wechselseitigen Kampfs unter den stolzen Personen, und der Gefahr – der Gefahr, Alice!«

»Welcher Gefahr?«

»Ich habe gesehen, was ich sah. Ich weiß, was ich weiß!« kicherte die Mutter. »Gewisse Leute dürfen aufsehen. Mein Mädel kann noch in gute Gesellschaft kommen!«

Als die Alte bemerkte, daß Alice in dem verwunderten Ernst, mit dem sie ihre Mutter ansah, unwillkürlich ihre Hand über dem Geld geschlossen hatte, so eilte sie, sich dessen zu bemächtigen, und fügte hastig bei:

»Doch ich will etwas einkaufen. Ich will gehen, um etwas zu kaufen.«

Während sie mit ausgestreckter Hand vor ihrer Tochter stand, blickte diese wieder das Geld an und drückte es an ihre Lippen, ehe sie es hergab.

»Wie, Ally – du es küssen?« kicherte die Alte. »Das hat sie von mir – ich tue es oft. O, es ist uns so wertvoll« – sie drückte dabei ihre eigenen schmutzigen Halbpence an den Kropf ihres Halses – »tut uns so gut in allem, wenn es schon nicht in Haufen kommt.«

»Ich küsse es, Mutter«, versetzte die Tochter, »oder küßte es – meines Wissens ist es nie zuvor geschehen – um der Geberin willen.«

»Um der Geberin willen, mein Herzchen?« erwiderte die Alte, indem sie die Münze mit funkelnden Augen hinnahm. »Ja, auch ich will es um der Geberin willen küssen, wenn sie machen kann, daß es weiter reicht. Doch es muß jetzt ausgegeben werden, meine Liebe – ich werde sogleich wieder zurück sein.«

»Ihr gebt Euch den Anschein, als ob Ihr recht viel wißt, Mutter«, sagte die Tochter, ihr mit den Augen nach der Tür folgend. »Ihr seid ja recht klug geworden, seit wir uns trennten.«

»Ob ich viel weiß?« krächzte die Alte, die um einige Schritte wieder zurückkam. »Ich weiß mehr, als du denkst – weiß sogar mehr, als er denkt, mein Herzchen, wie ich dir gelegentlich erzählen will. Ich weiß alles von ihm.«

Die Tochter lächelte ungläubig.

»Ich weiß auch von seinem Bruder, Alice«, fuhr die Alte fort und streckte mit einem Blick voll Bosheit, der wahrhaft fürchterlich aussah, ihren Hals aus, »der wegen Diebstahls eben dort sein könnte, wo du gewesen bist – und der mit seiner Schwester dort draußen unfern der Nordstraße lebt.«

»Wo?«

»An der Nordstraße vor London draußen, mein Herzchen. Wenn es dir darum zu tun ist, sollst du das Haus sehen. Es ist freilich nicht viel daran, wie vornehm es auch in dem seinigen aussieht. Nein, nein, nein«, rief die Alte, indem sie lachend den Kopf schüttelte; denn ihre Tochter war von dem Sitze aufgesprungen, »nicht jetzt; es ist zu abgelegen – bei dem Meilenzeiger, wo die Steine aufgehäuft sind. Morgen, mein Herzchen, wenn es schön Wetter ist und du noch Lust dazu hast. Aber ich will jetzt fort.«

»Halt!« und die Tochter flog mit einer Wut, die jetzt in heller Lohe flammte, auf sie zu. »Die Schwester ist ein schöner Satan mit braunem Haar?«

Erstaunt und erschrocken nickte die Alte mit dem Kopf.

»Ich sehe den Schatten von ihm in ihrem Gesicht! Es ist ein einzeln stehendes rotes Haus mit einer kleinen grünen Laube vor der Tür?«

Die Alte nickte abermals.

»In der ich heute saß. Gebt mir das Geld zurück.«

»Alice, Herzchen!«

»Gebt mir das Geld zurück, oder es soll Euch übel bekommen.«

Mit diesen Worten entriß sie es der Hand der Alten, ohne auf deren Klagen und Bitten zu achten, warf die abgelegten Kleidungssachen wieder um und stürzte in ungestümer Hast zur Tür hinaus.

Die Mutter folgte ihr, so gut es mit ihrem hinkenden Gang gehen wollte, und machte ihr fortwährend Vorstellungen, die übrigens auf Alice ebensowenig Wirkung hervorbrachten, wie die Nacht, der Wind und der Regen draußen. In wilder Entschlossenheit und gegen alles andere gleichgültig, bot die Tochter dem Wetter und der Entfernung Trotz, als ob sie sich nie durch eine weite Wanderung erschöpft hätte, und eilte dem Hause zu, das ihr heute teilnehmenden Beistand geboten hatte. Nach einem viertelstündigen Gehen wagte es die Alte, die erschöpft und atemlos war, sich an ihrer Kleidung festzuhalten, ohne daß sie noch weitere Worte wagte, und so wanderten sie schweigend durch Regen und Dunkel. Wenn der Mutter hin und wieder ein Wort der Klage nach den Lippen drang, erstickte sie es wieder, damit Alice sich nicht von ihr losreiße und sie zurücklasse. Die Tochter aber blieb auf dem ganzen Wege stumm.

Es mochte gegen elf Uhr sein, als sie die regelmäßige Straße verließen und in das tiefere Düster des einsamen Geländes eintraten, wo das Haus stand. Die Stadt lag trüb und düster in der Ferne. Der kalte Wind heulte über den freien Platz, und die Gegend umher nahm sich schwarz, wild und öde aus.

»Dies ist ein geeigneter Platz für mich«, sagte die Tochter, indem sie haltmachte und zurückschaute. »Er kam mir heute schon einmal so vor.«

»Alice, mein Herzchen«, rief die Mutter, sie sanft an ihrem Kleid zupfend. »Alice!«

»Was wollt Ihr, Mutter?«

»Gib das Geld nicht zurück, mein Liebling – ich bitte, tu es nicht. Wir können es nicht entbehren. Es fehlt uns an einem Nachtessen, Herzchen. Geld ist Geld, woher es auch kommen mag. Sage ihr, was du willst, aber behalte das Geld.«

»Sieh an!« erwiderte die Tochter. »Dort ist das Haus, das ich meine. Ist es dieses?«

Die Alte nickte bejahend, und einige weitere Schritte brachten sie nach der Schwelle. In dem Zimmer, wo Alice ihre Kleider getrocknet hatte, brannte noch Licht und Feuer. Auf ihr Klopfen kam John Carker heraus.

Er war erstaunt, zu dieser Stunde solche Besuche zu sehen, und fragte Alice, was sie wolle.

»Zu Eurer Schwester«, versetzte sie. »Zu der Frau, die mir heute Geld gab.«

Sie hatte sehr laut gesprochen, und Harriet erschien unter der Tür.

»O!« rief Alice. »Ihr seid hier! Erinnert Ihr Euch meiner?«

»Ja«, antwortete sie verwundert.

Das Gesicht, das sich am Abend vorher vor ihr gedemütigt hatte, blickte sie jetzt mit bitterem Haß und Trotz an, und die Hand, die ihren Arm berührt, war so grimmig wie zum Erdrosseln geballt, daß sie sich dicht an ihren Bruder anschmiegte, um bei ihm Schutz zu suchen.

»Daß ich mit Euch sprechen konnte, ohne Euch zu erkennen! Daß ich in Eure Nähe kommen mußte, ohne an dem Prickeln in meinen Adern zu fühlen, welches Blut in Euern fließt!« rief Alice mit drohender Gebärde.

»Was meint Ihr damit? Was habe ich getan?«

»Was Ihr getan habt?« erwiderte die andere. »Ihr habt mich an Euer Feuer gesetzt – habt mir Nahrung und Geld gegeben – habt mir Mitleid erwiesen – Ihr mit dem Namen, den ich anspeien könnte.«

Mit einer Bosheit, durch die ihr häßliches Gesicht wahrhaft entsetzlich wurde, schüttelte die Alte ihre welke Hand nach dem Bruder und der Schwester hin, um die Worte zu bekräftigen; zugleich aber zupfte sie Alice wieder an den Rockschößen und bat sie, das Geld zu behalten.

»Wenn ich eine Träne auf Eure Hand fallen ließ, so möge sie darauf wie Feuer brennen! Wenn ich in Eurer Nähe ein sanftes Wort sprach, so möge es Euch mit ewiger Taubheit schlagen. Wenn ich Euch mit meinen Lippen berührte, so soll die Berührung Gift für Euch werden! Fluch über dieses Dach, das mir Schutz bot! Leid und Schande über Euer Haupt! Verderben allem, was Euch angehört!«

Während sie diese Worte sprach, warf sie das Geldstück auf den Boden und stieß es mit den Füßen von sich.

»Ich trete es in den Staub und möchte es nicht nehmen, wenn es mir den Weg zum Himmel pflasterte! Hätte ich mir doch lieber den blutenden Fuß, der mich heute hierherbrachte, abgehauen, ehe er mich in Euer Haus trug!«

Blaß und zitternd stützte sich Harriet auf den Arm ihres Bruders, ohne auf das Ungestüm der Sprecherin auch nur eine Silbe zu erwidern.

»Es war herrlich, daß ich Mitleid und Vergebung finden sollte von Euch oder irgend jemand Eures Namens in der eisten Stunde meiner Rückkehr! Es war herrlich, daß Ihr gegen mich die gütige Dame spielen mußtet! Ich werde es Euch danken auf meinem Totenbette – ja, verlaßt Euch darauf: ich will beten für Euch und Euer ganzes Geschlecht!«

Mit einer trotzigen Handbewegung, als streue sie Haß auf den Boden und weihe damit die, die hier standen, dem Verderben, blickte sie plötzlich nach dem schwarzen Himmel auf und schritt in die wilde Nacht hinaus.

Die Mutter, die sie wiederholt, obschon vergeblich, an den Kleidern gezupft hatte und mit verzehrender Glut nach dem auf der Schwelle liegenden Gelde hinschaute, wollte sich in der Nähe umhertreiben, bis das Haus dunkel war, um dann im Schmutz zu tasten, ob ihr vielleicht der Zufall die Münze wieder unter die Hände bringe. Aber Alice riß sie mit fort, und so ging es denn geradenwegs wieder ihrer Wohnung zu. Die Alte winselte kläglich über ihren Verlust und beschwerte sich, soweit sie es offen wagen durfte, in gereiztem Ton über das pflichtwidrige Benehmen ihrer schönen Tochter, die sie in der ersten Nacht ihrer Wiedervereinigung des Essens beraubte.

Sie mußte auch zu Bett gehen, ohne daß sie sich mit etwas anderem, als mit einigen kümmerlichen Überbleibseln erquicken konnte. Bei diesen saß sie noch murmelnd und kauend vor dem hinsterbenden Feuer, nachdem ihre pflichtwidrige Tochter längst im Schlafe lag.

Boten vielleicht diese elende Mutter und ihre gleich elende Tochter nur Bilder der tiefsten Stufe von gewissen sozialen Lastern dar, die bisweilen weiter oben vorherrschen? Machen wir auf dieser runden Welt, wo so viele Kreise ineinander kreisen, eine mühsame Wanderung von den höchsten Regionen bis zu den niedrigsten, um am Ende zu finden, daß sie ganz nahe beieinander liegen, daß die beiden äußersten Endpunkte sich berühren, und daß das Ende der Reise wieder auf die Stelle ihres Anfangs führt? Geben wir auch zu, daß in Stoff und Gewebe große Unterschiede bestehen– wiederholt sich der Schnitt nicht auch unter dem vornehmen Blute?

Sprich, Edith Dombey! Und du, Kleopatra, beste der Mütter – laß uns dein Zeugnis hören!

Zweiundfünfzigstes Kapitel.


Zweiundfünfzigstes Kapitel.

Geheime Mitteilung

Die gute Mrs. Brown und ihre Tochter Alice saßen an einem Abend des Spätlenzes stumm beieinander in ihrer Wohnung. Es waren schon einige Tage vergangen, seitdem Mr. Dombey mit Major Bagstock von einer bestimmten Nachricht gesprochen hatte: einer Nachricht eigentümlicher Art und die er auf eigentümlichem Wege erhalten hatte; die vielleicht wertlos war, vielleicht aber auch als richtig sich herausstellte. Die Welt aber sah sich noch immer nicht zufriedengestellt.

Mutter und Tochter saßen geraume Zeit fast regungslos da, ohne ein Wort miteinander zu reden. Das Gesicht der Alten zeigte den verschmitzten Ausdruck ängstlicher Erwartung; auch das ihrer Tochter war erwartungsvoll, obschon dieser Zug weniger scharf hervortrat, und umdüsterte sich zuweilen, als traue es nicht ganz der Erfüllung. Die Alte achtete nicht darauf, obschon ihre Augen sich oft ihrer Gefährtin zuwandten, und sie murmelte in zuversichtlichem Lauschen vor sich hin.

Ihre Wohnung war zwar arm und elend, aber doch nicht mehr ganz so schlecht, wie in den Tagen, als sie die gute Mrs. Brown allein beherbergte. Es zeigten sich einige Versuche von Reinlichkeit und Ordnung, zwar nur nachlässig und zigeunerartig ausgeführt, aber doch so, daß man schon beim ersten Blick die seitherige Tätigkeit Alices nicht verkennen konnte. Die Schatten des Abends wurden immer tiefer, ohne daß die beiden ihr Schweigen störten, bis endlich die dunkeln Wände fast in völlige Finsternis gehüllt waren.

Erst jetzt unterbrach Alice die lange Stille mit den Worten:

»Ihr dürft ihn aufgeben, Mutter. Er kommt nicht her.«

»Der Teufel gebe ihn auf!« entgegnete die Alte ungeduldig. »Er kommt

»Wir wollen sehen«, sagte Alice.

»Wir werden ihn sehen«, erwiderte ihre Mutter.

»Ja, beim jüngsten Gericht«, sagte die Tochter.

»Ich weiß, du meinst, ich sei kindisch geworden!« krächzte die Alte. »Solche Liebe und solchen Dank muß ich von meinem eigenen Mädel erleben. Aber ich bin klüger, als du wohl glaubst. Er wird kommen. Als ich letzthin in der Straße seinen Rock berührte, sah er sich nach mir um, wie wenn ich eine Kröte wäre. Aber mein Himmel, du hättest ihn sehen sollen, als ich ihm ihre Namen sagte und ihn fragte, ob er nicht ausfindig zu machen wünsche, wo sie seien.«

»War er zornig?« fragte die Tochter, deren Interesse im Nu geweckt war.

»Zornig? Frage, ob er nach Blut lechzte. Das ist das passendere Wort. Zornig? Ha, ha! dies nur zornig zu nennen!« sagte die Alte, nach dem Schranke humpelnd und ein Licht anzündend, das, während sie es nach dem Tische brachte, das Arbeiten ihres Mundes in seiner ganzen Häßlichkeit erkennen ließ. »Ich möchte ebensogut dein Gesicht nur zornig nennen, wenn du an sie denkst, oder von ihnen sprichst.«

Es war auch in der Tat ganz anders, als sie so dasaß, mit ihren blitzenden Augen einer sprungfertigen Tigerin ähnlich.

»Horch!« sagte die Alte triumphierend. »Ich höre einen Tritt. Es ist nicht der von jemandem, der in der Nachbarschaft wohnt oder oft hierher kommt. Wir gehen nicht so. Wir könnten stolz sein auf solche Nachbarn! Hörst du ihn?«

»Ich glaube, Ihr habt recht, Mutter«, versetzte Alice in gedämpfter Stimme. »Stille! Öffnet die Tür.«

Während sie ihr großes Halstuch um sich herzog, entsprach die Alte ihrer Aufforderung, guckte hinaus, winkte und ließ Mr. Dombey ein, der, sobald er seinen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, stehen blieb und sich mißtrauisch umsah.

»Es ist nur ein schlechter Platz für einen großen Herrn, wie Euer Gnaden«, bemerkte die Alte mit einem Knix. »Doch ich habe es Euch vorausgesagt, und es kann ja nichts schaden.«

»Wer ist dies?« fragte Mr. Dombey, nach Alicen hinsehend.

»Dies ist meine schöne Tochter«, antwortete die Alte. »Euer Gnaden braucht sich nicht an ihr zu stören. Sie weiß alles.«

Ein Schatten fiel über sein Gesicht, nicht weniger ausdrucksvoll, als wenn er laut gestöhnt hätte: »Wer weiß nicht alles!« Er sah jedoch fest nach ihr hin, und sie erwiderte seinen Blick ohne das mindeste Zeichen einer Begrüßung. Der Schatten auf seinem Gesicht wurde düsterer, als er die Augen von ihr abwandte, obschon er den Blick verstohlen wieder nach ihr zurückgleiten ließ, als ob ihre kühnen Blicke ihn gebannt hielten oder an etwas Bekanntes erinnerten.

»Weib«, sagte Mr. Dombey zu der alten Hexe, die kichernd und schielend an seiner Seite stand, während sie, als er sich umwandte, um sie anzureden, verstohlen nach ihrer Tochter hindeutete, die Hände rieb und wieder deutete. »Weib, ich glaube, daß mein Hierherkommen eine Schwäche ist, und daß ich dadurch meiner Stellung etwas vergebe. Aber Ihr wißt, warum ich hier bin und wozu Ihr Euch erboten habt, als Ihr mich letzthin auf der Straße anhieltet. Was habt Ihr mir über das, was ich zu wissen wünsche, zu sagen, und wie kommt es, daß ich in einem Loche, wie dieses hier«, er schaute verächtlich umher, »freiwillige Auskunft finden soll, während ich doch anderwärts alle meine Kräfte und Mittel vergeblich aufgeboten habe? Ich denke nicht«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, während der er sie finster betrachtet hatte, »daß Ihr so vermessen sein könnt, mit mir ein Spiel treiben oder mich betrügen zu wollen. Wäre das Eure Absicht, so tätet Ihr besser, gleich von Anfang an abzubrechen; denn ich bin nicht in der Stimmung, mich narren zu lassen, und würde es streng zu ahnden wissen.«

»O, ein stolzer, harter Herr!« kicherte die Alte, den Kopf schüttelnd und ihre runzligen Hände reibend, »O, hart, hart, hart! Aber Eure Gnaden sollen mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören; nicht mit den unsrigen – und wenn Euer Gnaden auf die rechte Spur gekommen ist, so wird Euch nichts daran liegen, etwas dafür zu bezahlen – nicht wahr, Euer Gnaden?«

»Ich weiß, Geld kann die unwahrscheinlichsten Dinge möglich machen«, entgegnete Mr. Dombey, augenscheinlich durch diese Frage erleichtert und beruhigt. »Es liefert mir vielleicht auch die unerwarteten und nicht sehr verheißungsvollen Mittel, die mir hier geboten werden. Ja. Für jede zuverlässige Mitteilung, die ich durch Euch erhalte, will ich zahlen. Aber ich muß sie zuerst hören, um ihren Wert beurteilen zu können.«

»Kennt Ihr nichts Mächtigeres als Geld?« fragte die Jüngere, ohne aufzustehen oder ihre Haltung zu verändern. »Hier nicht, sollte ich meinen«, sagte Mr. Dombey.

»Ich dächte, anderswo sollte Euch doch etwas Mächtigeres in den Weg getreten sein«, entgegnete sie. »Wißt Ihr nichts von dem Zorn eines Weibes?«

»Ihr habt eine vorlaute Zunge, Mädchen«, sagte Mr. Dombey.

»In der Regel nicht«, antwortete sie, ohne eine Spur von Aufregung zu zeigen. »Ich spreche jetzt mit Euch, damit Ihr uns besser verstehet und mehr auf uns baut. Der Zorn eines Weibes ist hier so ziemlich derselbe, wie in Eurem schönen Hause. Ich zürne – zürne seit vielen Jahren, und habe einen so guten Grund dafür, wie Ihr. Mein Zorn hat den nämlichen Mann zum Gegenstand.«

Er trat unwillkürlich zurück und blickte sie erstaunt an.

»Ja«, sagte sie mit einer Art Lachen. »So groß auch der Abstand zwischen uns scheinen mag, es ist dennoch so. Es liegt nichts daran, wie das kam; es ist ein Geheimnis, das ich für mich behalten will. Ich möchte Euch und ihn zusammenbringen, weil ich gegen ihn wüte. Meine Mutter ist geizig und arm; sie würde jede Nachricht, die sie auftreiben kann, kurz alles und jedes für Geld verkaufen. Es ist vielleicht nur billig, daß Ihr sie bezahlt, wenn sie Euch zu etwas verhilft, was Ihr zu wissen wünscht. Aber das ist nicht mein Beweggrund. Ich habe Euch diesen genannt, und er würde bei mir ebenso stark und mächtig fortwirken, wenn Ihr auch mit ihr um sechs Pence handeltet und feilschtet. Ich bin fertig. Meine vorlaute Zunge sagt nichts mehr, und wenn Ihr bis zum morgigen Sonnenuntergang hier wartetet.«

Die Alte, die während dieser Rede große Unruhe gezeigt hatte, weil sie davon eine Schmälerung ihres Gewinns fürchtete, zupfte Mr. Dombey sanft am Ärmel und flüsterte ihm zu, er solle nicht auf sie achten. Er schaute dann abwechselnd beide mit einem hohlen Blick an und sagte mit einer Stimme, die tiefer klang, als gewöhnlich:

»Fahrt fort – was wißt Ihr?«

»O, nicht so schnell, Euer Gnaden! Wir müssen zuvor noch jemand erwarten«, antwortete die Alte. »Die Kunde muß von einer dritten Person herausgeholt und ihr mit List entrungen werden.«

»Was meint Ihr damit?« fragte Mr. Dombey.

»Geduld«, krächzte sie, indem sie ihre Hand wie eine Klaue auf seinen Arm legte. »Geduld. Ich kriege es heraus. Ich weiß, es gelingt mir! Wollte er es mir vorenthalten«, sagte die gute Mrs. Brown, und die zehn Finger zuckten ihr, »so würde ich es ihm aus der Seele reißen!«

Mr. Dombey folgte ihr mit den Augen, während sie nach der Tür hinhumpelte und wieder hinausschaute. Dann suchte sein Blick die Tochter, die teilnahmslos, still und ohne seiner zu achten, dasaß.

»Ich muß Euch wohl so verstehen, Frau«, sagte er, als die gebeugte Gestalt der Mrs. Brown mit wackelndem Kopf und Kinn wieder zurückkehrte, »daß Ihr hier noch eine andere Person erwartet?«

»Ja!« sagte die Alte, zu seinem Gesicht aufschauend und nickend.

»Aus der Ihr die Kunde herausholen wollt, die mir nützlich sein soll?«

»Ja«, entgegnete die Alte mit einem abermaligen Nicken.

»Eine fremde Person?«

»Hoho!« sagte die Alte mit einem schrillen Lachen. »Was liegt daran? Doch nein, nicht fremd für Euer Gnaden. Aber er darf Euch nicht sehen. Er fürchtet sich vor Euch und würde nicht reden. Ihr müßt hinter jene Tür treten, damit Ihr Euch selbst ein Urteil bilden könnt. Wir verlangen nicht, daß Ihr eine Katze im Sack kauft. Wie – Euer Gnaden ist mißtrauisch gegen den Raum hinter der Tür? Ach, was für ein Argwohn von euch reichen vornehmen Leuten! So seht selbst nach.«

Ihr scharfes Auge hatte bei ihm eine unwillkürliche Äußerung dieses Gefühls entdeckt, das ihm unter den obwaltenden Umständen niemand verargen konnte. Um ihn übrigens zu beruhigen, nahm sie jetzt die Kerze nach der besprochenen Tür hin. Mr. Dombey schaute hinein und überzeugte sich, daß hier eine leere, elende Kammer war, und winkte dann der Alten, das Licht wieder auf den Tisch zu stellen.

»Wie lange kann es dauern, bis die von Euch erwartete Person kommt?« fragte er.

»Nicht lange«, lautete die Antwort. »Will Euer Gnaden nicht für ein paar Minuten Platz nehmen?«

Er erwiderte nichts, sondern begann in der Stube hin und her zu gehen, als sei er unschlüssig, ob er bleiben oder sich entfernen solle. Ja es schien sogar, als mache er sich im geheimen Vorwürfe, daß er überhaupt hier sei. Aber bald wurde sein Tritt langsamer und schwerer, sein Gesicht gedankenvoller, je mehr er sich den Zweck, weswegen er gekommen war, vergegenwärtigte.

Während er so mit zu Boden gesenkten Augen auf und ab schritt, setzte sich Mrs. Brown, die aufgestanden war, um ihn zu empfangen, wieder auf ihren Stuhl und lauschte abermals. Die Eintönigkeit seiner Tritte oder die Schwäche ihres Alters ließ sie einen Schritt von außen überhören, der dem scharfen Ohr ihrer Tochter nicht entgangen war, und diese schaute rasch auf, um ihre Mutter aufmerksam zu machen, obschon es einige Augenblicke dauerte, bis ihr das gelang. Dann aber sprang die Alte von ihrem Sitz auf, flüsterte ein »da ist er!«, drängte ihren Besuch nach seinem Beobachtungsposten und stellte mit größter Hast eine Flasche und ein Glas auf den Tisch, um Rob dem Schleifer schon auf der Schwelle um den Hals fallen zu können.

»Und da ist mein hübscher Junge«, rief Mrs. Brown. »Endlich! Oho, oho! Ihr seid mir wie mein eigener Sohn, Robby!«

»O! Misses Brown«, stellte der Schleifer vor, »laßt mich los! Könnt Ihr nicht einen jungen Bursch liebhaben, ohne ihm blaue Male zu drücken und ihn zu erdrosseln? Nehmt doch den Vogelkäfig in acht, den ich in meiner Hand habe – wollt Ihr so gut sein?«

»Er denkt vor mir an seinen Vogelkäfig!« rief die Alte, als rede sie die Decke an. »Vor mir, die mehr Liebe zu ihm hat, als eine Mutter!« »Gewiß, ich bin Euch ja recht dankbar dafür, Misses Brown«, sagte der unglückliche Jüngling mit einer Jammermiene; »aber was braucht Ihr so eifersüchtig zu sein? Ich habe Euch natürlich auch gern; aber folgt daraus, daß ich Euch würgen und ersticken muß?«

Er sprach das mit einem Gesicht, als hätte er gegen ein solches Verfahren nicht allzuviel einzuwenden, wenn sich eine günstige Gelegenheit dazu darböte.

»Und noch dazu von Vogelkäfigen reden!« wimmerte der Schleifer. »Als ob das ein Verbrechen sei. Nun, so schaut selbst her! Wißt Ihr, wem dieses gehört?«

»Eurem Herrn, mein Schatz?« versetzte die Alte mit einem Grinsen.

»Ja«, antwortete der Schleifer und machte einen großen, mit einem Tuch umwickelten Käfig auf dem Tisch frei, indem er die Knoten der Umhüllung mit Händen und Zähnen löste. »Es ist unser Papagei.«

»Mr. Carkers Papagei, Rob?«

»Wollt Ihr’s Maul halten, Misses Brown?« entgegnete der gereizte Schleifer. »Was braucht Ihr hier Namen zu nennen? Hole mich der Kuckuck«, fügte er hinzu und raufte in der Aufregung seiner Gefühle mit beiden Händen sein Haar, »wenn sie nicht imstande ist, einen jungen Burschen toll zu machen.«

»Wie, Ihr wollt mir mit Schelten kommen, undankbarer Junge!« rief die Alte mit rasch bereiter Heftigkeit.

»Ach du mein Himmel, Misses Brown«, entgegnete der Schleifer mit Tränen in den Augen. »Hat’s da je so ein – –! Wißt Ihr denn nicht, daß ich eigentlich in Euch vernarrt bin, Misses Brown!«

»Ist es wahr, mein lieber Rob? Ist es wahr, mein Schätzchen?«

Mit diesen Worten beglückte ihn Mrs. Brown abermals mit einer zärtlichen Umarmung und ließ ihn nicht los, bis er mehrere ungestüme, obschon vergebliche Anstrengungen mit seinen Beinen gemacht hatte und ihm alle Haare zu Berg standen.

»O!« entgegnete der Schleifer, »es ist was Schreckliches, wenn man so von der Liebe mißhandelt wird. Ich wollte, sie wäre – –. Nun, wie ist es Euch ergangen, Misses Brown?«

»Ach, schon volle acht Tage nicht hier gewesen!« sagte die Alte, ihn mit vorwurfsvollen Blicken musternd.

»Du mein Himmel, Misses Brown«, versetzte der Schleifer, »habe ich nicht das letztemal gesagt, ich wollte in acht Tagen wiederkommen? Und da bin ich. Wie könnt Ihr nur so reden? Nehmt doch ein bißchen Vernunft an, Misses Brown. Ich bin ganz heiser, weil ich so viel zu meiner Verteidigung sagen muß, und das Gesicht brennt mir von Eurer Umarmung.«

Er rieb sich die Backen mit dem Ärmel, als wolle er das Übermaß des fraglichen zarten Feuers ersticken.

»Erquickt Euch mit einem Tröpflein, mein Robin«, sagte die Alte, füllte aus der Flasche das Glas und schob es ihm hin.

»Danke, Misses Brown«, erwiderte der Schleifer. »Eure Gesundheit. Und möget Ihr lang – et cetera!« dem Ausdruck seines Gesichtes nach zu schließen, enthielt dies eben nicht den besten Glückwunsch. »Und auch ihre Gesundheit«, fügte der Schleifer mit einem Blick auf Alice hinzu, die, wie es ihm vorkam, ihre Augen auf die Wand hinter ihm heftete, obschon in Wirklichkeit die Richtung derselben dem Gesicht des hinter der Tür stehenden Mr. Dombey galt. »Ich wünsche ihr das gleiche und noch viel dazu!«

Mit diesen beiden Trinksprüchen leerte er das Glas und setzte es wieder nieder.

»Also, Misses Brown«, fuhr er fort, »um jetzt auf etwas Vernünftiges zu kommen. Ihr seid eine Vogelkennerin, wie ich auf eigne Kosten erfahren habe.«

»Kosten?« wiederholte Mrs. Brown.

»Zu meiner Freude, wollte ich sagen«, versetzte der Schleifer. »Wie Ihr doch gleich einem jungen Burschen jedes Wort auf die Wage legt. Misses Brown. Ihr habt mir alles wieder aus dem Kopf gejagt.«

»Eine Vogelkennerin, Robby?« bemerkte die Alte.

»Ja«, sagte der Schleifer. »Da soll ich nun für diesen Papagei sorgen. Gewisse Dinge kommen zum Verkauf, ein gewisses Hauswesen wird aufgelöst, und da ich vorderhand nicht wünsche, daß man von mir Notiz nehme, so wäre es mir lieb, wenn Ihr den Vogel für eine Woche oder so in Kost und Pflege nähmet. Wenn ich doch einmal ab- und zulaufen muß«, sprach der Schleifer mit niedergeschlagenem Gesicht vor sich hin, »so kann ich ebensogut etwas hier lassen, wegen dessen ich komme.«

»Wegen dessen Ihr kommt?« fragte schrill die Alte.

»Außer Euch, meine ich, Misses Brown«, erwiderte der verschüchterte Rob. »Natürlich nicht, daß ich außer Euch noch eines andern Anlasses bedürfte, Misses Brown. Um Gottes willen, fangt nur nicht wieder so an!«

»Er kümmert sich nicht um mich! Er macht sich nichts aus mir, obschon ich stets um ihn so sehr bekümmert bin!« rief Mrs. Brown, ihre häutigen Hände erhebend. »Aber ich will für seinen Vogel Sorge tragen.«

»Ja, sorgt nur recht gut für ihn, Mrs. Brown«, sagte Rob, den Kopf schüttelnd. »Ich glaube, man würde dahinter kommen, wenn Ihr ihm nur ein einziges Mal die Federn in falscher Richtung strichet.«

»Ah, so scharf also, Rob?« fragte Mrs. Brown hastig.

»Jawohl scharf, Misses Brown!« wiederholte Rob. »Aber nur mäuschenstill darüber.«

Er brach plötzlich ab und füllte, nicht ohne einen furchtsamen Blick durch das Zimmer gleiten zu lassen, das Glas von neuem, trank es langsam aus, schüttelte den Kopf und begann mit den Fingern langsam über die Drähte des Papageikäfigs hin und her zu fahren, um von dem gefährlichen Gegenstand, den er eben in Anregung gebracht hatte, abzulenken.

Die Alte faßte ihn schlau ins Auge, rückte ihren Stuhl näher an den seinen heran, lockte den Papagei herunter und sagte:

»Ohne Stelle jetzt, Robby?«

»Was kümmert das Euch, Misses Brown?« entgegnete der Schleifer kurz abgebrochen.

»Kostgeld vielleicht, Rob?« fragte Mrs. Brown.

»Hübsche Polly!« sagte der Schleifer.

Die Alte warf ihm einen Blick zu, der ihm hätte sagen können, daß seine Ohren in Gefahr seien. Aber jetzt war die Reihe an ihm, den Papagei zu locken, und wie ausdrucksvoll sich auch seine Einbildungskraft ihr Zürnen vergegenwärtigen mochte, blieb es doch seinen Augen verborgen.

»Es wundert mich, daß Euch Euer Herr nicht mitgenommen hat«, sagte die Alte mit einschmeichelnder Stimme, obschon sich in ihrem Gesicht erhöhte Bosheit ausdrückte.

Rob war in Betrachtung des Papageis und in sein Zupfen an den Drähten so vertieft, daß er keine Antwort gab.

Die Alte hatte ihre Kralle fast in seinem Haarschopf, hielt aber wieder inne und sagte im Tone erkünstelten Schmeichelns: »Robby, mein Kind.«

»Was wollt Ihr, Misses Brown?« versetzte der Schleifer.

»Ich sage, es wundert mich, warum Euch Euer Herr nicht mitgenommen hat, mein Schatz.«

»Geht Euch nichts an, Misses Brown«, erwiderte der Schleifer.

Im Augenblick hatte sich ihre rechte Hand in seinem Haar eingekrallt, während ihre linke an seiner Kehle saß; sie hielt den Gegenstand ihrer zärtlichen Liebe mit so außerordentlicher Wut fest, daß sein Gesicht sofort dunkel anlief.

»Misses Brown!« rief der Schleifer, »so laßt mich nur gehen! Was fällt Euch denn ein? Hilfe, Fräulein! Misses Brow – Brow –«

Das Fräulein jedoch, das sich weder durch Robs unmittelbaren Hilferuf, der ihr galt, noch durch den erstickten Ton seiner Stimme rühren ließ, blieb völlig neutral, bis endlich Rob nach einem langen Kampf in der Ecke sich von seiner Angreiferin losmachte. So stand er, von seinen vorgeschobenen Ellbogen geschützt, keuchend da, während die Alte gleichfalls keuchend und vor Wut mit den Füßen stampfend, ihre Kräfte zu einem abermaligen Sturm zu sammeln schien. In dieser Krisis ließ Alice ihre Stimme ertönen und sprach, freilich nicht zugunsten des Schleifers, die Worte:

»Recht so, Mutter. Reißt ihn in Stücke.«

»Wie, mein Fräulein«, heulte Rob, »seid auch Ihr gegen mich? Was habe ich denn getan und weswegen soll ich in Stücke zerrissen werden? Das möchte ich doch wissen. Warum packt und würgt Ihr einen jungen Burschen, der keinem von euch beiden je etwas zuleide getan hat? Und ihr wollt Damen sein!« fügte der erschrockene und bedrängte Schleifer bei, während er mit dem Rockärmel seine Augen bearbeitete. »Ich wundere mich über euch! Wo ist euer frauliches Zartgefühl?«

»Du undankbarer Hund!« keuchte Mrs. Brown. »Du unverschämter, höhnischer Schlingel!«

»Was hab‘ ich denn getan und wodurch habe ich Euch beleidigt, Misses Brown?« entgegnete Rob unter Tränen. »Vor einer Minute habe ich ja noch ganz in Eurer Gunst gestanden.«

»Mich so mit kurzen Antworten und trotzigen Reden abzufertigen!« sagte die Alte. »Ein solches Spiel mit mir zu treiben, weil ich ein bißchen über den Herrn und die Lady mit ihm plaudern möchte! Aber ich will nichts mehr von dir, Bursche. Geh‘ jetzt!«

»Gewiß, Misses Brown«, entgegnete der kriechende Schleifer, »ich habe in keiner Weise angedeutet, daß ich zu gehen wünsche. Redet doch bitte nicht so, Misses Brown!«

»Ich will gar nichts mehr mit ihm reden«, sagte Mrs. Brown, mit ihren gekrümmten Fingern in einer Weise ausholend, daß er sich in der Ecke auf die Hälfte seines natürlichen Umfangs zusammendrückte. »Kein Wort mit ihm soll mir je wieder über die Lippen kommen. Er ist ein undankbarer Hund, und ich sage mich los von ihm. Er kann jetzt gehen! Und ich will diejenigen nachschicken, die nur zu viel reden werden, die sich nicht abschütteln lassen, die wie Blutegel an ihm hängen und wie Füchse hinter ihm dreinjagen. Ja, er weiß wohl, wen ich meine. Er kennt seine alten Kameradenschaften und seine alten Spitzbübereien. Wenn er sie vergessen hat, werden sie ihn schon daran erinnern. Er soll jetzt nur fortgehen und sehen, ob er, wenn ihm eine solche Gesellschaft auf und nieder folgt, das Geschäft seines Herrn besorgen und seine Geheimnisse bewahren kann. Ha, ha, ha, er wird einen ganz andern Schlag in ihnen finden als in dir und mir, Ally, gegen die er so verschlossen ist. Fort jetzt – fort.«

Die Alte umlief den Schleifer zu dessen unaussprechlichem Entsetzen in einem Ring von ungefähr vier Fuß im Durchmesser, wiederholte unaufhörlich diese Worte, wackelte dabei mit dem Kinn und schüttelte ihre Faust über seinem Kopf.

