Siebentes Kapitel.


Siebentes Kapitel.

Vogelperspektive von Miß Tors Wohnung und ihre Liebhabereien..

Miß Tor bewohnte ein dunkles Häuschen, das sich in einer früheren Periode der englischen Geschichte mitten hinein in eine fashionable Umgebung des Westendes von London gezwängt hatte, wo es wie eine arme Verwandte der um die Ecke herum liegenden sternchenland.com großen Straße im Schatten stand und von den mächtigen Nachbarhäusern nur über die Achsel angesehen wurde. Es stand nicht gerade in einem Hof, wohl aber in einer der langweiligsten Sackgassen, die noch beängstigender und hagerer wurde durch die fernen Doppelschläge. Dieser abgeschiedene Ort, wo zwischen den Pflastersteinen das Gras in die Höhe schoß, hieß der Prinzessinnenplatz, und auf dem Prinzessinnenplatz befand sich eine Prinzessinnenkapelle mit einer gellenden Glocke, in der sich bisweilen ein paar Dutzend Personen zum Sonntagsgottesdienst versammelten. Ferner sah man hier ein Wappen der Prinzessinnen, das häufig von Dienern in funkelnden Livreen besucht wurde, und innerhalb des Geländers vor den Wappen der Prinzessinnen stand eine Sänfte, die aber seit Menschengedenken nie herausgekommen war. An schönen Morgen waren die Spitzen sämtlicher Geländerstangen (ihrer Zahl nach 48, wie sich Miß Tor oft aus eigener Zählung überzeugt hatte) mit Zinnkrügen verziert. Auf dem Prinzessinnenplatz stand neben der Wohnung Miß Tor noch ein anderes Privathaus, dessen ungeheures Flügeltor, mit ein paar ungeheuren löwenköpfigen Klopfern daran, gar nicht erwähnt zu werden braucht, da es nie geöffnet wurde und vermutlich ein außer Brauch gekommener Eingang zu jemands Ställen war. Überhaupt herrschte auf dem Prinzessinnenplatz ein gewisser unverkennbarer Stallgeruch, und das hinten hinausgehende Schlafgemach der Miß Tor beherrschte eine Aussicht auf Ställe, wo stets Pferdeknechte mit irgendeiner Art Arbeit beschäftigt waren und sich dabei mit gewaltigem Geschrei unterhielten. Auch sah man dort die häuslichsten und vertraulichsten Kleider der Kutscher, ihrer Weiber und Familien, die gewöhnlich wie Macbeths Banner an den äußeren Mauern aufgehängt waren.

In dem andern Privathaus des Prinzessinnenplatzes, das von einem in Ruhestand getretenen und mit einer Wirtschafterin verehelichten Hausmeister bewohnt wurde, waren Gemächer an einen Junggesellen vermietet – nämlich an einen holzköpfigen, blaugesichtigen Major mit großen hervorquellenden Augen, in denen Miß Tor, wie sie sich selbst ausdrückte, »etwas so wahrhaft Militärisches« erkannte. Zwischen diesem Herrn und ihr fand ein gelegentlicher Austausch von Zeitungen und Flugschriften statt – ein platonisches Spiel, das durch einen schwarzen Diener des Majors vermittelt wurde. Miß Tor begnügte sich vollkommen damit, letzteren als einen »Eingeborenen« zu klassifizieren, ohne ihn mit irgendeiner geographischen Idee in Verbindung zu bringen.

Vielleicht hat es nie einen engeren Eingang und eine schmälere Treppe gegeben, als den Eingang und die Treppe von dem Hause der Miß Tor. Vielleicht war es im ganzen von oben bis unten genommen das unbequemste und verkrümmteste kleine Haus in ganz England; aber Miß Tor pflegte es mit den Worten zu entschuldigen – »aber die Lage!« Im Winter hatte man nur kurze Zeit ein wenig Tageslicht, und auch in den besten Zeiten war nie Sonnenlicht zu bekommen. Von der Luft ist bereits die Rede gewesen, und vom Verkehr war man ganz abgeschnitten. Dennoch sagte Miß Tor – »bedenkt nur, sternchenland.com welch eine Lage!« Der blaugesichtige Major mit seinen Glotzaugen war damit einverstanden und tat sich viel auf den Prinzessinnenplatz zugut, da er ihm Gelegenheit gab, in seinem Klub immer wieder das Gespräch auf die vornehmen Leute und die große Straße um die Ecke zu bringen, nur um sich den Hochgenuß zu bereiten, daß er sagen konnte, sie seien seine Nachbarn.

Das finstere Haus, das Miß Tor bewohnte, war ihr Eigentum und ihr von dem verstorbenen Besitzer des fischigen Auges in dem Schlosse vermacht worden; auch befand sich ein Miniaturporträt desselben mit gepuderten Haaren und Zopf als Gegenstück zu dem Kesselhalter auf der andern Seite des Kamins im Wohnstübchen. Der größere Teil des Möbelwerks stammte gleichfalls aus der Zeit des Puders und der Zöpfe; namentlich zeichnete sich darunter ein Tellerwärmer, der stets seine vier abgezehrten, gebogenen Beine jemand in den Weg streckte, und ein abgenutztes Klavier aus, um das sich der Name des Instrumentenmachers mit einer gewaltigen Erbsengirlande herumzog.

Obschon Major Bagstok bei dem großen Meridian des Lebens, wie man es in der feinen Literatur nennt, angelangt war und seine Wanderung abwärts mit kaum einem Halse, einem sehr starren Paar Backenknochen, langen, hängenden Elefantenohren und Augen in dem bereits erwähnten Zustande künstlicher Aufregung weiter verfolgte, so ließ er es sich doch gewaltig angelegen sein, in Miß Tor ein Interesse für sich zu wecken, und so kitzelte er denn seine Eitelkeit mit der Vorstellung, daß sie eine herrliche Frauensperson sei, die ihr Auge auf ihn geworfen habe. Er hatte das auch mehrere Male in seinem Klub angedeutet, und manche kleine Scherze damit in Verbindung gebracht, in denen der alte Joe Bagstok, der alte Joey Bagstok, der alte J. Bagstok, der alte Josh Bagstok usw. das ewige Thema bildeten; es gehörte nämlich sozusagen zu dem Bollwerk von des Majors heiterem Humor, stets mit seinem eigenen Namen auf dem vertraulichsten Fuß zu stehen.

»Joey B., Sir«, konnte der Major mit einer Schwenkung seines Spazierstocks sagen, »ist so viel wert, wie ein Dutzend von Euch. Wenn Ihr einige mehr von der Bagstokzucht unter Euch hättet, Sir, so würdet Ihr dadurch nicht schlechter fahren. Auch jetzt noch, Sir, braucht der alte Joe nicht lange nach einem Weibe suchen, wenn es ihm darum zu tun ist; aber der Joe ist hartherzig, Sir – er ist zäh, Sir, zäh und verteufelt schlau!«

Nach einer solchen Erklärung konnte man pfeifende Töne hören, und das blaue Gesicht des Majors vertiefte sich zum Purpur, während seine Augen in wahrhaft konvulsivischem Zustande hervorquollen.

Ungeachtet des sehr freigebigen Eigenlobes war übrigens der Major ein selbstsüchtiger Mann. Wir möchten bezweifeln, ob es je eine Person mit einem selbstsüchtigeren Herzen oder – um mich eines bessern Ausdrucks zu bedienen – mit einem selbstsüchtigeren Magen gab, zumal da man zugeben muß, daß er mit letzterem Organ sternchenland.com entschieden reichlicher bedacht worden war, als mit dem ersteren. Es fiel ihm nicht entfernt ein, daß er übersehen oder gering geschätzt werden könnte, am wenigsten aber ließ er sich träumen, daß etwas Derartiges gar von Miß Tor ausgehen könnte.

Und doch gewann es den Anschein, als ob Miß Tor ihn vergessen habe – allmählich vergessen habe. Sie machte damit den Anfang bald nach dem Auffinden der Toodle-Familie, fuhr dann fort bis zu der Zeit der Kindstaufe, und nachher hatte ihr Interesse für ihn ganz und gar aufgehört. Ihre Teilnahme mußte durch irgend etwas oder irgend jemanden verdrängt worden sein.

»Guten Morgen, Ma›am«, sagte der Major, als er ihr einige Wochen nach den im vorigen Kapitel erwähnten Veränderungen auf dem Prinzessinnenplatze begegnete.

»Guten Morgen, Sir«, versetzte Miß Tor mit großer Kälte.

»Es ist schon geraume Zeit her, Ma›am«, bemerkte der Major mit seiner gewohnten Galanterie, »daß Joe Bagstok nicht das Glück hatte, Euch an Eurem Fenster sein Kompliment zu machen. Joe fühlt sich hart behandelt, Ma›am. Seine Sonne hat sich hinter einer Wolke versteckt.«

Miß Tor neigte ihr Haupt, aber in der Tat nur sehr kühl.

»Joes Sonne ist vielleicht über Land gewesen, Ma’am?« inquirierte der Major.

»Ich – über Land? o nein; ich bin nicht aus der Stadt gekommen«, versetzte Miß Tor. »Ich war in letzter Zeit viel in Anspruch genommen und muß fast jeden freien Augenblick einigen sehr vertrauten Freunden widmen. Ich fürchte, daß ich sogar jetzt mit meiner Zeit geizen muß. Guten Morgen, Sir!«

Miß Tor verschwand mit ihrer höchst bezaubernden Haltung von dem Prinzessinnenplatz, und der Major sah ihr mit einem Gesichte nach, das blauer war als je; dabei murmelte und brummte er etwas vor sich hin, was durchaus nicht wie ein Kompliment klang.

»Ei, verdammt Sir«, sagte der Major, seine Hummeraugen über den Prinzessinnenplatz hin und her rollen lassend und dessen würzige Luft anredend, »noch vor sechs Monaten würde dieses Weib den Boden geküßt haben, auf dem Josh Bagstok einhertrat. Was hat das nun zu bedeuten?«

Nach längerer Erwägung kam der Major zu dem Schluß, daß es sich hier um eine Männerfalle handle – um ein Ränkespiel, um das Legen einer Schlinge – mit einem Worte, daß Miß Tor Fallgruben herrichte. »Aber den Joe fangt Ihr nicht, Ma’am, – J. B. ist zäh. Zäh und verteufelt schlau.«

Diese Entdeckung beglückte ihn dermaßen, daß er den ganzen Tag über vor sich hinkicherte.

Aber es verging ein Tag nach dem andern, und es hatte durchaus nicht den Anschein, als ob Miß Tor überhaupt auf den Major achte oder an ihn denke. In früheren Zeiten war es ihre Gewohnheit gewesen, hin und wieder wie zufällig aus einem ihrer kleinen dunkeln Fenster hinauszusehen und errötend den Gruß des Majors zu erwidern; sternchenland.com aber jetzt gab sie ihrem militärischen Nachbar nie mehr einen Anlaß dazu und kümmerte sich auch nicht darum, ob er über die Straße herübersah oder nicht. Es sollten auch noch andere Veränderungen vorgehen. Der Major konnte im Schatten seines eigenen Zimmers stehend die Wahrnehmung machen, daß die Wohnung der Miß Tor in letzter Zeit ein schmuckeres Aussehen gewonnen hatte. Für den alten kleinen Kanarienvogel war ein neuer Käfig mit vergoldeten Drähten angeschafft worden; verschiedener Zierat, aus Pappendeckel und Papier geschnitten, schien den Kaminsims und die Tische zu zieren; an den Fenstern waren plötzlich ein paar Pflänzlein aufgeschossen, und Miß Tor übte sich gelegentlich auf ihrem Klavier, dessen Erbsengirlande sich gar prunkhaft ausnahm und auf dem ein Notenheft mit einigen von Miß Tor selbst abgeschriebenen Walzern lag.

Vor allem war es jedoch der Umstand, daß sich Miß Tor längst mit ungewöhnlicher Sorgfalt und Eleganz in eine leichte Trauer gekleidet hatte. Das half dem Major mit einem Male aus all seiner Schwierigkeit, und er kam dadurch zu dem Schluß, daß ihr irgendein kleines Legat zugefallen und sie deshalb stolz geworden sei.

Schon am anderen Tage, nachdem sich der Major durch diese Folgerung das Gemüt erleichtert hatte, sah er, wie er eben bei seinem Frühstück saß, eine so erstaunliche und wundervolle Erscheinung in dem kleinen Wohnstübchen der Miß Tor, daß er geraume Zeit auf seinem Sessel wie angenagelt sitzenblieb; dann stürzte er in sein Nebenkabinett und kehrte mit einem doppelröhrigen Operngucker zurück, mit dem er die Erscheinung einige Minuten lang aufs angelegentlichste betrachtete.

»Ich wette fünfzigtausend Pfund, es ist ein kleines Kind, Sir«, sagte der Major, indem er das Augenglas wieder zusammendrückte.

Das konnte der Major nicht vergessen. Er pfiff in einem fort, und seine Augen quollen so furchtbar hervor, daß sie in dem Zustande, wie sie früher waren, eigentlich als tiefliegend und eingesunken betrachtet werden konnten. Tag um Tag, zwei-, drei-, viermal in der Woche machte das Wickelkind seinen Besuch. Der Major fuhr fort, zu glotzen und zu pfeifen. Aber was er auch treiben mochte, niemand achtete seiner auf dem Prinzessinnenplatze, denn Miß Tor hatte aufgehört, an seinem Tun und Lassen Anteil zu nehmen. Sein Blau hätte sich ebensogut in Schwarz verwandeln können, ohne daß es sie in irgendeiner Weise interessiert hätte.

Die Beharrlichkeit, mit der sie den Prinzessinnenplatz verließ, um das Wickelkind und seine Wärterin zu holen, mit ihnen zu kommen, zu gehen und beständige Wache über sie zu halten – die Ausdauer, mit der sie es selbst pflegte, nährte, durch Spielen unterhielt oder durch Arien auf ihrem Klavier in Todesängste versetzte, war ganz außerordentlich. Auch befiel sie um dieselbe Zeit eine große Leidenschaft, nach einem gewissen Armband zu sehen und den Mond zu betrachten, an dem sie oftmals von ihrem Kammerfenster aus lange Beobachtungen anstellte. Nach was sie übrigens auch sehen mochte, nach Sonne, Mond, Sternen oder Armbändern – für den Major sternchenland.com hatte sie keinen Blick mehr. Und der Major, der vor Neugierde fast starb, pfiff, glotzte und düsselte in seinem Zimmer herum, ohne der Sache auf den Grund kommen zu können.

»Gewiß und wahrhaftig, Ihr werdet das Herz meines Bruders Paul noch ganz gewinnen«, sagte eines Tages Mrs. Chick.

Miß Tor erblaßte.

»Er wird mit jedem Tage Paul ähnlicher«, fuhr Mrs. Chick fort.

Miß Tox gab darauf keine andere Erwiderung, als daß sie den kleinen Paul in ihre Arme nahm und dessen Haubenband mit ihren Liebkosungen ganz zerknitterte.

»Ich habe die Bekanntschaft seiner Mutter erst durch Euch machen sollen, meine Liebe«, sagte Miß Tor. »Hat er überhaupt Ähnlichkeit mit ihr?«

»Nicht im geringsten«, entgegnete Louisa.

»Sie war – war hübsch, glaube ich?« stotterte Miß Tor.

»Nun ja, die liebe arme Fanny war interessant«, erwiderte Mrs. Chick nach längerem Bedenken. »Gewiß interessant. Sie besaß zwar nicht jene beherrschende Überlegenheit, die man fast als eine Sache, die sich von selbst versteht, an der Gattin meines Bruders zu finden erwartete, und ebensowenig die Kraft und Lebhaftigkeit des Geistes, die ein solcher Mann braucht.«

Miß Tor seufzte tief.

»Aber sie war angenehm«, fuhr Mrs. Chick fort, »sehr angenehm. Und sie meinte es gut – ach Himmel, wie gut meinte es nicht die arme Fanny!«

»Du Engel!« rief Miß Tor dem kleinen Paul zu. »Du treues Abbild deines Papas.«

Hätte der Major wissen können, wie viele Hoffnungen und Wagnisse, welche Menge von Plänen und Spekulationen sich an dieses kleine Kind knüpften – wäre es ihm möglich gewesen, Zeuge zu sein, wie sie in ihrer buntesten Verwirrung und Unordnung die zerdrückte Haube des nichts ahnenden kleinen Paul umschwebten, so würde er sicherlich allen Grund gehabt haben, die Augen aufzureißen. Er hätte nämlich unter dem Gewimmel einige ehrgeizige, ausschließlich Miß Tor angehörige Sonnenstäubchen und Strahlen erkennen können, und dann wäre ihm wahrscheinlich klar geworden, welche Beschaffenheit es mit der scheuen Teilnahme dieser Dame an der Firma Dombey hatte.

Hätte das Kind selbst in der Nacht geweckt werden können, damit es an den Vorhängen seiner Wiege die matten Reflexe von Träumen erschaue, die andere Leute an seine Person knüpften, so wäre es sicherlich aus guten Gründen vor Angst in Krämpfe gefallen. Aber Paul schlummerte sanft, ohne Ahnung von den liebevollen Absichten der Miß Tor, von der Verwunderung des Majors, von den frühen Leiden seiner Schwester und von den ernsteren Visionen seines Vaters; konnte er ja nicht dafür, daß irgendein Teil der Erde einen Dombey oder einen Sohn barg. sternchenland.com

Achtes Kapitel.


Achtes Kapitel.

Pauls weitere Fortschritte – sein Gedeihen und sein Charakter.

Unter den wachsamen Augen der Zeit – so ganz anderen, als die des Majors waren – ging mit Pauls Schlummern allmählich eine Veränderung hervor. Es gewann mehr und mehr Licht, immer bestimmtere und bestimmtere Träume störten ihn, und eine Menge von Gegenständen und Eindrücken umschwärmten sein Lager. Er ging aus dem Alter der hilflosen Kindheit in das der regsameren über und wurde ein plaudernder, umhergehender, neugieriger Dombey.

Nach dem Sturz der Verbannung der Richards wurde die Kinderstube nur provisorisch versorgt, wie es zuweilen auch bei Ministerien zu sein pflegt, wenn sich kein individueller Atlas finden läßt, um sie zu tragen. Die provisorisch Betrauten waren natürlich Mrs. Chick und Miß Tor, die sich ihren Obliegenheiten mit so erstaunlichem Eifer hingaben, daß Major Bagstok mit jedem Tage neu an sein Vergessensein erinnert wurde, während Mr. Chick, der häuslichen Oberaufsicht beraubt, sich in die lustige Welt warf, in Klubs und Kaffeehäusern speiste, bei drei verschiedenen Gelegenheiten nach Tabak roch, allein ins Theater ging und – um es kurz zu sagen – sich jeder sozialen Pflicht und jeder moralischen Verbindlichkeit – wie ihm einmal von Mrs. Chick bedeutet wurde – als enthoben erachtete.

Aber trotz der früheren guten Aussichten und trotz aller dieser Wachsamkeit und Sorgfalt wollte der kleine Paul doch nicht recht gedeihen. Von Natur aus zart, nahm er nach der Entfernung seiner Amme sehr ab, und es hatte geraume Zeit den Anschein, als warte er nur auf eine Gelegenheit, seinen neuen Wärterinnen aus den Händen zu gleiten und seine verlorene Mutter zu suchen. Den gefährlichen Boden auf der Rennjagd zu dem reiferen Alter fand er sehr schwer durchzumachen, und er wurde im Laufe derselben von allen erdenklichen Hemmnissen hart bedrängt. Jeder Zahn wurde für ihn zu einer halsbrechenden Verzäunung, jeder Masernflecken zu einer steinernen Mauer. Jeder Anfall von Keuchhusten warf ihn aufs Krankenlager, und er mußte ein ganzes Feld kleiner Krankheiten, die sich auf den Fersen folgten, um ihn ja nicht zum Aufstehen kommen zu lassen, überqueren. Ja sogar die Hühner wurden wütend, wenn sie etwas mit der Kinderkrankheit zu tun hatten, der sie ihren Namen liehen, und quälten den armen Paul wie Tigerkatzen.

Vielleicht hatte auch die Kälte bei Pauls Taufe irgendeinen empfindsamen Teil seines Wesens berührt, so daß er sich in dem kalten Schatten seines Vaters nicht erholen konnte; so viel ist gewiß, daß er von diesem Tage an ein unglückliches Kind war. Mrs. Wickham sagte oft, sie habe nie ein so liebes Geschöpf so schwer heimgesucht gesehen.

Mrs. Wickham war die Frau eines Kellners – was etwa gleichbedeutend sein dürfte mit der Witwe eines jeden andern Mannes – und ihre Bewerbung um ein Unterkommen in Mr. Dombeys sternchenland.com Dienst hatte unter Berücksichtigung des Umstandes, daß sie augenscheinlich keinen Anhang haben konnte, geneigte Aufnahme gefunden. Einige Tage später nach Pauls schneller Entwöhnung war sie zu dessen Wärterin bestellt worden. Mrs. Wickham war eine bescheidene Frau mit weißem Teint, stets emporgezogenen Augenbrauen und unablässig gesenktem Kopfe. Stets bereit, sich selbst zu bemitleiden, bemitleidet zu werden, oder jemand anders zu bemitleiden, hatte sie eine überraschende natürliche Gabe, alle Gegenstände in einem gänzlich verlorenen beklagenswerten Lichte zu betrachten, die schauerlichsten Vorgänge damit in Verbindung zu bringen und aus der Übung ihre« Talents die größten Tröstungen abzuleiten.

Es ist kaum nötig, zu bemerken, daß kein Zug dieser ihrer Eigenschaft je zur Kenntnis des großmächtigen Mr. Dombey kam. Das wäre auch in der Tat merkwürdig gewesen, da es doch niemand im Haus – nicht einmal Mrs. Chick oder Miß Tor – je wagte, ihm bei irgendeiner Gelegenheit zuzuraunen, daß in Beziehung auf den kleinen Paul auch nur der mindeste Grund zur Unruhe vorhanden sei. Er hielt es für etwas Notwendiges, daß das Kind eine gewisse Reihe kleiner Krankheiten durchmachen müsse, und es sei nur um so besser, je früher das geschehe. Allerdings, wenn er imstande gewesen wäre, ihn loszukaufen oder einen Substituten an seine Stelle zu setzen, wie man das im Falle eines unglücklichen Zugs bei der Konskription zu tun pflegt, so würde er keine Geldausgabe gescheut haben; da das aber nicht möglich war, so wunderte er sich nur hin und wieder in seiner hochmütigen Weise, was denn die Natur damit bezwecke, und tröstete sich mit dem Gedanken, es sei wieder ein weiterer Meilenstein zurückgelegt und das große Ziel der Reise näher herangerückt. Das vorherrschendste Gefühl in seiner Seele, das sich immer mehr steigerte, je älter Paul wurde, war die Ungeduld – ein sehnsüchtiges Harren der Zeit, in welcher seine Träume von ihrer vereinten Bedeutsamkeit und Größe zur triumphierenden Wirklichkeit würden. Einige Philosophen sagen uns, daß unseren besten Neigungen immer die Selbstsucht zugrunde liege. Für Mr. Dombey war der kleine Paul von Anfang an als ein Teil seiner eigenen Größe oder – was damit gleichbedeutend ist – der Größe von Dombey und Sohn so entschieden wichtig, daß ohne Frage, wie mancher gute Oberbau eines unbescholtenen Rufs, seine väterliche Liebe sich leicht auf eine sehr niedrige Grundlage zurückführen ließ. Er liebte übrigens seinen Sohn mit aller Liebe, deren er fähig war. Wenn sich je in seinem frostigen Herzen ein warmer Winkel befand, so war dieser von dem Sohn in Anspruch genommen, und wenn die sehr harte Oberfläche desselben den Eindruck eines Bildes aufnehmen konnte, so war es das des Sohnes. Doch war es kaum das Bild des kindlichen oder knabenhaften, sondern vielmehr das des erwachsenen, des »Sohns« der Firma. Deshalb sah er so ungeduldig der Zukunft entgegen, deshalb wäre er so gern über die früheren Abschnitte der Entwicklung hinweggeeilt, und darum machte er sich, trotz seiner Liebe, nur so wenig oder gar keine Sorge darüber. Er schien der Überzeugung zu sein, sternchenland.com der Knabe habe ein gefeites Leben und müsse notgedrungen der Mann werden, mit dem sich schon jetzt unaufhörlich seine Gedanken beschäftigten, und für den er, wie für eine existierende Wirklichkeit, jeden Tag neue Pläne schmiedete.

Paul war jetzt beinahe fünf Jahre alt. Er war ein hübsches Knäblein, hatte aber dabei ein so schmächtiges, tiefsinniges Gesichtchen, daß Mrs. Wickham oft bedeutungsvoll den Kopf schüttelte und tief dabei seufzte. Seine Gemütsart stellte in Aussicht, daß er im späteren Leben sehr gebieterisch werden dürfte; auch wußte er seine eigene Bedeutsamkeit und die Pflicht zur Unterwerfung allen andern Personen und Gegenständen so deutlich klar zu machen, als es das Herz nur wünschen konnte. Zuweilen war er kindlich und scherzhaft genug, da er überhaupt keinen störrischen Charakter besaß; aber zu andern Zeiten hatte er eine gar befremdliche altmodische, gedankenschwere Art an sich, wenn er brütend in seinem kleinen Sesselchen saß und dabei wie eines jener schrecklichen kleinen Wesen in den Feenmärchen aussah oder redete, die bei einem Alter von hundertundfünfzig oder zweihundert Jahren phantastisch die Kinder repräsentieren, mit denen sie vertauscht wurden. Droben in der Kinderstube wandelte ihn gar oft diese frühreife Stimmung an, und er konnte mit dem Ausruf, daß er müde sei, urplötzlich darin verfallen, selbst wenn er gerade mit Florence spielte oder Miß Tor als Pferd am Leitseil gehen ließ. Nie aber befiel ihn diese Laune so sicher, als wenn sein kleiner Stuhl nach dem Zimmer seines Vaters gebracht wurde und er dort nach der Mahlzeit neben seinem Erzeuger am Feuer sitzen mußte. Zu solcher Zeit waren sie das seltsamste Paar, das je vom Feuerlichte beschienen wurde. – Mr. Dombey, so aufrecht und feierlich in die Flamme schauend, sein kleines Ebenbild aber mit einem alten, alten Gesicht, mit der gespannten und verzückten Aufmerksamkeit eines Zauberers in die rote Perspektive blickend. Mr. Dombey unterhielt sich mit verwickelten weltlichen Entwürfen und Plänen, Sohn aber erging sich in weiß der Himmel was für wilden Phantasien, halbgeformten Gedanken und unsteten Spekulationen. Mr. Dombey saß da, steif von Stärke und Anmaßung, Sohn als sein echter Sprößling in unbewußter Nachahmung. Beide waren sich so sehr ähnlich und bildeten doch einen so schreienden Gegensatz.

Bei einer dieser Gelegenheiten waren beide geraume Zeit vollkommen ruhig dagesessen, und Mr. Dombey entnahm das Wachen des Kindes nur dem Umstände, daß ihn hin und wieder ein Blitz seines Auges traf, in dem das helle Feuer wie aus einem Diamant funkelte, als der kleine Paul das Schweigen in folgender Weise unterbrach:

»Papa, was ist Geld?«

Diese plötzliche Frage hatte eine so unmittelbare Beziehung zu Mr. Dombeys Gedanken, daß dieser ganz betroffen wurde.

»Was Geld ist, Paul?« entgegnete er. »Geld?«

»Ja«, sagte das Kind und legte die Hände auf die Lehnen seines sternchenland.com kleinen Stuhls, während er zugleich das alte Gesicht Mr. Dombey zukehrte: »was ist Geld?«

Mr. Dombey sah sich in Verlegenheit. Er hätte ihm gerne eine Erklärung über die verschiedenen Bezeichnungen dieses Zirkulationsmittels, über Kurantmünze, nicht kursfähige Münze, Papier, Barren, Wechsel, den Marktwert der edlen Metalle usw. gegeben; als er aber auf den kleinen Stuhl niederblickte und dabei bemerkte, wie ferne noch ein gehöriges Verständnis des Gegenstandes lag, antwortete er:

»Gold, Silber und Kupfer, Guineen, Shillinge, Halbpence. Du weißt, was das ist?«

»O ja, das weiß ich wohl«, sagte Paul. »Das meine ich auch nicht, Papa. Ich möchte wissen, was Geld überhaupt ist.«

Himmel und Erde, wie alt sein Gesicht war, als er es abermals zu dem seines Vaters erhob!

»Was Geld überhaupt ist?« entgegnete Dombey, indem er seinen Stuhl ein wenig zurückschob, um in heller Verwunderung das anmaßende Atom, das eine solche Frage gestellt hatte, besser betrachten zu können.

»Ich meine Papa, was kann es ausrichten?« versetzte Paul, indem er die Arme kreuzte (sie waren kaum lang genug dazu) und seine Blicke zwischen dem Feuer und seinem Vater hin und her gleiten ließ.

Mr. Dombey rückte seinen Stuhl wieder an den früheren Platz und pätschelte Paul auf den Kopf.

»Du wirst es mit der Zeit erfahren, Bürschlein«, sagte er. »Geld, Paul, kann alles ausrichten.«

Er faßte dabei die kleine Hand des Knaben und klopfte leicht mit seiner darauf.

Aber Paul machte seine Hand los, sobald er konnte, rieb die Fläche derselben sachte auf der Stuhllehne hin und her, als ob sein Verstand darin sitze und er ihn schärfen wolle, schaute abermals ins Feuer, wie wenn ihm von diesem die Frage eingegeben worden sei, und wiederholte nach einer kurzen Pause:

»Alles Papa?«

»Ja, alles – beinahe«, sagte Mr. Dombey.

»Alles will soviel heißen, wie überhaupt alles – ist es nicht so, Papa?« fragte der Sohn, die Beschränkung entweder nicht bemerkend, oder vielleicht auch nicht verstehend.

»Ja«, versetzte Mr. Dombey.

»Warum hat Geld nicht meine Mama gerettet?« entgegnete das Kind – »es ist doch nicht grausam – oder?«

»Grausam!« sagte Mr. Dombey, indem er die Halsbinde zurechtrückte und sich über die Idee zu ärgern schien. »Nein. Etwas Gutes kann nicht grausam sein!«

»Wenn es etwas Gutes ist und alles kann«, sagte der kleine Bursche, nachdenklich wieder in das Feuer zurückschauend, »so wundere ich mich nur, warum es meine Mama nicht rettete.«

Er stellte diesmal seine Frage nicht an seinen Vater. Vielleicht sternchenland.com hatte er mit kindlichem Scharfsinn erfaßt, daß sie seinen Vater bereits unruhig gemacht. Aber er wiederholte den Gedanken laut, als sei es etwas Altes, das ihn längst beunruhigt habe, und legte das Kinn auf die Hand, wie wenn er sinnend in dem Feuer die Erklärung suche.

Mr. Dombey erholte sich schnell von seiner Überraschung, um nicht zu sagen von seiner Unruhe – denn es war das erstemal, daß der Knabe mit ihm über die Mutter sprach, obschon er ihn jeden Abend in derselben Weise an seiner Seite sitzen hatte – und erklärte ihm nun, daß das Geld zwar ein sehr gewaltiger Geist sei, den man unter keinen Umständen je vergeuden dürfe, aber gleichwohl nicht vermöge, Leute, deren Sterbestündlein gekommen sei, am Leben zu erhalten; leider müßten alle Menschen sterben, sogar in der City, und wenn sie auch noch so reich seien. Das Geld bewirke übrigens, daß man geehrt, gefürchtet, geachtet, gesucht und bewundert werde; es mache mächtig und herrlich in den Augen aller Menschen und könne sehr oft für eine geraume Zeit sogar den Tod abhalten. Es habe z.B. seiner Mama die Dienste des Mr. Pilkins gesichert, die Paul selbst ja oft zustatten gekommen seien, ebenso die des großen Doktors Parker Peps, den er noch nicht kennengelernt habe. Es könne alles ausrichten, was überhaupt sich ausrichten lasse. Das und ähnliches flößte Mr. Dombey dem Geiste seines Sohnes ein, der aufmerksam zuhörte und den größten Teil dessen, was ihm gesagt wurde, zu verstehen schien.

»Aber es kann mich nicht kräftig oder ganz gesund machen, Papa – oder kann es?« fragte Paul nach kurzem Schweigen und rieb sich die kleinen Händchen.

»Ei, du bist ja kräftig und gesund«, entgegnete Dombey, »oder bist du es etwa nicht?«

O wie alt war der Ausdruck des Gesichts, das sich nun wieder mit halb melancholischem, halb schlauem Ausdruck erhob.

»Wie, bist du etwa nicht so kräftig und so gesund, wie kleine Leute es gewöhnlich sind?« fragte Mr. Dombey.

»Florence ist zwar älter als ich; aber ich weiß, ich bin nicht so stark und gesund wie Florence«, entgegnete das Kind, »und ich glaube, als Florence so klein war, wie ich, konnte sie viel länger in einem fort spielen, ohne müde zu werden. Ich bin oft so müde«, sagte der kleine Paul, indem er sich die Hände wärmte und durch das Kamingitter sah, als fände dort ein gespenstisches Puppenspiel statt, »und meine Knochen tun mir so weh – Wickham sagt wenigstens, es seien die Knochen – daß ich nicht weiß, was ich tun soll.«

»Nun ja; aber das ist abends«, sagte Mr. Dombey, indem er seinen Stuhl näher zu dem seines Sohnes rückte und seine Hand sanft auf dessen Rücken legte; »kleine Leute müssen abends müde sein, wenn sie gut schlafen wollen.«

»O, es ist nicht nur abends, Papa«, versetzte das Kind; »auch am Tage, wenn ich in Florences Schoß liege und sie mir etwas vorsingt. Nachts träume ich sonderbare, wunderliche Dinge!«

Und er fuhr fort, seine Hände zu wärmen und sich Gedanken darüber zu machen, wie ein alter Mann oder ein junger Kobold.

Mr. Dombey war erstaunt, fühlte sich unbehaglich und wußte ganz und gar nicht, wie er die Unterhaltung fortführen sollte, so daß er sitzenblieb und seinen Sohn beim Schein des Feuers ansah, die Hand noch immer auf dessen Rücken liegen lassend, als würde sie dort durch magnetische Anziehung festgehalten. Einmal brachte er auch die andere Hand näher und drehte für einen Moment das kleine nachdenkliche Gesicht seinem eigenen zu; sobald er es aber wieder losgelassen hatte, suchte es aufs neue das Feuer und schaute auf die sprühenden Funken, bis die Wärterin erschien, um ihren Pflegling zu Bett zu bringen.

»Florence soll mich holen«, sagte Paul.

»Wollt Ihr nicht mit Eurer armen Wärterin Wickham kommen, Master Paul?« fragte die Dienerin mit großem Pathos.

»Nein, ich mag nicht«, versetzte Paul, sich wieder in seinem Armstuhl festpflanzend, als sei er der Herr im Hause.

Mit einem Segenswunsche über die liebe Unschuld entfernte sich Mrs. Wickham, und bald darauf erschien statt ihrer Florence. Das Kind stand augenblicklich mit großer Bereitwilligkeit auf und machte dabei, als es seinem Vater gute Nacht sagte, ein so viel heitereres, jüngeres und kindlicheres Gesicht, daß Mr. Dombey ganz erstaunt darüber war, obschon er über den Wechsel sehr beruhigt war. Nachdem die beiden das Gemach verlassen hatten, war es ihm, als höre er eine sanfte Stimme singen; er wußte von Paul, daß ihm seine Schwester vorzusingen pflegte, weshalb er neugierig die Tür öffnete, um zu hören und ihnen nachzusehen. Sie hatte den Kleinen auf ihren Armen und trug ihn mühevoll die große, weite, leere Treppe hinauf; Pauls Kopf lag auf ihrer Schulter, und seine Arme waren nachlässig um ihren Hals geschlungen. So ging es mit großer Anstrengung vorwärts; das Mädchen sang die ganze Zeit über, und bisweilen mischte Paul eine schwache Begleitung darein. Mr. Dombey sah ihnen nach, bis sie – freilich nicht, ohne unterwegs anzuhalten – die oberste Treppenstufe erreicht hatten und dort seinen Blicken entschwanden; aber auch dann schaute er noch immer aufwärts, bis die matten Strahlen des Mondes, die in melancholischer Weise durch das trübe Oberlichtfenster schienen, ihn nach seinem eigenen Zimmer zurücksandten. Beim Diner des nächsten Tages mußten sich Mrs. Chick und Miß Tor zum Zweck einer Beratung einfinden, und sobald das Tafeltuch entfernt war, eröffnete Mr. Dombey ihnen den Gegenstand, indem er ohne Rückhalt fragte, was denn eigentlich mit Paul sei und was Doktor Pilkins über ihn sage.

»Das Kind ist kaum so kräftig, als ich es wünschen möchte«, fügte Mr. Dombey hinzu.

»Mein lieber Paul«, versetzte Mrs. Chick, »mit deinem gewohnten glücklichen Scharfblick hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Unser Liebling ist nicht so kräftig, als wir wünschen, und der Grund dafür liegt darin, daß der Geist zu übermächtig in ihm wird. Seine sternchenland.com Seele ist viel zu groß für seinen Körper. Wenn man nur bedenkt, wie das liebe Kind spricht!« sagte Mrs. Chick ihren Kopf schüttelnd. »Niemand würde es glauben. Erst gestern seine Ausdrücke, Lukretia, über Leichenbegängnisse! –«

»Ich fürchte«, bemerkte Mr. Dombey, sie ärgerlich unterbrechend, »daß einige von den Personen droben das Kind mit unpassenden Gegenständen unterhalten. Erst gestern abend sprach er zu mir von seinen – von seinen Knochen«, sagte Mr. Dombey, einen gereizten Nachdruck auf das Wort legend. »Was in aller Welt hat man da mit den – mit den – Knochen meines Sohnes zu schaffen? Hoffentlich ist er doch kein lebendes Skelett!«

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Mrs. Chick mit einem nicht zu beschreibenden Ausdruck.

»Will’s aber auch meinen«, versetzte ihr Bruder. »Dann wieder Leichenbegängnisse! Wer spricht mit dem Kinde von Leichenbegängnissen? Wir sind doch keine Leichenbestatter, Stumme oder Totengräber, sollt‘ ich meinen.«

»Gewiß nicht«, entgegnete Mrs. Chick mit demselben tiefen Ausdruck, wie früher.

»Wer setzt ihm aber solche Dinge in den Kopf?« fragte Mr. Dombey. »In der Tat, ich war gestern abend in hohem Grade erschüttert. Wer setzt ihm solche Dinge in den Kopf, Louisa?«

»Mein lieber Paul«, entgegnete Mrs. Chick nach einer kurzen Pause, »diese Frage ist unnütz. Wenn ich gegen dich aufrichtig sein soll, so glaube ich nicht, daß Wickham eine sehr aufgeräumte, heitere Person ist – eine, wie soll ich sagen –«

»Eine Tochter des Momus«, ergänzte Miß Tor mit sanfter Stimme.

»Ganz richtig«, sagte Mrs. Chick; »aber sie benimmt sich ungemein achtsam, macht sich nützlich, wo sie kann, und ist durchaus nicht anmaßend. Ich habe in der Tat nie eine dienstwilligere Frauensperson gesehen. Wenn das liebe Kind –« fuhr Mrs. Chick im Tone einer Person fort, die, statt alles zum erstenmal zu sagen, das zusammenfaßt, über was man vorläufig völlig ins reine gekommen ist – »durch den letzten Anfall ein wenig geschwächt wurde und nicht ganz so gesund ist, als wir es wohl wünschen könnten – wenn in seinem System sich eine vorübergehende Entkräftung bemerkbar macht und es hin und wieder den Anschein hat, als könne er augenblicklich nicht gebieten über den Gebrauch seiner –«

Nach Mr. Dombeys kürzlichem Protest gegen die Knochen scheute sich Mrs. Chick, von Beinen zu sprechen, und wartete daher auf eine Einflüsterung von Miß Tor, die, ihrem Amte getreu, aufs Geratewohl das Wort »Glieder« hinwarf.

»Glieder!« wiederholte Mr. Dombey.

»Ich glaube, der Herr Doktor sprach diesen Morgen von Beinen, Louisa, ist es nicht so?« fragte Miß Tor.

»Ei freilich tat er das, meine Liebe«, entgegnete Mrs. Chick mit mildem Vorwurf. »Wie könnt Ihr mich nur fragen, da Ihr es ja sternchenland.com selbst gehört habt? Ich sage, wenn unser lieber Paul vorübergehend den Gebrauch seiner Beine verlieren sollte, so ist das nur eine Zufälligkeit, die bei vielen Kindern in seinem Älter oft vorkommt und sich weder durch Sorgfalt, noch durch Vorsicht verhindern läßt. Je eher du das einsiehst und zugestehst, Paul, desto besser ist es.«

»Zuverlässig weißt du, Louisa«, bemerkte Mr. Dombey, »daß ich deine natürliche Liebe und Achtung für das künftige Haupt meines Hauses nicht in Frage ziehe. Ich glaube, Mr. Pilkins ist heute morgen bei Paul gewesen?«

»Ja«, entgegnete die Schwester. »Miß Tor und ich, wir beide waren anwesend. Miß Tor und ich, wir fehlen nie bei solchen Gelegenheiten. Es ist für uns einfach Ehrensache. Mr. Pilkins kommt schon einige Zeit täglich ins Haus, und ich halte ihn für einen sehr gescheiten Mann. Er sagt, die Sache sei nicht der Rede wert, und ich kann dir diese Versicherung gehen, wenn du einen Trost darin findest; aber er empfahl heute Seeluft. Ich bin überzeugt, Paul, daß das ein sehr weiser Rat ist.«

»Seeluft?« wiederholte Mr. Dombey, seine Schwester ansehend.

»Es liegt durchaus nichts Beunruhigendes darin«, sagte Mrs. Chick. »Sie ist meinem George und meinem Friedrich, als sie ungefähr in gleichem Alter waren, ebenfalls verordnet worden, und auch ich selbst mußte mich ihrer oftmals bedienen. Ich bin ganz mit dir einverstanden, Paul, daß vielleicht droben unvorsichtigerweise Gegenstände vor ihm zur Sprache kommen, mit denen man seinen jungen Geist besser verschonen sollte; aber ich weiß in der Tat nicht, wie dem bei einem Kind von so rascher Auffassungsgabe abzuhelfen ist. Bei einem gewöhnlichen Kinde hätte es gar nichts auf sich. Ich muß daher sagen, daß ich die Ansicht der Miß Tor teile; eine kurze Abwesenheit von diesem Hause, die Luft von Brighton und die leibliche sowohl als die geistige Erziehung einer so verständigen Frau wie z.B. Mrs. Pipchin ist –«

»Wer ist Mrs. Pipchin, Louisa?« fragte Mr. Dombey, ganz entsetzt über die familiäre Erwähnung eines Namens, von dem er nie zuvor etwas gehört hatte.

»Mrs. Pipchin, mein lieber Paul«, entgegnete Mrs. Chick, »ist eine ältliche Dame – Miß Tor kennt ihre ganze Geschichte – die seit einiger Zeit mit bestem Erfolg die ganze Tätigkeit ihres Geistes dem Studium und der Erziehung der Jugend gewidmet hat; auch stammt sie aus guter Familie. Ihrem Gatten brach das Herz durch – wie habt Ihr gesagt, daß ihrem Gatten das Herz brach, meine Liebe? Ich habe die näheren Umstände vergessen.«

»Durch das Pumpen von Wasser aus den peruanischen Minen«, entgegnete Miß Tor.

»Er war natürlich nicht selbst Pompier«, sagte Mrs. Chick nach ihrem Bruder hinsehend; und es schien in der Tat nötig, eine solche Aufklärung zu geben, denn Miß Tor hatte von ihm gesprochen, als sei er an der Handhabung der Pumpe gestorben, »sondern hatte sein Geld bei der Spekulation angelegt, und diese schlug fehl. Ich sternchenland.com glaube, daß Mrs. Pipchin die Kinder ganz erstaunlich zu behandeln versteht. In den Privatzirkeln, die ich besuchte, habe ich sie stets – und, o du meine Güte, wie hoch – preisen hören!«

Mrs. Chicks Auge wanderte am Bücherschrank hinauf bis zur Büste des Mr. Pitt, die ungefähr zehn Fuß vom Boden entfernt war.

»Vielleicht sollte ich, mein teurer Sir«, bemerkte Miß Tor mit einem edlen Erröten, »da eben so bestimmt davon die Rede ist, beifügen, daß die Lobeserhebungen, in welchen sich Eure teure Schwester eben über Mrs. Pipchin ergangen hat, wohl berechtigt sind. Viele Ladies und Gentlemen, die nun zu interessanten Mitgliedern der Gesellschaft herangewachsen sind, haben ihrer Pflege viel zu verdanken. Das bescheidene Individuum, das Euch anzureden sich erdreistet, stand selbst einmal unter ihrer Obhut. Ich glaube sogar, daß der jugendliche Adel ihrer Anstalt nicht fremd ist.«

»Habe ich das so zu verstehen, daß diese achtbare Matrone ein Institut unterhält, Miß Tor?« fragte Mr. Dombey herablassend.

»Ich weiß in der Tat nicht«, erwiderte Miß Tor, »ob ich es mit Recht so nennen kann. Jedenfalls ist es keine Vorbereitungsschule. Drücke ich mich vielleicht treffend aus«, fügte sie mit eigentümlicher Süßigkeit hinzu, »wenn ich es als eine Kinderbewahrungsanstalt von der auserlesensten Beschaffenheit bezeichne?«

»In ungemein beschränktem und ausschließendem Maßstabe«, ergänzte Mrs. Chick mit einem Blick auf ihren Bruder.

»O! die Ausschließlichkeit selbst!« sagte Miß Tor.

Hierin lag etwas. Der Umstand, daß Mrs. Pipchins Gatten ob den peruanischen Minen das Herz brach, war gut – er hatte einen reichen Klang. Außerdem befand sich Mr. Dombey in einem Zustande, der sich fast zur Bestürzung steigerte, wenn er daran dachte, Paul solle auch nur noch eine Stunde im Hause bleiben, nachdem seine Entfernung durch den Arzt empfohlen worden war. Es handelte sich hier um eine neue Verzögerung und ein Hindernis auf dem Wege, den das Kind im besten Falle langsam genug zurücklegen mußte, ehe das Ziel erreicht war. Die Empfehlung der Mrs. Pipchin hatte bei ihm großes Gewicht, denn er wußte, daß die beiden Damen auf jede Einmengung bei ihrem Pflegling eifersüchtig waren, und es fiel ihm dabei keinen Augenblick ein, mit in Betracht zu ziehen, daß sie vielleicht auch auf andere Schultern eine Verantwortlichkeit abzuladen wünschten, in betreff deren er, wie sich eben erst gezeigt hatte, seine festgewurzelten Ansichten hatte. »Das Herz gebrochen wegen den peruanischen Minen«, dachte Mr. Dombey. »Nun, eine sehr achtbare Art, aus der Welt zu kommen.«

»Wir wollen morgen Nachfrage halten«, sagte Mr. Dombey nach einigem Erwägen: »und angenommen, wir entscheiden uns dafür, Paul zu dieser Dame nach Brighton zu schicken, wer soll mit ihm gehen?«

»Ich glaube, wir dürfen vorderhand nicht daran denken, das Kind irgendwohin zu schicken, ohne Florence, mein lieber Paul«, versetzte sternchenland.com seine Schwester stockend. »Er ist ganz vernarrt in sie. Du weißt, er ist noch so jung und hat seine Grillen.«

Mr. Dombey wandte den Kopf ab, ging langsam nach dem Bücherschranke, schloß ihn auf und langte ein Buch zum Lesen heraus.

»Wen sonst noch, Louisa?« fragte er, ohne aufzusehen in dem Buche blätternd.

»Natürlich die Wickham. Ich denke, Wickham genügt vollkommen«, entgegnete seine Schwester. »Wenn Paul in solchen Händen ist, wie bei Mrs. Pipchin, so kannst du kaum jemand mitschicken, der für sie nur ein weiteres Hindernis wäre. Natürlich machst du wenigstens einmal in der Woche einen Besuch dort.«

»Natürlich«, sagte Mr. Dombey und saß noch eine Stunde nachher immer vor derselben Seite seines Buches, ohne auch nur ein Wort gelesen zu haben.