»Misses Brown«, flehte Rob, der ein wenig aus seiner Ecke hervorkam, »besinnt Euch doch; gewiß, Ihr könnt einem armen Burschen nicht mit kaltem Blute etwas zuleide tun.«

»Nichts da«, sagte Mrs. Brown, zornig ihre Kreise fortsetzend, »Fort jetzt – fort mit ihm!«

»Misses Brown«, drängte der unglückliche Schleifer, »ich hatte ja nicht die Absicht, zu – o, was ist es nicht Schreckliches, wenn ein junger Bursche in eine solche Klemme kommt! – Ich habe mich nur deshalb vor dem Reden gehütet, Misses Brown, weil ich es stets tue, da er gleich hinter alles kommt; bei Euch aber hätte ich wissen können, daß es sich nicht weiter verbreitet. Gewiß, es macht mir Freude« – sein klägliches Gesicht drückte das Gegenteil aus – »ein bißchen mit Euch plaudern zu können, Misses Brown. Nur seid so gut, es nicht in dieser Art weiterzutreiben. Wollt Ihr nicht die Barmherzigkeit haben, für einen armen jungen Burschen ein gutes Wort einzulegen?« fügte der Schleifer in verzweifelndem Ton, zur Tochter gewandt, hinzu.

»Hört Ihr, was er sagt, Mutter?« legte sich Alice mit strenger Stimme und einer ungeduldigen Kopfbewegung ins Mittel. »Versucht es noch einmal mit ihm, und kommt er Euch wieder so, so mögt Ihr ihn meinetwegen zugrunde richten, damit man ihn für immer vom Halse hat.«

Mrs. Brown, die durch diese sehr zärtliche Ermahnung gerührt zu sein schien, begann sogleich zu heulen, wurde aber allmählich milder und schlang den sich rechtfertigenden Schleifer in ihre Arme. Letzterer erwiderte die Liebkosung mit einer Jammermiene und nahm als leibhaftiges Opfer den früheren Sitz an der Seite seiner ehrwürdigen Freundin wieder ein. Er gestattete ihr, nicht ohne viel erzwungene Süßigkeit, womit ganz andere sehr ausdrucksvolle Gesichtszüge in seinem Antlitz kämpften, seinen Arm in den ihren zu legen und ihn so festzuhalten.

»Und was macht Euer Herr, mein Schatz?« fragte Mrs. Brown, die nach der Aussöhnung in der erwähnten freundschaftlichen Haltung neben ihm saß.

»Pst! seid doch so gut, ein bißchen leiser zu reden, Misses Brown«, flehte Rob. »Danke Euch, ich glaube, es geht ihm ziemlich gut.«

»Ihr seid also nicht ohne Stelle?« fragte Mrs. Brown in einschmeichelndem Tone.

»Ei, nicht gerade ohne Stelle, obschon ich auch nicht sagen kann, daß ich eine habe«, stotterte Rob. »Ich – ich werde noch immer bezahlt, Misses Brown.«

»Und nichts zu tun, Rob?«

»Vorderhand nichts Besonderes, Misses Brown, als etwa mei – meine Augen offenzuhalten«, versetzte der Schleifer, der die erwähnten Organe verzweifelt umherrollen ließ.

»Der Herr ist verreist, Rob?«

»O, um des Himmels willen, Misses Brown, könnt Ihr nicht mit einem jungen Burschen über etwas anderes plaudern?« rief der Schleifer verzweifelt.

Da jetzt die ungestüme Mrs. Brown aufstehen wollte, hielt sie der gefolterte Rob stammelnd zurück.

»J – ja, Misses Brown«, sagte er. »Ich glaube, er ist verreist. Nach was schaut sie so hin?« sagte er mit Bezug auf die Tochter, deren Augen auf dem Gesicht hafteten, das jetzt hinter seinem Rücken wieder hereinschaute.

»Kehrt Euch nicht an sie, Junge«, entgegnete die Alte, die ihn festhielt, damit er sich nicht umwenden konnte, »Es ist so ihre Art – ihre Art. Erzählt mir, Rob. Habt Ihr nie die Lady gesehen, mein Schätzchen?«

»O, Misses Brown, welche Lady?« rief der Schleifer im Ton der de- und wehmütigsten Bitte.

»Welche Lady?« erwiderte sie. »Die Lady – Mrs. Dombey.«

»Ja, ich glaube, ich habe sie einmal gesehen«, versetzte Rob.

»In der Nacht ihrer Abreise, he, Robby?« rief ihm die Alte ins Ohr, während sie zugleich jede Veränderung in seinem Gesicht aufmerksam beobachtete. »Aha! ich sehe, es war in jener Nacht.«

»Wenn Ihr es schon wißt, Misses Brown«, entgegnete Rob, »wozu nützt es dann, einem armen Burschen die Daumschrauben anzulegen, bis er es sagt?«

»Wohin gingen sie in jener Nacht, Rob? Gerad heraus? Wie reisten sie? Wo habt Ihr sie gesehen? Lachte oder weinte sie? Erzählt mir alles«, rief die alte Hexe, indem sie ihn noch fester hielt, die Hand, die sie in seinen Arm gelegt hatte, mit der andern streichelte und mit ihren Triefaugen jeden Zug seines Gesichts forschend prüfte. »Na, fangt an! Ich möchte die ganze Geschichte hören. Ei, Rob, mein Junge – Ihr und ich, wir beide können doch wohl ein Geheimnis bewahren? Es ist ja nicht das erstemal. Wohin gingen sie, Rob?«

Der unglückliche Schleifer keuchte und blieb stumm.

»Seid Ihr taub?« fragte die Alte zornig.

»Gott behüte, Misses Brown! Aber verlangt Ihr denn, ein junger Bursche solle ein Blitzstrahl sein? Ich wollte, ich wäre selbst Elektrizität«, murmelte der verwirrte Schleifer. »Wie wollt‘ ich auf gewisse Personen losfahren und ihnen das Handwerk legen.«

»Was sagt Ihr?« fragte die Alte mit einem Grinsen.

»Ich wünsche Euch alles Gute, Misses Brown«, entgegnete der falsche Rob, sich aus dem Glase Trost holend. »Wo sie zuerst hingingen, fragt Ihr? Ihr meint doch ihn und sie?«

»Ja, sie beide«, sagte die Alte hastig.

»Nun, sie gingen nirgends hin – d.h. miteinander«, antwortete Rob.

Die Alte sah ihn an, als habe sie gute Lust, mit ihren Krallen ihm abermals in die Haare und an die Kehle zu fahren, hielt aber inne, da sie ein gewisses störrisches Heimlichtun in seinem Gesicht merkte.

»Das war eben der Kniff dabei«, sagte der widerstrebende Schleifer, »daß sie niemand gehen sah, folglich auch niemand sagen kann, wie sie fortkamen. Sie schlugen verschiedene Wege ein, Misses Brown.«

»Ach so, um an einem zum voraus bezeichneten Ort zusammenzutreffen«, kicherte die Alte nach einem kurzen Schweigen und einer scharfen Musterung seines Gesichtes.

»Nun, wenn sie nicht irgendwo zusammentreffen wollten, so denke ich, hätten sie ebensogut zu Hause bleiben können – meint Ihr nicht. Misses Brown?« entgegnete der Schleifer ungeduldig.

»Was weiter, Rob? was weiter?« sagte die Alte, seinen Arm noch dichter an sich ziehend, als fürchte sie in ihrer Begier, er könnte ihr entschlüpfen.

»Haben wir denn noch nicht genug geschwatzt, Misses Brown?« entgegnete der Schleifer, der im Gefühl der erlittenen Kränkung, der Folter, auf der er lag, und unter dem Einflüsse des Branntweins so tränenreich geworden war, daß er bei fast jeder Antwort mit dem Rockärmel entweder das eine oder das andere seiner Augen auswischte, während zugleich ein vergebliches Winseln als Gegenbitte dienen mußte. »Ob sie in jener Nacht gelacht habe, wolltet Ihr wissen? Habt Ihr nicht gefragt, ob sie lachte, Misses Brown?«

»Oder weinte«, setzte die Alte mit bejahendem Kopfnicken hinzu.

»Keines von beiden«, sagte der Schleifer. »Sie benahm sich so ruhig, als sie und ich – o, ich sehe, Ihr habt’s darauf abgesehen, alles aus mir herauszukriegen, Misses Brown! Aber Ihr müßt mir zuvor einen feierlichen Eid schwören, daß Ihr es niemandem mitteilen wollt.«

Mrs. Brown ging sehr bereitwillig darauf ein, natürlich mit einem jesuitischen Vorbehalt; denn sie hatte in der ganzen Sache keine andere Absicht, als daß der verborgene Gast selbst Zeuge sei.

»Gut also, sie verhielt sich so ruhig wie eine Bildsäule, als sie und ich nach Southampton hinuntergingen. Am Morgen war es genau so wieder das gleiche, Misses Brown, und ebenso zeigte sie sich, als sie vor Tagesanbruch ohne Begleitung in dem Dampfschiff abreiste. Ich mußte ihren Diener vorstellen und sie sicher an Bord begleiten. Jetzt könntet Ihr doch zufrieden sein, Mrs. Brown?«

»Nein, Rob, noch nicht«, antwortete Mrs. Brown entschieden.

»O, was Ihr doch für eine Frau seid!« rief der unglückliche Rob in einem schwachen Ausbruch von Wehklagen über seine eigene Hilflosigkeit. »Und was wünscht Ihr weiter zu wissen, Misses Brown?«

»Was aus dem Herrn geworden ist – wo er hinging«, entgegnete sie, ihn noch immer festhaltend und das spähende Auge nicht von seinem Gesicht abwendend.

»Bei meiner Seele, ich weiß es nicht, Misses Brown«, antwortete Rob. »Bei meiner Seele, ich weiß nicht, was er tat oder wohin er ging – überhaupt nichts von ihm. Aber noch immer klingt mir in den Ohren, was er mir beim Abschied als Warnung sagte, und ich will Euch als Freund mitteilen, Mrs. Brown, ehe Ihr eine Silbe von dem, was hier gesprochen wurde, über die Lippen gleiten lasset, würdet Ihr besser tun, Euch zu erschießen oder Euch in diesem Haus einzusperren und es anzuzünden. Es gibt nämlich nichts, was er nicht tun würde, um sich an Euch zu rächen. Ihr kennt ihn nicht halb so gut wie ich, Misses Brown, und seid keinen Augenblick vor ihm sicher, kann ich Euch sagen.«

»Habe ich nicht einen Eid geschworen«, erwiderte die Alte, »und werde ich ihn nicht halten?«

»Ich will das freilich von Euch hoffen, Misses Brown«, versetzte Rob etwas zweifelnd und nicht ohne eine geheime Drohung in seinem Benehmen, »um Euretwillen selbst so gut, als um meinetwillen.«

Er sah sie bei dieser freundlichen Warnung an und gab seinen Worten durch ein Nicken mit dem Kopf noch mehr Nachdruck. Da es ihm aber unbehaglich wurde, dem gelben Gesicht mit dem wackelnden Kinn und den ihm so nahen Triefaugen mit ihrem scharfen winterlichen Blick zu begegnen, so schaute er unruhig auf den Boden und rückte mit dem Stuhl hin und her, als versuche er, sich zu der Erklärung zu ermutigen, daß er keine weiteren Fragen mehr beantworten könne. Die Alte, die ihn noch immer festhielt, benützte diese Gelegenheit, um den Zeigefinger ihrer rechten Hand zu erheben, – ein geheimes Zeichen für den versteckten Zeugen, daß er dem, was jetzt folgen werde, besondere Aufmerksamkeit zuwenden solle.

»Rob«, sagte sie in ihrem einschmeichelndsten Tone.

»Ach, lieber Himmel, Misses Brown, was soll es denn jetzt wieder?« erwiderte der aufgebrachte Schleifer.

»Rob, wohin haben sich die Lady und dein Herr bestellt?«

Rob rückte noch mehr hin und her, sah aufwärts und abwärts, nagte an seinem Daumen, zupfte an seiner Weste und sagte endlich, während er einen schielenden Blick nach seinem Quälgeist hinschießen ließ: »Wie sollte ich das wissen, Misses Brown?«

Die Alte erhob wieder wie zuvor ihren Finger und versetzte:

»Unsinn, Junge, wozu auch mich so weit führen und dann plötzlich stille stehen? Ich will es wissen.«

Sie wartete auf Antwort, bis endlich Rob nach einer Pause der Trostlosigkeit plötzlich losbrach:

»Wie kann ich die Namen fremder Orte aussprechen, Misses Brown! Was Ihr doch für eine unvernünftige Frau seid!«

»Aber Ihr habt ihn nennen hören, Robby«, entgegnete sie beharrlich, »und wißt also, wie er klang. Nur heraus damit!«

»Ich habe ihn nicht nennen hören, Misses Brown«, versetzte der Schleifer.

»Dann habt Ihr ihn geschrieben gelesen und könnt ihn buchstabieren«, erwiderte die Alte hastig.

Mit einem ärgerlichen Ausruf, der zwischen Lachen und Weinen mitten innen schwebte – denn Mrs. Browns Schlauheit erfüllte ihn einigermaßen mit Bewunderung, obschon ihn ihre Zudringlichkeit im höchsten Grade reizte – brachte er nach einigem verdrießlichen Suchen in seiner Westentasche ein kleines Stück Kreide zum Vorschein. Die Augen der Alten funkelten, als sie dieses Schreibmaterial zwischen seinem Daumen und Zeigefinger sah, und während sie hastig den tannenen Tisch abräumte, damit er das Wort hinzeichnen könne, gab sie abermals mit ihrer zitternden Hand ein Zeichen.

»Ich will Euch jetzt zum voraus sagen, wie es ist, Misses Brown«, erwiderte Rob. »Es nützt nichts, weitere Fragen an mich zu stellen. Ich werde auf keine mehr antworten, da ich es nicht kann. Wie lang es dauern sollte, bis sie zusammentrafen, oder von wem der Plan der getrennten Reise ausging, weiß ich ebensowenig als Ihr. Ja, ich weiß nichts davon. Wenn ich Euch sagte, wie ich jenes Wort aufgefunden, so würdet Ihr mir das aber schon glauben. Soll ich es Euch sagen, Misses Brown?«

»Ja, Rob.«

»Nun schön, Misses Brown. Die Art – aber wohl gemerkt, Ihr dürft mich jetzt nichts mehr fragen«, sagte Rob, seine Augen, die jetzt schläfrig und dumm wurden, ihr zuwendend.

»Kein Wort weiter«, versetzte Mrs. Brown.

»Also denn, die Art war folgende. Als ein gewisser Jemand die Lady mir überantwortete, drückte er dieser ein Stück Papier mit einer Adresse in die Hand für den Fall, daß sie dieselbe vergessen sollte. Die Lady schien das nicht für nötig zu halten; denn sie zerriß, sobald er fort war, das Blättchen in Fetzen, und als ich den Wagentritt aufschlug, fiel einer der Fetzen herunter; die übrigen streute sie vermutlich zum Fenster hinaus. Es lag nämlich nachher keiner mehr da, obschon ich mich danach umsah. Es stand nur ein einziges Wort darauf, und es war so geschrieben – wenn Ihr es doch einmal wissen wollt und müßt. Aber wohl gemerkt, Ihr habt einen Eid geschworen, Misses Brown!«

Das wisse sie, entgegnete Mrs. Brown, und Rob, der nun nichts mehr zu sagen hatte, begann langsam und mit Mühe Buchstaben auf den Tisch zu zeichnen.

»› D‹«, las die Alte laut, sobald Rob mit dem ersten fertig war.

»Wollt Ihr das Maul halten, Misses Brown?« rief der Schleifer, das Geschriebene mit der Hand zudeckend und sich ungeduldig gegen sie umwendend, »Ich will nicht haben, daß es laut gelesen wird. Seid stille!«

»So schreibt groß, Rob«, versetzte sie, indem sie ihr geheimes Signal wiederholte, »denn meine Augen sind nicht gut, sogar bei dem Gedruckten.« Vor sich hinmurmelnd und ärgerlich sein Geschäft wieder aufnehmend, fuhr Rob in dem Schreiben des Wortes fort. Während sein Kopf niedergebeugt war, trat der Herr, für dessen Belehrung er, ohne daß er es wußte, arbeitete, durch die Tür heraus bis auf einen kurzen Schritt an seine Schulter heran und blickte hastig auf die Linien, die seine Hand langsam auf den Tisch hinmalte. Zu gleicher Zeit gab Alice von dem gegenüberstehenden Stuhle aus sorgfältig acht, wie er die Buchstaben bildete, und wiederholte jeden, sobald er dastand, mit den Lippen, ohne ihn übrigens laut auszusprechen. Nach jedem Buchstaben begegneten ihre Augen denen von Mr. Dombey, als suchten sie eine wechselseitige Bestätigung, und so buchstabierten beide D.I.J.O.N.

»So!« sagte der Schleifer, hastig seine Handfläche anfeuchtend, um das Wort wieder auszulöschen. Und nicht zufrieden mit dem Zusammenschmieren, zerrieb und vertilgte er jede Spur mit seinem Rockärmel, bis sogar alles Weiß der Kreide vom Tisch verschwunden war. »Ich hoffe, Ihr seid jetzt zufriedengestellt, Misses Brown!«

Zum Zeichen der Bejahung ließ die Alte jetzt seinen Arm los und klopfte ihm auf den Nacken. Der Schleifer aber, von dem Ärger, dem Verhör und dem Branntwein ganz überwältigt, kreuzte auf dem Tisch seine Arme, legte den Kopf darauf und schlief ein.

Erst nachdem er eine Weile laut geschnarcht hatte, wandte sich die Alte nach der Tür, hinter der Mr. Dombey verborgen stand, und winkte ihm, daß er jetzt herauskommen und gehen könne. Doch selbst dann noch beugte sie sich über Rob nieder, als wolle sie ihm die Augen zuhalten oder den Kopf niederstoßen, falls er diesen erhob, während der leise Tritt sich nach der Tür hinbewegte. Aber obgleich sie den Schläfer scharf bewachte, verwandte sie keinen Blick von dem Wachenden, und als er ihre Hand mit der seinen berührte, bei welcher Gelegenheit trotz aller Vorsicht ein Klimpern wie von Gold hörbar wurde, funkelten ihre Augen so gierig, wie die eines Raben.

Der dunkle Blick der Tochter folgte ihm nach der Tür, und es entging ihr nicht, wie blaß er aussah, und wie sein hastiger Schritt darauf deutete, daß das mindeste Zögern ihm ein unerträglicher Zwang sei, und daß er vor Verlangen brenne, rasch zu handeln. Nachdem er die Klinke hinter sich zugedrückt hatte, sah sie sich nach ihrer Mutter um. Die Alte kam auf sie zu, öffnete ihre Hand, um zu zeigen, was darin sei, schloß sie aber sogleich wieder in geiziger Eifersucht und flüsterte:

»Was wird er anfangen, Ally?«

»Unheil«, sagte die Tochter.

»Mord?« fragte die Alte.

»Er ist in seinem verwundeten Stolz ein Wahnsinniger, und wer weiß, es kann wohl so weit kommen.«

Ihr Blick war noch funkelnder als der ihrer Mutter, und das Feuer ihrer Augen leuchtete lebhafter. Aber ihr Gesicht zeigte eine Leichenblässe, die sich selbst über die Lippen breitete.

Sie sprach nicht weiter, sondern blieb beiseite sitzen. Die Mutter machte sich mit ihrem Geld zu schaffen, die Tochter aber gab sich ihren Gedanken hin, und beider Blicke leuchteten in dem Düster der schwach erhellten Stube. Rob schlief und schnarchte weiter. Nur der unbeachtete Papagei war in Tätigkeit. Er zupfte und zerrte mit seinem krummen Schnabel an den Drähten des Käfigs, kletterte nach der Wölbung hinauf und an dem Dache hin wie eine Fliege, warf sich wieder köpflings herunter und rüttelte, biß und rasselte an jedem dünnen Stabe, als kenne er die Gefahr, die seinem Herrn drohte, als wolle er sich mit Gewalt befreien, um fortzufliegen und ihn zu warnen.

Dreiundfünfzigstes Kapitel.


Dreiundfünfzigstes Kapitel.

Weitere Nachricht

Von dem Blut des Verräters gab es zwei Personen, der verstoßene Bruder und seine Schwester, auf denen damals das Gewicht seiner Schuld fast noch schwerer lastete, als auf dem Mann, den er so tief gekränkt hatte. Die luchsäugige, anspruchsvolle Welt leistete Mr. Dombey den Dienst, daß sie ihn zu Beharrlichkeit in seiner Rache spornte. Sie weckte seine Leidenschaftlichkeit, stachelte seinen Zorn, brachte die einzige Idee seines Lebens in eine neue Form und machte die Befriedigung seines Zornes zu einem Gegenstand, in dem sein ganzes geistiges Dasein aufging. Der abstoßende Scharfsinn seines Wesens, seine unnahbare Härte, sein mürrisches Düster, das übertriebene Gefühl von persönlicher Wichtigkeit und die eifersüchtige Geneigtheit, auch den mindesten Mangel in der unterwürfigen Anerkennung seines hohen Ichs zu strafen – alles das trat gleich vielen Strömen in einen zusammen und riß ihn auf seiner Flut mit fort. Die ungestümste Leidenschaftlichkeit des menschlichen Geschlechts war nur ein milder Feind in Vergleich mit dem finstern Mr. Dombey, in dem so viele Kräfte zusammenwirkten. Eine wilde Bestie hätte sich leichter beschwichtigen lassen, als der ernste Gentleman ohne eine Falte in seiner gestärkten Halsbinde.

Doch schon die Glut des Entschlusses wurde fast ein Ersatz für die Tätigkeit. Solange er den Schlupfwinkel des Verräters nicht kannte, diente diese dazu, seinen Geist von dem eigenen Unglück abzulenken und ihn mit einer andern Aussicht zu unterhalten. Dem Bruder und der Schwester des treulosen Günstlings stand keine solche Stütze zu Gebot; denn ihre ganze vergangene und gegenwärtige Geschichte verlieh dem Verbrechen eine nur um so betrübendere Bedeutung für sie.

Die Schwester machte sich vielleicht hin und wieder wehmütige Gedanken, daß er nicht so tief gefallen sein würde, wenn sie als Freundin und Gefährtin bei ihm geblieben wäre. Gleichwohl bereute sie ihren Schritt nicht, da sie die Überzeugung hegte, ihre Pflicht getan zu haben, und diese erschien ihr nicht einmal in dem Licht eines Opfers. So oft aber diese Möglichkeit sich ihrem verirrten, reuigen Bruder vergegenwärtigte, schnitt es ihm so scharf und vorwurfsvoll ins Herz, daß er es kaum zu ertragen vermochte. Er dachte nicht entfernt daran, seinen grausamen Bruder anschuldigen zu wollen, sondern klagte in seinem Innern nur aufs neue über seine eigene Wertlosigkeit und überhäufte sich mit Vorwürfen über das durch eigene Schuld herbeigeführte Verderben, obschon es ihm zu einigem Trost gereichte, daß er dann nicht allein dastand.

An demselben Tag, mit dessen Ende unser letztes Kapitel geschlossen hat, als Mr. Dombeys Welt mit der Entführung seiner Frau sich so viel zu schaffen machte, wurde das Fenster des Zimmers, in dem der Bruder und die Schwester bei ihrem Frühstück saßen, durch den unerwarteten Schatten eines Mannes verdunkelt, der auf die kleine Laube zukam. Der Mann war Perch, der Bote.

»Ich bin früh von Balls Pond aufgebrochen«, sagte Mr. Perch, der vertraulich zur Zimmertür hereinsah und auf der Matte haltmachte, um von allen Seiten seine Schuhe zu säubern, obschon sie nicht schmutzig waren, »um einem Auftrag von gestern abend nachzukommen. Ich soll Euch, Mr. Carker, ein Billett überbringen, ehe Ihr ausgeht. Das wäre schon vor anderthalb Stunden geschehen«, fügte er unterwürfig hinzu, »wenn mich nicht der Gesundheitszustand meiner Frau abgehalten hätte; denn ich kann Euch versichern, daß ich letzte Nacht fünfmal meinte, ich werde sie verlieren.«

»Ist Eure Frau so schwer krank?« fragte Harriet.

»Ja, seht Ihr«, antwortete Mr. Perch, nachdem er sich umgewandt hatte, um die Tür zu schließen, »sie nimmt sich die Vorgänge in unserm Haus so gar zu Herzen, Miß. Sie greifen ihre zarten Nerven an und spannen sie völlig ab. Freilich, auch die stärksten Nerven können durch solche Dinge erschüttert werden, und ohne Zweifel fühlt Ihr das selbst auch.«

Harriet unterdrückte einen Seufzer und blickte nach ihrem Bruder hin.

»Ich bin nur ein geringer Mann«, fuhr Mr. Perch mit einem Kopfschütteln fort, »aber doch fühle ich mich in einer Art angegriffen, wie ich es kaum für möglich gehalten hätte. Es übt fast die Wirkung des Trinkens auf mich aus; denn jeden Morgen ist es mir buchstäblich, als ob ich abends zuvor mehr zu mir genommen hätte, als mir gut ist.«

Diese Angabe wurde durch Mr. Perchs Aussehen bestätigt; denn es zeigte sich an ihm eine Art fieberischer Erschlaffung, wie man sie nach zu vielem Branntweingenuß bemerkt. Die Mattigkeit hatte auch ohne Zweifel ihren Grund in dem Umstand, daß er sich so oft in den Schenkstuben der Wirtshäuser sehen ließ, wo er Tag für Tag traktiert und ausgefragt wurde.

»Ich kann mir daher wohl eine Vorstellung machen«, fuhr Mr. Perch, der abermals den Kopf schüttelte, in eintönigem Gemurmel fort, »von den Gefühlen jemandes, der durch diese höchst peinliche Enthüllung in eine so eigentümliche Lage versetzt wurde.«

Mr. Perch wartete, ob man sich ihm nicht anvertraute, und da dies nicht geschah, so hustete er hinter seiner Hand. Das führte zu nichts, weshalb er das Experiment hinter seinem Hut wiederholte, und da auch das nicht half, so setzte er den Hut auf den Boden und suchte in seiner Brusttasche nach dem Brief.

»Wenn ich mich recht erinnere, so bedarf es keiner Antwort«, sagte Perch mit freundlichem Lächeln; »aber vielleicht seid Ihr so gut, einen Blick hineinzuwerfen, Sir.«

John Carker erbrach das Siegel, das das des Mr. Dombey war, nahm von dem Inhalt Einsicht und erwiderte dann kurz abgebrochen:

»Nein. Es ist keine Antwort nötig.«

»Dann will ich Euch guten Morgen wünschen, Miß«, sagte Perch, einen Schritt nach der Tür hin machend, »und hoffe natürlich, daß Ihr Euch durch die letzte schmerzliche Enthüllung im Geist nicht mehr angreifen lasset, als Ihr es eben vermögt. Die Zeitungen«, fügte er hinzu, indem er wieder zwei Schritte zurücktrat und in einem geheimnisvollen Flüstern sowohl Bruder als Schwester anredete, »sind auf Neuigkeiten darüber begieriger, als Ihr für möglich halten würdet. Einer von den Zeitungsreportern in blauem Mantel und weißem Hut, der mich schon früher bestechen wollte – ich brauche Euch wohl nicht zu sagen, mit welchem Erfolg – trieb sich noch gestern abend zwanzig Minuten nach acht Uhr in unserm Hof herum. Ich habe selbst gesehen, wie er zum Schlüsselloch des Kontors hineinguckte, obschon er da nicht viel erholte, weil es ein Patentschloß ist und man daher nicht durchsehen kann. Ein anderer in militärischem Frack«, sagte Mr, Perch, »ist den ganzen lieben Tag in der Gaststube des ›königlichen Wappens‹. Ich ließ dort letzte Woche zufälligerweise eine kleine Bemerkung fallen und am nächsten Morgen, der ein Sonntag war, mußte ich sie zu meinem größten Erstaunen gedruckt lesen.«

Mr. Perch griff wieder an seine Brusttasche, als wolle er den Artikel hervorholen, zog aber, da er keine Ermunterung dazu erhielt, seine Biberhandschuhe heraus, langte nach seinem Hut und verabschiedete sich. Aber noch vor Mittag hatte er vor verschiedenen auserlesenen Zuhörern im ›Königswappen‹ und anderswo getreulich berichtet, wie Miß Carker in Tränen ausbrach, seine beiden Hände gefaßt und gesagt habe: »O, mein lieber, lieber Perch, Euer Anblick ist der einzige Trost, der mir geblieben ist!« wahrend von Mr. John Carker mit feierlicher Stimme hinzugefügt worden sei: »Perch, ich sage mich los von ihm! Laßt mich nie wieder aus Eurem Munde hören, daß ich einen Bruder habe!«

»Lieber John«, sagte Harriet, als sie allein waren, nach einem kurzen Schweigen, »das Schreiben enthält wohl eine schlimme Nachricht?«

»Ja. Aber keine unerwartete«, versetzte er. »Ich habe den Schreiber gestern gesehen.«

»Den Schreiber?«

»Mr. Dombey. Er kam zweimal durch das Kontor, während ich dort war. Es gelang mir früher, ihm auszuweichen, aber ich konnte natürlich nicht hoffen, daß mir dieses auf die Dauer möglich sein werde. Es ist auch natürlich, daß meine Anwesenheit einen unangenehmen Eindruck auf ihn macht, und ich sagte mir das selbst.«

»Hat er sich so gegen dich ausgesprochen?«

»Nein; er sagte nichts. Aber ich bemerkte, daß sein Blick einen Augenblick auf mir ruhte, und machte mich auf das gefaßt, was kommen würde und was jetzt wirklich eingetroffen ist. Ich bin entlassen.«

Sie suchte ihre Erschütterung zu verbergen und eine möglichst hoffnungsvolle Miene anzunehmen. Aber die Neuigkeit war aus vielen Gründen sehr betrübend.

»›Ich brauche Euch nicht zu sagen‹«, las John Carker vor, »›warum Euer Name, in wie ferner Beziehung er auch zu dem meinen stünde, hinfort einen unnatürlichen Klang haben müßte, oder warum der tägliche Anblick eines Mannes, der ihn führt, mir unerträglich sein muß. Ich bedeute Euch deshalb, daß von heute an jedes Geschäftsverhältnis ein Ende hat, und verlange, daß von Eurer Seite keine Erneuerung irgendeines Verkehrs mit mir oder meinen Leuten versucht werde.‹ – Der Einschluß enthält eine Entschädigung für eine anständige Kündigungsfrist, und das ist meine Entlassung. Der Himmel weiß, Harriet, wenn wir alles bedenken, so hat er sich anständig und rücksichtsvoll benommen.«

»Wenn es anständig und rücksichtsvoll ist, John, dich wegen der Untat eines andern zu bestrafen, so muß ich beistimmen«, versetzte sie sanft.

»Wir sind ein unglückbringendes Geschlecht für ihn gewesen«, sagte John Carker. »Er hat Grund, schon vor dem Ton unseres Namens zu erschrecken und zu denken, daß Fluch und Sünde in unserm Blut liegen. Ich würde es fast selbst auch glauben, Harriet, wenn du nicht wärest.«

»Sprich nicht so, Bruder. Wenn du, wie du sagst und glaubst, – obschon ich dir widersprechen muß, – einen besonderen Grund hast, mich zu lieben, so erspare mir das Anhören so wilder, wahnsinniger Worte!«

Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen, ließ es sich aber gefallen, als seine Schwester, ihm näher kommend, eine derselben mit der ihrigen ergriff.

»Ich weiß, es ist traurig, nach so vielen Jahren in solcher Weise verabschiedet zu werden«, sagte Harriet, »und die Veranlassung dazu ist für uns beide schrecklich. Auch müssen wir leben und uns deshalb nach den erforderlichen Mitteln umsehen. Nun ja; wir können das ungescheut tun. Wir können stolz darauf sein und es nicht als Unglück betrachten, John, wenn wir gemeinschaftlich ringen und streben.«

Mit einem Lächeln, das auf ihren Lippen spielte, küßte sie seine Wange und bat ihn, getrost zu sein.

»O, meine liebe Schwester, daß du dich freiwillig an einen zugrunde gerichteten Mann anschließen mußtest, dessen Ruf dahin ist, der keinen Freund besitzt und all die Deinen verscheucht hat!«

»John!« Sie legte hastig ihre Hand auf seine Lippen, »um meinetwillen! Denke an unser langes Zusammenleben!« Er schwieg. »Ich muß dir etwas sagen, mein Lieber«, und sie setzte sich ruhig an seiner Seite nieder. »Wie du, habe auch ich dies erwartet, und während ich mir ängstlich Gedanken darüber machte und mich so gut wie möglich auf das Schlimmste gefaßt hielt, nahm ich mir vor, dir, im Falle es so weit käme, zu eröffnen, daß ich lange ein Geheimnis vor dir bewahrte, und daß wir wirklich einen Freund haben.«

»Und der Name unseres Freundes, Harriet?« antwortete er mit sorgenvollem Lächeln.

»Ich kenne ihn nicht, aber er versicherte mich einmal auf das angelegentlichste seiner Freundschaft und erklärte sich bereit, uns zu nützen. Ich setze vollen Glauben in ihn!«

»Harriet!« rief ihr Bruder verwundert, »wo wohnt dieser Freund?«

»Auch das ist mir unbekannt«, entgegnete sie. »Aber er kennt uns beide und unsere Geschichte – unsere ganz kleine Geschichte, John. Das ist der Grund, warum ich seiner eigenen Andeutung gemäß sein Hierherkommen vor dir verbarg, damit dieses sein Mitwissen dir nicht schmerzlich werde.«

»Sein Hierherkommen, Harriet? Er ist also hier gewesen?«

»Ja, in diesem Zimmer. Einmal.«

»Was ist es für ein Mann?«

»Nicht jung, ›grauköpfig‹, wie er sagt, ›und immer grauer werdend‹. Aber gewiß von Charakter edel, offen und gut.«

»Und du hast ihn nur ein einziges Mal gesehen, Harriet?«

»In diesem Zimmer nur einmal«, sagte seine Schwester, und eine leichte Glut überflog ihre Wangen; »aber als er hier war, bat er mich, ihm zu gestatten, daß er mich einmal in der Woche im Vorbeigehen sehen dürfe, zum Zeichen unseres Wohlbefindens und zum Zeichen, daß wir seine Hilfe nicht nötig hätten. Denn ich sagte ihm, als er uns jeden ihm möglichen Dienst anbot – das war der Zweck seines Besuchs – daß wir nicht in Not seien.«

»Und einmal wöchentlich – –«

»Seitdem ist er einmal in der Woche, stets an dem gleichen Tag und um dieselbe Stunde vorübergekommen. Er kam immer zu Fuß, schlug jedesmal dieselbe Richtung ein, nach London nämlich, und hielt sich nie länger auf, als um mir eine Verbeugung zu machen und mir heiter zuzuwinken, wie es etwa ein freundlicher Vormund tun würde. Er versprach dieses, als er das seltsame Wiedersehen vorschlug, und hat so treulich Wort gehalten, daß ich, wenn ich je anfangs ein wenig unruhig darüber war – ich glaube es aber kaum, John, denn sein Benehmen war so gar einfach und redlich – mich bald zufrieden geben konnte. Ja, ich freute mich sogar auf diesen Tag. Letzten Montag – der erste nach jenem schrecklichen Ereignis – kam er nicht vorbei, und ich möchte wohl wissen, ob sein Ausbleiben in irgendeiner Weise mit dem Vorgefallenen in Verbindung stehen kann.«

»In welcher Weise?« fragte ihr Bruder.

»Ich weiß nicht, habe mir aber Gedanken über das Zusammentreffen gemacht und es zu erklären versucht. Ich fühle mich überzeugt, daß er wieder kommen wird. Geschieht das, lieber John, so will ich ihm sagen, daß ich endlich mit dir gesprochen habe, und du erlaubst mir sodann, dich mit ihm zusammenzubringen. Er wird uns gewiß zu einem neuen Lebensunterhalt verhelfen. Er bat, es möchte ihm gestattet werden, etwas beizutragen, um mir und dir das Leben zu erleichtern, und ich versprach ihm, wenn wir je eines Freundes bedürfen, so wolle ich seiner eingedenk sein. Dann brauche er auch seinen Namen nicht mehr zu verheimlichen.«

»Harriet«, sagte ihr Bruder, der mit größter Aufmerksamkeit zugehört hatte – »beschreibe mir diesen Herrn. Ich möchte doch den kennenlernen, der mich so gut kennt.«

Seine Schwester schilderte so lebhaft, wie sie konnte, das Gesicht, die Gestalt und den Anzug des Besuchs. Aber John Carker vermochte das ihm vorgeführte Porträt nicht zu erkennen, sei es, weil das Original ihm fremd, weil die Schilderung mangelhaft oder weil er, während er in Gedanken vertieft auf und ab ging, zu zerstreut war.

Sie machten aber unter sich aus, daß er beim nächsten Besuch das Original sehen solle; und dann ging die Schwester mit weniger bedrücktem Herzen an ihre Haushaltungsgeschäfte, während der grauhaarige Mann, kürzlich noch der Junior in Dombeys Hause, den ersten Tag seiner ungewohnten Freiheit der Besorgung des Gartens widmete.

Es war schon spät abends, und der Bruder las seiner Schwester, die ihre Nadel in Tätigkeit setzte, laut vor, als sie plötzlich durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen wurden. In der Atmosphäre einer unbestimmten Angst und Furcht, die im Hinblick auf den flüchtigen Bruder sie umschwebte, jagte dieser so ungewöhnliche Schall ihnen fast Schrecken ein. John ging nach der Tür, und Harriet blieb in furchtsamem Lauschen sitzen. Es sprach jemand mit ihm; John antwortete und schien überrascht zu sein. Noch einige Worte und dann kamen die beiden näher.

»Harriet«, sagte ihr Bruder, der dem späten Gast hereinleuchtete, mit gedämpfter Stimme, »Mr. Morfin, der Herr, der so lange in Dombeys Hause ist wie James.«

Harriet fuhr betroffen zurück, als sei ein Geist eingetreten; denn auf der Schwelle stand der unbekannte Freund mit dem graumelierten, dunkeln Haar, dem rötlichen Gesicht, der breiten, freien Stirne und den braunen Augen, dessen Geheimnis sie so lang bewahrt hatte.

»John!« sagte sie halb atemlos. »Das ist der Herr, von dem ich heute mit dir gesprochen habe!«

»Der Herr, Miß Harriet«, entgegnete der Gast, der jetzt hereinkam, denn er hatte einen Augenblick auf der Schwelle haltgemacht, »fühlt sich sehr beglückt, Euch so sprechen zu hören. Denn er hat auf dem ganzen Herweg auf Mittel und Wege gesonnen, sich zu erklären, ohne daß er sich darin zurecht finden konnte. Mr. John, ich bin hier nicht ganz fremd, Ihr wart erstaunt, als Ihr mich vorhin an Eurer Tür sahet, und ich merke, daß Ihr es jetzt nur um so mehr seid. Nun, unter den obwaltenden Umständen ist das auch leicht erklärlich. Wären wir nicht die Gewohnheitsgeschöpfe, die wir wirklich sind, so würden wir wohl nicht halb so oft Anlaß zum Erstaunen finden.« Mittlerweile hatte er Harriet mit jener angenehmen Mischung von Herzlichkeit und Achtung, deren sie sich so wohl erinnerte, begrüßt und in ihrer Nähe Platz genommen, Zugleich zog er seine Handschuhe ab und warf sie in seinen auf dem Tisch stehenden Hut.

»Es ist doch nichts so Außerordentliches, Mr. John«, sagte er, »daß in mir der Wunsch rege wurde, Eure Schwester zu sehen, und daß ich diesen in meiner eigenen Art erfüllte. In der Regelmäßigkeit meiner seitherigen Besuche – Ihr werdet hierüber auch unterrichtet sein – liegt wenigstens nichts Ungewöhnliches; sie wurde mir bald zur Gewohnheit, und wir sind Gewohnheitsgeschöpfe – Gewohnheitsgeschöpfe!«

Er steckte die Hände in seine Taschen, lehnte sich in dem Stuhl zurück, blickte nach dem Bruder und der Schwester hin, als habe es Interesse für ihn, sie beisammen zu sehen, und fuhr in einer Art gedankenvoller Ärgerlichkeit fort: »Es ist die nämliche Gewohnheit, die einige, welche besserer Dinge fähig wären, in dem Stolz und Starrsinn eines Teufels befestigt – die andere in der Schurkerei und wieder andere in der Gleichgültigkeit beharren läßt – die uns von Tag zu Tag je nach der Beschaffenheit unseres Erdenleibs zu Steinbildern verhärtet und uns für neue Eindrücke und Überzeugungen völlig unempfindlich macht. Ihr könnt Euch an mir ein Urteil über ihren Einfluß bilden, John. Eine längere Reihe von Jahren, als ich zu nennen brauche, besorgte ich meinen kleinen und bestimmt abgemessenen Anteil an Dombeys Geschäften und sah, wie Euer Bruder, der währenddem zum Schurken geworden ist – Eure Schwester wird mir verzeihen, daß ich ihn so nennen muß – seinen Einfluß mehr und mehr ausdehnte, bis das Geschäft und dessen Eigentümer für ihn bloß zum Fußball geworden waren. Ich sah jeden Tag, wie Ihr Euch an Eurem dunkeln Pult abmühtet, und war ganz zufrieden, wenn ich außerhalb des Streifens meiner Dienstpflicht mich mit so wenig wie möglich zu behelligen brauchte. So ließ ich Tag für Tag um mich her gehen wie eine große Maschine, die auch ihrer Gewohnheit folgt, ohne eine Frage zu stellen. Alles galt mir für ausgemacht, und ich meinte, es müsse so sein. Der Donnerstagabend kam regelmäßig an die Reihe, unsere Quartettpartien nahmen ihren regelmäßigen Verlauf, mein Violoncello stimmte gut, und so kam nichts Unrechtes in meine Welt herein. Wenn es auch etwas gab, so war es nicht von Bedeutung – oder mochte es viel, mochte es wenig sein, so ging die Sache mich nichts an.«

»Ich kann Euch versichern, daß Ihr während dieser Zeit geachteter und beliebter wart als irgend jemand im Hause«, sagte John Carker.

»Ach, ich war vielleicht gutmütig und verträglich«, versetzte der andere: »aber eine solche Gemütsart trägt man gewohnheitshalber wie ein Kleid. Sie paßte für den Geschäftsführer, paßte für den Mann, den er gängelte, und paßte am besten für mich. Ich tat, was mir zugewiesen wurde, machte weder dem einen noch dem andern den Hof und war erfreut, in einer Stellung zu stehen, die mir nichts Derartiges auferlegte. So wäre es wohl bis jetzt fortgegangen, wenn nicht mein Zimmer eine dünne Wand hätte. Ihr könnt Eurer Schwester sagen, daß es von dem des Geschäftsführers nur durch ein hölzernes Getäfel geschieden ist.«

»Es sind aneinanderstoßende Zimmer, die vielleicht ursprünglich ein einziges bildeten und, wie Mr. Morfin sagt, durch eine Holzabfachung getrennt wurden«, entgegnete John Carker und sah dann seinen Gast an, als ersuche er ihn zur Wiederaufnahme seiner Erzählung.

»Ich habe gepfiffen, Lieder gesummt, ja eine ganze Beethovensche Sonate durchgesummt, um ihn wissen zu lassen, daß ich in Hörweite sei«, sagte Mr. Morfin; »aber er achtete nie auf mich. Allerdings kam es selten genug vor, daß etwas verhandelt wurde, was sich nicht auf Geschäfte bezogen hätte, und wenn es je geschah, so pflegte ich, wenn ich nicht in anderer Weise mein Mitanhören verhindern konnte, einen Ausgang zu machen. So hielt ich es auch bei Gelegenheit eines Gesprächs zwischen zwei Brüdern, bei dem anfangs der junge Walter Gay zugegen war, obschon ich noch einiges vernahm, ehe ich das Zimmer verließ. Ihr erinnert Euch vielleicht dessen noch und könnt Eurer Schwester darüber Auskunft geben, John?«

»Es bezog sich auf die Vergangenheit, Harriet«, versetzte ihr Bruder mit erstickter Stimme, »und auf unsere diesbezüglichen Stellungen im Haus.«

»Der Gegenstand war mir nicht neu, stellte sich mir aber wohl von einem neuen Gesichtspunkte dar. Er rüttelte mich aus meiner Gewohnheit auf – aus der Gewohnheit von neun Zehnteln der Welt – zu glauben, daß alles um mich her in Ordnung sei, weil ich daran gewöhnt war«, sagte der Gast, »und das bewog mich, über die Geschichte der beiden Brüder nachzudenken. Ich glaube, es war fast das erstemal in meinem Leben, daß ich zu einem ernstlichen Nachdenken kam – wie würden wohl viele Dinge, die täglich um uns vorgehen und uns deshalb als ganz recht und gut erscheinen, aussehen, wenn wir sie von dem neuen und ferneren Standpunkte aus betrachten, den wir alle eines Tages einnehmen müssen. Ich war nach jenem Morgen, wie man es nennt, weniger liebenswürdig, weniger ruhig und ganz und gar nicht umgänglich.«

Er schwieg eine Weile, während er mit der einen Hand auf den Tisch trommelte, und fuhr dann in einer Hast fort, als sei es ihm angelegentlich darum zu tun, sich von seinem Bekenntnis zu befreien.

»Ehe ich wußte, was oder ob ich überhaupt etwas tun könne, fand ein zweites Gespräch zwischen denselben Brüdern statt, in dem ihre Schwester erwähnt wurde. Ich machte mir kein Bedenken daraus, die herrenlose Ware jener Unterhaltung so frei nach mir herunterschwimmen zu lassen, wie sie wollte, und war der Ansicht, daß sie von Rechts wegen mir gehöre, Dann kam ich hierher, um die Schwester selbst zu sehen. Das erstemal blieb ich an dem Gartentor und tat, als erkundige ich mich nach dem Charakter eines armen Nachbars, kam aber bald von dieser Fährte ab, und ich glaube, daß mir Miß Harriet nicht recht traute. Das zweitemalt bat ich um die Erlaubnis, hereinkommen zu dürfen, trat ins Zimmer und sagte sodann, was ich auf dem Herzen hatte. Die Schwester bewies mir mit Gründen, die ich nicht anzufechten wagte, daß sie keinen Beistand von mir annehmen könne. Aber ich stellte ein Verkehrsmittel zwischen uns her, das bis auf die allerletzte Zeit ununterbrochen blieb; denn vor einigen Tagen wurde ich durch die wichtigen Geschäfte, die kürzlich auf mich übergingen, zum ersten Male abgehalten, meiner Zusage zu entsprechen.«

»Wie wenig ahnte ich das«, sagte John Carker, »obschon ich Euch jeden Tag sah, Sir! Wenn Harriet Euren Namen hätte erraten können –«

»Um die Wahrheit zu gestehen, John«, fiel ihm der Gast ins Wort, »ich behielt ihn aus zwei Gründen für mich. Ich weiß es nicht, ob nicht der erste allein schon ausgereicht hätte; denn mit guter Absicht ist noch nicht viel ausgerichtet, und ich hatte mir jedenfalls vorgenommen, mich nicht zu erkennen zu geben, bis ich imstande sein würde, Euch den einen oder andern wirklichen Dienst zu leisten. Mein zweiter Grund lag in der Hoffnung, es dürfte noch möglich sein, daß Euer Bruder eine mildere Gesinnung gegen euch beide annehme. Wenn ein Mann von so argwöhnischem, lauerndem Charakter die Entdeckung machte, Ihr seiet im geheimen mit mir befreundet, so konnte dies zu einer neuen verhängnisvollen Trennung Anlaß geben. Allerdings nahm ich mir auch vor, auf die Gefahr hin, sein Mißfallen auf mich zu ziehen, aus dem ich mir nicht viel gemacht haben würde, eine Gelegenheit zu erspähen, ob ich Euch nicht bei dem Haupte des Hauses dienen könne. Aber Todesfälle, Brautwerbung, Hochzeit und häusliches Unglück haben uns lange, lange Zeit kein anderes Haupt gelassen, als eben Euren Bruder, und da war es am besten für uns«, fügte der Gast mit gedämpfter Stimme bei, »wenn man sich wie ein lebloser Körper verhielt.«

Er schien sich klar darüber zu werden, daß die letzten Worte ihm gegen seinen Willen entschlüpft waren, und fuhr dann, die eine Hand dem Bruder, die andere der Schwester hinhaltend, folgendermaßen fort:

»Alles, was ich zu sagen wünschen konnte – ja sogar noch mehr habe ich mir vom Herzen geredet. Was ich damit meine, läßt sich nicht in Worte fassen, und ich hoffe, Ihr versteht mich und schenkt mir Glauben. Die Zeit ist gekommen, John, – freilich eine höchst unglückliche Zeit – die mich in die Lage setzt, Euch zu helfen, ohne mich in den vermittelnden Kampf einzumischen, der so viele Jahre gewährt hat, da Ihr heute Eure Entlassung erhieltet, ohne sie verschuldet zu haben. Es ist spät; ich brauche heute nichts weiter zu sagen. Ihr werdet den Schatz, den Ihr hier habt, hüten, ohne daß es dazu von meiner Seite eines Rats oder einer Erinnerung bedürfte.«

Mit diesen Worten erhob er sich, um zu gehen.

»Geht mit dem Lichte voran, John«, sagte er scherzend, »und spart, was Ihr mir auch zu sagen wünscht.« John Carkers Herz war voll, und er würde sich durch Worte Erleichterung verschafft haben, wenn es ihm möglich gewesen wäre. »Ich möchte noch ein Wörtchen mit Eurer Schwester sprechen. Wir haben schon früher uns in diesem Zimmer allein unterhalten, obschon es natürlicher aussieht, wenn Ihr dabei seid.«

Er folgte ihm mit seinen Blicken, wandte sich dann freundlich Harriet zu und sagte zu ihr mit gedämpfter Stimme und mit völlig verändertem ernsterem Wesen:

»Ihr wünscht mich über den Mann zu fragen, dessen Schwester zu sein Ihr das Unglück habt.«

»Ich fürchte mich, es zu tun«, versetzte Harriet.

»Ihr habt mich mehr als einmal so ernst angesehen«, entgegnete der Gast, »daß ich denke, ich habe Eure Frage erraten. Hat er Geld mitgenommen? Nicht wahr, das ist es?«

»Ja«

»Nein.«

»Dem Himmel sei Dank!« rief Harriet. »Um Johns willen.«

»Daß er das in ihn gesetzte Vertrauen vielfältig mißbrauchte«, sagte Mr. Morfin, – »daß er öfter mehr für seinen eigenen Vorteil, als für den des Hauses, das er repräsentierte, Geschäfte und Spekulationen machte, – daß er das Haus zu ungeheuren Wagnissen verleitete, die oft schwere Verluste nach sich zogen – daß er stets mit der Eitelkeit und dem Ehrgeiz des Chefs ein Spiel trieb, während es seine Pflicht gewesen wäre, sie im Zaum zu halten und ihn, da dies in seiner Macht lag, darauf aufmerksam zu machen, wohin sie schließlich führen mußten – alles das wird Euch vielleicht jetzt nicht überraschen. Es sind Unternehmungen gemacht worden, um das Haus in den Ruf unerschöpflicher Hilfsquellen zu bringen und einen großartigen Gegensatz gegen andere kaufmännische Geschäfte herzustellen. Unternehmungen aber, bei denen ein ruhiger Kopf wohl an die möglichen – einige unglückliche Wechsel können sie sogar wahrscheinlich machen – zugrunde richtenden Folgen denken darf. Bei dem vielfachen Verkehr des Hauses mit den meisten Teilen der Erde – einem Labyrinth, zu dem er den leitenden Faden hatte – war ihm die Gelegenheit an die Hand gegeben, und er scheint sie benützt zu haben, die verschiedenen Ergebnisse in der Schwebe zu erhalten und bei der Untersuchung statt Tatsachen Gutachten und allgemeine Überblicke zu geben. In letzter Zeit aber – Ihr folgt mir doch, Miß Harriet?«

»Jawohl«, antwortete sie, ohne ihr geängstigtes Gesicht von dem seinen zu wenden. »Ich bitte, sagt mir sogleich das Schlimmste.«

»In letzter Zeit scheint er sich alle Mühe gegeben zu haben, diese Resultate so klar und einfach hinzustellen, daß jeder, der die Privatbücher vergleicht, sie trotz ihrer Menge und ihrer Abwechslung sozusagen mit Händen greifen kann. Es sieht aus, als habe es in seiner Absicht gelegen, seinem Chef in einem einzigen großen Überblick zu zeigen, wohin ihn die in ihm übermächtige Leidenschaft geführt habe! Daß er dieser Leidenschaft stets in schnöder Weise Vorschub leistete und ihr schmeichelte, unterliegt keinem Zweifel, und hierin besteht hauptsächlich sein Verbrechen, soweit die Angelegenheiten des Hauses in Rechnung kommen.«

»Nur noch ein Wort, eh‘ Ihr mich verlaßt, teurer Sir«, sagte Harriet. »Ist in alledem keine Gefahr?«

»Wieso, Gefahr?« entgegnete er mit einigem Stocken.

»Für den Kredit des Hauses?«

»Ich kann nicht umhin, Euch offen zu antworten, und setze in Euch volles Vertrauen«, entgegnete Mr. Morfin, nachdem er ihr Gesicht eine kurze Weile prüfend betrachtet hatte.

»Ihr könnt das in der Tat.«

»Ich bin davon überzeugt. Gefahr für den Kredit des Hauses? Nein, das nicht. Schwierigkeiten mag es geben, größere oder geringere Schwierigkeiten, aber keine Gefahr, es wäre denn – es wäre denn, daß der Chef des Hauses sich nicht entschließen könnte, seine Unternehmungen zu beschränken. Treibt er es so fort und überspannt er seine Kräfte, weil er glaubt, sein Haus dürfe keine andere Stellung einnehmen, als diejenige, in der es stets sich präsentierte, so wird es wanken.«

»Aber das ist doch nicht zu besorgen?« sagte Harriet.

»Ich will Euch nicht bloß halbes Vertrauen schenken«, versetzte er, ihr die Hand drückend. »Mr. Dombey ist unnahbar für jedermann und noch dazu eben jetzt in einer besonders hochfahrenden, überlegungslosen und unlenkbaren Gemütsverfassung. Freilich ist das eine Folge der übermäßigen Aufregung und geht vielleicht vorüber. Ihr wißt jetzt alles, das Schlimmste wie das Beste. Nichts mehr für heute. Gute Nacht!«

Mit diesen Worten küßte er ihre Hand und ging zur Tür hinaus, wo John Carker seiner wartete. Dieser versuchte zu sprechen. Mr. Morfin aber schob ihn heiter beiseite und erklärte ihm, sie würden sich bald und oft wieder sehen. Er könne daher, wenn es ihm darum zu tun sei, ein andermal reden, denn jetzt hätten sie keine Zeit dafür. Sodann eilte er rasch fort, um sich jedes Wort des Dankes zu ersparen.

Der Bruder und die Schwester blieben neben dem Kamin im Gespräch sitzen, bis es fast Tag war. Der Blick in die neue Welt, die sich vor ihnen auftat, hatte sie schlaflos gemacht. Es war ihnen zumute wie zwei Menschen, die vor langer Zeit an eine einsame Küste geworfen wurden und endlich ein rettendes Schiff kommen sehen, nachdem sie sich längst ergeben und auf jeden Gedanken an eine andere Heimat verzichtet haben. Aber auch eine andere Unruhe verschiedener Art trug dazu bei, sie wach zu halten. Die Dunkelheit, aus der ihnen dieses Licht aufgegangen war, sammelte sich wieder, und der Schatten ihres verbrecherischen Bruders durchspukte das Haus, das sein Fuß nie betreten hatte.

Auch wich oder verblich er nicht vor der wiederkehrenden Sonne; er war da am andern Morgen, mittags und nachts – am schwärzesten und deutlichsten aber in der Nacht, von der wir jetzt sprechen müssen.

John Carker war, einer brieflichen Bestellung seitens ihres Freundes Folge gebend, ausgegangen, und Harriet befand sich schon mehrere Stunden allein zu Hause. Der düstere, trübe Abend trug nicht dazu bei, ihre schwermütigen Gefühle zu bannen. Der Gedanke an den Bruder, der ihr so lange entfremdet gewesen, umspukte sie in schrecklichen Gestalten. Er war tot, sterbend, rief sie an oder furchte die Stirne gegen sie. Diese Bilder wurden so bedrückend für sie, daß sie in der entschwindenden Dämmerung sich sogar fürchtete, den Kopf aufzurichten und nach den dunkeln Ecken des Zimmers hinzusehen, damit nicht etwa sein Gespenst, die Ausgeburt ihrer Einbildungskraft, erschreckend daraus hervortrete. Einmal bemächtigte sich ihrer die Vorstellung, er sei im nächsten Raum versteckt – obschon sie wohl wußte, daß es nur eine Einbildung war, der sie selbst keinen Glauben schenkte – und dieser Gedanke wurde so übermächtig in ihr, daß sie sich gedrungen fühlte, in dasselbe hineinzugehen, um sich zu überzeugen. Aber vergeblich. Das Zimmer nahm seine schattenhaften Schreckbilder wieder an, sobald sie es verlassen hatte, und sie vermochte sich der unbestimmten Eindrücke ihrer Furcht so wenig zu entziehen, als wären sie steinerne Riesenbilder, fest eingemauert in der Erde.

Es war fast dunkel, und sie saß, den Kopf auf die Hand gestützt und die Blicke zu Boden gesenkt, in der Nähe des Fensters, als mit einem Male das Zimmer durch einen Schatten von außen noch mehr verfinstert wurde. Sie erhob ihre Augen und stieß einen unwillkürlichen Schrei aus. Dicht vor den Scheiben schaute ein blasses, scheues Gesicht herein – anfangs unstet, als suche es einen Gegenstand; dann aber blieben die Blicke auf ihr haften.

»Laßt mich ein! laßt mich ein! Ich muß mit Euch sprechen.« Und die Hand klirrte an der Scheibe.

Harriet erkannte augenblicklich die Frauensperson mit dem langen dunkeln Haar, der sie an einem regnerischen Abend Nahrung und Obdach gegeben hatte. Da sie sich ihres heftigen Benehmens erinnerte, so fürchtete sie sich natürlich, wich ein wenig vom Fenster zurück und blieb unschlüssig und erschrocken stehen.

»Laßt mich ein! laßt mich mit Euch sprechen! Ich bin dankbar – ruhig – demütig – alles was Ihr wollt. Aber laßt mich mit Euch sprechen.«

Die Leidenschaft dieser Bitte, der ernste Ausdruck des Gesichtes, das Zittern der flehentlich erhobenen Hände und ein gewisses Entsetzen, das sich in der Stimme zeigte und auf eine Verwandtschaft mit ihren eigenen Gefühlen hindeutete, wurde für Harriet maßgebend. Sie eilte nach der Tür und öffnete.

»Darf ich hineinkommen oder soll ich hier sprechen?« sagte das Weib, ihre Hand fassend.

»Was wollt Ihr? Was habt Ihr mir zu sagen?«

»Nicht viel; aber gestattet mir, mein Herz zu erleichtern, oder es wird nie wieder geschehen. Schon jetzt fühle ich mich verlockt, wieder fortzugehen. Es ist mir, als ob mich Hände von der Tür zurückrissen. Laßt mich eintreten, wenn Ihr mir dieses einzige Mal noch trauen könnt.«

Die Aufgeregtheit, in der sie sprach, trug wieder den Sieg davon, und sie näherten sich dem Kamin der kleinen Küche, vor dem die Fremde früher schon gesessen, ein kleines Mahl eingenommen und ihre Kleider getrocknet hatte.

»Nehmt hier Platz«, sagte Alice, die an Harriets Seite niederkniete, »und seht mich an. Ihr erinnert Euch meiner?«

»Ja.«

»Ihr entsinnt Euch, wie ich Euch sagte, was ich gewesen, und woher ich kam, als ich mich hinkend und zerlumpt durch Wind und Unwetter schlug?«

»Ja.«

»Ihr wißt, wie ich in jener Nacht zurückkam. Euer Geld in den Schmutz trat und Euch und Euer Geschlecht verfluchte. Seht mich jetzt hier auf meinen Knien. Ist es mir wohl weniger ernst, als es mir damals war?«

»Wenn Ihr um Vergebung bitten wollt«, versetzte Harriet sanft –

»Nein, nicht das!« entgegnete die andere mit wildem, stolzem Blick. »Ich bitte nur, mir Glauben zu schenken. Ihr mögt nach dem, was ich war und was ich bin, beurteilen, ob ich Glauben verdiene.«

Noch immer kniend und die Augen auf das Feuer gerichtet, das die Trümmer ihrer Schönheit und ihr wirres, schwarzes Haar erhellte, zog sie eine lange Flechte über ihre Schulter nieder, schlang sie um ihre Hand und biß und zerrte daran, während sie fortfuhr: »Als ich noch jung und hübsch war, und dieses Haar hier«, sie riß verächtlich daran, »nur zart behandelt wurde und nicht genug bewundert werden konnte, machte meine Mutter, die gegen das Kind gleichgültig gewesen war, die Entdeckung, daß ich für sie ein Schatz sei. Sie hätschelte mich und war stolz auf mich. Da sie arm und habgierig war, so hoffte sie, durch mich etwas erwerben zu können. Gewiß denken vornehme Frauen nicht an etwas Derartiges bei ihren Töchtern, oder handeln so, wie sie es tat – wir alle wissen, daß das nie geschieht –, und man sieht daraus, daß die einzigen Beispiele von Müttern, die ihre Töchter auf falsche Wege leiten und ins Unglück bringen, nur unter unserem elenden Volke vorkommen.«

Sie schaute ins Feuer, als habe sie für den Augenblick vergessen, daß eine Zuhörerin zugegen war, und sprach in träumerischer Betrachtung weiter, während sie die Haarflechte wieder und wieder um ihre Hand wickelte.

»Was dabei herauskam, brauche ich nicht zu sagen. Bei Leuten, wie wir, führt es nicht zu unglücklichen Hochzeiten, sondern nur zu Elend und Verderben. Ja, Elend und Verderben war mein Los.«

Sie wandte den Blick rasch von dem Feuer ab nach Harriets Gesicht und fuhr fort:

»Ich vergeude die kostbare Zeit; aber wenn ich nicht alles wohl erwogen hätte, würde ich nicht hier sein. Elend und Verderben war mein Los, sage ich. Ich wurde für eine kurze Weile ein Spielzeug und dann wie ein Spielzeug grausam und unbekümmert beiseite geworfen. Von wessen Hand glaubt Ihr wohl?«

»Warum fragt Ihr mich das?« versetzte Harriet.

»Warum zittert Ihr?« entgegnete Alice aufschauend. »Seine Mißhandlung hat aus mir einen Teufel gemacht. Ich sank immer tiefer und tiefer ins Verderben. Ich wurde in einen Diebstahl verstrickt, bei dem ich alles leisten mußte, ohne daß ich an dem Gewinn teilhatte. Die Sache kam heraus, und man stellte mich vor Gericht, ohne daß ich einen Beistand hatte oder überhaupt nur einen Pfennig besaß. Obgleich ich ein junges Mädchen war, würde ich doch lieber in den Tod gegangen sein, als daß ich ihn um ein Fürwort gebeten hätte, selbst wenn dieses imstande gewesen wäre, mich zu retten. Ja, ich würde lieber den peinlichsten Tod erlitten haben. Aber meine Mutter, die stets so habsüchtig war, wie sie es noch jetzt ist, schickte in meinem Namen zu ihm, ließ ihm getreu die Geschichte meines Unfalls mitteilen und bat und bettelte um eine kleine letzte Gabe – um nicht so viele Pfunde, als ich Finger an dieser Hand habe. Aber in meinem Elend schnippte er die Finger nach mir, von der er glaubte, sie liege zu seinen Füßen, und versagte mir sogar dieses ärmliche Zeichen der Erinnerung, wohl zufrieden damit, daß ich in die Verbannung geschickt werde, weil er wußte, daß ich ihn dann nicht weiter behelligen konnte, gleichviel ob ich dort auch starb und verfaulte. Könnt Ihr Euch denken, wer dieser Mann war?«

»Warum fragt Ihr mich?« wiederholte Harriet.

»Warum zittert Ihr«, sagte Alice, die Hand auf ihren Arm legend und zu ihrem Gesicht aufblickend, »wenn nicht die Antwort auf Euren Lippen liegt? Es war Euer Bruder James.«

Harriet zitterte immer stärker, verwandte aber ihre Augen nicht von dem wilden Blicke, der auf ihrem Antlitz ruhte.

»Als ich erfuhr, Ihr seid seine Schwester – es war an jenem Abend – kam ich müde und gelähmt zurück, um voll Verachtung Euch Eure Gabe vor die Füße zu werfen. Es war mir damals, als könnte ich trotz meiner tiefen Ermattung die ganze Welt durchreisen, um ihm an dem ersten besten abgelegenen Platz, wo ich ihn fände, einen Dolch in die Brust zu stoßen. Glaubt Ihr, daß es mir damit ernst war?«

»Leider! Aber, gütiger Gott, warum seid Ihr wieder hergekommen?«

»Ich habe ihn seitdem gesehen«, sagte Alice, wieder wie früher ihren Arm umfassend und zu ihrem Gesicht aufblickend. »Ich folgte ihm mit meinen Augen am hellen Tag, und wenn je ein Funke von Rachsucht in meinem Innern schlummerte, so schlug er in helle Lohe auf, als mein Blick auf ihm ruhte. Ihr wißt, er hat einen stolzen Mann gekränkt und ihn zu seinem Todfeind gemacht. Wie, wenn ich ihn an diesen Mann verraten hätte?«

»Verraten!« wiederholte Harriet.

»Wenn ich jemanden aufgefunden hätte, der das Geheimnis Eures Bruders, die Art seiner Flucht und den Ort kannte, wohin er sich mit seiner Begleiterin zurückgezogen? Wenn ich die Veranlassung gewesen wäre, daß dieser Jemand das, was er wußte, Wort für Wort in der Hörweite des verborgenen Feindes enthüllte? Wenn ich damals dabei gesessen und dem Feind ins Gesicht gesehen hätte, das sich in einer Weise veränderte, daß es kaum mehr menschlich war? Wenn ich Zeuge davon gewesen wäre, wie er wahnsinnig forteilte, um ihm nachzusetzen? Wenn ich jetzt wüßte, daß er, mehr Teufel als Mensch, auf dem Weg ist und in so und so vielen Stunden mit ihm zusammentreffen muß?«

»Laßt mich los!« sagte Harriet zurückbebend. »Entfernt Euch! Eure Berührung ist mir fürchterlich!«

»Ich habe dieses getan«, fuhr die andere fort, ohne auf die Unterbrechung zu achten, während ihr Blick stets der gleiche blieb. »Spreche ich und sehe ich so aus, als ob es wahr sei? Glaubt Ihr, was ich sage?«

»Ich fürchte, ich muß es glauben. Laßt meinen Arm los!«

»Noch nicht. Nur noch einen Augenblick. Ihr könnt Euch denken, wie glühend mein Rachedurst gewesen sein muß, da er so lange anhielt und mich hierzu drängte.«

»Schrecklich!« sagte Harriet.

»Wenn Ihr mich also jetzt wieder hier seht«, entgegnete Alice mit erstickter Stimme, »ruhig am Boden kniend, meinen Arm auf dem Euren und meine Augen auf Euer Gesicht gerichtet, so mögt Ihr glauben, daß in meinen Worten kein gewöhnlicher Ernst liegt und daß in meiner Brust kein gewöhnlicher Kampf gekämpft ward.

Ich schäme mich, so zu sprechen, aber ich bin darin unterlegen. Ich verachte mich selbst. Ich habe den ganzen Tag und die ganze letzte Nacht mit mir gerungen, bin aber gegen ihn milder geworden, ohne einen Grund dafür zu haben, und wünsche womöglich das Geschehene wieder gutzumachen. Ich möchte nicht, daß sie miteinander zusammentreffen, so lang sein Verfolger noch so blind und ungestüm ist. Hättet Ihr ihn gesehen, wie er gestern abend hinausstürzte, so würdet Ihr die Gefahr besser zu ermessen imstande sein.«

»Aber wie soll sie verhindert werden! Was kann ich tun?« rief Harriet.

»Die ganze Nacht durch«, fuhr die andere hastig fort, »träumte ich von ihm wie er in seinem Blut vor mir lag, und dennoch habe ich nicht geschlafen. Den ganzen Tag über war er in meiner Nähe.«

»Was kann ich tun?« sagte Harriet, bei diesen Worten schaudernd.

»Wenn jemand da ist, der ihm schreiben oder zu ihm gehen will, so soll er keine Zeit verlieren. Er befindet sich in Dijon. Kennt Ihr den Namen und wißt Ihr, wo es liegt?«

»Ja.«

»Teilt ihm mit, der Mann, den er sich zum Feinde gemacht, sei in Wut, und er kenne ihn nicht, wenn er dessen Nähe leicht nehme. Meldet ihm, daß er auf dem Wege sei – ich weiß, daß dies der Fall ist – und keine Zeit versäume. Drängt ihn, daß er sich entferne, so lang es noch Zeit sei – wofern überhaupt noch Zeit ist – und nicht jetzt mit ihm zusammentreffe. Einige Wochen werden die Wirkung von Jahren üben. Sie sollen nicht durch mich zusammengeraten. Überall, nur dort nicht! Zu jeder Zeit, nur nicht jetzt! Sein Feind mag ihm nachsetzen und ihn für sich selbst entdecken. Aber durch mich soll es nicht geschehen. Es lastet ohnehin schon genug auf meinem Haupt.«

Das Feuer hörte auf, in ihrem pechschwarzen Haar, in ihrem aufgerichteten Antlitz und ihrem unruhigen Äuge sich zu spiegeln; ihre Hand ruhte nicht mehr auf Harriets Arm, und der Platz, wo sie gekniet hatte, war leer.

Sechsundvierzigstes Kapitel.


Sechsundvierzigstes Kapitel.

Prüfend und nachdenklich

Unter verschiedenen kleineren Änderungen, die um diese Zeit in Mr. Carkers Leben und Gewohnheiten stattzufinden begannen, war keine merkwürdiger, als der außerordentliche Fleiß, mit dem er sich dem Geschäft widmete, und die Sorgfalt, mit der er die vor ihm offen daliegenden Angelegenheiten des Hauses bis ins einzelnste verfolgte. Obgleich er in solchen Dingen stets tätig und scharfblickend war, hatte sich doch jetzt seine luchsäugige Wachsamkeit ums zwanzigfache gesteigert. Seine behutsame Aufmerksamkeit hielt nicht nur gleichen Schritt mit jenen Punkten, die jeder Tag ihm in irgendeiner neuen Form darbot, sondern er fand auch inmitten dieser sich häufenden Beschäftigungen Muße – d.h. er nahm sich dieselbe – die früheren Verbindungen der Firma, die während einer langen Reihe von Jahren abgeschlossen worden waren, und seine Beteiligung dabei zu prüfen. Oft, wenn sämtliche Angestellte fort waren, die Kontore leer und dunkel, und alle ähnlichen Geschäftslokale geschlossen waren, pflegte Mr. Carker, vor dem die ganze Anatomie des eisernen Zimmers offen dalag, mit dem geduldigen Eifer eines Mannes, der die kleinsten Nerven und Fasern eines tierischen Körpers zergliedert, die Geheimnisse der Bücher und Papiere zu erforschen. Der Ausläufer Perch, der bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich dablieb, um sich beim Licht einer einzigen Kerze mit dem Lesen der Preisliste zu unterhalten, oder im äußeren Kontor auf die Gefahr hin, jeden Augenblick kopfüber in die Kohlentruhe zu purzeln, über dem Feuer schlummerte, konnte diesem Fleiß den Zoll seiner Bewunderung nicht versagen, wie sehr er auch dadurch in dem Genusse seines häuslichen Glückes verkürzt wurde, und verbreitete sich wieder und wieder gegen Mrs. Perch, die jetzt Zwillinge säugte, über den Eifer und die Pünktlichkeit ihres geschäftsführenden Gentlemans in der City.

Dieselbe gesteigerte, scharfe Aufmerksamkeit, mit der Mr. Carker die Geschäfte des Hauses behandelte, verwendete er auch auf seine persönlichen Angelegenheiten. Obgleich er kein Associé der Firma war, da diese Auszeichnung bisher nur den Erben des großen Namens Dombey vorbehalten gewesen, bezog er doch von dem Ertrag gewisse Prozente, und da es ihm vermöge seiner Stellung sehr leicht wurde, Geld vorteilhaft zu verwenden, so galt er bei den Schmerlen unter den Tritonen des Ostens als ein reicher Mann. Diese schlauen Beobachter begannen schon untereinander zu bemerken, daß Jem Carker bei Dombey sich umschaue, um zu sehen, was er wert sei, und als ein in die Ferne blickender Mann darauf Bedacht nehme, sein Geld in guter Zeit einzuziehen; ja es wurden sogar auf der Stockbörse Wetten auf die Wahrscheinlichkeit angeboten, daß Jem eine reiche Witwe heiraten werde.

Gleichwohl taten diese vermehrten Geschäfte Mr. Carker in dem Bewachen seines Prinzipals, in seiner Reinlichkeit, seiner Glätte oder irgendeiner katzenartigen Eigenschaft, die er besaß, nicht den mindesten Abtrag. In seinen Gewohnheiten war nicht derart ein Wechsel vorgegangen, sondern sie zeigten sich nur in einer gesteigerten Tätigkeit. Alles, was man früher an ihm bemerken konnte, war auch jetzt noch an ihm zu sehen, nur in höherem Grade konzentriert. Er besorgte jedes einzelne, als ob es nichts anderes für ihn gebe – ein ziemlich sicheres Anzeichen bei einem Mann von seiner Fähigkeit und seinem Geiste, daß er etwas tut, was seine ganze Energie schärft und rege erhält. Die einzige entschiedene Veränderung an ihm bestand darin, daß er, wenn er in den Straßen hin und her ritt, oft in ein ähnliches tiefes Nachdenken versank, wie das, in dem er an dem Morgen von Mr. Dombeys Unfall das Haus des letzteren verlassen hatte. Zu solchen Zeiten wich er nur mechanisch den im Wege liegenden Hindernissen aus, und es hatte den Anschein, als sehe und höre er nichts, bis er seinen Bestimmungsort erreichte, oder ein plötzlicher Zufall ihn aus seinen Träumen weckte.

So ließ er eines Tages sein weißbeiniges Pferd im Schritt nach dem Kontor von Dombey und Sohn gehen, ohne das Lauern von zwei Paar Weiberaugen oder den von seinem Anblick bezauberten Schleifer Rob zu bemerken, der, um seine Pünktlichkeit zu zeigen, eine Straßenlänge näher, als auf dem bestimmten Platz, seines Gebieters harrte und vergeblich durch ein wiederholtes Greifen an seinen Hut die Aufmerksamkeit desselben auf sich zu ziehen suchte, weshalb er denn jetzt zu Fuß an seiner Seite hintrabte, um bei seinem Absteigen sogleich bereit zu sein, ihm den Bügel zu halten.

»Siehst du ihn vorbeireiten?« rief eine der beiden Frauen, eine alte Hexe, die ihre welke Hand ausstreckte, um ihn ihrer jüngeren Begleiterin, die unter einem Torweg dicht an ihrer Seite stand, zu zeigen.

Auf dieses Geheiß von seiten der Mrs. Brown schaute ihre Tochter hinaus, und in ihrem Gesicht zeigte sich die wilde Aufregung des Zorns und der Rachsucht.

»Ich hätte nie gedacht, ihn wieder zu sehen«, sagte sie mit gedämpfter Stimme; »aber es ist vielleicht gut so. Ich sehe. Ich sehe!«

»Nicht verändert!« sagte die Alte mit einem boshaften Blick.