Die gefeierte Mrs. Pipchin war eine wunderbar häßlich aussehende, mißlaunige alte Dame von gebeugter Haltung, mit einem Gesicht, so fleckig wie schlechter Marmor, einer Hakennase und einem harten grauen Auge, das aussah, als könnte es auf einem Amboß gehämmert werden, ohne dadurch Schaden zu nehmen. Wenigstens vierzig Jahre waren vergangen, seit die peruanischen Minen Mr. Pipchin den Tod gebracht hatten; aber seine Hinterlassene trug noch immer schwarzen Bombasin von so glanzlosem, tiefem, toten, düsteren Schatten, daß nach Eintritt der Dunkelheit sogar eine Gaslampe sie nicht aufzuhellen vermochte und ihre Gegenwart jede auch noch so große Anzahl von Kerzenlichtern zum Erblinden brachte. Sie galt im allgemeinen als eine Person, die sehr gut mit Kindern umzugehen wußte, und das Geheimnis ihrer Behandlung bestand darin, daß sie jedem gab, was ihm unlieb war, und nichts, was es gerne hatte; dadurch wurden denn ihre Charaktere sehr gezähmt. Sie war eine so bittere alte Dame, daß man sich wohl versucht fühlen konnte, zu glauben, in der Anwendung der peruanischen Maschinerie habe ein Irrtum stattgefunden, und es sei, statt des Wassers aus den Minen, alles Wasser der Heiterkeit und alle Milch der Menschenliebe völlig aus ihr herausgepumpt worden.

Das Kastell dieser Werwölfin und Kinderbändigerin stand an einer abschüssigen Stelle in einer Nebenstraße von Brighton. Der Boden war daselbst mehr als gewöhnlich kalkig, kieselig und unfruchtbar, und die Häuser zeigten ein gar schmächtiges, gebrechliches Aussehen. Die kleinen Gärten vorn besaßen die unerklärliche Eigentümlichkeit, nichts anderes als Ringelblumen hervorzubringen, was man sonst auch säen mochte, und die Schnecken klebten stets an den Haustüren und anderen öffentlichen Plätzen, wo sie wohl nicht als Zierde dienen konnten, mit der Beharrlichkeit von Schröpfköpfen. Winters konnte die Luft nicht aus dem Kastell heraus- und sommers nicht hineingebracht werden. Auch gab es darin einen so unaufhörlichen Widerhall des Windes, daß es überall stets wie eine große Muschel tönte, die die Insassen gleichsam Tag und Nacht an die Ohren halten mußten, ob sie nun wollten oder nicht. Natürlich konnte von sternchenland.com einem frischen Geruch nicht die Rede sein, und vor dem Fenster des Vorderzimmers, das nie geöffnet wurde, unterhielt Mrs, Pipchin eine Sammlung von Topfpflanzen, die der ganzen Anstalt ihren eigenen erdigen Duft mitteilten.

Wie sorgsam gewählt auch in ihrer Art die Exemplare sein mochten, die Pflanzen standen jedenfalls in einem eigentümlichen Einklang mit dem ganzen Hause der Mrs. Pipchin. Da waren ein halb Dutzend Kaktusse, die sich wie haarige Schlangen um runde Stöcke wanden; ein anderes Gewächs derselben Art streckte breite Krallen hinaus, wie ein grüner Hummer, mehrere Kriechpflanzen hatten stechende klebrige Blätter, und ein einziger unfreundlicher Blumentopf, der von der Zimmerdecke herunterhing, schien durch Sieden übergelaufen zu sein und kitzelte jetzt die unter ihm befindlichen Personen mit seinen langen grünen Enden, die an eine Spinne erinnerten – eine Tiergattung, von der es in Mrs. Pipchins Wohnung wimmelte, obschon sie vielleicht zur geeigneten Jahreszeit von den Ohrwürmern noch überboten wurden.

Gleichwohl steigerten sich Mrs. Pipchins Anforderungen an alle, die es erschwingen konnten, sehr hoch, und da die Dame selten die gleichmäßige Schärfe ihres Wesens zugunsten irgendeines Pfleglings milderte, so galt sie als eine Frau von merkwürdiger Festigkeit, die in ihrer Behandlung des kindlichen Charakters ganz wissenschaftlich zu Werke gehe. Auf die Grundlage dieses Rufs und des gebrochenen Herzens ihres Gemahls hin gelang es ihr, nach dem Ableben des Mr. Pipchin Jahr für Jahr sich leidlich durchzuschlagen. Drei Tage, nachdem Mrs. Chick ihrer zum erstenmal Erwähnung getan hatte, erlebte die treffliche alte Dame die Freude, einer respektablen Erhöhung ihrer laufenden Einnahmen aus Mr. Dombeys Tasche entgegensehen zu können und Florence sowohl als deren kleinen Bruder Paul zu den Insassen des Kastells zählen zu dürfen.

Mrs. Chick und Miß Tor waren abends zuvor mit den Kleinen angelangt und hatten die Nacht in einem Gasthaus zugebracht. Nach Ablieferung ihrer Fracht fuhren sie wieder der Heimat zu, und Mrs. Pipchin musterte, ihren Rücken dem Feuer zugekehrt, die neuen Ankömmlinge wie ein alter Feldwebel. Eine ältliche Nichte der Dame, eine gutmütige, dienstbeflissene Sklavin, die aber eine sehr hagere, eisenfeste Außenseite besaß und viel von Schwären an der Nase zu leiden hatte, nahm eben dem Master Bitherstone den reinen Halskragen ab, den er bei der Parade getragen hatte. Miß Pankey, zurzeit die einzige weitere kleine Kostgängerin, war kurz zuvor nach dem Gefängnis des Kastells, einem leeren Hintergemach, das zu Korrektionszwecken dienen mußte, geschickt worden, weil sie in Anwesenheit der Gäste dreimal geschnüffelt hatte.

»Nun, Sir«, sagte Mrs. Pipchin zu Paul, »glaubt Ihr wohl, daß es Euch bei mir gefallen wird?«

»Ich denke nicht, daß es mir hier je gefallen kann«, versetzte Paul »Ich will wieder fort. Das hier ist nicht mein Haus.«

»Nein. Es gehört mir«, entgegnete Mrs. Pipchin.

»Es ist sehr garstig«, sagte Paul.

»Gleichwohl gibt es noch einen schlimmern Platz darin«, erwiderte Mrs. Pipchin, »wo wir unsere bösen Buben einsperren.«

»Ist der auch schon drinnen gewesen?« fragte Paul, auf Master Bitherstone deutend.

Mrs. Pipchin nickte bejahend, und Paul hatte für den Rest des Tags genug damit zu schaffen, indem er Master Bitherstone von Kopf bis zu Fuß musterte und die Bewegungen seines Gesichts mit dem vollen Interesse beobachtete, das ein Knabe mit geheimnisvollen und schrecklichen Erfahrungen einzuflößen imstande ist.

Ein Uhr war die Stunde des Mittagessens, das hauptsächlich aus Mehlspeisen und Gemüse bestand, und um diese Zeit wurde Miß Pankey (ein sanftes, blauäugiges kleines Mädchen) aus ihrem Gefängnis hervorgeholt. Die Werwölfin verrichtete dieses Amt in eigner Person und belehrte ihre kleine Pflegbefohlene, daß niemand, der vor den Gästen schnüffle, je in den Himmel komme. Nachdem ihr diese große Wahrheit gehörig ans Herz gelegt war, wurde sie mit Reis bewirtet und mußte dann die im Kastell herkömmliche Gebetformel vortragen, in der speziell die Klausel des Dankes gegen Mrs. Pipchin für das gute Essen eingeschlossen war. Mrs. Pipchins Nichte, Berinthia, erhielt kaltes Schweinefleisch, und Mrs. Pipchin, deren Konstitution warme Nahrung verlangte, setzte sich zu den Hammelrippchen, die zwischen zwei Platten ganz heiß hereingebracht wurden und sehr gut rochen.

Da sie wegen des Regens nach dem Mahl nicht an die Küste hinuntergehen konnten und Mrs. Pipchins Konstitution nach den Hammelrippchen der Ruhe bedurfte, so begaben sie sich mit Berry (sonst Berinthia) nach dem Gefängnis, einem leeren Zimmer, das nach einer gegipsten Wand und einem Wasserfaß hinaussah, keinen Ofen hatte und mit seinem zerrissenen Kamin einen sehr gespenstischen Eindruck machte. Wenn übrigens Geselligkeit Leben hineinbrachte, war hier am Ende der beste Platz; denn Berry spielte da mit den Kindern und schien an deren Ausgelassenheit eine ebenso große Freude zu haben, wie ihre Pfleglinge. Dies dauerte fort, bis Mrs. Pipchin, wie der wieder auflebende »schwarze Mann«, zornig an die Wand klopfte; dann ließen sie ab, und Berry erzählte ihnen im Flüsterton Märchen bis zur Abenddämmerung.

Statt des Tees war für die Kinder reichlich Milch und Wasser mit Butterbrot vorhanden. Nur für Mrs. Pipchin und Berry wurde ein kleiner schwarzer Teetopf nebst einer unbeschränkten Menge Röstschnitten mit Butter für Mrs. Pipchin aufgetragen, die ebenso heiß wie die Hammelrippchen ankamen. Obschon nun die Werwölfin infolge dieses Gerichts von außen sehr schmierig wurde, schien es sie doch von innen durchaus nicht geschmeidiger zu machen; denn sie blieb so wild wie immer, und das harte graue Auge wollte nichts von Weichheit wissen.

Nach dem Tee brachte Berry ein kleines Arbeits-Etui, auf dessen Deckel der königliche Pavillon zu sehen war, hervor und fing an, sternchenland.com emsig zu arbeiten, während Mrs. Pipchin ihre Brille aufsetzte, ein großes, in grüne Leinwand gebundenes Buch herausnahm und zu nicken begann. Sooft aber Mrs. Pipchin sich darüber ertappte, daß sie gegen das Fenster vorbeugte und daran aufwachte, gab sie Master Bitherstone einen Nasenstüber, weil er gleichfalls genickt hatte.

Endlich war es für die Kinder Schlafenszeit, und nachdem sie ihr Gebet hergesagt hatten, wurden sie zu Bett gebracht. Da die kleine Miß Pankey sich fürchtete, allein im Dunkeln zu schlafen, so übernahm Mrs. Pipchin stets das Amt, sie in Person gleich einem Schaf die Treppe hinaufzutreiben; und es war gar erbaulich, mitanzuhören, wenn Miß Pankey noch lange hernach in der allerschlechtesten Kammer weinte und Mrs. Pipchin hin und wieder hineinging, um sie zu zausen. Um halb zehn Uhr brachte der Geruch von heißen Kalbsbrieslein (der Mrs. Pipchin gestattete ihre Konstitution nicht, ohne Kalbsbrieslein schlafen zu gehen) eine Abwechslung in die vorherrschenden Düfte des Hauses, die Mrs. Wickham als »Häusergeruch« bezeichnete, und bald nachher lag das ganze Kastell im Schlummer.

Am andern Morgen war das Frühstück wie der Tee am Abend vorher, nur mit der Ausnahme, daß Mrs. Pipchin statt der Röstschnitten eine Semmel verspeiste und nachher nur noch gereizter zu sein schien. Master Bitherstone las den übrigen laut einen Stammbaum aus der Genesis (von Mrs. Pipchin absichtlich ausgewählt) vor und kam über die Namen mit der Ruhe und Klarheit einer Person weg, die in einer Tretmühle arbeitete. Nachdem das geschehen war, wurde Miß Pankey fortgetragen, um gewaschen zu werden, und an Master Bitherstone nahm man etwas anderes mit Salzwasser vor, aus dem er stets sehr blau und niedergeschlagen zurückkehrte. Paul und Florence gingen inzwischen mit Wickham, die unaufhörlich in Tränen zerfloß, nach dem Gestade, und um die Mittagsstunde hielt Mrs. Pipchin abermals bei einer Vorlesung die Oberaufsicht. Es gehörte mit zu Mrs. Pipchins System, den kindlichen Geist sich nicht wie eine junge Blume entwickeln und ausbreiten zu lassen, sondern ihn mit Gewalt gleich einer Auster zu öffnen; denn die Moral solcher Vorlesungen trug gewöhnlich einen ungestümen und einschüchternden Charakter: der Held – ein böser Knabe – wurde in Mitte der Katastrophe selten durch etwas Geringeres als durch einen Löwen oder Bären abgetan.

So war das Leben bei Mrs. Pipchin. Am Sonnabend kam Mr. Dombey herunter – eine Gelegenheit, bei der Florence und Paul zu ihm nach seinem Hotel kommen durften und Tee erhielten. Auch den ganzen Sonntag blieben sie bei dem Vater und fuhren gewöhnlich vor dem Mittagessen mit ihm aus. Bei solchen Anlässen schien Mr. Dombey, gleich Falstaffs Feinden, sich sozusagen zu »multiplizieren« und aus einem einzelnen steifleinwandenen Menschen ein ganzes Dutzend zu werden. Sonntagabend war der trübseligste Abend in der Woche; denn zu solchen Zeiten schien Mrs. Pipchin es darauf abgesehen zu haben, besonders widerwärtig zu sein. Miß sternchenland.com Pankey wurde in der Regel von einer Tante zu Rottendean in tiefer Betrübnis zurückgebracht, und Master Bitherstone, dessen Verwandte insgesamt in Indien waren, und der während der Gebete in aufrechter Haltung, den Kopf gegen die Zimmerwand gelehnt und ohne eine Hand oder einen Fuß zu rühren, dasitzen mußte, fühlte sich dabei in seinem jugendlichen Gemüt so niedergeschlagen, daß er eines Sonntags abends Florence fragte, ob sie ihm für den Rückweg nach Bengalen kein Mittel angeben könne.

Aber Mrs. Pipchin stand in dem Rufe, daß sie die Kinder systematisch zu behandeln wisse, und ohne Zweifel war das auch der Fall. Die wilden kamen zuverlässig zahm genug nach Haus, nachdem sie sich einige Monate unter ihrem wirtlichen Dache aufgehalten hatten. Auch sagte man sich allgemein, es machte Mrs. Pipchin große Ehre, daß sie, nachdem ihrem Mann durch die peruanischen Minen das Herz gebrochen war, sich dieser Lebensaufgabe gewidmet, ihre Gefühle zum Opfer gebracht und fortwährend gegen die Mühen ihrer Stellung so entschlossen standgehalten hatte.

Neben dieser exemplarischen alten Dame pflegte nun Paul in der Regel lange Zeit in seinem kleinen Armstuhl zu sitzen und ins Feuer zu schauen. Er schien nie zu wissen, was Müdigkeit war, so oft er einen festen Blick auf Mrs. Pipchin richtete. Zwar liebte er sie nicht und fürchtete sich auch nicht vor ihr. Aber in seinen wunderlichen alten Launen schien sie eine ganz eigentümliche Anziehung für ihn zu besitzen. Die Hände wärmend, schaute er nach ihr hin und schaute fort, daß sogar die Werwölfin bisweilen ganz verwirrt wurde. Als sie einmal allein waren, fragte sie ihn, an was er denke.

»An Euch«, versetzte Paul ohne den mindesten Rückhalt.

»Und was denkt Ihr von mir?« fragte Mrs. Pipchin.

»Ich mache mir Gedanken, wie alt Ihr wohl sein mögt«, sagte Paul.

»Von solchen Dingen müßt Ihr nicht sprechen, junger Gentleman«, versetzte die Dame. »Das schickt sich nicht.«

»Warum nicht?« sagte Paul.

»Weil es unhöflich ist«, versetzte Mrs. Pipchin schnippisch.

»Unhöflich?« fragte Paul.

»Ja.«

»Wickham sagt«, entgegnete Paul unschuldig, »es sei auch nicht höflich, alle Hammelrippchen und Röstschnitten allein zu essen.«

»Wickham«, erwiderte Mrs. Pipchin aufbrausend, »ist eine boshafte, unverschämte, dreiste Person.«

»Was soll das?« fragte Paul.

»Geht Euch nichts an, Sir«, entgegnete Mrs. Pipchin. »Denkt an die Geschichte von dem kleinen Knaben, der von einem tollgewordenen Ochsen totgestoßen wurde, weil er Fragen stellte.«

»Wenn der Ochse toll war«, sagte Paul, »wie konnte er wissen, daß der Knabe Fragen stellte? Niemand kann hingehen und einem tollen Ochsen Geheimnisse hinterbringen. Ich glaube nicht an diese Geschichte.«

»Ihr glaubt nicht daran, Sir?« wiederholte Mrs. Pipchin erstaunt.

»Nein«, sagte Paul.

»Auch nicht, wenn es zufälligerweise ein zahmer Ochse gewesen wäre, Ihr kleiner Ungläubiger?« erwiderte Mrs. Pipchin.

Da Paul den Gegenstand noch nicht in diesem Licht betrachtet und seine Folgerungen bloß auf die angeführte Mondsüchtigkeit der Ochsen gebaut hatte, so mußte er sich für den Augenblick zufrieden geben. Aber er brütete über dem Thema mit einer so augenscheinlichen Absicht, Mrs. Pipchin gleich wieder zu fassen, daß sogar diese zähe Dame es für ratsam hielt, sich zurückzuziehen, bis der Gegenstand vergessen wäre.

Von dieser Zeit an schien Paul für Pipchin ebensoviel Anziehungskraft zu haben wie Pipchin für Paul. Statt ihn auf der andern Seite des Feuers sitzen zu lassen, rückte sie seinen Stuhl auf ihre Seite hinüber, und da blieb denn Paul in einer Ecke zwischen dem Kamin und Mrs. Pipchin, alles Licht seines kleinen Antlitzes in die schwarzen Kleiderfalten vertiefend, jede Linie und Runzel ihres Gesichts studierend und das harte graue Auge in einer Weise durchbohrend, daß es Mrs. Pipchin bisweilen schloß, als ob sie schlummere. Mrs. Pipchin hatte eine alte schwarze Katze, die in der Regel mitten vor dem Kamin lag, wo sie aus reinem Privatvergnügen schnurrte und nach dem Feuer hinblinzelte, bis die zusammengezogenen Pupillen ihrer Augen wie zwei Ausrufungszeichen aussahen. Wie sie so zusammen bei dem Feuer dasaßen, hätte man die gute alte Dame – wir verwahren uns gegen alle respektwidrige Deutung – für eine Hexe und Paul nebst der Katze für ihre zwei vertrauten Geister ansehen können. Auch hätte es völlig zu der Szene gepaßt, wenn die ganze Gesellschaft in einer windigen Nacht einen Ausflug durch den Schornstein gemacht hätte, um nie wieder zurückzukommen.

So weit kam es nun allerdings nicht, sondern nach Einbruch der Dunkelheit sah man die Katze, Paul und Mrs. Pipchin stets an ihren gewöhnlichen Plätzen, und Paul, der die Kameradschaft des Master Bitherstone gerne mied, machte Abend für Abend seine Studien an Mrs. Pipchin, an der Katze und an dem Feuer, als wären sie ein Zauberbuch in drei Bänden.

Mrs. Wickham hatte für Pauls Besonderheiten ihre eigene Deutung und leitete aus alledem die unheimlichsten Betrachtungen ab. In solchen Deutungen wurde sie durch eine wirre Aussicht auf Schornsteine von dem Zimmer aus, wo sie sich gewöhnlich aufhalten mußte, durch das Getöse des Windes und durch die Langeweile ihres gegenwärtigen Lebens (Gespenstigkeit lautet der starke Ausdruck der Mrs. Wickham) bestärkt. Es gehöre mit zu Mrs. Pipchins Politik, zu verhindern, daß ihr eigenes »junges Weibsbild« – dies war ihre stehende Bezeichnung eines jeden weiblichen Dienstboten – in Verkehr mit Mrs. Wickham kam. Darum verwandte sie viel Zeit darauf, sich hinter Türen zu verbergen und auf das arme Mädchen sternchenland.com sternchenland.com zuzuspringen, sooft sich dieses Mrs. Wickhams Zimmer näherte. Indessen stand es doch Berry frei, in diesem Quartier, soweit es sich mit der Besorgung der vielfältigen Obliegenheiten vertrug, an denen sie unablässig von Morgen bis in die Nacht arbeiten mußte, sich wenigstens zu unterhalten, und so erleichterte dann Mrs. Wickham gegen sie ihr Herz.

»Was er für ein hübscher Junge ist, wenn er schläft!« sagte Berry, vor Pauls Bett stehenbleibend, nachdem sie Mrs. Wickham ihr Nachtessen hinaufgetragen hatte.

»Ach«, seufzte Mrs. Wickham, »er hat es wohl nötig.«

»Nun, er ist auch nicht häßlich, wenn er wacht«, bemerkte Berry.

»Nein, Ma’am. O nein. Ebenso wenig wie meines Onkels Betsey Jane«, sagte Mrs. Wickham.

Berry machte eine Miene, als möchte sie gar gerne den Gedankenzusammenhang zwischen Paul Dombey und der Betsey Jane des Onkels von Mrs. Wickham erforschen.

»Meines Onkels Frau«, fuhr Mrs. Wickham fort, »starb genau wie seine Mama. Das Kind meines Onkels fing gerade so an, wie Master Paul, und den Leuten lief oft darob das Blut kalt durch die Adern.«

»Wieso?« fragte Berry.

»Ich hätte nicht eine ganze Nacht allein bei Betsey Jane aufbleiben mögen!« sagte Mrs. Wickham, »nein, und wenn man meinem Mann am andern Morgen ein eigenes Geschäft angetragen hätte. Es wäre mir rein unmöglich gewesen. Miß Berry.«

Miß Berry fragte natürlich nach dem Grund. Aber Mrs. Wickham verfolgte nach dem Brauch mancher Damen von ihrer Stellung die Sache in ihrer eigenen Weise, ohne sich verwirren zu lassen.

»Betsey Jane«, sagte Mrs. Wickham, »war ein so süßes Kind, wie man nur eines zu sehen wünschen kann. Ich möchte mir kein lieberes wünschen. Betsey Jane überwand alles, was einem Kind an Krankheiten nur zustoßen kann. Die Masern waren bei ihr so leicht«, fügte Mrs. Wickham hinzu, »wie bei Euch das Hautjucken, Miß Berry.«

Miß Berry runzelte unwillkürlich die Nase.

»Aber der Betsey Jane«, sagte Mrs. Wickham, ihre Stimme dämpfend, indem sie zugleich im Zimmer umher und nach Pauls Bett hinsah, »ist ihre verstorbene Mutter in der Wiege erschienen. Ich kann nicht gerade sagen, wie oder wann, und ebenso wenig weiß ich, ob das liebe Kind davon wußte oder nicht. Aber Betsey Jane ist von ihrer Mutter bewacht worden, Miß Berry. Ihr sagt vielleicht, das sei Unsinn; ich nehme es nicht übel, Miß, und hoffe, ihr werdet imstande sein, mit gutem Gewissen zu glauben, daß es wirklich Unsinn sei. Euer Gemüt wird nur um so besser dabei fahren, da Ihr Euch an einem Platz befindet, der – Ihr werdet meine Freiheit entschuldigen – wie ein Begräbnisplatz aussieht und es wohl vermöchte, mich unter den Boden zu bringen. Master Paul ist ein wenig unruhig sternchenland.com in seinem Schlaf. Klopft ihn auf den Rücken, wenn Ihr so gut sein wollt.«

»Natürlich glaubt Ihr«, sagte Berry, indem sie tat, was ihr aufgetragen wurde, »auch seine Mutter habe sich seiner angenommen?«

»Betsey Jane«, erwiderte Mrs. Wickham in feierlichstem Ton, »wurde aufgezogen wie dieses Kind da, und veränderte sich so sehr, wie sich Paul verändert hat. Ich habe oft und oft gesehen, wie sie dasaß – in Gedanken, in Gedanken, in Gedanken, ganz wie er. Oft und oft bemerkte ich, wie sie gerade so alt, alt, alt aussah wie er. Vielmal hörte ich sie geradeso reden, wie er redet, und ich bin der Meinung, daß dieses Kind und Betsey Jane ganz in der nämlichen Lage sind, Miß Berry.«

»Ist Eures Onkels Kind noch am Leben?« fragte Berry.

»Ja, Miß, sie lebt«, entgegnete Mrs. Wickham mit triumphierender Miene; denn es war augenscheinlich, daß Miß Berry das Gegenteil erwartete; »und ist an einen Silberarbeiter verheiratet. O ja. Miß, sie lebt«, sagte Mrs. Wickham, einen bedeutsamen Nachdruck auf das »sie« legend.

Es ging also klar daraus hervor, daß jemand tot war, und Mrs. Pipchins Nichte erkundigte sich nach der betreffenden Person.

»Ich möchte Euch nicht unruhig machen«, entgegnete Mrs. Wickham, in ihrem Nachtessen fortfahrend. »Fragt mich nicht danach.«

Das war jedenfalls das sicherste Mittel, eine zweite Frage herbeizuführen. Miß Berry wiederholte sie daher, und nach einigem widerstrebenden Zögern legte Mrs. Wickham das Messer nieder, um nach Pauls Nett hinzublicken.

»Sie faßte Zuneigungen zu Leuten«, antwortete sie, »darunter gar wunderliche Zuneigungen. Und andere gewannen sie lieb, wie man dieses wohl erwarten konnte, aber nur in höherem Grad als gewöhnlich. Sie sind alle gestorben.«

Das war so gar unverhofft und schrecklich für Mrs. Pipchins Nichte, daß sie sich aufrecht auf den harten Rand der Bettstatt niedersetzte, nur kurz aufatmete und die Sprecherin mit Blicken des unzweideutigsten Entsetzens ansah.

Mrs. Wickham schüttelte verstohlen ihren Zeigefinger gegen das Bett, wo Florence lag, senkte ihn dann abwärts und winkte mehrere Male bedeutungsvoll nach dem Boden. Unmittelbar darunter befand sich nämlich das Zimmer, in dem Mrs. Pipchin ihre Röstschnitten zu verzehren pflegte.

»Denkt an meine Worte, Miß Berry«, sagte Mrs. Wickham, »und dankt Gott, daß Master Paul nicht allzu große Stücke auf Euch hält. Ich wenigstens kann Euch versichern, bin froh, daß er mir nicht zuviel zugetan ist, obschon man in diesem Gefängnis von einem Haus – entschuldigt mich, daß ich das so frei sage – sich nicht sonderlich seines Lebens freuen sollte.«

Vielleicht hatte Miß Berry in ihrer Aufregung Paul zu hart geklopft, oder es kam vielleicht daher, daß in dieser einförmigen Beschwichtigung eine Pause stattgefunden hatte – genug, Paul drehte sternchenland.com sich in demselben Augenblick im Bett um, erwachte und nahm eine sitzende Stellung ein. Seine Haare waren feucht von den Wirkungen eines kindischen Traumes. Er fragte nach Florence.

Bei dem ersten Ton seiner Stimme war sie aus ihrem Bettchen, beugte sich über sein Kissen nieder und sang ihn wieder in Schlaf. Mrs. Wickham schüttelte den Kopf, ließ einige Tränen fallen, machte Berry auf die kleine Gruppe aufmerksam und schlug ihre Augen zur Decke empor.

»Gute Nacht, Miß!« sagte Wickham leise. »Gute Nacht! Eure Tante ist eine alte Frau, Miß Berry, und Ihr habt einem solchen Ausgang oft schon entgegensehen müssen.«

Dieses tröstliche Lebewohl begleitete Mrs. Wickham mit einem Blick herzlich gefühlter Beklommenheit, und sobald sie mit den beiden Kindern allein war, erging sie sich, während der Wind draußen schauerlich blies, in dem wohlfeilsten und leicht erreichbaren Hochgenuß der Schwermut, bis sie vom Schlummer überwältigt wurde.

Obgleich Mrs. Pipchins Nichte, als sie die Treppe hinunterging, nicht gerade erwartete, den exemplarischen Hausdrachen auf dem Herdfries ausgestreckt zu finden, fühlte sie sich doch erleichtert, als sie bemerkte, daß die Dame ungewöhnlich zänkisch und herb war – mit einem Wort, in Aussicht stellte, als gedenke sie zur Freude aller, die sie kannten, noch recht lange zu leben. Auch zeigten sich im Lauf der nächsten Woche durchaus keine Merkmale von Hinfälligkeit, denn die ihrer Natur zusagenden Nährmittel verschwanden fortwährend in der regelmäßigen Reihenfolge, obgleich Paul sie so aufmerksam wie nur je studierte und mit unwandelbarer Beharrlichkeit seinen gewöhnlichen Sitz nahe den schwarzen Falten und dem Kaminvorsprung einnahm.

Da aber Paul nach Ablauf dieser Zeit nicht kräftiger geworden war, als er bei seiner Ankunft gewesen, obschon er im Gesicht viel gesünder aussah, so wurde für ihn ein Wägelchen besorgt, in dem er gemächlich mit seinem ABC und andern Elementarübungen liegen konnte, wenn man ihn nach der Küste hinunterführte. Konsequent in seinen wunderlichen Liebhabereien, verwarf der Knabe einen rotwangigen Jungen, der sich zum Wagenpferd erboten hatte, und wählte dafür dessen Großvater, einen schmächtigen, alten, sauertöpfischen Mann in einem schmierigen Anzug, der durch lange Salzwasserlauge zähe geworden war und einen Geruch wie moderiges Seegras zur Ebbezeit verbreitete.

Dieser denkwürdige Führer zog ihn jeden Tag nach dem Gestade des Ozeans hinunter, und Florence ging stets an seiner Seite her, während die schwermütige Wickham den Nachtrab bildete. Dort saß oder lag er nun stundenlang in seinem Wägelchen und fühlte sich nie übler gelaunt, als wenn ihm Kinder Gesellschaft leisten wollten – natürlich Florence stets ausgenommen.

»Sei so gut und geh weg«, konnte er zu einem Kinde sagen, das mit ihm Kameradschaft machen wollte. »Ich danke, aber ich brauche dich nicht.«

Fragte ihn wohl eine kleine Stimme in der Nähe, wie es ihm gehe, so pflegte er zu erwidern:

»Ich befinde mich recht gut, danke schön, aber es ist wohl am besten, wenn du zu deinem Spiel gehst. Tu mir den Gefallen.«

Dann drehte er den Kopf, um dem sich entfernenden Kinde nachzusehen, und sagte zu Florence:

»Nicht wahr, wir brauchen keine andern? Küsse mich, Floy.«

Zu solchen Zeiten konnte er auch die Wickham nicht leiden, und er freute sich, wenn sie wegging, was sie auch gewöhnlich tat, um Muscheln aufzulesen oder Bekanntschaften anzuknüpfen. Ein abgelegener Ort, weit weg von den gewöhnlichen Spaziergängen, war sein Lieblingsplatz, und Florence pflegte dann mit ihrer Arbeit an seiner Seite zu sitzen, ihm vorzulesen oder mit ihm zu plaudern. Der Wind blies ihm ins Gesicht, und das Wasser schlug bis an die Räder seines beweglichen Bettes; mehr verlangte er nicht.

»Floy«, sagte er eines Tages, »wo ist Indien, der Aufenthalt der Verwandten jenes Knaben?«

»O, das ist weit, weit weg«, sagte Florence, die Augen von ihrer Arbeit erhebend.

»Wochen?« fragte Paul.

»Ja, mein Lieber. Man muß viele Wochen Tag und Nacht reisen.«

»Wenn du in Indien wärest, Floy«, sagte Paul, nachdem er eine Minute geschwiegen, »so würde ich – was war es, was die Mama tat? Ich habe es vergessen.«

»Mich lieben!« entgegnete Florence.

»Nein, nein. Liebe ich dich nicht jetzt schon, Floy? Was tat sie doch – ja sie starb. Wenn du in Indien wärest, Floy, so würde ich sterben.«

Sie legte hastig ihre Arbeit beiseite, senkte ihr Köpfchen auf sein Kissen nieder und überhäufte ihn mit Liebkosungen. Auch ihr würde es so ergehen, sagte sie, wenn er dort wäre. Es werde ihm übrigens bald besser ergehen.

»O, ich bin jetzt schon viel besser«, antwortete er. »Ich meine nicht dieses, sondern wollte nur sagen, ich würde sterben vor Betrübnis und Einsamkeit, Floy!«

Ein andermal schlummerte er an derselben Stelle ein und schlief geraume Zeit ruhig fort. Plötzlich erwachend, lauschte er, fuhr auf und setzte sich horchend hin.

Florence fragte ihn, was er zu hören glaube.

»Ich möchte wissen, was es sagt«, antwortete er, ihr fest ins Gesicht blickend. »Das Meer, Floy, was spricht es denn in einem fort?«

Sie entgegnete ihm, daß er nur das Getöse der rollenden Wellen höre.

»Ja, ja«, versetzte er. »Aber ich weiß, daß sie immer etwas sagen. Stets das nämliche. Was ist dort drüben für ein Ort?« Er richtete sich auf und schaute mit großer Spannung nach dem Horizont.

Sie sagte ihm, daß dort drüben ein anderes Land liege; aber er erwiderte, dieses meine er nicht, sondern weiter weg – weiter weg. sternchenland.com Später konnte er sehr oft in Mitte ihres Gesprächs plötzlich abbrechen, um zu lauschen, was doch die Wellen immer sagten: dann erhob er sich von seinem Lager, um nach jener unsichtbaren Gegend hinzusehen – weit weg.

Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

In welchem den hölzernen Midshipman Angelegenheiten treffen.

Der Hang der Romantik und Liebe zum Wunderbaren hatte sich in ziemlich starker Menge in der Natur des jungen Walter angesammelt. Dieser Hang war unter der Obhut des alten Solomon Gills durch die Wasser einer ernsten praktischen Erfahrung nicht sonderlich geschwächt worden und veranlaßte, daß er für Florences Abenteuer mit der guten Mrs. Brown ein ungewöhnliches, begeistertes Interesse hegte. Er bewahrte es treulich in seinem Gedächtnis, namentlich all das, woran er selbst mitgewirkt hatte, und trug es so mit sich herum, bis es das verderbte, eigensinnige Kind seiner Phantasie wurde, das ganz nach eigener Laune handelte.

Die Erinnerung an diese Vorfälle und seine eigene Beteiligung dabei wurde vielleicht noch bezaubernder durch die wöchentlichen Träume des alten Sol und des Kapitän Cuttle, wenn sie an Sonntagen beisammen saßen. Kaum verging einer von diesen Anlässen, ohne daß der eine oder der andere dieser würdigen Kumpane geheimnisvolle Anspielungen auf Richard Whittington machte. Der Kapitän war sogar so weit gegangen, eine Ballade von beträchtlichem Altertum zu kaufen, die lange unter andern poetischen Seemannsergießungen an einer Mauer der Trödlerstraße geflattert hatte. Die dichterische Leistung behandelte die Werbung und die Hochzeit eines hoffnungsvollen jungen Köhlers mit einer gewissen »lieblichen Peg«, einer mit allen Vorzügen ausgestatteten Tochter des Meisters und Miteigentümers eines Newcastler Kohlenschiffes. In dieser aufregenden Geschichte entdeckte Kapitän Cuttle eine tiefe geheime Beziehung zu dem Fall zwischen Walter und Florence. Sie begeisterte ihn dermaßen, daß er bei sehr festlichen Anlässen, z. B. an Geburts- und andern nicht sonntäglichen Feiertagen in dem kleinen Hinterstübchen das ganze Lied herunterplärrte und bei dem Wort »Pe–e–eg«, mit dem jeder Vers zu Ehren der Helden des Stücke« schloß, einen ganz erstaunlichen Triller anbrachte.

Aber ein offener, freimütiger Junge ist nicht gerade in der Lage, die Natur der eigenen Gefühle zu analysieren, wie tief sie auch in ihm verwurzelt sein mögen: und Walter wäre es schwer geworden, über diesen Punkt zu einer Entscheidung zu kommen. Er hatte eine große Zuneigung zu der Stelle, wo er Florence begegnet war, und der Straße, durch die er sie, obschon sie an sich durchaus nicht bezaubernd genannt werden konnte, nach Hause geführt hatte. Die Schuhe, die ihr unterwegs so oft abgeglitten waren, bewahrte er in seinem eigenen sternchenland.com Stübchen auf, und wenn er abends in dem kleinen Hinterzimmer saß, entwarf er sich von der guten Mrs. Brown eine ganze Galerie von eingebildeten Porträts. Möglich, daß er auch nach jenen denkwürdigen Anlässen ein bißchen sorgfältiger in seinem Anzug wurde. Auch ist jedenfalls soviel gewiß, daß er während seiner freien Zeit gerne nach jenem Stadtteil spazierte, wo Mr. Dombeys Haus lag, in der unbestimmten Hoffnung, er könnte vielleicht der kleinen Florence auf der Straße begegnen. Aber bei alledem war sein Sinn so knabenhaft unschuldig, wie er es nur sein konnte. Florence war sehr hübsch, und es ist angenehm, ein hübsches Gesicht zu bewundern. Florence war zart und wehrlos. Was für ein stolzer Gedanke, daß er imstande gewesen, ihr seinen Schutz und seinen Beistand zu verleihen. Florence war das dankbarste kleine Geschöpf in der Welt: und es erfüllte ihn mit Entzücken, zu sehen, wie ihr dieses schöne Gefühl aus dem Antlitz leuchtete. Florence war vernachlässigt und wurde mit Kälte behandelt. Seine Brust quoll über von jugendlicher Teilnahme für das verachtete Kind in seiner öden stattlichen Heimat.

So kam es, daß Walter vielleicht ein halb dutzendmal im Lauf des Jahres auf der Straße vor Florence den Hut ziehen konnte, und sie pflegte dann haltzumachen, um ihm ihre Hand zu reichen. Mrs. Wickham war daran so gewöhnt, daß sie nicht darauf achtete, weil sie von der Geschichte ihrer Bekanntschaft unterrichtet war. Miß Nipper dagegen hatte auf derartige Anlässe ein schärferes Augenmerk. Ihr empfindsames Herz war im geheimen durch Walters gutes Aussehen gewonnen, und sie neigte sich zu dem Glauben, daß ihre Gefühle erwidert würden.

Die Entfernung von Florence diente nicht dazu, daß Walter die Bekanntschaft mit ihr vergaß oder sie aus dem Gesicht verlor. Im Gegenteil, er hütete die Erinnerung daran mehr denn je in seinem Innern. Was den abenteuerlichen Anfang und alle jene kleinen Umstände betraf, die ihr einen bestimmten Charakter und Hochgenuß verliehen, so nahm er die mehr als ein angenehmes Märchen, das seine Phantasie erquickte und nicht aus ihr verloren gehen durfte, weniger als den Teil einer Tatsache, an der er beteiligt war. In seiner Einbildungskraft diente sie wohl dazu, Florence zu heben, nicht aber ihn selbst. Bisweilen dachte er (und er beschleunigte dann seine Schritte), was es nicht Großes gewesen wäre, wenn er sich am Tag nach jener ersten Begrüßung auf ein Schiff begeben hätte, um auf der See Wunder zu tun und nach langer Abwesenheit als ein Admiral strahlend in allen Farben des Delphins oder wenigstens als ein Postkapitän mit Epauletten von blendendem Glanze wieder zurückzukommen. Dann hätte er Florence, die zu einer schönen Jungfrau herangewachsen war, heiraten und sie – Mr. Dombey, seinem Schlips und seiner Uhrkette zum Trotz – triumphierend irgendwohin nach der Riviera entführen können. Aber dieser Phantasieflug war nicht imstande, die Messingplatte von Dombey und Sohns Geschäftslokalen in ein Täfelchen goldener Hoffnung umzuwandeln oder einen helleren Glanz durch dessen erblindete Hochlichtfenster hereinzusenden, sternchenland.com und wenn die beiden Alten im Hinterstübchen von Richard Whittington und Chefstöchtern sprachen, so fühlte Walter wohl, daß er über die wahre Stellung von Dombey und Sohn weit besser unterrichtet war als sie.

So kam es denn, daß er fortfuhr, seine täglichen Pflichten mit heiterem, fröhlichem, unermüdetem Geist zu erfüllen. Zwar durchschaute er wohl den hitzigen Charakter von Onkel Sol und Kapitän Cuttle; aber dennoch unterhielt er tausend unbestimmte und träumerische Vorstellungen von eigener Schöpfung, gegen die die ihrigen nur alltägliche Wahrscheinlichkeiten waren. Dies also war seine Lage in der Pipchin-Periode, in der er zwar etwas – aber nicht um viel – älter aussah, als vordem. Er war noch derselbe leichtfüßige, leichtherzige Junge, wie zur Zeit, als er an der Spitze von Onkel Sol und der eingebildeten Enterer in das Wohnstübchen stürmte und dem Onkel bei dem Heraufbringen des Madeira leuchtete.

»Onkel Sol«, sagte Walter, »ich glaube, Ihr seid nicht ganz wohl. Ihr habt kein Frühstück genommen. Wenn es so bei Euch fortgeht, werde ich einen Arzt holen.«

»Er kann mir doch nicht geben, was ich brauche, mein Junge«, versetzte Onkel Sol. »Jedenfalls müßte er eine gute Praxis haben, wenn er es könnte, und wenn dies der Fall ist, tut er es nicht.«

»Was meint Ihr damit, Onkel? Kunden?«

»Jawohl«, entgegnete Solomon mit einem Seufzer. »Kunden würden gut angelegt sein.«

»Zum Kuckuck, Onkel!« sagte Walter, indem er seine Frühstücktasse klappernd niedersetzte und mit der Hand auf den Tisch schlug, »wenn ich auf der Straße draußen den ganzen Tag lang alle Minuten Scharen von Leuten am Laden hin und her gehen sehe, so fühle ich mich halb versucht, hinauszueilen, den nächsten besten am Kragen zu packen, hereinzubringen und ihn zu zwingen, daß er für fünfzig Pfund in bar – Instrumente kaufe. Was guckt Ihr zur Türe herein?« fuhr Walter gegen einen alten Herrn mit gepudertem Kopf fort, der ihn natürlich nicht hören konnte, wie er so dastand und interessiert ein Schiffsteleskop musterte. »Davon haben wir nichts, und ich könnt‘ das selber besorgen. Kommt herein und kauft es!«

Mittlerweile hatte der alte Herr seine Neugierde befriedigt und ging ruhig weiter.

»Da geht er!« sagte Walter. »So machen es alle. Aber, Onkel – he, Onkel Sol« – denn der alte Mann war in Gedanken verloren und hatte auf die erste Anrede nicht geantwortet. »Ihr müßt nicht kleinmütig werden. Seid nicht niedergeschlagen, Onkel. Wenn einmal Aufträge kommen, so werden sie in solcher Menge eintreffen, daß Ihr nicht imstande sein werdet, sie zu besorgen.«

»Übers Sorgen bin ich hinaus, wann sie auch kommen mögen, mein Junge«, entgegnete Solomon Gills. »Man wird nicht wieder in diesen Laden kommen, bis ich nicht mehr drinnen bin.«

»Onkel, aber! – Das dürft Ihr nicht sagen!« drängte Walter. »Nein, das dürft Ihr nicht!«

Der alte Sol bemühte sich, eine heiterere Miene anzunehmen, und lächelte, so gut es gehen wollte, über den Tisch hinüber dem Knaben zu.

»In der Sache liegt durchaus nichts, als der gewöhnliche Gang – ist es nicht so, Onkel?« entgegnete Walter, indem er seine Ellbogen auf das Teebrett stützte und sich vorbeugte, um mit dem Alten vertraulicher reden zu können. »Seid offen gegen mich, Onkel, und sprecht Euch unverhohlen aus.«

»Nein, nein, nein«, entgegnete der alte Sol. »Ungewöhnliches? Gewiß nicht. Was sollte auch Ungewöhnliches darin liegen?«

Walter antwortete mit einem ungläubigen Kopfschütteln.

»Das ist es eben, was ich wissen möchte«, sagte er. »Und Ihr fragt mich? Ich will Euch was sagen, Onkel, wenn ich Euch so sehen muß, tut es mir eigentlich leid, daß ich bei Euch bin.«

Der alte Sol machte unwillkürlich große Augen.

»Ja. Obgleich niemand je glücklicher war als ich, wenn ich mich bei Euch befand, so tut es mir doch leid, bei Euch zu leben, wenn ich sehen muß, daß Ihr etwas auf dem Herzen habt.«

»Ich weiß, ich bin in solchen Zeiten ein bißchen langweilig«, bemerkte Solomon, indem er demütig seine Hände rieb.

»Ich meine es so, Onkel Sol«, fuhr Walter fort, und bog sich noch weiter vor, um ihn auf die Schulter zu klopfen, »ich fühle dann, daß Ihr, statt hier zu sitzen und mir Tee einzugießen, ein nettes Frauchen an der Seite haben solltet – Ihr wißt, eine behagliche, treffliche, nette alte Dame, die gerade zu Euch paßte, Euch zu behandeln wüßte und Euch wohlgemut erhielte. Ich bin zwar stets gegen Euch – wie ich es auch verpflichtet war – ein liebevoller Neffe gewesen. Aber ein Neffe bleibt eben nur ein Neffe, und ich kann Euch eine solche Gesellschaft nicht ersetzen, wenn Ihr niedergeschlagen und traurig seid, obschon ich gewiß weiß, daß ich meinen letzten Heller hergeben wollte, wenn ich Euch damit aufheitern könnte. Deshalb sage ich wieder, wenn ich Euch mit so schwerem Herzen sehen muß, es tut mir sehr leid, daß Ihr nichts Besseres um Euch habt, als einen unruhigen, rauhen, jungen Burschen, der Euch zwar gerne trösten möchte, Onkel, aber nicht weiß, wie er es angreifen soll – der nicht die Art dazu hat«, fügte Walter bei, indem er noch weiter herüberlangte, um seinem Onkel die Hand zu drücken.

»Wally, mein lieber Junge«, sagte Solomon, »und wenn die nette kleine alte Dame schon vor fünfundvierzig Jahren in diesem Stübchen ihren Platz gehabt hätte, so wäre ich doch nicht imstande gewesen, sie mehr zu lieben, als dich.«

»Ich weiß das, Onkel Sol«, entgegnete Walter. »Gott segne Euch dafür, ich weiß es. Aber Ihr brauchtet nicht die ganze Last unbequemer Geheimnisse allein zu tragen, wenn Ihr eine Frau hättet: denn sie würde wissen, wie sie Euch Erleichterung verschaffen muß, und das ist durch mich nicht der Fall.«

»O, wohl, wohl«, erwiderte der Instrumentenmacher.

»Nun denn, heraus damit, Onkel Sol!« versetzte Walter schmeichelnd. »Sprecht, was habt Ihr auf dem Herzen?«

Solomon Gills beharrte darauf, daß es nichts sei, und blieb dabei so entschlossen, daß der Neffe keine andere Wahl hatte, als zu tun, daß er ihm glaube.

»Ich kann weiter nichts sagen, Onkel Sol, als daß, wenn etwas da ist« – –

»Aber es ist nichts da«, entgegnete Sol.

»Nun gut«, erwiderte Walter. »Dann habe ich nichts mehr zu sagen, und das ist ein Glück: denn ich muß jetzt ans Geschäft gehen. Wenn ich einen Ausgang zu machen habe, will ich gelegentlich Euch sprechen, um zu sehen, was Ihr treibt, Onkel. Und vergeßt nicht, Onkel, ich werde Euch nie wieder glauben und Euch nie mehr etwas von Mr. Carker dem Jüngeren erzählen, wenn ich finde, daß Ihr mich getäuscht habt.«

Solomon Gills forderte ihn lächelnd heraus, er solle ihn einmal über etwas der Art zu ertappen suchen, und Walter, der in seinen Gedanken alle Arten unmögliche Mittel erwog, wie er Geld erwerben und den hölzernen Midshipman in eine unabhängige Stellung versetzen könne, begab sich mit weit schwermütigerem Gesicht, als man sonst an ihm gewöhnt war, nach dem Geschäftslokal von Dombey und Sohn.