»Er verändert?« entgegnete die andere. »Warum auch? Was hat er gelitten! Nur in mir ist Veränderung genug für zwanzig. Genügt das nicht?«

»Sieh, wie er reitet!« murmelte die Alte, die roten Augen auf ihre Tochter heftend: »so leicht und so geschniegelt auf seinem Pferd, während wir im Kot –«

»Und von Kot sind«, unterbrach sie die Tochter ungeduldig. »Wir sind der Schmutz unter den Füßen seines Pferdes. Was könnten wir auch anders sein?«

In der Begierde, mit der sie ihm wieder nachsah, machte sie, als die Alte antworten wollte, mit der Hand eine hastige Gebärde, wie wenn der bloße Ton einer Stimme sie im Sehen störe. Mrs. Brown, die nur sie, nicht ihn im Auge behielt, blieb stumm, bis der funkelnde Blick ihrer Tochter milder geworden war. Letztere atmete endlich tief auf, als fühle sie sich erleichtert, daß er fort war.

»Herzchen!« begann die Alte. »Alice! Schönes Mädel! Ally!« Sie zupfte sie leicht am Ärmel, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. »Willst du ihn so ziehen lassen, da du ihm doch Geld abringen kannst? Ei, das wäre gottlos, meine Tochter.«

»Habe ich Euch nicht gesagt, daß ich kein Geld von ihm wolle?« versetzte Alice. »Und Ihr glaubt mir noch immer nicht? Habe ich von seiner Schwester Geld angenommen? Würde ich auch nur einen Penny berühren, wenn ich wüßte, er sei durch seine weißen Hände gegangen – es wäre denn, daß ich denselben vergiftet ihm zurückschicken könnte? Seid stille, Mutter, und kommt mit.«

»Und er so reich?« murmelte die Alte. »Und wir so arm!«

»Arm, weil wir nicht imstande sind, ihm etwas von dem Leid heimzuzahlen, das wir ihm verdanken«, entgegnete die Tochter. »Könnte er mir solche Schätze ablassen, so würde ich sie von ihm annehmen und Gebrauch davon machen. Kommt mit; es führt zu nichts, seinem Pferde nachzusehen, kommt mit, Mutter!«

Für die Alte aber schien der Anblick Robs, des Schleifers, der das reiterlose Pferd die Straße heraufführte, irgendein außerordentliches Interesse zu haben, das er an sich selbst nicht besaß; sie betrachtete daher den jungen Menschen mit der größten Angelegentlichkeit und faßte, was sie auch sonst für Bedenken hegen mochte, bei seinem Näherkommen schnell einen Entschluß. Mit einem funkelnden Blick nach ihrer Tochter legte sie den Finger an ihre Lippe, trat in dem Augenblick, als Rob vorüberging, aus dem Torweg und legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Ei, wo ist denn mein munterer Rob diese ganze Zeit über gewesen?« fragte sie, als er sich umwandte.

Der muntere Rob, dessen Munterkeit durch diese Begrüßung sehr gemindert wurde, machte ein sehr langes Gesicht und entgegnete, während ihm das Wasser in die Augen stieg:

»O! warum könnt Ihr einen armen Burschen nicht gehen lassen, Mrs. Brown, wenn er einem ehrlichen Unterhalt nachgeht und sich ordentlich aufführt? Warum kommt Ihr her, um einen jungen Burschen dadurch seines guten Namens zu berauben, daß Ihr ihn auf der Straße anredet, während er das Pferd seines Herrn nach einem ehrlichen Stall bringt – ein Pferd, das Ihr für Katzen- und Hundefleisch verkaufen würdet, wenn man Euch gewähren ließe! Ich dachte wahrhaftig«, fügte der Schleifer hinzu, seine Schlußbemerkung in einer Weise vorbringend, als sei sie der Höhepunkt aller von ihm erlittenen Kränkungen, »Ihr wäret längst tot.«

»So spricht er jetzt mit mir«, rief die Alte, sich an ihre Tochter wendend, »und doch hat er wochen- und monatelang mit mir Bekanntschaft gepflogen, mein Herzchen, und ich bin oft und vielmals seine Freundin gewesen unter den Galgenstricken, die sich mit dem Fang von Tauben und Vögeln abgaben.«

»O redet mir nur nicht von den Vögeln, Mrs. Brown«, versetzte Rob im Ton der bittersten Reue. »Ich denke, es ist besser, sich mit Löwen abzugeben als mit solchen kleinen Geschöpfen, denn sie fliegen einem immer ins Gesicht zurück, wo man es am wenigsten erwartet, Nun, wie geht es Euch und was wollt Ihr?«

Der Schleifer brachte diese höflichen Fragen vor, als verwahre er sich dagegen in großer Gereiztheit.

»Höre, wie er mit einer alten Freundin spricht, mein Schatz!« sagte Mrs. Brown, sich wieder an ihre Tochter wendend. »Doch es gibt einige von seinen alten Freunden, die nicht so geduldig sind wie ich. Wenn ich einigen, die er kennt, mit denen er sich umgetrieben und mit denen er Spitzbübereien angerichtet hat, mitteile, wo sie ihn finden können –«

»Wollt Ihr Euer Maul halten, Mrs. Brown«, unterbrach sie der unglückliche Schleifer, der jetzt hurtig umherschaute, als erwarte er die glänzenden Zähne seines Gebieters neben seinem Ellenbogen zu sehen. »Macht es Euch denn eine so große Freude, einen jungen Burschen zugrunde zu richten? Und noch dazu in Eurem Alter, in dem Ihr an ganz andere Dinge denken solltet.«

»Welch ein schönes Pferd«, sagte die Alte, den Hals des Tieres streichelnd.

»Wollt Ihr so gut sein, es gehen zu lassen?« rief Rob, ihre Hand zurückschiebend. »Ihr seid imstande, einen reuigen, jungen Burschen von Sinnen zu bringen.«

»Ei, was schadet’s ihm denn, Kind?« entgegnete die Alte.

»Was es ihm schadet?« fragte Rob. »Es hat einen Herrn, der dahinterkommt, und wenn es nur mit einem Strohhalm berührt wird.«

Er blies auf die Stelle, wo die Hand der Alten einen Augenblick geruht hatte, und glättete sie sanft mit seinen Fingern, als glaube er ernstlich an die Wahrheit seiner Worte.

Die Alte, die nach der ihr folgenden Tochter murmelnd zurücksah, hielt sich dicht an die Ferse Robs, der mit dem Zügel in der Hand weiterging, und setzte das Gespräch fort.

»Ein guter Platz, Rob, he?« sagte sie. »Ihr seid im Glück, mein Kind.«

»O sprecht mir nicht von Glück, Mrs. Brown«, versetzte der unglückliche Schleifer, indem er sein Gesicht umwandte und haltmachte. »Wenn Ihr nie hierhergekommen wäret oder wenn Ihr fortginget, dann könnte sich ein junger Bursch in der Tat für ziemlich glücklich halten. Wollt Ihr denn gar nicht gehen und ablassen, mich zu verfolgen, Mrs. Brown?« heulte Rob in plötzlichem Trotz. »Wenn die junge Frauensperson eine Freundin von Euch ist, warum nimmt sie Euch nicht lieber hinweg, statt daß sie Euch gestattet, Euch hier so unangenehm zu machen!«

»Was?« krächzte die Alte und näherte mit einem boshaften Grinsen, das ihre welke Haut bis nach dem Hals hinunter in Falten legte, ihr Gesicht dem seinen. »Ihr verleugnet Eure alten Kameradschaften? Seid Ihr nicht dutzend- und dutzendmal in mein Haus geschlichen und habt bei mir in einer Ecke geschlafen, als Ihr kein anderes Bett hattet als das Straßenpflaster – und jetzt sprecht Ihr so mit mir? Habe ich nicht, als Ihr noch ein vagabundierender Schuljunge wart, Euch in meiner Art fortgeholfen und für Euch gekauft und verkauft – und jetzt kommt Ihr mir und heißt mich gehen? Bin ich nicht imstande, Euch schon morgen früh einen Haufen alter Kameraden über den Hals zu schicken, die sich wie Euer Schatten an Euch heften und Euch ins Verderben hetzen können – und Ihr werft mir so kecke Blicke zu? Doch ich will gehen. Komm, Alice.«

»Haltet, Mrs. Brown!« rief der Schleifer außer sich. »Was wollt Ihr denn? Geratet nur nicht so in Zorn! O, seid so gut, sie nicht gehen zu lassen. Ich hab’s ja nicht böse gemeint. Sagte ich nicht gleich anfangs: ›Wie geht’s Euch?‹ aber Ihr wolltet nicht antworten. Wie geht’s Euch? Außerdem könntet Ihr ja selbst einsehen«, fügte Rob mit einer Jammermiene hinzu, »daß es einem Burschen nicht möglich ist, mit dem Pferd seines Gebieters auf der Straße stehenzubleiben, wenn es gestriegelt werden sollte, und der Herr gleich hinter alles kommt, sobald nur im geringsten etwas Unrechtes vorfällt.«

Die Alte tat, als sei sie teilweise beschwichtigt, schüttelte aber noch immer den Kopf und maulte vor sich hin.

»Kommt mit nach dem Stall und laßt Euch ein Gläschen schmecken, das Euch gut tun wird – könnt Ihr nicht, Mrs. Brown?« sagte Rob. »Dies wäre doch besser, als daß Ihr’s in solcher Weise macht, die weder Euch noch jemand anders von Nutzen ist. Bringt sie mit, wollt Ihr so gut sein?« fügte Rob gegen Alice hinzu, »Gewiß, es hätte mich sehr gefreut, sie wieder zu sehen, wenn das Pferd nicht gewesen wäre!«

Mit dieser Rechtfertigung wandte sich Rob, ein jämmerliches Bild der Verzweiflung, ab und führte sein Tier eine Nebenstraße hinunter. Die Alte, die nach ihrer Tochter hinmurmelte, blieb nicht zurück, und Alice folgte.

Nachdem sie ein ruhiges kleines Square oder einen Hofraum, den ein großer Kirchturm überragte und dessen Geschäftsplätze aus den Magazinen eines Packers und eines Flaschenhändlers bestanden, erreicht hatten, überlieferte Rob, der Schleifer, das weißbeinige Tier einem Stallknecht und lud Mrs. Brown mit ihrer Tochter ein, sich auf einer steinernen Bank neben dem Stalltor niederzulassen. Dann begab er sich nach einem benachbarten Wirtshaus, um einige Augenblicke später mit einer zinnernen Maßkanne und einem Glas wieder zurückzukehren.

»Auf die Gesundheit Eures Gebieters – des Mr. Carker, Kind!« lautete der langsam vorgebrachte Trinkspruch der Alten. »Gott segne ihn.«

»Ei, ich habe Euch ja nicht gesagt, wie er heißt«, bemerkte Rob mit weit aufgesperrten Augen.

»Wir kennen ihn vom Ansehen«, versetzte Mrs. Brown, deren murmelnder Mund und wackelnder Kopf in der Spannung ihrer Aufmerksamkeit unbeweglich wurden. »Wir sahen ihn heute früh vorbeireiten und Euch in seiner Nähe, um ihm das Pferd abzunehmen.«

»Ei, daß dich!« entgegnete Rob, augenscheinlich im geheimen wünschend, daß ihn sein Diensteifer lieber an jeden andern Platz hingeführt hätte. »Was ist denn mit ihr – will sie nicht trinken?«

Diese Frage bezog sich auf Alice, die, in ihren Mantel eingehüllt, ein wenig zur Seite saß, ohne auf das ihr angebotene volle Glas auch nur im mindesten zu achten.

Die Alte schüttelte den Kopf.

»Kehrt Euch nicht an sie«, sagte sie. »Ihr fändet ein sonderbares Geschöpf in ihr, wenn Ihr sie kennen würdet, Rob. Aber Mr. Carker –«

»Bst!« versetzte Rob, der vorsichtig seine Blicke nach den Magazinen des Packers und des Flaschenhändlers hin schießen ließ, als fürchte er, Mr. Carker könnte aus den Fenstern auf ihn niederschauen. »Still!«

»Ei, er ist ja nicht hier!« rief Mrs. Brown.

»Ich weiß das nicht gewiß«, murmelte Rob und sein unsteter Blick wandelte nach dem Kirchturm hinauf, als könnte er von dort aus, mit einer übernatürlichen Hörgabe versehen, ihn belauschen.

»Ein guter Herr?« fragte Mrs. Brown.

Rob nickte und fügte mit gedämpfter Stimme bei:

»Aber haarscharf.«

»Er wohnt außerhalb der Stadt – nicht wahr, mein Schatz?« sagte die Alte.

»Wenn er zu Hause ist«, versetzte Rob; »aber wir haben jetzt ein anderes Quartier.«

»Wo?« fragte die Alte.

»Eine Mietwohnung – in der Nähe von Mr. Dombeys Haus«, antwortete Rob.

Die jüngere Frauensperson heftete ihre Augen so plötzlich und so spähend auf Rob, daß dieser völlig verwirrt wurde und ihr abermals das Glas anbot, obschon mit nicht größerem Erfolg als früher.

»Mr. Dombey – Ihr wißt. Ihr und ich, wir beide pflegten bisweilen von ihm zu sprechen«, sagte Rob zu Mrs. Brown. »Ihr hattet es gern, wenn ich Euch von ihm erzählte.«

Die Alte nickte.

»Nun, Mr. Dombey hat einen Unfall gehabt und ist vom Pferd gestürzt«, fuhr Rob wider Willen fort. »Mein Herr muß deshalb jetzt mehr als gewöhnlich entweder bei ihm oder bei Mrs. Dombey sein, und so sind wir in die Stadt gekommen.«

»Sind sie gute Freunde, mein Schatz?« fragte die Alte.

»Wer?« entgegnete Rob.

»Er und sie?«

»Wie, Mr. und Mrs. Dombey?« sagte Rob. »Wie könnte ich das wissen?«

»Nicht sie – Euer Herr und Mrs. Dombey, mein Hühnchen«, versetzte die Alte schmeichelnd.

»Ich weiß es nicht«, sagte Rob, sich wieder umschauend. »Ich glaube es. Wie neugierig Ihr seid, Mrs. Brown. Je weniger man davon spricht, desto besser ist es.«

»Ei, was sollte es denn schaden?« rief die Alte, indem sie lachend die Hände zusammenschlug. »Der muntere Rob ist ja ganz zahm geworden, seit es ihm gut geht! Es kann nichts schaden.«

»Ich weiß es wohl«, entgegnete Rob mit demselben mißtrauischen Blicke nach der Kirche sowohl als nach den Magazinen des Packers und des Flaschenhändlers; »aber das Plaudern geht nicht an, wenn’s auch nur die Zahl der Knöpfe auf dem Rocke meines Herrn beträfe. Ich sage Euch, bei ihm geht es nicht, und ein junger Bursche täte besser, vorher ins Wasser zu springen. Er sagte dies, und ich würde Euch sicherlich seinen Namen nicht genannt haben, wenn Ihr ihn nicht zuvor gewußt hättet. Sprecht lieber von jemand anders.«

Während Rob sich abermals vorsichtig im Hof umsah, machte die Alte eine geheime Bewegung gegen ihre Tochter. Dies war nur ein Moment, aber die Tochter wandte mit einem leichten Ausdruck des Verständnisses ihre Augen von dem Gesicht des Knaben ab und blieb wieder in ihren Mantel gehüllt sitzen.

»Rob, mein Schätzchen«, sagte die Alte, ihm nach dem andern Ende der Bank zuwinkend, »Ihr seid immer mein Liebling gewesen. War’s etwa nicht so – und wißt Ihr es nicht selbst?«

»Ja, Mrs. Brown«, entgegnete der Schleifer nicht in der angenehmsten Stimmung.

»Und Ihr konntet mich verlassen«, sagte die Alte, ihre Arme um seinen Hals schlingend. »Ihr konntet weggehen und groß werden, so daß man Euch kaum mehr kennt – ohne auch nur ein einziges Mal zu Eurer armen alten Freundin zu kommen und ihr zu erzählen, wie glücklich Ihr geworden seid! Stolzer Junge – oho, oho!«

»O, es ist schrecklich für einen armen Burschen, der einen hellwachenden Herrn in der Nachbarschaft hat«, rief der unglückliche Schleifer, »wenn er sich so anheulen lassen muß.«

»Wollt Ihr mich nicht besuchen, Robby?« sagte Mrs. Brown. »Oho, wollt Ihr nie kommen und nach mir sehen?«

»Ja, sage ich Euch! Ja, ich will!« antwortete der Schleifer.

»So ist’s recht, Rob, mein Schätzchen!« sagte Mrs. Brown, die Tränen von ihrem welken Gesicht wegwischend und ihm einen empfindsamen Händedruck gebend. »Am alten Platze, Rob?«

»Ja«, versetzte der Schleifer.

»Bald, mein lieber Robby«, rief Mrs. Brown, »und oft?«

»Ja. Ja«, entgegnete Rob. »Ich verspreche es Euch auf Seele und Leib.«

»Und dann«, sagte Mr«. Brown, ihren Arm zum Himmel erhebend und den wackelnden Kopf zurückwerfend, »wenn er Wort hält, will ich nie in seine Nähe kommen, obschon ich weiß, wo er ist, und nie eine Silbe über ihn verlauten lassen. Nie!«

Dieser Ausruf schien wie ein Tröpflein Trostes auf den unglücklichen Schleifer zu wirken. Er gab Mrs. Brown die Hand und bat sie flehentlich und mit Tränen in den Augen, sie möchte einen jungen Burschen gehen lassen und nicht seine Aussichten zerstören. Mrs. Brown sagte dies unter einer abermaligen zärtlichen Umarmung zu; aber als sie schon im Begriff war, ihrer Tochter zu folgen, wandte sie sich mit verstohlen aufgerichtetem Finger noch einmal um und bat ihn mit heiserem Flüstern um etwas Geld.

»Einen Schilling, mein Schatz«, sagte sie mit gierigem Gesicht, »oder sechs Pence! Um alter Bekanntschaft willen. Ich bin so arm. Und mein schönes Mädel, Rob«, – sie blickte über ihre Achseln zurück – »sie ist mein Mädel, Rob – nagt mit mir am Hungertuche.«

Während der Schleifer mit Widerstreben ihrer Forderung entsprach, kehrte die Tochter ruhig zurück, ergriff die Hand ihrer Mutter und entrang ihr die Münze.

»Wie, Mutter!« sagte sie. »Immer Geld – Geld vom Anfang an bis zuletzt? Denkt Ihr so wenig an das, was ich Euch vor kurzem erst gesagt habe. Hier. Nehmt es wieder.«

Die Alte stieß bei der Zurückerstattung des Geldes ein tiefes Stöhnen aus, ohne jedoch einen andern Widerstand zu versuchen, und folgte humpelnd ihrer Tochter nach der Nebenstraße, die von dem Hof abführte. Der erstaunte und entsetzte Rob, der ihnen mit weit aufgesperrten Augen nachglotzte, sah, daß sie bald nachher haltmachten und sich sehr angelegentlich miteinander besprachen, dabei bemerkte er mehr als einmal eine wild drohende Gebärde der jüngeren Frauensperson (augenscheinlich hatte sie Beziehung auf eine Person, von der sie redete) und eine ärmliche Nachahmung derselben von seiten der Mrs. Brown, eine Wahrnehmung, die ihm die ernstliche Hoffnung einflößte, daß nicht er der Gegenstand ihres Gespräches sein möchte.

Mit dem vorläufigen Trost, daß sie fort seien, und der Aussicht, Mrs. Brown könne nicht ewig leben und werde ihn wahrscheinlich nicht mehr lange belästigen, suchte der Schleifer, der seine schlimmen Streiche nur dann bereute, wenn sie für ihn von derartigen schlimmen Folgen begleitet waren, die Bestürzung seines Gesichtes in einen heiteren Ausdruck umzuwandeln, indem er an die bewunderungswürdige Weise dachte, mit der er Kapitän Cuttle abgefertigt hatte – eine Erinnerung, die selten verfehlte, seinen Geist wieder in Schwung zu bringen. Dann begab er sich nach Dombeys Kontor, um die Befehle seines Gebieters einzuholen. Dort empfing ihn das Auge seines Gebieters so schlau und wachsam, daß er davor zurückbebte, weil er mehr als halbwegs erwartete, es werde ihm seine Besprechung mit Mrs. Brown vorgehalten werden. Mr. Carker übergab ihm die gewöhnliche Briefkapsel für Mr. Dombey und ein Billett an Mrs. Dombey, wobei er als Einschärfung pünktlicher und schneller Besorgung nur mit dem Kopf nickte. Diese geheimnisvolle Ermahnung schloß, wie der Schleifer sich einbildete, die unheimlichsten Warnungen und Drohungen in sich und wirkte mächtiger auf ihn, als es alle Worte imstande gewesen wären. Mr. Carker ging in seinem Zimmer wieder allein ans Geschäft und arbeitete den ganzen Tag. Er ließ viele Besuche vor, überblickte eine Menge von Dokumenten, begab sich nach verschiedenen Handelsplätzen und ließ keine Zerstreutheit aufkommen, bis die Aufgabe des Tages beendigt war. Sobald er jedoch seinen Tisch in der gewohnten Weise von den Papieren gesäubert hatte, versank er wieder in seine gedankenvolle Stimmung.

Er stand in der gewöhnlichen Haltung an seinem alten Platz, die Augen auf den Boden geheftet, als sein Bruder eintrat, um einige Briefe zurückzubringen, die im Laufe des Tages ausgetragen worden waren. Er legte sie ruhig auf den Tisch und wollte sich sogleich wieder entfernen; aber Mr. Carker, der Geschäftsführer, dessen Augen bei seinem Eintritt auf ihm ruhten, als hätten sie stets ihn und nicht den Zimmerboden zum Gegenstand ihrer Betrachtung gehabt, redete ihn an:

»Nun, John Carker, was bringt Ihr da?«

Sein Bruder deutete auf die Papiere und wollte wieder gehen.

»Es wundert mich«, sagte der Geschäftsführer, »daß Ihr kommen und gehen könnt, ohne zu fragen, wie sich Euer Herr befindet.«

»Es ist heute morgen im Kontor gemeldet worden, daß es mit Mr. Dombey gut gehe«, versetzte sein Bruder.

»Ihr seid ein so zahmer Bursche«, bemerkte der Geschäftsführer mit einem Lächeln, – »oder seid es doch im Lauf der Jahre geworden, – daß ich darauf schwören will. Ihr würdet Euch unglücklich fühlen, wenn ihm etwas Schlimmes zustieße.«

»Es würde mir in der Tat sehr leid tun, James«, entgegnete der andere.

»Es würde ihm leid tun!« sagte der Geschäftsführer, nach ihm hindeutend, als ob eine andere Person zugegen sei, an die er sich berufe, »Es würde ihm in der Tat leid tun! Dieser Bruder von mir! Der Junior des Platzes, dieses verachtete Stück Gerümpel, beiseite geschoben mit dem Gesicht gegen die Wand gleich einem verschimmelten Gemälde, und so gelassen, der Himmel weiß, wie viele Jahre; er möchte mich glauben machen, daß er voll Dankbarkeit, Achtung und Anhänglichkeit sei!«

»Ich will Euch nichts glauben machen, James«, erwiderte der andere. »Seid gegen mich so gerecht, wie Ihr es gegen jeden andern sein würdet, der unter Euch steht. Ihr fragt mich, und ich antworte.«

»Und du hast dich über nichts gegen ihn zu beschweren, hündische Seele?« sagte der Geschäftsführer mit ungewöhnlicher Gereiztheit. »Keine stolze Behandlung, keine Unverschämtheit, keine Anmaßung irgendeiner Art zu ahnden? Was zum Teufel – bist du ein Mensch oder eine Maus?«

»Es müßte wunderlich zugehen, wenn zwei Personen, namentlich in der Stellung des Vorgesetzten und des Untergeordneten, so viele Jahre beisammen sein könnten, ohne daß sie gegenseitig an sich etwas auszusetzen fänden – jedenfalls in Gedanken«, versetzte John Carker. »Aber abgesehen von meiner Geschichte hier – –«

»Seine Geschichte hier!« rief der Geschäftsführer, »Ja, da liegt’s. Sogar der Umstand, der ihn zu einem äußersten Fall macht, wirft ihn aus dem ganzen Kapitel! Nun?«

»Abgesehen davon, liegt in ihr, wie Ihr andeutet, für mich (zum Glück für alle übrigen) ein ausschließlicher Grund zum Dank, und es ist gewiß niemand im Hause, der nicht teilnehmend mitfühlen würde, wenn dem Prinzipal ein Unglück zustößt. Ihr glaubt doch nicht, daß in einem solchem Falle irgend jemand hier gleichgültig bleiben könnte?«

»Ja, Ihr habt guten Grund, an ihn gefesselt zu sein!« sagte der Geschäftsführer verächtlich. »Seht Ihr denn nicht ein, daß man Euch nur hier behält als ein wohlfeiles, glänzendes Beispiel der Milde von Dombey und Sohn, das die Ehre des erlauchten Hauses ausposaunen soll?«

»Nein«, versetzte sein Bruder mild. »Ich habe stets geglaubt, daß ich aus wohlwollenderen, uneigennützigeren Gründen hierbehalten wurde.«

»Wie ich bemerkte«, sagte der Geschäftsführer mit dem Pfauchen einer Tigerkatze, »wart Ihr im Zuge, irgendeinen christlichen Spruch vorzubringen.«

»Nein, James«, entgegnete der andere; »aber obschon das brüderliche Band längst zwischen uns zerbrochen und abgelöst ist –«

»Wer zerbrach es, mein guter Sir?« fragte der Geschäftsführer.

»Ich, durch mein schlechtes Benehmen. Euch mache ich daher keinen Vorwurf.«

Der Geschäftsführer erwiderte mit derselben stummen Tätigkeit seines wohlbewehrten Mundes, »o, Ihr macht mir keinen Vorwurf!« und hieß ihn weiter sprechen.

»Ich sage, obgleich kein solches Band mehr zwischen uns besteht, so bitte ich Euch doch flehentlich, mich nicht mit unnötigem Hohn anzugreifen, oder das, was ich spreche oder sprechen will, falsch zu deuten. Ich wollte nur bemerken, daß Ihr im Irrtum seid, wenn Ihr glaubt, bloß Ihr nähmet Rücksicht auf sein Wohl und seinen Ruf, weil Ihr um Eurer Treue willen vor allen andern so hoch in Mr. Dombeys Vertrauen steht, mit ihm fast auf dem Fuße der Gleichheit umgeht und von ihm bereichert worden seid. Ja, ich glaube aufrichtig, daß von Euch herab bis zum Niedrigsten niemand sich im Haus befindet, der nicht warme Teilnahme fühlt für das Wohlergehen des Prinzipals.«

»Ihr lügt!« rief der Geschäftsführer, den eine plötzliche Zornglut überflog. »Ihr seid ein Heuchler, John Carter, und lügt!«

»James!« entgegnete der andere, gleichfalls tief errötend. »Wie muß ich diese beschimpfenden Worte nehmen? Warum behandelt Ihr mich in so schnöder Weise, ohne daß ich Euch Anlaß dazu gab?«

»Ich will Euch nur sagen«, erwiderte der Geschäftsführer, »daß mir Eure Heuchelei und Demut – alle Heuchelei und Demut an diesem Platze nicht so viel gilt«, er schnippte dabei mit den Fingern. »Ich durchschaue sie, als ob sie Luft wäre! Es ist niemand zwischen mir und dem Geringsten an diesem Platze (Ihr habt guten Grund, Euch um den letzteren so anzunehmen, da er nicht fern ist), den es nicht von Herzen freuen würde, seinen Herrn gedemütigt zu sehen – der ihn nicht im geheimen haßte – der ihm nicht lieber Schlimmes als Gutes wünschte – und der ihm nicht zuwiderhandelte, wenn er die Macht und den Mut dazu hätte. Je näher seiner Gunst, desto näher seiner Unverschämtheit – je näher an ihm, desto weiter von ihm ab. Das ist hier das Glaubensbekenntnis.«

»Ich weiß nicht«, versetzte sein Bruder, dessen Unwille bald der Überraschung gewichen war, »wer Euch mit solchen Darstellungen behelligt haben mag, oder warum Ihr gerade mich und nicht lieber einen andern wählen mußtet, um ihre Wirkung zu versuchen. So viel sehe ich ein, daß Ihr mich auf die Probe stellen wolltet. Euer Wesen und Aussehen ist ganz anders, als ich es je an Euch bemerkte. Indes muß ich Euch noch einmal sagen, daß Ihr getäuscht seid.«

»Das weiß ich«, entgegnete der Geschäftsführer, »und habe es Euch gesagt.«

»Nicht durch mich«, erwiderte sein Bruder – »durch Euren Angeber, wenn ein solcher vorhanden ist, – wo nicht, durch Eure Gedanken und durch Euren Argwohn.«

»Ich habe keinen Argwohn«, sagte der Geschäftsführer, »sondern Gewißheit. Ihr hasenherzigen, verächtlichen, kriechenden Hunde! Alle stellen sich in der gleichen Weise an, alle leiern das nämliche Lied, alle winseln dieselben Beteuerungen her, und alle bergen das nämliche durchsichtige Geheimnis in ihrem Innern.«

Sein Bruder entfernte sich, ohne weiter zu sprechen, und drückte die Tür hinter sich zu. Mr. Carker, der Geschäftsführer, brachte einen Stuhl dicht vor das Feuer und fing an, mit dem Schüreisen sanft auf die Kohlen loszuschlagen.

»Die feigen, wedelnden Schufte«, murmelte et, und seine beiden glänzenden Zahnreihen entblößten sich. »Es ist keiner unter ihnen, der nicht dergleichen täte, als fühle er sich ebenso erschüttert und beleidigt! Pah! Und doch würde jeder, wenn er einmal die Macht, den Verstand und den Mut dazu hätte, Dombeys Stolz so schonungslos in den Staub legen, wie ich hier diese Asche auseinander breite.«

Er fuhr mit einem gedankenvollen Lächeln in diesem Geschäft fort.

»Noch dazu, ohne daß ihm dieselbe Königin winkte!« fügte er plötzlich hinzu: »und wohlgemerkt, es ist Stolz da, wie wir aus eigener Erfahrung wissen!«

Er versank in ein noch tieferes Brüten und blieb vor dem Kamin sitzen, bis die Funken nahezu erstorben waren; dann stand er gleich einem Manne auf, der sich in ein Buch vertieft hat, schaute umher, nahm Hut und Handschuhe auf, begab sich nach dem Platz, wo sein Pferd wartete, bestieg dasselbe und ritt in den nächsten Straßen weiter; denn es war Abend.

Er ritt in die Nähe von Mr. Dombeys Haus, wo er sein Tier im Schritt gehen ließ und nach den Fenstern hinaufschaute. Das Fenster, wo er vordem Florence mit ihrem Hund hatte sitzen sehen, fesselte zuerst seine Aufmerksamkeit, obschon es nicht erhellt war; dann ließ er seine Blicke lächelnd an der hohen Vorderseite des Hauses hingleiten, als sei er längst weg über den früheren Gegenstand.

»Es gab eine Zeit«, sagte er, »in der es sich schon der Mühe verlohnte, sogar über deinem aufgehenden kleinen Stern zu wachen und sich nach der Richtung der Wolken umzusehen, um dich im Notfall damit zu beschatten. Aber ein Planet ist aufgestiegen, und in seinem Licht verschwindet das deine.«

Er lenkte das weißbeinige Pferd um die Straßenecke und suchte an der Hinterseite des Hauses ein anderes Fenster auf, das erhellt war. Es knüpfte sich daran die Erinnerung an eine gewisse stattliche Person, an eine mit dem Handschuh bedeckte Hand, an die Schwungfedern eines schönen Vogels, die auf dem Boden umhergestreut worden, und an das Beben des leichten, weißen Schwanenflaums, als ahne derselbe einen fernen Sturm. Mit solchen Vorstellungen erfüllt, wandte er sich wieder ab und ritt raschen Trabs durch die dunkler werdenden verlassenen Parke.

Verhängnisvolle Wahrheit, – seine Gedanken galten einer Frau, einer stolzen Frau, die ihn haßte, die aber durch seine Schlauheit und durch ihren eigenen gekränkten Stolz langsam und sicher dazu verleitet worden war, seine Gesellschaft zu dulden und ihn mehr und mehr als einen Mann zu empfangen, der das Vorrecht hatte, mit ihr von ihrer trotzigen Mißachtung des Gatten und ihrer Rücksichtslosigkeit für sich selbst zu sprechen. Sie galten einer Frau, die ihn aus tiefster Seele haßte, – die ihn kannte und Mißtrauen in ihn setzte, weil sie ihn und er sie kannte, aber gleichwohl durch ihre wilde Rachsucht sich bewegen ließ, zu gestatten, daß er ihr mit jedem Tage näher kam, ungeachtet des Hasses, den sie gegen ihn hegte.

Ungeachtet desselben? Nein, gerade deswegen; denn auf dem Grunde – zu weit unten, als daß ihr drohendes Auge es hätte erfassen können, obschon sie es in unbestimmten Zügen sah – lag die düstere Vergeltung, deren leisester Schatten – einmal und nie wieder unter Schaudern bemerkt – zugereicht haben würde, ihre Seele zu beflecken.

Umspukte ihn das Phantom eines solchen Weibes auf seinem Wege – der Wirklichkeit getreu und von ihm erkannt?

Ja. Er sah sie in seinem Geiste gerade so, wie sie war. Sie leistete ihm Gesellschaft mit ihrem Stolz, ihrer Rachsucht und ihrem Haß, alles ihm so deutlich wie ihre Schönheit, aber nichts deutlicher als ihr Haß gegen ihn. Er sah sie bisweilen stolz und abstoßend an seiner Seite, bisweilen aber unter den Hufen seines Pferdes, gefallen und im Staube. Doch stets sah er sie, wie sie war, ohne Maske, und bewachte sie auf dem gefährlichen Wege, den sie ging.

Nachdem er seinen Ritt beendigt und sich umgekleidet hatte, kam er mit gesenktem Haupte, weicher Stimme und beschwichtigendem Lächeln in das Licht ihres prächtigen Zimmers. Auch jetzt sah er sie noch ebenso deutlich. Er argwöhnte sogar das Geheimnis der Hand in dem Handschuh, und hielt sie um dieses Verdachtes willen nur um so länger in der seinen. Auf dem gefährlichen Pfade, den sie ging, war auch er, und sie ließ keine Spur ihres Fußes zurück, ohne daß er sogleich seinen eigenen darauf setzte.

Siebenundvierzigstes Kapitel.


Siebenundvierzigstes Kapitel.

Der Donnerschlag

Die Schranke zwischen Mr. Dombey und seiner Gattin wurde durch die Zeit nicht geringer. Unglücklich in ihrem Innern und durch einander, durch kein Band zusammengeknüpft, als durch die Kette, die gegenseitig ihre Hände fesselte, und an der sie so mächtig zerrten, daß sie bis auf den Knochen schnitt, war die Zeit, diese Trösterin im Leid, diese Beschwichtigerin der Leidenschaft, außerstande, dem schlecht zusammenpassenden Paare zu helfen. Ihr Stolz, wie verschieden er auch der Art und dem Gegenstand nach war, blieb stets in der gleichen Höhe, so daß in dem gegenseitigen kieselharten Zusammenprallen Funken aufflogen, die je nach den Umständen still fortglosteten oder in helle Lohe ausbrachen, stets aber alles in ihrem wechselseitigen Bereich niederbrannten und den Weg ihrer Ehe zu einem Aschenpfad machten.

Laßt uns gerecht gegen ihn sein. In der ungeheuerlichen Verblendung seines Lebens, die sich mit jedem Sandkorn im Stundenglase steigerte, drängte er sie vorwärts, ohne daß er sich einfallen ließ, wohin, oder auf die dazu gewählten Mittel Rücksicht nahm; aber dennoch blieb sein Gefühl gegen sie stets das gleiche wie im Anfang. Es haftete an ihr die große Verschuldung, der Anerkennung seines gewaltigen Einflusses und ihrer völligen Unterwerfung unter denselben einen unerklärlichen Widerspruch entgegenzusetzen, und insoweit war es nötig, sie zu bessern und zur Besinnung zu bringen; aber anderseits sah er in seiner kalten Weise in ihr noch immer eine Dame, die, wenn sie wollte, imstande war, seiner Wahl und seinem Namen Ehre zu machen, so daß er sich auf ihren Besitz etwas zugute tun konnte.

Sie dagegen richtete von jener Nacht an, als sie die Schatten an der Wand betrachtend dasaß, bis zu der schnell kommenden tieferen Nacht, mit der ganzen Stärke leidenschaftlichen, stolzen Rachegefühls täglich und stündlich ihren düsteren Blick auf eine einzige Gestalt, die mit Demütigungen aller Art darauf antwortete, und diese Gestalt war die ihres Gatten.

Kann man wohl den Hauptmangel, der so unerbittlich Mr. Dombey beherrschte, einen unnatürlichen Charakterzug nennen? Es dürfte bisweilen der Mühe wert sein, zu fragen, was die Natur ist, wie die Menschen arbeiten, um sie umzuwandeln, und ob bei den hierdurch veranlaßten Verzerrungen das Unnatürlichsein nicht als natürlich erscheint. Man bringe was immer für einen Sohn oder Tochter unserer mächtigen Mutter in eine enge Sphäre, knüpfe sie fest an eine einzige Idee, die man durch kriechende Unterwerfung von seiten der kleinen, schüchternen oder arglistigen Umgebung nährt, und was wird die Natur sein für den freiwilligen Gefangenen, der sich nie mit den Fittichen eines freien Geistes aufgeschwungen hat? Sicher vermag er bald nicht mehr, sie im Lichte ihrer umfassenden Wahrheit zu erkennen!

Ach, gibt es denn so wenige Dinge in unserer nächsten Umgebung, die ganz natürlich höchst unnatürlich sind? Höre man die Ermahnungen der Richter und Magistratspersonen an die unnatürlichen Auswürflinge der Gesellschaft – unnatürlich in ihren tierischen Gewohnheiten, unnatürlich in ihrem Mangel an Anstand, unnatürlich in dem Mangel an Erkenntnis des Guten und Bösen, unnatürlich in Unwissenheit, Laster, Leichtsinn, Schande, Geist, Miene und allem. Folge man nur dem wackeren Geistlichen oder Arzt, der, mit jedem Atemzug sein Leben gefährdend, in ihre Höhlen geht, in denen man den Widerhall von dem Rasseln unserer Prachtwagen und den täglichen Tritt der Menschen auf dem Straßenpflaster hört. Seht Euch um in der Welt voll häßlicher Anblicke – Millionen unsterblicher Wesen haben auf Erden keine andere Welt –, bei deren leisester Erwähnung schon die Menschheit sich empört und die ekle Verfeinerung in der nächsten Straße sich die Ohren verstopft; seht Euch um in ihr und sprecht: »Ich glaube es nicht.« Atmet die befleckte Luft, angefüllt mit jeder Unreinigkeit, die die Gesundheit und das Leben vergiftet; denkt Euch jeden Sinn, der unserem Geschlecht zum Glück und zur Freude geschenkt wurde, aufs abscheulichste beleidigt und zu einem Kanal umgewandelt, durch den nur Elend und Tod eintreten kann. Macht den vergeblichen Versuch, Euch eine einfache Pflanze, eine Blume oder ein gesundes Gewächs zu denken, die, in ein so häßliches Beet versetzt, ihren natürlichen Wuchs haben oder ihre Blätter der Sonne zuwenden könnten, wie es Gott beabsichtigt hat. Und dann ruft irgendein leichenhaft aussehendes Kind mit verkümmerter Gestalt und boshaftem Gesicht auf, haltet ihm seine unnatürliche Sündigkeit vor und beklagt, daß es in seiner frühen Jugend schon so weit abgekommen ist vom Himmel – denkt aber auch ein wenig daran, daß es in einer Hölle gezeugt, geboren und erzogen wurde.

Diejenigen, die die physikalischen Wissenschaften in ihrem Verhältnis zur Gesundheit des Menschen zu erforschen bemüht sind, sagen uns, wenn die schädlichen Teilchen, die aus einer verdorbenen Luft aufsteigen, dem Gesicht erkennbar wären, so würden wir sie über solchen Schlupfwinkeln in dichten schwarzen Wolken schweben sehen, die langsam weiterrollen, um auch die besseren Teile der Stadt in ihr Bereich zu ziehen. Aber wenn die moralische Pest, die sich mit ihnen hebt und nach den ewigen Gesetzen der beleidigten Natur von ihnen unzertrennlich ist, gleichfalls dem Auge zugänglich wäre, welche Schrecken müßten sich da nicht offenbaren? Wir würden sittliche Verderbnis, Gottlosigkeit, Trunksucht, Diebstahl, Mord und eine lange Reihe namenloser, gegen die Statur verstoßender Sünden über den unglücklichen Plätzen hängen und sich weiterverbreiten sehen, um die Unschuldigen in ihre feindselige Atmosphäre zu ziehen und auch unter die Reinen Ansteckung zu bringen. Wir würden sehen, wie dieselben vergifteten Quellen, die in unsern Spitälern und Lazaretten springen, die Gefängnisse unter Wasser setzen, die Deportationsschiffe fast zum Versinken bringen, ihre Wellen über die Meere hin entsenden und ungeheure Kontinente mit Verbrechen überfluten. Mit Entsetzen würden wir erfahren, daß wir, wo wir Krankheiten aufkommen lassen, die unsere Kinder wegraffen und sich sogar an ungeborene Geschlechter anheften, durch denselben Prozeß auch eine Kindheit heranziehen, die keine Unschuld kennt, eine Jugend ohne Bescheidenheit oder Scham, eine Reife, die in nichts reif ist als in Leiden und Schuld, und ein hohes Alter, das zur Schmähschrift wird auf die Gestalt, die wir tragen. Eine unnatürliche Menschheit! Wenn wir Trauben sammeln von Dornen und Feigen von den Disteln – wenn der Kehricht an den Straßen unserer verderbten Städte sich zu Getreidefeldern umwandelt und in den von Elend gemästeten Kirchhöfen Rosen aufblühen, dann mögen wir uns auch nach einer natürlichen Menschheit umsehen und ihr Gedeihen nach solch einer Saat erwarten.

O daß doch ein guter Geist mit mächtigerer und wohlwollenderer Hand als der lahme Dämon im Märchen, die Hausgiebel abnehmen und einem christlichen Volke zeigen könnte, welch schwarze Gestalten von solchen Herden aufsteigen, um das Gefolge des langsam weiterschreitenden Zerstörungsengels anzuschwellen! Könnten wir nur eine einzige Nacht die blassen Gespenster der Szenen sehen, die von uns zu lang vernachlässigt wurden, um dann mit der dicken, schweren Luft, in welcher Verbrechen und Fieber sich fortpflanzen, der schrecklichen Wiedervergeltung Einhalt zu tun, die stets von solchen Plätzen ausströmt und immer qualmender herankommt! Wie heiter und gesegnet müßte der Morgen nach einer solchen Nacht sein; denn die Menschen – nicht mehr durch selbstgeschaffene Hemmnisse aufgehalten, die nur Staubflecken sind auf dem Pfade zwischen ihnen und der Ewigkeit – würden als Geschöpfe einer gemeinsamen Abkunft, die dem Vater einer einzigen Familie dieselbe Pflicht schulden und nach dem gleichen gemeinsamen Ziele ringen, sich dann bemühen, die Welt zu einem besseren Aufenthalt zu machen!

Nicht weniger heiter und gesegnet würde der Tag sein, weil er in einigen, die nie hinausgeblickt haben auf die sie umgebende Welt von Menschenleben, das Bewußtsein ihrer eigenen Beziehung zu ihr weckte und sie in ihren engherzigen Sympathien und Ansichten eine Verkehrtheit der Natur erkennen ließe, die ebenso groß und, wenn ihre Entwicklung einmal angefangen hat, in ihrem Fortschreiten ebenso natürlich ist wie ihre niedrigste Abstufung.

Aber für Mr. Dombey oder seine Gattin, und für den Pfad, den jeder von ihnen eingeschlagen hatte, war nie ein solcher Tag aufgedämmert. Sechs Monate lang nach Mr. Dombeys Sturz mit seinem Pferde blieben sie stets in dem gleichen gegenseitigen Verhältnis. Ein Marmorfels hätte ihm nicht starrer im Wege liegen können als sie, während er so eisig kalt blieb wie die Quelle, die, nie von einem Lichtstrahle erheitert, in den Tiefen einer tiefen Höhle sprudelt.

Die Hoffnung, die in Florence sich regte, als ihr die Aussicht auf eine neue Heimat dämmerte, war jetzt ganz aus ihrer Seele gewichen. Diese Heimat war jetzt beinahe zwei Jahre alt, und sogar ihr geduldiges Vertrauen konnte nicht standhalten gegen den täglichen Mehltau einer solchen Erfahrung. Wenn sie auch im geheimen noch einem leisen Gedanken Raum gab, Edith und ihr Vater könnten vielleicht in einer fernen Zeit miteinander glücklich leben, so war jetzt jeder Funke von Hoffnung erstorben, daß ihr Vater je sie selbst lieben würde. Der kleine Zeitraum, in dem sie sich vorgestellt hatte, er sei etwas milder gegen sie geworden, geriet durch den Hinblick auf seine Kälte vor- und nachher in Vergessenheit, oder erschien ihr nur noch in dem Lichte einer schmerzlichen Selbsttäuschung.

Florence liebte ihn noch, war aber dabei allmählich so weit gekommen, daß sie sich bei ihrem Lieben nicht in der kalten Wirklichkeit, die vor ihren Augen stand, sondern als etwas vorstellte, was der Vergangenheit angehörte oder doch hätte gewesen sein können. Etwas von der milden Trauer, mit der sie das Andenken an den kleinen Paul oder an ihre Mutter liebte, schien sich in ihre Gedanken an ihn zu mischen und sie sozusagen zu einer teuren Erinnerung zu machen. Lag der Grund darin, daß er für sie tot war, oder teilweise in seiner Beziehung zu früheren Gegenständen ihrer Liebe und in dem Rückblick auf die lang genährten zärtlichen Hoffnungen, die durch ihn vernichtet worden waren? – Sie wußte es nicht; aber der Vater, den sie liebte, begann für sie eine unbestimmte träumerische Idee zu werden, die kaum wesenhafter mit ihrem wirklichen Leben verkettet war als das Bild, das sie sich bisweilen von ihrem Bruder heraufbeschwor, indem sie sich dachte, er sei noch am Leben, wachse zu einem Manne heran und werde sie liebevoll beschützen.

Dieser Wechsel, wenn man ihn so nennen kann, hatte sie beschlichen, wie der Übergang vom Kind zur Jungfrau, in dessen Gefolge er gekommen. Florence war fast siebzehn, als sie bei ihrem einsamen Grübeln sich dieser Gedanken bewußt wurde.

Sie war jetzt allein, denn auch in ihrem Verhältnis zu ihrer Mama war vieles anders geworden. Nach dem Unfall ihres Vaters, als dieser in seinem Zimmer unten lag, bemerkte Florence zum erstenmal, daß Edith ihr auswich. Verletzt und erschüttert, aber doch nicht imstande, diese Gefühle mit ihrer Liebe in Einklang zu bringen, suchte sie eines Abends wieder einmal ihre Mutter in ihrem Zimmer auf.

»Mama«, sagte Florence, leise an ihre Seite tretend, »habe ich Euch etwas zuleide getan?«

»Nein«, lautete Ediths Antwort.

»Und doch muß ich etwas Unrechtes begangen haben«, entgegnete Florence. »Sagt mir, worin es besteht. Ihr seid so ganz anders gegen mich geworden, liebe Mama. Ich kann Euch nicht beschreiben, wie schnell ich auch nur den mindesten Wechsel fühle, denn ich liebe Euch aus ganzer Seele.«

»Und ich dich auch«, sagte Edith. »Ach, Florence, glaube mir, ich liebte dich nie mehr als gerade jetzt!«

»Warum weicht Ihr mir so oft aus und haltet Euch fern von mir?« fragte Florence. »Und warum seht Ihr mich bisweilen so seltsam an, liebe Mama? Ihr wißt doch selbst, daß Ihr es tut?«

Edith deutete mit ihren dunkeln Augen eine Bejahung an.

»Warum«, entgegnete Florence bittend – »ach, sagt mir, warum, damit ich weiß, wie ich’s anfangen muß, um Euch besser zu gefallen. Sagt es mir, und ich werde gewiß allen weiteren Anlaß vermeiden.«

»Meine Florence«, versetzte Edith, indem sie die Hand ergriff, die ihren Nacken umschlungen hielt, und in die so liebevoll zu ihr aufschauenden Augen blickte, während Florence vor ihr auf dem Boden kniete, »warum es so ist, kann ich dir nicht sagen, da es nicht für deine Ohren paßt. Genug, daß ich weiß, es muß so sein. Glaubst du, ich würde es tun, wenn es nicht der Fall wäre?«

»Sollen denn wir einander fremd werden, Mama?« fragte Florence, erschrocken zu ihr aufblickend.

Ediths stumme Lippen bildeten ein »Ja«.

Florence blickte sie mit zunehmender Furcht und Verwunderung an, bis sie unter den sie blendenden Tränen, die auf ihre Wangen niederfielen, nichts mehr sehen konnte.

»Florence! mein Leben!« sagte Edith hastig, »höre mich an. Ich kann es nicht ertragen, dich so bekümmert zu sehen. Beruhige dich. Du siehst, ich bin gefaßt – und meinst du, die Aufgabe werde mir so leicht?«

Bei den letzteren Worten nahm sie ihre gewöhnliche Festigkeit in Ton und Wesen wieder an und fügte dann hastig hinzu:

»Nicht ganz fremd, Nur teilweise – und auch dies nur zum Schein, Florence, denn in meinem Innern bin ich noch immer dieselbe gegen dich und werde es stets sein. Was ich tue, geschieht nicht um meinetwillen.«

»Etwa um meinetwillen, Mama?« fragte Florence.

»Es ist genug, zu wissen, daß es so ist«, antwortete Edith nach einer Pause. »An dem Warum liegt nicht viel. Liebe Florence, es ist besser – es ist notwendig, daß wir weniger häufig miteinander verkehren. Die Vertraulichkeit, die zwischen uns stattgefunden hat, muß abgebrochen werden.«

»Wann?« rief Florence. »O, Mama, wann?«

»Jetzt«, versetzte Edith.

»Für alle künftige Zeit?« fragte Florence.

»Ich will das nicht sagen«, antwortete Edith, »weiß es aber selbst noch nicht. Ebensowenig will ich behaupten, daß eine Freundschaft zwischen uns im besten Falle nur eine unpassende, unheilige Verbindung sei, von der ich hätte vorauswissen können, daß sie zu nichts Gutem führe. Mein Weg hier ging auf Pfaden, die du nie betreten wirst, und welches Ende ihm bevorsteht – Gott weiß es –, mir ist es noch dunkel –.«

Ihre Stimme erstarb in einem Schweigen, und wie sie so dasaß, schauderte sie fast vor Florence zurück, während sie ihr den nämlichen seltsamen, scheuen Blick zuwarf, den das Mädchen schon früher an ihr bemerkt hatte. Dann stürmte derselbe düstere Stolz und Zorn über ihre Züge hin, gleich einer zürnenden Hand über die Saiten einer wild ertönenden Harfe. Keine Weichheit, keine Milde folgte darauf. Sie senkte jetzt nicht weinend ihr Haupt und sagte, daß sie keine Hoffnung habe als in Florence, sondern hielt es aufrecht wie eine schöne Meduse, als wolle sie ihn Angesicht gegen Angesicht in Stein verwandeln. Ja, und sie würde es getan haben, wenn sie diesen Zauber besessen hätte.

»Mama«, sagte Florence ängstlich, »es ist eine Veränderung in Euch vorgegangen, größer, als Ihr mir sagt, und ich erschrecke darüber. Laßt mich ein wenig bei Euch bleiben.«

»Nein«, entgegnete Edith, »nein, meine Liebe. Es ist am besten, wenn ich jetzt allein bleibe – auch am besten für dich, wenn namentlich du dich fern von mir hältst. Stelle keine Fragen an mich und glaube nur, – wenn ich, was auch kommen mag, wankelmütig und launenhaft gegen dich erscheine, so geschieht dies nicht mit Absicht und gegen meinen Willen. Obgleich wir jetzt fremder gegeneinander sein müssen, als wir waren, so vertraue darauf, daß mein Inneres gegen dich unverändert ist. Vergib mir, daß ich je deine freudelose Heimat getrübt habe – ich weiß es wohl, ich bin ein Schatten darauf – und laß uns nie wieder davon sprechen.«

»Mama«, schluchzte Florence, »wir sollen uns doch nicht trennen?«

»Damit dies nicht geschehe, müssen wir so handeln«, sagte Edith. »Frage nicht weiter. Geh‘ jetzt, Florence! Meine Liebe und mein Schmerz begleiten dich.«

Sie entließ Florence mit einer Umarmung und sah der sich Entfernenden mit einem Blick nach, als weiche in der lieblichen Gestalt ihr guter Engel von ihr, um sie den stolzen, zürnenden Leidenschaften zu überlassen, die sich ihrer bemächtigt und ihr Siegel auf ihre Stirne gedrückt hatten.

Von dieser Stunde waren Florence und Edith einander nie mehr, was sie sich gewesen. Es vergingen Tage, ohne daß sie anders als bei Tisch und in Mr. Dombeys Gegenwart zusammentrafen. Edith saß dann gebieterisch, stumm und unbeugsam da, ohne nur nach ihr hinzusehen.

Nahm Mr. Carker an dem Mahl teil, was im Laufe von Mr. Dombeys Genesung und nachher oft geschah, so benahm sie sich sogar noch abgemessener gegen das arme Mädchen als zu anderen Zeiten. Trafen sie sich aber allein, so schlang sie Florence ebenso liebevoll in ihre Arme wie vordem, obschon nicht mit demselben Milderwerden ihres stolzen Aussehens, und oft, wenn sie spät nach Hause gekommen war, konnte sie wie früher im Dunkeln sich nach ihrem Zimmer hinaufstehlen, um über ihrem Pfühl ein »gute Nacht« zu flüstern. Florence, die in ihrem Schlummer nichts von solchen Besuchen ahnte, erwachte bei diesen leisen Worten zuweilen wie aus einem Traum, und es war ihr, als fühle sie ihr Gesicht von Lippen berührt. Doch kam dies im Laufe der Monate weniger und weniger häufig vor.

Und nun begann die Leere in Florences Herzen abermals eine Öde um sie her zu breiten. Wie das Bild ihres Vaters, den sie liebte, unbewußt zu einem bloßen Gedanken geworden war, so verblich auch Edith, das Schicksal aller übrigen teilend, an die sich ihre Liebe gekettet hatte, mit jedem Tage mehr in der Entfernung. Ganz allmählich wich sie von Florence zurück, gleich dem entschwindenden Geiste dessen, was sie gewesen; allmählich schien die Kluft zwischen ihnen weiter und tiefer zu werden; allmählich erstarrte die Innigkeit, die sie an den Tag gelegt hatte, mehr und mehr in dem kecken, zornigen Trotz, mit dem sie, ohne daß Florence eine Ahnung davon hatte, sich dem Rande eines tiefen Abgrunds näherte und in denselben niederschaute. Der schwere Verlust, den Florence in Edith erlitten, wurde nur durch eine einzige Rücksicht gemildert, und obschon ihr schwer belastetes Herz nicht viele Beruhigung darin fand, so versuchte sie doch, sich zu überreden, daß einiger Trost für sie darin liege. Nicht länger in ihrer Zuneigung und ihrem Pflichtgefühl gegen die Eltern geteilt, konnte sie jetzt beide lieben, ohne einem davon unrecht zu tun. Waren sie doch nur Schatten in ihrer warmen Einbildungskraft, und sie konnte ihnen in ihrem Herzen einen gleichen Platz anweisen, ohne daß sie zweifelhaft an ihr werden mußten.

Sie versuchte es so. Bisweilen, ja sogar oft konnten sich ihr verwunderte Mutmaßungen über den Grund zu Ediths verändertem Benehmen aufdrängen und ihr Schrecken einflößen; doch fand sie in der Ruhe ihrer Einsamkeit und ihres stummen Grams nicht Raum zu nachhaltigem Grübeln. Genügte es ja an der Erinnerung, daß der Stern ihrer Hoffnung von dem allgemeinen Düster, das über dem Hause hing, umwölkt war, und sie ergab sich darein mit Tränen.

In einem solchen Traumleben, in dem die überströmende Liebe ihres jungen Herzens sich an luftigen Gestalten erschöpfte, während sie in der wirklichen Welt nicht viel anderes erfuhr, als das Aufsichselbstzurückschlagen der gewaltigen Flut, wurde Florence siebzehn. Die Einsamkeit hatte sie zwar schüchtern gemacht, aber ihr sanftes Gemüt und die Innigkeit ihres Wesens nicht verbittert. In unschuldiger Einfalt ein Kind, in bescheidenem Selbstvertrauen und in der Wärme ihres Herzens eine Jungfrau, schienen diese beiden Eigenschaften sich zugleich als anmutiges Gemisch in ihrem schönen Gesicht und in der Zartheit ihres Körpers auszudrücken, gleichsam als wolle der Frühling nur ungern dem kommenden Sommer Platz machen, dessen Pracht er mit der früheren Schönheit seiner Blüten zu erhöhen suchte. In ihrer ansprechenden Stimme aber, in ihren ruhigen Augen, zuweilen in einem eigentümlichen ätherischen Licht, das auf ihrem Haupte zu ruhen schien, und stets in einem gewissen sinnigen Zug ihrer Schönheit lag ein Ausdruck, wie man ihn an dem toten Knaben gesehen hatte, und der hohe Rat in der Bedientenhalle flüsterte unter Kopfschütteln davon und aß und trank desto mehr in dem engen Bunde guter Kameradschaft.

Die erwähnte achtsame Körperschaft wußte gar viel über Mr. und Mrs. Dombey, namentlich aber über Mr. Carker zu sagen, der augenscheinlich den Vermittler zwischen beiden machen sollte und stets ab- und zuging, als versuche er Frieden zu stiften, obschon es nie gelang. Alle beklagten den unbehaglichen Stand der Angelegenheit und drückten vereint ihre Ansicht dahin aus, Mrs. Pipchin, die im höchsten Grade unpopulär war, habe ihre Hand mit im Spiel; im ganzen übrigens war es angenehm, eine so gute Zielscheibe zu haben, und man ging mit aller Lust auf dieselbe los.

Diejenigen, die im Hause Besuch machten oder die von Mr. und Mrs. Dombey besucht wurden, hielten – jedenfalls sofern der Stolz in Rechnung kam – das Ehepaar für ziemlich gut zusammenpassend und machten sich keine weiteren Gedanken darüber. Die junge Lady mit dem Rücken ließ sich einige Zeit nach Mrs. Skewtons Tode nicht mehr sehen und bemerkte gegen ihre besonderen Freunde mit ihrem gewöhnlichen mädchenhaften Gekreisch, daß sie bei dieser Familie stets an Grabsteine und derartige entsetzliche Dinge denken müsse; als sie aber endlich wieder erschien, bemerkte sie nichts Unrechtes, mit Ausnahme des Umstandes, daß Mr. Dombey einen großen Bündel goldener Petschafte an seiner Uhr trug, der ihr ein abergläubisches Entsetzen einflößte. Diese junge Herzenseroberin war der Ansicht, daß eine Stieftochter schon dem Grundsatz nach verwerflich sei; außerdem hatte sie gegen Florence nichts einzuwenden, als daß es ihr kläglich an »Stil« fehle, womit sie vielleicht »Rücken« sagen wollte. Viele, die nur bei besonders wichtigen Anlässen ins Haus kamen, wußten kaum, wer Florence war, und sagten beim Nachhausegehen:

»Das Mädchen in der Ecke war also Miß Dombey? Recht hübsch, aber so zart und gedankenvoll in ihrem Aussehen!«

Diese übergroße Zartheit wurde durch das Leben, das Florence während der letzten sechs Monate geführt hatte, nicht gemildert, und sie nahm am Abend vor dem zweiten Jahrestage der Vermählung ihres Vaters und Ediths (am ersten hatte Mrs. Skewton ihren Lähmungsanfall erlitten) mit einer Unruhe, die sich bis zur Furcht steigerte, an der Dinertafel Platz. Sie wußte sich eigentlich keinen anderen Grund dafür anzugeben, als das bevorstehende Fest, den Ausdruck in dem Gesicht ihres Vaters, den sie in einem hastigen Hinblick bemerkte, und die Anwesenheit Mr. Carkers, die ihr, obschon stets unangenehm, an diesem Tage bedrückender wurde als je.

Edith war reich gekleidet, denn sie und Mr. Dombey wollten an diesem Abend eine große Gesellschaft besuchen, und das Diner war auf eine späte Stunde bestellt worden. Mrs. Dombey erschien erst, als die übrigen schon Platz genommen hatten, und bei ihrem Eintritt erhob sich Mr. Carker, um sie nach ihrem Stuhl zu führen. So schön und prächtig sie auch war, lag doch in ihrem Gesicht und in ihrer Haltung ein Zug, der sie hoffnungslos von Florence und jedermann sonst zu scheiden schien. Und doch erblickte Florence für einen Moment einen Strahl von Wohlwollen in ihren Augen, der sie den Abstand, der zwischen ihnen stattfand, nur um so bitterer beklagen ließ.

Bei Tisch wurde nur wenig gesprochen, Florence hörte ihren Vater gelegentlich mit Mr. Carker über Geschäftssachen reden, worauf der letztere leise antwortete; aber sie achtete nicht auf das, was sie sagten, und wünschte nur, daß das Diner zu Ende wäre. Nachdem der Nachtisch aufgetragen worden und die Diener sich entfernt hatten, begann Mr. Dombey nach mehrmaligem Räuspern, das auf nichts Gutes deutete:

»Vermutlich wißt Ihr, Mrs. Dombey, daß ich der Haushälterin die kleine Gesellschaft angekündigt hatte, die morgen hier dinieren wird.«

»Ich speise nicht zu Hause«, entgegnete sie.

»Keine große Partie«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er tat, als habe er sie nicht gehört; »nur zwölf oder vierzehn. Meine Schwester, Major Bagstock und einige andere, die Euch nur wenig bekannt sind.«

»Ich speise nicht zu Hause«, wiederholte sie.

»Wie zweifelhaften Grund ich auch haben mag, Mrs. Dombey,« sagte Mr. Dombey, majestätisch weitersprechend, als ob keine Silbe von ihr erwidert worden wäre, »den Anlaß eben jetzt in sehr erfreulicher Erinnerung zu tragen, so muß doch in diesen Dingen vor der Welt der Schein bewahrt werden. Wenn Ihr keine Achtung vor Euch selbst habt, Mrs. Dombey–«

»Ich habe keine«, unterbrach ihn Edith.

»Madame«, rief Mr. Dombey, mit der Hand auf den Tisch schlagend, »laßt mich ausreden, wenn ich bitten darf. Ich sage, wenn Ihr keine Achtung vor Euch selbst habt –«

»Und ich sage, daß ich keine habe«, antwortete sie.

Er blickte nach ihr hin; aber das Gesicht, das sie ihm zeigte, würde sich nicht verändert haben, selbst wenn der Tod ihr seinen Blick zugeworfen hätte.

»Carker«, sagte Mr. Dombey, sich mit mehr Ruhe an diesen Gentleman wendend, »da Ihr schon bei früheren Gelegenheiten die Vermittlung zwischen mir und Mrs. Dombey übernahmt, und da ich, soweit ich selbst mit in Beteiligung komme, den Anstand des Lebens wahren möchte, so will ich Euch um die Gefälligkeit bitten, Mrs. Dombey zu unterrichten, wenn sie keine Achtung vor sich selbst habe, so sei der Fall bei mir wenigstens anders, und ich bestehe deshalb auf meiner Maßregel für morgen.«

»Sagt Eurem souveränen Gebieter, Sir«, ergriff Edith das Wort, »daß ich mir die Freiheit nehmen werde, gelegentlich über diesen Gegenstand mit ihm zu sprechen, aber nur unter vier Augen.«

»Mr. Carker, Madame«, sagte ihr Gatte, »kennt den Grund, der mich nötigt, Euch dieses Vorrecht zu verweigern, und hat deshalb nicht nötig, sich mit einem solchen Auftrag zu befassen.«

Er bemerkte während dieser Worte eine Bewegung ihrer Augen und folgte derselben mit den seinen.

»Eure Tochter ist anwesend, Sir«, bemerkte Edith.

»Meine Tochter wird anwesend bleiben«, sagte Mr. Dombey.

Florence, die aufgestanden war, setzte sich wieder und verbarg zitternd ihr Antlitz mit den Händen.

»Meine Tochter, Madame« – begann Mr. Dombey.

Aber Edith fiel ihm mit einer Stimme ins Wort, die zwar nicht heftig, aber doch so klar, nachdrücklich und bestimmt klang, daß man sie in einem Sturm hätte hören können.

»Ich erkläre Euch, daß ich allein mit Euch sprechen will«, sagte sie, »Wenn Ihr nicht wahnsinnig seid, so achtet auf das, was ich sage.«

»Ich habe das Recht, Madame«, entgegnete ihr Gatte, »mit Euch zu sprechen, wann und wo es mir beliebt, und es beliebt mir, dies jetzt und hier zu tun.«

Sie stand auf, als wolle sie das Zimmer verlassen, setzte sich aber wieder nieder, blickte mit der größten äußeren Ruhe nach ihm hin und sagte mit derselben Stimme:

»So tut es!«

»Ich muß Euch zuvörderst bemerken, Madame«, sagte Mr. Dombey, »daß ich in Eurem Benehmen etwas Drohendes finde, das Euch nicht zusteht.«

Sie lachte. Die erschreckten Diamanten zitterten in ihrem Haare. Man kennt Sagen von kostbaren Steinen, die erblaßten, wenn sich ihr Träger in Gefahr befand. Wären diese mit solcher Eigenschaft begabt gewesen, so hätten ihre gefangenen Lichtstrahlen in diesem Augenblicke die Flucht ergriffen und einer trüben Bleifarbe Raum gegeben. Carker hörte mit zur Erde gesenkten Augen zu.

»Was meine Tochter betrifft, Madame«, sagte Mr. Dombey, den Faden seiner Rede wieder aufnehmend, »so ist es keineswegs mit ihrer Pflicht gegen mich unverträglich, wenn sie erfährt, welches Benehmen sie zu vermeiden hat. Ihr gebt ihr in diesem Augenblick eine sehr bezeichnende Probe davon, und ich hoffe, daß sie sich dieselbe zunutzen macht.«

»Ich will Euch nicht unterbrechen«, erwiderte seine Gattin unbeweglich in Blick, Stimme und Haltung, »ich würde nicht aufstehen, mich entfernen oder Euch im Sprechen auch nur eines Wortes hindern, selbst wenn das Zimmer in Flammen stünde.«

Mr. Dombey bewegte seinen Kopf, wie in spöttischem Dank für ihre Aufmerksamkeit, und fuhr fort. Aber nicht mit derselben Fassung wie zuvor, denn Ediths Unruhe in Beziehung auf Florence und ihre Gleichgültigkeit gegen ihn und seinen Tadel wirkten so bitter auf ihn wie eine starrende Wunde.

»Mrs. Dombey«, sagte er, »es wird sich wohl mit der besseren Belehrung meiner Tochter vertragen, wenn sie erfährt, wie sehr ein starrsinniger Charakter zu beklagen und wie nötig dessen Umwandlung ist, besonders da, wo er – ich muß hinzufügen, undankbar – nach Befriedigung des Ehrgeizes und des Interesses sich geltend macht. Ich glaube, diese beiden Punkte haben einigermaßen mitgewirkt, um Euch zu veranlassen, Eure gegenwärtige Stellung an diesem Tische einzunehmen.«

»Nein, ich will nicht aufstehen, will nicht gehen, will Euch an keiner Silbe hindern«, wiederholte sie in derselben Weise wie zuvor, »und wenn das Zimmer in Flammen stünde.«

»Es ist wohl natürlich genug, Mrs. Dombey«, fuhr er fort, »daß Ihr Euch bei so unangenehmen Wahrheiten durch die Anwesenheit von Zuhörern beunruhigt fühlt, obschon ich« – er konnte hier sein wahres Gefühl nicht verhehlen und ebensowenig es seinen Augen verwehren, daß sie nicht einen düsteren Blick nach Florence hinwarfen – »obschon ich gestehen muß, daß ich nicht begreife, wie jemand anders als ich, den sie so nahe angehen, ihnen einen größeren Nachdruck zu verleihen imstande sein sollte. Es mag natürlich genug sein, daß Ihr vor Zeugen nicht gern die Rüge Eures widerspenstigen Charakters anhört, den Ihr nicht bald genug zügeln könnt, den Ihr zügeln müßt, Mrs. Dombey, und den Ihr, wie ich schon vor unserer Vermählung bei mehreren Gelegenheiten mit Zweifel und Mißfallen bemerkte, leider sogar gegen Eure eigene Mutter kundgegeben habt. Doch das Abhilfmittel steht Euch zu Gebot. Ich habe von Anfang an keineswegs vergessen, daß meine Tochter zugegen ist, Mrs. Dombey, muß aber jetzt Euch bitten, nicht zu vergessen, daß morgen mehrere Personen anwesend sein werden, die Ihr mit einiger Rücksicht auf den Schein in anständiger Weise zu empfangen habt.«

»So, ist es nicht genug«, sagte Edith, »daß Ihr wißt, was zwischen Euch und mir vorgegangen; es ist nicht genug, daß dieser Anblick hier« – sie deutete auf Carker, der mit zu Boden gesenkten Augen noch immer zuhörte – »Euch an die Beschimpfungen erinnert, denen Ihr mich aussetztet; es ist nicht genug, daß Ihr jenes Wesen dort seht«, während sie nach Florence hinwies, bemerkte man das erste- und einzigemal ein leichtes Zittern ihrer Hand, »und dabei denkt, was Ihr getan habt, um mir täglich, stündlich und ohne Unterlaß den herbsten Schmerz zu bereiten; es ist nicht genug, daß vor allen andern im Jahr gerade dieser Tag mich erinnern muß an einen Kampf – er ist zwar wohl verdient, obschon ein Mann, wie Ihr seid, keinen Sinn dafür hat –, in dem mir der Tod so wünschenswert gewesen wäre! Ihr fügt zu alledem noch die das Ganze krönende Gemeinheit, daß Ihr sie zur Zeugin macht von der Tiefe, in die ich gefallen bin, während Ihr doch wißt, daß Ihr mich für Ihren Frieden zum Opfer machtet – das einzig edle Gefühl und Interesse meines Lebens –, während Ihr wißt, daß ich um ihretwillen sogar jetzt noch, wenn ich könnte – aber ich kann’s nicht, meine Seele verabscheut Euch zu sehr – mich ganz Eurem Willen unterwerfen und der demütigste Abhängige sein würde, der unter Euch steht.«

Dies war nicht die Art, die Mr. Dombeys Größe gefallen konnte. Ihre Worte riefen das alte Gefühl stärker und ungestümer als je ins Dasein. Abermals zeigte sich ihm sein vernachlässigtes Kind auf dem rauhen Pfade seines Lebens sogar in seiner widerspenstigen Gattin als mächtig, wo er machtlos – als alles, wo er nichts war.

Er wandte sich an Florence, als sei sie die Sprecherin gewesen, und befahl ihr, das Zimmer zu verlassen. Mit verhülltem Antlitz gehorchte sie, indem sie zitternd und weinend sich entfernte.

»Ich begreife den Geist des Widerspruchs, Madame«, sagte Mr. Dombey mit der Glut eines grimmigen Triumphs auf seinem Gesicht, »der Eure Zuneigung in diesen Kanal leitete; aber sie hat keine Erwiderung gefunden, Mrs. Dombey – sie hat keine Erwiderung gefunden!«

»Um so schlimmer für Euch«, antwortete sie, unverändert in ihrer Stimme und in ihrem Wesen. »Ja!« sie wandte sich rasch um, während sie dieses sprach, »was schlimm für mich ist, wird zwanzigmillionenfältig schlimmer für Euch. Faßt dies ins Auge, wenn Ihr auch auf sonst nichts Rücksicht nehmt.«

Der Diamantenbogen, der sich über ihr dunkles Haar breitete, blitzte und funkelte wie eine Sternbrücke. Es war kein Warnzeichen, sonst wäre er trüb und dunkel geworden wie eine befleckte Ehre. Carker saß noch immer da und hörte mit niedergeschlagenen Augen zu.

»Mrs. Dombey«, sagte Mr. Dombey, seine frühere anmaßende Haltung nach Kräften wieder annehmend, »durch ein solches Verhalten werdet Ihr mich nicht versöhnen oder von irgendeinem Vorsatz abbringen.«

»Es ist das einzig Wahre, obschon nur ein matter Ausdruck dessen, was in meinem Innern lebt«, versetzte sie. »Wenn ich übrigens dächte, es könnte Euch versöhnen, so würde ich es unterdrücken, sofern dies menschlicher Anstrengung möglich wäre. Ich werde nichts tun, um was Ihr mich ersucht.«

»Ich bin nicht gewöhnt, zu ersuchen, Mrs. Dombey«, bemerkte er. »Ich befehle.«

»Was auch morgen in Eurem Hause vorgehen wird, ich werde keine Rolle dabei übernehmen, denn ich mag mich zu einer solchen Zeit nicht als die widerspenstige Sklavin, die Ihr gekauft habt, zur Schau stellen lassen. Wenn ich meinen Hochzeitstag feire, will ich ihn als einen Tag der Schmach begehen. Selbstachtung! Schein vor der Welt! Was soll dies mir? Ihr habt alles aufgeboten, um sie für mich zu nichts zu machen, und sie sind wirklich nichts.«

»Carker«, sagte Mr. Dombey mit gefurchter Stirn und nach kurzem Besinnen, »Mrs. Dombey hat alle Rücksichten auf sich und auf mich vergessen und versetzt mich in eine mit meinem Charakter so unverträgliche Stellung, daß ich diesen Stand der Dinge zu einem Schluß bringen muß.«

»So befreit mich von der Kette, durch die ich gefesselt bin«, entgegnete Edith, unbeweglich in Stimme, Blick und Haltung, wie sie es die ganze Zeit über gewesen. »Laßt mich ziehen.«

»Madame!« wiederholte er, »Mrs. Dombey!«

»Erlöst mich! Gebt mir die Freiheit!«

»Madame!« wiederholte er. »Mrs. Dombey!«

»Bedeutet ihm«, sagte Edith, ihr stolzes Gesicht Mr. Carker zukehrend, »daß ich die Scheidung wünsche – daß sie wohl das beste sein werde – daß ich sie ihm empfehle. Sagt ihm, er dürfe dabei seine eigenen Bedingungen machen – sein Reichtum ist nichts für mich –, aber sie könne nicht zu bald stattfinden.«

»Gütiger Himmel, Mrs. Dombey«, sagte ihr Gatte mit größtem Erstaunen, »haltet Ihr es für möglich, daß ich je einem solchen Vorschlag Gehör schenken könnte? Wißt Ihr, wer ich bin, Madame? Wißt Ihr, was ich vertrete? Habt Ihr je von Dombey und Sohn gehört? Die Leute sagen zu lassen, daß Mr. Dombey – Mr. Dombey! – von seiner Frau geschieden worden sei! Gemeines Volk sollte reden dürfen von Mr. Dombey und seinen häuslichen Angelegenheiten! Glaubt Ihr ernstlich, Mrs. Dombey, ich könne je meinen Namen in solcher Weise preisgeben? Bah, bah, Madame! Pfui! Ihr seid abgeschmackt.«

Mr. Dombey lachte hellauf.

Aber nicht wie sie. Besser, sie wäre tot gewesen, als daß sie lachen konnte, wie sie es jetzt tat, während ihr Blick noch immer fest auf ihm haftete. Besser, er wäre tot gewesen, als daß er dasitzen mußte in seiner Großartigkeit, um sie zu hören.