Dort lebte zu jener Zeit um die Ecke – in der äußeren Bischofstorstraße – ein gewisser Brogley, beeidigter Makler und Taxator, der einen Laden hielt, in dem alle Arten alter Möbel in schauerlichstem Gewirr und im seltsamsten Beieinander zur Schau standen. Dutzende von Stühlen hingen an Wäscheständern und hielten sich nur mit Not an den Schultern der Seitenbretter fest, die ihrerseits auf den Kehrseiten von Tischen standen, wobei letztere mit ihren gymnastisch aufwärts gestellten Beinen die Platten anderer Tische unterstützten. Porzellanservice, Weingläser und Flaschen waren in der Regel auf dem Boden einer vierpfostigen Bettstatt ausgebreitet, und der gemütlichen Gesellschaft schloß sich ein halb Dutzend Schürhaken nebst einer Flurlampe an. Eine Garnitur Fenstervorhänge ohne die dazu gehörigen Fenster hüllten anmutig eine Barrikade von Kommoden ein, die mit allerlei Gefäßen beladen waren, während ein heimatloser Herdfries, von seinem natürlichen Gefährten, dem Kamin, getrennt, in seiner Bedrängnis dem verschmitzten Ostwind Trotz bot und in melancholischem Akkord mit den schrillen Klagen eines Pianos zitterte, das alle Tage eine Saite springen ließ und in seinem klimpernden, verrückten Gehirn eine matte Resonanz zu dem Straßenlärm gab. An regungslosen Uhren, die nie einen Zeiger bewegten und ebenso unfähig schienen, erfolgreich aufgezogen zu werden, wie die pekuniären Angelegenheiten ihrer früheren Eigentümer, befand sich stets eine große Auswahl in Mr. Brogleys Laden. Mancherlei Spiegel, die zufälligerweise das gemischte Vergnügen verschiedenartiger Lichtbrechung boten, zeigten dem Auge eine unendliche Perspektive von Bankerott und Verderben.

Mr. Brogley selbst war ein triefäugiger, rotgesichtiger, kraushaariger Mann, sonst von stämmiger Figur und fröhlicher Gemütsart – denn die Leute wie Marius, die auf den Trümmern der Karthagos anderer Leute sitzen, haben gut lachen. Er war schon einigemal in Solomons Laden gewesen, um sich über einige Artikel zu erkundigen, die in das Geschäft des Instrumentenmachers einschlugen, und Walter kannte ihn hinreichend, um ihn, wenn sie sich in den Straßen begegneten, zu grüßen. Da dies jedoch die ganze Ausdehnung der Bekanntschaft zwischen dem Trödler und Solomon Gills war, so fühlte sich Walter nicht wenig überrascht, als er seinem Versprechen gemäß im Laufe des Vormittags zurückkam und Mr. Brogley, der seine Hände in den Taschen stecken und seinen Hut hinter der Tür aufgehangen hatte, in dem hinteren Stübchen sitzend fand.

»Nun, Onkel Sol«, sagte Walter. Der alte Mann saß mit einer Jammermiene an der andern Seite des Tisches und hatte – welch ein Wunder – die Brille vor den Augen, statt auf der Stirn. »Was ist mit Euch los?«

Solomon schüttelte den Kopf und winkte mit der einen Hand gegen den Trödler hin, als wollte er ihn vorstellen.

»Ist etwas vorgefallen?« fragte Walter mit verhaltenem Atem.

»O nein. Nichts«, sagte Mr. Brogley. »Laßt Euch die Sache nicht beunruhigen.«

Walter blickte in stummem Erstaunen von dem Trödler auf seinen Onkel.

»Die Sache ist die«, fuhr Mr. Brogley fort, »es handelt sich um eine kleine Zahlung für eine Bürgschaftsschuld – dreihundert und etliche siebzig Pfund – und ich bin im Besitz.«

»Im Besitz?« rief Walter, sich im Laden umsehend.

»Ja!« sagte Mr. Brogley in vertraulicher Zustimmung und nickte dazu mit dem Kopf, als wolle er beiden bemerklich machen, wie sie sich dabei füglicherweise vollkommen beruhigen könnten. »Es ist eine Beschlagnahme – weiter nichts. Laßt es Euch nicht zu Herzen gehen. Ich komme selbst, weil ich die Sache ruhig und freundschaftlich abmachen möchte. Ihr kennt mich. Es geschieht ganz unter uns.«

»Onkel Sol!« stotterte Walter.

»Wally, mein Junge«, entgegnete sein Onkel. »Es ist das erstemal. Solch ein Unglück ist mir noch nie begegnet. Ich bin ein alter Mann und muß jetzt so anfangen!«

Er schob die Brille wieder zurück; denn sie konnte jetzt doch seine Aufregung nicht länger verbergen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte laut, während ihm Tränen auf die kaffeefarbige Weste niederfielen.

»Onkel Sol – ich bitte, o tut es nicht!« rief Walter, den ein wahrer Schauer durchzuckte, als er den alten Mann weinen sah. »Um Gottes willen, tut es nicht. Mr. Brogley, kann ich in der Sache behilflich sein?«

»Ich würde Euch empfehlen, Euch nach einem Freund oder ähnlichem umzusehen, mit dem Ihr die Angelegenheit besprechen könnt«, sagte Mr. Brogley.

»Natürlich!« rief Walter, der nach jedem Strohhalm haschte. »Ja, ganz recht! Danke schön. Kapitän Cuttle ist der Mann, Onkel. Wartet, bis ich zu Kapitän Cuttle geeilt bin. Habt acht auf meinen Onkel – wollt Ihr so gut sein, Mr. Brogley? – und tröstet ihn, so gut Ihr könnt, bis ich wiederkomme. Ihr dürft nicht gleich verzweifeln, Onkel Sol. Na, seid lieb und heitert Euch auf!«

Er sprach dies mit großem Eifer und stürzte, ohne auf die gebrochenen Gegenvorstellungen des alten Mannes zu achten, zum Laden hinaus. Dann eilte er nach dem Bureau, um sich unter dem Vorwand einer plötzlichen Erkrankung seines Onkels zu entschuldigen, und brach in voller Hast nach Kapitän Cuttles Wohnung auf.

Während er so durch die Straßen lief, kam ihm alles ganz anders vor. Zwar war das gewöhnliche Gewirr und der Lärm von Karren, Wagen, Omnibussen und Fußgängern vorhanden: aber das Unglück, das den hölzernen Midshipman befallen hatte, ließ ihm alles in einem neuen, befremdlichen Lichte erscheinen. Häuser und Läden waren nicht mehr so wie sonst, und überall stand in großen Buchstaben Mr. Brogleys Bürgschaftsschuldschein zu lesen. Der Trödler schien sogar die Kirchen für sich gewonnen zu haben, denn ihre Türme stiegen mit einer ganz ungewohnten Haltung zum Himmel empor. Selbst das Firmament war verändert und sann augenscheinlich gleichfalls auf eine Beschlagnahme.

Kapitän Cuttle wohnte am Rande eines kleinen Kanals in der Nähe der Indiadocks und einer Drehbrücke, die sich hin und wieder auftat, um irgendein wanderndes Schiffsungeheuer, gleich einem gestrandeten Leviathan, die Straße passieren zu lassen. Der allmähliche Übergang von Land zu Wasser in der Umgebung von Kapitän Cuttles Wohnung war interessant. Er begann mit der Errichtung von Flaggenstöcken als Wahrzeichen der Wirtshäuser. Dann kamen die Läden der Matrosenkleiderhändler mit ihren Guernseyhemden, den Südwesterhüten und den mächtigen Hosen, den stärksten und weitesten aller Beinbekleidungen, die vor den Türen aufgehangen waren. Dann kamen Anker- und Kabelkettenschmiede, bei denen die Hämmer den ganzen Tag lang auf dem heißen Eisen klimperten – dann Häuserreihen, vor denen kleine, mit Fahnen versehene Masten zwischen den Scharlachbohnen sich in die Höhe richteten – dann Gräben – dann Bandweiden – dann wieder Gräben – dann unerklärbare Passagen mir schmutzigem Wasser, das kaum zwischen den darauf schwimmenden Schiffen sichtbar ward – dann der Geruch von Hobelspänen in der Luft und ringsum kein anderes Gewerbe als das der Zimmerleute, die Masten, Räder, Scheiben und Boote verfertigten. Weiterhin wurde der Grund sumpfig und unsicher. Dann roch man nichts weiter als Rum und Zucker. Und endlich hatte man Kapitän Cuttles Wohnung vor sich – ein Häuslein in Brig-Place, dessen erster Stock zugleich der Dachstock war.

Der alte Mann saß mit einer Jammermiene an der anderen Seite des Tisches… sternchenland.com Der Kapitän war einer von jenen eisenherzigen Männern, die auch die lebhafteste Einbildungskraft nie selbst von dem unbedeutendsten Teil ihres Anzugs trennen kann. Als daher Walter an die Tür klopfte und der Kapitän augenblicklich zu einem der kleinen Vorderfenster heraussah – den Glanzhut bereits auf dem Kopf und den segelartigen Hemdkragen sowohl, als den weiten blauen Anzug ganz in gewöhnlicher Art –, fühlte sich Walter vollkommen überzeugt, daß der Kapitän stets so sein müsse; als sei dieser Mann selbst ein Vogel, zu dem die Kleidung das Gefieder bildete.

»Wal’r, mein Junge!« sagte Kapitän Cuttle. »Nur standhaft und noch einmal geklopft. Tüchtig, es ist Waschtag.«

Walter ließ in seiner Ungeduld den Klopfer mit Macht niederfallen.

»So, das wäre kräftig genug!« sagte Kapitän Cuttle und zog augenblicklich seinen Kopf zurück, als ob er einen Sturm erwarte.

Und er hatte sich nicht getäuscht, denn eine verwitwete Dame, deren Ärmel bis zur Schulter aufgerollt waren, und deren mit Seifenschaum überzogene Arme von heißem Wasser dampften, entsprach der Aufforderung mit erstaunlicher Raschheit. Ehe sie Walter ins Auge faßte, besichtigte sie den Klopfer. Dann aber maß sie ersteren von Kopf bis zu den Füßen und sagte, sie wundere sich nur, daß noch etwas daran übrig geblieben sei.

»Ich weiß, Kapitän Cuttle ist zu Hause«, ergriff Walter mit einem versöhnenden Lächeln das Wort.

»Ist er?« versetzte die verwitwete Dame. »Wirklich?«

»Er hat eben mit mir gesprochen«, sagte Walter mit verhaltenem Atem.

»Hat er?« entgegnete die verwitwete Dame. »Dann seid Ihr vielleicht so gut, ihm von Mrs. Mac Stinger einen Gruß auszurichten und ihm zu sagen, wenn er das nächste Mal sich und seine Wohnung so weit herabwürdige, zum Fenster hinaus zu sprechen, so werde sie es ihm Dank wissen, wenn er auch selber herunterkomme und die Tür öffne.«

Mrs. Mac Stinger sprach sehr laut und horchte, ob sich nicht etwa aus dem ersten Stock herab eine Bemerkung vernehmen lasse.

»Ich werde es besorgen«, sagte Walter, »wenn Ihr so gut sein wollt, mich einzulassen, Ma’am.«

Er sah sich nämlich durch eine hölzerne Befestigung ausgeschlossen, die sich quer vor der Tür hindehnte und daselbst angebracht war, um die kleinen Mac Stingers zu hindern, daß sie in ihren Erholungsaugenblicken nicht die Treppe herunterpurzelten.

»Ich sollte meinen«, entgegnete Mrs. Mac Stinger verächtlich, »ein junger Mensch, der mir die Tür einschlagen kann, sei auch imstande, darüber wegzukommen.«

Walter nahm dies für eine Erlaubnis einzutreten und stieg darüber hinweg; aber Mrs. Mac Stinger fragte ihn nun, ob das Haus einer Engländerin ihr Schloß sei oder nicht, und ob sie es sich gefallen lassen müsse, daß der erste beste in dieses einbreche. In dieser sternchenland.com Sache war ihr Durst nach Belehrung noch immer sehr aufdringlich, als Walter bereits durch den künstlichen Waschnebel, der das Treppengeländer mit einem klebrigen Schweiß bedeckte, nach Kapitän Cuttles Zimmer hinaufgelangt war, wo dieser Herr hinter der Tür auf der Lauer lag.

»Bin ihr nie einen Penny schuldig geblieben, Wal’r«, sagte Cuttle in gedämpfter Stimme und mit sichtlichen Spuren der Angst auf dem Gesicht, »sondern habe ihr im Gegenteil eine ganze Welt voll guter Dienste geleistet – den Kindern obendrein. Gleichwohl, sie ist immer eine Hexe. Puh!«

»Dann würde ich ausziehen, Kapitän Cuttle«, versetzte Walter.

»Kann’s nicht. Wal´r«, entgegnete der Kapitän. »Sie würde mich ausfindig machen, wohin ich auch ginge. Nehmt Platz, was macht Gills?«

Der Kapitän genoß eben aus seinem Hut ein Stück kalten Hammelbraten, Porter und einige dampfend heiße Kartoffeln, die er selbst gekocht hatte und die er je nach seinem Bedarf aus einer kleinen Pfanne von dem Feuer holte. Zur Essenszeit pflegte er seinen Haken abzuschrauben und an dessen Statt ein Messer einzusetzen, mit dem er bereits eine Kartoffel für Walter zu schälen begonnen hatte. Seine Räume waren sehr klein und rochen stark nach Tabak, sahen aber anständig genug aus, da alles so gut untergebracht war, als habe man regelmäßig jede halbe Stunde ein Erdbeben zu gewärtigen.

»Was macht Gills?« fragte der Kapitän.

Walter war inzwischen wieder zu Atem gekommen, aber mit dem Feuer, das ihm sein rasches Rennen eingeflößt, hatte er auch allen Mut wieder verloren. Er sah den Frager einen Augenblick an und brach mit dem Rufe »o Kapitän Cuttle!« in Tränen aus.

Die Bestürzung des Kapitäns bei einem solchen Anblick läßt sich nicht durch Worte beschreiben. Mrs. Mac Stinger schwand davor in ein Nichts zusammen. Die Kartoffel und die Gabel entfielen seiner Hand – mit dem Messer würde es wohl ebenso gegangen sein, wenn es möglich gewesen wäre – und so saß er da, den Knaben anstarrend, als erwarte er im nächsten Augenblick zu hören, in der City habe sich eine Kluft aufgetan, die seinen alten Freund samt dem kaffeefarbigen Anzug, den Knöpfen, der Uhr, der Brille und allem verschlungen habe.

Nachdem ihm aber Walter mitgeteilt hatte, um was es sich handelte, entwickelte er nach augenblicklichem Nachdenken seine volle Tätigkeit. Er leerte aus einer kleinen Zinnbüchse, die auf dem oberen Sims des Wandschrankes stand, seinen ganzen Vorrat an barem Geld, dreizehn Pfund und eine halbe Krone betragend, und verpflanzte ihn nach einer der Taschen seines weiten blauen Rocks. Ferner bereicherte er dieses Magazin mit dem Inhalt seiner Silbertruhe, bestehend aus zwei abgebrauchten Fragmenten von Teelöffeln und einer abgenutzten zerbeulten Zuckerzange. Dann holte er seine ungeheure doppelgehäusige silberne Taschenuhr aus den Tiefen, in sternchenland.com denen sie ruhte, heraus, um sich zu überzeugen, daß dieses wertvolle Möbel gesund und heil war, befestigte den Haken an seinem rechten Handgelenk, ergriff seinen Knotenstock und forderte Walter auf, mit ihm zu kommen.

Plötzlich während dieser seiner tugendhaften Aufregung fiel ihm übrigens ein, Mrs. Mac Stinger könnte ihm unten auflauern. Er hielt daher plötzlich inne und warf einen Blick nach dem Fenster, als komme ihm der Gedanke, er wolle sich lieber dieses ungewöhnlichen Weges zum Fortkommen bedienen, als seinem schrecklichen Feind in den Weg treten. Zuletzt aber entschied er sich für eine Kriegslist.

»Wal’r«, sagte der Kapitän mit einem scheuen Blinzeln, »geht voraus, mein Junge. Wenn Ihr in den Flur kommt, so ruft mir zu: ›Lebt wohl, Kapitän Cuttle‹ und schließt die Tür. Ihr könnt dann an der Straßenecke warten, bis Ihr mich seht.«

Diese Andeutungen beruhten auf einer genauen Kenntnis von der Taktik des Feindes; denn als Walter die Treppe hinunterkam, stürzte Mrs. Mac Stinger wie ein Rachegeist aus der kleinen Hinterküche heraus. Da sie übrigens nicht, wie sie erwartet hatte, den Kapitän traf, so erlaubte sie sich nur eine weitere Andeutung auf den Klopfer und verschwand sodann wieder.

Es vergingen wohl fünf Minuten, ehe Kapitän Cuttle seinen Mut soweit zusammennehmen konnte, um den Fluchtversuch zu wagen. So wartete Walter an der Straßenecke und sah nach dem Hause zurück, ohne auch nur eine Spur von dem Glanzhut wahrnehmen zu können. Endlich aber brach der Kapitän mit der Plötzlichkeit einer Explosion zur Tür heraus, eilte rasch auf ihn zu und schaute auch nicht ein einziges Mal über die Schulter zurück. Sobald sie weit genug vom Hause weg waren, tat er dergleichen, als pfeife er ein Liedchen.

»Onkel schwer beigelegt, Wal’r?« fragte der Kapitän im Weitergehen.

»Ich fürchte es. Wenn Ihr ihn diesen Morgen gesehen hättet, würdet Ihr den Anblick nie vergessen haben.«

»Geht schnell, Wal’r, mein Junge«, entgegnete der Kapitän, indem er selbst auch seine Schritte beschleunigte, »und haltet es so Euer Leben lang. Laßt Euch das einen guten Rat sein und prägt ihn Euch gut ein!«

Der Kapitän ward fortan zu sehr von seinen Gedanken an Solomon Gills, vielleicht auch von einzelnen Betrachtungen über sein kürzliches Entkommen aus dem Haus der Mrs. Mac Stinger in Anspruch genommen, um zur moralischen Belehrung Walters weitere Zitate anzubringen. Sie gingen deshalb stumm nebeneinander her, bis sie die Tür des alten Sol erreicht hatten, wo der unglückliche hölzerne Midshipman mit seinem Instrument vor den Augen den ganzen Horizont zu mustern schien, ob sich nicht irgendwo ein Freund zeige, der ihm aus seiner Drangsal helfe.

»Gills!« rief der Kapitän in das Hinterstübchen eilend und seinen alten Freund ganz zärtlich bei der Hand fassend. »Legt Euern sternchenland.com Schnabel nur gut an den Wind und wir wollen uns schon durchkämpfen. Ihr habt weiter nichts zu tun«, fügte der Kapitän mit der Feierlichkeit eines Mannes bei, der eine der kostbarsten praktischen Weisheiten von sich gegeben hat, die nur je von menschlicher Weisheit entdeckt wurden; »nur den Schnabel gut an den Wind gelegt, und wir fechten uns durch.«

Der alte Sol erwiderte den Händedruck und dankte dem Sprecher.

Kapitän Cuttle legte sodann mit einer Würde, die ganz im Einklang mit der Natur des Anlasses stand, die beiden Teelöffel, die Zuckerzange, die silberne Uhr und das bare Geld auf den Tisch, worauf er Mr. Brogley, den Trödler, fragte, wie hoch sich der Schaden belaufe.

»Nun, wie hoch schlagt Ihr ihn an?« fragte Kapitän Cuttle.

»Ei, Gott behüt‘ Euch«, entgegnete der Trödler. »Ihr glaubt doch nicht, daß mit diesem Eigentum da abgeholfen ist?«

»Warum nicht?« fragte der Kapitän.

»Warum nicht? Es ist die Rede von dreihundertsiebzig und etlichen Pfunden«, versetzte der Trödler.

»Was tut das!« erwiderte der Kapitän, obschon durch die Zahl augenscheinlich sehr eingeschüchtert. »Schätzt wohl, es ist alles Fisch, was in Euer Netz kommt.«

»Jawohl«, sagte Mr. Brogley: »aber Ihr wißt, Sprotten sind keine Walfische.«

Die Weisheit dieser Bemerkung schien den Kapitän wie ein Blitz zu treffen. Er ging eine Minute mit sich zu Rat, faßte inzwischen den Makler mit der Miene eines tiefen Geistes ins Auge und rief dann den Instrumentenmacher beiseite.

»Gills«, sagte Kapitän Cuttle, »wie steht es mit dieser Sache? Wer ist der Gläubiger?«

»Pst!« entgegnete der alte Mann. »Kommt weiter weg. Sprecht nicht vor Wally. Es betrifft eine Bürgschaft für Wallys Vater – eine alte Bürgschaft. Ich habe schon viel davon abbezahlt, Ned, aber die Zeiten sind für mich so schlecht, daß ich jetzt nicht weiter kann. Ich habe es vorausgesehen, konnte es aber nicht ändern. Doch ja kein Wort vor Wally – nicht um die ganze Welt.«

»Ihr habt doch einiges Geld – oder nicht?« flüsterte der Kapitän.

»Ja, ja – o ja – ich habe einiges«, erwiderte der alte Sol, indem er zuerst seine Hände in die leeren Taschen steckte, dann aber damit seine welsche Perücke zusammendrückte, als glaube er, etwas Gold herausringen zu können: »aber ich – das wenige, das ich habe, ist nicht umsetzbar, Ned; ich kann es nicht flüssig machen. Ich habe versucht, etwas damit für Wally zu tun – aber ich bin aus der Mode gekommen und hinter der Zeit zurück. Es ist da und dort, und – und – kurz, es ist so gut wie nirgends«, fügte der alte Mann bei, indem er verwirrt umherschaute.

Er hatte dabei ganz das Aussehen eines irren Menschen, der sein Geld an verschiedenen Plätzen versteckt, aber das Wo vergessen hatte, so daß ihm der Kapitän mit den Augen folgte, nicht ohne eine kleine sternchenland.com Hoffnung, es könnte ihm einfallen, daß etliche hundert Pfund im Schornstein droben oder im Keller drunten versteckt seien. Aber Solomon Gills wußte es besser.

»Ich bin längst hinter der Zeit zurückgeblieben«, sagte Sol mit verzweifelter Ergebung. »Es nützt nichts, daß ich mich so weit hintendrein nachschleppe. – Es ist besser, der Vorrat wird verkauft – er ist mehr wert, als diese Schuld – und für mich ist’s am ratsamsten, wenn ich gehe und zur Ausgleichung irgendwo sterbe. Ich besitze keine Tatkraft mehr und weiß nichts mehr von diesen Dingen. Es ist am besten, wenn es so endet. Man soll den Vorrat verkaufen und ihn herunternehmen«, fügte der alte Mann bei, indem er matt nach dem hölzernen Midshipman hindeutete; »so ist es mit uns beiden auf einmal aus.«

»Und was gedenkt Ihr mit Wal’r anzufangen?« fragte der Kapitän. »Hier, hier – setzt Euch nieder, Gills, setzt Euch, und laßt mich darüber nachdenken. Wenn ich nicht ein kleines Jahresgehalt besäße, das bis heute für mich ausreichte, so hätte ich nicht nötig, mich darüber zu besinnen. Aber legt nur Euren Schnabel gut an den Wind«, fuhr der Kapitän in abermaliger Wiederholung dieses unwiderstehlichen Trostspruches fort, »und es wird alles gut werden!«

Der alte Sol dankte ihm von Herzen und ging hin, um statt des Schnabels den Kopf gegen den Kamin des Hinterstübchens zu lehnen.

Kapitän Cuttle promenierte eine Weile im Laden auf und ab und zog während seines tiefen Gedankengangs die buschigen schwarzen Augenbrauen so tief zur Nase herab, daß sie wie die umhüllenden Wolken eines Berges aussahen und Walter sich scheute, den Strom seiner Betrachtungen zu unterbrechen. Mr. Brogley, der der Gesellschaft durchaus keinen Zwang antun wollte und einen gar sinnreichen Geist hatte, ging mit leisem Pfeifen unter den Ladenvorräten umher, klopfte an die Wettergläser, schüttelte die Kompasse, als seien sie Pillenschachteln, und hob mit den Magneten Schlüssel auf, schaute durch Teleskope, suchte sich mit dem Gebrauch der Himmelskugeln bekannt zu machen, setzte Parallellineale rittlings auf seine Nase und vergnügte sich mit andern physikalischen Belustigungen.

»Wal’r!« sagte endlich der Kapitän. »Ich hab’s.«

»Wirklich, Kapitän Cuttle?« rief Walter mit großer Lebhaftigkeit.

»Kommt hierher, mein Junge«, fuhr der Kapitän fort; »der Ladenvorrat ist die eine Sicherheit. Ich bin die andere. Euer Chef ist der Mann, der das Geld vorschießen soll.«

»Mr. Dombey?« stotterte Walter.

Der Kapitän nickte gravitätisch.

»Schaut ihn an«, sagte er. »Schaut Gills an. Wenn man jetzt alle diese Dinge verkaufen wollte, so würde er den Tod davon haben. Das wißt Ihr so gut wie ich. Wir dürfen keinen Stein unumgekehrt lassen – und da ist jetzt ein Stein für Euch.«

»Ein Stein! – Mr. Dombey!« – stotterte Walter.

»Vor allem lauft Ihr nach dem Bureau hin und seht, ob er sternchenland.com dort ist«, sagte Kapitän Cuttle und klopfte ihn auf den Rücken, »Rasch!«

Walter fühlte, daß er gegen diesen Befehl keinen Widerspruch erheben durfte, und wenn ihm auch ein solcher Gedanke gekommen wäre, so würde ein Blick auf seinen Onkel ihn bald eines anderen belehrt haben. Er entfernte sich daher sofort, um den Auftrag zu vollziehen, kehrte aber bald nachher atemlos wieder zurück, um zu melden, daß Mr. Dombey nicht da sei. Es war Sonnabend, und der Chef befand sich zu Brighton.

»Ich will Euch was sagen, Wal’r!« bemerkte der Kapitän, der auf den Fall von Mr. Dombeys Abwesenheit Bedacht genommen zu haben schien. »Wir gehen auch nach Brighton. Ich will Euch decken, mein Junge. Ich bin Eure Rückendeckung, Wal’r. Wir gehen mit der Nachmittagskutsche nach Brighton.«

Wenn man sich überhaupt an Mr. Dombey wenden mußte – ein schrecklicher Gedanke –, so würde es Walter vorgezogen haben, das Geschäft allein und ohne Beistand zu übernehmen, als gedeckt von dem persönlichen Einfluß des Kapitäns Cuttle, auf den Mr. Dombey wahrscheinlich keinen sonderlichen Wert legte. Da jedoch der Kapitän ganz anderer Meinung zu sein schien, und sich seine Beteiligung bei der Sache nicht nehmen lassen wollte – da ferner seine Freundschaft zu ernst und eifrig war, als daß ein viel jüngerer Mensch sie geringschätzig hätte behandeln dürfen, so unterließ es Walter, auch nur den mindesten Einwurf zu erheben, Cuttle verabschiedete sich daher hastig von Solomon Gills und steckte – wie Walter mit Entsetzen glaubte – in der Absicht, auf Mr. Dombey einen großartigen Eindruck zu machen, das bare Geld, die Teelöffel, die Zuckerzange und die silberne Uhr wieder in seine Tasche. Dann begab er sich mit seinem jugendlichen Begleiter, ohne weiter zu zögern, nach dem Kutschen-Einschreibebureau und tröstete ihn unterwegs zu wiederholten Malen mit der Versicherung, er werde ihm mannhaft und ritterlich zur Seite stehen.

Dreißigstes Kapitel.


Dreißigstes Kapitel.

Die Zeit vor der Hochzeit.

Obgleich das gespenstische Haus nicht mehr vorhanden war und die eingebrochenen Arbeiter, die den ganzen Tag treppauf und treppab mit ihren Werkzeugen und schweren Stiefeln einen unerhörten Lärm machten, von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang Diogenes in einer stetigen Bellwut hielten – der Hund war augenscheinlich überzeugt, sein Feind habe endlich die Oberhand über ihn gewonnen und plündere nun in triumphierendem Trotze das Haus – so trat doch vorderhand in Florences Lebensweise kein anderer großer Wechsel ein. Wenn sich abends die Werkleute entfernten, wurde das Gebäude wieder traurig und verlassen, und Florence, die auf die im Flur und im Treppenhause widerhallenden Stimmen der Abziehenden lauschte, vergegenwärtigte sich das gemütliche Heim, zu dem sie zurückkehrten, nebst den Kindern, die daselbst ihrer harrten – eine Betrachtung, an die sich der für sie wehmütig frohe Gedanke knüpfte, daß die Leute sich auf ihren heimischen Herd freuten.

Die Stille des Abends war ihr wie eine alte Freundin willkommen, aber sie erschien jetzt mit einem andern Gesicht und blickte freundlicher auf das einsame Mädchen nieder. Eine neue Hoffnung hatte Raum gewonnen; und die schöne Dame, die sie in demselben Zimmer an die Brust gedrückt, wo ihr sonst das Herz brechen wollte, erschien ihr als Geist der Verheißung. Sanfte Schatten von dem Aufdämmern eines glücklicheren Lebens, wenn die Liebe ihres Vaters allmählich gewonnen und ihr alles oder wenigstens viel von dem zurückgegeben sein würde, was für sie verlorenging, als die Liebe ihrer Mutter mit dem letzten Atemzug an ihrer Wange erstarb, schwebten im Zwielicht um sie her und wurden ihr willkommene Gefährten. Sobald sie nach den rosigen Kindern ihres Nachbars hinüberschaute, tauchte ein neues köstliches Gefühl mit dem Gedanken in ihr auf, sie würde nun bald mit ihnen sprechen und eine nähere Bekanntschaft anknüpfen können. Sie brauchte dann nicht, wie früher, Furcht zu hegen, sich vor ihnen zu zeigen, damit es ihnen nicht schmerzlich werde, sie so einsam in ihren Trauerkleidern dasitzen zu sehen.

Unter den Gedanken an die Mutter und an das liebevolle Vertrauen, von dem ihr reines Herz gegen diese überströmte, wuchs auch ihre Liebe gegen die Gestorbene mehr und mehr. Sie scheute sich nicht, ihrer toten Mutter in ihrem Innern eine Nebenbuhlerin zu geben, da sie wohl wußte, wie die neue Blume nur der tiefgehenden, lange mit Wärme gepflegten Wurzel entsproßte. Jedes sanfte Wort, das von den Lippen der schönen Dame entfallen, klang für Florence wie ein Echo der Stimme, die so lange hatte schweigen müssen. Wie hätte ihr um des Andenkens willen die lebende Zärtlichkeit weniger teuer sein sollen, da diese die Erinnerung an alle elterliche Zärtlichkeit und Liebe umschloß!

Florence saß eines Tages lesend in ihrem Zimmer und machte sich, da ihr Buch von einem verwandten Gegenstand handelte, eben Gedanken über die Dame und ihren versprochenen baldigen Besuch, als sie mit einem Male beim Erheben ihrer Augen sie auf der Schwelle stehen sah.

»Mama!« rief Florence, ihr freudig entgegentretend. »Ihr seid wieder hier?«

»Noch nicht Mama«, versetzte die Dame mit einem ernsten Lächeln, während sie Florences Nacken mit ihrem Arme umschlang.

»Aber doch sehr bald«, entgegnete Florence.

»Ja, sehr bald, Florence – sehr bald.«

Edith senkte ihr Haupt ein wenig, um Florences blühende Wange an die ihrige zu drücken, und blieb für eine Weile stumm. Es lag etwas ungemein Inniges in ihrem Wesen, und Florence fühlte das sogar noch mehr als bei ihrer ersten Begegnung.

Sie rückte für Florence einen Stuhl an ihre Seite und setzte sich nieder. Florence blickte ihr, verwundert über ihre Schönheit, ins Gesicht und überließ der künftigen Mutter bereitwillig ihre Hand.

»Du bist wohl viel allein gewesen, seit ich zum letztenmal hier war, Florence?«

»Ach ja«, versetzte Florence eifrig und lächelte.

Dann hielt sie inne und schlug die Augen nieder; denn der Blick ihrer neuen Mama haftete sehr ernst und gedankenvoll auf ihrem Gesicht.

»Ich – ich – ich bin ans Alleinsein gewöhnt«, sagte Florence, »und mache mir nichts daraus. Di und ich bringen oft ganze Tage allein miteinander zu.«

Sie hätte wohl von Wochen und Monaten sprechen dürfen.

»Ist Di dein Mädchen, meine Liebe?«

»Nein, mein Hund, Mama«, versetzte Florence lachend, »Susanna ist mein Mädchen.«

»Und das sind deine Zimmer?« sagte Edith umherschauend. »Man hat sie mir letzthin nicht gezeigt. Wir müssen sie besser herrichten lassen, Florence. Sie sollen die schönsten werden im Hause.«

»Wenn ich umziehen dürfte«, entgegnete Florence, »so ist eine Treppe weiter oben eins, das mir viel besser gefiele?«

»Liegt dieses hier nicht hoch genug, liebes Mädchen?« fragte Edith lächelnd.

»Das andere war das Zimmer meines Bruders und ist mir deshalb so lieb«, sagte Floren«. »Als ich bei meiner Rückkehr die Arbeiter hier fand, die alles veränderten, hätte ich gar gerne mit Papa darüber gesprochen, aber –«

Florence senkte die Augen, damit nicht der gleiche Blick sie wieder zum Stocken bringen möchte.

»– aber ich fürchtete, es möchte ihm unangenehm sein. Da Ihr mir nun versprochen habt, bald wiederzukommen, Mama, und Ihr doch die Gebieterin von allem seid, so faßte ich den Entschluß, meinen Mut zusammenzunehmen und Euch darum zu bitten.«

Edith heftete ihre leuchtenden Augen angelegentlich auf ihr Gesicht, bis Florence ihr eigenes erhob: dann kam die Reihe an sie, den Blick abzuwenden und zu Boden zu blicken. Damals dachte Florence, wie ganz anders die Schönheit dieser Dame sei, als sie geglaubt hatte; sie war ihr vornehm und stolz vorgekommen, und doch zeigte sie ein so mildes sanftes Wesen, daß die Dame, selbst wenn sie von Florences Alter und Charakter gewesen wäre, kaum mehr Vertrauen hätte einflößen können.

Ausgenommen, wenn eine gewisse gezwungene Zurückhaltung sie überflog, denn dann gewann es den Anschein – Florence begriff dieses freilich nicht, obschon es ihr auffallen und zu Gedanken Anlaß geben mußte –, als sei es ihr gar nicht wohl zumute und als fühle sie sich gedemütigt vor dem Mädchen. Namentlich hatte sich diese Veränderung gezeigt, als sie sagte, sie sei noch nicht ihre Mama, und als Florence sie die Gebieterin von allem nannte. Auch jetzt, während Florences Augen auf ihrem Gesicht ruhten, saß sie da, als ob sie lieber vor ihrer jungen Gefährtin sich verbergen, als die Rechte einer so nahen Beziehung durch Liebe und Innigkeit geltend machen möchte.

Sie gab Florence bereitwillig ihre Zusage wegen des neuen Zimmers und sagte, sie wolle selbst die betreffenden Weisungen erlassen. Sie stellte dann einige Fragen nach dem armen Paul, und nachdem sie eine Weile miteinander gesprochen hatten, erklärte sie Florence, sie sei gekommen, um sie nach ihrer Heimat mitzunehmen.

»Wir wohnen jetzt in London, meine Mutter und ich«, sagte Edith, »und du wirst bei uns bleiben, bis ich verheiratet bin. Ich wünsche, daß wir uns kennen und Vertrauen ineinander setzen lernen, Florence.«

»Ihr seid sehr gütig gegen mich, teure Mama«, versetzte Florence. »Wie sehr bin ich Euch zu Dank verpflichtet.«

»Es ist vielleicht jetzt die beste Gelegenheit«, fuhr Edith mit gedämpfterer Stimme fort, und sah sich um, als wollte sie sich überzeugen, daß sie auch ganz allein wären, »dir zu sagen, daß mir das Herz weit leichter sein wird, wenn du während meiner Hochzeitsreise wieder hier bist. Gleichviel, wer dich dann auch anderswohin einladen mag. Komm nur wieder her. Es ist besser, allein zu sein« – sie hielt inne und fügte dann bei –, »ich wollte sagen, ich weiß wohl, daß du zu Hause am besten aufgehoben bist, liebe Florence.«

»Ich will an demselben Tage wiederkommen, Mama.«

»Recht so. Ich verlasse mich auf dieses Versprechen. Triff jetzt deine Vorbereitungen, mich zu begleiten, liebes Mädchen. Wenn du fertig bist, wirst du mich unten finden.«

Edith wandelte langsam und gedankenvoll allein durch das Haus, dessen Gebieterin sie so bald werden sollte, obschon sie nur wenig auf den Prunk achtete, der sich bereits darin zu entfalten begann. Derselbe unbezähmbare Hochmut des Geistes, der gleiche stolze Hohn um das Auge und die Lippen, dieselbe trotzige Schönheit, nur gemildert durch das Bewußtsein ihres eigenen geringen Werts und der Unbedeutsamkeit der ganzen Umgebung – alles wie damals unter dem Schatten der Bäume, ging sie jetzt in wilder innerer Leidenschaft durch die prächtigen Säle und Hallen. Die gemalten Rosen an den Wänden und in den Fluren waren mit scharfen Dornen umgeben, die ihre Brust zerrissen. In jedem Streifen Goldes, der das Auge blendete, sah sie ein verhaßtes Atom ihres Kaufpreises. Die hohen breiten Spiegel zeigten ihr in voller Länge eine Frau, in deren Wesen noch eine edle Eigenschaft weilte, obschon sie zu herabgewürdigt und verloren, zu treulos gegen ihr besseres Ich war, um sich selbst zu retten. Sie glaubte, alles das müsse jedem Auge mehr oder weniger so klar sein, daß sie nirgends eine Quelle der Selbstberuhigung fand als im Stolze; und mit diesem Stolze, der Tag und Nacht ihr Herz folterte, kämpfte sie sich kühn und trotzig durch ihr Schicksal.

War das die Frau, auf die Florence – ein unschuldiges Mädchen, das nur stark war in ihrer Innigkeit und in ihrer treuen Einfalt – einen so beschwichtigenden Eindruck üben konnte, daß sie in solcher Nähe zu einem andern Wesen wurde, daß der Sturm der Leidenschaft sich legte und sogar ihr Stolz sich beugte? War das die Frau, die jetzt, die Arme um sie geschlungen, neben ihr im Wagen saß und, indem sie bittend um ihre Liebe und ihr Vertrauen rang, das schöne Köpfchen innig an ihre Brust drückte, fest entschlossen, es mit ihrem Leben gegen Unrecht und Kränkung zu schirmen?

O, Edith, wärest du in einem solchen Augenblick gestorben! Weit besser und glücklicher vielleicht, so zu sterben, Edith, als zu leben bis zum Ende!

Die hochwohlgeborene Mrs. Skewton, die lieber an alles andere, als an derartige Gefühle dachte – denn gleich vielen galanten Leuten, die zu verschiedenen Zeiten lebten, glaubte sie dem Tode ganz und gar trotzen zu können, und wollte nichts davon hören, wenn von diesem gemeinen, alles gleichmachenden Emporkömmling die Rede war – hatte in Brookstreet, Grosvenor-Square, ein Haus geliehen, das einem vornehmen Verwandten aus dem Geschlechte der Feenixe gehörte. Dieser, der gerade nicht in London war, ließ sich freundschaftlichst herbei, dieses sein Eigentum vorübergehend zum Zweck der Verehelichung abzutreten, weil er dadurch die Aussicht gewann, für die Zukunft aller weiteren Darlehen und Geschenke an Mrs. Skewton und ihre Tochter enthoben zu werden. Da es in einer solchen Zeit für die Ehre der Familie nötig war, sich mit Anstand zu zeigen, so versah Mrs. Skewton unter dem Beistand eines gefälligen sternchenland.com Geschäftsmanns aus dem Kirchspiel Mary-le-bone, der dem Adel und der Honoratiorenschaft mit Gegenständen aller Art, vom Silberservice an bis zu einer Armee von Bedienten, auszuhelfen pflegte, das Haus mit einem silberhaarigen Kellermeister. Dieser wurde gerade wegen seines Silberhaars gemietet, weil es ihm das Aussehen eines alten Familiendieners verlieh. Dazu kamen zwei sehr lange junge Männer in Livree und ein auserlesener Stab von Küchendienstboten, so daß man sich im Erdgeschoß mit der Sage trug, der Page Withers, der mit einem Male seiner zahlreichen Haushaltobliegenheiten, namentlich aber des Dienstes hinter dem mit der Hauptstadt sich nicht vertragenden Räderstuhl enthoben war, habe sich oft und oft die Augen gerieben und seine Glieder gezwickt, als zweifle er, ob er nicht noch immer im Schuppen des Leamingtoner Milchmanns schlafe und sich in einem himmlischen Traum befinde. Aus derselben dienstwilligen Quelle wurden auch unterschiedliche Requisiten in Silber und Porzellan, nebst mehreren gemischten Artikeln, einschließlich eines hübschen Wagens und zweier Fuchsstuten, nach dem Hause geschafft, wo Mrs. Skewton sich in der Kleopatrahaltung auf dem prächtigsten Sofa aufpolsterte und in großem Prunk ihren Hof hielt.

»Wie geht es meiner bezaubernden Florence?« sagte Mrs. Skewton, als Edith mit ihrer Schutzbefohlenen eintrat. »Florence, du mußt kommen und mich küssen – willst du so gut sein, meine Liebe?«

Florence beugte sich schüchtern nieder, um in dem weißen Teil von Mrs. Skewtons Gesicht eine Stelle auszulesen – eine Schwierigkeit, der sie die hochwohlgeborene Dame dadurch enthob, daß sie dem jungen Gast ihr Ohr hinbot.

»Edith, meine Liebe«, sagte Mrs. Skewton, »gewiß, ich – tritt doch für einen Augenblick mehr ins Licht, meine süßeste Florence.«

Florence willfahrte errötend.

»Erinnerst du dich nicht, liebe Edith«, fuhr Mrs. Skewton fort, »wie du aussahst, als du ungefähr in dem Alter unserer köstlichen Florence oder einige Jahre darunter warst?«

»Ich habe das längst vergessen, Mutter.«

»Ich glaube wahrhaftig, meine Liebe«, sagte Mrs. Skewton, »in unserer ungemein bezaubernden jungen Freundin eine entschiedene Ähnlichkeit mit dem zu entdecken, was du in jener Zeit warst. Und man sieht daraus«, fuhr sie mit gedämpfterer Stimme fort, in der sich ihre Ansicht ausdrücken mochte, daß sich Florence in einem noch sehr unvollendeten Zustande befinde, »was die Ausbildung zu leisten imstande ist.«

»Jawohl – ganz richtig!« lautete Ediths ironisch-harte Antwort.

Ihre Mutter warf ihr für einen Moment einen scharfen Blick zu, und da sie die Unsicherheit ihres Bodens fühlte, so fuhr sie, um davon abzugehen, fort:

»Meine bezaubernde Florence, du mußt mir noch einen Kuß geben – willst du so gut sein, meine Liebe?«

Florence gehorchte natürlich und drückte abermals ihre Lippen auf Mrs. Skewtons Ohr.

»Und du hast ohne Zweifel gehört, mein Herzchen«, sagte Mrs. Skewton, ihre Hand festhaltend, »daß dein Papa, den wir alle eigentlich anbeten, heute über acht Tage mit meiner lieben Edith vermählt werden soll.«

»Ich wußte, daß es sehr bald geschehen würde«, entgegnete Florence, »obschon ich nicht genau die Zeit kannte.«

»Aber meine liebe Edith«, sagte die Mutter heiter, »ist es möglich, daß du es Florence nicht gesagt hast?«

»Warum sollte ich auch?« erwiderte sie so plötzlich und hart, daß Florence kaum glauben konnte, es sei die nämliche Stimme.

Mrs. Skewton erzählte sodann Florence als weitere und sichere Abschweifung, daß ihr Vater zum Diner kommen und ohne Zweifel ungemein überrascht sein werde, sie zu sehen. Er habe gestern abend von Kleidereinkäufen in der City gesprochen und wisse nichts von Ediths Plan, dessen Ausführung ihm, wie sie erwartete, das größte Entzücken bereiten müsse. Florence wurde bei dieser Kunde sehr unruhig, und ihre Bangigkeit steigerte sich beim Herannahen der Dinerstunde so sehr, daß sie, wenn sie nur gewußt hätte, wie sie die Bitte um Erlaubnis zur Rückkehr einleiten sollte, ohne dabei ihren Vater bloßzustellen, lieber zu Fuß, barhäuptig, atemlos und allein nach Hause geeilt wäre, ehe sie sich der Gefahr aussetzte, sein Mißfallen auf sich zu ziehen. Als die Zeit herannahte, vermochte sie kaum mehr zu atmen. Sie wagte es nicht, ans Fenster zu treten, damit er sie nicht von der Straße aus sehe, und getraute sich ebensowenig, die Treppe hinaufzueilen, um ihre Erregung zu verbergen, weil sie ihm, wenn sie zur Tür hinausging, unerwartet begegnen konnte. Abgesehen von dieser Furcht, war es ihr auch, als sei sie außerstande, wieder zurückzukommen, wenn er sie zu sich entbieten ließ. In diesem angstvollen Kampfe saß sie noch neben Kleopatras Ruhebette, sich alle Mühe gebend, die faden Reden dieser Dame zu verstehen und zu beantworten, als sie seinen Fußtritt auf der Treppe vernahm.

»Ich höre ihn jetzt!« rief Florence zusammenfahrend. »Er kommt.«

Kleopatra, die in ihrer Jugendlichkeit stets zu Neckereien aufgelegt war und sich in einer solchen Stimmung nicht an die Gefühle anderer kehrte, schob Florence hinter ihr Ruhebett und ließ einen Schal über sie fallen als Vorbereitung zu einer entzückenden Überraschung für Mr. Dombey. Das war kaum geschehen, als Florence seinen einschüchternden Tritt im Zimmer vernahm.

Er grüßte seine künftige Schwiegermutter und Braut; aber der befremdliche Ton seiner Stimme schauderte dem armen Kinde durch den ganzen Körper.

»Mein teurer Dombey«, sagte Kleopatra, »kommt her und sagt mir, was Eure hübsche Florence macht.«

»Florence geht es recht gut«, versetzte Mr. Dombey, auf das Ruhebett zugehend.

»Ist sie zu Hause?«

»Ja«, antwortete Mr. Dombey.

»Mein teurer Dombey«, entgegnete Kleopatra mit einer bezaubernden Lebhaftigkeit, »seid Ihr auch überzeugt, daß Ihr mich nicht täuscht? Ich weiß nicht, was meine liebe Edith sagen wird, wenn ich Euch eine solche Erklärung gebe; aber auf Ehre, ich fürchte, Ihr seid der falscheste aller Männer, mein teurer Dombey.«

Wenn das eine Wahrheit gewesen und er urplötzlich auf der ungeheuersten Falschheit, die er in Wort oder Tat begangen, ertappt worden wäre, so hätte er nicht betroffener sein können, als in dem Augenblick, in dem Mrs. Skewton den Schal wegzog und Florence sich bleich und zitternd gleich einem Gespenst vor ihm erhob. Er hatte seine Fassung noch nicht wiedergewonnen, als Florence auf ihn zueilte, ihre Hände um seinen Nacken schlang, sein Gesicht küßte und zum Zimmer hinauseilte. Er schaute umher, als ob er diesen Vorgang auf jemand anders beziehen müsse; aber Edith war sogleich Florence nachgegangen.

»Gesteht nur, mein teurer Dombey«, sagte Mrs. Skewton, ihm die Hand reichend, »daß Ihr in Eurem Leben nie freudiger überrascht wurdet.«

»Es ist allerdings eine Überraschung«, versetzte Mr. Dombey.

»Keine freudige, mein teuerster Dombey?« erwiderte Mrs. Skewton, ihren Fächer erhebend.

»Hm – ja, es freut mich sehr, Florence hier zu treffen«, sagte Mr. Dombey. Er schien einen Augenblick ernstlich darüber nachzudenken und fügte dann entschiedener bei: »Ja, in der Tat – es ist mir sehr lieb, daß Florence hier ist.«

»Und Ihr möchtet wohl wissen, wie sie hierher kam?« fragte Mrs. Skewton. »Nicht wahr?«

»Vielleicht Edith –« versetzte Mr. Dombey.

»Ach, wie boshaft in Eurem Raten!« entgegnete Kleopatra, ihren Kopf schüttelnd. »Ach! schlauer, schlauer Mann. Man sollte zwar etwas Derartiges nicht sagen, denn Euer Geschlecht, Mr. Dombey, ist so eitel und mißbraucht so gerne unsere Schwächen; aber Ihr kennt die Offenheit meines Herzens – – schon gut; sogleich.«

Diese letztere Anrede galt einem der sehr langen jungen Männer, der das Diner ankündigte.

»Edith, mein lieber Dombey«, fuhr sie flüsternd fort, »kann Euch nicht immer in ihrer Nähe haben – ich sage ihr stets, daß solches unmöglich ist – und da wünscht sie wenigstens etwas in ihrer Umgebung, was Euch gehört. Nun, das ist auch ganz natürlich. Von einer solchen Gesinnung beseelt, konnte sie heute nichts zurückhalten, anspannen zu lassen und unsern Liebling Florence zu holen. Wie ungemein bezaubernd dies ist!«

Da sie auf eine Antwort wartete, so erwiderte Mr. Dombey:

»Ja, in der Tat sehr.«

»Gott segne Euch, mein teurer Dombey, für diesen Beweis von Herz!« rief Kleopatra, ihm die Hand drückend. »Aber ich werde ernst! Gebt mir Euern Arm – wir wollen hinuntergehen und sehen, sternchenland.com was man uns zum Diner vorzusetzen gedenkt. Gottes Segen über Euch, mein teurer Dombey!«

Nach diesem Schlußsegen hüpfte Kleopatra mit leidlicher Schnelligkeit von ihrem Ruhebett herunter, worauf Mr. Dombey ihren Arm in den seinen legte und sie sehr förmlich die Treppe hinunterführte. Als das würdige Paar in das Speisezimmer eintrat, steckte einer der gemieteten sehr langen jungen Männer, dessen Ehrfurchtsorgan nur sehr unvollkommen entwickelt war, die Zunge in den Nacken, um durch diese Gebärde den andern sehr langen jungen Mietsmann zu belustigen.

Florence und Edith saßen bereits dort Seite an Seite. Die erstere wollte, als ihr Vater eintrat, von ihrem Stuhle aufstehen, um ihm diesen abzutreten; aber Edith legte die Hand auf ihren Arm, und Mr. Dombey nahm auf der andern Seite des runden Tisches Platz.

Die Unterhaltung wurde fast ausschließlich von Mrs. Skewton geführt. Florence getraute sich kaum die Augen aufzuschlagen, um nicht die Spuren von Tränen zu verraten, noch weniger wagte sie es, zu sprechen, und auch Edith blieb stumm, wenn sie nicht gerade auf eine Frage antworten mußte. In der Tat hatte Kleopatra um der Versorgung willen, die so nahezu erfaßt war, schwere Arbeit, und sie durfte wohl froh sein, wenn der Lohn ihrer Mühe entsprechen sollte.

»Eure Vorbereitungen sind also nahezu beendigt, mein teurer Dombey?« sagte Kleopatra, nachdem der Nachtisch aufgetragen war und der silberlockige Kellermeister sich entfernt hatte. »Auch die des Notars?«

»Ja, Madame«, versetzte Dombey. »Wie mir mitgeteilt wurde, ist der Ehevertrag ausgefertigt, und wie ich Euch bereits bemerkte, erwarte ich von Edith nur die Gunst, die Zeit zum Vollzug desselben festzusetzen.«

Edith saß da wie eine schöne Statue – ebenso kalt und stumm.

»Meine Liebe«, ergriff Kleopatra wieder das Wort, »hast du gehört, was Mr. Dombey sagte? Ach mein teurer Dombey«, bemerkte sie heimlich leise zu diesem Gentleman, »wie mich ihre Zerstreutheit beim Herannahen der Zeit an die Tage erinnert, als jener angenehmste von allen Männern, ihr Papa, in der gleichen Lage war.«

»Ich habe nichts zu erwidern. Es soll geschehen, wenn es Euch beliebt«, sagte Edith, kaum einen Blick über den Tisch hinüber nach Mr. Dombey hinwerfend.

»Morgen?« versetzte Mr. Dombey.

»Wie es Euch paßt.«

»Oder habt Ihr vielleicht über Eure Zeit verfügt und ist es Euch übermorgen lieber?« fragte Mr. Dombey.

»Meine Zeit ist frei. Ich stehe Euch immer zu Gebote. Also ganz nach Eurem Belieben.«

»Deine Zeit frei, meine liebe Edith«, stellte ihr die Mutter vor, »da du doch den ganzen Tag schrecklich viel zu tun und tausend Bestellungen bei Kaufleuten aller Art zu machen hast?«

»Das ist Eure Sache«, erwiderte Edith, mit einem leichten sternchenland.com Runzeln der Stirn sich an sie wendend. »Ihr und Mr. Dombey könnt es unter Euch bereinigen.«

»In der Tat ganz richtig, meine Liebe, und sehr rücksichtsvoll von dir«, sagte Kleopatra. »Meine herzige Florence, du mußt mir in der Tat noch einen Kuß geben – willst du so gut sein, meine Liebe?«

Ein sonderbares Zusammentreffen, daß diese Ergüsse von Teilnahme an Florence fast jeden, selbst den unbedeutendsten Zwiespalt beenden mußten, an dem sich Edith ihrer Mutter gegenüber beteiligte. Das arme Mädchen hatte sich nie so vielen Umarmungen unterziehen müssen und war vielleicht, ohne daß sie eine Ahnung davon hatte, in ihrem ganzen Leben nie so nützlich gewesen.

Mr. Dombey war weit entfernt, in seinem Innern das Benehmen seiner schönen Verlobten tadelnswert zu finden. Er hatte ja jenen guten Grund zur Sympathie für Stolz und Kälte, der sich in einem verwandten Gefühl darbietet. Der Gedanke war für ihn schmeichelhaft, daß in Ediths Fall auch diese Empfindungen sich ihm unterwürfig machten und die Dame selbst keinen andern Willen zu haben schien als den seinen. Es tat ihm wohl, sich ausmalen zu können, wie diese stolze stattliche Frau die Honneurs seines Hauses machte und nach seiner eigenen Weise einen erkältenden Eindruck auf die Gäste übte. Die Würde von Dombey und Sohn konnte durch solche Hände nur gewahrt und erhöht werden.

So dachte Mr. Dombey, als er allein bei Tisch zurückblieb und über sein vergangenes und zukünftiges Geschick Betrachtungen anstellte. Er fühlte sich nicht unbehaglich im Anblick des spärlichen düsteren Prunkes, der in dunkelbrauner Farbe mit den die Wände beklecksenden schwarzen Wappenbildern das Zimmer beherrschte. Inmitten der vierundzwanzig schwarzen Stühle, die gleich Särgen mit weißen Nägeln beschlagen waren und wie stumme Leidtragende auf dem Rand des türkischen Teppichs standen, und der beiden erschöpften Neger, die auf dem Seitentisch zwei dürre Arme eines Kandelabers in die Höhe hielten, während der modrige Geruch im Gemach auf die Asche von zehntausend Diners hinzudeuten schien, die in dem darunter liegenden Sarkophag eingeschlossen war.

Der Eigentümer des Hauses lebte viel auswärts, da die Luft Englands selten einem Mitglied der Feenix-Familie auf die Dauer wohl bekam. So hatte sich das Zimmer allmählich tiefer und tiefer in Trauer gekleidet, bis es am Ende so leichenhaft geworden war, daß zur Vervollständigung nur noch der tote Körper fehlte.

Als eine nicht üble Versinnlichung der Leiche, wenn auch nicht in der Haltung, so doch der regungslosen Gestalt nach, schaute Mr. Dombey in die kalten Tiefen eines toten Meers von Mahagoni nieder, auf dem Fruchtkörbe und Flaschen vor Anker lagen, als ob die Gegenstände seiner Gedanken allmählich nach der Oberfläche aufstiegen, um dann wieder unterzutauchen. Edith zeigte sich da in der ganzen Majestät ihrer Stirn und Gestalt. Dicht neben ihr kam Florence, die, wie es vorhin stattgefunden, als sie das Zimmer verließ, ihr schüchternes Haupt einen Augenblick ihm zugekehrt hatte, sternchenland.com während Ediths Augen auf ihr hafteten und ihre Hand schützend auf ihr ruhte. Zunächst sprang eine kleine Gestalt auf einem niedrigen Lehnstuhl ins Dasein und schaute mit ihren hellen Augen und ihrem altjungen Gesicht, das wie im Flackern eines Abendfeuers erglänzte, verwundert nach ihm hin. Abermals trat Florence auf diese zu und nahm deren ganze Aufmerksamkeit in Anspruch – ob als ein vom Schicksal ihm in den Weg geworfenes Hemmnis, ob als Nebenbuhlerin, die ihm stets hinderlich gewesen war und es vielleicht wieder werden sollte, ob als sein Kind, an dessen Ansprüche er auch bei seinem erfolgreichen Freien denken mußte und das nicht mehr als Fremde betrachtet werden wollte, oder ob als ein Wink für ihn, daß seine neuen Verwandten den bloßen Anschein der Sorge für sein eigenes Blut wahren wollten – er wußte das selbst am besten. Im günstigsten Falle war er vielleicht gleichgültig dagegen. Die Hochzeitsgesellschaften, Traualtäre und Szenen des Ehrgeizes – da und dort immer von Florence und wieder von Florence beklagt – tauchten so schnell und verwirrt auf, daß er sich von seinem Stuhl erhob und die Treppe hinaufschritt, um solchen Bildern zu entrinnen.

Es war schon spät, als die Lichter gebracht wurden; denn sie machten Mrs. Skewton Kopfweh. Inzwischen hatte Florence sich mit der alten Dame unterhalten (denn Kleopatra sorgte dafür, sie nicht von ihrer Seite zu lassen) oder zu Mrs. Skewtons Vergnügen mit sanfter Hand die Tasten des Pianos berührt, einiger Anlässe im Laufe des Abends nicht zu gedenken, die diese liebevolle Dame – stets nachdem Edith etwas gesagt hatte – bewogen, sich abermals einen Kuß zu erbitten. Das kam jedoch nicht sehr häufig vor, denn Edith saß die ganze Zeit über (ohngeachtet der Besorgnisse ihrer Mutter, daß sie sich erkälten könnte) abseits am offenen Fenster und blieb in dieser Stellung, bis Mr. Dombey sich verabschiedete. Bei dieser Gelegenheit benahm er sich sehr gnädig gegen seine Tochter, und als Florence in dem gleichen Zimmer mit Edith zu Bett ging, fühlte sie sich glücklich und hoffnungsvoll, daß ihr früheres Dasein ihr nun wie das eines andern armen verlassenen Mädchens erschien, das sie um ihres Kummers willen bemitleidete. Im Gefühl dieser Teilnahme schluchzte sie fort, bis sie einschlief.

Die Nacht entschwand schnell. Man fuhr zu den Putzmacherinnen, den Damenschneidern, den Juwelieren, den Rechtsgelehrten, den Blumengärtnern und den Pastetenbäckern – Ausflüge, an denen Florence sich beteiligte. Sie sollte in dem Hochzeitszug mitgehen und deshalb ihre Trauer ablegen, um bei diesem Anlaß eine prächtige Kleidung zu tragen. Die Ansichten der Putzmacherin, einer Französin, die große Ähnlichkeit mit Mrs. Skewton hatte, waren in dieser Beziehung so züchtig und elegant, daß Mrs. Skewton für sich selbst einen ähnlichen Anzug bestellte. Die Französin war der Meinung, er würde ihr zur Bewunderung gereichen, so daß alle Welt sie für die Schwester der jungen Dame ansehen müßte.

Die Woche entschwand schnell. Edith sah nach nichts und kümmerte sich um nichts. Die reichen Kleider kamen ins Haus, sternchenland.com wurden anprobiert und von Mrs. Skewton und der Putzmacherin laut gelobt, von der Eigentümerin aber, ohne daß sie ein Wort darüber verlor, beiseite gelegt. Mrs. Skewton machte für jeden Tag ihre Pläne und brachte sie selbst in Ausführung. Hin und wieder fuhr Edith, wenn es Einkäufe zu machen galt, mit und besuchte auch bisweilen, falls es unbedingt nötig war, die Läden; Mrs. Skewton aber leitete alles, was da vorkommen mochte, und ihre Tochter benahm sich dabei so teilnahmlos und gleichgültig, als ob das alles sie gar nichts anginge. Florence mochte sie vielleicht für stolz und unbekümmert halten. Aber gegen sie selbst war sie es nie, und ihre Verwunderung erstickte schnell in den Gefühlen des Dankes.

Die Woche entschwand schnell – fast als hätte sie Flügel. Der letzte Abend der Woche – der Abend vor der Trauung war herangekommen.

Mrs. Skewton, Edith und Mr. Dombey saßen in dem unbeleuchteten Zimmer; denn Kleopatras Migräne war noch immer nicht besser, obschon sie erwartete, daß es morgen gut werden würde.

Edith saß an dem offenen Fenster und schaute in die Straße hinaus, während Mr. Dombey sich mit seiner Schwiegermutter auf dem Sofa unterhielt. Es war spät, und die von den Anstrengungen des Tages ermüdete Florence war zu Bett gegangen.

»Mein lieber Dombey«, sagte Kleopatra, »wenn Ihr mich morgen meiner süßen Edith beraubt, so müßt Ihr Florence bei mir lassen.«

Mr. Dombey versprach das mit Vergnügen.

»Sie während Eures Aufenthalts in Paris um mich zu haben und dabei denken zu dürfen, daß ich in ihrem Alter an der Ausbildung ihres Geistes mitwirken kann, mein lieber Dombey«, fuhr Kleopatra fort, »wird für mich in dem Leid um meinen Verlust ein wahrer Balsam sein.«

Edith wandte den Kopf plötzlich um. Ihr unbekümmertes Wesen hatte sich im Augenblick in die glühendste Teilnahme umgewandelt, und sie lauschte, in der Dunkelheit unbemerkt, sorgfältig auf das Gespräch.

Mr. Dombey war entzückt, Florence unter einer so bewundernswürdigen Obhut lassen zu können.

»Mein teurer Dombey«, entgegnete Kleopatra, »tausend Dank für Eure gute Meinung. Ich fürchtete, Ihr habt im Sinn, mit vorbedachter Bosheit, wie die schrecklichen Anwälte sagen – diese entsetzlichen, langweiligen Menschen! – mich zu einer gänzlichen Einsamkeit zu verdammen.«

»Warum tut Ihr mir so schweres Unrecht, meine liebe Madame?« sagte Mr. Dombey.

»Weil meine herzige Florence mir mit Entschiedenheit erklärt hat, daß sie morgen nach Hause gehen müsse«, erwiderte Kleopatra. »Ich begann darum, mich zu sorgen, mein teuerster Dombey, daß Ihr eigentlich ein Tyrann seiet.«

»Ich versichere Euch, Madame«, – sagte Mr. Dombey, »daß sie sternchenland.com von mir aus keinen Befehl erhalten hat. Wenn übrigens dies auch der Fall wäre, so ist Euer Wunsch mir Gebot.«

»Ihr seid ein wahrer Kavalier, mein lieber Dombey«, versetzte Kleopatra, »obschon ich eigentlich nicht so sagen sollte, denn Kavaliere haben kein Herz, und das Eurige blickt in Eurem herrlichen Leben und Charakter überall durch.«

»Aber wollt Ihr wirklich so früh gehen, mein teurer Dombey?«

Ja in der Tat – es war spät, und Mr. Dombey fürchtete, daß er jetzt wirklich aufbrechen müsse.

»Ist es eine Tatsache oder ist das Ganze nur ein Traum!« lispelte Kleopatra. »Kann ich glauben, mein teuerster Dombey, daß Ihr morgen früh zurückkehren werdet, um mich meiner süßen Lebensgefährtin, meiner Edith, zu berauben?«

Mr. Dombey, der gewohnt war, alles buchstäblich zu nehmen, erinnerte Mrs. Skewton daran, daß sie sich morgen in der Kirche wieder treffen würden.

»Der Schmerz, auch an Euch, mein lieber Dombey, ein Kind abtreten zu müssen«, sagte Mrs. Skewton, »ist das Bitterste, was man sich nur denken kann. Rechne ich dazu noch eine von Natur aus zarte Konstitution und die ungeheure Dummheit des Pastetenbäckers, der die Besorgung des Frühstücks übernommen hat, so wird es fast zu viel für meine armen Kräfte. Aber ich will mich morgen aufraffen, mein teurer Dombey; seid um meinetwillen völlig unbesorgt. Der Himmel behüte Euch! Teuerste Edith«, rief sie schalkhaft, »es geht jemand, mein Herz.«

Edith, die den Kopf wieder dem Fenster zugekehrt hatte, da das Gespräch ihr kein weiteres Interesse bot, stand von ihrem Sitze auf, ohne jedoch ihm entgegenzukommen oder auch nur eine Silbe verlauten zu lassen. Mr. Dombey brachte mit stolzer Galanterie, wie seiner Würde und dem Anlaß gemäß war, die knarrenden Stiefel in ihre Nähe, führte ihre Hand an seine Lippen und sagte: »Morgen früh werde ich also das Glück haben, diese Hand als die einer Mrs. Dombey für mich in Anspruch zu nehmen.«

Und er entfernte sich unter feierlichen Verbeugungen.

Sobald die Haustür sich hinter ihm geschlossen hatte, klingelte Mrs. Skewton nach Licht. Mit den Kerzen erschien auch ihre Kammerjungfer, die den jugendlichen Anzug brachte, der morgen die Welt blenden sollte.

Nach der Weise derartiger Kleider schlossen auch diese das Wiedervergeltungsrecht in sich, daß sie die Dame unendlich älter und häßlicher machten, als der alte Flanellunterrock. Doch Mrs. Skewton probierte sie mit betulicher Selbstzufriedenheit an, schmunzelte nach dem leichenhaften Abbild ihres Ichs in den Spiegel hin, als vergegenwärtige sie sich die vernichtende Kraft eines solchen Eindrucks auf den Major, und hieß dann ihre Kammerjungfer all diesen Prunk wieder fortnehmen. Dann mußte der gleiche dienstbare Geist sie zur Ruhe vorbereiten, und die Dame sank in Trümmer zusammen wie ein Kartenhaus.

Mittlerweile blieb Edith in ihrer finsteren Ecke und schaute auf die Straße hinaus. Als sie endlich mit ihrer Mutter allein war, kam sie zum erstenmal diesen Abend hervor und trat ihr gegenüber. Das Gähnen, das Recken und die grämliche Gestalt der Mutter, als sie ihre Augen auf die stolz und aufrecht dastehende Tochter richtete, die einen Glutblick auf sie niederfallen ließ – alles das hatte einen Ausdruck von Schuldbewußtsein an sich, den weder Leichtfertigkeit noch Laune zu verbergen vermochte.

»Ich bin bis in den Tod erschöpft«, sagte sie. »Man kann sich nicht einen Augenblick auf dich verlassen; du bist schlimmer als ein Kind. Was rede ich von Kind! Nicht einmal ein Kind würde so störrisch und ungehorsam sein.«

»Hört mich an, Mutter«, versetzte Edith, ihre Worte mit einer Miene von Verachtung begleitend, die andeutete, daß sie sehr ernsthaft gemeint seien. »Ihr müßt allein bleiben, bis ich zurückkehre.«

»Allein bleiben, bis du zurückkehrst, Edith?« wiederholte die Mutter.

»Oder ich schwöre Euch im Namen dessen, den ich morgen so schnöde und falsch zum Zeugen meines Handelns aufrufen werde, daß ich sogar in der Kirche noch die Hand dieses Mannes zurückweisen will. Ich will tot auf dem Pflaster niedersinken, wenn es nicht geschieht!«

Die Mutter antwortete mit der Miene großer Unruhe, die durch den Blick, den sie äußerlich herauszubringen suchte, in keiner Weise gemildert wurde.

»Es ist genug«, sagte Edith mit Festigkeit, »daß wir sind, was wir sind. Ich will nicht haben, daß Jugend und Treuherzigkeit in meine Tiefe hinabgezogen wird, und ich kann es nicht dulden, daß man ein argloses Wesen verderbe und verkehre, selbst wenn es sich darum handelte, einer Welt von Müttern die Langeweile zu vertreiben. Ihr wißt, was ich meine. Florence muß nach Hause.«

»Du bist eine Törin, Edith«, rief ihre Mutter zornig, »Meinst du, es sei in jenem Hause je Frieden für dich zu finden, bis sie verheiratet und fort ist?«

»Ihr fragt mich? – Fragt lieber Euch selbst, ob ich von diesem Hause überhaupt Frieden erwarte«, sagte die Tochter. »Ihr kennt die Antwort.«

»Und ich soll mir nach all der Mühe, die ich mir gegeben habe, und durch die du im Begriffe stehst, eine unabhängige Stellung zu erlangen, heute nacht sagen lassen«, schrie ihre Mutter in ihrer Leidenschaftlichkeit laut hinaus, während ihr Kopf wie ein Laub zitterte, »daß in mir Befleckung und Ansteckung liege – daß ich keine passende Gesellschaft für ein Mädchen sei? He, was bist denn du – was bist denn du?«

»Ich habe, als ich dort saß, mir diese Frage mehr als einmal vorgelegt«, versetzte Edith mit aschfahlem Gesicht, indem sie nach dem Fenster deutete. »Es ist etwas in dem verblichenen Abbild meines Geschlechts draußen vorbeigegangen, und Gott weiß, ich habe meine sternchenland.com Antwort darin gelesen. O Mutter, Mutter, hättet Ihr mir nur mein natürliches Herz gelassen, als auch ich ein Mädchen war – ein Mädchen, noch jünger als Florence – wie ganz anders könnte ich jetzt dastehen!«

In dem Bewußtsein, daß jede Kundgebung von Zorn hier nutzlos war, tat die Mutter sich Zwang an, brach in ein Gewinsel aus und beklagte, daß sie zu lange gelebt habe, weil sogar ihr einziges Kind sich von ihr lossage. Das Pflichtgefühl gegen Eltern sei in diesen schlimmen Tagen vergessen, und nun sie einen so unnatürlichen Hohn hören müsse, kümmere sie sich nicht mehr um ihr Leben.

»Wenn man unaufhörlich solche Szenen durchmachen muß«, wimmerte sie, »dann ist es wahrhaftig besser, wenn ich auf Mittel denke, meinem Dasein ein Ende zu machen. O, der Gedanke, daß du meine Tochter bist, Edith, und mich in solcher Weise morden kannst!«

»Zwischen uns, Mutter«, entgegnete Edith im Ton der Trauer, »ist die Zeit zu wechselseitigen Vorwürfen vorbei.«

»Warum sie also immer wieder aufwärmen?« klagte die Mutter weiter. »Du weißt, daß du mich in der grausamsten Weise verwundest. Du weißt, wie tief ich dein unkindliches Benehmen empfinde. Und noch dazu in einem solchen Augenblick, in dem ich so viel zu denken habe und natürlich besorgt sein muß, mich im vorteilhaftesten Licht zu zeigen! Ich kann mich nicht genug wundern über dich, Edith. Willst du, daß deine Mutter an dem Tag deiner Vermählung wie eine Vogelscheuche erscheine?«

Edith heftete, während die Mutter schluchzte und ihre Augen rieb, den früheren durchbohrenden Blick auf sie und sagte mit derselben gedämpften, festen Stimme, mit der sie bisher gesprochen hatte:

»Ich habe Florence erklärt, daß sie nach Hause gehen müsse.«

»Na denn schön!« rief die gequälte und erschreckte Mutter hastig. »Ich habe wahrhaftig nichts dagegen. Was kümmert mich auch das Mädchen?«

»Mir liegt sie am Herzen, und ehe ich zugebe, daß ihr auch nur ein Gran von dem Schlimmen mitgeteilt werde, das in meinem Innern zehrt, Mutter, sage ich mich lieber von Euch los, wie ich auch morgen in der Kirche ihn zurückweisen werde, falls Ihr mir Anlaß dazu gebt«, erwiderte Edith. »Befaßt Euch nicht mit dem Mädchen. Sie soll, so lange ich es hindern kann, nicht durch die Lehren befleckt und verderbt werden, die man mir beibrachte. Das ist in einer so bittern Nacht keine schwere Bedingung.«

»Wenn du sie in kindlicher Weise gestellt hättest, Edith«, wimmerte ihre Mutter, »so wäre es vielleicht nicht der Fall, und ich hätte nichts dagegen. Aber so schneidende Worte –«

»Es ist jetzt zwischen uns vorbei und abgetan«, sagte Edith. »Geht Euren eigenen Weg, Mutter; teilt Euch in das Errungene nach Belieben; verbraucht es; erfreut Euch dessen, macht es Euch zunutze und seid so glücklich, wie Ihr es könnt. Unser Lebenszweck ist erreicht, und wir wollen fortan weitergehen. Von Stunde an sind sternchenland.com meine Lippen über die Vergangenheit geschlossen. Ich vergebe Euch Euren Anteil an der morgigen Schändlichkeit – möge mir Gott den meinigen verzeihen!«

Ohne ein Beben in ihrer Stimme, ruhig und festen Schrittes, als wolle sie jede sanftere Erregung niedertreten, sagte sie zu ihrer Mutter gute Nacht und begab sich nach ihrem Zimmer.

Aber nicht zur Ruhe. Es gab in der Einsamkeit keine Ruhe für den Sturm ihrer Empfindungen. Hundert- und hundertmal ging sie zwischen den prächtigen Vorbereitungen zu ihrer morgigen Ausschmückung auf und nieder. Ihre dunkeln Haare waren aufgelöst, ihre schwarzen Augen blitzten von einem wilden Lichte, und ihr schneeiger Busen rötete sich unter der ergrimmten Faust, mit der sie ihn schonungslos schlug, während sie abgewandten Hauptes hin und her ging, als wolle sie den Anblick ihrer eigenen schönen Gestalt vermeiden und sich von ihr losreißen. So kämpfte in der stillen Nacht vor dem Brautgang Edith Granger mit ihrem unruhigen Geist – trocknen Auges, freundlos, stumm, stolz und ohne Klage.

Endlich berührte sie zufällig die offene Tür, die nach dem Zimmer führte, wo Florence lag. Sie fuhr zusammen, blieb stehen und schaute hinein.

Es brannte ein Licht dort. Florence lag da in der Blüte ihrer Unschuld und Schönheit in tiefem Schlaf. Edith hielt den Atem an sich und fühlte sich zu ihr hingezogen.

Näher, näher und näher – endlich so nahe, daß sie, sich niederbeugend, ihre Lippen auf die weiche Hand drückte, die auf der Bettdecke lag, und sie sanft an ihre Brust zog. Diese Berührung übte eine Wirkung, wie der Stab Mosis auf den Felsen. Ihre Tränen quollen darunter hervor, während sie auf die Knie niedersank und den schmerzenden Kopf und das wallende Haar auf das Kissen daneben niederdrückte.

So verbrachte Edith Granger die Nacht vor ihrer Trauung. So fand sie die Sonne an ihrem Hochzeitsmorgen.

Einunddreißigstes Kapitel.


Einunddreißigstes Kapitel.

Die Trauung.

Das Grauen des Tages mit seinem leidenschaftslosen Antlitz stiehlt sich schaudernd nach der Kirche, unter welcher der Staub des kleinen Paul neben dem seiner Mutter liegt, und blickt durch die Fenster hinein.

Es ist kalt und dunkel. Die Nacht duckt sich noch nieder auf dem Pflaster und brütet schwer und düster in den Nischen und Winkeln des Gebäudes. Die über die Häuser erhabene Turmuhr, auftauchend unter den andern zahllosen Wellen in der Flut der Zeit, die regelmäßig nach dem ewigen Gestade rollt und sich daran bricht, ist nur in graulichem sternchenland.com Lichte sichtbar gleich einem steinernen Leuchtturm, der den Wogengang anzeigt; aber innerhalb der Türen kann die Dämmerung nur nach der Nacht hereinschauen und sehen, daß sie da ist.

Matt um die Kirche her sich breitend und hineinblickend, stöhnt und weint das Zwielicht um seine kurze Herrschaft. Seine Tränen träufeln an den Fensterscheiben nieder, und die Bäume beugen ihre Häupter gegen die Kirchenmauer, indem sie zugleich teilnehmend ihre vielen Hände ringen. Die erbleichende Nacht schwindet allmählich aus der Kirche, zögert aber noch in den Gewölben unten und setzt sich auf die Särge. Und nun kommt der helle Tag, die Uhr vergoldend, den Kirchturm rötend, die Tränen der Dämmerung trocknend und ihre Klagen erstickend. Das scheue Zwielicht folgt der Nacht, jagt sie aus ihren letzten Zufluchtsorten, schleicht selbst in die Gewölbe und verbirgt sich mit erschrecktem Gesichte unter den Toten, bis die Nacht neu belebt zurückkehrt, um es davon auszutreiben.

Und jetzt verbergen die Mäuse, die sich mit den Gebetbüchern mehr zu schaffen machen als ihre regelmäßigen Eigentümer, und mit ihren kleinen Zähnen die Kirchenröcke mehr abnützen, als es von menschlichen Knien geschieht – ihre hellen Augen in den Löchern und drücken sich dicht aneinander in ihrem Schrecken über das dröhnende Knarren der Kirchentür. Denn der Kirchendiener, dieser gewaltige Mann, ist am heutigen Morgen mit dem Küster früh auf den Beinen, und Mrs. Miff, die schweratmige kleine Kirchstuhlöffnerin – eine außerordentlich ausgetrocknete, dürftig gekleidete alte Dame, an welcher der Finger nirgends auch nur einen Zoll Fülle fassen kann – hat sich gleichfalls eingefunden und an dem Portal, als an dem ihr zustehenden Platz, schon eine halbe Stunde auf den Kirchendiener gewartet.

Mrs. Miff hat ein Essiggesicht, ein zerbeultes Hütchen und eine nach Sixpencen und Schillingen dürstende Seele. Das Hereinwinken verirrter Leute nach den Kirchstühlen hat ihr eine geheimnisvolle Miene verliehen, und auch in ihrem Auge drückt sich eine Zurückhaltung aus, als wisse sie noch immer einen weicheren Sitz, obschon sie mißtrauisch sei wegen der Belohnung. Es gibt keinen Mr. Miff und hat auch seit zwanzig Jahren keinen gegeben; darum vermeidet auch Mrs. Miff es gerne, auf ihn anzuspielen. Wie es scheint, hegte er gar schlimme Ansichten betreffs Freisitze, und obschon Mrs. Miff hofft, seine Seele werde aufwärts gegangen sein, wagt sie es doch nicht, dies mit Bestimmtheit zu behaupten.

Mrs. Miff ist diesen Morgen vor der Kirchtür mit Ausstäuben des Altartuchs, des Teppichs und der Polster emsig beschäftigt. Auch weiß sie viel über die bevorstehende Hochzeit zu erzählen. Sie weiß, daß die neuen Möbel und die Veränderung im Hause ein Vermögen kosten, und hat aus der besten Quelle in Erfahrung gebracht, daß die Braut kein Sixpencestück besitzt, um sich damit bekreuzigen zu können. Ferner erinnert sich Mrs. Miff, als sei es gestern gewesen, des Leichenbegängnisses der ersten Frau, dann der Taufe und endlich der andern Beerdigung. Auch meint sie, sie wolle doch sogleich jenes sternchenland.com Täfelchen dort mit Seifenwasser bearbeiten, ehe der Brautzug anlange. Mr. Sownds, der Kirchendiener, der die ganze Zeit über auf der Kirchentreppe in der Sonne sitzt und selten etwas anderes tut, wenn er nicht etwa bei kaltem Wetter das Feuer vorzieht, schenkt beifällig Mrs. Miffs Reden Gehör und fragt sie, ob ihr nicht zu Ohren gekommen wäre, daß die Dame ungemein schön sei. Mrs. Miff hat hievon Kunde, und Sownds, der Kirchendiener, der trotz seiner Rechtgläubigkeit und Korpulenz noch immer ein Bewunderer von weiblicher Schönheit ist, bemerkt mit Salbung, ja, er habe in Erfahrung gebracht, sie sei ein Kernstück – ein Ausdruck, der Mrs. Miff ein wenig zu kräftig scheint und auch von jeder andern Lippe als von der des Kirchendieners Mr. Sownds so erscheinen dürfte.

Mittlerweile geht es in Mr. Dombeys Hause wirr und bunt durcheinander, namentlich unter den Dienstmägden, denn keine derselben hat von vier Uhr an auch nur einen Augenblick geschlafen, und alle sind schon vor sechs in vollem Putz. Mr. Towlinson wird von der Hausmagd mehr als je berücksichtigt, und beim Frühstück sagt die Köchin, daß eine Hochzeit noch viele nach sich ziehe – eine Behauptung, der die Hausmagd keinen Glauben schenken kann, da sie dieselbe für ganz und gar unrichtig hält. Mr. Towlinson behält seine Ansicht über diese Frage für sich und ist überhaupt etwas verstimmt über die Einstellung eines Ausländers mit einem Backenbart (Mr. Towlinson ist selbst bartlos), der das glückliche Paar nach Paris begleiten soll und sich eben mit Bepackung des neuen Wagens zu schaffen macht. In Beziehung auf diese Person weiß Mr. Towlinson sogleich, daß bei Ausländern nie etwas Gutes herausgekommen sei, und da ihn die weibliche Dienerschaft des Vorurteils zeiht, so erklärt er, man solle nur den Bonaparte ansehen, der an ihrer Spitze gestanden habe; ob dieser nicht das beste Beispiel gebe. Das ist ein Hinweis, gegen den die Damen des Haushalts keine Einsprache zu erheben vermögen.

Der Pastetenbäcker hat in dem leichenhaften Zimmer zu Brook-Street alle Hände voll zu tun, und die sehr langen jungen Männer sehen emsig zu. Einer derselben riecht bereits stark nach Wein, und seine Augen verraten die Neigung, starr in seinem Kopf stehenzubleiben und die Gegenstände anzuglotzen, ohne sie selbst zu sehen. Der sehr lange junge Mann ist sich selbst dieses Gebrechens bewußt und teilt seinen Kameraden mit, die Erbauung sei daran schuld; seine Sprache war jedoch etwas umnebelt, und er wollte wahrscheinlich Erregung sagen.

Die Glockenmänner haben eine Witterung von der Hochzeit; ebenso auch die mit den Markknochen und die Blechmusikbande. Die ersten üben sich in einem hinteren Hofe unfern von Battle Bridge ein; die zweiten setzen sich durch ihren Hauptmann mit Mr. Towlinson in Verbindung, dem sie die Honorarforderungen mitteilen. Die dritte lauert und duckt sich in der Person eines schlauen Posaunisten um die Ecke und harrt auf irgendeinen gefälligen Menschen, der ihm gegen Bestechung den Platz und die Stunde des Frühstücks andeuten soll.

Die Erwartungen und Aufregungen greifen noch mehr um sich und verbreiten sich weiter. Mr. Perch bringt von Balls Pond seine Frau mit, damit sie den Tag unter Mr. Dombeys Dienstleuten zubringe und diese verstohlenerweise begleite, um die Trauung mitanzusehen. Mr. Toots kleidet sich in seiner Wohnung, als sei er selbst wenigstens der Bräutigam, und entschließt sich, das prachtvolle Schauspiel von einer geheimen Ecke der Emporkirche aus mitanzusehen, wohin ihn der Preishahn begleiten soll. Denn Mr. Toots hegt den verzweifelten Plan, letzterem Florence zu zeigen und unverhohlen zu ihm zu sagen: »Ich will Euch nicht länger täuschen, Preishahn. Der Freund, von dem ich hin und wieder mit Euch sprach, bin ich selbst, und Miß Dombey ist der Gegenstand meiner Leidenschaft. Was haltet Ihr bei solchem Stand der Dinge von der Sache, und was ratet Ihr mir nunmehr?«

Der Preishahn, dem eine solche Überraschung bevorsteht, netzt inzwischen in Mr. Toots Küche seinen Schnabel mit einem Becher starken Biers und pickt ein paar Pfunde Beefsteaks zusammen. Auf dem Prinzessinnenplatz ist Miß Tox geschäftig; denn ungeachtet ihrer tiefen Betrübnis hat auch sie sich vorgenommen, Mrs. Miff einen Schilling in die Hand zu drücken und die Feierlichkeit, die für sie eine so grausame Entzauberung ist, von einer einsamen Ecke aus anzusehen. Selbst in dem Quartier des hölzernen Midshipman geht es lebhaft zu; denn Kapitän Cuttle sitzt mit seinen Bundstiefeln und einem ungeheuren Hemdkragen bei seinem Frühstück und hört Rob dem Schleifer zu, der ihm zum voraus das Trauungsritual vorlesen muß, damit sein Gebieter die hehre Szene, an der er teilnehmen will, gehörig verstehe. Dabei erteilt der Kapitän von Zeit zu Zeit an seinen Kaplan die ernste Weisung, »haltzumachen« oder »diesen Artikel noch einmal zu wiederholen«, verweist ihn auf die ihm zustehende Pflicht und verlangt, daß er die »Amen« ihm, dem Kapitän, überlasse – eine Obliegenheit, die er mit klangvoller Selbstbefriedigung erfüllt, so oft Rob, der Schleifer, eine Pause macht.

Außerdem haben allein in Mr. Dombeys Straße zwanzig Kindermädchen ebenso vielen Familien von kleinen Frauenzimmern, deren instinktartiges Interesse für Hochzeiten schon von der Wiege herstammt, versprochen, daß sie die Trauung mitansehen dürften. Mr. Sownds, der Kirchendiener, hat in der Tat guten Grund, die Würde seines Amtes zu fühlen, wie er so dasitzt, um seine stattliche Gestalt auf der Kirchentreppe zu sonnen, und der Trauungsstunde entgegensieht. Ferner darf Mrs. Miff auf ein unglückliches zwerghaftes Kind mit einem riesigen Wickelbübchen, das zum Portal hineinschaut, losstürzen und es entrüstet fortjagen.

Vetter Feenix ist ausdrücklich in der Absicht, der Hochzeit beizuwohnen, von seiner Reise zurückgekehrt. Er hat schon vor vierzig Jahren als ein Lebemann gegolten, ist aber noch so jugendlich in Gestalt und Benehmen, dabei so gut erhalten, daß Fremde nicht genug erstaunen können, wenn sie in Seiner Herrlichkeit Gesicht verborgene Falten und in seinen Augen Krähenfüße entdecken, oder zum erstenmal sternchenland.com die Bemerkung machen, daß sein Gang etwas unsicher sei. Wenn aber Vetter Feenix um halb acht Uhr oder so aufsteht, ist er etwas ganz anderes, als der aufgestandene Feenix, und er hat in der Tat ein sehr trübes Aussehen, solange er noch in Longs Hotel zu Bond-Street rasiert wird.

Mr. Dombey verläßt sein Ankleidezimmer unter einem allgemeinen Zurückweichen des Frauenpersonals von der Treppe, das sich mit einem gewaltigen Rauschen der Kleider nach allen Richtungen zerstreut. Nur Mrs. Perch, die sich wie gewöhnlich in einer interessanten Lage befindet, ist nicht so fix, sondern muß ihm entgegentreten und ist in ihrer Verwirrung bereit, vor lauter Knixen in die Erde zu sinken – möge der Himmel alle übeln Folgen von dem Hause Perch abwehren! Mr. Dombey begibt sich nach dem Besuchszimmer hinauf, um zu warten, bis seine Zeit gekommen ist. Wie prächtig ist nicht sein neuer blauer Frack, die rehfarbene Beinbekleidung und die lila Weste Auch verbreitet sich ein Geflüster durch das Haus, daß Mr. Dombeys Haar gekräuselt sei.

Ein Doppelschlag meldet die Ankunft des Majors, der sich gleichfalls prachtvoll herausgeputzt hat und einen ganzen Geraniumstock in seinem Knopfloch trägt. Auch sein Haar ist schön gekräuselt, und der Eingeborene weiß davon zu erzählen.

»Dombey«, sagt der Major, indem er seine beiden Hände ausstreckt, »wie geht es Euch?«

»Major«, versetzt Mr. Dombey, »wie befindet Ihr Euch

»Beim Herkules, Sir«, sagt der Major, »Joey B. ist diesen Morgen in einer Stimmung«, – und er klopft sich dabei hart auf die Brust – »diesen Morgen in einer Stimmung, Sir, daß er, soll ihn der Teufel holen, Dombey, halb Lust hat, zu einer Doppelheirat die Hand zu bieten, Sir, und die Mutter zu nehmen.«

Mr. Dombey lächelt, aber nur leicht; denn er fühlt, daß die Mutter zu seiner Verwandtschaft gehören wird und daß er unter solchen Umständen keinen Scherz verstehe.

»Dombey«, sagt der Major, der das bemerkt, »ich wünsche Euch Glück. Ich gratuliere Euch, Dombey. Beim Himmel, Sir«, fügte er bei, »Ihr seid heute mehr zu beneiden als irgendein Mann in England.«

Auch hier ist Mr. Dombeys Beifall nur bedingt; denn es handelt sich bei ihm darum, einer Dame eine große Auszeichnung zuteil werden zu lassen, weshalb ohne Zweifel sie am meisten zu beneiden ist.

»Was Edith Granger betrifft, Sir«, fährt der Major fort, »so gibt es in ganz Europa kein Mädchen, das nicht seine Ohren und seine Ohrenringe dazu hergeben möchte, – erlaubt Bagstock beizufügen, Sir: und sie auch hergeben würde – um an Edith Grangers Stelle zu sein.«

»Ihr seid sehr gütig«, sagt Mr. Dombey.

»Dombey«, erwidert der Major, »Ihr wißt es selbst. Wozu auch eine falsche Bescheidenheit! Ihr wißt es. Wißt Ihr es oder wißt Ihr es nicht?« sagte der Major fast in Leidenschaft.

»O, in der Tat, Major–«

»Gott verdamm mich, Sir«, entgegnet der Major, »wißt Ihr diese Tatsache oder wißt Ihr sie nicht? Dombey, ist der alte Joe Euer Freund? Stehen wir auf jenem Fuß rückhaltloser Vertraulichkeit, Dombey, der einen Mann, wie den derben alten Joseph B., rechtfertigt, Sir, sich offen auszusprechen? Oder muß ich das für eine Weisung annehmen, Dombey, den Abstand zu berücksichtigen und zeremoniös zu werden?«

»Mein lieber Major Bagstock«, sagt Mr. Dombey geschmeichelt, »Ihr werdet ja ganz warm.«

»Bei Gott, Sir«, versetzt der Major, »ich bin warm. Joseph B. stellt es nicht in Abrede, Dombey. Er ist warm. Es handelt sich ja um eine Gelegenheit, Sir, die alle ehrenhaften Sympathien, welche etwa noch in dem Gerippe des alten, höllischen, zerbeulten, aufgebrauchten, invaliden J.B. zurückgeblieben sind, in Tätigkeit ruft. Ich muß Euch etwas sagen, Dombey, – zu einer solchen Zeit muß der Mann mit dem herausplatzen, was er fühlt, oder einen Maulkorb anlegen, und Joseph Bagstock erklärt es Euch ins Gesicht, wie er es auch hinter Eurem Rücken in seinem Klub tut, daß er sich nie einen Maulkorb anlegen lassen will, wenn Paul Dombey in Frage kommt. Gott verdamm mich, Sir«, schließt der Major mit großer Festigkeit, »was habt Ihr darauf zu erwidern?«

»Major«, sagt Mr. Dombey, »ich versichere Euch, daß ich mich Euch in der Tat zu Dank verpflichtet fühle. Es fiel mir nicht ein, Eurer allzu parteiischen Freundschaft Einhalt zu tun.«

»Nicht allzu parteiisch, Sir!« ruft der cholerische Major. »Dombey, ich stelle das in Abrede!«

»So will ich sagen, Eurer Freundschaft zu mir«, fährt Mr. Dombey fort. »Auch kann ich bei einem Anlaß wie der gegenwärtige nicht vergessen, Major, wie sehr ich Euch verpflichtet bin.«

»Dombey«, sagt der Major mit einer entsprechenden Gebärde, »dies ist die Hand des Joseph Bagstock – des einfachen alten Joey B., Sir, wenn Ihr lieber so wollt. Dies ist die Hand, von der Seine Königliche Hoheit der verstorbene Herzog von York gegen Seine Königliche Hoheit den verstorbenen Herzog von Kent zu bemerken mir die Ehre erwies, daß es die Hand Joeys sei, eines rauhen, zähen, alten Vagabunden. Dombey, möge der gegenwärtige Augenblick der am wenigsten unglückliche in unserm Leben sein. Gottes Segen über Euch!«

Jetzt tritt Mr. Carker ein, der gleichfalls prächtig gekleidet ist und in der Tat wie ein Hochzeitsgast lächelt. Er ist so reich an Glückwünschen, daß er kaum Mr. Dombeys Hand loslassen kann. Dabei schüttelt er dem Major die Hand so herzlich, daß auch seine Stimme im Einklang mit den Armen beweglich wird, während sie sich durch die Zähne hindurch ihre Bahn bricht.

»Sogar der Tag deutet auf Glück«, sagt Mr. Carker. »Das heiterste, lieblichste Wetter! Hoffentlich komme ich doch nicht zu spät?«

»Ihr seid durchaus pünktlich, Sir«, bemerkt der Major.

»Das freut mich in der Tat«, sagt Mr. Carker. »Ich fürchtete, ich möchte mich um einige Sekunden über die bestimmte Zeit verspätet haben; denn ich wurde durch einen Zug von Frachtwagen aufgehalten. Ich nahm mir die Freiheit, nach Brook-Street zu reiten« – dies zu Mr. Dombey – »und ein paar kleine Seltenheiten von Blumen für Mrs. Dombey dort zurückzulassen. Ein Mann in meiner Stellung, der durch eine solche Einladung ausgezeichnet wird, rechnet es sich zur hohen Ehre an, in Anerkennung seiner Lehenspflichtigkeit eine Huldigung darzubringen. Da ich natürlich nicht zweifle, Mrs. Dombey sei schon mit allem Kostbaren und Prächtigen überschüttet worden« – er begleitet diese Worte mit einem seltsamen Blick auf seinen Chef – »so hoffe ich, daß deshalb auch meine arme Gabe Gnade finden wird.«

»Ich bin überzeugt«, erwidert Mr. Dombey herablassend, »daß die künftige Mrs. Dombey Eure Aufmerksamkeit zu schätzen wissen wird.«

»Und wenn sie noch heute morgen Mrs. Dombey sein soll, Sir«, sagt der Major, seine Kaffeetasse niedersetzend und auf seine Uhr sehend, »so ist es hohe Zeit, daß wir uns auf den Weg machen.«

Mr. Dombey, Major Bagstock und Mr. Carker fahren in einer Equipage nach der Kirche. Mr. Sownds, der Kirchendiener, hat sich längst von der Treppe erhoben und wartet mit dem Eckenhut in der Hand. Mrs. Miff knixt und bietet Stühle in der Sakristei an. Mr. Dombey zieht es vor, in der Kirche zu bleiben. Als er nach der Orgel hinaufblickt, verbirgt sich Miß Tox auf der Emporkirche hinter dem fetten Bein eines Cherubs, der Backen hat wie ein junger Wind. Kapitän Cuttle dagegen steht auf und schwenkt seinen Haken zum Zeichen des Willkomms und der Ermutigung. Mr. Toots teilt dem Preishahn hinter der vorgehaltenen Hand mit, daß der mittlere Gentleman, der in den rehfarbenen Hosen, der Vater des Gegenstands seiner Liebe sei. Der Preishahn flüstert darauf Mr. Toots in heiseren Lauten zu, er sei ein so steifer Kunde, wie er nur je einen gesehen habe, aber es liege in der Macht der Wissenschaft, ihn gelenkig zu machen, und man bedürfe hierzu nur eines einzigen Schlages in die Magengegend.