»Nein, Mrs. Dombey«, nahm er wieder auf, »nein, Madame. Eine Scheidung zwischen Euch und mir ist etwas Unmögliches, und ich rate Euch deshalb um so mehr, der Stimme Eures Pflichtgefühls Gehör zu schenken. Und Carker, wie ich gegen Euch bemerken wollte –«

Mr. Carker, der die ganze Zeit dagesessen und zugehört hatte, schlug jetzt seine Augen auf, in denen ein helles, ungewöhnliches Licht blitzte.

»Wie ich Euch bemerken wollte«, wiederholte Mr. Dombey, »ich muß Euch, nun die Sache so weit gekommen ist, bitten, Mrs. Dombey zu belehren, es sei gegen meine Grundsätze, zu gestatten, daß mir irgend jemand in den Weg trete – wer es auch sein mag, Carker – oder zu dulden, daß denjenigen, die mir zur Unterwürfigkeit verpflichtet sind, ein kräftigerer Beweggrund zum Gehorsam vorgehalten werde, als ich bin. Die Art, wie meiner Tochter erwähnt wurde, und der Gebrauch, der im Widerspruch gegen mich von meiner Tochter gemacht wurde, ist unnatürlich. Ob meine Tochter in wirklichem Einvernehmen mit Mrs. Dombey steht, weiß ich nicht, und ich kümmere mich auch nicht darum; aber nach dem, was Mrs. Dombey heute gesagt und was meine Tochter heute angehört hat, möchte ich Euch bitten, Mrs. Dombey mitzuteilen, daß ich, wenn sie fortfährt, dieses Haus in einen Kampfplatz umzuwandeln, dem eigenen Zugeständnisse dieser Dame gemäß, meine Tochter einigermaßen verantwortlich machen und mit meinem strengsten Mißfallen strafen werde, Mrs. Dombey hat gefragt, ob es nicht genug sei, daß sie dies und dies getan habe. Ihr seid wohl so gütig, ihr darauf zu antworten: ›Nein, es ist nicht genug.‹«

»Gestattet mir einen Augenblick«, rief Carker, sich ins Mittel legend. »So peinlich auch im besten Falle meine Lage ist, und wie leid es mir tut, wenn es den Anschein gewinnen sollte, als hege ich eine von der Eurigen verschiedene Meinung« – er wandte sich dabei an Mr. Dombey – »so möchte ich doch fragen, ob es nicht besser wäre, wenn Ihr die Frage der Scheidung noch einmal in Erwägung zöget. Ich weiß, wie wenig sie sich mit Eurer hohen öffentlichen Stellung zu vertragen scheint, und kenne Eure Entschlossenheit, wenn Ihr Mrs. Dombey zu verstehen gebt« – das Licht in seinen Augen flog zu ihr hin, als er die nachstehenden Worte mit der Bestimmtheit ebenso vieler Glocken getrennt vortrug –, »daß nichts Euch je trennen könne, als der Tod. Nichts anderes. Wenn Ihr aber bedenkt, daß Mrs. Dombey, so lange sie in diesem Hause lebt und es, wie Ihr Euch ausdrücktet, zu einem Kampfplatz macht, in diesem Zwist nicht nur ihre Rolle hat, sondern auch (denn ich kenne Eure Entschiedenheit) jeden Tag Miß Dombey darin verflicht, so findet Ihr es doch vielleicht besser, sie vor einer unablässigen Geistesaufregung zu bewahren und ihr das fast unerträgliche Gefühl zu ersparen, daß sie ungerecht gegen jemand anders sei. Gewänne es andernfalls nicht den Anschein – ich will nicht sagen, daß es wirklich so sei –, als wolltet Ihr Mrs. Dombey bei der Erhaltung Eurer hohen und unangreifbaren Stellung zum Opfer bringen?«

Abermals fiel das Licht seiner Augen auf sie, als sie jetzt dastand und mit einem unheimlichen Lächeln auf ihrem Gesicht nach ihrem Gatten hinsah.

»Carker«, versetzte Mr. Dombey mit hochmütigem Stirnerunzeln und in einem Ton, der entscheidend sein sollte, »Ihr verkennt Eure Stellung, wenn Ihr mir über einen solchen Punkt Euren Rat anbietet, und verkennt auch, wie ich erstaunt bemerken muß, mich, indem Ihr mir mit einem derartigen Rat kommt. Ich habe nichts weiter zu sagen.«

»Vielleicht verkanntet Ihr meine Stellung«, sagte Carker, mit einem ungewöhnlichen und unbeschreiblichen Hohn in seiner Miene, »als Ihr mich mit den Aufträgen betrautet, die ich« – mit einer Handbewegung nach Mrs. Dombey hin – »hier auszurichten hatte.«

»Durchaus nicht, Sir, durchaus nicht«, entgegnete der andere hochmütig. »Es war Eure Aufgabe – –«

»Durch meine untergeordnete Persönlichkeit zu Mrs. Dombeys Demütigung beizutragen. Ich vergaß dies. O ja, dies war die wohlverstandene Absicht«, sagte Carker. »Ich bitte um Verzeihung!«

Während er mit einer Haltung von Unterwürfigkeit, die schlecht mit seinen in vollkommen bescheidenem Ton vorgebrachten Worten zusammenstimmte, gegen Mr. Dombey den Kopf verbeugte, drehte er ihn seitwärts gegen sie und entsandte seine spähenden Blicke in diese Richtung.

Besser, ihre Schönheit hätte sich in Häßlichkeit verwandelt und sie wäre tot zusammengesunken, als daß sie dastand mit einem solchen Lächeln auf ihrem Gesicht in der trotzigen Majestät eines gefallenen Geistes. Sie erhob ihre Hand zu dem Juwelen-Diadem, das auf ihrem Kopfe funkelte, riß es mit einem Ungestüm herab, so daß ihr grausam zerrauftes, üppiges schwarzes Haar wirr auf ihre Schultern niederfiel, und schleuderte die Edelsteine auf den Boden. Dann zerrte sie die diamantenen Spangen von ihren Armen, warf sie dem Kopfschmucke nach und zertrat den funkelnden Haufen mit ihren Füßen. Ohne ein Wort, ohne einen Schatten in dem Feuer ihres blitzenden Auges schaute sie, während sie sich nach der Tür hin bewegte, mit demselben unheimlichen Lächeln nach Mr. Dombey hin und verließ das Zimmer.

Florence hatte während ihrer Anwesenheit genug gehört, um daraus die Überzeugung zu gewinnen, daß Edith sie noch liebe, daß sie um ihretwillen gelitten und daß sie in der Stille ihr Opfer gebracht hatte, um nicht den Frieden des ihr teuren Wesens zu stören. Sie verlangte nicht, mit ihr hierüber zu sprechen – konnte es auch nicht, wenn sie dachte, wem sich ihre Mutter entgegengesetzt hatte –, aber sie sehnte sich nach einer einzigen stummen liebevollen Umarmung, um ihr die dankbare Versicherung zu geben, daß sie all dies in tiefster Seele empfand.

Ihr Vater ging an jenem Abend allein aus, und bald nach seiner Entfernung verließ Florence ihr Zimmer, um im Hause umherzuwandeln, ob ihr nicht Edith begegne; aber vergeblich. Letztere befand sich in ihren eigenen Gemächern, und Florence wagte schon lange nicht mehr, dorthin zu gehen, um nicht willkürlich neue Mißhelligkeiten herbeizuführen. Gleichwohl gab Florence der Hoffnung Raum, sie noch zu sehen, bevor sie sich schlafen legte, weshalb sie in dem so prächtigen und doch so traurigen Hause ruhelos die Zimmer durchwandelte.

Sie ging eben durch eine Galerie, die nach der Treppe hinführte und nur bei besonders wichtigen Anlässen beleuchtet wurde, als sie durch die bogenförmige Öffnung die Gestalt eines Mannes auf der entgegengesetzten Stiege herunterkommen sah, In der Furcht, ihrem Vater zu begegnen, machte sie im Dunkeln halt und schaute durch den Bogen in das Licht hinaus. Es war jedoch nicht Mr. Dombey, sondern Carker, der allein herabkam und über das Geländer nach der Halle hinunterschaute. Keine Klingel wurde angezogen, um seine Entfernung zu melden, und auch von den Dienern war niemand in der Nähe. Er stieg ruhig hinab, öffnete selbst die Türe, glitt ruhig hinaus und schloß leise hinter sich zu.

Ihr unüberwindlicher Widerwille gegen diesen Mann und vielleicht auch ihr heimliches Beobachten eines andern, das selbst unter so unschuldigen Umständen ihr wie ein Verbrechen vorkam, ließ sie vom Kopf bis zu den Füßen erzittern. Das Blut schien eiskalt durch ihre Adern zu rinnen, und sobald es ihr möglich war – denn anfangs bannte sie die Furcht an die Stelle – eilte sie hastig nach ihrem Zimmer hinauf, wo sie sich mit ihrem Hunde einschloß. Aber auch da noch fühlte sie ein Frösteln des Schreckens, als ob irgendwo in ihrer Nähe Gefahr lausche. Diese Vorstellung mischte sich in ihre Träume und beunruhigte sie die ganze Nacht. Nach einem unerquicklichen Schlaf stand sie am andern Morgen mit der peinlichen Erinnerung an das häusliche Unglück des gestrigen Tages auf und spähte abermals in allen Zimmern, die sie während der Frühstunden zu öfteren Malen durchwandelte, nach Edith. Diese aber blieb in ihren Gemächern, und Florence sah nichts von ihr. Als sie übrigens erfuhr, das beabsichtigte Diner im Hause sei verschoben worden, so hielt sie es für wahrscheinlich, ihre Mutter werde abends ausgehen, um der besprochenen Einladung Folge zu geben, weshalb sie sich vornahm, zu sehen, ob sie nicht mit ihr auf der Treppe zusammenkommen könne.

Bei Eintritt der Dämmerung hörte sie von dem Zimmer aus, in dem sie absichtlich harrte, einen Fußtritt auf der Treppe, den sie für den ihrer Mutter hielt. Sie eilte hinaus und begegnete ihr auf dem Weg nach ihrem Zimmer.

Florence wollte mit ihren verweinten Augen und ausgestreckten Armen auf sie zugehen; aber wie erschrak sie nicht, als Edith bei ihrem Anblick mit einem Aufschrei zurückwich.

»Komm nicht in meine Nähe!« rief sie. »Bleib zurück! Tritt mir nicht in den Weg!«

»Mama!« sagte Florence.

»Nenne mich nicht mit diesem Namen! Sprich nicht mit mir! Sieh mich nicht an, Florence!« Sie wich zurück, als Florence ihr einen Schritt näher kam, »berühre mich nicht.«

Während Florence wie gebannt dem hageren Gesichte und dem starren Blicke gegenüber stand, bemerkte sie wie in einem Traum, daß Edith ihre Hände über die Augen breitete, am ganzen Leibe schaudernd sich nach der Wand hin duckte, wie ein scheues Tier an ihr vorbeischlich, sich dann wieder aufrichtete und von hinnen floh.

Florence brach auf der Treppe ohnmächtig zusammen und wurde daselbst, wie sie glaubte, von Mrs. Pipchin aufgefunden. Sie kam erst wieder zur Besinnung, als sie auf ihrem Bette lag und die erwähnte Dame mit einigen Dienstboten um sie her stand.

»Wo ist Mama?« war ihre erste Frage.

»Zu einem Diner ausgegangen«, antwortete Mrs. Pipchin.

»Und Papa?«

»Mr. Dombey befindet sich auf seinem Zimmer, Miß Dombey«, sagte Mrs. Pipchin, »und Ihr tut wohl am besten, wenn Ihr jetzt Eure Kleider abnehmt und Euch sogleich zu Bett legt.«

Dies war das Heilmittel dieser weisen Frau gegen alle Beschwerden, namentlich aber gegen Schwermut und Schlaflosigkeit – ein paar Vergehungen, deretwegen viele junge Opfer in den Tagen des Brightoner Kastells oft schon morgens um zehn Uhr nach dem Bett verwiesen worden waren.

Ohne gerade Gehorsam zu versprechen, wohl aber unter dem Vorwande, daß sie völlig ungestört zu sein wünsche, befreite sich Florence, sobald sie konnte, von der fürsorglichen Mrs. Pipchin und ihrer Dienstleute, und nun machte sie sich in ihrer Einsamkeit Gedanken über den Vorgang auf der Treppe – anfangs an dessen Wirklichkeit zweifelnd, dann aber mit Tränen und endlich unter einer unbeschreiblichen Angst, ähnlich derjenigen, von der sie in der Nacht zuvor befallen worden war.

Sie beschloß, nicht zu Bett zu gehen, bis Edith zurückgekehrt wäre, damit sie wenigstens, wenn sie diese auch nicht sprechen könne, die Überzeugung habe, sie sei wohlbehalten zu Hause angelangt. Welche unbestimmte und schattenhafte Furcht sie zu diesem Entschluß bewog, wußte sie selbst nicht, und sie wagte es nicht einmal, daran zu denken. Nur dies fühlte sie, daß ihr schmerzender Kopf oder ihr pochendes Herz keine Ruhe finden konnte, ehe Edith zurück war.

Der Abend wurde zur Nacht und die Mitternacht kam heran; keine Edith.

Florence konnte nicht lesen und fand keinen Augenblick Ruhe. Sie schritt in ihrem Zimmer hin und her, öffnete die Tür, ging in der Treppengalerie draußen auf und ab, sah durchs Fenster in die Nacht hinaus, hörte auf das Sausen des Windes und das Klatschen des Regens, setzte sich nieder, um den Gesichtern im Feuer zuzusehen, stand aufs neue auf und blickte dem Mond nach, der wie ein vom Sturm getriebenes Schiff durch das Wolkenmeer hinflog.

Im Hause hatte sich mit Ausnahme zweier Dienstboten, die unten die Rückkehr ihrer Gebieterin erwarteten, alles zu Bett gelegt.

Ein Uhr. Die Wagen, die in der Ferne rasselten, schlugen eine andere Richtung ein, machten halt oder fuhren vorbei. Die tiefe Stille wurde immer seltener und zuletzt nur noch durch das Getöse des Windes oder des Regens unterbrochen. Zwei Uhr. Keine Edith.

Florences Aufregung steigerte sich. Sie fand weder in ihrem Zimmer, noch in der Galerie draußen Ruhe und schaute abermals in die Nacht hinaus, trübe von den Regentropfen an den Scheiben und von den Tränen in ihren Augen. Welchen Gegensatz bildete nicht das bewegte Treiben am Himmel zu der einsamen Ruhe unten! Drei Uhr! Jedes Fünkchen, das aus dem Feuer sprühte, war mit Schrecken beladen. Noch keine Edith.

Mit immer größerer Aufregung schritt Florence in ihrem Zimmer und auf der Galerie umher oder schaute nach dem Mond hinauf, der ihr jetzt wie ein bleicher Flüchtling vorkam, der von hinnen eilte, um sein schuldiges Gesicht zu verbergen. Vier – fünf Uhr! Noch immer keine Edith!

Aber jetzt regte es sich behutsam im Hause, und Florence fand, daß Mrs. Pipchin von denen, die aufgeblieben, geweckt worden war. Die Haushälterin hatte ihr Bett verlassen und sich nach der Türe Mr. Dombeys begeben. Florence, die sich die Treppe hinunterschlich, um der kommenden Dinge zu harren, sah ihren Vater in seinem Schlafrock heraustreten und zusammenfahren, als er die Kunde vernahm, daß seine Gattin nicht nach Hause zurückgekehrt sei. Er schickte einen Diener nach dem Stall, um nachfragen zu lassen, ob der Kutscher dort sei, und kleidete sich dann hastig an.

Der Diener kehrte eiligst mit dem Kutscher zurück, und dieser erklärte, er sei schon seit zehn Uhr zu Hause und in seinem Bett. Er habe seine Gebieterin nach ihrem alten Hause in Brook Street gefahren, wo sie mit Carker zusammengetroffen sei, –

Florence stand auf derselben Stelle, wo sie ihn hatte herunterkommen sehen. Abermals durchschauerte sie das namenlose Entsetzen jenes Anblicks, und es blieb ihr kaum Besinnung genug, um das, was nun folgte, zu hören und zu verstehen.

– der ihm bedeutet habe, fuhr der Kutscher fort, daß seine Gebieterin zu ihrer Rückkehr des Wagens nicht bedürfe und ihn in entsprechender Weise abfertigte.

Sie sah das Gesicht ihres Vaters leichenblaß werden und hörte ihn rasch und mit bebender Stimme nach Mrs. Dombeys Mädchen fragen. Das ganze Haus geriet in Aufregung; denn sie war im Augenblick herbeigeholt, sah sehr blaß aus und sprach unzusammenhängend.

Sie sagte, sie habe ihre Gebieterin früh ankleiden müssen – volle zwei Stunden früher, ehe sie ausging – und von ihr, wie dies oft geschehen sei, die Abfertigung erhalten, daß ihre Dienste für die Nacht nicht nötig wären. Sie komme eben von den Gemächern ihrer Frau herunter, aber –

»Was aber? was ist dort?« hörte Florence ihren Vater wütend fragen.

Aber das innere Ankleidezimmer sei abgeschlossen und der Schlüssel fort.

Mr. Dombey ergriff eine Kerze, die auf dem Boden brannte – es hatte sie jemand hingestellt und vergessen – und stürmte dann mit solcher Wut die Treppe hinauf, daß Florence in ihrer Furcht kaum Zeit hatte, sich vor ihm zu flüchten, Mit wild ausgebreiteten Händen, wallendem Haar und einem Gesicht, ähnlich dem einer Wahnsinnigen, eilte sie nach ihrem Zimmer zurück, und inzwischen hörte sie ihren Vater die Türe einschlagen.

»Was sah er dort, nachdem die Tür seinem Ungestüm gewichen war? Niemand erfuhr es. Aber in wirrer Masse lagen alle Kostbarkeiten, die sie als seine Gattin getragen, ihre kostbaren Kleider und alles, was sie besessen, auf dem Boden. Dies war das Zimmer, wo er im Spiegel das stolze Gesicht gesehen, das ihm die Türe wies. Dies war das Zimmer, in dem er der eitlen Neugierde Raum gegeben hatte, wie wohl die Gegenstände sich ausnehmen würden, wenn er sie zum nächsten Mal sähe.

Während er die Sachen wieder in die Schubfächer warf und eigentlich in einer Wuthast die Kummoden verschloß, sah er einige Papiere auf dem Tisch liegen. Der Ehevertrag, den er vor der Vermählung abgeschlossen, und ein Brief. Er las, daß sie fort war. Er las das Zeugnis seiner Entehrung. Er las, daß sie sich an dem Jahrestag ihres schmählichen Ehebundes mit dem Manne geflüchtet hatte, den er zu ihrer Demütigung auserlesen. Mit der verwirrten Vorstellung, er könne sie noch an der Stelle finden, nach der sie sich begeben hatte, stürzte er aus dem Zimmer und aus dem Hause, um mit seiner Faust ihr jede Spur von Schönheit aus dem triumphierenden Gesichte zu schlagen. Florence legte, ohne zu wissen, was sie tat, ein Halstuch um und setzte einen Hut auf. Sie träumte von einem Laufen durch alle Straßen, bis sie Edith gefunden habe, um sie dann in ihre Arme zu schlingen, sie zu retten und wieder zurückzuführen. Aber als sie auf die Treppe hinauskam und die erschreckten Diener sah, die mit Lichtern auf und nieder gingen, sich gegenseitig zuflüsterten und vor ihrem herunterkommenden Vater auswichen, erwachte sie zum Bewußtsein ihrer eigenen Machtlosigkeit. Sie verbarg sich in einem der großen Gemächer, die man um eines solchen Endes willen so prächtig ausgestattet hatte, und das Herz wollte ihr brechen vor Gram. Mitleid mit ihrem Vater war die erste bestimmte Regung, die gegen den gewaltigen Strom ihres Schmerzes sich anstemmte.

Ihre treue Seele fühlte sich in seinem Unglück so warm und innig zu ihm hingezogen, als wäre er in seinem Glück die Verkörperung jener Idee gewesen, die allmählich so matt und trübe geworden war. Obgleich sie den Schimpf, der ihn betroffen, nur aus den Einflüsterungen ihrer Furcht zu ermessen vermochte, stand er doch verlassen und gekränkt vor ihr, und ihr liebevolles Sehnen drängte sie an seine Seite. Er blieb nicht lange aus. Florence gab noch unter Tränen in dem großen Zimmer solchen Gedanken Raum, als sie ihn wieder zurückkehren hörte. Er befahl den Dienern, wieder ihren gewöhnlichen Geschäften nachzugehen, und begab sich nach seinem Gemach, in dem er so ungestüm auf und nieder schritt, daß man seine Tritte von einem Ende des Hauses bis zum andern hören konnte.

Noch einmal dem Antrieb ihrer Liebe nachgebend, zu allen andern Zeiten schüchtern, aber kühn in ihrer Treue zu ihm in seiner Widerwärtigkeit und uneingeschüchtert durch frühere Zurückweisung, eilte Florence, angekleidet wie sie war, die Treppe hinunter. Als sie ihren leichten Fuß in die Halle setzte, kam er aus seinem Zimmer heraus. Sie stürzte mit dem Rufe: »O lieber, lieber Papa!« auf ihn zu und breitete die Arme aus, als ob sie seinen Hals umschlingen wollte.

Und sie würde es getan haben. Aber in seiner Wut erhob er seine grausame Faust und ließ sie so schwer auf das Haupt seiner Tochter niederfallen, daß sie auf den Marmorboden hinstürzte; und während er den Streich führte, sagte er ihr, was Edith sei, und gab ihr die Weisung, der Entlaufenen zu folgen, da sie doch immer mit ihr im Bunde gestanden.

Sie sank nicht zu seinen Füßen nieder; sie schloß nicht seinen Anblick mit ihren zitternden Händen aus; sie weinte nicht und sprach keine Silbe des Vorwurfs. Aber sie sah nach ihm hin, und ein Schmerzensruf der Verlassenheit entrang sich ihrem Herzen. Denn mit diesem Blicke sah sie ihn jene teure Vorstellung morden, die sie so lange trotz aller Umstände mit Liebe gehegt hatte. Sie sah, daß seine Grausamkeit und sein Haß den Sieg davontrugen und jenes Bild zu Boden traten. Sie sah, daß sie auf Erden keinen Vater hatte, und flüchtete sich als Waise aus seinem Hause.

Sie floh aus seinem Hause. Ein Augenblick, und ihre Hand war auf der Klinke, der Schrei entrang sich ihren Lippen, und sein Gesicht nahm sich in dem doppelten Licht der tief niedergebrannten, träufenden Kerzen und der über der Tür einfallenden Tageshelle nur noch blasser aus. Ein weiterer Augenblick, und das dumpfe Düster des verschlossenen Hauses (man hatte es zu öffnen vergessen, obschon es längst Tag war) wich dem unerwarteten Licht und der Freiheit des Morgens. Florence stand mit gesenktem Haupt, weil sie den Schmerz ihrer Tränen verbergen wollte, auf der Straße.

Achtundvierzigstes Kapitel.


Achtundvierzigstes Kapitel.

Florencens Flucht.

In dem Irrsinn seines Schmerzes, seiner Scham und seines Schreckens eilte das arme Mädchen durch den Sonnenschein eines herrlichen Morgens, als wäre er das tiefe Dunkel einer Mitternacht. Unter bitterem Weinen die Hände ringend, gegen alles unempfindlich, nur nicht gegen die tiefe Wunde in ihrer Brust, betäubt durch den Verlust aller ihrer Lieben und die einzige von dem Wrack eines großen Schiffes an eine verlassene Küste geworfene Überlebende, floh sie ohne Gedanken, ohne Hoffnung und ohne irgendeinen anderen Zweck, als eben zu fliehen, gleichviel, wohin es war.

Die lange, vom Morgenlicht vergoldete Straße, der Anblick des blauen Himmels und duftiger Wolken, die belebende Frische des Tages, so rosig nach dem Kampf mit der Nacht – all das weckte kein entsprechendes Gefühl in ihrer so tief verletzten Brust. Nur einen Platz, gleichviel, welcher es sein mochte, um ihr Haupt zu verbergen – irgendein Zufluchtsort, fern genug von der Stelle, der sie entronnen, um nie wieder ihren Blick auf sie werfen zu müssen!

Aber es gingen Leute hin und her; die Läden wurden geöffnet, und unter den Haustüren zeigten sich die Dienstboten. Das ruhige Getümmel des Tages hatte seinen Anfang genommen. Florence sah Überraschung und Neugierde in den an ihr vorbeieilenden Gesichtern, bemerkte zurückkehrende lange Schatten auf dem Pflaster und hörte fremde Stimmen fragen, wohin sie wolle und was es gebe. Obgleich dies anfangs sie nur um so mehr einschüchterte und ihre Hast beschleunigte, kam es ihr doch so weit zustatten, daß es sie einigermaßen zur Besinnung rief und sie an die Notwendigkeit einer größeren Fassung erinnerte.

Wohin gehen? Noch immer gleichgültig gegen den Ort – noch immer weiter; aber wohin? Sie gedachte jener einzigen anderen Zeit, in der sie sich unter der weiten Häuserwildnis verirrt hatte – allerdings damals nicht so verlassen wie jetzt – und schlug die gleiche Richtung ein. Nach der Heimat von Walters Onkel.

Sie unterdrückte ihr Schluchzen, trocknete ihre geschwollenen Augen und versuchte, ihr aufgeregtes Wesen zu beruhigen, damit sie nicht allzusehr die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich ziehe. So lang es möglich war, die unbesuchteren Straßen einzuhalten, ging sie gelassener weiter, als mit einem Male ein bekannter kleiner Schatten auf dem sonnigen Pflaster vorbeischoß, haltmachte, wieder umwandte, dicht zu ihr herankam, wieder forteilte und um sie her hüpfte. Es war der ihres treuen Hundes, der sich jetzt, nach Luft schnappend, aber doch die Straße mit seinem frohen Bellen erfüllend, an ihre Kleider schmiegte.

»O, Di! o lieber, guter, treuer Di, wie bist du hierher gekommen? Daß ich auch dich zurücklassen konnte, Di, der du mich nie verlassen hast!«

Florence beugte sich gegen das Pflaster nieder und drückte seinen rauhen, närrischen alten Kopf an ihre Brust, worauf sie wieder miteinander weitergingen. Di, der mehr in der Luft als auf dem Boden war, bemühte sich, seine Gebieterin im Fluge zu küssen, überpurzelte sich oft und richtete sich mit der größten Gleichgültigkeit wieder auf, fuhr auf die großen Hunde mit dem possierlichen Trotz seiner Spielart los, erschreckte mit dem Anprall seiner Nase die Hausmägde, die die Türtreppen fegten, und machte inmitten von tausend Ungereimtheiten alle Augenblicke halt, um nach Florence zurückzusehen und zu bellen, bis alle Hunde in Hörweite Antwort gaben und alle, die herauskommen konnten, sich auf der Straße zeigten, um ihn anzuschauen.

Von diesem letzten Anhänger geleitet, eilte Florence in dem vorrückenden Morgen und in dem wachsenden Sonnenschein weiter nach der City. Die lärmenden Töne des Tages wurden lauter, die Vorübergehenden zahlreicher und die Läden rühriger, bis sie sich in einen Strom von Leben hineingerissen sah, der die nämliche Richtung einschlug und gleichgültig an Marktplätzen, Herrenhäusern, Gefängnissen, Kirchen, Reichtum, Armut, Gut und Bös vorbeiflutete, wie der nahe breite Strom, der, erwacht aus seinen Träumen von Binsen, Weiden und grünem Moos, trüb und unruhig unter dem Arbeiten und Sorgen der Menschen seine Wellen nach dem tiefen Meere hinwälzte.

Endlich tauchte die Gegend, in der der kleine Midshipman stand, vor ihren Blicken auf. Noch näher, und der kleine Midshipman zeigte sich auf seinem Posten, so angelegentlich wie nur je seinen Beobachtungen nachhängend. Noch näher, und die Tür stand offen, um sie zum Eintritt einzuladen. Florence, die am Ende ihrer Wanderung ihre Schritte beschleunigt hatte, eilte, von Diogenes begleitet, der in dem Lärm etwas verwirrt worden war, über die Straße hinüber in den Laden hinein und sank auf der Schwelle des wohlbekannten kleinen Besuchszimmers zusammen.

Der Kapitän stand in seinem Glanzhut vor dem Feuer und fertigte eben seinen Morgenkakao an; dabei lag jene elegante Kleinigkeit, seine Uhr, auf dem Kaminmantel, damit er sie im Laufe seiner Kocherei befragen konnte. Er hörte einen Fußtritt, das Rauschen eines Gewandes und wandte sich in herzklopfender Erinnerung an die schreckliche Mrs. Mac Stinger in dem Augenblick um, als Florence mit ihrer Hand ihm zuwinkte und taumelnd auf den Boden niederfiel.

Der Kapitän, so blaß wie Florence, blaß sogar in jedem Winkel seines Gesichtes, hob sie auf, als wäre sie ein kleines Kind und legte sie auf dasselbe Sofa, auf dem sie vordem geschlummert hatte.

»Es ist die Herzensfreude«, sagte der Kapitän, angelegentlich ihr Gesicht betrachtend. »Das holde Geschöpf ist zu einer Jungfrau herangewachsen!«

Kapitän Cuttle hatte so großen Respekt vor ihrem neuen Charakter, daß er sie während ihrer Bewußtlosigkeit nicht um tausend Pfund hätte in seinen Armen behalten mögen.

»Meine Herzensfreude!« sagte der Kapitän, sich in einige Entfernung zurückziehend, während die größte Unruhe und Teilnahme sich in seinem Gesicht ausdrückte. »Wenn Ihr Ned Cuttle mit einem Finger anstoppen könnt, so tut es.«

Aber Florence rührte sich nicht.

»Meine Herzensfreude!« sagte der Kapitän zitternd. »Um Wal’rs willen, der in der schaurigen Tiefe ertrank, dreht bei und hißt irgend etwas auf, wenn Ihr könnt!«

Da sie auch gegen diese nachdrückliche Beschwörung unempfindlich blieb, so griff Kapitän Cuttle vom Frühstückstisch ein Becken mit kaltem Wasser auf und sprengte ihr einiges davon ins Gesicht. Der Dringlichkeit des Falles nachgebend, bediente er sich sodann seiner gewaltigen Hand mit außerordentlicher Zartheit, indem er ihr den Hut abnahm, Lippen und Stirne anfeuchtete, ihre Haare zurückstrich, ihre Füße mit seinem Rock, den er zu diesem Zweck ausgezogen hatte, bedeckte und ihre Hand streichelte, die sich in der seinigen so klein ausnahm, daß er sich bei Berührung derselben nicht genug wundern konnte.

Als er bemerkte, daß ihre Augenlider zuckten und ihre Lippen sich zu bewegen begannen, setzte er seine Belebungsversuche mit gesteigertem Mut fort.

»Hellauf!« sagte der Kapitän. »Hellauf! Halt bei, mein Herzchen, halt bei! So! Es ist Euch jetzt besser. Durchhalten ist die Losung, und so haben wir es jetzt. Bleibt nur dabei! Trinkt ein Tröpflein von diesem da«, fuhr der Kapitän fort, »So recht! Wie ist es Euch jetzt, mein Herz, wie ist es Euch jetzt?«

Als er mit ihrer Erholung so weit gekommen war, nahm Kapitän Cuttle, dem bei ärztlicher Behandlung eines Patienten unbestimmt eine Uhr vorschwebte, seine eigene vom Kaminsims herunter, hing sie an seinen Haken und ergriff Florences Hand, abwechselnd von der einen zur andern hinsehend, als erwarte er von dem Zeiger irgend eine heilkräftige Wirkung.

»Wie geht es, mein Schätzchen?« sagte der Kapitän. »Wie geht es jetzt? Ich glaube, du bist ihr einigermaßen zugute gekommen, mein Junge«, fügte er halblaut bei, indem er einen zufriedenen Blick auf seine Uhr warf. »Stellt man dich alle Morgen eine halbe Stunde und gegen Abend wieder eine Viertelstunde zurück, so bist du eine Uhr, die nicht leicht ihresgleichen findet und von keiner übertroffen wird. Wie geht es, mein kleines Fräulein?«

»Kapitän Cuttle, seid Ihr es?« rief Florence, sich ein wenig aufrichtend.

»Ja, ja, mein kleines Fräulein«, sagte der Kapitän, dem diese Form der Anrede weit zierlicher und als die höflichste vorkam, die er sich erdenken konnte.

»Ist Walters Onkel hier?« fragte Florence.

»Hier, mein Herz?« entgegnete der Kapitän. »O, es ist lange her, seit er zum letzten Male hier war, und er ließ nichts mehr von sich hören, seit er ausriß, um dem armen Wal’r nachzuziehen. Aber«, fügte der Kapitän als Trostspruch bei, »wenn auch dem Blick entschwunden, ist er doch der Erinnerung, der Heimat und der Schönheit teuer.«

»Wohnt Ihr hier?« fragte Florence.

»Ja, mein kleines Fräulein«, versetzte der Kapitän.

»O, Kapitän Cuttle!« rief Florence außer sich, während sie die Hände zusammenschlug, »rettet mich! behaltet mich hier! Laßt es niemanden wissen, wo ich bin! Ich will Euch, wenn ich kann, gelegentlich sagen, was vorgefallen ist. Ich habe in der ganzen Welt niemanden, zu dem ich gehen könnte. Schickt mich nicht wieder fort!«

»Euch fortschicken, mein kleines Fräulein?« rief der Kapitän. »Euch, meine Herzensfreude? Einen Augenblick! Wir wollen die Blende da aufziehen und den Schlüssel doppelt umdrehen!«

Mit diesen Worten holte der Kapitän, der seine eine Hand und seinen Haken mit der größten Gewandtheit arbeiten ließ, den Türladen heraus, schob ihn vor, machte alles fest und verschloß die Tür.

Als er wieder zu Florence zurückkam, nahm sie seine Hand und küßte sie. Die Hilflosigkeit dieser Handlung, das vertrauensvolle Flehen, das darin lag, der unaussprechliche Kummer in ihrem Gesicht mit dem nur allzu deutlich darin ausgedrückten Seelenschmerze, seine Kunde von ihrer früheren Geschichte und ihr gegenwärtiges, verlassenes, schutzloses Aussehen – das alles ging in dem Kopf des Kapitäns so wirr durcheinander, daß vor Mitleid und zarter Teilnahme seine Augen feucht wurden.

»Mein kleines Fräulein«, sagte der Kapitän, indem er mit dem Ärmel die Brücke seiner Nase polierte, bis sie sich wie blankes Kupfer ausnahm, »sprecht kein Wort mit Ed’ard Cuttle, bis Ihr einmal glatt und behaglich vor Anker liegt, und das kann weder heute noch morgen sein. Was dann das Aufgeben von Euch oder den Rapport darüber betrifft, wo Ihr seid, so ist hieran nicht zu denken, so wahr mir Gott helfe – seht nach im Kirchenkatechismus und biegt ein Ohr ein.«

Der Kapitän sprach das alles in einem Atem und mit großer Feierlichkeit; auch nahm er bei seinem »so wahr mir« den Hut ab und setzte ihn wieder auf, sobald er mit seinem Satz zu Schluß gekommen war.

Florence konnte außer ihrem Dank nur noch eines tun, um ihm zu zeigen, wie sehr sie ihm vertraute, und dies geschah. An den rauhen Seemann sich als an die letzte Zuflucht ihres blutenden Herzens anklammernd, legte sie ihr Köpfchen auf seine ehrliche Schulter, schlang den Arm um seinen Hals und wollte niederknien, um Gottes Segen über ihn zu erbitten; aber er ahnte ihre Absicht und hielt sie aufrecht, wie ein treuer Mann.

»Ruhig«, sagte der Kapitän. »Ruhig. Ihr seht, mein Herz, daß Ihr zu schwach seid, um stehen zu können, und müßt Euch deshalb wieder legen. So, so.«

Und es wäre mehr wert gewesen, als hundert Szenen, der vornehmen Welt entnommen, wenn man hätte mit ansehen können, wie der Kapitän sie auf das Sofa hob und mit seiner Jacke zudeckte.

»Jetzt müßt Ihr etwas frühstücken, kleines Fräulein«, fuhr der Kapitän fort, »und der Hund soll auch nicht vergessen bleiben. Dann könnt Ihr nach dem Stübchen des alten Sol Gills hinaufgehen und dort schlafen wie ein Engel.«

Kapitän Cuttle streichelte Diogenes, als er diese Anspielung auf ihn machte, und Diogenes kam dem Erbieten in Gnaden auf dem halben Wege entgegen. Während der Anwendung der Belebungsmittel hatte er augenscheinlich nicht gewußt, ob er auf den Kapitän losfahren oder Freundschaft mit ihm schließen sollte, und diesen Kampf seiner Gefühle abwechselnd durch Wedeln mit dem Schwanze und Weisen seiner Zähne mit gelegentlichem Knurren angedeutet. Inzwischen hatten sich jedoch alle seine Bedenken gehoben, und es war klar, daß er den Kapitän als einen der liebenswürdigsten Menschen und als einen Mann betrachtete, dessen Bekanntschaft einem Hund zur Ehre gereichte.

Um diese Überzeugung zu bekunden, wartete Diogenes vor dem Kapitän auf und zeigte ein lebhaftes Interesse für die Haushaltung des Mannes, der eben ein kleines Frühstück anfertigte, obschon diese Bemühung sehr vergeblich war; denn Florence konnte vor Weinen und Weinen nichts genießen, wie sehr sie sich auch Mühe gab, der Bewirtung Ehre anzutun.

»Nun, nun«, sagte der teilnehmende Kapitän, »deckt Euch jetzt nur ein, meine Herzensfreude, und dann wird es schon vorwärts gehen. Ich will jetzt dir deine Ration zuteilen, mein Junge« – dies galt Diogenes – »und du sollst droben bei deiner Gebieterin Wache halten.«

Diogenes hatte das ihm zugedachte Frühstück mit wässernder Schnauze und glänzenden Augen betrachtet; statt aber, als es ihm vorgesetzt wurde, gierig darüber herzufallen, spitzte er die Ohren, stürzte nach der Ladentür hin und bellte wütend, während er zugleich mit dem Kopf an der unteren Leiste bohrte, als wolle er zum Durchgang eine Mine anlegen.