Mr. Sownds und Mrs. Miff besehen sich Mr. Dombey aus einiger Entfernung, als sich auf einmal das Getöse rasselnder Räder vernehmen läßt und Mr. Sownds hinausgeht. Mr. Dombey wendet eben seinen Blick von dem anmaßenden Tollhäusler auf der Emporkirche ab, der ihn mit so viel Leutseligkeit begrüßt, und begegnet dabei dem der Mrs. Miff, die ihm einen Knix macht und die Bemerkung beifügt, sie glaube, daß seine »gute Dame« komme. Dann gibt es ein Gedränge und ein Flüstern in der Nähe der Tür, worauf die gute Dame mit stolzen Schritten eintritt.

Auf ihrem Gesicht zeigt sich keine Spur von den Leiden der letzten Nacht. Man bemerkt in ihrem Wesen nichts von dem knienden Weibe, das in schönem Selbstvergessen das verwirrte Haupt niedergelegt hat auf das Kissen des schlafenden Mädchens. Jenes sternchenland.com sternchenland.com Mädchen, so sanft und lieblich, geht an ihrer Seite – ein auffallender Gegensatz zu ihrer eigenen trotzigen Gestalt, wie sie dasteht, ruhig, aufrecht, und unergründlich in ihren Gefühlen, prächtig und majestätisch in der höchsten Blüte ihrer Reize, aber doch die Bewunderung, zu der sie Anlaß gibt, abweisend und unter die Füße tretend.

Eine Pause tritt ein, während der Mr. Sownds, der Kirchendiener, in die Sakristei schlüpft, um den Geistlichen und den Küster zu holen. Mrs. Skewton redet Mr. Dombey an – bestimmter und nachdrücklicher, als es ihre Gewohnheit ist. Dabei tritt sie dicht an Ediths Seite.

»Mein teurer Dombey«, sagte die gute Mama, »ich fürchte, ich muß am Ende doch auf die liebe Florence verzichten und sie nach Haus gehen lassen, wie sie es selbst vorgeschlagen hat. Nach dem Verlust, der mich heute betrifft, mein lieber Dombey, fühle ich meinen Geist so gedrückt, daß mir vielleicht auch ihre Gesellschaft zuviel wird.«

»Wäre es nicht besser, wenn sie bei Euch bliebe?« versetzt der Bräutigam.

»Ich glaube nicht, mein teurer Dombey. Nein, ich glaube nicht. Es wird besser sein, wenn ich allein bin. Außerdem ist nach Eurer Rückkehr meine liebe Edith ihre natürliche und beständige Schützerin; deshalb will ich ihr in keiner Weise vorgreifen. Sie könnte eifersüchtig werden – meinst du nicht, meine liebe Edith?«

Die zärtliche Mama drückt bei diesen Worten den Arm ihrer Tochter, vielleicht um sich ihre Aufmerksamkeit zu erbitten.

»Im Ernst, mein teurer Dombey«, sagt sie weiter, »ich will unser liebes Kind nach Haus lassen und es nicht mit meiner Schwermut behelligen. Wir haben uns hierüber ganz verständigt. Sie sieht es vollkommen ein, mein teurer Dombey. Edith, meine Liebe – sie sieht es vollkommen ein.«

Abermals drückt die gute Mutter den Arm ihrer Tochter. Mr. Dombey macht keine weitere Gegenvorstellung; denn der Geistliche erscheint mit dem Küster, und Mrs. Miff weist unter dem Beistande des Kirchendieners, Mr. Sownds, der Gesellschaft die geeigneten Plätze vor dem Altargeländer an.

»Wer vergibt diese Frau, daß sie mit diesem Manne vermählt werde?«

Vetter Feenix tut das. Er ist deshalb ausdrücklich von Baden-Baden hergekommen. »Zum Henker«, sagte Vetter Feenix; ein herrlicher Mann, dieser Vetter Feenix – »wenn wir einen reichen City-Burschen in die Familie kriegen, so müssen wir ihm einige Aufmerksamkeit zeigen. Wir müssen etwas für ihn tun.«

»Ich vergebe diese Frau, damit sie mit diesem Manne vermählt werde«, sagt demgemäß Vetter Feenix.

Vetter Feenix, der geradeaus gehen will, aber vermöge seiner eigensinnigen Beine ein wenig seitab gerät, vergibt anfangs die unrechte Frau, damit sie mit diesem Manne vermählt werde, nämlich eine Brautjungfer von Stand, entfernt mit der Familie verwandt sternchenland.com und etwa zehn Jahre jünger als Mrs. Skewton. Aber Mrs. Miff, die das zerbeulte Hütchen dazwischen steckt, zieht ihn gewandt zurück und läßt ihn voll auf die »gute Dame« loslaufen, die nun Vetter Feenix vergibt, damit sie mit diesem Manne vermählt werde.

»Und wollen Sie im Angesicht des Himmels –?«

Ja, sie wollen. Mr. Dombey erklärt, er wolle. Und was sagt Edith? Auch sie will.

So verpflichten sie sich von Stunde an zu gegenseitiger Treue – sich zu lieben und zu tragen in Glück und Unglück, in Reichtum und Armut, in kranken und gesunden Tagen. Sie sind vermählt.

Mit fester, freier Hand zeichnet die Braut ihren Namen in das Kirchenregister ein, das in der Sakristei aufgeschlagen ist.

»Es kommen nicht viele Damen her«, sagt Mrs. Miff mit einem Knix – denn wenn man sie zu solchen Zeiten ansieht, so geht es stets mit ihrem zerbeulten Hütchen auf und nieder – »die ihre Namen schreiben wie diese gute Dame!«

Mr. Sownds, der Kirchendiener, meint, es sei eine wahrhafte Kern-Unterschrift, die der Schreiberin Ehre mache – dies jedoch nur zwischen ihm und seinem Gewissen.

Auch Florence unterzeichnet, findet aber keinen Beifall; denn ihre Hand zittert. Alle Zeugen unterschreiben – Vetter Feenix zuletzt, obschon er seinen edlen Namen an den unrechten Platz setzt und sich selbst unter diejenigen einreiht, die an jenem Morgen geboren wurden.

Der Major küßt nun die Braut in höchst galanter Weise und dehnt diesen Zweig militärischer Taktik auf alle Damen aus, obschon der Mrs. Skewton nur sehr schwer beizukommen ist und sie in dem heiligen Gebäude ein schrilles Quieken erschallen läßt. Vetter Feenix und sogar Mr. Dombey folgen diesem Beispiel. Endlich naht sich auch Mr. Carker mit seinen glänzenden weißen Zähnen der Braut, wie es scheint eher in der Absicht, sie zu beißen, als um die Süßigkeiten zu kosten, die ihre Lippen umschweben.

Auf ihren stolzen Wangen und in dem Blitzen ihrer Augen zeigt sich eine Glut, die vielleicht den Zweck hat, ihn zurückzuhalten. Das nutzt aber nichts; denn er küßt sie, wie die übrigen es getan haben, und wünscht ihr alles Glück.

»Wenn bei einem Bund, wie der gegenwärtige, Wünsche nicht etwa überflüssig sind«, fügt er mit gedämpfter Stimme bei.

»Ich danke Euch, Sir«, antwortet sie mit aufgeworfener Lippe und klopfendem Busen.

Aber fühlt Edith noch wie an dem Abend, als sie erfuhr, Mr. Dombey werde zurückkehren, um ihr seine Hand anzubieten, daß Carker sie durchaus kennt, daß er in ihrer Seele gelesen hat und daß sie hierdurch mehr herabgewürdigt wird als durch irgend etwas anderes? Ist dies der Grund, warum ihr Stolz unter seinem Lächeln zusammenschmilzt gleich dem Schnee in der ihn zerdrückenden Hand? Läßt sie deshalb ihren gebieterischen Blick sinken, um den Boden zu suchen, wenn er dem seinigen begegnet?

»Ich bin stolz darauf«, sagt Mr. Carker mit einer unterwürfigen sternchenland.com Beugung seines Halses, welche die Offenbarung, die in seinen Augen und Zähnen zu lesen ist, Lügen straft, »ich bin stolz darauf, zu sehen, daß meine geringe Gabe von Mrs. Dombeys Hand gnädig aufgenommen wurde und bei diesem frohen Anlaß einen so begünstigten Platz einnehmen durfte.« Obschon sie als Erwiderung den Kopf verneigt, liegt doch etwas in der augenblicklichen Bewegung ihrer Hand, das andeutet, als wolle sie die Blumen, die sie hält, zerdrücken und mit Verachtung auf den Boden werfen. Sie legt indessen diese Hand in den Arm ihres neuen Gatten, der in der Nähe sich mit dem Major bespricht, und ist wieder stolz, stumm und regungslos.

Die Wagen stehen vor der Kirchentür. Mr. Dombey führt seine Braut durch die zwanzig Familien kleiner Damen, die sich auf der Treppe aufgestellt haben, und von denen jede sich den Schnitt und die Farbe der Kleidung im einzelnen genau merkt, daß sie diese an ihrer Puppe nachzubilden vermag, die gleichfalls den ewigen Bund der Treue eingehen muß. Kleopatra und Feenix steigen in den nämlichen Wagen. Der Major hilft Florence und der Brautjungfer, die aus Irrtum beinahe selbst vergeben worden wäre, in den zweiten, um dann selbst mit Mr. Carker nachzufolgen. Die Pferde stampfen und legen aus. Kutscher und Lakaien prunken in flatternden Schleifen, Blumen und neuen Livreen. Rasselnd geht es durch die Straßen, und tausend Köpfe drehen sich zum Nachsehen, während tausend nüchterne Moralisten sich für den Umstand, daß sie nicht auch an jenem Morgen vermählt wurden, durch die Betrachtung rächen, wie wenig die Leute daran denken, daß ein solches Glück nicht ewig währen kann.

Sobald alles ruhig ist, schlüpft Miß Tox hinter dem Cherubim hervor und kommt langsam von der Galerie herunter. Ihre Augen sind rot, und ihr feuchtes Taschentuch deutet auf Tränen. Sie fühlt sich tief verwundet, ist aber nicht bitter und hofft, das Paar möge glücklich sein. Sie gesteht sich ein, wie schwach ihre eigenen verblichenen Reize der Schönheit der Braut gegenüber sind. Aber auch das stattliche Bild des Mr. Dombey in der lila Weste und den rehfarbenen Beinkleidern vergegenwärtigt sie sich in ihrem Geiste, und sie weint aufs neue hinter ihrem Schleier auf dem ganzen Wege nach dem Prinzessinnenplatz. Kapitän Cuttle, der in alle Responsorien und Amen mit andächtigem Brummen eingestimmt hat, fühlt sich durch seine religiösen Übungen sehr gehoben und geht in friedevoller Geistesstimmung, den Glanzhut in der Hand, nach dem Kirchenschiff hinunter, wo er das Täfelchen zum Andenken des kleinen Paul liest. Der galante Mr. Toots verläßt, von dem getreuen Preishahn begleitet, das Gebäude in einer wahren Liebesfolter. Der Preishahn ist bis jetzt noch nicht imstande gewesen, einen Plan auszudenken, um Florence zu gewinnen; aber die erste Idee haftet in ihm fest, und er meint, wenn man durch einen tüchtigen Schlag vor den Magen Mr. Dombey gelenkiger mache, so wäre das ein Vorgehen in geeigneter Richtung. Mr Dombeys Mägde kommen sternchenland.com aus ihren Verstecken hervor und schicken sich an, im Sturmschritt nach Brook-Street zu eilen, werden aber durch Symptome von Übelkeit seitens Mrs. Perch aufgehalten, die um ein Glas Wasser bittet und ihre Begleiterinnen in großen Schrecken versetzt. Mrs. Perch befindet sich indessen bald wieder besser und wird mit fortgedrängt, während Mrs. Miff mit Mr. Sownds, dem Kirchendiener, auf der Treppe niedersitzt, um von ihrem heutigen Erwerb zu sprechen, und der Küster die Glocke zu einem Leichenbegängnis anzieht.

Die Wagen langen vor der Wohnung der Braut an, die Glockenmänner beginnen ihr Spiel, die Blechmusikbande fällt ein, und Mr. Polichinell, dieses Urbild ehelichen Glückes, küßt sein Weib. Die Leute laufen, schieben und drücken sich in gaffendem Gedränge, während Mr. Dombey, die Braut an der Hand führend, mit feierlichen Schritten auf die Feenixhallen zuschreitet. Jetzt steigen die übrigen Hochzeitsgäste aus und begeben sich hinter dem Brautpaar in das Gebäude. Warum denkt wohl Mr. Carker, während er durch den Volkshaufen nach der Hallentür sich Bahn bricht, an das alte Weib, das ihm an jenem Morgen unter den Bäumen nachgerufen hat? Oder warum erinnert sich Florence beim Eintreten in das Haus mit Zittern der Zeit, in der sie als Kind irreging, und warum vergegenwärtigt sich ihr das Gesicht der guten Mrs. Brown?

An diesem glücklichsten der Tage gibt es noch mehr Glückwünsche und Grüße, obschon im ganzen nicht viel. Sie verlassen jetzt das Besuchszimmer und verteilen sich an dem Tisch in dem dunkelbraunen Speisesaal, den kein Konditor aufheitern kann, mag er auch die beiden erschöpften Neger mit so vielen Blumen und Liebesschleifen verzieren, wie er will.

Gleichwohl hat der Pastetenbäcker seine Pflicht erfüllt wie ein Mann, und ein reiches Frühstück steht bereit. Unter andern haben sich auch Mr. und Mrs. Chick der Gesellschaft angeschlossen. Mrs. Chick drückt ihr Erstaunen aus, daß Edith schon von Natur eine so vollkommene Dombey ist, und benimmt sich mit redseliger Vertraulichkeit gegen Mrs. Skewton, die eine schwere Last von ihrem Herzen gewälzt sieht und bei dem Champagner nicht zu kurz kommen will. Der sehr lange junge Mann, der am Morgen mit seiner Erbauung so viel zu schaffen hatte, befindet sich wohler. Aber ein unbestimmtes Gefühl von Reue hat sich seiner bemächtigt, und er haßt den andern sehr langen jungen Mann, dem er mit Gewalt seine Schüsseln entreißt, wie er denn überhaupt eine grimmige Lust daran zu hoben scheint, der Gesellschaft sich in keiner Weise verbindlich zu zeigen. Die Gesellschaft selbst ist kalt und ruhig, ohne es sich einfallen zu lassen, die auf sie niederschauenden schwarzen Wappenbilder durch irgendein Übermaß von Heiterkeit zu beleidigen. Vetter Feenix und der Major sind die lebhaftesten. Aber Mr. Carker hat ein Lächeln für den ganzen Tisch – ein besonders eigentümliches Lächeln für die Braut, obschon diese nur sehr, sehr selten darauf achtet.

Nachdem die Gesellschaft das Frühstück eingenommen und die Dienerschaft den Speisesaal verlassen hat, erhebt sich Vetter Feenix. sternchenland.com Wie wunderbar jung er aussieht in den weißen Manschetten, die seine sonst etwas knöchernen Hände fast ganz bedecken, und in der Glut des Champagners auf seinen Wangen!

»Auf Ehre«, sagt Vetter Feenix, »obschon dies etwas Ungewöhnliches in dem Privathause eines Gentleman ist, muß ich doch um die Erlaubnis bitten, euch zu einem Bescheid auf das aufzufordern, was man gemeinhin einen Toast nennt.«

Der Major gibt mit sehr heiserer Stimme seinen Beifall zu erkennen. Mr. Carker, der in der Richtung des Vetter Feenix seinen Kopf über den Tisch vorbeugt, lächelt und nickt zu öfteren Malen.

»Ist es – in der Tat, ist es nicht –« beginnt Vetter Feenix abermals, ohne weiter fortfahren zu können.

»Hört, hört!« ruft der Major im Tone der Überzeugung.

Mr. Carker drückt sanft seine Hände zusammen, beugt sich wieder über den Tisch vor und lächelt und nickt noch öfter als zuvor, wie wenn er durch die letzte Bemerkung besonders angeregt worden sei und den wohltuenden Eindruck kundzugeben wünsche, den er davon gehabt.

»Es ist in der Tat ein Anlaß«, sagt Vetter Feenix, »bei dem man ohne Ungebühr von dem gewöhnlichen Brauch abgehen kann, und obschon ich in meinem Leben nie ein Redner war, und ich während meines Sitzes im Unterhaus die Ehre hatte, die Adresse zu unterstützen, die dann in der Überzeugung des Fehlschlagens auf zwei Wochen vertagt wurde –«

Der Major und Mr. Carker sind über dieses Bruchstück von Privatgeschichte so entzückt, daß Vetter Feenix lacht und ausdrücklich gegen sie fortfährt:

»In Wahrheit, es ging mir verteufelt schlecht dabei – gleichwohl könnt Ihr Euch denken, daß ich wohl fühle, welche Pflicht mir obliegt. Und wenn ein Engländer eine Pflicht zu erfüllen hat, muß er, wie ich meine, diese erfüllen, so gut er kann. Wohlan, unserer Familie wird heute die Freude, sich in der Person meiner liebenswürdigen und begabten Verwandten, die ich in der Tat hier gegenwärtig sehe –«

Allgemeiner Beifall.

»Gegenwärtig sehe«, wiederholte Vetter Feenix, der fühlt, daß es sich hier um einen Glanzpunkt handelt, der wohl eine Wiederholung vertragen kann – »mit einem Mann zu verbinden, auf dem nie der Finger der Verachtung – in der Tat, mit meinem ehrenwerten Freund Dombey, wenn er mir erlauben will, ihn so zu nennen.«

Vetter Feenix verbeugt sich gegen Mr. Dombey, der mit großer Feierlichkeit das gleiche tut. Jedermann fühlt sich mehr oder weniger freudig angeregt von dieser außerordentlichen, vielleicht beispiellosen Ansprache an das Herz.

»Ich habe nicht so viele Gelegenheit gehabt, als ich wohl wünschen möchte«, fuhr Vetter Feenix fort, »die Bekanntschaft meines Freundes Dombey zu pflegen und die Eigenschaften kennenzulernen, die seinem Kopf und in der Tat auch seinem Herzen so große Ehre machen; denn unglücklicherweise mußte es sich treffen, daß ich, wie sternchenland.com wir zu meiner Zeit im Unterhause zu sagen pflegten – denn damals spielte man noch nicht auf die Lords an, und in den parlamentarischen Verhandlungen wurde die Ordnung weit besser gewahrt, als heutzutage – an – in Wahrheit –« fügt Vetter Feenix bei, der seinen Spaß sehr zu lieben scheint und zuletzt unter einem Anlauf mit ihm herausrückt – »›an einem anderen Platze‹ war.«

Der Major gerät in Zuckungen, aus denen er nur mit Mühe sich wieder aufrafft.

»Aber ich kenne meinen Freund Dombey hinreichend«, sagt Vetter Feenix in ernsterem Ton, als sei er plötzlich ein ganz anderer, weiserer Mann geworden, »um zu wissen, daß er in Wahrheit ist, was man bedeutungsvoll einen Kaufmann – einen britischen Kaufmann – und einen – einen Mann nennt. Und obschon ich seit einigen Jahren mich im Ausland aufhalte – es würde mir das größte Vergnügen bereiten, wenn ich meinen Freund Dombey oder jeden der anwesenden Gäste in Baden-Baden begrüßen und ihn bei dieser Gelegenheit mit dem Großherzog bekannt machen könnte – so darf ich mir doch schmeicheln, daß ich meine liebliche und begabte Verwandte zureichend kenne, um überzeugt zu sein, sie besitze jedes Erfordernis, das einen Mann zu beglücken imstande ist, und ihre Verbindung mit meinem Freund Dombey sei aus gegenseitiger Neigung hervorgegangen.«

Mr. Carker lächelt und nickt sehr viel.

»Deshalb gratuliere ich der Familie, deren Mitglied ich bin«, fährt Vetter Feenix fort, »zu der Erwerbung meines Freundes Dombey. Ich gratuliere meinem Freund Dombey zu seiner Verbindung mit meiner liebenswürdigen und begabten Verwandten, die jedes Erfordernis besitzt, um einen Mann glücklich zu machen; und ich nehme mir die Freiheit, alle Anwesenden aufzufordern, daß sie sich den Glückwünschen anschließen, die ich bei dem gegenwärtigen Anlaß meinem Freund Dombey und meiner liebenswürdigen, begabten Verwandten darbringe.«

Die Rede des Vetter Feenix wird mit großem Beifall aufgenommen, und Mr. Dombey dankt darauf in seinem und Mrs. Dombeys Namen. J.B. bringt unmittelbar nachher einen Trinkspruch auf Mrs. Skewton aus. Dann wird das Frühstück wieder langweilig, die beleidigten Wappenbilder erhalten ihre Sühne, und Edith erhebt sich, um sich in ihr Reisekostüm zu werfen.

Mittlerweile haben sämtliche Dienstboten unten ihr Mahl eingenommen. Der Champagner ist unter ihnen etwas zu Gemeines geworden, als daß er sich nur der Rede verlohnte, und gebackene Hühner, hohe Pasteten und Hummernsalat stehen nur noch im Lichte von Hausmannskost. Der sehr lange junge Mann hat sich wieder aufgefrischt und beginnt abermals auf Erbauung anzuspielen, während das Auge seines Kameraden mit dem seinen zu wetteifern anfängt, da es gleichfalls die Gegenstände anstiert, ohne sie zu erkennen. Auf den Gesichtern der Damen zeigt sich ein allgemeines Rot, namentlich auf dem der Mrs. Perch, die vor Lust ganz strahlend wird und sich sternchenland.com so weit über die Sorge des Lebens erhoben fühlt, daß sie wohl Schwierigkeit haben dürfte, auf Befragen irgendeinem verirrten Wanderer den Weg nach Balls Pond, wo sie ihre Sorgen zurückgelassen, anzudeuten. – Mr. Towlinson hat einen Toast auf das glückliche Paar ausgebracht und der silberhaarige Kellermeister mit viel Zierlichkeit und Empfindung darauf geantwortet, denn die Hälfte der Anwesenden beginnt zu glauben, er sei wirklich ein alter Familiendiener, dem die Verpflichtung obliegt, durch solche Wechsel sich sehr ergriffen zu fühlen. Sämtliche Teilnehmer an dem Frühstück, namentlich die Damen, zeigen eine ausgelassene Fröhlichkeit. Mr. Dombeys Köchin, die in der Gesellschaft das große Wort zu führen pflegt, hält es für unmöglich, nach einem solchen Morgen gleich wieder ins alte Geleise einzufahren; warum also nicht lieber gemeinschaftlich das Theater besuchen?

Alles – selbst Mrs. Perch mit inbegriffen – zollt diesem Vorschlag Beifall, namentlich der Eingeborene, der wie ein Tiger getrunken hat und die Damen (Mrs. Perch insbesondere) durch das Rollen seiner Augen in Schrecken setzt. Einer der sehr langen jungen Männer hat sogar den Antrag gestellt, daß man nach dem Schauspiel einen Ball halten sollte – ein Gedanke, der niemand (nicht einmal Mrs. Perch) im Lichte der Unmöglichkeit erscheint. Zwischen der Hausmagd und Mr. Towlinson ist es zu einem Wortwechsel gekommen; denn sie behauptet die Wahrheit des alten Sprichworts, daß die Ehen im Himmel beschlossen werden, während er meint, der Handel gehe anderswo vor, und sie spreche nur so, weil sie selbst unter die Haube kommen möchte. Dagegen verwahrt sie sich mit der Erklärung, Gott möge jedenfalls verhüten, daß sie nicht etwa mit ihm den Bund schließen müsse. Um diese Hohnreden zu beschwichtigen, erhebt sich der silberhaarige Kellermeister, um die Gesundheit Mr. Towlinsons auszubringen, den man nur zu kennen brauche, um ihn zu achten; und wer ihn achte, müsse wünschen, daß er im Leben ein gutes Auskommen habe mit dem Gegenstand seiner Wahl, gleichviel – dabei haften seine Augen auf der Hausmagd – woher er auch denselben holen möge.

Mr. Towlinson bedankt sich darauf in einer sehr gefühlvollen Rede und geht sodann auf die Ausländer über, die, wie er meint, bisweilen bei schwachen, flatterhaften Köpfen in Gunst kämen. Er hoffe aber nur, er möge nie etwas von solchen Ausländern hören, die einen Reisewagen ausgemaust hätten. Dabei wird Mr. Towlinsons Auge so streng und ausdrucksvoll, daß die Hausmagd in Krämpfe verfällt, sich aber bald wieder erholt und mit allen übrigen die Treppe hinaufeilt, weil sich die Kunde verbreitet, daß die Braut abreise.

Der Wagen steht an der Tür, und die Braut kommt nach der Halle herunter, wo Mr. Dombey sie erwartet. Florence steht auf der Treppe, um gleichfalls aufzubrechen, während Miß Nipper in einem Putze, der die Mitte hält zwischen der Küche und dem Besuchzimmer, alle Vorbereitung getroffen hat, sie zu begleiten. Wie Edith erscheint, eilt Florence auf sie zu, um von ihr Abschied zu nehmen.

Friert es Edith, daß sie so zittert? Liegt in Florences Berührung etwas Unnatürliches oder Ansteckendes, daß die schöne Frau zurückweicht und zusammenzuckt, als könne sie das nicht ertragen? Hat sie es so eilig, daß sie nur die Hand schwenkt, vorüberrauscht und hinweg ist?

Von mütterlichen Gefühlen überwältigt, sinkt Mrs. Skewton, sobald das Rasseln des Reisewagens verhallt ist, in einer Kleopatra-Pose auf ihren Sofa und vergießt mehrere Tränen. Der Major kommt mit der übrigen Gesellschaft von der Tafel und versucht sie zu trösten; da sie aber um keinen Preis Trost annehmen will, so verabschiedet er sich. Vetter Feenix und Mr. Carker tun das gleiche. Alle Gäste entfernen sich. Kleopatra, die allein zurückbleibt, fühlt infolge der allzu großen Aufregung einen Schwindelanfall und schläft ein.

Auch im Erdgeschoß herrscht Schwindel. Der sehr lange junge Mann, bei dem die Erbauung so bald wieder zurückgekehrt ist, scheint mit dem Kopf an dem Speisekammertisch angeleimt zu sein und kann ihn nicht loskriegen. Mit Mrs. Perchs Heiterkeit ist ein großer Wechsel vorgegangen, und sie zeigt eine sehr wehmütige Stimmung in bezug auf Mr. Perch, indem sie der Köchin ihre Besorgnisse mitteilt, er hänge nicht mehr mit derselben Liebe an der Heimat, wie in der Zeit, als ihre Familie nur aus neun Gliedern bestand. Mr. Towlinson spürt ein Sausen in seinen Ohren, und es ist ihm, als ob ihm ein Mühlrad im Kopf herumgeht. Die Hausmagd hofft, daß es keine Sünde sein möchte, wenn man jemandem den Tod wünsche.

Was die Zeit angeht, so zeigt sich in den unteren Regionen gleichfalls eine allgemeine Verblendung. Jeder meint, es müsse mindestens schon zehn Uhr abends sein, während es doch nicht einmal drei geschlagen hat. Eine schattenhafte Vorstellung von irgendeiner Bosheit spukt in allen Köpfen, und jeder hält den andern dabei für beteiligt, weshalb es am besten sei, ihm auszuweichen. Niemand hat die Kühnheit, auf den beabsichtigten Theaterbesuch anzuspielen; und wer den Gedanken an den Ball wieder aufgewärmt hätte, wäre von allen übrigen als ein boshafter Tollhäusler angesehen worden.

Zwei Stunden später liegt Mrs. Skewton noch immer in ihrem Schlummer; und in der Küche ist das Schlafen noch nicht vorüber. Die Wappenbilder im Speisesaal schauen wieder auf Krumen, unreine Teller, verschütteten Wein, halbaufgetautes Eis, alte verfärbte Fußspuren, Überreste von Hummern, Schenkelknochen von Geflügel und schwermütige Gelees, die in lauwarme Gummibrühen zerfließen. Die Hochzeit ist inzwischen fast ebenso allen ihren Prunks entkleidet wie das Frühstück. Mr. Dombeys Dienstboten moralisieren so viel darüber und benehmen sich zu Hause bei ihrem Tee so reuig, daß gegen acht Uhr hin allenthalben der tiefste Ernst waltet. Mr. Perch, der um diese Zeit in weißer Weste und mit einem lustigen Liedchen frisch und heiter aus der City kommt, um sich einen fröhlichen Abend zu machen, ist im höchsten Grade erstaunt über die kalte Aufnahme, die ihm zuteil wird, und da sich Mrs. Perch gar übel befindet, so fällt ihm die angenehme Pflicht zu, diese Dame im ersten besten Omnibus nach Hause zu begleiten.

Die Nacht bricht an. Florence, die in dem schönen Haus Zimmer nach Zimmer durchwandelt hat, sucht ihr eigenes Gemach auf, wo sie sich infolge von Ediths Sorgfalt von aller Bequemlichkeit umgeben sieht. Nachdem sie ihr schönes Gewand abgelegt hat, zieht sie das einfache Trauerkleid, das sie seit Pauls Tod getragen, wieder an und setzt sich nieder, um zu lesen, während Diogenes auf dem Boden neben ihr nickt und blinzelt. Aber Florence kann heute nacht nicht lesen. Das Haus kommt ihr fremd und neu vor: auch ist das Echo so laut. In ihrem Herzen lauert ein Schatten; sie fühlt es beschwert, ohne daß sie sich den Grund anzugeben vermag. Sie schließt ihr Buch. Diogenes, der das für ein Signal hält, legt seine Pfote auf ihren Schoß und reibt seine Ohren gegen ihre liebkosenden Hände. Aber Florence kann ihn für eine Weile nicht deutlich sehen; denn es liegt zwischen ihren Augen und ihm ein Nebel, in dem ihr toter Bruder und ihre gestorbene Mutter wie Engel auftauchen. Ach Walter – der arme, unstete, schiffbrüchige Knabe – ach, wo ist er!

Soviel ist gewiß, daß es der Major nicht weiß, und daß er sich auch nicht darum kümmert. Nachdem er den ganzen Nachmittag Erstickungsanfällen ausgesetzt gewesen ist und viel geschlummert hat, nimmt er ein spätes Diner in seinem Klub ein und sitzt jetzt bei seinem Glase Wein, um einen jungen Mann von frischer Gesichtsfarbe am nächsten Tisch – wie gerne ließe es sich dieser nicht ein Schönes kosten, wenn es ihm möglich wäre, aufzustehen und sich zu entfernen – mit Anekdoten von Bagstock, Sir, bei Dombeys Hochzeitsfeier und von des alten Joe verteufelt ritterlichem Freund, dem Lord Feenix, zum Wahnsinn zu bringen. Vetter Feenix, der jetzt schon in Longs Hotel und in den Federn sein sollte, befindet sich statt dessen an einem Spieltisch, nach dem ihn seine eigensinnigen Beine, vielleicht gegen seinen Willen, getragen haben.

Die Nacht erfüllt gleich einem Riesen die Kirche vom Pflaster bis zum Dach und übt während der schweigenden Stunde ihre Herrschaft. Das gleiche Zwielicht kommt wieder, um durch die Fenster hereinzuschauen, weicht dem Tag, sieht nach, ob die Nacht sich in den Gewölben verbirgt, folgt ihr, verscheucht sie und nimmt selbst ihren Versteck ein unter den Toten. Die schüchternen Mäuse drängen sich wieder zusammen, wenn die große Tür erknarrt und Mr. Sownds und Mrs. Miff, gleich dem Trauring den ununterbrochenen Kreislauf ihres täglichen Lebens beginnend, hereintreten. Der Eckenhut und das zerbeulte Hütchen stehen wieder während der Stunde der Vermählung im Hintergrund, und abermals nimmt dieser Mann dieses Weib und dieses Weib diesen Mann unter der feierlichen Versicherung:

›Von Stund‘ an fest auszuharren in gegenseitiger Treue – sich zu lieben und zu tragen in Glück und Unglück, in Reichtum und Armut, in kranken und gesunden Tagen, bis der Tod sie scheidet.‹

Dieselben Worte, die Mr. Carker auf seinem Ritte stadteinwärts vor sich hin wiederholt, mit einem Mund, der sich mit Macht in die Breite zieht, während er die saubersten Stellen der Straße auswählt.

Viertes Kapitel.


Viertes Kapitel.

In dem einige weitere erste Anzeichen in betreff des Schauplatzes dieser Abenteuer auftreten.

Obgleich die Geschäftsräume von Dombey und Sohn im Freibann der City von London und in Hörweite der Bow Bells lagen, wenn das Geläute derselben nicht durch den Aufruhr in den Straßen ertränkt wurde, ließen sich doch in einigen der benachbarten Gegenstände Hindeutungen auf eine abenteuerliche und romantische Geschichte wahrnehmen. In einer Entfernung von etlichen hundert Schritten hielten Gog und Magog ihren Hofstaat; die königliche Börse befand sich dicht in der Nähe, und auch die Bank von England mit ihren Gewölben voll Gold und Silber »drunten bei den Toten unter der Erde« war eine großartige Nachbarin. Gleich um die Ecke stand das reiche East India House, angefüllt mit Mustern von kostbaren Stoffen und Steinen, Tigern, Elefanten, Howdahs, Huhkahs, Sonnenschirmen, Palmbäumen, Palankins und prachtvollen Prinzen von brauner Farbe, die mit an den Zehen sehr aufwärts gedrehten Pantoffeln auf Teppichen saßen. Überall in der unmittelbaren Nachbarschaft konnte man Bilder von Schiffen sehen, die in voller Eile nach allen Teilen der Welt segelten – Ausstattungs-Magazine, die bereit waren, jedermann zu bedienen und in einer halben Stunde vollständig auszurüsten; auch fehlte es nicht an kleinen hölzernen Midshipmen in abgetragenen Flottenuniformen, die vor den Ladentüren der Verfertiger nautischer Instrumente Beobachtungen über die Mietkutschen machten.

Der alleinige Herr und Eigentümer eines dieser Abbilder, das man im Vertrauen wohl als das hölzernste hätte bezeichnen können, – es trat nämlich, den rechten Fuß voran, mit ganz unerträglicher Anmut auf das Pflaster heraus, hatte Schuhschnallen und eine Pattenweste, die sich am allerwenigsten mit der menschlichen Vernunft in Einklang bringen ließen, und trug an seinem rechten Auge das anstößigste, unverhältnismäßigste Stück Maschinerie –, alleiniger Herr und Eigentümer dieses Midshipmans, der noch obendrein stolz auf ihn war, war ein ältlicher Gentleman in einer welschen Perücke, der seine Hausmiete, seine Taxen, Steuern und Gebühren schon mehr Jahre bezahlt hatte, als mancher ausgewachsene Midshipman von Fleisch und Blut in seinem Leben zählte, obschon es in der englischen Flotte nicht an Midshipmen fehlt, die ein hübsch grünes Alter auf dem Rücken tragen.

Der Handelsvorrat dieses Gentlemans bestand aus Chronometern, Barometern, Kompassen, Land-, See- und Himmelskarten, Sextanten, Quadranten und Exemplaren von Instrumenten aller Art, die zur Ausarbeitung eines Schiffskurses, zur Führung der Gissung oder zur Verfolgung der Entdeckung eines Schiffes erforderlich sind. Gegenstände von Messing und Glas befanden sich in Schubladen oder auf Gesimsen, deren obere Seite wohl kein Uneingeweihter gefunden, oder deren Nutzen wohl niemand erraten sternchenland.com haben würde; ja wer auch einmal Einsicht davon genommen hatte, konnte sicherlich nie wieder ohne Beistand in ihre Mahagoninester zurückkommen. Alles war in die knappsten Gehäuse eingezwängt in den engsten Ecken angebracht, hinten durch die ungebührlichsten Kissen verschanzt und in den schärfsten Winkeln eingeschraubt, um zu verhindern, daß die philosophische Ruhe nicht durch das Rollen der See gestört werde. Diese außerordentlichen Vorsichtsmaßregeln hatten allenthalben den Zweck der Raumersparnis und der gedrängten Aufbewahrung; auch war in jedem Behälter – mochte dieser nun aus einem einfachen Schalbrett bestehen, wie es bei einigen, oder aus einem Mittelding zwischen einem Eckenhut und einem Sternfisch, wie es bei andern der Fall war (und diese gehörten in Vergleichung mit den übrigen zu den ganz milden und bescheidenen Schachteln) – so viel von der praktischen Schiffsmannskunst eingezwängt, daß sich der Laden, der die allgemeine Ansteckung teilte, fast wie ein knappes, seefertiges Schiff ausnahm, dem es für den Fall eines unerwarteten Vom-Stapel-Gehens nur an gutem Seeraum fehlte, um seinen Weg sicher und nach jeder wüsten Insel in der Welt zu finden.

Aus dieser Liebhaberei fanden viele kleinere Vorfälle in dem häuslichen Leben des Schiffsinstrumentenmachers, der auf seinen kleinen Midshipman so stolz war, Vorschub und Unterstützung. Da er seine Bekanntschaft hauptsächlich unter den Schiffslieferanten usw. hatte, so war sein Tisch stets reichlich mit echtem Schiffszwieback besetzt; auch verrieten die Zungen, Schinken, Speckschwarten und dergleichen einen ganz außerordentlichen Geruch nach Schiffstauen. Ferner zeigten sich auf seiner Tafel große Krüge mit Eingepökeltem, die die Firmen von Schiffsproviantierern aller Art zur Schau trugen; auch wurden die geistigen Getränke in massigen Flaschen ohne Hals aufgetragen. An den Wänden hingen eingerahmte alte Kupferstiche von Schiffen mit alphabetischem Verzeichnis für ihre verschiedenen Geheimnisse; auf dem Zinngeschirr sah man die Tatar-Fregatte unter Segel; ausländische Muscheln, Seegräser und Seemoose zierten den Kaminsims, und das kleine vertäfelte Hinterstübchen war gleich einer Kajüte durch ein Oberlicht erhellt.

Hier wohnte er nun nach Seemannsart allein mit seinem Neffen Walter, einem Knaben von vierzehn Jahren, der eben genug wie ein Midshipman aussah, um der vorherrschenden Idee des Alten zur Unterstützung zu dienen. Hiermit war es übrigens zu Ende, denn Solomon Gills selbst, den man allgemein den alten Sol nannte, hatte durchaus kein seemännisches Aussehen. Abgesehen von der welschen Perücke, die eine so einfache und rauhborstige Perücke war, wie nur je eine getragen wurde, und in der er nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Seeräuber hatte, war er ein langsamer, bedächtiger alter Knabe, mit so roten Augen, als wären sie ein Paar kleine Sonnen, die durch einen Nebel blickten. Eine seltsame Art das, und man konnte dabei auf den Gedanken kommen, er habe sie sich dadurch angeeignet, daß er drei oder vier Tage lang der Reihe sternchenland.com nach durch jedes optische Instrument seines Ladens guckte und dann plötzlich wieder auf die Welt zurück, um nun zu finden, daß sie grün sei. Die einzige Veränderung, die man je an seinem äußeren Menschen wahrnahm, war ein vollständiger kaffeebrauner Anzug von sehr eckigem Schnitt, mit grell blinkenden Knöpfen, und dasselbe Kaffeebraun mit Ausnahme der Unaussprechlichen, die in letzterem Falle aus blassem Nanking bestanden. Er trug einen sehr sorgfältig gefalteten Busenstreifen, eine Brille bester Qualität auf seiner Stirne und einen ungeheuren Chronometer in seiner Uhrtasche – ein Instrument, auf welches er so große Stücke hielt, daß er eher geglaubt hätte, alle Turm- und Taschenuhren der Stadt, ja sogar die Sonne selbst stünden gegen sein Kleinod in Verschwörung, ehe er demselben einen Irrtum zugetraut hätte. So war nun dieser Mann, und war Jahr um Jahr so in der Werkstätte und dem Wohnstübchen hinter dem kleinen Midshipman gewesen; auch pflegte er sich regelmäßig jede Nacht nach einem luftigen Dachstübchen zurückzuziehen, welches so weit entfernt war von den übrigen Hausbewohnern, daß es daselbst oft in grobem Geschütz blies, wenn die Gentlemen von England, die gemächlich weiter unten lebten, nur eine geringe oder gar keine Ahnung von dem Zustande des Wetters hatten.

Es ist ein Herbstabend, ungefähr halb sechs Uhr, da der Leser mit Solomon Gills bekannt wird. Solomon ist eben im Begriffe, seinen unanfechtbaren Chronometer zu Rate zu ziehen. Schon vor einer Stunde oder mehr hat die gewöhnliche tägliche Räumung der City stattgefunden, und die menschliche Flut rollt noch immer gen Westen. Die Straßen haben sich sehr gelichtet, wie Mr. Gills zu sagen pflegt. Die Nacht droht mit Regenwetter. Alle Barometer in dem Laden sind kleinmütig, und auf dem Eckenhut des hölzernen Midshipmans lassen sich bereits Tropfen erkennen.

»Möchte nur wissen, wo Walter ist«, sagte Solomon Gills, nachdem er seine Uhr sorgfältig wieder verwahrt hatte. »Das Essen ist schon eine halbe Stunde bereit und immer noch kein Walter.«

Er drehte sich auf seinem Stuhle hinter dem Werktisch und schaute durch die Instrumente hinter dem Fenster hinaus, um zu sehen, ob sein Neffe nicht über die Straße komme. Nein. Er war nicht unter den auftauchenden Schirmen, und sicherlich durfte er ihn nicht in dem Zeitungsjungen mit der Wachstuchkappe suchen, der sich langsam an dem Messingschild außen weiter arbeitete und die Gelegenheit benutzte, um mit dem Zeigefinger seinen Namen über Mister Gills‘ Namen zu schreiben.

»Wenn ich nicht wüßte, daß er mich zu sehr liebt, um auszureißen und gegen meine Wünsche an Bord eines Schiffs zu gehen, so müßte ich wohl unruhig werden«, sagte Mr. Gills, indem er mit seinen Fingerknöcheln an zwei oder drei Wettergläser klopfte. »Ja, das müßte ich wahrhaftig.«

»Alle drunten, he? Es gibt viel Feuchtigkeit! Nun ja, man hat’s brauchen können.«

»Ich glaube«, fuhr Mr. Gills fort, und blies den Staub von dem Deckelglase eines Kompasses, »du zeigst nicht richtiger und unmittelbarer nach dem hintern Wohnstübchen, als sich der Knabe dahin gezogen fühlt. Und das Wohnstübchen könnte gleichfalls nicht besser liegen. Genau nach Norden. Nicht den zwanzigsten Teil eines Striches Abweichung.«

»Holla, Onkel Sol!«

»Holla! mein Junge!« rief der Instrumentenmacher, indem er sich rasch umwandte. »Wie, du bist wirklich da?«

Ein fröhlich aussehender heiterer Junge, frisch vom Nachhauserennen im Regen – ein hübsches Gesicht, glänzende Augen und krause Haare.

»Nun, Onkel, wie seid Ihr heute den ganzen Tag zurechtgekommen ohne mich? Ist das Essen fertig? Ich bin so hungrig.«

»Was das Zurechtkommen betrifft«, sagte Solomon in gutmütigem Scherze, »so müßt‘ es kurios zugehen, wenn ich das ohne einen solchen jungen Schlingel, wie du bist, nicht weit besser könnte, als mit dir. Na, das Essen ist fertig und wartet schon eine halbe Stunde auf dich. Und was das Hungrigsein anbelangt, so bin ich es auch.«

»Nun, so kommt denn Onkel!« rief der Knabe. »Ein Hurra dem Admiral!«

»Zum Henker mit dem Admiral!« entgegnete Solomon Gills. »Du meinst den Lord-Mayor.«

»Nein, den meine ich nicht«, entgegnete der Junge. »Ein Hurra für den Admiral! Hurra dem Admiral. Vor – wärts!«

Durch dieses Kommandowort sah sich die welsche Perücke und ihr Träger unwiderstehlich nach dem Hinterstübchen gezogen, als ständen beide an der Spitze einer Enterpartie von fünfhundert Mann; auch waren Onkel Sol und sein Neffe bald aufs eifrigste beschäftigt mit einer gebratenen Meersole, der ein appetitliches Beefsteak folgen sollte.

»Der Lord-Mayor, Wally«, sagte Solomon – »für immer! Keine Admiräle mehr. Der Lord-Mayor ist dein Admiral.«

»O, meint Ihr?« versetzte der Knabe, den Kopf schüttelnd. »Nein, der Schwertträger ist mir lieber, als er. Dieser zieht doch bisweilen vom Leder.«

»Und machte eine saubere Figur damit«, erwiderte der Onkel. »Höre mich an, Wally. Höre mich an. Sieh nach dem Kaminsims.«

»Ei, wer hat meinen silbernen Becher dort an den Nagel gehängt?« rief der Knabe.

»Ich«, sagte der Onkel. »Jetzt keine Becher mehr. Wir müssen von heute an aus Gläsern trinken, Walter. Wir sind Geschäftsleute. Wir gehören zu der City. Wir sind heute morgen ins Leben eingetreten.«

»Nun, Onkel«, entgegnete der Knabe, »ich will aus allem trinken, was Ihr haben wollt, solange ich Euch zutrinken kann. Eure Gesundheit, Onkel Sol, und ein Hurra für den –«

»Lord-Mayor«, unterbrach ihn der alte Mann.

»Für den Lord-Mayor, die Sheriffs, den Gemeinderat und seinen ganzen Anhang«, sagte der Knabe. »Mögen sie sich eines langen Lebens erfreuen.«

Der Onkel nickte sehr zufrieden mit dem Kopf.

»Und nun«, sagte er, »laß mich etwas von der Firma hören.«

»O, über die Firma ist nicht viel zu sagen, Onkel«, versetzte der Knabe mit Messer und Gabel spielend. »Es ist eine köstliche Reihe finsterer Geschäftsräume, und in dem Zimmer, in dem ich sitze, befindet sich ein hohes Gitter, eine eiserne Kiste, einige Karten über Schiffe, die aussegeln sollen, ein Kalender, einige Schreibpulte nebst Schemeln, eine Tintenflasche, ein paar Bücher und etliche Schubladen, von denen eine just über meinem Kopf mit Spinnweben angefüllt ist; da steckt denn eine eingeschrumpfte blaue Fliege darin, welche aussieht, als ob sie schon eine Ewigkeit da so hinge.«

»Sonst nichts?« fragte der Onkel.

»Nein, sonst nichts, als ein alter Vogelkäfig – ich möchte nur wissen, wie das dahin gekommen ist – und ein Kohlenkorb.«

»Keine Bankbücher, Wechselbücher, Kassenanweisungen oder sonstige Zeichen von Reichtümern, die Tag für Tag einlaufen?« fragte der alte Sol, aus dem Nebel, der ihn stets zu umschweben schien, bedächtig seinen Neffen anschauend und auf jedes seiner Worte einen salbungsvollen Nachdruck legend.

»O ja, davon gibt es, glaube ich, genug«, entgegnete der Neffe gleichgültig; »aber dergleichen Dinge sind in dem Zimmer des Mr. Carker, des Mr. Morfin oder des Mr. Dombey.«

»Ist Mr. Dombey heute da gewesen?« fragte der Onkel.

»O ja, er lief den ganzen Tag ein und aus.«

»Vermutlich hat er auf dich nicht geachtet?«

»O freilich. Er kam zu meinem Sitze her – wenn er nur nicht so steif und feierlich wäre, Onkel – und sagte: ›Ah, Ihr seid der Sohn von Mr. Gills, dem Schiffsinstrumentenmacher?‹ ›Neffe, Sir‹, versetzte ich. ›Ich sagte Neffe, junger Mensch‹, entgegnete er. Aber ich könnte einen Eid darauf ablegen, Onkel, daß er Sohn sagte.«

»Du hast ihn vermutlich nicht recht verstanden. Das macht aber nichts.«

»Nein, es macht wohl nichts, aber er hätte, sollte ich meinen, nicht nötig gehabt, so scharf zu sein. Etwas Unrechtes war es ja nicht, wenn er den Ausdruck Sohn brauchte. Dann sagte er mir, Ihr hättet wegen meiner mit ihm gesprochen, und er habe mir deshalb Beschäftigung im Hause gegeben; dagegen erwarte er aber auch, daß ich aufmerksam und pünktlich sei. Dann ging er weg. Es kam mir vor, als ob er keinen besonderen Gefallen an mir fand.«

»Du willst vermutlich sagen«, bemerkte der Instrumentenmacher, »daß du keinen besonderen Gefallen an ihm hast.«

»Ei, Onkel«, erwiderte der Knabe lachend, »vielleicht ist es so. Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«

Nachdem die Mahlzeit beendigt war, nahm Solomon eine etwas sternchenland.com ernstere Miene an und blickte von Zeit zu Zeit nach dem heiteren Gesicht des Knaben hin. Das Mahl war aus einem benachbarten Speisehaus herbeigeschafft worden; er räumte das Tischtuch beiseite, zündete eine Kerze an, und stieg in einen kleinen Keller hinunter, während sein Neffe pflichtschuldigst auf der moderigen Treppe stehen blieb und leuchtete. Nachdem der alte Gentleman eine kleine Weile hin und her getastet hatte, kehrte er mit einer sehr altertümlichen von Sand und Staub bedeckten Flasche zurück.

»Ei, Onkel Sol«, sagte der Knabe, »was wollt Ihr? Das ist ja der herrliche Madeira. Wir haben außer dieser hier doch nur noch eine einzige Flasche.«

Onkel Sol nickte mit dem Kopf, um dadurch anzudeuten, daß er wohl wisse, woran er sei. Er zog den Kork unter feierlichem Schweigen, füllte die beiden Gläser und setzte die Flasche nebst einem dritten leeren Glas auf den Tisch.

»Du sollst die andere Flasche trinken, Wally«, sagte er, »wenn du einmal dein Glück gemacht hast – wenn du ein angesehener Mann in einem guten Geschäfte bist – wenn der heutige Anlauf im Leben (wie mein tägliches Gebet zum Himmel lautet) dich einmal in ein schönes ebenes Geleise gebracht hat, mein Kind. Meine Liebe zu dir!«

Etwas von dem Nebel, der den alten Sol umflorte, schien ihm in die Kehle geraten zu sein, denn seine Stimme war heiser geworden. Auch seine Hand zitterte, als er mit seinem Neffen anstieß. Sobald er aber das Weinglas an die Lippen gebracht hatte, leerte er es wie ein Mann und schmatzte hinterher.

»Lieber Onkel«, sagte der Knabe mit erkünstelter Leichtherzigkeit, obschon ihm zu gleicher Zeit Tränen in den Augen standen: »für die Ehre, die Ihr mir angetan habt, et cetera, et cetera. Ich bitte nun um die Erlaubnis, den Toast auszubringen – Herr Solomon Gills hoch – dreimal hoch und noch einmal hoch! Hurra! Und Ihr werdet es erwidern, Onkel, wenn wir die letzte Flasche miteinander trinken – meint Ihr nicht?«

Sie stießen abermals mit den Gläsern an. Walter, der seinen Wein sparte, schlürfte nur davon, und hielt dann das Glas mit einer so kritischen Miene, wie er sie nur annehmen konnte, vor das Auge.

Sein Onkel sah ihm eine Weile schweigend zu, und als ihre Augen sich endlich wieder begegneten, begann er ohne weiteres das Thema, das seine Gedanken beschäftigt hatte, laut fortzuspinnen, als ob er die ganze Zeit über gesprochen hätte.

»Du siehst, Walter«, sagte er, »mein Geschäft ist mir tatsächlich zur bloßen Gewohnheit geworden. Ich habe mich so daran gewöhnt, daß ich kaum mehr leben könnte, wenn ich es aufgeben müßte; aber es gibt nichts zu tun, nichts zu tun. Als jene Uniform noch getragen wurde«, er deutete nach dem kleinen Midshipman hinaus, »damals konnte man sich in der Tat noch ein Vermögen machen und hat es auch gemacht. Aber die Konkurrenz, die Konkurrenz – neue Erfindungen, neue Erfindungen – Abänderungen, Veränderungen – sternchenland.com die Welt ist an mir vorbeigegangen. Ich weiß kaum mehr, wo ich selbst bin, geschweige denn, wo meine Kunden sind.«

»Kümmert Euch nicht um sie, Onkel!«

»So zum Beispiel – seit du von deiner Wochenkostschule zu Peckham zurückkamst – und das ist jetzt zehn Tage her«, sagte Solomon, »erinnere ich mich nicht, daß mehr als eine einzige Person in den Laden kam.«

»Besinnt Euch doch, Onkel, – es waren zwei. Der Mann, der ein Goldstück wechseln lassen wollte –«

»Das ist der einzige«, versetzte Solomon.

»Ei, Onkel, ist die Frau nicht auch jemand, die hereinkam, um nach dem Schlagbaum von Mile-End zu fragen?«

»O, es ist wahr«, sagte Solomon. »Ich habe sie vergessen. Zwei Personen.«

»Freilich haben sie nichts gekauft«, entgegnete der Knabe.

»Nein, sie haben nichts gekauft«, entgegnete Solomon ruhig.

»Und auch nichts gebraucht«, rief der Knabe.

»Nein. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätten sie sich nach einem andern Laden umgesehen«, sagte Solomon in dem gleichen Tone.

»Aber doch sind es ihrer zwei gewesen, Onkel«, rief der Knabe, als sei das ein großer Triumph. »Ihr spracht nur von einer einzigen Person.«

»Ei, Wally«, nahm der alte Mann nach einer kurzen Pause das Gespräch wieder auf: »da wir nicht wie die Wilden sind, die auf Robinson Crusoes Insel kamen, so können wir nicht leben von einem Mann, der ein Goldstück wechseln, und von einer Frau, die sich den Weg nach dem Schlagbaum von Mile-End weisen lassen will. Wie ich schon eben gesagt habe, die Welt ist an mir vorbeigegangen. Ich kann ihr damit keinen Vorwurf machen, aber soviel steht fest, ich verstehe sie nicht mehr. Die Handelsleute sind nicht mehr wie sonst, die Lehrlinge auch nicht, das Geschäft ist anders geworden, und die Waren sind gleichfalls nicht mehr dieselben. Sieben Achtel von meinen Verkaufsgegenständen sind Ladenhüter. Ich bin ein altmodischer Mann in einem altmodischen Laden und wohne in einer Straße, die nicht mehr dieselbe ist, wie ich mich ihrer erinnere. Ich bin hinter der Zeit zurückgeblieben, und das Alter lastet zu schwer auf mir, als daß ich sie wieder einholen könnte. Sogar der Lärm, den sie weit von mir entfernt draußen macht, verwirrt mich.«

Walter wollte etwas erwidern; aber sein Onkel hielt die Hand hoch.

»Eben deshalb, Wally – eben deshalb war es mir so sehr darum zu tun, daß du früh in die geschäftige Welt und in ihr Geleise hineinkommst. Ich bin nur noch der Geist des Geschäfts – seine Wesenheit ist längst entschwunden, und wenn ich sterbe, wird der Geist erlöst sein. Da natürlich mein Gewerbe keine Erbschaft für dich ist, so habe ich es für das beste gehalten, in deinem Interesse fast den einzigen Überrest alter Bekanntschaft, der mir von alter Zeit her zu sternchenland.com Gebot stand, zu benutzen. Einige Leute halten mich für reich. Ich wünschte um deinetwillen, daß sie recht hätten. Aber was ich auch zurücklasse, oder was immer ich dir geben kann, in einem Hause, wie in dem des Mr. Dombey, kannst du es gut benutzen und auf das vorteilhafteste verwenden. Gib dir Mühe – lerne deinen Beruf lieben, mein lieber Junge, – arbeite nach Kräften, um dir eine unabhängige Stellung zu sichern, und möge das Glück dir günstig sein.«

»Ich will tun, was ich kann, Onkel, um Eure Liebe zu verdienen. Ja, wahrhaftig, das will ich«, sagte der Knabe mit Eifer.

»Ich weiß es«, sagte Solomon. »Ich bin davon überzeugt.« Und er machte sich nun mit erhöhtem Behagen an ein zweites Glas des alten Madeira. »Was die See betrifft«, fuhr er fort, »so ist sie ganz schön in der Poesie, Wally, aber in der Wirklichkeit paßt sie nicht – durchaus nicht. Ich finde es ganz natürlich, daß du an sie denkst und die Vorstellungen von so vielen vertrauten Dingen damit in Verbindung bringst; aber es geht einmal nicht – es geht nicht.«

Mit der Miene stillen Wohlbehagens rieb Solomon Gills die Hände, denn er sprach gerne von der See und sah dabei mit unaussprechlichem Wohlbehagen auf die Seemannsgerätschaften, die im Zimmer umherstanden.

»Denke dir z.B. nur diesen Wein«, sagte der alte Sol. »Er hat, ich weiß nicht wie oft, den Weg nach Ostindien und wieder zurückgemacht – ja, er ist sogar einmal um die ganze Welt gesegelt. Denke an die pechfinstern Nächte, an den tosenden Wind und an die rollenden Wogen.«

»An Donner und Blitz, Regen, Hagel und Unwetter aller Art«, sagte der Knabe.

»Natürlich«, sagte Solomon; »alles das hat der Wein da mit durchgemacht. Denk‘ an das Ächzen und Krachen des Gebälks und der Masten – das Heulen und Toben des Sturms durch Tau- und Takelwerk –«

»Das Aufwärtsklettern der Matrosen, die miteinander wetteifern, um zuerst auf die Rahen hinauszukommen und die eisstarren Segel zu beschlagen, während das Schiff wie toll hin und her rollt!« rief der Neffe.

»Ganz richtig«, sagte Solomon. »Alles das hat das alte Faß erlebt, das diesen Wein enthielt. Ja, als die bezaubernde Sally unterging in dem –«

»In dem Baltischen Meer, mitten in der Nacht, fünfundzwanzig Minuten nach zwölf, als dem Kapitän die Uhr in der Tasche stehen blieb. Er lag tot an den Hauptmast gelehnt – am vierzehnten Februar siebzehnhundertneunundvierzig!« rief Walter mit großer Lebhaftigkeit.

»Ja freilich!« rief der alte Sol, »ganz richtig. Damals waren fünfhundert Fässer solchen Weins an Bord, und alle Mannschaft (mit Ausnahme des ersten Maaten, der ersten Leutnants, zwei Matrosen und einer Dame, die sich in einem lecken Boote retteten), sternchenland.com machte sich daran, die Dauben der Fässer einzuschlagen und sich zu betrinken. Trunken starben sie unter dem Gesange ›Rule Britannia‹, als das Schiff in den Wellen untersank und sein Ende mit einem einzigen schauerlichen Chorruf feierte.«

»Aber als der Georg II. am vierten März einundsiebzig zwei Stunden vor Tagesanbruch in einer unheimlichen Bö an der Küste von Cornwallis scheiterte, Onkel, hatte er fast zweihundert Pferde an Bord; und die Pferde rissen sich schon zu Anfang des Sturmes unten los, trampelten hin und her, traten sich zu Tode, machten einen solchen Lärm, und ächzten so ganz menschlich, daß die Mannschaft meinte, das Schiff sei voll von Teufeln. Sogar die besten Matrosen verloren darüber Herz und Kopf, sprangen verzweifelt über Bord, und nur zwei davon blieben am Leben, um die Geschichte zu erzählen.«

»Und als der Polyphemus –« griff der alte Sol wieder auf –

»Privatwestindienfahrer, Last dreihundertundfünfzig Tonnen, Kapitän John Brown von Deptfort, Eigentümer Wiggs und Kompanie«, rief Walter.

»Derselbe«, sagte Sol. »Als er nach viertägiger Fahrt unter günstigem Wind vom Jamaikahafen aus nachts Feuer fing –«

»Waren zwei Brüder an Bord«, unterbrach ihn sein Neffe sehr schnell und laut sprechend, »und es war nicht Raum genug für beide in dem kleinen Boot, das nicht mit versunken war. Keiner von ihnen wollte gehen, bis der ältere den jüngeren um den Leib faßte und ihn hinein warf. Und dann der jüngere, der sich im Boot aufrichtete und rief: ›Lieber Edward, denk‘ an deine Braut in der Heimat. Ich bin nur ein Knabe, zu Hause wartet niemand auf mich. Nimm meinen Platz ein!‹ Und mit diesen Worten sprang er in die See!«

Das leuchtende Auge und das höhere Rot auf dem Antlitz des Knaben, der sich im Feuer seiner Begeisterung von seinem Sitz erhoben hatte, schienen den alten Sol an etwas zu erinnern, was er vergessen oder in dem ihn umkreisenden Nebel bisher nicht bemerkt hatte. Statt sich auf weitere Histörchen einzulassen, wie er augenscheinlich noch einen Moment vorher beabsichtigt hatte, erging er sich in einen kurzen trockenen Husten und sagte: »Na, ich denke, wir wollen auf einen andern Gegenstand übergehen.«

Die Sache verhielt sich nämlich so, daß der einfache Onkel in seiner geheimen Neigung zu dem Wunderbaren und Abenteuerlichen, zu dem er einigermaßen durch sein Gewerbe in entfernter Beziehung stand, dieselbe Liebhaberei im Neffen geweckt hatte, und alles, was er dem Knaben vorzuhalten pflegte, um ihn von einem Leben voll Gefahr abzuschrecken, mußte an diesem die gewöhnliche unerklärliche Wirkung üben, seinen Geschmack dafür nur zu steigern. So geht’s unabänderlich, und es scheint, als sei nie in der ausdrücklichen Absicht, Knaben am Land zu halten, ein Buch geschrieben oder eine Geschichte erzählt worden, wodurch sie nicht, wie durch einen Zauber, nach dem Meere verlockt worden wären.

Die kleine Gesellschaft erhielt übrigens jetzt einen Zuwachs, denn es trat ein Gentleman mit sehr buschigen, schwarzen Augenbrauen in einem weiten blauen Anzug herein, dem statt der Hand am rechten Handgelenk ein Haken angeschraubt war, und der in der Linken einen dicken Stock, so knotig wie seine Nase, trug. Um den Hals hatte er ein loses, schwarzseidenes Halstuch, das über einen großen groben Hemdkragen, einem kleinen Segel vergleichbar, geschlungen war. Augenscheinlich hatte das dritte Weinglas die Bestimmung, diesem Herrn zu dienen, und er schien es zu wissen; denn nachdem er seinen rauhen Überrock abgelegt und an einem besonderen Nagel hinter der Tür einen so steif gewichsten Hut aufgehängt hatte, daß eine empfindsame Person schon vom Anblick Kopfweh bekommen konnte, da er auf der Stirne seines Trägers einen roten Streifen zurückließ, als hätte daselbst ein knapp anliegendes Zinnbecken gesessen, brachte er einen Stuhl in die Nähe des leeren Glases und setzte sich hinter diesem nieder. Dieser Gast wurde gewöhnlich mit Kapitän angeredet; er war Lotse, Schiffer oder Kapermatrose gewesen, hatte vielleicht gar in allen diesen drei Eigenschaften gedient und sah in der Tat ganz wie ein Seemann aus.

Sein Gesicht, das sich durch eine merkwürdige braune Solidität auszeichnete, klärte sich auf, als er dem Neffen die Hand reichte; er schien übrigens von sehr lakonischer Art zu sein, da er bloß sagte:

»Wie geht’s?«

»Alles gut«, versetzte Mr. Gills, indem er ihm die Flasche zuschob.

Er nahm sie auf, betrachtete sie, roch daran und sagte mit einem außerordentlichen Ausdruck:

»Der

»Der«, entgegnete der Instrumentenmacher.

Hierauf füllte er pfeifend sein Glas und schien zu denken, daß sie sich heute tatsächlich einen Feiertag machten.

»Wal’r«, sagte er, indem er sich das dünne Haar mit dem Haken zurecht strich und dann auf den Instrumentenmacher deutete, »seht ihn an! Lieben – ehren – und gehorchen! Schlagt in Eurem Katechismus nach, bis Ihr diese Stelle findet, und wenn Ihr sie gefunden habt, knickt die Ecke um. Gut Glück, mein Junge!«

Er war mit seiner Zitation sowohl, als mit der Anwendung derselben so sehr zufrieden, daß er sich nicht versagen konnte, mit gedämpfter Stimme die Worte zu wiederholen und dabei zu bemerken, »er habe sie schon seit vierzig Jahren vergessen gehabt.«

»Aber ich habe nie in meinem Leben zwei oder drei Worte gebraucht, ohne daß ich wußte, wo ich sie fassen sollte, Gills«, bemerkte er. »Es kommt eben daher, daß ich meine Reden nicht verschwende, wie manche es tun.«

Die Erwägung erinnerte ihn vielleicht daran, daß es besser sei, gleich dem Vater des jungen Norvall »seinen Vorrat zu vergrößern.« Jedenfalls wurde er jetzt schweigsam, und blieb es, bis der alte Sol in den Laden hinausging, um dort die Lichter anzuzünden. Da sternchenland.com wandte er sich an Walter und sagte ohne irgendeine einleitende Bemerkung:

»Ich glaube, er könnte auch eine Turmuhr machen, wenn er es versuchte?«

»Es sollte mich nicht wundern, Kapitän Cuttle«, entgegnete der Knabe.

»Und sie würde gehen!« sagte der Kapitän Cuttle, mit seinem Haken eine Art Schlange in die Luft beschreibend. »Herr, wie diese Uhr gehen würde!«

Für einige Augenblicke schien er ganz in der Betrachtung der Bewegung dieses idealen Zeitmessers vertieft zu sein und sah dabei den Knaben an, als ob dessen Gesicht das Zifferblatt wäre.

»Er besitzt ein überaus großes Wissen«, bemerkte er, seinen Haken gegen die Ladenvorräte schwenkend. »Schaut nur her! Eine ganze Sammlung davon. Erde, Luft oder Wasser. Es ist alles das gleiche. Ihr braucht bloß zu sagen, was Ihr haben wollt. Hinauf in einem Ballon? Steht zu Diensten. Nieder in einer Taucherglocke? Steht zu Diensten. Wollt Ihr das Gewicht des Polarsterns in einer Wagschale untersuchen? Er wird es für Euch besorgen.«

Aus diesen Bemerkungen kann man entnehmen, daß Kapitän Cuttles Verehrung vor dem Instrumentenvorrat sehr groß war, daß aber seine Philosophie nicht so weit reichte, um sich den Unterschied des Verkaufens und des Erfindens derselben genau zu vergegenwärtigen.

»Ah«, sagte er mit einem Seufzer, »es ist was Schönes, wenn man es versteht. Und doch ist es auch was Schönes, wenn man es nicht versteht. Ich weiß kaum, welches von beiden das Beste ist. Es wird einem so behaglich, wenn man dasitzt und fühlt, daß man gewogen, gemessen, magnifiert, elektrisiert, polarisiert und wie das Teufelszeug sonst heißen mag, werden kann, ohne daß man weiß wie.«

Nichts Geringeres als der herrliche Madeira in Verbindung mit der Gelegenheit, die so gut dazu paßte, Walters Geist zu erleuchten und zu erweitern, wäre je imstande gewesen, die Zunge des alten Gentleman zu einem so wunderbaren Redeerguß zu lösen. Er schien selbst erstaunt zu sein über die Art, in der sich seine Lippen öffneten, um die Quellen des stummen Entzückens zu rühmen, die sich bei Gelegenheit von Sonntagsmahlzeiten seit zehn Jahren in diesem Stübchen für ihn ergossen hatten. Er fühlte, daß er mit der zunehmenden Weisheit auch schwermütiger wurde, und schwieg fortan in tiefem Nachsinnen.

»Na«, rief der zurückkehrende Gegenstand seiner Bewunderung, »ehe wir zum Grog schreiten, Ned, müssen wir die Flasche zu Ende bringen.«

»Ich halte mit«, sagte Ned, sein Glas füllend: »gebt dem Burschen auch noch etwas.«

»Nicht mehr – ich danke, Onkel!«

»Ja, ja, noch ein bißchen«, sagte Sol. »Wir leeren die Flasche auf das Haus, Ned – auf Walters Haus. Warum könnte es nicht sternchenland.com eines Tages wenigstens teilweise seins werden? Wer weiß! Sir Richard Whittington heiratete die Tochter seines Prinzipals.«

»›Kehrum, Whittington, Lord-Mayor von London, und wenn du alt bist, wirst du nie mehr draus weichen‹«, fiel der Kapitän ein. »Wal’r, lies das Buch, mein Junge.«

»Und obgleich Mr. Dombey keine Tochter hat,« begann Sol –

»Ja, ja, er hat eine, Onkel«, sagte der Knabe lachend und errötete.

»Wirklich?« rief der alte Mann. »In der Tat, ich glaube, du hast recht.«

»O, ich weiß es gewiß«, sagte der Knabe. »Man hat heut‘ im Bureau davon gesprochen. Auch sagt man, Onkel und Kapitän Cuttle«, er dämpfte dabei seine Stimme – »daß er eine Abneigung gegen sie habe und daß sie unbeachtet bei dem Gesinde aufwachse; sein Sinn sei so ganz und gar von dem Sohn, den er jetzt im Haus habe, in Anspruch genommen, daß er, obschon dieser noch ein Säugling sei, die Bilanzen weit öfter ziehe, als früher – daß die Bücher weit strenger geprüft würden, und daß man ihn schon gesehn habe (freilich ohne daß er es merkte), wie er nach dem Hafen ging, um seine Schiffe, sein Eigentum und all dies zu betrachten, als freue er sich über das, was er und sein Sohn zusammen besitzen werden. So sagt man – ich kann das natürlich nicht beurteilen.«

»Ihr seht, er weiß schon alles von ihr«, sagte der Instrumentenmacher.

»Aber ich bitte dich, Onkel«, rief der Junge noch immer in knabenhaftem Erröten und Lachen. »Ich muß es doch wohl hören, wenn man mir etwas erzählt?«

»Ich fürchte, Ned, der Sohn ist uns zurzeit ein wenig im Weg«, sagte der alte Mann, den Scherz heiter weiter verfolgend.

»Und ob!« versetzte der Kapitän.

»Trotzdem wollen wir auf sein Wohl trinken«, fuhr Sol fort. »Es gilt also für Dombey und Sohn!«

»O, ganz schön, Onkel«, rief der Knabe lustig. »Und weil Ihr das Mädchen erwähntet und mich mit ihr in Verbindung gebracht habt, indem Ihr sagtet, daß ich alles von ihr wisse, so will ich mir erlauben, den Toast zu verbessern. Dombey und Sohn – und Tochter!«

Neunundzwanzigstes Kapitel.


Neunundzwanzigstes Kapitel.

Wie Mrs. Chick die Augen aufgehen.

Miß Tox wußte nicht das mindeste von den merkwürdigen Erscheinungen um Mr. Dombeys Haus, als da waren Gerüste, Leitern und Männer, die ihre Köpfe mit Taschentüchern umwickelten und gleich fliegenden Genien oder fremden Vögeln zu den Fenstern hineinschauten. In dem gegenwärtigen verhängnisvollen Zeitpunkt unserer Geschichte hatte sie eines Morgens in der gewohnten Weise ihr Frühstück eingenommen, das aus einer französischen Semmel, einem angeblich frisch gelegten Ei und einem kleinen Teetopf bestand, worin ein kleiner Kaffeelöffel voll des würzigen Krauts ihrer selbst wegen und ein anderer wegen des Teetopfs übergossen worden war – ein Phantasieflug, an dem gute Haushälterinnen eine besondere Freude zu haben scheinen. Nachdem sie ihr Mahl eingenommen, ging sie die Treppe hinauf, um auf ihrem Klavier den Vogelwalzer zu quälen, ihre Blumen zu begießen und zu ordnen, ihre Siebensachen abzustäuben und der täglichen Gewohnheit zufolge ihr kleines Wohnzimmer zur Zierde des Prinzessinnenplatzes zu machen.

Miß Tox pflegte diese Obliegenheiten in alten Handschuhen, die wie welke Blätter aussahen und die sonst vor allen menschlichen Blicken in der Tischlade verborgen waren, zu vollbringen. Dabei verfuhr sie ganz methodisch, indem sie mit dem Vogelwalzer anfing und infolge einer sehr natürlichen Ideenverknüpfung auf ihren Vogel überging – ein hochschultriges Exemplar der Kanarienzunft, der weit in den Jahren vorgerückt und sehr stutzfederig, aber dabei, wie der Prinzessinnenplatz wohl wußte, ein gellender Sänger war. Zunächst kam die Reihe an die kleinen Nippes-Sachen, an das Pechpapier für die Fliegen usw., bis endlich im Lauf der Zeit auch die Pflanzen bedacht wurden, die in der Regel aus einem botanischen Grund, der für Miß Tox sehr wichtig war, da und dort des Beschneidens mit der Schere bedurften.

Miß Tox kam jenen Morgen erst spät zu ihren Pflanzen. Das Wetter war warm, und der südliche Wind wehte wie ein Sommerseufzer über den Prinzessinnenplatz, so daß ihre Gedanken sich unwillkürlich dem Lande zuwandten. Der Bierjunge aus dem Prinzessinnenwappen sternchenland.com stand unten mit einer Gießkanne und befeuchtete den ganzen Prinzessinnenplatz in kühnen Schnörkeln, dadurch dem grasigen Grund einen frischen Duft verleihend – ein richtiger Geruch des Wachsens, wie Miß Tox sagte. Von der großen Straße um die Ecke aus ließ sich ein kleiner Sonnenblick unterscheiden, und die rauchbraunen Sperlinge hüpften darüber hin und her, während des Durchgangs frisch erglänzend, oder badeten sich darin wie in einem Strome und wurden zu verklärten Sperlingen, die in keiner Beziehung zu den Schornsteinen standen.

Legenden zum Preise des Ingwerbiers mit malerischen Illustrationen von durstigen Kunden, die ihre Nasen im Schaum stecken hatten oder von fliegenden Stöpseln betäubt waren, sah man in dem Fenster des Prinzessinnenwappens zur Schau ausgestellt. Irgendwo außerhalb der Stadt wurde Heu eingeerntet, und obgleich der Duft davon einen weiten Weg zu machen und mit allerlei widerstreitenden Gerüchen zu kämpfen hatte – Gottes Lohn über die würdigen Gentlemen, die für die Pest als für eine weise Einrichtung unserer Vorfahren Partei nehmen und nach ihren kleinen Kräften ihr Möglichstes aufbieten, um solche Wohnungen elend zu erhalten – so wehte er doch leicht nach dem Prinzessinnenplatz herüber und flüsterte von Natur und gesunder Luft. Das pflegen dergleichen Dinge ja auch unter Gefangenen und unterdrückten Unglücklichen zu tun, ohne sich an Aldermen und Ritter zu kehren; denn wie weise diese Ehrenmänner auch ihre Köpfe schütteln können – und sie können’s sicherlich in hohem Grade – so nimmt doch die rollende Welt fortwährend ihren alten Gang.

Miß Tox nahm an dem Fenstersitz Platz, sich in Gedanken an ihren guten Papa ergehend, an den seligen Zolleinnehmer Mr. Tox, und an ihre Kindheit, die sie unter einer beträchtlichen Menge kalten Teers und einiger Ländlichkeit in einer Hafenstadt zugebracht hatte. Sie erinnerte sich dabei der alten Zeiten mit ihren Wiesen, die sich im Schmuck ihrer gelben Butterblumen wie umgekehrte Firmamente mit zahllosen goldenen Sternen ausgenommen hatten. Sie gedachte der Ketten aus Löwenzahnstengeln, die sie für unterschiedliche, in Nanking gekleidete jugendliche Versicherer ewiger Liebe angefertigt hatte, obschon diese Fesseln gar bald welkten und zerbrachen.

Von ihrem Fenstersitze aus nach den Sperlingen und dem Sonnenblick hinschauend, dachte Miß Tox auch an ihre gute selige Mama, die Schwester eines Mannes mit gepudertem Kopf und Haarbeutel, an ihre Tugenden und an ihren Rheumatismus. Und als endlich ein latschbeiniger Mann mit rauher Stimme und auf dem Kopfe einen schweren Korb, der seinen Hut zu einer bloßen schwarzen Semmel zusammendrückte, durch den Prinzessinnenplatz herunter Blumen zum Verkauf ausbot, so daß bei jedem Ruf die schüchternen kleinen Maßliebchensprossen zitternd zusammenschauderten, als sei der Träger ein Werwolf, der mit kleinen Kindern hausiere, – da wurden in Miß Tox die Sommererinnerungen so übermächtig, daß sie den Kopf schüttelte und vor sich hinmurmelte, sie werde beziehungsweise sternchenland.com wohl alt werden, ehe sie es erfahre – eine Vermutung, die große Wahrscheinlichkeit für sich hatte.

Die Kette ihrer Gedanken folgte auch Mr. Dombeys Spur – ohne Zweifel, weil der Major wieder in seine Wohnung zurückgekehrt war und sich eben erst von seinem Fenster aus gegen sie verbeugt hatte. Welchen andern Grund konnte Miß Tox haben, Mr. Dombey mit ihren Sommertagen und den Löwenzahnketten in Verbindung zu bringen? War er heiterer? dachte sie. Hatte er sich in den Schluß des Schicksals gefunden? Heiratete er wohl wieder und – falls diese Frage zu bejahen war – wen? Was für eine Person mochte ihm jetzt zusagen?

Eine Glut – es war warm Wetter – breitete sich über ihr Gesicht, als sie im Laufe dieser Betrachtungen ihren Kopf umwandte und überrascht in dem Spiegel über dem Kamin ihres eigenen Abbildes ansichtig wurde. Diese Glut wiederholte sich bei dem Einfahren einer kleinen Equipage in den Prinzessinnenplatz, die geradewegs nach ihrer Tür einbog. Miß Tox stand auf, griff hastig nach ihrer Schere, um endlich an ihre Pflanzen zu kommen, und war eben eifrig mit diesen beschäftigt, als Mrs. Chick ins Zimmer trat.

»Wie geht es meiner teuersten Freundin?« rief Miß Tox mit offenen Armen.

In dem Benehmen der teuersten Freundin machte sich ein etwas vornehmes Wesen bemerklich; sie küßte jedoch Miß Tox und erwiderte:

»Danke Euch, Lukretia – es geht mir ziemlich gut, und ich hoffe von Euch dasselbe. Hem!«

Mrs. Chick litt an einem eigentümlichen, kurzen, einsilbigen Husten – er war eine Art ABC-Buchübung – eine leichte Einführung in die Kunst, zu husten.

»Wie freundlich ist es von Euch, daß Ihr mich so früh besucht, meine Liebe«, fuhr Miß Tox fort. »Habt Ihr schon gefrühstückt?«

»Ja, ich danke Euch, Lukretia«, versetzte Mrs. Chick. »Ich nahm es bei meinem Bruder ein«, fuhr sie fort und sah sich auf dem ganzen Prinzessinnenplatz um, der ein besonderes Interesse für sie gewonnen zu haben schien, »der wieder zurückgekehrt ist.«

»Ich hoffe, meine Liebe, er befindet sich besser?« stotterte Miß Tox.

»O ja – viel besser, ich danke Euch. Hem!«

»Meine liebe Louisa muß sich mit diesem Husten in acht nehmen«, bemerkte Miß Tox.

»Es macht nichts«, versetzte Mrs. Chick. »Nur die Veränderung des Wetters. Wir sehen einem Wechsel entgegen.«

»Des Wetters?« fragte Miß Tox in ihrer Einfalt.

»In allem«, erwiderte Mrs. Chick. »Es ist natürlich. Wir leben in einer Welt voll Wechsel. Ich müßte mich sehr wundern, Lukretia, und meine gute Meinung von dem Verstand der Person aufgeben, die es versuchen wollte, einer so augenfälligen Wahrheit zu widersprechen oder auszuweichen. Ja, Veränderung«, fuhr sie mit strenger Philosophie fort. »Du, mein Himmel, wo ist etwas, sternchenland.com das sich nicht veränderte! Sogar der Seidenwurm, von dem man wahrhaftig so etwas am allermindesten erwarten sollte, verändert sich in alle Arten unglaublicher Objekte.«

»Meine liebe Louisa ist immer sehr glücklich in ihren Bildern«, versetzte Miß Tox sanft.

»Ihr seid, glaube ich«, entgegnete Mrs. Chick ein wenig milder, »so gütig, zu sprechen, wie Ihr denkt, ich hoffe, Lukretia, wir beide werden nie Anlaß finden, von uns gegenseitig eine geringere Meinung zu gewinnen.«

»Gewiß nicht«, sagte Miß Tox.

Mrs. Chick hustete wieder wie zuvor und zog mit der Elfenbeinspitze ihres Sonnenschirms Linien auf den Teppich. Miß Tox, die ihre schöne Freundin aus Erfahrung kannte und recht wohl wußte, daß sich bei ihr unter der leichten Maske der Erschöpfung oder des Verdrusses eine Art redseliger Reizbarkeit zu verbergen pflegte, benutzte diese Pause, um auf einen andern Gegenstand überzugehen.

»Verzeiht mir, meine teure Louisa«, sagte sie, »aber ich glaube, in Eurem Wagen die männliche Gestalt des Mr. Chick bemerkt zu haben.«

»Er ist mitgekommen«, versetzte Mrs. Chick; »aber ich bitte, laßt ihn nur unten. Er hat seine Zeitung und ist damit für die nächsten paar Stunden vollkommen zufriedengestellt. Fahrt nur an Euren Blumen fort und erlaubt mir, daß ich hier niedersitze und ausruhe.«

»Meine Louisa weiß«, bemerkte Miß Tox, »daß zwischen Freundinnen, wie wir, von Förmlichkeiten entfernt nicht die Rede sein kann. Deshalb – –«

Deshalb endigte Miß Tox ihren Satz nicht mit Worten, sondern durch die Tat, indem sie die abgenommenen Handschuhe wieder anlegte, sich aufs neue mit der Schere bewaffnete und diese mit mikroskopischer Emsigkeit unter den Blättern arbeiten ließ.

»Florence ist auch zurückgekehrt«, sagte Mrs. Chick nach einer Weile, während der sie, den Kopf auf die Seite gesenkt, ihre Zeichnungen mit der Sonnenschirmspitze fortgesetzt hatte; »und in der Tat, sie ist jetzt viel zu alt, um länger das einsame Leben zu führen, das ihr zur Gewohnheit wurde. Dies fehlt nicht – es kann kein Zweifel darüber obwalten. Ich könnte wahrhaftig nicht viele Achtung vor der Person haben, die einer andern Ansicht das Wort reden wollte. Nein, ich vermöchte es wirklich nicht, sie zu achten, wie sehr sie auch das Gegenteil wünschte; denn so weit können wir nicht über unsere Gefühle gebieten.«

Miß Tox pflichtete ihr bei, obschon sie nicht recht begreifen konnte, was ihre Freundin eigentlich damit wollte.

»Wenn sie ein seltsames Mädchen ist«, fuhr Mrs. Chick fort, »und wenn sich mein Bruder nach allen den traurigen Vorgängen und den schrecklich getäuschten Erwartungen nicht recht behaglich fühlen kann in ihrer Gesellschaft – was läßt sich dann sagen? Daß er eine Anstrengung machen muß. Daß es seine Pflicht ist, eine Anstrengung sternchenland.com zu machen. Wir sind stets eine Familie gewesen, die sich durch Anstrengungen auszeichnete. Paul steht an der Spitze der Familie – ist fast der einzige noch übrig gebliebene Repräsentant – denn was bin ich? Ich komme nicht in Betracht –«

»Meine Teuerste«, verwies ihr Miß Tox.

Mrs. Chick trocknete die Augen, die für einen Augenblick zum Überlaufen gekommen waren, und sprach weiter:

»Folglich ist er mehr als je verpflichtet, eine Anstrengung zu machen. Und obwohl er es getan hat, wandelt es mich doch wie eine Art Schauder an; denn meine Natur ist sehr schwach und töricht, was ich gewiß nicht als einen Segen betrachten kann. Ich wünsche oft, mein Herz möchte eine Marmorplatte sein oder ein Pflasterstein –«

»Meine süße Louisa«, stellte ihr Miß Tox abermals vor.

»Dennoch liegt für mich ein Triumph in dem Bewußtsein, daß er sich so treu bleibt und daß sein Name Dombey ist – obwohl ich natürlich nichts anderes von ihm erwarten konnte. Ich hoffe nur«, sagte sie nach einer Pause, »daß sie sich auch des Namens würdig erweisen möge.«

Miß Tox füllte aus einem Krug ein grünes Gießkännchen, und als sie nach Verrichtung dieses Geschäftes zufällig aufblickte, wurde sie von der Fülle des Ausdrucks, den Mrs. Chick in ihr Gesicht legte, so überrascht, daß sie das kleine Kännchen auf den Tisch niedersetzte und neben diesem Platz nahm.

»Meine teure Louisa«, sagte Miß Tox, »würde es Euch vielleicht ein bißchen befriedigen, wenn ich daraufhin zu sagen habe, daß meiner geringen Ansicht nach Eure süße Nichte ein in jeder Beziehung vielversprechendes Mädchen ist?«

»Was wollt Ihr damit sagen, Lukretia?« entgegnete Mrs. Chick mit erhöhter Vornehmheit in ihrem Wesen. »Auf welche meiner Worte bezieht Ihr diese Erwiderung, meine Liebe?«

»Daß sie sich dieses Namens würdig erweisen werde, teure Luisa«, sagte Miß Tox.

»Wenn ich mich nicht klar ausgedrückt habe«, versetzte Mrs. Chick mit feierlicher Geduld, »so liegt der Fehler natürlich an mir. Es ist vielleicht kein Grund vorhanden, warum ich mich überhaupt darüber aussprechen sollte – wenigstens kein anderer, als die so lange zwischen uns bestehende Vertraulichkeit, und ich hoffe von Herzen, Lukretia – hoffe es zuversichtlich, daß sich nichts ereignen wird, was ihr Abtrag tun könnte. Warum sollte ich nicht? Ich wüßte keinen Gegenanlaß dafür – es wäre ungereimt. Aber ich wünsche mich klar auszudrücken, Lukretia; und um wieder auf jene Bemerkung zurückzukommen, muß ich sagen, daß sie sich in keiner Weise auf Florence bezog.«

»Nicht?« erwiderte Miß Tox.

»Nein«, sagte Mrs. Chick kurz und entschieden.

»Verzeiht mir, meine Liebe«, versetzte ihre milde Freundin; »so habe ich Euch wohl nicht verstanden. Ich fürchte, daß ich etwas schwer begreife.«

Mrs. Chick sah sich in dem Zimmer um und über den Weg hinüber, nach den Pflanzen, dem Vogel, der Gießkanne und fast allem Erblickbaren, nur nicht nach Miß Tox. Endlich traf ihr Auge auf dem Weg nach dem Boden diese Dame und blieb einen Augenblick auf ihr haften. Dann sagte sie, während ihre erhobenen Augenbrauen nach dem Teppich gelichtet waren:

»Wenn ich von der spreche, Lukretia, die seines Namens würdig sein soll, so meine ich die zweite Gattin meines Bruders Paul. Ich glaube, Euch, wenn auch nicht gerade mit den gleichen Worten, mitgeteilt zu haben, daß er sich wieder zu vermählen gedenkt.«

Miß Tox stand hastig von ihrem Sitz auf und kehrte zu ihren Pflanzen zurück, wo sie unter den Blättern und Stengeln ebenso unbarmherzig zwickte, wie ein Barbier, der einem Häuflein Armer die Haare schneidet.

»Ob sie die Auszeichnung, die ihr zuteil wird, vollkommen fühlt«, fuhr Mrs. Chick in hohem Ton fort, »ist eine ganz andere Frage. Ich hoffe, sie wird es. Es ist unsere Pflicht, von unsern Nebenmenschen Gutes zu denken, und ich hoffe, sie wird es. Ich bin darüber noch nicht einig geworden; und hätte ich ihm mit meinem Rat kommen wollen, so würde er wohl nur eine kurz angebundene Aufnahme gefunden haben. Es ist daher unendlich besser so, wie es ist. Die bestehende Sachlage ist mir lieber.«

Miß Tox schnitt mit gesenktem Haupte noch immer unter den Pflanzen fort, während Mrs. Chick unter jeweiligem energischen Kopfschütteln, als wollte sie jemanden herausfordern, in ihrer Rede fortfuhr:

»Wenn sich mein Bruder Paul mit mir beraten hätte – er tut es mitunter, oder vielmehr, er pflegte es mitunter zu tun; denn jetzt wird es natürlich nicht mehr vorkommen, und das ist ein Umstand, den ich als eine Entladung von schwerer Verantwortlichkeit betrachte«, sagte Mrs. Chick in hysterischer Aufregung, »da ich, dem Himmel sei Dank, nicht eifersüchtig bin« – – ein abermaliger Tränenerguß; »aber wenn mein Bruder Paul zu mir gekommen wäre und gesagt hätte: ›Louisa, rate mir, auf welche Eigenschaften soll ich vornehmlich bei der Wahl meiner Gattin sehen?‹ so würde ich zuverlässig geantwortet haben: ›Paul, du brauchst Familie, Schönheit, Würde und Verbindungen.‹ So hätte ich ihm geantwortet – ja, wahrhaftig, und wenn ich unmittelbar darauf zum Henkerblock geführt worden wäre«, fügte Mrs. Chick bei, als ob sie selbst an die Wahrscheinlichkeit einer solchen Folge glaube. »Ich würde zu ihm gesagt haben: ›Paul, du zum zweitenmal heiraten ohne Familie? Du heiraten ohne Schönheit? Du heiraten ohne Würde? Du heiraten ohne Verbindungen? Nur ein Hirnverrückter könnte glauben, daß du fähig wärest, einen so irrsinnigen Gedanken in dir aufkommen zu lassen!‹«

Miß Tox hielt mit dem Schneiden inne und hörte, den Kopf unter den Pflanzen verbergend, aufmerksam zu. Vielleicht dachte sie, in dieser Einleitung und in Mrs. Chicks Wärme liege Hoffnung. »Solche Vorstellungen hätte ich ihm machen müssen«, fuhr die sternchenland.com weise Dame fort, »weil ich hoffe, daß ich nicht auf den Kopf gefallen bin. Ich erhebe keinen Anspruch darauf, als eine Person von überlegenem Verstand angesehen zu werden, – obschon ich glaube, gewisse Personen lassen es sich einfallen, mich dafür zu halten. Freilich bin ich nicht viel verzogen, und da wird man bald belehrt, wes Geistes Kind man wirklich ist. Aber ich hoffe, daß ich nicht ganz auf den Kopf gefallen bin. Wenn nun mir jemand sagen wollte«, fügte Mrs. Chick mit unaussprechlicher Verachtung bei, »daß mein Bruder Paul Dombey je an die Möglichkeit denken könnte, sich mit jemandem – gleichviel, wer sie auch sein möchte« – diese kurze Einschaltung wurde mit größerem Nachdruck vorgetragen als der ganze übrige Teil der Rede – »zu verbinden, die nicht alle diese Eigenschaften hat, so wäre das eine Beleidigung des Verstandes, den ich wirklich besitze, geradeso wie wenn man mir erklärte, ich sei als Elefant geboren und erzogen – denn ebensogut«, setzte sie mit Ergebung hinzu, »könnte man dies dann von mir behaupten. Es würde mich überhaupt gar nicht überraschen, und ich müßte es erwarten.«

Während der kurzen Pause, die nun folgte, hörte man die Schere ein- oder zweimal schnipsen; aber das Antlitz der Miß Tox blieb noch immer unsichtbar, und ihr Morgenkleid verriet große Aufregung. Mrs. Chick blickte durch die hindernden Pflanzen von der Seite nach ihr hin und sprach im Ton milder Überzeugung, wie wenn es sich um eine Tatsache handle, die keiner ausführlicheren Erörterung bedürfe, weiter:

»Darum hat mein Bruder natürlich gehandelt, wie von ihm zu erwarten stand und wie in dem Fall einer zweiten Vermählung vorauszusehen war. Ich gestehe zwar, es ist mir etwas überraschend gekommen, wie sehr ich mich auch freute; denn als Paul London verließ, dachte ich nicht entfernt daran, er könnte außerhalb der Stadt ein Verhältnis anknüpfen, obschon er bei seiner Abreise vollkommen frei war. Die Sache scheint jedoch von jedem Gesichtspunkte aus ungemein wünschenswert zu sein. Die Mutter ist ohne Zweifel eine sehr manierliche, elegante Frau, und ich habe durchaus kein Recht, mich darüber zu äußern, ob es klug sei, wenn sie bei den Eheleuten bleibt. Das ist Pauls Sache, nicht die meinige – und was Pauls Wahl betrifft, so habe ich bis jetzt nur das Porträt gesehen, das übrigens in der Tat schön ist. Sie hat auch einen schönen Namen«, sagte Mrs. Chick mit nachdrücklichem Kopfschütteln, indem sie sich in ihrem Stuhl zurechtsetzte. »Edith lautet ebenso ungewöhnlich, wie er meiner Meinung nach vornehm klingt. Ich zweifle daher nicht, Lukretia, die Kunde wird Euch freuen, daß die Vermählung in allernächster Zeit stattfinden soll. Natürlich freut Ihr Euch« – abermals ein großer Nachdruck – »und seid entzückt über diesen Wechsel in der Lage meines Bruders, der Euch bei verschiedenen Gelegenheiten so viele Aufmerksamkeit erwiesen hat.«

Die Erwiderung der Miß Tox bestand nicht in Worten, sondern sie nahm nur mit zitternder Hand die kleine Gießkanne auf und schaute hohlen Blicks umher, als gehe sie mit sich zu Rate, welcher sternchenland.com sternchenland.com Teil des Hausgerätes des Begießens wohl am bedürftigsten sein möchte. Bei diesem Wendepunkte ihrer Gefühle tat sich die Zimmertüre auf. Miß Tox fuhr zusammen, lachte laut hinaus und fiel in die Arme der eintretenden Person, zum Glück mit ebensowenig Bewußtsein von dem entrüsteten Gesichte der Mrs. Chick, als von dem an seinem Fenster stehenden Major, der sein doppelröhriges Augenglas in volle Tätigkeit setzte und dessen Gesicht und Gestalt breiter wurde in mephistophelischer Freude.

Nicht so erging es dem aus seinem Vaterland gebannten Eingeborenen, dem erstaunten Unterstützer von Miß Toxs ohnmächtiger Gestalt, der entsprechend den boshaften Weisungen seines Gebieters sich höflich nach der Gesundheit von Miß Tox erkundigen sollte und zufälligerweise eben im rechten Augenblick angekommen war, um die zarte Last mit seinen Armen und den Inhalt der kleinen Gießkanne in seinen Schuh aufzunehmen. – Diese Umstände machten ihn im Verein mit dem Bewußtsein von der aufmerksamen Wachsamkeit des zornigen Majors, der im Falle des Mißlingens ihm jeden Knochen unter der Haut zu zerschlagen gedroht hatte, zu einem lebendigen Schauspiel leiblicher und geistiger Not.

Einige Augenblicke hielt der bestürzte Ausländer mit einem Nachdruck, der in merkwürdigem Gegensatz zu seinem betroffenen Gesicht stand, Miß Tox an sein Herz gedrückt, während diese arme Dame langsam den Inhalt der Gießkanne bis auf den letzten Tropfen an ihm niedergleiten ließ, als sei er eine zarte exotische Pflanze, die vielleicht zum Blühen gebracht werden könnte, während der sanfte Regen auf sie niederfiel. Nachdem endlich Mrs. Chick Geistesgegenwart genug gewonnen hatte, um einzugreifen, befahl sie ihm, Miß Tox auf das Sofa niederzulassen und sich zu entfernen – eine Weisung, welcher der schwarze Diener schnelle Folge leistete. Dann schickte sie sich an, das Ihre beizutragen, um Miß Tox wieder zur Besinnung zu bringen.

Indes machte sich in Mrs. Chicks Benehmen nichts von jener zarten Sorgfalt, durch die sich Evas Töchter in der Regel bei ihrer gegenseitigen Pflege auszeichnen – überhaupt nichts von jener Freimaurerei beim Ohnmächtigwerden bemerklich, durch die sie in der Regel zu einem geheimnisvollen Schwesternbund verkettet sind. Mrs. Chick bediente sich der Riechflasche, des Klopfens auf die Hände, des Besprengens mit kaltem Wasser und anderer erprobter Hilfsmittel eher nach Weise des Henkers, der sein Opfer vor Anwendung der Folter zur Besinnung bringen will. Als nun endlich Miß Tox ihre Augen aufschlug und wieder zu Leben und Bewußtsein kam, trat Mrs. Chick wie vor einer Verbrecherin zurück, um sie im Gegensatz zu dem Vorgang des ermordeten dänischen Königs mehr mit zornglühenden, als mit bekümmerten Blicken zu betrachten.