»Kann jemand kommen wollen?« fragte Florence beunruhigt.

»Nein, mein kleines Fräulein«, antwortete der Kapitän. »Wer würde so kommen, ohne Lärm zu machen? Seid guten Muts, mein Herz. Es sind nur Leute, die vorübergehen.«

Gleichwohl bellte und bellte, bohrte und bohrte Diogenes in hartnäckiger Wut fort, und so oft er inne hielt, um zu lauschen, schien er in seinem Innern eine neue Überzeugung zu gewinnen, denn er hub wohl ein dutzendmal stets wieder an, zu bellen und zu bohren. Sogar als man ihn durch Überredung bewog, zu seinem Frühstück zurückzukehren, entsprach er dem Locken nur mit zweifelhafter Miene und schoß in einem abermaligen Krampf wieder fort, noch ehe er einen Bissen berührt hatte.

»Wenn jemand draußen lauschte?« flüsterte Florence. »Jemand, der mich kommen sah und mir vielleicht nachgegangen ist?«

»Könnte es wohl die junge Person sein, kleines Fräulein?« fragte der Kapitän, dem plötzlich eine glänzende Idee auftauchte.

»Susanne?« entgegnete Florence mit Kopfschütteln. »Ach, nein! Susanne ist schon lange nicht mehr bei mir.«

»Hoffentlich doch nicht desertiert?« versetzte der Kapitän, »Ihr wollt doch nicht sagen, das junge Frauenzimmer sei davongelaufen, mein Herzchen?«

»O nein, nein!« rief Florence. »Sie ist eine der treuesten Seelen von der Welt.«

Der Kapitän fühlte sich bei dieser Antwort sehr erleichtert und drückte seine Zufriedenheit dadurch aus, daß er den harten Glanzhut abnahm und sich mit seinem zur Kugel zusammengeballten Taschentuch den ganzen Kopf rieb. Dabei bemerkte er zu wiederholten Malen mit ungemeiner Selbstgefälligkeit und strahlendem Gesicht, daß er das im voraus gewußt habe.

»Bist du jetzt ruhig, Kamerad?« sagte der Kapitän zu Diogenes. »Gott behüte, es ist niemand dagewesen, mein kleines Fräulein.«

Diogenes war hiervon nicht überzeugt, denn die Tür zog ihn von Zeit zu Zeit noch immer an. Er schnüffelte daran herum und legte sich vor ihr hin, ohne den Gegenstand vergessen zu können. Dieser Umstand nebst der Bemerkung, daß Florence müde und erschöpft war, bewog den Kapitän, sogleich Sol Gills‘ Stübchen als Zufluchtsort für sie herzurichten. Er begab sich daher hastig nach dem Giebel des Hauses hinauf und traf die besten Vorbereitungen, die ihm seine Einbildungskraft und seine Mittel an die Hand gaben.

Es war bereits sehr rein, und der Kapitän, der die Ordnung liebte und gerne alles schiffsgerecht hielt, wandelte das Lager in ein Ruhebett um, indem er es ganz mit einem reinen, weißen Überwurf bedeckte. In ähnlicher Weise machte er den kleinen Ankleidetisch zu einer Art Altar, den er mit zwei silbernen Teelöffeln, einem Blumentopf, einem Fernrohr, seiner berühmten Uhr, einem Taschenkamm und einem Gesangbuch ausschmückte – eine kleine Raritätensammlung, die sich ganz schön ausnahm. Nachdem er noch die Fenster verdunkelt, den Bodenteppich glatt gelegt und seine Vorbereitungen eine Weile mit großer Behaglichkeit gemustert hatte, stieg er nach dem kleinen Hinterstübchen hinunter, um Florence nach ihrem neuen Wohnsitz zu holen.

Nichts konnte den Kapitän zu dem Glauben an die Möglichkeit bewegen, daß Florence die Treppe hinaufgehen könne, und selbst wenn ihm ein anderer Gedanke gekommen wäre, würde er es für einen schmählichen Bruch der Gastfreundschaft gehalten haben, ihr dies zu gestatten. Florence war zu schwach, um sich hierüber in einen Streit einzulassen, weshalb er sie unangefochten hinauftrug, auf das Ruhebett niederlegte und mit einem großen Wachtmantel bedeckte.

»Mein kleines Fräulein«, sagte der Kapitän, »Ihr seid hier so sicher, als befändet Ihr Euch bei weggeschaffter Leiter auf der Spitze der St.-Pauls-Kirche. Vor allen Dingen ist Euch jetzt Schlaf nötig, und wohl bekomme Euch dieser Balsam für die stille kleine Stimme eines verwundeten Herzens. Braucht Ihr irgend etwas, meine Herzensfreude, was Euch dieses geringe Haus oder die Stadt bieten kann, so erlaßt ein Signal an Ed’ard Cuttle, der von jener Tür aus- und einsteuern wird, und der Mann zittert vor Freude, es beizuschaffen.«

Zum Schlusse küßte der Kapitän Florences ihm hingebotene Hand mit der Galanterie eines alten fahrenden Ritters und schlich sich auf den Zehen aus dem Gemach.

Kapitän Cuttle stieg nach dem kleinen Stübchen hinunter und beschloß nach einem hastig mit sich selbst gehaltenen Kriegsrat, für einige Minuten die Ladentür zu öffnen und sich zu überzeugen, daß jedenfalls jetzt niemand draußen mehr herumlungere. Demgemäß schloß er auf, trat auf die Schwelle, hielt scharfen Auslug und bestrich die ganze Straße mit seiner Brille.

»Wie geht es Euch, Kapitän Gills?« fragte eine Stimme neben ihm.

Der Kapitän schaute nieder und fand, daß er, während er den Horizont untersuchte, von Mr. Toots aufgesucht worden war.

»Wie geht es Euch, mein Junge?« versetzte der Kapitän.

»Ziemlich gut, danke, Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots. »Ihr wißt ja, es ist mir nie ganz, wie ich es wünschen könnte; und ich erwarte auch nicht, daß es je soweit kommen wird.«

Mr. Toots näherte sich, wenn er sich mit Kapitän Cuttle unterhielt, infolge der stattgehabten Übereinkunft dem großen Gegenstand seines Lebens nie weiter, als etwa in solcher Weise.

»Kapitän Gills«, fuhr Mr. Toots fort, »wenn ich das Vergnügen haben könnte, ein Wort mit Euch zu sprechen. Es handelt sich um – um etwas Besonderes.«

»Nun ja, aber Ihr seht, mein Junge«, versetzte der Kapitän, der nach dem Hinterstübchen voranging, »ich bin heute morgen nicht ganz – wie soll ich sagen – nicht ganz frei, und wenn Ihr es deshalb ein bißchen kurz machen könnt, so wird mir dies sehr lieb sein.«

»Allerdings, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots, der von des Kapitäns Meinung nur selten eine richtige Vorstellung hatte. »Das gerade wünsche ich ja auch. Natürlich.«

»Wenn dies der Fall ist, mein Junge«, erwiderte der Kapitän, »so tut es.«

Der Kapitän war von dem wichtigen Geheimnis, daß Miß Dombey in diesem Augenblick sich unter seinem Dach befand, während der unschuldige, nichts ahnende Toots ihm gegenüber saß, so sehr in Anspruch genommen, daß ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach und er, als er denselben, den Glanzhut in der Hand, abtrocknete, seine Augen nicht von dem Gesicht seines Gastes verwenden konnte. Mr. Toots, der gleichfalls einen geheimen Grund zur Aufgeregtheit zu haben schien, geriet unter dem starren Blick des Kapitäns in eine so unaussprechliche Verlegenheit, daß er, nachdem er ihn eine Weile ausdruckslos angeschaut hatte, unruhig auf seinem Stuhl hin und her rückte und dann begann:

»Ich bitte um Verzeihung, Kapitän Gills, aber seht Ihr denn nichts Besonderes an mir?«

»Nein, mein Junge«, versetzte der Kapitän. »Nein.« »Ja, schaut nur«, sagte Mr. Toots mit einem Kichern, »ich weiß, daß ich magerer werde. Ihr könnt Euch ohne Bedenken darüber aussprechen. Es – es ist mir sogar lieb. Ich bin so dünn geworden, daß Burgeß und Co. sogar mein Maß ändern mußten. Aber es freut mich. Ich – ich bin froh darüber. Ich – ich würde sogar lieber ganz und gar schwindsüchtig werden, wenn ich könnte. Ihr wißt, ich bin nur ein Tier, das auf der Oberfläche der Erde herumgrast, Mr. Gills.«

Je mehr Mr. Toots in dieser Weise fortfuhr, desto schwerer fühlte sich der Kapitän von dem Gewicht seines Geheimnisses bedrückt und mit desto größeren Augen musterte er ihn. Dieser Anlaß der Unruhe und sein Wunsch, Mr. Toots los zu werden, versetzte den guten alten Mann in einen so verschüchterten, seltsamen Zustand, daß sogar eine Unterhaltung mit einem Gespenst ihn kaum weniger außer Fassung hätte bringen können.

»Aber was ich sagen wollte, Kapitän«, fuhr Mr. Toots fort, »offen gestanden, als ich heute morgen zufällig dieses Weges kam, wollte ich ein Frühstück mit Euch einnehmen. Was den Schlaf betrifft, so wißt Ihr wohl, daß ich jetzt nie schlafen kann. Ich könnte für einen Nachtwächter gelten, mit der Ausnahme, daß ich keine Zahlung dafür bekäme und er nichts auf dem Herzen hätte.«

»Nur weiter, mein Junge«, sagte der Kapitän in ermunterndem Ton.

»Ja, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots. »Vollkommen richtig. Ich war heute morgen – etwa vor einer Stunde – zufällig in dieser Straße, und da ich die Türen verschlossen fand – –.«

»Wie, Ihr habt draußen gewartet, Bruder?« fragte der Kapitän.

»Durchaus nicht, Kapitän Gills«, antwortete Mr. Toots. »Ich hielt mich keinen Augenblick auf. Ich dachte, Ihr wäret ausgegangen. Aber die Person sagte – beiläufig, Ihr haltet doch keinen Hund, oder, Kapitän Gills?«

Der Kapitän schüttelte den Kopf.

»Natürlich«, sagte Mr. Toots. »Das nämliche, was ich auch sagte. Ich wußte es ja. Es ist ein Hund mit im Spiele, Kapitän Gills – aber entschuldigt mich. Dies ist ein verbotener Boden.«

Der Kapitän starrte Mr. Toots so lange an, bis ihm dieser wenigstens zweimal so groß vorkam, und abermals brach auf seiner Stirn der Schweiß aus, wenn er dachte, Diogenes könnte es sich in den Kopf setzen, herunterzukommen und im Hinterstübchen der Dritte im Bunde sein zu wollen.

»Die Person sagte«, fuhr Mr. Toots fort, »sie habe im Laden einen Hund bellen hören, und da ich wußte, dies sei unmöglich, so sagte ich es ihr. Aber sie beharrte so entschieden auf ihrer Angabe, als ob sie den Hund gesehen hätte.«

»Was für eine Person, mein Junge«, sagte der Kapitän.

»Ja seht, eben da liegt der Hase im Pfeffer, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots, und man merkte ihm noch mehr an, wie angegriffen er war. »Es steht mir nicht zu, zu sagen, was stattgefunden haben mag, oder nicht. In der Tat, ich weiß es nicht. Es gehen so allerlei Dinge in mir um, daß ich sie nicht recht zusammenreimen kann, und ich denke, es ist etwas ein bißchen schwach in meinem – – kurz, in meinem Kopf.«

Der Kapitän nickte mit dem seinen zum Zeichen der Zustimmung.

»Aber als wir weitergingen«, fuhr Mr. Toots fort, »sagte die Person, daß Ihr wüßtet, was unter obwaltenden Umständen sich zutragen könne« – er betonte das ›könne‹ sehr nachdrücklich – »und wenn man Euch auffordere, Euch bereit zu halten, so werde man Euch ohne Zweifel auch bereit finden.«

»Die Person, mein Junge!« wiederholte der Kapitän.

»Ich weiß wahrhaftig nicht, wer sie ist, Kapitän Gills, und kann mir auch nicht die mindeste Vorstellung von ihr machen«, versetzte Mr. Toots. »Aber als ich an die Tür kam, fand ich sie hier wartend, und sie fragte mich, ob ich wieder komme, worauf ich ja sagte. Besagte Person ist aber ein Mann. Er fragte mich dann, ob ich Euch kenne, und ich antwortete dann, ja, ich hätte das Vergnügen Eurer Bekanntschaft – Ihr hättet mir nach einigem Zureden die Ehre Eurer Bekanntschaft geschenkt; und er sagte, ob ich, wenn das der Fall sei, Euch nicht sagen wolle, was ich Euch bereits mitgeteilt habe, von obwaltenden Umständen und Vorbereitetsein, und ob ich Euch, sobald ich Euch sehe, nicht ersuchen wolle, daß Ihr, wäre es auch nur für eine Minute, wegen einer sehr wichtigen Angelegenheit um die Ecke hinüber zu Mr. Brogley, dem Makler, kommen möchtet. Ich will Euch sagen, Kapitän Gills: um was es sich auch handeln mag – ich bin überzeugt, daß es sehr wichtig ist, und wenn Ihr jetzt rasch mal hinüberkommen möchtet, so will ich hier warten, bis Ihr zurückkommt.

Der Kampf zwischen der Furcht, durch sein Nichtgehen Florence in irgendeiner Weise bloßzustellen, und dem Schrecken, Mrs. Toots im Hause zu lassen, wo er hinter das Geheimnis kommen konnte, versetzte den Kapitän in eine solche geistige Not, daß sogar Mr. Toots nicht blind dagegen sein konnte. Der junge Gentleman aber, der darin nur die Vorbereitungen seines seemännischen Freundes auf die bevorstehende Zusammenkunft sah, ließ sich dadurch nicht anfechten und konnte auf sein eigenes kluges Benehmen nur mit Kichern zurückblicken.

Endlich entschied sich der Kapitän dafür, unter zweien Übeln das kleinere zu wählen und zu dem Makler Brogley hinüber zu gehen, zuvor aber die Tür, die die Verbindung mit dem oberen Teil des Hauses herstellte, abzusperren und die Schlüssel in die Tasche zu stecken.

»Ihr werdet mich entschuldigen, Bruder, wenn ich dies tue«, sagte der Kapitän zu Mr. Toots zögernd und nicht ohne tiefe Scham.

»Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots, »ich bin mit allem einverstanden, was Ihr tut.«

Der Kapitän dankte ihm herzlich, versprach, nach weniger als fünf Minuten wieder zurückzukehren, und entfernte sich, um die Person aufzusuchen, die den Mr. Toots mit einer so geheimnisvollen Botschaft beauftragt hatte. Der arme Mr. Toots, der jetzt sich selbst überlassen war, dachte, als er sich auf das Sofa ausstreckte, wenig daran, wer erst kürzlich darauf geruht hatte, und während er, in Träume an Miß Dombey sich vertiefend, nach dem Hochlichtfenster hinaufschaute, hatte er bald Zeit und Raum vergessen.

Das war gut für ihn; denn obgleich der Kapitän nicht lange ausblieb, zögerte er doch viel länger, als er versprochen hatte. Als er endlich zurückkehrte, war er sehr blaß und aufgeregt. Ja, er sah sogar aus, als habe er Tränen vergossen. Er schien das Sprachvermögen völlig verloren zu haben, bis er den Schrank geöffnet und aus der Korbflasche ein Schlücklein Rum geholt hatte. Dann atmete er tief auf, setzte sich auf einen Stuhl und legte die Hand vor sein Gesicht.

»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots teilnehmend, »ich hoffe, es ist doch nichts Schlimmes vorgefallen.«

»Danke, mein Junge, nicht das Geringste«, versetzte der Kapitän. »Ganz im Gegenteil.«

»Ihr scheint aber sehr aufgeregt zu sein, Kapitän Gills«, bemerkte Mr. Toots.

»Ach, mein Junge, ich bin freilich ein bißchen an den Mast geworfen«, räumte der Kapitän ein. »Jawohl.«

»Und kann ich nichts dabei tun, Kapitän Gills?« fragte Mr. Toots. »Wenn irgend möglich, so gebietet über mich.«

Der Kapitän entspannte sein Gesicht, sah ihn mit einem merkwürdigen Ausdruck von Mitleid und Innigkeit an, ergriff ihn bei der Hand und drückte sie kräftig.

»Nein, ich danke Euch«, sagte der Kapitän. »Nichts. Aber Ihr tut mir einen Gefallen, wenn Ihr mich vorderhand allein laßt. Ich glaube, Bruder« – mit einem abermaligen Händedruck, »daß Ihr nach Wal’r, nur in einer ganz andern Art, ein so guter Bursche seid, wie nur je einer ein Schiff bestieg.«

»Wahrhaftig, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots, indem er der Hand des Kapitäns einen vorläufigen Schlag gab, ehe er sie wieder drückte, »ich bin überglücklich, Eure gute Meinung zu besitzen. Danke Euch.« »Und laßt den Mut nicht sinken«, sagte der Kapitän, ihn auf den Rücken klopfend. »Der Tausend, es gibt mehr als ein süßes Geschöpf in der Welt.«

»Für mich nicht, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots ernst. »Ich versichere Euch, für mich nicht. Meine Gefühle für Miß Dombey sind so unsagbar, daß mir mein Herz wie eine verlassene Insel erscheint, in der sie allein wohnt. Ich zehre mich mit jedem Tag mehr ab, und ich bin stolz darauf. Wenn Ihr meine Beine sehen könntet und ich mir die Stiefel auszöge, so würdet Ihr Euch eine Vorstellung davon machen, was unerwiderte Liebe bedeutet. Man hat mir Chinarinde verordnet, aber ich nehme sie nicht, weil ich nicht wünsche, daß meine Konstitution in irgendeiner Weise wieder gekräftigt werde. Nein, ich will dies nicht. Aber ich berühre verbotenes Gebiet. Kapitän Gills, Gott befohlen!«

Kapitän Cuttle erwiderte die Wärme von Mr. Toots Lebewohl herzlich, schloß die Tür hinter ihm ab, schüttelte mit demselben merkwürdigen Ausdruck von Mitleid und Innigkeit, wie früher, den Kopf und begab sich nach dem oberen Teile des Hauses, um zu sehen, ob Florence nichts von ihm begehre.

In dem Gesichte des Kapitäns ging ein völliger Wechsel vor, als er die Treppe hinaufstieg. Er wischte sich die Augen mit dem Taschentuch und polierte, wie er bereits am Morgen getan hatte, die Brücke seiner Nase mit seinem Ärmel. Aber seine Züge hatten einen ganz andern Ausdruck. Das eine Mal hätte man ihn für überschwenglich glücklich, das andere Mal für traurig halten können. Aber der Ernst, der auf seinem Gesichte lag, war etwas so ganz Neues und übte eine so angenehme Wirkung, daß man wohl auf den Glauben kommen konnte, seine Züge hätten einen Verfeinerungsprozeß durchgemacht.

Er klopfte mit seinem Haken zwei- oder dreimal an Florences Tür, erhielt aber keine Antwort. Deshalb wagte er es, zunächst einmal hineinzuschauen und dann einzutreten. Zu letzterem Schritt ermutigte ihn vielleicht die vertrauliche Begrüßung des Hundes, der an der Seite ihres Lagers auf dem Boden ausgestreckt lag, mit dem Schwanz wedelte und dem Kapitän mit den Augen zublinzelte, ohne daß er sich die Mühe nahm, aufzustehen.

Sie lag in einem tiefen Schlaf, der nur hin und wieder durch ein Seufzen unterbrochen wurde. Kapitän Cuttle, den ihre Jugend, ihre Schönheit und ihr Kummer mit einer tiefen Ehrfurcht erfüllten, richtete ihren Kopf auf, legte den Mantel auf die Stellen, wo er heruntergefallen war, wieder zurecht, verhüllte das Zimmer etwas mehr, damit sie ungehindert weiterschlafen könne, schlich dann wieder hinaus und bezog seinen Wachtposten auf der Treppe. Alles das geschah mit einem Berühren und Auftreten, so leicht wie Florences eigener Gang.

Es mag in dieser gemischten Welt wohl lang ein nicht leicht zu entscheidender Punkt bleiben, was der schönere Beweis von der Güte des Allmächtigen ist – die zarten Finger, die, zu teilnehmender Berührung gebildet, die Eigenschaft besitzen, Schmerz und Pein zu mildern, oder die rauhe, harte Hand des Kapitäns Cuttle, der unter der Lehre und Leitung eines gefühlvollen Herzens in einem Nu so weich wird!

Florence schlief, ihre Heimatlosigkeit und Verwaisung vergessend, auf ihrem Lager fort, und Kapitän Cuttle wachte auf der Treppe. Ein ungewöhnlich lautes Schluchzen oder Stöhnen brachte ihn bisweilen nach der Tür. Aber allmählich wurde ihr Schlaf ruhiger, und der Kapitän setzte seine Wache ungestört fort.

Neunundvierzigstes Kapitel.


Neunundvierzigstes Kapitel.

Der Midshipman macht eine Entdeckung.

Es dauerte lange, bis Florence erwachte. Der Tag erreichte seine Mittagshöhe und nahm wieder ab. Aber noch immer schlief sie unruhig fort, des fremden Bettes, des Lärms und Getümmels auf der Straße und des Lichtes vergessend, das außerhalb des verhüllten Fensters schien. Indessen konnte sogar der tiefe Schlummer der Erschöpfung die Erinnerung an das, was in der nicht mehr bestehenden Heimat vorgefallen war, nicht ganz verdrängen. Einige unbestimmte, schmerzliche Bilder davon, die unruhig schlummerten, aber nie wirklich schliefen, wühlten während der ganzen Zeit ihrer Rast fort. Ein dumpfes Weh, gleich einem halbbeschwichtigten Schmerzgefühl, war ihr immer gegenwärtig, und ihre blassen Wangen befeuchteten sich öfter mit Tränen, als dem ehrlichen Kapitän, der von Zeit zu Zeit seinen Kopf leise durch die angelehnte Tür hereinsteckte, zu sehen lieb war.

Die Sonne sank im Westen und durchdrang, aus einem roten Nebel hervorblickend, mit ihren Strahlen, als wären sie durchdringende goldene Pfeile, die Öffnungen und die durchbrochene Arbeit an den Türmen der Stadtkirchen. Weithin über den Fluß und seine flachen Ufer breitete sie einen Glanz, ähnlich einem Feuerpfad; auf dem Meere draußen brach sich ihr Licht an den Segeln der Schiffe, und von ruhigen Kirchhöfen oder den Hügelspitzen des Landes aus gesehen, übergoß sie die fernen Landschaften mit einer rötlichen Glut, in der Erde und Himmel herrlich zusammenzuschmelzen schienen. Jetzt erst öffnete Florence die schweren Augen, ohne jedoch anfangs die fremden Wände um sie her zu erkennen, blickte teilnahmslos auf ihre Umgebung und hörte mit ebensowenig Achtsamkeit den Lärm auf der Straße. Bald aber fuhr sie von ihrem Lager auf, und nach einem erstaunten Umherschauen kam ihr wieder alles ins Gedächtnis.

»Mein Herzchen«, sagte der Kapitän, an die Tür klopfend, »wie geht es?«

»Lieber Freund«, rief Florence, auf ihn zueilend, »seid Ihr da?«

Der Kapitän war so stolz auf diese Bezeichnung und fühlte sich so glücklich bei der frohen Glut, die sich bei seinem Anblick in ihrem Gesichte ausdrückte, daß er als Antwort in sprachloser Selbstzufriedenheit seinen Haken küßte.

»Wie geht es, mein funkelnder Diamant?« sagte der Kapitän.

»Ich habe gewiß sehr lange geschlafen«, entgegnete Florence. »Wann kam ich hierher? Gestern?«

»Nein, heute ist der gesegnete Tag, mein kleines Fräulein«, antwortete der Kapitän.

»Es ist also keine Nacht dazwischen – noch immer Tag?« fragte Florence.

»Es geht jetzt stark auf Abend, mein Herzchen«, sagte der Kapitän, den Fenstervorhang zurückziehend. »Seht!«

Florence, ihre Hand so schüchtern und bekümmert auf den Arm des Kapitäns gelegt, und der Kapitän, mit seinem rauhen Gesicht und seiner stämmigen Gestalt so ruhig als Schützer ihr zur Seite, standen in dem rosigen Lichte des schönen Abendhimmels da, ohne ein Wort zu sprechen. In was für eigentümliche Worte der Kapitän auch seine Gefühle gebracht haben würde, wenn er sie hätte laut werden lassen, so sagte ihm doch sein Inneres, wie es nur der beredteste Mensch tun konnte, es liege etwas in der Ruhe der Zeit und in ihrer sanften Schönheit, das Florences verwundetes Herz zum Überströmen bringen würde, und es sei besser, daß solche Tränen ihren Lauf nähmen. Er sprach daher kein Wort. Aber als er seinen Arm inniger umfaßt fühlte, das Köpfchen ihm näher kam und sich endlich an seinen groben, blauen Ärmel anschmiegte, drückte er es sanft mit seiner rauhen Hand; er verstand sie und wurde verstanden.

»Jetzt besser, mein Herzchen!« sagte der Kapitän. »Hellauf! hellauf! Ich will jetzt hinuntergehen und Essen bereit halten. Wollt Ihr dann selbst kommen, mein Herz, oder soll Ed’ard Cuttle kommen und Euch holen?«

Florence versicherte ihm, daß sie jetzt völlig imstande sei, die Treppe hinunterzugehen, und wenngleich der Kapitän im Zweifel zu sein schien, ob es sich mit seinen Pflichten als Wirt und Beschützer vertrage, dies zu gestatten, entfernte er sich doch, um sogleich über dem Feuer im kleinen Stübchen ein Huhn zu braten. Damit er seine Kochkunst mit größerer Geschicklichkeit entfalten konnte, zog er seinen Rock aus, schlug die Hemdärmel zurück und setzte seinen Glanzhut auf, ohne dessen Beistand er nie an ein verfängliches oder schwieriges Unternehmen ging.

Nachdem Florence den schmerzenden Kopf und das brennende Gesicht mit dem frischen Wasser gekühlt hatte, das während ihres Schlafes von dem sorgfältigen Kapitän in das Zimmer geschafft worden war, trat sie an den kleinen Spiegel, um ihr wirres Haar in Ordnung zu bringen. Da bemerkte sie nun allsogleich – denn sie bebte erschrocken davor zurück –, daß sich auf ihrer Brust das dunkle Malzeichen einer zürnenden Hand befand.

Bei diesem Anblick strömten ihre Tränen aufs neue. Scham und Schrecken erfüllten sie, obschon sie dabei keinem Unwillen gegen ihn Raum gab. Der Heimat und des Vaters beraubt, vergab sie ihm alles, oder dachte kaum daran, daß sie ihm etwas zu vergeben habe. Aber sie floh jetzt vor dem Bilde von ihm, das sie in ihrem Herzen getragen, wie sie vor der Wirklichkeit geflüchtet, und er war jetzt ganz dahin und verloren. Es gab kein solches Geschöpf mehr in der Welt.

Die arme unerfahrene Florence konnte sich noch nicht denken, was sie tun oder wo sie sich aufhalten sollte. Es schwebte ihr wie in einem unbestimmten Traum vor, sie könnte in weiter Entfernung von London ein Haus finden, wo es einige kleine Schwestern zu unterrichten gäbe, die freundlich gegen sie wären, und denen sie sich unter einem andern Namen anschließen könnte. Sie wuchsen dann auf in ihrer glücklichen Heimat, heirateten, blieben gütig gegen ihre alte Gouvernante und vertrauten ihr vielleicht mit der Zeit die Erziehung ihrer eigenen Töchter an. Und sie dachte, wie seltsam und bekümmernd es sein würde, in solcher Weise grau zu werden und ihr Geheimnis ins Grab mitzunehmen, nachdem Florence Dombey längst vergessen war. Alles erschien ihr jetzt trüb und umwölkt. Sie wußte nur, daß sie auf Erden keinen Vater hatte, und sagte sich das oft selbst, wenn sie in stiller Einsamkeit ihr betendes Haupt vor dem himmlischen Vater beugte.

Ihr kleiner Geldvorrat belief sich nur auf einige Guineen. Einen Teil davon mußte sie auf Anschaffung einiger Kleidungsstücke verwenden, da sie nichts hatte, als was sie auf dem Leibe trug. In ihrem Leid konnte sie nicht daran denken, wie bald ihr Geld aufgebraucht sein würde – ja, sie war auch in weltlichen Dingen noch zu sehr Kind, um sich deshalb sehr zu grämen, selbst wenn ihr anderer Kummer geringer gewesen wäre. Sie versuchte, ihre Gedanken zu beruhigen und ihren Tränen Einhalt zu tun – den Sturm in ihrem klopfenden Kopf zu beschwichtigen und sich zu dem Glauben zu zwingen, was vorgefallen war, habe sich nur vor wenigen Stunden, nicht aber vor Wochen und Monaten zugetragen, wie es ihr vorkam. Dann ging sie hinunter zu ihrem freundlichen Beschützer. Der Kapitän hatte mit großer Sorgfalt das Tischtuch ausgebreitet und war eben damit beschäftigt, in einem kleinen Pfännchen eine Eierbrühe anzufertigen. Auch bestrich er gelegentlich das vor dem Feuer sich bräunende Huhn mit großer Aufmerksamkeit. Das Sofa war um der größeren Behaglichkeit willen in eine warme Ecke gerückt und für Florence bequem aufgepolstert worden, so daß der Kapitän seine Küche ungehindert weiter ordnen konnte. Er tat dies mit außerordentlicher Fertigkeit, machte in einem zweiten Pfännchen Fleischbrühe heiß, kochte in einem dritten eine Handvoll Kartoffeln, vergaß aber nie die Eierbrühe in dem ersten und machte unparteiisch seine Runde bei allen, indem er mit dem brauchbarsten Löffel bald den Braten beträufelte, bald die Brühen umrührte. Außer diesen Obliegenheiten mußte der Kapitän ein weiteres Augenmerk der winzigen Bratkachel zuwenden, in der einige Würste in sehr musikalischer Weise zischten und prutzelten, und in dem Eifer seines Geschäfts nahm er sich so strahlend aus, daß man unmöglich sagen konnte, ob sein Gesicht oder sein Hut am meisten glänzte.

Endlich war das Mahl fertig, und Kapitän Cuttle trug es mit nicht geringerer Gewandtheit auf, als er es gekocht hatte. Dann kleidete er sich für das Diner an, indem er seinen Glanzhut abnahm und den Rock anlegte. Sobald dies geschehen war, rückte er den Tisch vor das Sofa, sprach ein Gebet, schraubte seinen Haken ab, ersetzte diesen durch seine Gabel und machte die Honneurs der Tafel.

»Mein Frauenzimmerchen«, sagte der Kapitän, »hellauf, und versucht ordentlich zu essen. Halt bei, mein Schätzchen. Hier ein Hühnerflügel. Sauce. Würste. Und Kartoffel!«

Alles das ordnete der Kapitän symmetrisch auf einem Teller, goß mit dem brauchbaren Löffel heiße Fleischbrühe über das Ganze und setzte es seinem geehrten Gast vor.

»Die ganze Fensterreihe im Vorderschiff ist zu, Frauenzimmerchen«, bemerkte der Kapitän ermutigend, »und alles sicher. Versucht ein bißchen zu picken, mein Schatz. Wenn Wal’r hier wäre –«

»Ach, daß ich ihn jetzt zum Bruder hätte!« rief Florence.

»Laßt es Euch nicht so angreifen, mein Schatz!« sagte der Kapitän; »tut mir den Gefallen! Er war Euch wie ein natürlich geborner Verwandter – war es nicht so, mein Herz?«

Florence hatte keine Worte zur Erwiderung und sagte nur:

»O lieber, lieber Paul, o Walter!«

»Sogar die Planken, auf denen sie ging«, murmelte der Kapitän, nach ihrem gesenkten Antlitz hinblickend, »hat Walter so hochgeschätzt, wie die Wasserbäche, nach denen er in Dombeys Bücher eingetragen wurde, und als er beim Diner von ihr sprach, glänzte sein Gesicht wie eine neu aufgeblühte Rose im Tau, obschon es nur in der größten Bescheidenheit geschah. Ja, ja, wenn unser armer Walter hier wäre, mein Fräuleinchen – oder wenn er hier sein könnte – denn er ist ertrunken, nicht wahr?«

Florence schüttelte den Kopf.

»Ja, ja, ertrunken«, fuhr der Kapitän beschwichtigend fort, »wie ich sagen wollte, wenn er hier sein könnte, mein Kleinod, so würde er bei Euch bitten und betteln, daß Ihr ein bißchen mehr zulanget und für Eure eigene süße Gesundheit sorgtet. Nehmt doch Bedacht darauf, mein Kindchen, als wäre es um Walters willen, und legt Euren hübschen Schnabel vor den Wind.«

Florence versuchte, dem Kapitän zu Gefallen einen Bissen zu essen. Dieser aber schien sein eigenes Diner ganz vergessen zu haben; denn er legte Messer und Gabel nieder und rückte seinen Stuhl an das Sofa.

»Wal’r war doch ein prächtiger Junge, meint Ihr nicht, mein Kleinod?« sagte der Kapitän, die Augen auf sie geheftet, nachdem er eine Weile stumm dagesessen und das Kinn gerieben hatte, »und ein braver Junge, und ein guter Junge.« Unter Tränen pflichtete Florence bei.

»Und er ist ertrunken, mein schönes Kind, ist er es nicht?« sagte der Kapitän in beschwichtigender Stimme.

Florence konnte abermals nichts anderes tun, als zustimmen.

»Er war älter als Ihr, mein kleines Fräulein«, fuhr der Kapitän fort; »aber Ihr wart von Anfang an wie zwei Kinder gegeneinander – nicht wahr, so war es?«

»Ja«, lautete Florences Antwort.

»Und Wal’r ist ertrunken«, sagte der Kapitän. »Nicht wahr?«

Die Wiederholung dieser Frage war eine eigentümliche Art Trost, schien aber jedenfalls für Kapitän Cuttle diese Eigenschaft zu besitzen, da er immer wieder auf sie zurückkam.

Florence, die gerne ihr Mahl unberührt beiseite geschoben und sich auf das Sofa zurückgelehnt hätte, gab ihm ihre Hand in dem Gefühl, daß sie seine Erwartungen getäuscht hätte, obschon sie nichts sehnlicher wünschte, als ihm nach aller seiner Mühe gefällig zu sein. Er behielt sie in der seinen, drückte sie und murmelte, des Diners und ihres Appetitmangels ganz vergessend, bisweilen im Tone brütender Teilnahme für sich hin: »Der arme Wal’r. Ja, ja! ertrunken. Ist es nicht so?« Dabei wartete er stets auf ihre Antwort, die augenscheinlich bei diesen seltsamen Betrachtungen ihm das wichtigste war.

Das Huhn und die Würste waren kalt, die Fleischbrühe und die Eiersauce aber fest geworden, ehe sich der Kapitän erinnerte, daß sie noch bei Tisch saßen. Dann aber fiel er unter dem Beistand von Diogenes über das Mahl her, und es gelang ihren vereinigten Kräften, rasch damit fertig zu werden. Das frohe Erstaunen des Kapitäns über die ruhige Emsigkeit, womit Florence ihm beim Abräumen des Tisches, beim Ordnen des Stübchens und beim Reinigen des Herds sich betätigte – man hätte nur den Eifer, womit er ihren Beistand ablehnen wollte, damit vergleichen können – steigerte sich allmählich so sehr, daß er zuletzt selbst nichts mehr tat und ihr bloß zusah, als wäre sie irgendeine Fee, die derlei Gefälligkeiten so zierlich für ihn verrichtete. Dabei begann in seiner unaussprechlichen Bewunderung der rote Streifen auf seiner Stirne wieder zu glühen.

Aber als Florence vom Kaminsims seine Pfeife herunterlangte und sie ihm mit der Bitte in die Hand gab, daß er jetzt rauchen möchte, wurde der Kapitän durch ihre Aufmerksamkeit so verwirrt, daß er das Rauchinstrument auf eine Art in der Hand hielt, als habe er sich sein ganzes Leben über nie mit dergleichen Dingen abgegeben. Und als nun Florence gar in den kleinen Schrank hineinsah, die Korbflasche herausnahm und unaufgefordert ein Glas trefflichen Grogs für ihn mischte, das sie vor ihm niedersetzte, da wurde seine rötliche Nase eigentlich blaß ob der Ehre, die ihm widerfuhr. Nachdem er in einer wahren Verzückung seine Pfeife gefüllt hatte, zündete Florence ihm diese an, ohne daß er imstande gewesen wäre, eine Einwendung dagegen zu erheben oder sie daran zu hindern. Dann nahm sie ihren Platz auf dem Sofa wieder ein und blickte mit einem so liebevollen und dankbaren Lächeln nach ihm hin, – einem Lächeln, das ihm zeigte, ihr kummervolles Herz sei ihm in gleicher Weise zugewendet, wie ihr Gesicht – daß sich der Rauch seiner Pfeife in seiner Kehle verfing und ihn zum Husten zwang, während er zugleich seine Augen so sehr belästigte, daß sie ihm überliefen.

Es war in der Tat ergötzlich anzusehen, wie der Kapitän sich glauben zu machen versuchte, der Grund dieser Wirkungen liege in der Pfeife selbst; denn er suchte in dem Kopf darnach, und als er ihn da nicht fand, tat er, als wolle er ihn zum Rohr hinausblasen. Die Pfeife geriet jedoch bald in ein besseres Stadium, und er kam in jenen Zustand von Ruhe, der es ihm möglich machte, ordentlich fortzurauchen. Gleichwohl verwandte er kein Auge von Florence, und mit einer strahlenden Selbstgefälligkeit, die sich nicht beschreiben läßt, hielt er hin und wieder inne, um von seinen Lippen langsam eine kleine Wolke zu entsenden, als wäre sie ein langer Streifen Papier mit der Inschrift: »Ja, ja, der arme Wal’r. Ertrunken, ist es nicht so?« Dann fuhr er mit unendlicher Zartheit wieder in seinem Rauchgeschäft fort.