»Lukretia!« sagte Mrs. Chick. »Ich will nicht versuchen, zu bemänteln, was ich fühle. Die Augen sind mir mit einem Male aufgegangen. Ich würde das nicht für möglich gehalten haben, selbst wenn es mir eine Heilige gesagt hätte.«

»Es war recht töricht von mir, daß ich mich von dieser Ohnmacht anwandeln ließ«, stotterte Miß Tox. »Aber es wird mir bald besser sein.«

»Es wird Euch bald besser sein, Lukretia?« wiederholte Mrs. Chick mit ungemeiner Verachtung. »Meint Ihr, ich sei blind? Glaubt Ihr etwa, ich stehe bereits in meiner zweiten Kindheit? Nein, Lukretia – da muß ich schönstens danken.«

Miß Tox richtete einen flehenden, hilflosen Blick auf ihre Freundin und verbarg ihr Gesicht mit dem Taschentuche.

»Wenn mir jemand das gestern oder auch nur vor einer halben Stunde gesagt hätte«, fuhr Mrs. Chick mit Majestät fort, »so hätte ich ihn wohl zu Boden geschlagen. Lukretia Tox, meine Augen sind mir mit einem Male über Euch aufgegangen. Die Schuppen sind abgefallen. – Mit der Blindheit meines Vertrauens ist es vorbei, Lukretia. Ihr habt es mißbraucht, Euer Spiel damit getrieben, und ich gebe Euch die Versicherung, daß von Ausflüchten nicht weiter die Rede sein kann.«

»Ach, auf was spielt Ihr denn so grausam an, meine Liebe?« fragte Miß Tox unter Tränen.

»Lukretia«, entgegnete Mrs. Chick, »laßt Euch Euer eigenes Herz darüber belehren. Ich muß Euch bitten, mich nicht mehr mit einem so vertraulichen Ausdruck anzureden, wie Ihr eben getan habt. Es ist mir noch einige Selbstachtung übrig geblieben, obschon Ihr das Gegenteil denken mögt.«

»O Louisa!« rief Miß Tox. »Wie könnt Ihr so mit mir sprechen!«

»Wie ich so mit Euch sprechen kann? entgegnete Mrs. Chick, die sich, um einen recht vernichtenden Eindruck zu machen, hauptsächlich auf solche Wiederholungen verließ, wenn es ihr an irgendeinem besonderen Unterstützungsgrund fehlte. »So sprechen? Ihr habt in der Tat allen Grund zu dieser Frage!«

Miß Tox schluchzte kläglich.

»Schon der Gedanke«, fuhr Mrs. Chick fort, »daß Ihr Euch wärmtet an dem Herd meines Bruders wie eine Schlange und durch meine Vermittlung Euch fast in sein Vertrauen einschlicht, Lukretia, um im geheimen hinterlistige Absichten auf ihn zu hegen und den dreisten Gedanken an die Möglichkeit zu pflegen, er könnte sich je mit Euch verbinden! Ha, der Gedanke ist so abgeschmackt«, rief Mrs. Chick mit sarkastischer Würde, »daß der Unsinn desselben fast seine Tücke überbietet!«

»Ich bitte, Louisa«, drängte Miß Tox, »sagt mir nicht so schreckliche Dinge.«

»Schreckliche Dinge?« wiederholte Mr«. Chick. »Jawohl, schreckliche Dinge! Ist es nicht eine Tatsache, Lukretia, daß Ihr eben erst nicht einmal imstande wart, Eure Gefühle auch nur vor mir zu verbergen, deren Augen Ihr so vollständig verblendet hattet?«

»Ich habe mich über nichts beklagt«, schluchzte Miß Tox – »habe gar nichts gesagt. Wenn Eure Neuigkeit mich ein wenig überwältigte, Louisa, wenn ein leiser Gedanke in mir Raum fand, daß mir Mr. sternchenland.com Dombey besondere Zuneigung schenke, so werdet sicherlich Ihr mich nicht verdammen.«

»Sie will sagen«, rief Mrs. Chick, sich mit einem inhaltsschweren Blick von Ergebung und Appellation an das gesamte Möbelwerk wendend – »ich wußte es ja, sie will auch noch sagen, ich habe sie ermutigt?«

»Es kommt mir nicht in den Sinn, Gegenvorwürfe zu erheben, meine teure Louisa«, schluchzte Miß Tox. »Auch ich will mich durchaus nicht beklagen. Aber zu meiner eigenen Rechtfertigung –«

»Ja«, rief Mrs. Chick, sich mit einem prophetischen Lächeln im Zimmer umsehend, »das ist es, was ich sagen will. Ich wußte es ja. Es ist am besten, Ihr bekennt jetzt Farbe. Sprecht nur offen! Sagt unverhohlen, Lukretia Tox«, fügte Mrs. Chick mit verzweifeltem Ernst bei, »was Euch auf dem Herzen liegt.«

»Zu meiner eigenen Rechtfertigung«, stotterte Miß Tox, »und nur als Abwehr Eurer unfreundlichen Worte, meine teure Louisa, will ich Euch nur fragen, ob Ihr nicht oft eine solche Vorstellung begünstigt und sogar gesagt habt, man könne nicht wissen, was noch geschehe.«

»Da haben wir den Kern«, entgegnete Mrs. Chick, sich in einer Weise erhebend, als ob sie nicht auf der schlechten Erde bleiben, sondern sich hoch aufschwingen wolle zu ihrem heimischen Himmel, »über den hinaus jede Geduld lächerlich, wo nicht zum Verbrechen wird. Ich kann viel ertragen, aber was zuviel ist, ist zuviel. Ich weiß nicht, welcher Zauber mich anwandelte, daß ich heute in dieses Haus kommen mußte. Aber ich hatte eine Ahnung – eine schwarze Ahnung«, fügte Mrs. Chick mit einem Schauder bei, »daß etwas vorgehen würde. Wohl war Grund dafür vorhanden, Lukretia, da ich finden mußte, wie das Vertrauen so vieler Jahre in einem Augenblick zerstört wurde. Die Augen sind mir jetzt aufgegangen, und ich sehe Euch in Euren wahren Farben. Lukretia, ich hatte mich in Euch getäuscht, und es ist für uns beide besser, daß die Sache hier ein Ende nehme. Ich wünsche Euch alles Glück – werde Euch stets nur Gutes wünschen. Aber als eine Person, die in ihrer geringen Stellung, wie diese nun sein oder nicht sein mag, sich selbst treu bleiben will – als die Schwester meines Bruders – als die Schwägerin der Gattin meines Bruders – als eine Verwandte der Mutter meiner Schwägerin – es ist mir wohl gestattet, auch noch beizufügen, als eine Dombey! – kann ich Euch nichts anderes wünschen als guten Morgen.«

Mit diesen Worten, die mit schneidender Milde, gedämpft und geläutert durch die stolze Haltung moralischer Rechtschaffenheit, vorgetragen wurden, gelangte die Sprecherin nach der Tür. Dort neigte sie noch einmal den Kopf in gespenstischer, statuenartiger Weise, um sich nach ihrem Wagen zurückzuziehen und in den Armen Mr. Chicks, ihres Gebieters, Trost zu suchen.

Das heißt – symbolisch gesprochen; denn Mr. Chicks Arme waren voll von seiner Zeitung. Auch richtete dieser Gentleman seine Augen nur verstohlen auf die Gattin, ohne daß er tat, als wolle er ihr Trost spenden. Mit einem Wort, er saß lesend da, summte die Schlußverse sternchenland.com von Liedern vor sich hin und warf gelegentlich einen Seitenblick nach ihr, ohne in Gutem oder Bösem eine Silbe verlauten zu lassen.

Inzwischen nahm Mrs. Chick mit aufgeblasenem Hochmut Platz und warf ihren Kopf auf, als spreche sie noch immer die feierliche Abschiedsformel an Lukretia Tox vor sich hin. Endlich rief sie laut:

O, wie weit sind mir heute nicht die Augen aufgegangen!«

»Über was sind dir die Augen aufgegangen, meine Liebe?« fragte Mr. Chick.

»Ach, rede nicht mit mir!« versetzte Mrs. Chick. »Wenn du es ertragen kannst, mich in diesem Zustand zu sehen, ohne zu fragen, was vorgefallen ist, so tust du am besten, für immer den Mund zu halten.«

»Nun, was hat es denn gegeben, meine Liebe?« fragte Mr. Chick.

»Schon der Gedanke«, sagte Mrs. Chick wie im Selbstgespräch, »daß sie sich je die schnöde Einbildung anwandeln lassen konnte, durch eine Heirat mit Paul in unsere Familie zu gelangen! Der Gedanke, daß sie, als sie mit dem lieben Kinde, das jetzt im Grabe liegt, Pferdchen spielte – es hat mir schon damals nicht gefallen – einen so tückischen Anschlag in ihrem Innern barg! Ich wundere mich, daß sie nie fürchtete, es könnte ihr etwas zustoßen; und sie darf von Glück sagen, daß es nicht geschah.«

»Ich habe wahrhaftig geglaubt, meine Liebe«, sagte Mr. Chick langsam, nachdem er eine Weile den Sattel seiner Nase mit der Zeitung gerieben hatte, »du seist bis auf heute morgen immer derselben Spur nachgegangen. Es kam mir vor, die Sache wäre angemessen genug, wenn sie zustande gebracht werden könnte.«

Mrs. Chick brach hierüber in Tränen aus und erklärte Mr. Chick, wenn er sie mit Füßen zu treten wünsche, so solle er es lieber gleich tun.

»Aber mit Lukretia Tox bin ich fertig«, sagte Mrs. Chick, nachdem sie sich zu Mr. Chicks großem Schrecken einige Minuten ihren Gefühlen hingegeben hatte. »Ich kann es ertragen, auf Pauls Vertrauen zugunsten einer Person zu verzichten, die, wie ich hoffe und glaube, es verdienen wird, und mit der er, wenn er will, die arme Fanny zu ersetzen vollkommen berechtigt ist. Ich kann es ertragen, daß mir Paul in seiner kalten Weise eine solche Veränderung seiner Pläne mitteilt, ohne mich je beraten zu haben, bis alles abgetan und im reinen war. Aber Hinterlist ertrage ich nicht, und mit Lukretia Tox bin ich fertig. Es wird besser sein, wie es ist«, sagte Mrs. Chick mit frommem Augenaufschlag; »viel besser. Nach diesem Vorgang würde es lang gedauert haben, ehe ich mich wieder gut mit ihr hätte stellen können, und ich weiß wahrhaftig nicht, ob das überhaupt angängig gewesen wäre und mir nicht Unehre gemacht haben würde, da es Paul so gar großartig nimmt. Es waltet eine Vorsehung in allem; was geschieht, muß ihren weisen Zwecken dienen, und wie schwer ich auch heute heimgesucht wurde, so kann ich es im ganzen nicht bedauern.«

Mit diesen christlichen Gedanken trocknete Mrs. Chick ihre Augen, strich ihr Kleid zurecht und nahm eine Haltung an, wie sie einer sternchenland.com Dame zusteht, die unter einem großen Unrecht leidet. Mr. Chick ersah, ohne Zweifel im Gefühl seines Unwertes, ehestens eine Gelegenheit, um sich an einer Straßenecke absetzen zu lassen, und ging, die Hände in die Tasche gesteckt und mit sehr erhobenen Schultern, pfeifend weiter.

Inzwischen befeuchtete die arme gebannte Miß Tox, die in ihrer tiefen Verehrung vor der Großartigkeit des Mr. Dombey wenigstens eine ehrliche und beständige Wohldienerin und stets eine treue Freundin ihrer Anklägerin gewesen war, ihre Blumen mit Tränen und fühlte, daß es auf dem Prinzessinnenplatz Winter sei.

Drittes Kapitel.


Drittes Kapitel.

In welchem sich Mr. Dombey als Mann und Vater an der Spitze seines Hauswesens zeigt.

Das Begräbnis der verstorbenen Frau war vorüber – zur völligen Zufriedenheit des Bestatters sowohl, als auch der Nachbarschaft im allgemeinen, die in derartigen Punkten sehr eigen ist und gar gerne an jedem Unterlassungs- oder Verkürzungsfall der Feierlichkeiten Anstoß nimmt; die verschiedenen Glieder von Mr. Dombeys Hauswesen konnten also ihre Plätze wieder einnehmen. Eine solche kleine Welt ist, ebenso wie die große draußen, geeignet, ihre Toten sternchenland.com gar bald zu vergessen, und nachdem die Köchin die Selige für eine gute Dame erklärt, die Haushälterin ihre Meinung dahin abgegeben, daß Sterben das gemeinsame Los sei, der Kellermeister sich gewundert und gefragt, wer das auch gedacht hätte, die Hausmagd erklärt, daß sie es kaum glauben könne, und der Diener gesagt hatte, der Vorfall komme ihm wie ein Traum vor, war der Gegenstand für sie einstweilen erledigt, und sie dachten daran, daß die Trauer zuletzt langweilig werden würde.

Für Richards, die wie eine ehrenwerte Gefangene eine Treppe hoch einquartiert worden war, begann der nächste Morgen kalt und grau. Mr. Dombeys großes Haus stand auf der Schattenseite einer langen, düsteren, traurig vornehmen Straße in der Gegend zwischen Portland-Place und Bryanstone-Square. Es war ein Eckhaus, hatte große weite Höfe, Keller mit vergitterten Fenstern und schielte einen durch schiefäugige Türen an, die zu Staubbehältern führten. Es war ein unheimliches, mit einer halbkreisförmigen Hinterseite versehenes Haus, und die Besuchzimmer gingen auf einen Kieshof hinaus, wo zwei hagere Bäume mit geschwärzten Stämmen und Zweigen standen, deren vom Rauch ausgetrocknete Blätter eher rasselten als rauschten. Die Mittagssonne sandte ihre Strahlen nie in diese Straße, sondern kam nur morgens um die Frühstückszeit mit den Wasserkarren, den Kleidertrödlern, den Blumenverkäufern, den Schirmflickern und dem Mann, der während seiner Wanderung die Schwarzwälderuhr schlagen ließ, war aber bald wieder verschwunden, um sich an diesem Tage nicht mehr blicken zu lassen. Die Musikbanden und die Puppenspieler zogen ihr nach, um den Platz den unheimlichen Drehorgeln und den weißen Mäusen, hin und wieder auch zur Abwechslung einem Stachelschweine als Beute zu überlassen, bis die Diener, deren Familien auswärts speisten, im Zwielicht unter die Haustüren traten und der Laternenanzünder jeden Abend einen vergeblichen Versuch machte, die Straßen durch Gaslicht zu erhellen.

Innen war das Haus ebenso öde wie außen. Nachdem das Begräbnis vorüber war, erteilte Mr. Dombey Befehl, alle Möbel zu verhüllen – vielleicht, um sie für den Sohn, an den sich alle seine Pläne knüpften, aufzubewahren – und aus den Zimmern, mit Ausnahme derjenigen, die er im Erdgeschoß selbst bewohnen wollte, alle Ziergegenstände zu entfernen. Tische und Stühle, die mitten im Zimmer einfach zusammengehäuft und mit großen Tüchern bedeckt wurden, nahmen geheimnisvolle Formen an. Die Klingelhandgriffe, die Jalousien und die Spiegel erhielten eine Umhüllung aus Zeitungspapier, in denen sich fragmentarische Berichte über Todesfälle und schreckliche Mordtaten unwillkürlich dem Beschauer aufdrängten. Sämtliche Kronleuchter sahen, in Leinwand gehüllt, wie ungeheure Tränen aus, die von der Decke herabhingen. Aus den Kaminen drangen Gerüche wie aus Gewölben und feuchten Plätzen hervor. Die tote und begrabene Dame blickte unheimlich aus einem Bilderrahmen, der eine geisterhafte Umhüllung erhalten hatte, sternchenland.com nieder. Jeder Windstoß wirbelte aus den benachbarten Pferdeställen um die Ecke herum etwas von dem Stroh, das man vor das Haus gestreut hatte, als sie noch krank war, und das noch immer in verwitterten Überresten an den Pflastersteinen der Nachbarschaft klebte. Diese Überbleibsel wurden nun stets vermöge einer unsichtbaren Anziehung nach der Schwelle des Hauses, das unmittelbar gegenüber zu vermieten war, geweht, und richteten ihre unheimliche Beredsamkeit gegen Mr. Dombeys Fenster.

Die Gemächer, die Mr. Dombey sich für den eigenen Gebrauch vorbehalten hatte, waren alle von der Halle aus zu betreten und bestanden aus einem Wohnzimmer, aus einer sogenannten Bibliothek, die aber in Wirklichkeit ein Ankleidezimmer war, so daß sich der Geruch von heißgepreßtem Papier, Pergament, Maroquin und Juchten mit dem Geruch mehrerer Stiefelpaare stritt, und einer Art Speisekammer oder einem kleinen verglasten Frühstückszimmer jenseits, das eine Aussicht auf die vorerwähnten Bäume und in der Regel auch auf etliche herumschleichende Katzen bot. Diese drei Zimmer gingen ineinander. Morgens, wenn Mr. Dombey in einem der beiden zuerst genannten Gemächer beim Frühstück saß, oder nachmittags, wenn er zum Diner nach Hause kam, wurde eine Klingel gezogen, die Richards nach dem verglasten Gemach rief, wo sie mit ihrem jungen Pflegling auf und ab gehen mußte. Aus den Blicken, die sie zu solchen Zeiten nach Mr. Dombey hingleiten ließ, der hinten im Zimmer saß und hinter einem der dunkeln, schwerfälligen Möbel hervor nach dem Kinde sah – das Haus war vor Jahren von seinem Vater bewohnt worden, und manche Gegenstände machten einen geradezu finsteren und altmodischen Eindruck –, begann sie sich Vorstellungen über seinen einsamen Zustand zu machen, und es kam ihr vor, als sei er ein einsamer Gefangener in einer Zelle, oder eine seltsame Erscheinung, die nicht angeredet oder näher betrachtet werden durfte.

Die Amme des kleinen Paul Dombey hatte schon mehrere Wochen ihr einsames Leben geführt und ihren Paul umhergetragen. Eines Tages war sie nach einem melancholischen Spaziergang durch die traurigen Prunkgemächer (sie ging nämlich nie ohne Mrs. Chick aus, die, gewöhnlich vom Miß Tox begleitet, an schönen Vormittagen vorzusprechen pflegte, um sie und ihren Säugling an die Luft zu führen, oder mit andern Worten, sie wie eine wandelnde Trauer gravitätisch auf dem Pflaster hin und her traben zu lassen) nach ihrem obern Stübchen zurückgekehrt und hatte gerade Platz genommen, als die Tür sich langsam öffnete und ein schwarzäugiges kleines Mädchen hereinsah.

»Ohne Zweifel ist es Miß Florence, die von ihrer Tante nach Haus zurückgekommen ist«, dachte Richards, die das Kind nie zuvor gesehen hatte. »Freut mich, Euch wohl zu sehen, Miß.«

»Ist das mein Bruder?« fragte das Kind und zeigte auf den Säugling.

»Ja, mein Töchterchen«, antwortete Richards. »Kommt her und küßt ihn.«

Statt aber näher heranzutreten, sah ihr das Kind ernst ins Gesicht und sagte:

»Was habt Ihr mit meiner Mama gemacht?«

»Gott segne das kleine Geschöpf!« rief Richards, »welch betrübte Frage! Was ich mit Eurer Mama gemacht habe? Nichts, Miß.«

»Was hat man mit meiner Mama angefangen?« fragte das Kind.

»In meinem Leben hat mich noch nichts so ergriffen«, sagte Richards, die sich natürlich an Stelle dieses Kindes eines ihrer eigenen dachte, das unter ähnlichen Umständen nach ihr fragte. »Kommt nur näher heran, meine teure Miß! Ihr braucht Euch nicht vor mir zu fürchten.«

»Ich fürchte mich nicht vor Euch«, sagte das Kind, näher tretend. »Aber ich möchte wissen, was man mit meiner Mama angefangen hat.«

»Mein Herzchen«, entgegnete Richards, »Ihr tragt dieses hübsche schwarze Kleidchen zur Erinnerung an Eure Mama.«

»Ich kann mich in jedem Kleide an meine Mama erinnern«, erwiderte das Kind und Tränen traten ihm in die Augen.

»Aber die Leute kleiden sich schwarz zum Gedächtnis der Personen, die dahingegangen sind.«

»Wohin gegangen?« fragte das Kind.

»Kommt und setzt Euch zu mir«, sagte Richards, »ich will Euch dann ein Geschichtchen erzählen.«

In der Hoffnung, sie werde Auskunft erhalten, über das, wonach sie gefragt hatte, legte die kleine Florence ihr Hütchen, das sie bisher in der Hand gehalten hatte, bei Seite und setzte sich hurtig auf einen Schemel zu den Füßen der Amme, und sah ihr ins Gesicht.

»Es war einmal eine Frau«, begann Richards – »eine sehr gute Frau, und ihr Töchterlein liebte sie sehr.«

»Eine sehr gute Frau und ihr Töchterlein liebte sie sehr«, wiederholte das Kind.

»Da dachte Gott, es sei recht, daß es so sein sollte; und sie wurde krank und starb.«

Das Kind schauderte.

»Starb, um nie wieder von jemand auf Erden gesehen zu werden, und wurde begraben in der Erde, wo die Bäume wachsen.«

»In der kalten Erde«, versetzte das Kind, abermals schaudernd.

»Nein, der warmen Erde«, erwiderte Polly, ihren Vorteil erfassend, »wo die kleinen Samenkörner sich in schöne Blumen verwandeln, und in Gras, und in Korn und was weiß ich alles. Wo gute Menschen zu schönen Engeln werden und nach dem Himmel hinauf fliegen!«

Das Kind, welches das Köpfchen gesenkt hatte, erhob es jetzt wieder und blickte die Erzählerin aufmerksam an.

»So – laßt mich sehen«, fuhr Polly fort, die durch diese ernste sternchenland.com Musterung, ihren Wunsch, das Kind zu trösten, ihren plötzlichen Erfolg und das geringe Vertrauen in ihre eigenen Kräfte ein wenig in Verwirrung geriet. »Ja, so ist es – als diese Dame starb, ging sie zu Gott, wohin immer man sie auch genommen haben mag; und sie betete zu ihm. – Ja, das tat sie«, sagte sie in großer Erregung, da es ihr Ernst war, »er möge ihr Töchterlein lehren, daß es diese Überzeugung immer fest in seinem Herzen trage, und ihm kund tun, daß sie im Himmel glücklich sei, und ihr Kind noch immer liebe. Es solle daher hoffen und alle seine Kräfte aufbieten – ja, das ganze Leben lang –, daß es eines Tages dort wieder mit ihr zusammentreffe, um nie, nie, nie wieder von ihr getrennt zu werden.«

»Das war meine Mutter!« rief das Kind aufspringend und schlang seine Arme um den Nacken der Amme.

»Und das Herz des Kindes«, sagte Polly, sie an ihre Brust ziehend, »das Herz der kleinen Tochter war so voll von dieser Wahrheit, daß sie, selbst als sie sie von einer fremden Amme erzählen hörte, die es nicht mal recht erzählen konnte, sondern selbst weiter nichts als eine arme Mutter war, einen Trost darin fand. Sie fühlte sich nicht mehr so einsam – sie schluchzte und weinte an ihrem Busen – und sie liebte das kleine Kindlein, das in ihrem Schoß lag und – da, da, da!« fügte Polly bei, indem sie die Locken des Kindes zurückstrich, auf welche ihre Tränen niederfielen, »das arme Herzchen!«

»So, das ist ja schön, Miß Floy! Und wird Euer Pa nicht wieder zornig werden?« rief von der Tür her eine schrille Stimme, die aus dem Munde eines kleinen, braunen, altklugen Mädchens von vierzehn Jahren mit einer Mopsnase und pechschwarzen Augen kam. »Hat er doch ausdrücklich befohlen, Ihr sollt nicht zu der Amme gehen und sie belästigen?«

»Aber sie belästigt mich durchaus nicht«, erwiderte Polly überrascht. »Ich habe die Kinder gerne.«

»O, ich bitte um Verzeihung, Mrs. Richards; doch Ihr müßt wissen, daß es darauf nicht ankommt«, versetzte das schwarzäugige Mädchen, das so verzweifelt scharf und beißend war, daß es wie eine Zwiebel einem das Wasser in die Augen bringen konnte. »Ich esse auch gerne Penny-Semmeln, Mrs. Richards, aber daraus folgt noch nicht, daß ich sie statt des Tees erhalte.«

»Na, das macht nichts«, sagte Polly.

»O, danke schön, Mrs. Richards – meint Ihr?«, entgegnete das schnippische Mädchen. »Vergeßt übrigens nicht, wenn Ihr so gut sein wollt, daß Miß Floy unter meiner Obhut steht und Master Paul unter der Eurigen.«

»Deswegen brauchen wir uns ja nicht zu zanken«, sagte Polly.

»O nein, Mrs. Richards«, erwiderte der kleine Sprühteufel. »Durchaus nicht, ich wünsche das auch nicht, denn wir stehen nicht auf solchem Fuße miteinander. Miß Floy ist ein dauernder Pflegling, Master Paul nur ein vorübergehender.« Sprühteufel bediente sich sternchenland.com keiner andern als Kommapausen, und alles, was sie zu sagen hatte, strömte womöglich in einem einzigen Satze, in einem Atem heraus.

»Miß Florence ist eben erst nach Hause gekommen, nicht wahr?« fragte Polly.

»Ja, Mrs. Richards, eben erst nach Hause gekommen, und kaum daß Ihr eine Viertelstunde hier seid, Miß Floy, geht Ihr schon hin und beschmiert mit Eurem feuchten Gesicht das teure Trauerkleid, das Mrs. Richards für Eure Ma trägt.«

Nach dieser Vorhaltung riß der junge Sprühteufel, deren eigentlicher Name Susanna Nipper war, mit einem Ruck die Kleine von ihrer neuen Freundin los, als ob sie ein fauler Zahn wäre. Doch schien sie es mehr aus übergroßem Diensteifer, als aus überlegter Lieblosigkeit zu tun.

»Sie freut sich so, daß sie wieder zu Hause ist«, sagte Polly, indem sie Florence mit einem ermutigenden Lächeln zunickte, »und wird sich noch mehr freuen, wenn sie heute abend ihren lieben Papa zu sehen bekommt.«

»Du meine Güte, Mrs. Richards!« rief Miß Nipper, ihr rasch ins Wort fallend, »sprecht nicht so. Ihr meint doch ihren lieben Papa sehen! So etwas möchte ich wohl auch mal erleben!«

»Wird sie es denn nicht?« fragte Polly.

»Du meine Güte, Mrs. Richards, nein, ihr Papa ist viel zu sehr auf jemand anders versessen, und schon ehe dieser jemand anders da war, war sie nie sonderlich beliebt. Mädchen gelten in diesem Hause nichts, Mrs. Richards, kann ich Euch versichern.«

Die Kleine sah hastig von der einen Pflegerin auf die andere, als ob sie fühlte und verstünde, was gesprochen wurde.

»Ihr setzt mich in Erstaunen!« rief Polly. »Hat Mr. Dombey nie nach ihr gefragt, seit –«

»Nein«, unterbrach sie Susanna Nipper. »Nicht ein einziges Mal, und seit Jahr und Tag hat er sie kaum mit einem Auge angesehen, und ich glaube, er würde in ihr sein eigenes Kind nicht erkennen, wenn er sie auf der Straße getroffen hätte, oder er würde sie nicht als eigenes Kind erkennen, wenn er ihr morgen auf der Straße begegnete, Mrs. Richards. Was mich betrifft«, fügte Sprühteufel mit einem Kichern hinzu, »so zweifle ich, ob er überhaupt von meinem Dasein etwas weiß.«

»Liebes Herz«, sagte Richards, meinte aber damit nicht Miß Nipper, sondern die kleine Florence.

»O, nicht weit von hier, wo wir jetzt sprechen, ist ein Tatar, kann ich Euch sagen, Mrs. Richards, Anwesende natürlich immer ausgenommen«, bemerkte Susanna Nipper; »wünsche Euch guten Morgen, Mrs. Richards, nun, Miß Floy, kommt jetzt mit mir und bleibt nicht zurück wie ein garstiges unartiges Kind, das nicht verständig sein will.«

Trotz dieser Beschwörung und ungeachtet eines Rucks von seiten der Susanna Nipper, der recht wohl eine Verrenkung der Schulter sternchenland.com hätte zur Folge haben können, riß die kleine Florence sich los und küßte ihre neue Freundin mit Innigkeit.

»Lebt wohl!« sagte das Kind. »Gott behüte Euch! Ich komme bald wieder zu Euch, und Ihr werdet mich doch auch besuchen? Susanna wird es schon zugeben. Nicht wahr, Susanna?«

Sprühteufel schien von Natur aus ein gutmütiges Geschöpf zu sein, obschon sie in jener Schule gebildet worden war, in der man sich mit der neuen Idee trägt, die Jugend müsse wie das Geld tüchtig geschüttelt und gerüttelt werden, um blank zu bleiben. Bei dieser durch liebkosende Gebärden unterstützten Berufung faltete sie ihre kleinen Arme, schüttelte den Kopf und legte einen mildernden Ausdruck in ihre weit offenen schwarzen Augen.

»Es ist nicht recht von Euch, das zu verlangen, Miß Floy, denn Ihr wißt, ich kann Euch nichts abschlagen. Aber Mrs. Richards und ich, wir wollen sehen, was sich tun läßt, wenn Mrs. Richards gerne eine Fahrt nach Chaney macht, aber ich weiß vielleicht nicht, wie ich aus den London Docks kommen soll.«

Richards ging auf diesen Vorschlag ein.

»In diesem Hause geht es gerade nicht so lustig her«, fuhr Miß Nipper fort, »daß man gerne noch einsamer sein möchte, als man ohnehin schon ist. Die Toxes und Chickes können mir zwar meine beiden Vorderzähne ausziehen, Mrs. Richards, aber das ist noch kein Grund für mich, ihnen die ganze Reihe anzubieten.«

Diese Ansicht fand als sehr vernünftig bei Richards gleichermaßen Beifall.

»Es ist mir wahrhaftig ganz angenehm«, sagte Susanna Nipper, »mit Euch in Freundschaft zu leben, Mrs. Richards, solang Master Paul unter Euren Händen bleibt, und wenn es sich so einrichten läßt, daß nicht offen gegen die Befehle gehandelt wird, – aber du meine Güte, Miß Floy, Ihr habt Eure Sachen noch nicht gehabt, Ihr garstiges Kind, nein, Ihr habt nicht, so kommt mit!«

Mit diesen Worten unternahm Susanne Nipper einen gewaltigen Angriff auf ihren jungen Schützling und fegte mit Florence zur Tür hinaus.

In ihrem Kummer und in ihrer Vernachlässigung war die Kleine so sanft, so ruhig und klaglos; sie besaß so viel Anhänglichkeit, um die sich niemand zu kümmern schien, und aus ihrer wehmütigen Stimmung machte man sich so gar nichts, daß Polly das Herz sehr schwer wurde, als sie sich wieder allein befand. Durch den einfachen Vorgang, der zwischen ihr und dem mutterlosen kleinen Mädchen stattgefunden hatte, war ihr Gemüt nicht weniger ergriffen worden, als das des Kindes, und sie fühlte gleich dem Kinde, daß in diesem Augenblicke eine Grundlage des Vertrauens und der Teilnahme zwischen ihnen gelegt worden war.

So großes Vertrauen Mr. Toodle auch zu Polly hatte, stand sie vielleicht im Punkte erworbener Vorzüge nur sehr wenig über ihm; sie war indes ein gutes einfaches Pröbchen jener Natur, die man bei Frauen in untergeordneter Stellung stets besser, treuer, edler, sternchenland.com zartfühlender und aufopferungsvoller findet, als bei den Männern. So wenig Schulbildung sie auch genossen, hätte sie doch vielleicht jetzt schon eine Art dämmernder Erkenntnis in Mr. Dombeys Haus bringen können und es würde den Gebieter desselben jetzt noch nicht so wie es zuletzt doch geschah, gleich einem Blitze getroffen haben.

Doch das führt uns von der Hauptsache ab. Polly dachte damals nur daran, wie sie die Geneigtheit der Miß Nipper benützen und ein oder das andere Mittel ersinnen könne, um auf gesetzlichem Wege und ohne Rebellion die kleine Florence auf ihre Seite zu bringen. Eine Einleitung dazu bot sich schon am selben Abend.

Die Klingel hatte sie wie gewöhnlich nach dem verglasten Gemache hinunter berufen, und sie ging lange mit ihrem Säugling in dem Arme auf und ab, als plötzlich zu ihrem großen Erstaunen und Entsetzen Mr. Dombey herauskam und vor sie hintrat.

»Guten Abend, Richards.«

Ganz der nämliche strenge, steife Gentleman, wie er ihr am ersten Tage erschienen war. Ein Herr mit einem so scharfen Blicke, daß sie unwillkürlich die Augen senkte und einen Knix machte.

»Wie geht es Master Paul, Richards?«

»Er ist wohl und gedeiht vortrefflich, Sir.«

»Er sieht so aus«, versetzte Mr. Dombey mit großem Interesse das Gesichtchen betrachtend, das sie mit scheinbarer Sorglosigkeit zur Beschauung enthüllte. »Hoffentlich gibt man Euch doch alles, was Ihr braucht.«

»O ja, ich danke Euch, Sir.«

Dieser Antwort folgte aber plötzlich ein so augenfälliges Stocken, daß Mr. Dombey, der sich bereits abgewendet hatte, stehen blieb und sich fragend umwandte.

»Ich glaube, nichts ist so geeignet, Kinder lebhaft und heiter zu machen, Sir, als wenn sie andere Kinder um sich spielen sehen«, bemerkte Polly, allen ihren Mut zusammennehmend.

»Ich denke, Richards«, versetzte Mr. Dombey mit einem Stirnrunzeln, »ich habe Euch schon bei Eurem Hierherkommen gesagt, daß ich von Eurer Familie so wenig als möglich zu sehen wünsche. Ihr könnt jetzt Euren Spaziergang wieder fortsetzen.«

Mit diesen Worten zog er sich wieder in das Innere seines Zimmers zurück. Für Polly war es eine gewisse Genugtuung, zu wissen, daß er sie durchaus mißverstanden hatte, doch fühlte sie zugleich, daß sie in Ungnade gefallen war, ohne ihren Zweck auch nur im mindesten gefördert zu haben.

Als sie am nächsten Abend wieder herunter kam, ging Mr. Dombey in dem Konservatorium hin und her. Durch diesen ungewohnten Anblick eingeschüchtert, blieb sie an der Tür stehen; ihrer Ungewißheit aber, ob sie vortreten oder sich zurückziehen sollte, machte der Hausherr selbst ein Ende, indem er sie hereinrief.

»Wenn Ihr wirklich glaubt, daß diese Art von Gesellschaft gut für das Kind sei«, sagte er in herbem Tone und als ob zwischen dem sternchenland.com Vorschlage und seiner jetzigen Erwiderung gar kein Zwischenraum liege, »wo ist Miß Florence?«

»Gerade an Miß Florence dachte ich, Sir«, versetzte Polly hastig; »aber ich habe von ihrer kleinen Jungfer gehört, daß sie nicht dürften –«

Mr. Dombey zog die Klingel und ging im Zimmer auf und ab, bis jemand erschien.

»Ich befehle hiermit ein- für allemal, daß Miß Florence zu Richards darf, so oft sie will; auch kann sie mit ihr ausgehen und dergleichen. Ich will, daß man die Kinder zusammen lasse, so oft Richards es wünscht.«

Das Eisen war jetzt heiß und Richards schmiedete tapfer darauf los – handelte es sich doch um eine gute Sache, und das gab ihr Mut, obschon sie sich instinktiv vor Mr. Dombey fürchtete. So stellte sie nun das Gesuch, man möchte Miß Florence hin und wieder herunterschicken, damit sie sich mit ihrem kleinen Bruder befreunden könne. Als der Diener sich mit dieser Weisung entfernte, stellte sie sich, als spiele sie mit dem Kinde; indes glaubte sie zu bemerken, daß Mr. Dombeys Farbe sich veränderte, daß der Ausdruck seines Gesichtes ganz anders wurde, und daß er sich hastig abwendete, als möchte er gerne seine, ihre oder beider Worte widerrufen, wenn ihn nicht die Scham davon abhielte.

Und sie hatte recht. Er hatte sein vernachlässigtes Kind zum letztenmal gesehen, wie es in der schmerzlichen Umarmung seiner sterbenden Mutter lag, und dieser Rückblick war für ihn mit einem Male eine Enthüllung sowohl als ein Vorwurf. Mochte er, so sehr er wollte, von dem Sohn in Anspruch genommen sein, auf den er so hohe Hoffnungen baute, diese Schlußszene konnte er nicht vergessen, und stets mußte sich ihm die Erinnerung aufdrängen, daß er keinen Teil daran gehabt hatte. Sie war so voll tiefer, klarer Innigkeit und Wahrheit gewesen; die beiden Gestalten hatten sich mit ihren Armen umschlungen, während er, ganz ausgeschlossen davon, von einer kleinen Erhöhung aus als bloßer Zuschauer, fremd und kalt auf sie herabsah.

Er konnte diese Dinge nicht aus seinem Gedächtnis verdrängen und seinen Geist nicht frei halten von den unvollkommenen Gestalten, die sich zur Läuterung der Wahrheit ihm aufdrangen, als wollten sie gewaltsam durch den Nebel seines Stolzes brechen. Seine frühere Gleichgültigkeit gegen die kleine Florence ging in ein ganz außergewöhnliches Unbehagen über, und es kam ihm fast vor, als ob das Kind ihn bewache und Mißtrauen in ihn setze – als habe es den Schlüssel zu einem Geheimnis in seiner Brust, dessen Wesenheit er selbst kaum kannte, – als erschaue es instinktartig eine schrille mißtönende Saite in seiner Seele, die es schon durch seinen Atem zum Vibrieren bringen könne.

Seine Gefühle gegen die Kleine waren schon von ihrer Geburt an bloß negativ gewesen. An eine Abneigung dachte er nie, denn diese hätte der Zeit und Mühe nicht verlohnt. Sie war ihm nie sternchenland.com ein entschieden unangenehmer Gegenstand gewesen, aber jetzt fühlte er sich um ihretwillen beunruhigt. Sie störte seinen Frieden. Wie gerne hätte er die Gedanken an sie ganz und gar beseitigt, wenn er nur gewußt hätte, wie er es angreifen sollte. Vielleicht fürchtete er sich – wer vermag in solche Mysterien einzudringen? – daß er zuletzt so weit kommen könnte, sie zu hassen.

Als die kleine Florence schüchtern eintrat, unterbrach Mr. Dombey sein Hin- und Hergehen, um sie ins Auge zu fassen. Würde er sie mit größerer Teilnahme und mit dem Auge eines Vaters betrachtet haben, so hätte er in ihrem scharfen Blicke die Gründe und die Besorgnisse, unter denen sie erbebte, erfassen können – den leidenschaftlichen Wunsch, auf ihn zuzueilen, ihr Antlitz an seiner Brust zu verbergen und ihm zuzurufen: »O Vater, versuche es, mich zu lieben! Es ist ja kein fremdes, es ist dein eigenes Kind!« – die Furcht vor einer Zurückweisung, die Scheu, als zu dreist zu erscheinen und ihm Anstoß zu geben, die Hoffnung auf irgendeine Ermutigung oder Beruhigung. Ach, das arme, schwer bedrückte junge Herz sehnte sich nach einem natürlichen Ruheplatz für sein Leid, für seine Innigkeit.

Aber er sah nichts von alledem – nur daß sie unschlüssig an der Tür stand und ihn ansah, weiter nichts.

»Nur herein«, sagte er; »komm herein. Wovor fürchtet sich denn das Kind?«

Sie trat ein, und nachdem sie sich einen Augenblick mit unsicherer Miene umgesehen hatte, blieb sie in der Nähe der Tür stehen und preßte ihre Händchen fest zusammen.

»Komm her, Florence«, sagte der Vater kalt. »Weißt du, wer ich bin?«

»Ja, Papa.«

Die Tränen, die an ihren Wimpern hingen, als sie ihre Augen rasch zu seinem Antlitz erhob, erstarrten ob dem Ausdruck, den sie daselbst wahrnahm. Sie sah wieder zur Erde und streckte die zitternde Hand aus.

Mr. Dombey nahm sie leicht zwischen seine Hände und blickte einen Moment auf das Kind nieder, als wisse er ebensowenig als Florence, was er sagen oder tun sollte.

»So! Sei ein gutes Mädchen«, sagte er, ihr den Kopf streichelnd und gewissermaßen mit einem verstohlenen, unruhigen und zweifelhaften Blick auf sie niederschauend. »Geh zu Richards! Geh!«

Die Kleine zögerte noch einen Augenblick, als möchte sie noch immer sich an ihm festhalten oder als habe sie doch wenigstens die Hoffnung, er könne sie auf seine Arme nehmen und sie küssen. Abermals blickte sie zu seinem Gesicht auf. Da kam ihm der Gedanke, wie sehr der Ausdruck ihres Antlitzes dem gleiche, den er bemerkt hatte, als sie sich in jener Nacht nach dem Doktor umsah. Instinktiv ließ er ihre Hand fallen und wandte sich ab.

Man konnte leicht bemerken, daß sich Florence in Gegenwart ihres Vaters sehr unfrei benahm. Nicht nur auf dem Geiste des sternchenland.com Kindes, sondern auch auf der natürlichen Anmut und Freiheit ihrer Bewegungen lag ein unnatürlicher Zwang. Gleichwohl freute sich Polly über diese Szene und setzte, da sie Mr. Dombey nach sich selbst beurteilte, ein großes Vertrauen in die stumme Berufung, die sich in dem Trauerkleide der armen kleinen Florence aussprach. »’s ist in der Tat hart«, dachte Polly, »daß er nur an das eine mutterlose Kindlein denkt, während er doch ein anderes und dazu noch ein Mädchen vor seinen Augen hat.«

Und so hielt sie denn Florence so lang als sie nur konnte vor seinen Augen und wußte es mit dem kleinen Paul so einzurichten, daß auch der Vater sehen mußte, das Brüderchen sei nur um so lebhafter und munterer, wenn ihm die Schwester Gesellschaft leiste. Als es Zeit war, wieder hinaufzugehen, hätte sie gar gerne die Kleine in das innere Zimmer geschickt, damit sie ihrem Vater gute Nacht sage; aber das Kind war zu schüchtern und wollte nicht. Als sie aufs neue in Florence drang, verhüllte diese die Augen mit ihren Händchen, als wollte sie sich ihre eigene Unwürdigkeit verbergen, und rief:

»O nein, nein! Er will nichts von mir. Er will nichts von mir!«

Der kleine Wortstreit hatte Mr. Dombeys Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er fragte vom Tische her, wo er bei seinem Weine saß, was es gebe.

»Miß Florence ist besorgt, Euch zu stören, Sir, wenn sie hineinkäme, um Euch gute Nacht zu sagen«, versetzte Richards.

»Tut nichts«, entgegnete Mr. Dombey. »Ihr könnt sie kommen und gehen lassen, ohne daß sie auf mich zu achten braucht.«

Als das Kind das hörte, erbebte es und war fort, ehe ihre bescheidene Freundin wieder sich nach ihr umsehen konnte.

Gleichwohl triumphierte Polly nicht wenig über den Erfolg ihres wohlangelegten Planes und über die Gewandtheit, die sie dabei zutage gefördert hatte. Als sie wieder wohlbehalten in ihrem oberen Stübchen angelangt war, machte sie dem Sprühteufel eine ausführliche Mitteilung davon. Miß Nipper nahm diesen Beweis ihres Vertrauens und die Aussicht auf einen freieren Verkehr für die Zukunft etwas kalt auf und zeigte sich durchaus nicht enthusiastisch in ihren Freudenbezeugungen.

»Ich hätte geglaubt, Ihr würdet Euch darüber freuen«, sagte Polly.

»O ja, Mrs. Richards, ich freue mich recht sehr darüber, danke Euch«, entgegnete Susanne, die plötzlich so kerzengerade geworden war, daß es den Anschein hatte, als habe sie ihrem Schnürleib ein neues Fischbein einverleibt.

»Ihr zeigt es aber nicht«, sagte Polly.

»O, da ich ja nur eine permanente Person bin, so kann von mir nicht erwartet werden, daß ich mich dabei wie eine temporäre benehme«, versetzte Susanna Nipper. »Temporäre greifen hier rasch durch, finde ich, aber obgleich eine treffliche Scheidewand zwischen diesem Haus und dem nächsten ist, möchte ich mich doch nicht gerade dort einquartieren, Mrs. Richards.« sternchenland.com

Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Seltsame Neuigkeiten von Onkel Sol.

Obschon Kapitän Cuttle kein Langschläfer war, so kroch er am Morgen nach dem Tag, als er den schreibenden Sol Gills durch das Ladenfenster beobachtet hatte, während Rob der Schleifer sein Bett unter dem Tisch, auf dem der Midshipman stand, anfertigte – nicht so früh aus den Federn, und es hatte bereits sechs Uhr geschlagen, als er sich auf den Ellenbogen aufrichtete und in seinem kleinen Stübchen umherschaute. Die Augen des Kapitäns mußten einen schweren Dienst haben, wenn er sie beim Erwachen gewöhnlich so weit öffnete, wie an diesem Morgen, und erhielten für ihre Aufmerksamkeit nur einen rauhen Lohn, falls er sie in der Regel nur halb so zart zu reiben pflegte. Der Anlaß war übrigens auch kein sternchenland.com gewöhnlicher; denn sicherlich hatte Rob der Schleifer nie zuvor unter der Schwelle von Kapitän Cuttles Schlafzimmer gestanden. Aber jetzt zeigte er sich daselbst keuchend und mit einem roten, schlaftrunkenen Gesicht, als komme er eben von seinem Bette her.

»Holla!« schrie der Kapitän. »Was gibt’s?«

Ehe Rob ein Wort der Erwiderung stammeln konnte, war Kapitän Cuttle hurtig aus seinem Bett gefahren und hatte den Mund des Knaben mit seiner Hand bedeckt.

»Halt, mein Junge«, sagte der Kapitän. »Für jetzt noch keine Silbe!«

Nachdem er ihm diese Einschärfung gegeben, wobei er ihn mit großer Bestürzung betrachtete, drehte er ihn sacht an der Schulter ins nächste Zimmer hinaus. Dann verschwand er für einige Augenblicke und erschien bald darauf in dem blauen Anzuge wieder. Indem er die Hand erhob, als ob sein Verbot noch nicht aufgelöst sei, ging er auf den Schrank zu, goß sich selbst ein Gläschen ein und füllte ein zweites für den Boten. Hierauf stellte sich der Kapitän in eine Ecke gegen die Wand, als wolle er der Möglichkeit vorbeugen, daß die bevorstehende Mitteilung ihn rücklings zu Boden werfe, schluckte, ohne ein Äuge von dem Boten zu verwenden, seinen Branntwein hinunter und forderte dann mit einem Gesicht, so blaß als es bei dem seinigen nur möglich war, Rob auf, »loszuschieben«.

»Meint Ihr damit, daß ich sprechen solle, Kapitän?« fragte Rob, dem die frühere Warnung noch schwer auf dem Gemüte lag.

»Ja«, versetzte der Kapitän.

»Wohlan, Sir«, entgegnete Rob, »ich habe nicht eben viel zu sagen. Aber schaut her!«

Rob brachte einen Schlüsselbund zum Vorschein.

Der Kapitän betrachtete ihn von seiner Ecke aus und musterte dabei fortwährend den Boten.

»Und dieses hier!« fuhr Rob fort.

Der Knabe zog ein versiegeltes Paket hervor, das Kapitän Cuttle mit ebenso großen Augen anstaunte, wie er es zuvor bei den Schlüsseln gehalten hatte.

»Als ich heute morgen erwachte, Kapitän«, sagte Rob – »es mochte ungefähr Viertel auf sechs sein, fand ich das auf meiner Bettdecke. Die Ladentür war aufgeriegelt und offen, Mr. Gills aber fort!«

»Fort?« rief der Kapitän.

»Keine Spur mehr von ihm da, Sir«, versetzte Rob.