So ungleich sie auch im Äußeren waren – es konnte kaum einen schrofferen Gegensatz geben, als den, der Florence in ihrer zarten Jugend und Schönheit dem knaufigen Gesicht, der breiten, verwitterten Gestalt und der rauhen Stimme des Kapitäns gegenüber darbot – standen sie sich doch, was einfache Unschuld und Arglosigkeit betraf, sehr nahe. Der Kapitän verstand sich auf gar nichts, als auf Wind und Wetter, und sein einfacher Charakter, seine Leichtgläubigkeit und Vertrauensfülle glichen denen eines Kindes. Sein ganzes Wesen war in die drei Haupttugenden, Glaube, Hoffnung und Liebe geteilt, so, daß für nichts anderes mehr Raum vorhanden war, als für eine gewisse romanhafte Weltanschauung, ohne denkbare wirkliche Grundlage, indem sie alle Rücksichten auf die zeitliche Klugheit oder die Wirklichkeit außer acht ließ. Während der Kapitän rauchend dasaß und Florence ansah, trug er sich mit weiß Gott wie viel unmöglichen Bildern, in denen sie ihm stets als Hauptgestalt vor die Seele trat. Ebenso haltlos und unsicher, obschon nicht so hoffnungsreich waren ihre eigenen Gedanken über das vor ihr liegende Leben, und wie ihre Tränen das Licht in prismatischen Farben sich brechen ließen, so sah sie auch in ihrem neuen schweren Gram bereits am fernen Horizont den matten Abglanz eines Regenbogens. Eine wandernde Prinzessin und ein treu gesinntes Ungeheuer, wie sie in den Märchenbüchern dargestellt werden, hätten ebenso neben dem Kamin sitzen und sprechen können, wie Kapitän Cuttle und die arme Florence dachten. Auch würde ein solcher Vergleich, was ihr Äußeres angeht, nicht ganz unpassend gewesen sein.

Der Kapitän ließ es sich nicht entfernt einfallen, er könnte sich eine Last oder Verantwortlichkeit aufbürden, wenn er Florence bei sich behalte, und er glaubte in dieser Beziehung alles getan zu haben, wenn er Läden und Türe schloß. Ja, hätte sie sich sogar unter dem besonderen Schutz des Lord-Kanzlers befunden, so würde er sich nicht im mindesten daran gekehrt haben, denn von allen Menschen auf Erden war er gewiß derjenige, der sich zuletzt durch derartige Rücksichten anfechten ließ.

So rauchte der Kapitän ganz behaglich seine Pfeife, während Florence ihren eigenen Gedanken nachhing. Nachdem die Pfeife ausgegangen war, genossen sie etwas Tee, und Florence bat ihn nun, er möchte sie nach einem benachbarten Laden begleiten, wo sie einige zunächst nötige Bedürfnisse einkaufen wollte. Es war schon ganz dunkel, und der Kapitän willigte ein, schaute aber sorgfältig vorher hinaus, wie er es in den Zeiten seines Verstecks vor Mrs. Mac Stinger getan hatte, und bewaffnete sich mit einem großen Stock, für den Fall, daß durch eine unerwartete Wendung der Gebrauch von Waffen nötig würde.

Mit ungemeinem Stolz reichte Kapitän Cuttle Florencen seinen Arm und geleitete sie einige hundert Schritte weit, durch seine große Wachsamkeit und die zahllosen Vorsichtsmaßregeln die Blicke aller Vorübergehenden auf sich ziehend. In dem Laden angelangt, glaubte der Kapitän, das Zartgefühl fordere von ihm, sich für die Dauer des Einkaufs, der aus Kleidungsartikeln bestehen sollte, zurückzuziehen. Zuvor aber stellte er seine Zinnbüchse auf den Tisch und erklärte dem Ladenmädchen, daß sie vierzehn Pfund zwei Schillinge enthalte. Wenn übrigens dieser Betrag nicht zureiche, um den Aufwand für die kleine Ausstattung seiner Nichte zu bestreiten – bei dem Wort »Nichte« warf er Florence einen sehr bedeutsamen Blick zu und begleitete denselben mit einer Gebärde, die Schlauheit und Geheimnisfülle ausdrückte – so solle sie nur die Güte haben, Signal zur Tür hinaus zu geben, da er dann den Mehrbetrag aus seiner Tasche entrichten wolle. Gelegentlich zog er auch seine große Uhr hervor, als ein schlaues Mittel, das Ladenpersonal durch den Anschein von großem Vermögen zu blenden, küßte sodann gegen die neue Nichte seinen Haken und ging zur Tür hinaus, nach der Außenseite des Fensters, wo man von Zeit zu Zeit unter den Seidenstoffen und Bändern sein großes Gesicht in augenscheinlichem Argwohn hereingucken sah, Florence könnte durch eine Hintertür geistartig verschwinden.

»Mein lieber Kapitän«, sagte Florence, als sie mit einem Päckchen herauskam, dessen Umfang die Erwartungen des Kapitäns sehr enttäuschte, da dieser geglaubt hatte, es werde ihr ein Lastträger mit einem Warenballen folgen, »ich brauche in der Tat dieses Geld nicht und habe auch nichts davon ausgegeben. Ich bin selbst mit Geld versehen.«

»Mein kleines Fräulein«, entgegnete der betroffene Kapitän und ließ seinen Blick die Straße hinuntergleiten, »wollt Ihr so gut sein, es für mich aufzuheben, bis ich es einmal fordere?«

»Darf ich es an den gewöhnlichen Platz zurückstellen und es dort aufbewahren?« fragte Florence.

Der Kapitän war mit diesem Vorschlag nicht ganz zufrieden, antwortete aber:

»Nun ja, mein Kindchen, stellt es hin, wohin Ihr wollt, wofern Ihr nur wißt, daß Ihr es wieder finden könnt. Für mich ist es unnütz«, fügte er hinzu, »und es wundert mich nur, daß ich es nicht schon längst beim Würfeln verspielt habe.«

Der Kapitän war für den Augenblick völlig entmutigt, lebte aber bei der ersten Berührung von Florences Arm wieder auf, und sie kehrten mit derselben Vorsicht wie auf dem Herweg nach Hause zurück. Der Kapitän öffnete die Tür zum Bord des kleinen Midshipman und huschte mit einer Schnelle hinein, wie nur viele Übung es ihn gelehrt haben konnte. Während Florences Morgenschlummer hatte er die Tochter einer älteren Frau gemietet, die gewöhnlich auf dem Leaden Hall-Markt unter einem blauen Sonnenschirm Geflügel verkaufte, daß sie ins Haus komme, Florences Zimmer in Ordnung bringe und ihr andere kleine Dienste leiste. Während ihrer Abwesenheit war diese Jungfer erschienen, und Florence fand jetzt alles um sich her so bequem und ordentlich, wenn auch nicht so schön, wie in dem schrecklichen Traum, den sie früher ihre Heimat nannte.

Sobald sie wieder allein waren, bestand der Kapitän darauf, daß sie eine Röstschnitte essen und ein Glas Würzgrog, den er vortrefflich anzufertigen wußte, trinken müsse. Nachdem er ihr außerdem mit freundlichen Worten und allen nur erdenklichen ungereimten Redewendungen zugesprochen hatte, führte er sie zu ihrem Schlafgemach hinauf. Aber auch er trug etwas auf seinem Herzen, und seinem ganzen Wesen war eine gewisse Unruhe anzumerken.

»Gute Nacht, mein liebes Herz«, sagte er zu ihr, als er sich an der Tür von ihr verabschiedete.

Florence erhob ihre Lippen zu seinem Gesicht und küßte ihn.

Zu jeder andern Zeit würde der Kapitän durch einen solchen Beweis von Zuneigung und Dankbarkeit ganz und gar das Gleichgewicht verloren haben. Aber obschon er auch jetzt nicht unempfindlich dafür war, blickte er ihr sogar mit größerer Unruhe, als er früher kundgegeben, ins Gesicht und schien nicht Lust zu haben, sie zu verlassen.

»Der arme Wal’r!« sagte der Kapitän.

»Der arme, arme Walter!« seufzte Florence.

»Ertrunken, nicht wahr?« sagte der Kapitän.

Florence schüttelte den Kopf und seufzte.

»Gute Nacht, mein kleines Fräulein!« sagte Kapitän Cuttle, seine Hand ausstreckend.

»Gott behüte Euch, mein lieber, wohlwollender Freund!«

Aber der Kapitän zögerte noch immer.

»Ist etwas vorgefallen, lieber Kapitän Cuttle?« fragte Florence, die in ihrem gegenwärtigen Gemütszustand leicht in Schrecken geriet. »Habt Ihr mir etwas zu sagen?«

»Euch etwas zu sagen, Frauenzimmerchen?« versetzte der Kapitän, sie in großer Verwirrung ansehend. »Nein, nein; was sollte ich Euch auch zu sagen haben, mein Herz? Ihr erwartet doch nicht, daß ich Euch etwas Gutes mitteilen könne?«

»Nein«, versetzte Florence kopfschüttelnd.

Der Kapitän blickte gedankenvoll nach ihr hin, wiederholte das »Nein« und zögerte noch immer in großer Verlegenheit.

»Armer Wal’r«, sagte er. »Mein Wal’r, wie ich dich zu nennen pflegte! Neffe des alten Sol Gills. Allen, die dich gekannt haben, so willkommen wie die Blumen im Mai! Wo bist du hingekommen, wackerer Junge – ertrunken, nicht wahr?«

Sein Selbstgespräch mit diesem plötzlichen Grübeln und dieser Wendung an Florencen schließend, wünschte er ihr gute Nacht und stieg die Treppe hinunter, während sie oben das Licht hinaushielt, um ihm zu leuchten. Er war schon in der Dunkelheit verschwunden und, wenn man aus dem Schall seiner sich entfernenden Tritte einen Schluß ziehen durfte, eben im Begriff, nach dem kleinen Stübchen sich zu wenden, als sein Kopf und seine Schultern unerwartet wieder aus der Tiefe auftauchten, augenscheinlich in keiner anderen Absicht, als um die Worte zu wiederholen: »Ertrunken, nicht wahr, meine Liebe?« Wenigstens verschwand er sogleich wieder, nachdem er diese Frage im Tone zarten Mitleids gestellt hatte.

Florence bedauerte sehr, daß sie durch ihre Flucht hierher – ohne es zu wissen, obschon ganz natürlich – im Innern ihres Beschützers solche Erinnerungen geweckt hatte. Sie setzte sich an den kleinen Tisch, den der Kapitän mit dem Fernrohr, dem Gesangbuch und andern Raritäten ausgestattet hatte, und dachte an Walter und alle die Dinge, die in der Vergangenheit mit ihm in Verbindung standen, bis sie zuletzt fast wünschte, sie möchte sich niederlegen und sterben können. Aber ihrer einsamen Sehnsucht nach dem Toten, den sie geliebt hatte, mengte sich kein Gedanke an die Heimat oder an die Möglichkeit der Rückkehr dahin – kein Bild von ihrem Vorhandensein bei. Sie hatte den Mord vollziehen sehen. Als der Vater, an dem sie so sehr gehangen, das letztemal vor ihr gestanden, war auch jede zögernde Spur von dem so zärtlich gehegten Bilde aus ihrem Heizen gerissen, verzerrt und erschlagen worden. Der Gedanke daran wirkte so erschütternd auf sie, daß sie die Augen bedeckte und nur mit Zittern auf die Tat oder die grausame Hand, die sie verübte, zurückblicken konnte. Wenn ihr inniges Herz imstande gewesen wäre, nach einem solchen Vorgang sein Bild noch länger zu bewahren, so hätte es brechen müssen. Aber es vermochte dies nicht, und an die Stelle der Leere trat eine wilde Furcht, die vor jedem zerstreuten Bruchstück dieses Bildes sich flüchtete – eine Furcht, die sich nur aus den Tiefen einer so innigen, einer so schwer verletzten Liebe erheben konnte.

Sie wagte es nicht, in den Spiegel zu sehen; denn bei dem Anblick des dunklen Males auf ihrer Brust erschrak sie vor sich selbst, als trage sie etwas Abscheuliches an sich herum. Sie bedeckte es im Dunkeln mit hastiger, unsteter Hand und legte weinend ihr müdes Haupt nieder.

Der Kapitän ging noch lange nicht zu Bett, sondern spazierte eine volle Stunde in dem Laden und in dem Hinterstübchen umher. Nachdem er durch diese Leibesübung wieder zu einiger Fassung gekommen war, setzte er sich mit ernstem gedankenvollen Gesicht nieder und las aus dem Gebetbuch die Gebetformeln für Seeleute. Das war nicht so leicht abgetan; denn der gute Kapitän war ein sehr langsamer, ungeschickter Leser und machte oft bei einem schweren Worte halt, um sich durch ein »na, mein Junge! nur lustig vorwärts!« oder »los, Ed’ard Cuttle, los!« zu ermuntern – Zusprüche, die ihm in der Regel aus jeder Not halfen. Dazu kam noch, daß sein Sehvermögen durch die Brille sehr beeinträchtigt wurde. Aber ungeachtet dieser Hindernisse lag der Kapitän, dem es sehr ernst damit war, mit großem Gefühl den Schiffsgottesdienst bis auf die letzte Zeile und verstaute sich dann in großer Zufriedenheit über das vollbrachte Werk mit heiterer Seele und mit von Wohlwollen strahlendem Gesicht unter dem Ladentisch, nachdem er zuvor noch die Treppe hinaufgegangen war und an Florences Tür gelauscht hatte.

Er stand auch im Laufe der Nacht mehrere Male auf, um sich zu überzeugen, daß sein Pflegling ruhig schlummere, bis er bei Tagesanbruch die Entdeckung machte, daß sie wache. Sie hörte nämlich Fußtritte in der Nähe der Tür und rief ihm zu, ob er es sei.

»Ja, mein kleines Fräulein«, versetzte der Kapitän in dumpfem Flüstern. »Steht alles recht bei Euch, mein Kleinod?«

Florence dankte ihm und sagte »Ja«.

Der Kapitän konnte eine so günstige Gelegenheit nicht versäumen und legte seinen Mund an das Schlüsselloch, durch das er wie eine heitere Brise rief:

»Der arme Wal’r! ertrunken – ist es nicht so?« Dann ging er wieder hinunter, verstaute sich abermals und schlief bis gegen sieben Uhr.

Im Laufe des ganzen Tages zeigte sich an ihm immer noch das unruhige, verlegene Wesen, obgleich sich Florence, die in dem kleinen Hinterstübchen ihre Nadel in Tätigkeit setzte, in weit gefaßterer Stimmung befand, als am vorhergehenden Tage. Indessen bemerkte sie fast immer, so oft sie die Augen von ihrer Arbeit aufschlug, daß der Kapitän nach ihr hinsah und sich gedankenvoll das Kinn strich. Auch rückte er seinen Armstuhl oft an ihre Seite, als ob er ihr eine vertrauliche Mitteilung machen wolle, schob ihn aber immer wieder zurück, da er über den Anfang nicht mit sich ins reine zu kommen schien, so daß er im Lauf des Tages mit dieser gebrechlichen Barke das ganze Stübchen nach allen Richtungen durchkreuzte und mehr als einmal in sehr trostloser Lage an dem Getäfel oder der Schranktür auf den Strand lief.

Endlich um die Zeit der Dämmerung warf Kapitän Cuttle neben Florence Anker und begann in einigem Zusammenhang zu reden. Als jedoch das Licht des Feuers die Wände und Decke des kleinen Stübchens, das Teebrett mit seinen Tassen auf dem Tisch und ihr ruhiges, der Flamme zugekehrtes Gesicht erhellte, während es zugleich sich in den Tränen spiegelte, die ihre Augen füllten, unterbrach der Kapitän ein langes Schweigen folgendermaßen:

»Ihr seid wohl noch nie zur See gewesen, meine Liebe?«

»Nein«, versetzte Florence.

»Hm«, sagte der Kapitän respektvoll; »es ist ein allmächtiges Element. Es gibt Wunder in der Tiefe, mein Schätzchen. Denkt Euch, wenn die Winde brausen und die Wellen sich auftürmen, denkt Euch eine Sturmnacht, so pechfinster«, fuhr der Kapitän fort, indem er feierlich seinen Haken in die Höhe hielt, »daß man nicht einmal die vorgehaltene Hand sehen kann, wenn nicht etwa ein Blitzstrahl sie erhellt, wo es dann fort, fort und fort geht durch Sturm und Dunkel, als gehe es schnabelvoran immer weiter in die Welt ohne Ende, Amen, und wenn Ihr es gefunden habt, so biegt ein Ohr ein. Das sind Zeiten, mein schönes Kind, wo einer wohl zu seinem Kameraden sagen kann: ›Ein steifer Nordwester, Bill; horch – hörst du ihn brausen? Gott helfe ihnen – wie dauert mich jetzt all das unglückliche Volk am Lande!‹«

Diese Rede, die in eigentümlicher Weise die Schrecken des Ozeans versinnlichte, brachte der Kapitän in sehr nachdrücklicher Weise hervor, und den Schluß bildete ein kräftiges: »Halt bei!«

»Habt Ihr schon einen schweren Sturm durchgemacht?« fragte Florence.

»Ei ja, Kindchen, ich habe meinen Teil schlecht Wetter gesehen«, sagte der Kapitän, mit bebender Hand seinen Kopf trocknend, »ich bin tüchtig umhergeworfen worden; aber – aber ich wollte nicht von mir selbst sprechen. Unser lieber Junge«, – er rückte ihr näher – »Wal’r, meine Liebe, der ertrunken ist.«

Der Kapitän sprach mit so unsicherer Stimme und blickte Florence mit einem so blassen aufgeregten Gesicht an, daß sie sich erschreckt an seinen Arm schmiegte.

»Euer Gesicht ist verändert«, sagte Florence. »Ihr seht mit einem Male so ganz anders aus. Was gibt es? Lieber Kapitän Cuttle, es überläuft mich eiskalt, wenn ich Euch so sehe.«

»Ach, Kindchen«, entgegnete der Kapitän, sie mit seiner Hand unterstützend, »Ihr müßt Euch nicht so an den Mast zurückwerfen lassen. Nein, nein, es steht alles recht, alles recht, meine Liebe. Was ich sagen wollte – Wal’r – er ist – er ist ertrunken. Ist es nicht so?«

Florence verwandte keinen Blick von ihm und legte, bald errötend, bald erblassend, ihre Hand auf die Brust.

»Es gibt Mühseligkeiten und Gefahren auf der Tiefe, meine Schönheit«, sagte der Kapitän, »und über manchem wackeren Schiff, über manchem und manchem kühnen Herzen hat sich das verschwiegene Wasser geschlossen, ohne etwas von seiner Geschichte zu erzählen. Aber man entkommt auch aus der Tiefe, und bisweilen wird ein einziger Mann von einem halb Hundert – ja, von einem Hundert vielleicht, mein Herzchen – durch die Gnade Gottes gerettet, so daß er wieder nach Hause kommt, nachdem man ihn für tot gehalten und alles ihn für verloren gegeben hat. Ich – ich kenne eine derartige Geschichte, Herzensfreude«, stotterte der Kapitän, »die mir einmal erzählt wurde, und da wir jetzt auf diesem Gang sind und wir beide, Ihr und ich, allein beim Feuer sitzen, so ist es Euch vielleicht nicht unangenehm, wenn ich sie Euch erzähle. Ist es Euch recht, meine Liebe?«

Zitternd vor Aufregung, die sie nicht beherrschen oder sich erklären konnte, folgte Florence unwillkürlich seinem Blick nach einer Stelle hinter ihr im Laden, wo eine Lampe brannte. Aber ebenso schnell, als sie den Kopf umwandte, sprang der Kapitän von seinem Stuhl auf und hielt sie mit der Hand zurück.

»Es ist nichts da, mein schönes Kind«, sagte er. »Ihr müßt nicht dorthin sehen.«

»Warum nicht?« fragte Florence.

Der Kapitän murmelte vor sich hin, es sei dort so finster, um das Feuer herum aber so behaglich. Dann lehnte er die Tür, die bis jetzt offen gestanden hatte, an und nahm seinen Sitz wieder ein. Florence folgte ihm mit den Augen und verwandte keinen Blick von seinem Gesicht.

»Die Geschichte betrifft ein Schiff, mein Herzenskind«, begann der Kapitän, »das mit günstigem Wind und Wetter aus dem Hafen von London aussegelte und nach – erschreckt nicht, mein Kindchen – es war nur nach auswärts bestimmt, mein Herz, nur nach auswärts.«

Der Ausdruck in Florences Gesicht beunruhigte den Kapitän, der selbst sehr erhitzt war und kaum weniger Aufregung zeigte als sie.

»Soll ich fortfahren, mein schönes Kind?« sagte der Kapitän.

»Ja, ja, bitte!« rief Florence.

Der Kapitän schluckte, als müsse etwas hinunter, was ihm in der Kehle stecken geblieben war, und fuhr mit unsicherer Stimme fort:

»Jenes unglückliche Schiff wurde in der See draußen von so schlechtem Wetter betroffen, wie man es in zwanzig Jahren kaum einmal trifft, meine Liebe. Es gibt Orkane am Land, die ganze Wälder und Städte niederreißen, und es gibt in jenen Breiten zur See Stürme, die das stärkste Schiff, das je vom Stapel gelassen wurde, nicht aushalten kann. Wie mir erzählt wurde, benahm sich jenes unglückliche Schiff Tag um Tag wacker und hat seine Schuldigkeit getan, meine Liebe. Aber mit einem einzigen Stoß waren fast alle seine Bollwerke eingestoßen, Masten und Steuer weggerissen und die besten Matrosen über Bord gefegt, so daß der Rumpf ganz der Gnade eines Sturmes preisgegeben war, der nicht gnädig verfuhr, sondern immer schwerer und schwerer blies, während die Wellen über ihn hinschlugen und ihn jedesmal mit ihrem donnernden Anprall wie eine Eierschale zerknickten. Jeder schwarze Punkt auf den Wasserbergen, die weiterrollten, war ein Stückchen von dem Leben des Schiffs oder ein lebender Mensch, und so ging es in Trümmer, mein liebes Mädchen, ohne daß je Gras wachsen wird über den Gräbern derer, die das Fahrzeug bemannt hatten.«

»Sie gingen nicht alle zugrunde!« rief Florence. »Einige wurden gerettet! – war es vielleicht nur ein Einziger?«

»An Bord jenes unglücklichen Schiffes«, sagte der Kapitän, indem er von seinem Stuhl aufstand und mit außerordentlichem Nachdruck jubelnd seine Hand ballte, »befand sich ein Junge, ein wackerer Junge – wie ich mir erzählen ließ – der als Knabe gerne von wackeren Handlungen bei Schiffbrüchen las und sprach – ich habe ihn gehört! ich habe ihn gehört! – und er erinnerte sich derselben in der Stunde seiner Not; denn während die mutigsten Herzen und die erfahrensten Matrosen niedergeholt wurden, blieb er fest und wohlgemut. Es war nicht der Mangel an Gegenständen der Liebe und Zuneigung auf dem Lande, was ihm solchen Mut gab, sondern es war sein natürlicher Sinn. Ich habe das in seinem Gesicht gelesen, als er noch ein bloßes Kind war – ja, oft und vielmal – obschon ich damals dachte, es sei nichts, als sein gutes Aussehen, Gott segne ihn!«

»Und er wurde gerettet!« rief Florence. »Wurde er gerettet?«

»Jener brave Junge«, sagte der Kapitän – »schaut mich an, mein Herzchen! Ihr müßt Euch nicht umsehen.«

Florence vermochte kaum zu wiederholen: »Warum nicht?«

»Weil nichts da ist, meine Liebe«, antwortete der Kapitän. »Laßt Euch nicht an den Mast zurückwerfen, mein hübsches Kind! Tut es nicht um Wal’rs willen, der uns allen lieb war! Jener Junge«, fuhr er fort, »nachdem er mit den Besten um die Wette gearbeitet und den Mutlosesten beigestanden hatte, ohne sich je zu beklagen oder ein Zeichen von Furcht blicken zu lassen, so daß er allen Matrosen einen Mut einflößte, der ihm Ehre machte, als wäre er ein Admiral gewesen – jener Junge blieb mit dem zweiten Maat und einem einzigen Matrosen von all den klopfenden Herzen, die an Bord jenes Schiffes gingen, allein am Leben – sie hatten sich an ein Stück des Wracks festgebunden und schweiften weiter auf dem stürmischen Meere.«

»Wurden sie gerettet?« rief Florence.

»Tage und Nächte schweiften sie fort auf dem endlosen Wasser«, sagte der Kapitän, »bis endlich – nein. Ihr müßt nicht dorthin sehen, mein Herzchen – ein Segel auf sie zukam, und sie wurden mit Gottes Erbarmen an Bord genommen, zwei noch am Leben und einer tot.«

»Welcher von ihnen war tot?« rief Florence.

»Nicht der Junge, von dem ich spreche«, sagte der Kapitän.

»Gott sei Dank! o, Gott sei Dank!«

»Amen!« fiel der Kapitän ein. »Laßt Euch nicht an den Mast zurückwerfen! Nur noch eine Minute standhalten, mein kleines Fräulein. An Bord jenes Schiffes nun machten sie eine lange Reise geradenwegs über die Karte hin; denn sie hielten nirgends an, und während dieser Fahrt starb der Matrose, der mit ihm aufgelesen wurde. Aber er blieb verschont und –«

Ohne zu wissen, was er tat, hatte der Kapitän eine Scheibe Brot von dem Laib abgeschnitten, sie an seinen Haken, der seine gewöhnliche Röstgabel war, gesteckt und über das Feuer gehalten; er sah dabei mit großer Aufregung in seinem Gesicht nach einer Stelle hinter Florence hin und ließ das Brot zu Kohle zusammenbrennen. »Blieb verschont«, wiederholte Florence, »und – –?«

»Und machte in jenem Schiff die Heimreise«, sagte der Kapitän, noch immer in dieselbe Richtung schauend, »und – erschreckt nur nicht, mein Schätzchen – wurde ans Land gebracht. Da kam er nun eines Morgens vorsichtig nach seiner eigenen Türe, um eine Beobachtung anzustellen, weil er wußte, daß seine Freunde ihn für ertrunken hielten, fuhr aber wieder ab bei dem unerwarteten – –«

»Bei dem unerwarteten Bellen eines Hundes?« rief Florence rasch.

»Ja«, rief der Kapitän. »Ausgehalten, mein Schatz! Mut! Ihr müßt noch nicht umschauen. Seht, dort – an der Wand!«

An der Wand in ihrer Nähe war der Schatten eines Mannes sichtbar. Sie sprang auf, schaute um und stieß einen jähen Schrei aus, als sie Walter Gay hinter sich erblickte.

Sie sah in ihm nichts anderes als einen Bruder, einen Bruder, der aus dem Grab erstanden war, einen schiffbrüchigen Bruder, der sich gerettet hatte und jetzt an ihrer Seite stand. Im Augenblick lag sie in seinen Armen; denn er schien ihr jetzt ihr Trost, ihre Hoffnung, ihre Zuflucht und ihr natürlicher Beschützer zu sein. »Vergeßt Walter nicht; Walter ist mir lieb gewesen!« Das teure Andenken an die ersterbende Stimme, die so gesprochen, erfüllte ihre Seele wie nächtliche Musik. »O, willkommen in der Heimat, liebster Walter! Willkommen diesem schwer geprüften Herzen!« Sie fühlte die Worte, obschon sie diese nicht aussprechen konnte, und hielt ihn in reiner Umarmung umfangen.

In einem Anfall von Irrsinn versuchte der Kapitän Cuttle sich den Kopf mit der zu Kohle verbrannten Brotscheibe an seinem Haken zu wischen, und da er diese Substanz unpassend fand, so warf er sie in die Krone seines Glanzhutes, den er mit einiger Schwierigkeit auf seinem Kopf zurechtbrachte. Dann fing er einen Vers von der lieblichen Peg an, brach aber schon mit dem ersten Wort wieder ab und zog sich nach dem Laden zurück, von wo aus er schnell mit glutrotem, beschmiertem Gesicht und ganz schlaffem Hemdkragen wieder zurückkam, um die Worte zu sprechen:

»Wal’r, mein Junge, hier ist ein bißchen Eigentum, das ich euch beiden gemeinschaftlich ausfolgen möchte!«

Der Kapitän langte hastig die große Uhr, die Teelöffel, die Zuckerzange und die Zinnbüchse hervor, legte sie auf den Tisch und fegte sie mit seiner großen Hand in Walters Hut. Als er jedoch diesen wunderlichen Sparhafen Walter vermachte, fühlte er sich abermals so angegriffen, daß er aufs neue in den Laden flüchten mußte, um dieses Mal länger auszubleiben, als bei seinem ersten Rückzuge.

Walter ging ihm jedoch nach, um ihn zu holen, und nun drückte der Kapitän seine große Besorgnis aus, die Erschütterung könnte Florence nachteilig werden. Er fühlte dies so angelegentlich, daß er wieder ganz vernünftig wurde und Waltern für die nächsten paar Tage jede weitere Berührung seiner Abenteuer aufs entschiedenste untersagte. Er hatte jetzt hinreichend Fassung gewonnen, um sich der verkohlten Brotscheibe in seinem Hut zu entledigen und seinen Platz am Teetisch einzunehmen. Als er aber zu seiner Rechten auf der Schulter Walters Hand fühlte und zur Linken Florence ihre tränenvollen Glückwünsche flüstern hörte, stürzte er plötzlich wieder hinaus und ließ gute zehn Minuten nichts von sich sehen.

In seinem ganzen Leben nie hatte das Gesicht des Kapitäns so geglänzt und gestrahlt, wie um die Zeit, als er endlich am Teetisch festsaß und bald Walter, bald Florence ansah. Auch wurde diese Wirkung weder hervorgebracht noch erhöht durch das Reiben mit dem Rockärmel, das während der letzten halben Stunde fast unablässig stattfand. Der Glanz war ausschließlich der Abdruck seiner inneren Erregtheit. In dem Kapitän selbst herrschte eine Wonne und Herrlichkeit, die sich über sein ganzes Gesicht verbreitete und es wahrhaft illuminierte.

Einen Beitrag dazu lieferte wohl der Stolz, mit dem der Kapitän die gebräunten Wangen und das mutige Auge seines wiedergewonnenen Knaben betrachtete – der Stolz, mit dem er die edle Glut des Jünglings in aller ihrer Offenheit und Hoffnungsfülle wieder in dem frischen, festen Wesen und in dem glühenden Gesicht leuchten sah. Einen gleichen Eindruck übte die Bewunderung und Teilnahme, mit der er seine Blicke auf Florence wandte, deren Schönheit, Anmut und Unschuld keinen treueren und eifrigeren Kämpen hätte gewinnen können, als ihn selbst. Aber die Hauptglorie, die sich um ihn ergoß, konnte bloß durch die Betrachtung der beiden zugleich und durch die schönen Bilder hervorgerufen werden, die in Verbindung mit diesem Anblick in seinem Kopf funkelnd und strahlend umhertanzten.

Wie sie von dem armen Onkel Sol sprachen und bei jedem kleinen Umstand verweilten, der sich auf sein Verschwinden bezog; wie ihre Freude gedämpft wurde durch die Abwesenheit des alten Mannes und durch Florences Unglück; wie sie Diogenes in Freiheit setzten, den der Kapitän vor einiger Zeit die Treppe hinaufgelockt hatte, damit er nicht wieder belle; alles das begriff der Kapitän vollkommen, obschon er sich in einer dauernden Aufregung befand und noch oft wieder für ein Weilchen in den Laden hinausstürzte. Wenn aber Walters Augen so oft das liebende Gesicht suchten und selten dem offenen Blick schwesterlicher Liebe begegneten, ohne sich zur Erde zu senken, ließ er es sich ebensowenig träumen, daß sein Junge Florence so ferne stehen könne, wie er glaubte, daß die ihm zur Seite sitzende Gestalt Walters Geist sei. Er sah sie da, beisammen in ihrer Jugend und Schönheit, kannte die Geschichte ihrer jüngeren Tage und hatte unter seiner großen blauen Weste keinen Zoll Raum für etwas anderes, als für die Bewunderung gegen ein solches Paar und für den Dank, den er dem Allmächtigen spendete, der sie wieder vereinigt hatte.

Sie blieben beieinander sitzen, bis es spät geworden war. Der Kapitän hätte eine Woche so bleiben können. Aber Walter erhob sich, um für die Nacht Abschied zu nehmen.

»Ihr geht, Walter!« sagte Florence. »Wohin?«

»Er hat seine Hängematte vorderhand bei Brogley drüben aufgeschlungen, kleines Fräulein«, sagte Kapitän Cuttle. »Es ist in Rufweite, Herzensfreude.«

»Ich bin die Ursache, daß Ihr wieder fort müßt, Walter«, sagte Florence. »Eure Stelle hat eine heimatlose Schwester eingenommen.«

»Liebste Miß Dombey«, versetzte Walter stockend – »wenn es nicht zu dreist ist, Euch so zu nennen –«

»Walter!« lief sie erstaunt.

»Wenn mich irgend etwas glücklicher machen könnte, als die Erlaubnis, Euch zu sehen und zu sprechen, würde das nicht die Entdeckung sein, daß ich auch nur einigermaßen Euch nützlich geworden bin? Wohin wollte ich nicht gehen, was würde ich nicht tun um Euretwillen?«

Sie lächelte und nannte ihn Bruder.

»Ihr seid so verändert«, sagte Walter –

»Ich verändert?« unterbrach sie ihn.

»Gegen mich«, sagte Walter, als ob er nur laut vor sich hindenke. »Verändert gegen mich. Ich verließ Euch als ein Kind und finde Euch – o, so ganz anders –«

»Doch als Eure Schwester, Walter. Ihr habt nicht vergessen, was wir beim Abschied einander versprachen?«

»Vergessen!«

Nur dieses, nicht weiter.

»Und wenn Leiden und Gefahr es aus Euren Gedanken verdrängt haben sollten – ich glaube es übrigens nicht –, so würdet Ihr Euch dessen jetzt entsinnen, Walter, da Ihr mich arm und verlassen findet, mit keiner andern Heimat, als dieser hier, und keinen Freunden, als den beiden, die mich sprechen hören.«

»Jawohl! der Himmel weiß es!« sagte Walter.

»O Walter!« rief Florence unter Schluchzen und Tränen. »Teurer Bruder! zeigt mir einen Weg durch die Welt – einen bescheidenen Pfad, den ich allein gehen kann und auf dem mich meine Arbeit weiterbringt. Ich will dann an Euch denken als an den, der mich als Schwester schützen und für mich sorgen wird! O, steht mir bei, Walter, denn ich bin der Hilfe so sehr bedürftig!«

»Miß Dombey! Florence! Ich würde für Euch in den Tod gehen, wenn ich Euch damit dienen könnte. Aber Eure Verwandten sind stolz und reich – Euer Vater – –«

»Nein, nein, Walter!« rief sie laut hinaus und hielt in einer Haltung des Entsetzens, die ihn sofort innehalten ließ, ihre Hände an den Kopf. »Sprecht dieses Wort nicht.«

Er vergaß von Stunde an nie die Stimme und den Blick, womit sie ihm bei Nennung dieses Namens Einhalt getan hatte. Es war ihm, als könne er das nie vergessen, und wenn er Jahrhunderte lebte. Irgendwo – überall – nur nicht in der Heimat! Alles dahin, alles vergangen, verloren und zertrümmert. Die ganze Geschichte ihres stillen, verachteten Lebens lag in dem Ruf und in dem Blick; er fühlte, daß er sie nie vergessen konnte, und bewahrte beides in seinem Gedächtnis.

Sie legte ihr holdes Gesicht auf die Schulter des Kapitäns und erzählte, wie und warum sie geflohen war. Wenn jede schmerzliche Träne, die sie dabei vergoß, als Fluch auf das Haupt dessen gefallen wäre, den sie nie nannte oder tadelte, so würde das noch immerhin besser für ihn gewesen sein, dachte Walter erschüttert, als von einer solchen Kraft und Macht der Liebe aufgegeben zu werden.

»So, mein Kleinod!« sagte der Kapitän, als sie zum Schlusse gekommen war; er hatte ihren Worten die tiefste Aufmerksamkeit geschenkt und, den Glanzhut ganz schräg auf dem Kopf, mit weit aufgesperrtem Mund zugehört. »Gott behüte meine Augen! Wal’r, lieber Junge, segle jetzt für heut nacht ab und überlaß den Diamanten mir!«

Walter ergriff ihre Hand mit den seinen, drückte sie an die Lippen und küßte sie. Er wußte nun, daß sie ein heimatloser, unsteter Flüchtling war; in diesem Zustande aber ihm gegenüber reicher, als in dem ganzen Reichtum und Stolz der ihr gebührenden Stellung, so daß es ihm vorkam, sie stehe sogar auf einer viel höheren Stufe, als es die gewesen, nach der er in seinen knabenhaften Träumen schwindelnd hinaufgeblickt hatte.

Kapitän Cuttle, der sich nicht mit solchen Betrachtungen belästigte, geleitete Florence nach ihrem Gemach und hielt in Zwischenräumen auf dem gefeiten Grund vor ihrer Türe – denn das war er für ihn in Wirklichkeit – Wache, bis er sich im Geist hinreichend beruhigt fühlte, um sich unter dem Ladentisch verstauen zu können. Ehe er in dieser Absicht seinen Posten verließ, konnte er es sich in seinem Freudentaumel nicht versagen, noch einmal durch das Schlüsselloch zu rufen: »Ertrunken. Ist es nicht so, mein Schätzchen?« – und als er unten anlangte, machte er einen abermaligen Versuch mit jenem Vers von der lieblichen Peg. Aber es saß ihm etwas in der Kehle, und er konnte damit nicht fertig werden. Deshalb ging er zu Bett und träumte von dem alten Sol Gills, der mit Mrs. Mac Stinger verheiratet war und von dieser Dame bei schmaler Kost in einem verborgenen Stübchen gefangen gehalten wurde.