Die Stimme des Kapitäns war so furchtbar, und er kam in einer Weise aus seiner Ecke hervor, daß sich Rob vor ihm in eine andere flüchtete; dabei hielt letzterer den Schlüsselbund und das Paket vor sich hin, als wolle er den Kapitän hindern, daß er ihn nicht niederrenne.

»›Für Kapitän Cuttle‹, Sir«, rief Rob, »steht auf den Schlüsseln und auf dem Paket. Auf mein Ehrenwort, Kapitän Cuttle, ich weiß weiter nichts von der Sache, und ich will sterben, wenn es nicht wahr sternchenland.com ist! Das ist wohl ein Platz für einen jungen Burschen, der eben eine Stelle erhalten hat«, rief der unglückliche Schleifer, mit dem Rockärmel sein Gesicht bearbeitend. »Der Meister läuft davon, und ich soll am Ende die Schuld tragen!«

Diese Klagen bezogen sich auf Kapitän Cuttles Blick, in dem sich ein Ausdruck, gemischt aus Argwohn, Drohung und Anklage, kundgab. Nachdem der Kapitän das hingehaltene Paket in Empfang genommen hatte, öffnete er es und las, wie folgt:

»›Mein lieber Ned Cuttle. In der Anlage befindet sich mein letzter Wille und Testament!‹«

Der Kapitän wandte mit einer bedenklichen Miene das Blatt um. »Wo ist das Testament?« rief er, unverweilt auf den armen Schleifer losgehend. »Was hast du damit angefangen, Junge?«

»Ich hab‘ es nie gesehen,« winselte Rob. »Habt doch keinen solchen Argwohn gegen einen unschuldigen Jungen, Kapitän. Ich habe das Testament nie angerührt.«

Kapitän Cuttle schüttelte den Kopf, als wolle er damit andeuten, daß irgend jemand dafür verantwortlich gemacht werden müsse, und fuhr mit ernster Miene fort:

»›Ihr dürft es vor Jahresfrist nicht öffnen oder wenigstens nicht eher, bis Ihr bestimmte Nachrichten erhalten habt von meinem lieben Walter, der, wie ich überzeugt bin, auch Euch teuer ist, Ned.‹« Der Kapitän hielt inne und schüttelte in einiger Erregung den Kopf. Um jedoch bei diesem seinem Prüfungsamt seiner Würde nichts zu vergeben, schaute er unmittelbar darauf mit großer Strenge nach dem Schleifer hin. »›Wenn Ihr nichts mehr von mir hören oder sehen solltet, Ned, so bleibt liebevoll eingedenk eines alten Freundes, der auch Euch bis zum letzten Augenblick in der Erinnerung tragen wird. Bis mindestens die vorerwähnte Periode abgelaufen ist, haltet für Walter an dem alten Platz eine Heimat bereit. Es sind keine Schulden vorhanden; denn das Darlehen von Dombey ist abbezahlt, und ich sende Euch hiermit alle meine Schlüssel. Verhaltet Euch ruhig und stellt keine Nachforschungen nach mir an; denn es ist vergeblich. Weiter nichts, mein lieber Ned, von Eurem treuen Freunde Solomon Gills.‹« Der Kapitän atmete tief auf und las dann folgende unten hingeschriebenen Worte: »›Wie ich Euch sage, ist der Knabe Rob von Dombeys Hause wohl empfohlen. Wenn alles sonst zum Verkauf kommen sollte, Ned, so tragt Sorge für den kleinen Midshipman.‹«

Um der Nachwelt einen Begriff von der Art zu geben, wie der Kapitän, nachdem er den Brief wohl zwanzigmal überlesen hatte, in seinem Stuhle Platz nahm und in seinem Innern über den Gegenstand ein Kriegsgericht hielt, wäre wohl der vereinte Genius aller großen Männer erforderlich, die, ohne Rücksicht auf die ungünstigen Verhältnisse der Mitwelt, den Entschluß gefaßt hätten, auf die Nachwelt zu kommen, ohne daß es ihnen übrigens je gelänge. Anfangs war der Kapitän viel zu sehr verwirrt und beunruhigt, um an etwas anderes als den Brief zu denken, und selbst als seine Gedanken sternchenland.com die verschiedenen begleitenden Tatsachen zu überblicken begannen, hätten sie sich vielleicht um des Lichtes willen, das sie brachten, ebensogut mit dem früheren Gegenstand beschäftigen können. In dieser Gemütsverfassung fand Kapitän Cuttle, der außer dem Schleifer niemanden vor seinem Gerichtshof hatte, eine große Erleichterung in dem allgemeinen Bescheid, daß letzterer ein verdächtiger Gegenstand sei, und er drückte das so deutlich in seinem Gesichte aus, daß Rob Einwände dagegen erhob.

»O, laßt es doch, Kapitän!« rief der Schleifer. »Ich begreife gar nicht, wie Ihr das könnt! Was habe ich denn getan, daß Ihr mich so anseht?«

»Mein Junge«, versetzte Kapitän Cuttle, »schrei nicht vor dem Streich, und was du auch tun magst, gib dir keine Blöße.«

»Ich tue dies nicht, und habe auch nichts getan, Kapitän«, antwortete Rob.

»So halt dein Schifflein frei«, sagte der Kapitän mit Nachdruck, »und laß es ruhig vor Anker liegen.«

Mit einem tiefen Gefühl der ihm obliegenden Verantwortlichkeit und des dringenden Bedürfnisses, die geheimnisvolle Angelegenheit durchaus zu ergründen, wie es einem Mann von seiner Beziehung zu allen Parteien zustand, beschloß Kapitän Cuttle, nach Sols Wohnung zu gehen, das Haus zu untersuchen und den Schleifer mitzunehmen. In Anbetracht der Tatsache, daß der junge Mensch vorderhand als Arrestant anzusehen war, blieb der Kapitän einigermaßen zweifelhaft, ob es nicht passend sein dürfte, ihm Handschellen anzulegen, seine Fußknöchel zusammenzubinden oder ein Gewicht an seine Beine zu hängen. Weil er indessen über die Gesetzlichkeit solcher Formalitäten nicht ganz mit sich ins klare kommen konnte, so beschränkte er sich darauf, ihn während des ganzen Wegs an der Schulter festzuhalten und im Falle einer Einwendung zu Boden zu schlagen, Rob ließ sich dies ruhig gefallen und erreichte deshalb das Haus des Instrumentenmachers, ohne daß weitere Zwangsmaßregeln gegen ihn nötig wurden. Die Läden waren noch nicht herabgenommen. Deshalb trug Kapitän Cuttle zuerst Sorge dafür, daß der Laden geöffnet wurde; und sobald das Tageslicht freien Zutritt gewonnen, schickte er sich, wie er sagte, zu weiterer Nachforschung an.

Sein erstes Geschäft bestand darin, daß er im Laden sich einen Stuhl verschaffte, um dem feierlichen Tribunal, das in seinem Innern Sitzung hielt, präsidieren zu können. Dann forderte er Rob auf, sich in sein Bett unter dem Ladentisch zu legen und genau anzudeuten, wie er bei seinem Erwachen den Schlüsselbund und das Paket entdeckt habe. Hierauf mußte der Junge zeigen, wie er die Tür gefunden, als er aufgestanden, um sie zu probieren, und wie er nach Brig-Place aufgebrochen sei. Dabei verhinderte er vorsichtigerweise den Knaben, das Manöver weiter als bis zur Schwelle auszuführen. So ging es denn bis zum Ende des Kapitels. Nachdem diese Prozeduren mehrere Male vorgenommen waren, schüttelte der Kapitän den Kopf und schien zu denken, daß die Sache ein gar übles Aussehen habe.

Zunächst stellte der Kapitän in der unbestimmten Vorstellung, er könnte möglicherweise eine Leiche finden, eine genaue Durchsuchung des ganzen Hauses an, indem er mit einer angezündeten Kerze in den Kellern herumtappte, seinen Haken hinter die Türen steckte, den Kopf oft in ungestümen Zusammenstoß mit Balken brachte und sich selbst mit Spinnweben bedeckte. Als sie nach dem Schlafzimmer des alten Mannes hinaufstiegen, fanden sie, daß er die Nacht zuvor nicht in seinem Bett gelegen, sondern sich nur leicht darauf hingeworfen hatte, wie aus dem noch vorhandenen Eindruck ersichtlich war.

»Und ich glaube, Kapitän«, sagte Rob sich im Zimmer umsehend, »daß Mr. Gills, als er die letzten paar Tage so oft ein- und ausging, jedesmal kleine Gegenstände mitgenommen hat, um keine Aufmerksamkeit zu wecken.«

»So?« versetzte der Kapitän geheimnisvoll. »Warum denn das, mein Junge?«

»Ei«, entgegnete Rob umherschauend, »ich sehe nichts von seinem Rasierzeug, Auch seine Bürsten fehlen, Kapitän. Es sind keine Hemden da. Und auch seine Schuhe sind fort.«

Während jeder dieser Gegenstände erwähnt wurde, schenkte Kapitän Cuttle dem entsprechenden erwähnten Gegenstand bei dem Schleifer eine besondere Aufmerksamkeit, ob nicht etwa dieser kürzlich davon Gebrauch gemacht habe oder noch im Besitz derselben sei. Aber Rob hatte keinesfalls schon einen Anlaß, sich zu rasieren, war augenscheinlich auch nicht ausgebürstet und trug – so viel war über jede Möglichkeit eines Irrtums erhaben – noch dieselben Kleider, in denen er seit langer Zeit sich blicken zu lassen pflegte.

»Und was sagt Ihr, ohne Euch selbst eine Blöße zu geben«, fuhr der Kapitän fort, »über die Zeit seines Abrückens, he?«

»Nun, ich denke, Kapitän«, versetzte Rob, »daß er bald darauf fortgegangen sein muß, nachdem ich zu schnarchen anfing.«

»Um welche Stunde kann das gewesen sein?« fragte der Kapitän, dem besonders viel daran gelegen zu sein schien, genau die Zeit zu ermitteln.

»Wie kann ich das sagen, Kapitän?« antwortete Rob. »Ich weiß nur, daß im Anfang mein Schlaf sehr fest ist und daß er gegen morgen hin leicht wird. Wäre nun Mr. Gills sogar auf den Zehenspitzen gegen Tagesanbruch durch den Laden gekommen, so bin ich ziemlich überzeugt, daß ich es jedenfalls gehört haben würde, wenn er die Tür schloß.«

Nach reifer Erwägung dieses Zeugnisses begann Kapitän Cuttle zu der Überlegung zu gelangen, daß der Instrumentenmacher wohl aus eigenem Antrieb verschwunden sein müsse, und in dieser logischen Folgerung unterstützte ihn der an ihn gerichtete Brief, der, da er unzweifelhaft von dem alten Mann selbst geschrieben war, ohne eine sehr gezwungene Annahme zu dem Schluß leitete, der Schreiber habe gehen wollen und sei demgemäß gegangen. Die nächsten Betrachtungen des Kapitäns beschäftigten sich nun mit dem Wohin und Warum, und da ihm die Lösung der ersten Frage eigentümliche sternchenland.com Schwierigkeiten bot, so beschloß er, seine Gedanken der zweiten zuzuwenden.

Er erinnerte sich des auffallenden Benehmens, mit dem sich der alte Mann von ihm verabschiedet hatte. Damals war es ihm unerklärlich vorgekommen, aber jetzt schien es ihm ganz begreiflich. Der Kapitän kam dadurch auf den schrecklichen Argwohn, die Angst und Sorge um Walter hätte den alten Sol so weit getrieben, daß er einen Selbstmord verübte. Wie jener so oft erklärt hatte, war er nicht mehr imstande, das Leid und die Trübsal des täglichen Lebens zu ertragen, und da in letzter Zeit noch die Ungewißheit und eine stets sich verzögernde Hoffnung dazu gekommen waren, so schien die Annahme nicht zu gezwungen, sondern leider nur zu wahrscheinlich zu sein.

Der Mann war schuldenfrei und hatte weder etwas für seine persönliche Freiheit noch für sein Eigentum zu fürchten; was also sonst, wenn nicht ein Zustand von Wahnsinn, konnte ihn veranlaßt haben, sich allein und heimlich zu entfernen? Daß er einige Kleidungssachen mitgenommen hatte, wenn anders dies wirklich der Fall war – denn sie hatten nicht einmal hierüber Sicherheit – mochte nach des Kapitäns Vermutung darin begründet sein, daß er Nachforschungen verhindern, die Aufmerksamkeit von seinem wahrscheinlichen Schicksal ablenken oder das Gemüt des Mannes erleichtern wollte, der eben jetzt alle diese Möglichkeiten erwog. Dies war in einfacher und gedrungener Sprache das wesentliche Endergebnis von Kapitän Cuttles Betrachtungen, obschon er lange brauchte, um so weit zu kommen, und die dazu führenden Erörterungen nach dem Beispiel mancher öffentlicheren Verhandlungen sehr weitschweifig und ungeordnet waren.

Im höchsten Grade kleinmütig und niedergeschlagen, hielt es Kapitän Cuttle jetzt für billig, Rob aus seiner Haft zu entlassen und ihn in Freiheit zu setzen, zugleich aber fortwährend eine Art ehrenhafter Aufsicht über ihn zu führen. Er ließ sich von dem Makler Brogley einen Diener abtreten, der während ihrer Abwesenheit den Laden hüten sollte, worauf er in Begleitung Robs ausging, um einen traurigen Streifzug nach den sterblichen Resten des Solomon Gills anzutreten.

In der ganzen Hauptstadt gab es kein Stationshaus, keinen Kirchhof und kein Arbeitshaus, das einer Inspektion des harten Glanzhutes entgangen wäre. An den Kais, auf den Schiffszimmerplätzen, an den Ufern, flußauf und flußab, da, dort und überall glänzte er unter den dichtesten Menschenmassen, wie der Helm eines Helden in einer epischen Schlacht. Eine ganze Woche lang las der Kapitän die Zeitungen und sonstige Ankündigungen über gefundene und vermißte Leute, und keine Stunde des Tages war ihm zu viel, wenn es galt, von über Bord gefallenen armen Schiffsjungen und langen Fremden mit schwarzen Bärten, die sich vergiftet hatten, Einsicht zu nehmen – »um sich zu überzeugen«, sagte Kapitän Cuttle, »daß es nicht Solomon Gills sei«. Es war in der Tat eine saure sternchenland.com Arbeit für ihn, die immer vergeblich sein sollte, obwohl einiger Trost für den guten Kapitän darin lag.

Endlich gab er diese Versuche als hoffnungslos auf und schickte sich an, zu überlegen, was weiterhin zu tun sei. Nachdem er den Brief seines armen Freundes noch einige Male aufs neue durchgelesen hatte, drängte sich ihm die Überzeugung auf, die Erhaltung »einer Heimat an dem alten Platz für Walter« sei die erste Pflicht, die ihm obliege. Er beschloß daher, die Wohnung von Solomon Gills selbst zu beziehen, sich mit dem Instrumentenhandel abzugeben und zu sehen, was dabei herauskomme.

Da jedoch dieser Schritt die Notwendigkeit in sich schloß, das Quartier bei Mrs. Mac Stinger aufzugeben, und der Kapitän wohl wußte, diese entschlossene Frauensperson werde nichts von einem Ausziehen hören wollen, so setzte er sich den verzweifelten Plan in den Kopf, ihr zu entlaufen.

»Nun, schau einmal her, Junge«, sagte der Kapitän zu Rob, nachdem dieser denkwürdige Entwurf zur Reife gediehen war, »ich werde mich auf dieser Reede hier nicht blicken lassen bis morgen nacht – vielleicht erst nach Mitternacht. Du hältst aber Wache, bis du mich klopfen hörst, und sobald das geschieht, kommst du, um die Tür zu öffnen.«

»Sehr gut, Kapitän«, versetzte Rob.

»Du wirst hier in den Büchern fortlaufen«, fügte der Kapitän herablassend bei, »und wer weiß, welche Beförderung dir bevorsteht, wenn wir beide miteinander kräftig weiterschieben. Sobald du mich aber morgen nacht klopfen hörst – gleichviel, um welche Zeit es sei – so wirst du dich mit der Tür eilen.«

»Daran soll’s nicht fehlen, Kapitän«, entgegnete Rob.

»Denn du begreifst wohl«, fuhr der Kapitän fort, um ihm den Auftrag recht nachdrücklich ans Herz zu legen, »man kann nicht wissen, ob es nicht eine Jagd gibt, und ich könnte während des Wartens ergriffen werden, wenn du nicht hurtig mit der Tür bereit bist.«

Rob versicherte seinem nunmehrigen Gebieter abermals, daß er sich auf ihn verlassen dürfe, und nachdem der Kapitän diese kluge Maßregel getroffen hatte, kehrte er zum letztenmal nach Mrs. Mac Stingers Wohnung zurück.

Das Bewußtsein, daß es wirklich zum letzten Male war, und der fürchterliche Entschluß, der sich unter der blauen Weste barg, flößte dem Kapitän eine solche Todesangst vor Mrs. Mac Stinger ein, daß zu jeder Zeit des Tages schon der Fußtritt dieser Dame auf der Treppe ausreichte, ihn am ganzen Leibe zittern zu machen. Zufälligerweise befand sich auch Mrs. Mac Stinger in einer ganz bezaubernden Stimmung; sie war so mild und gefällig wie ein Lämmchen, und Kapitän Cuttle erlitt eine herbe Gewissensqual, als sie mit der Frage heraufkam, ob sie ihm nicht ein Diner zurichten solle.

»Einen appetitlichen kleinen Nierenpudding, Kapt’n Cuttle«, sagte die Hausfrau, »oder ein Schafsherz. Kümmert Euch nicht darum, ob es mir auch Mühe macht.«

»Nein, ich danke, Ma’am«, versetzte der Kapitän.

»Oder ein gebratenes Huhn mit etwas Füllung und einer Eiersauce«, sagte Mrs. Mac Stinger. »Na, Kapt’n Cuttle, tut Euch einmal ein bißchen was zugute.«

»Nein, ich danke Euch, Ma’am«, entgegnete der Kapitän sehr demütig.

»Wahrhaftig, Ihr seid dann nicht ganz wohl und braucht etwas Stärkendes«, sagte Mrs. Mac Stinger. »Wollt Ihr’s nicht einmal mit einer Flasche Wein versuchen?«

»Na schön, Ma’am«, entgegnete der Kapitän, »wenn Ihr so gut sein wollt, ein Gläschen oder zwei mit zu genießen, so denke ich, daß ich dies versuchen könnte. Wollt Ihr mir den Gefallen erweisen, Ma’am«, fügte er in tiefer Gewissenszerknirschung hinzu, »eine Vierteljahrsmiete im voraus in Empfang zu nehmen?«

»Und warum das, Kapitän Cuttle?« erwiderte Mrs. Mac Stinger – in scharfem Ton, wie es ihrem Gefährten vorkam.

Der Kapitän war in den Tod erschrocken.

»Wenn Ihr es wollt, Ma’am«, sagte er mit großer Unterwürfigkeit, »so würdet Ihr mir einen großen Gefallen tun. Ich kann mein Geld nicht gut aufheben. Es ist, als ob es Flügel hätte. Es wäre mir recht lieb, wenn Ihr die Vorausbezahlung annähmet.«

»Na, Kapt’n Cuttle«, versetzte die arglose Mac Stinger, indem sie ihre Hände rieb. »Ihr könnt das halten, wie Ihr wollt. Mit meiner Familie steht es mir nicht zu, es zu verweigern, ebensowenig als ich es fordern möchte.«

»Und mögt Ihr wohl so gut sein, Ma’am«, fuhr der Kapitän fort, indem er die Zinnbüchse, in der er sein Geld aufbewahrte, von dem Schranksims herunterlangte, »jedem von der kleinen Familie ein Achtzehnpencestück zu geben? Oder wenn sich’s einrichten ließe, Ma’am, so könntet Ihr die Kinder miteinander heraufkommen lassen. Es würde mich freuen, sie zu sehen,«

Die unschuldigen Mac Stingers waren ebenso viele Dolche für die Brust des Kapitäns, als sie in Haufen erschienen und mit der vertrauensvollen Anhänglichkeit, die er so wenig verdiente, an ihm herumzerrten. Das Auge von Alexander Mac Stinger, der sein Liebling gewesen, war ihm unerträglich, und die Stimme der Juliane Mac Stinger, dieses leibhaftigen Ebenbildes ihrer Mutter, machte ihn ganz und gar zur Memme.

Gleichwohl erhielt Kapitän Cuttle den Anschein ziemlich gut und ließ sich ein paar Stunden recht übel von den jungen Mac Stingers mitspielen, die in ihrer kindlichen Fröhlichkeit auch dem Glanzhut einigen Schaden zufügten, indem ihrer zwei zumal wie in einem Nest darin saßen und mit ihren Schuhen auf der Innenseite der Krone trommelten. Endlich entließ sie der Kapitän mit schwerem Herzen und verabschiedete sich von diesen Cherubs mit dem herben Weh eines Mannes, der zur Hinrichtung hinausgeführt wird.

In der Stille der Nacht packte der Kapitän sein schweres Eigentum in eine Truhe, die er in der Absicht verschloß, sie aller Wahrscheinlichkeit sternchenland.com nach für immer hier zu lassen, wenn er nicht vielleicht eines Tages einen Mann fand, der hinreichend kühn und verzweifelt war, sie zu holen. Aus den leichten Habseligkeiten machte er ein Bündel, worauf er sein Silberzeug in die Tasche steckte und sich so zur Flucht anschickte. Um die Mitternachtsstunde, als Brig-Place in tiefem Schlummer und auch Mrs. Mac Stinger mit ihrem unschuldigen Nachwuchs in süßem Vergessen lag, schlich sich der schuldige Kapitän in der Dunkelheit die Treppe hinunter, öffnete die Tür, drückte sie leise zu und zahlte Fersengeld.

Verfolgt von dem Bilde der Mrs. Mac Stinger, die aus dem Bette sprang und ohne Rücksicht auf das mangelhafte Kostüm ihm folgte, um ihn zurückzubringen, zugleich auch von dem Bewußtsein seines ungeheuren Verbrechens gequält, griff Kapitän Cuttle nach Kräften aus und ließ zwischen Brig-Place und der Tür des Instrumentenmachers kein Gras unter seinen Füßen wachsen. Auf sein Klopfen wurde sogleich geöffnet; denn Rob hatte treue Wache gehalten, Nachdem die Tür wieder abgeschlossen und zugeriegelt war, fühlte sich Kapitän Cuttle einigermaßen in Sicherheit.

»Puh!« rief der Kapitän sich umsehend. »Das hat Atem gekostet.«

»Hat es etwas gegeben, Kapitän?« rief Rob, die Augen weit aufsperrend.

»Nein, nein!« versetzte Kapitän Cuttle, dem alle Farbe aus dem Gesicht wich, als er auf einen vorübergehenden Fußtritt in der Straße draußen lauschte, »aber merke dir, mein Junge: wenn, was immer für eine Dame – mit Ausnahme der beiden, die du letzthin hier sahst – hierher kommt und nach Kapitän Cuttle fragt, so melde ihr nur, daß man hier nichts von einer Person dieses Namens wisse und überhaupt nie von ihm gehört habe. Willst du es nicht vergessen?«

»Nein, Kapitän«, versetzte Rob.

»Du kannst meinetwegen auch sagen«, fuhr der Kapitän zögernd fort, »du habest in der Zeitung gelesen, ein Kapitän dieses Namens sei nach Australien ausgewandert mit einem ganzen Schiff voll Leuten, die alle geschworen hätten, nie wieder zurückzukommen.«

Rob nickte zur Andeutung, daß er den Befehl verstanden habe: und nachdem Kapitän Cuttle ihm für den Fall, daß er Ordre pariere, versprochen hatte, einen Mann aus ihm zu machen, entließ er ihn gähnend nach seinem Bett unter dem Ladentisch, um sich selbst nach dem Dachstübchen des alten Solomon Gills hinaufzubegeben.

Es läßt sich nicht beschreiben, was der Kapitän am nächsten Tage litt, so oft ein Damenhut vorbeiging, oder wie oft er au« dem Laden hinausstürzte, um eingebildeten Mac Stingers zu entwischen und in dem Dachstübchen Sicherheit zu suchen. Um übrigens die Erschöpfung zu vermeiden, die derartige Mittel der Selbsterhaltung mit sich führten, versah er die gläserne Verbindungstür zwischen dem Laden und dem Wohnstübchen von innen mit einem Vorhang, suchte den dazu gehörigen Schlüssel aus dem ihm überantworteten Bunde und bohrte ein kleines Spionierloch in die Wand. Der Vorteil dieser Verschalung war augenfällig! denn so oft sich ein Weiberhut blicken sternchenland.com ließ, huschte der Kapitän augenblicklich in seine Garnison, schloß sich ein und stellte an dem Feind geheime Beobachtungen an. War es nur ein falscher Lärm gewesen, so kam er wieder heraus: aber die Weiberhüte waren in der Straße so sehr zahlreich und der falsche Lärm von ihrem Erscheinen so unzertrennlich, daß er den ganzen Tag fast ohne Unterlaß aus- und einhuschte.

Trotz dieses erschöpfenden Dienstes fand übrigens der Kapitän Zeit, die Ladenvorräte in Augenschein zu nehmen, und er hegte von ihnen die für Rob sehr lästige Vorstellung, daß sie nicht zu viel poliert werden könnten. Auch versah er einige anziehend aussehende Gegenstände aufs Geratewohl mit Zetteln, setzte die Preise auf zehn Schillinge bis zu fünfzig Pfund und legte sie zum großen Erstaunen des Publikums im Fenster aus.

Nachdem Kapitän Cuttle diese Verbesserungen angebracht hatte, begann er sich im Kreise der Instrumente als ein Mann zu fühlen, der von allen diesen Dingen eine tiefe Wissenschaft besitzt. Auch schaute er nachts, wenn er vor Schlafengehen in dem kleinen Hinterstübchen seine Pfeife rauchte, durch da« Oberlichtfenster nach den Sternen auf, als habe er dort eine Art Kapital angelegt. Als ein Kaufmann in der City begann er ein Interesse an dem Lord-Mayor, den Sheriffs und den Handelsgesellschaften zu nehmen: und außerdem hielt er sich verpflichtet, jeden Tag die Aufzeichnungen der Fonds zu lesen, obschon ihn sein Schiffahrtsgrundsatz zu belehren imstande war, was die Zahlen bedeuteten, und er die Bruchteile recht wohl hätte entbehren können. Unmittelbar nach Besitznahme de« Midshipman wollte der Kapitän Florence seine Aufwartung machen, um ihr die befremdliche Kunde von Onkel Sol zu überbringen: aber er traf sie nicht zu Hause. So setzte er sich nun in seiner veränderten Lebensstellung fest, ohne eine andere Gesellschaft zu haben als Rob, den Schleifer, und da er, wie es hin und wieder den Menschen zu gehen pflegt, wenn große Wechsel über sie kommen, bald auch die Zeitrechnung verlor, so dachte er oft an Walter, an Solomon Gills und sogar an Mrs. Mac Stinger wie an Dinge, die gewesen sind.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.


Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Schatten der Vergangenheit und der Zukunft.

»Euer Gehorsamster, Sir«, sagte der Major. »Gott verdamm mich, Sir, ein Freund meines Freundes Dombey ist auch mein Freund, und ich freue mich, Euch kennenzulernen.«

»Ich bin Major Bugstock sehr Verpflichtet für seine Gesellschaft und seine Unterhaltung, Carker«, fügte Mr. Dombey erklärend hinzu. »Major Bagslock hat mir einen großen Dienst geleistet, Carker.«

Mr. Carker, der Geschäftsführer, der den Hut noch in der Hand hatte, war eben zu Leamington angelangt und zeigte dem Major, dem er vorgestellt wurde, seine ganze Doppelreihe von Zähnen. Er sternchenland.com hoffe sich die Freiheit nehmen zu dürfen, ihm von Herzen zu danken, daß es ihm gelungen sei, in Mr. Dombeys Aussehen und Stimmung eine so wesentliche Verbesserung zu erwirken.

»Bei Gott, Sir«, entgegnete der Major, »ich verdiene hier keinen Dank; denn die Einwirkung ist gegenseitig. Ein großer Mann wie unser Freund Dombey, Sir«, fuhr der Major fort, indem er seine Stimme dämpfte, aber doch nicht so weit, daß seine Worte nicht auch dem fraglichen Gentleman verständlich wurden, »muß notwendig einen erhebenden Einfluß auf seine Freunde ausüben. Dombey kräftigt und belebt einen, Sir, durch sein moralisches Wesen.«

Mr. Carker schnappte nach dem Ausdruck. Durch sein moralische Wesen. Ganz richtig. Die nämlichen Worte, die er selbst andeuten wollte.

»Aber wenn mein Freund Dombey von dem Major Bagstock mit Euch spricht, Sir«, fügte der Major bei, »so muß ich mir erlauben, ihn und Euch auf den richtigen Standpunkt zu stellen. Er will damit einfach Joe sagen, Sir – Joey B. – Josh Bagstock – Joseph – den rauhen, zähen, alten J., Sir, Euch zu dienen.«

Mr. Carker verbeugte sich ungemein freundlich gegen den Major, und die Bewunderung über dessen rauhe, zähe Einfachheit glänzte aus jedem Zahn seines Kopfes.

»Und nun, Sir«, sagte der Major, »habt Ihr wohl einen wahren Teufelshaufen von Geschäftssachen mit Dombey zu besprechen.«

»Keineswegs, Major«, bemerkte Mr. Dombey.

»Dombey«, erwiderte der Major herausfordernd, »ich weiß das besser. Ein Mann von Eurer Bedeutsamkeit – der Koloß der Handelswelt – darf nicht gestört werden. Eure Augenblicke sind kostbar. Wir sehen uns wieder beim Diner. Bis dahin wird sich der alte Joseph rar machen. Punkt sieben wird gespeist, Mr. Carker.«

Nach diesen Worten entfernte sich der Major mit sehr aufgeblähtem Gesicht, steckte aber unmittelbar darauf den Kopf wieder zur Tür herein und sagte:

»Ich bitte um Verzeihung. Dombey, habt Ihr nichts dorthin aufzutragen?«

Mit einiger Verlegenheit und nicht ohne einen Blick auf den höflichen Bewahrer seines geschäftlichen Vertrauens machte Mr. Dombey dem Major seine Komplimente.

»Beim Himmel, Sir«, sagte der Major. »Ihr müßt es etwas wärmer machen als so, oder der alte Joe wird nicht sonderlich willkommen sein.«

»So meldet meine Verehrung, wenn Ihr wollt, Major«, entgegnete Mr. Dombey. »Gott verdamm mich, Sir«, erwiderte der Major, scherzhaft seine Schultern und seine breiten Backen schüttelnd, »macht es etwas wärmer als so.«

»So handelt nach Eurem Gutdünken, Major«, bemerkte Mr. Dombey.

»Unser Freund ist schlau, Sir, schlau, Sir, verteufelt schlau«, sagte der Major, um die Tür herum nach Mr. Carter hinlugend. »Ganz wie Bagstock.« Dann hielt er plötzlich in einem Kichern inne, pflanzte sich in seiner vollen Höhe auf und rief feierlich, während er sich auf die Brust schlug: »Dombey, ich beneide Eure Gefühle. Gott behüte Euch!«

Und er entfernte sich.

»Ihr müßt in dem Gentleman einen wahren Schatz gefunden haben«, sagte Carker, ihm mit seinen Zähnen folgend.

»In der Tat«, versetzte Mr. Dombey.

»Er hat ohne Zweifel Freunde hier«, fuhr Carker fort. »Aus seinen Worten muß ich schließen, daß Ihr in Gesellschaft geht. Ich kann Euch versichern«, fügte er mit einem schrecklichen Lächeln bei, »es freut mich ungemein, daß Ihr Gesellschaft besucht.«

Mr. Dombey erkannte diese Kundgebung der Teilnahme von seiten seines Nächsten im Kommando dadurch an, daß er an seiner Uhrkette drehte und leicht den Kopf nickte.

»Ihr seid für die Gesellschaft geschaffen«, sagte Carker. »Von allen Menschen, die ich kenne, seid Ihr von Natur und durch Eure Stellung am meisten darauf hingewiesen. Ich gebe Euch mein Wort, schon oft war ich erstaunt darüber, daß Ihr Euch so lange fern von ihr gehalten habt.«

»Ich hatte meine Gründe, Carker. Ich war allein, und sie hatte kein Interesse für mich. Aber Ihr seid selber im Besitz guter geselliger Eigenschaften, und ich kann mir daher wohl denken, daß Ihr Euch darüber wundertet.«

»O, ich!« erwiderte der andere mit schnellfertiger Selbstgeringschätzung, »Bei einem Mann, wie ich, ist es etwa« ganz anderes. Mit einem Mann, wie Ihr es seid, kann ich mich gar nicht vergleichen.«

Mr. Dombey steckte seine Hand ins Halstuch, versenkte das Kinn darin, hustete und blickte seinen treuen Freund und Diener einige Augenblicke schweigend an.

»Ich werde das Vergnügen haben, Carker«, sagte endlich Mr. Dombey nach einer Anstrengung, als habe er etwas hinuntergeschluckt, was ein wenig zu groß für seine Kehle war – »Euch meinen – des Majors Freunden vorzustellen. Sehr angenehme Leute.«

»Vermutlich Damen darunter?« deutete der geschmeidige Geschäftsführer an.

»Lauter – das heißt beide sind Damen«, versetzte Mr. Dombey.

»Nur zwei?« – lächelte Carker.

»Ja, nur zwei. Ich habe meine Besuche auf ihr Haus beschränkt und keine andere Bekanntschaften hier angeknüpft.«

»Vielleicht Schwestern?« bemerkte Carker.

»Mutter und Tochter«, entgegnete Mr. Dombey.

Während Mr. Dombey seine Augen senkte und wieder an seinem Halstuch ordnete, wandelte sich im Augenblick und ohne eine Übergangsstufe sternchenland.com das Lächeln auf dem Gesicht Mr. Carters, des Geschäftsführers, in ein angelegentliches, finsteres Spähen, in dem sich zugleich ein häßlicher Hohn bemerklich machte. Mr. Dombey erhob die Augen wieder, und Carkers Gesicht nahm nicht weniger schnell abermals den alten Ausdruck an, dabei das ganze Zahnfleisch seiner Mundhöhle zeigend.

»Ihr seid sehr gütig«, sagte Mr, Carker, »und ich werde mich glücklich schätzen, sie kennenzulernen. Doch da eben von Töchtern die Rede ist – ich habe Miß Dombey gesehen.«

Ein mächtiger Blutstrom ergoß sich plötzlich in Mr. Dombeys Gesicht.

»Ich habe mir die Freiheit genommen, ihr meine Aufwartung zu machen«, fuhr Carker fort, »und sie zu fragen, ob sie mir nicht einen kleinen Auftrag mitzugeben habe. Ich bin nicht so glücklich, Euch mehr überbringen zu können, als ihre – ihre liebevollen Grüße.«

Was für ein Wolfsgesicht, in dem sich sogar durch den vorgestreckten Mund die heiße Zunge sichtbar machte, als die Augen denen von Mr. Dombey begegneten!

»Was habt Ihr hier für Geschäftsangelegenheiten?« fragte der gleiche Gentleman nach einer Pause, während der Mr. Carker einige Papiere und andere Notizen hervorgezogen hatte.

»Sehr wenig«, antwortete Carker. »Im ganzen haben wir in letzter Zeit nicht unser gewöhnliche« Glück gehabt: aber das hat für Euch keine sonderliche Bedeutung. Zu Lloyds gibt man den Sohn und Erben für verloren. Na, er war versichert vom Kiel bis zur Mastspitze.«

»Carker«, bemerkte Mr. Dombey, neben dem Berichterstatter einen Stuhl nehmend, »ich kann nicht sagen, daß der junge Mensch, der Gay, je einen günstigen Eindruck auf mich gemacht hätte –«

»Auf mich auch nicht«, unterbrach ihn der Geschäfteführer.

»Aber es wäre mir doch lieb«, fuhr Mr. Dombey fort, ohne auf die Störung zu achten, »wenn er nicht an Bord jenes Schiffs gekommen wäre. Ich wünschte, man hätte ihn nicht hinausgeschickt.«

»Es ist recht schade, daß Ihr Euch nicht zur rechten Zeit hierüber ausgesprochen habt«, erwiderte Carker mit Kälte. »Ich glaube übrigens, daß es am Ende so am besten war. Ja, ich bin überzeugt, es hätte nicht besser gehen können. Habe ich Euch schon gesagt, daß eine Art kleinen Vertrauens zwischen Miß Dombey und ihm stattfand?«

»Nein«, sagte Mr. Dombey finster.

»Ich zweifle nicht daran«, fuhr Mr. Carker nach einer ausdrucksvollen Pause fort, »daß Gay, wo er jetzt auch sein mag, an einem passenderen Ort ist, als wenn er in der Heimat wäre. An Eurer Stelle würde ich mich vollkommen darüber zufrieden geben, wie denn auch ich die volle Überzeugung in mir trage, es hätte nicht besser kommen können. Wenn Miß Dombey je einen Fehler hat, so besteht er darin, daß sie ein allzu vertrauensseliges junges Wesen ist – vielleicht nicht stolz genug für Eure Tochter. Ich habe allerdings sternchenland.com nicht im Sinn, ihr damit einen Vorwurf zu machen. Wollt Ihr diese Bilanzen mit mir vergleichen?«

Mr. Dombey lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte, statt sich über die ihm vorgelegten Papiere niederzubeugen, dem Geschäftsführer fest ins Gesicht. Dieser, der seine Augenlider leicht erhob, tat dergleichen, als sei er bloß bei seinen Zahlen und warte, bis sein Chef Zeit gewinne. Dieses Benehmen war sichtlich erkünstelt und schien aus einem großen Zartgefühl hervorzugehen, das Mr. Dombeys Empfindungen schonen wollte. Auch erkannte dieser die wohlmeinende Rücksicht an, und sein Inneres sagte ihm, sein vertrauter Geschäftsführer hätte wohl noch viel mitteilen können, was Mr. Dombey durch Fragen herauslocken zu wollen zu stolz war. Mr. Carker pflegte es in Geschäftssachen oft so zu halten. Allmählich verlor Mr. Dombeys Blick seine Strenge, und die Aufmerksamkeit dieses Gentlemans wurde durch die Papiere vor ihm in Anspruch genommen. Aber selbst während er damit beschäftigt war, hielt er häufig inne und blickte wieder Mr. Carker an. So oft dies aber geschah, zeigte der Geschäftsführer sein früheres Zartgefühl und machte dadurch nur einen um so größeren Eindruck auf seinen Chef.

Während die beiden Männer so beschäftigt waren und unter der gewandten Leitung des Geschäftsführers in Dombey an die Stelle der kalten Abneigung, die dort gewöhnlich herrschte, zornige Gedanken gegen die arme Florence traten, ging der von den alten Damen Leamingtons so sehr bewunderte Major Bagstock im Geleite des Eingeborenen, der das gewöhnliche leichte Gepäck trug, auf der schattigen Seite des Weges weiter, um bei Mrs. Skewton einen Besuch zu machen. Es war schon Mittag, als der Major Kleopatras Palast erreichte; er hatte das Glück, seine Prinzessin wie gewöhnlich auf dem Sofa zu finden. Sie schmachtete über eine Tasse Kaffee, und das Zimmer war zum Zwecke einer schwelgerischen Ruhe so verdunkelt und schattig, daß der aufwartende Withers sich wie ein gespenstiger Page ausnahm.

»Was kommt da für ein unerträglicher Mensch!« sagte Mrs. Skewton. »Nein, es ist nicht auszuhalten. Geht nur wieder fort, wer Ihr auch sein mögt!«

»Ihr habt nicht das Herz, J. B. zu verbannen, Ma’am!« versetzte der Major, der, um seine Gegenvorstellungen anzubringen, mit dem Rohr über der Schulter in der Mitte des Zimmers haltmachte.

»O, Ihr seid es? Nun ja, wenn ich’s weiter überlege, so könnt Ihr näher kommen«, bemerkte Kleopatra.

Demgemäß kam der Major näher, trat auf das Sofa zu und drückte ihre bezaubernde Hand an seine Lippen.

»Nehmt Platz«, sagte Kleopatra, leicht mit ihrem Fächer winkend, »aber nur recht weit von mir. Kommt mir nicht zu nahe, denn ich bin diesen Morgen schrecklich angegriffen und reizbar. Ihr riecht nach der Sonne und seid absolut tropisch.«

»Beim Georg, Ma’am«, entgegnete der Major, »es hat eine Zeit gegeben, in der Joseph Bagstock von der Sonne eigentlich gebraten sternchenland.com wurde. Damals, Ma’am, brachte ihn die hohe Treibhaushitze Westindiens zu einem so üppigen Wachstum, daß er nur als die Blume bekannt war. In jenen Tagen hörte man nie etwas von Bagstock, Ma’am, sondern nur von der Blume – die Blume der Unsrigen. Die Blume mag mehr oder weniger verblüht sein, Ma’am«, bemerkte der Major, sich in einen viel näheren Stuhl niederlassend, als ihm von seiner grausamen Göttin angedeutet worden war, »aber es ist noch immer eine zähe Pflanze und beständig wie das Immergrün,«

Unter dem Schutz des dunkeln Zimmers schloß jetzt der Major das eine Auge, rollte seinen Kopf wie ein Harlekin und gelangte in seiner großen Selbstzufriedenheit vielleicht näher an die Grenzen eines Schlaganfalls, als dies je zuvor der Fall gewesen.

»Wo ist Mrs. Granger?« fragte Kleopatra ihren Pagen.

Withers glaubte, daß sie sich auf ihrem Zimmer befinde.

»Sehr gut«, versetzte Mrs. Skewton. »Geh jetzt und schließe die Tür. Ich bin beschäftigt.«

Nachdem Withers verschwunden war, drehte Mrs. Skewton ohne weitere Bewegung ihren Kopf matt gegen den Major hin und fragte, wie es seinem Freund ergehe.

»Dombey, Ma’am«, erwiderte der Major mit einem scherzhaften Gurgeln in seiner Kehle, »ist so munter, wie es ein Mann in seiner Lage nur sein kann. Aber sein Zustand ist ein verzweifelter, Ma’am, Dombey ist getroffen – tief getroffen!« rief der Major. »Ein Bajonett steckt ihm im Leibe.«

Kleopatra warf einen scharfen Blick auf ihren Gefährten, der einen lebhaften Gegensatz zu dem künstlich gedehnten Ton bot, in dem sie jetzt sagte:

»Major Bagstock, ich kenne die Welt nur wenig und kann in der Tat meine Unerfahrenheit bedauern, denn ich fürchte, es ist eine falsche Welt, voll von lähmenden gesellschaftlichen Rücksichten, wobei auf die Natur nur wenig Rücksicht genommen wird und die Musik des Herzens, der Erguß der Seele und dergleichen wahrhaft poetische Dinge nur selten gehört werden. Trotzdem kann ich mich nicht täuschen in dem, was Ihr sagen wollt, Ihr spielt mit Euren Worten auf Edith an – auf mein mir über die Maßen teures Kind« – fügte Mrs. Skewton bei, indem sie mit dem Zeigefinger über die Augenbrauen hinfuhr, »und da erbeben in der Tat die zartesten Saiten.«

»Derbheit, Ma’am«, erwiderte der Major, »ist stets ein charakteristischer Zug der Bagstock-Rasse gewesen. Ihr habt recht. Joe gibt es zu.«

»Und jene Anspielung«, fuhr Kleopatra fort, »betrifft, glaube ich, eines der ergreifendsten – wenn nicht entschieden das ergreifendste und heiligste Gefühl, dessen unsere kläglich gefallene Natur fähig ist.«

Der Major legte seine Hand auf die Lippen und warf Kleopatra einen Kuß zu, als wolle er dadurch das fragliche Gefühl näher bezeichnen.

»Ich bin sehr angegriffen. Ich fühle, daß es mir an jener Tatkraft fehlt, die in einer solchen Angelegenheit eine Mutter aufrecht erhalten sollte«, sagte Mrs. Skewton, ihre Lippen mit dem Spitzenrande ihres Taschentuchs berührend; »aber ich kann mich kaum ohne ein Gefühl, das an Ohnmacht grenzt, auf einen Gegenstand einlassen, der für meine teure Edith so ungemein wichtig ist. Da Ihr übrigens, schlimmer Mann, so kühn darauf losgegangen seid, so will ich ungeachtet des großen Schmerzes« – Mrs. Skewton berührte dabei ihre linke Seite mit dem Fächer – »den es mir bereitet hat, nicht vor meiner Pflicht zurückbeben.«

Unter dem Schutze der Dunkelheit ließ der Major sein mehr und mehr anschwellendes Purpurgesicht umherrollen; dabei blinzelte er mit den Hummer-Augen, bis er in einen Zustand von Kurzatmigkeit verfiel, die ihn zwang, sich zu erheben und einige Male im Zimmer auf und ab zu gehen, ehe seine schöne Freundin fortfahren konnte.

»Mr. Dombey«, nahm Mr. Skewton endlich das Gespräch wieder auf, »ist nun schon viele Wochen so gefällig, uns in Eurer Gesellschaft, mein teurer Major, mit seinen Besuchen zu beehren. Laßt mich offen gegen Euch sein. Es ist mein Fehler, daß ich ein Geschöpf des Impulses bin und mein Herz, sozusagen, außen trage. Ich bin mir meiner Mängel vollkommen bewußt, und mein Feind könnte sie nicht besser kennen. Aber es tut mir nicht leid, daß es so ist; denn ich möchte nicht einfrieren in dieser herzlosen Welt und lasse es mir gern gefallen, wenn man mir mit Recht einen solchen Vorwurf macht.«

Mrs. Skewton ordnete ihr Vorstecktuch, kniff ihren mageren Hals, um ihm eine glatte Oberfläche zu geben, und fuhr mit großer Selbstgefälligkeit fort:

»Es hat mir und zuverlässig auch meiner lieben Edith ein ungemeines Vergnügen gemacht, Mr. Dombey hier aufzunehmen. Da er Euer Freund ist, mein teurer Major, so waren wir natürlich schon zum vorhinein für ihn eingenommen, und es dünkt mich, ich habe an Mr. Dombey eine Überfülle von Herz wahrgenommen, die ungemein erfrischend ist.«

»Es ist jetzt ein verteufelt kleines Herz in Dombey, Ma’am«, versetzte der Major.

»Sie böser Mann!« rief Mrs. Skewton, schmachtend nach ihm hinblickend, »ich bitte, redet nicht so«.

»J. B. ist stumm, Ma’am«, sagte der Major.

»Mr. Dombey«, fuhr Kleopatra fort, indem sie die rosige Farbe auf ihren Wangen glättete, »hat später seine Besuche wiederholt. Vielleicht findet er etwas Anziehendes in der Einfachheit und Kunstlosigkeit unserer Gewohnheiten – denn es liegt stets ein Zauber in der Natur – ein so gar süßer Zauber –, und darum wurde er jeden Abend ein Glied unseres kleinen Kreises. Freilich dachte ich wenig an die schwere Verantwortlichkeit, die ich mir auflud, als ich Mr. Dombey ermutigte –«

»Diese Quartiere zu bestürmen, Ma’am«, ergänzte Major Bagstock.

»Roher Mensch!« sagte Mr. Skewton. »Ihr greift dem vor, was ich sagen wollte, obschon in einer sehr häßlichen Sprache.«

Mrs. Skewton legte jetzt ihren Ellenbogen auf den nebenstehenden kleinen Tisch, ließ, wie sie meinte, ihre Hand in einer anmutigen geziemenden Weise sinken, schwang ihren Fächer hin und her und bewunderte während ihrer Rede mit lässigem Blick ihre Finger.

»Die innere Pein, die ich erduldete«, fuhr sie geziert fort, »wie allmählich die Wahrheit in mir aufdämmerte, ist zu schrecklich gewesen, als daß ich mich weiter darüber verbreiten könnte. Mein ganzes Dasein ist an meine süße Edith gekettet, und es ist wirklich im höchsten Grade ergreifend, wenn ich mitansehen muß, wie mein schöner Liebling, der seit dem Tod jenes herrlichen Granger sein Herz eigentlich abgeschlossen hält, sich von Tag zu Tag verändert.«

Die Welt Mrs. Skewtons war keine durch Kritik sonderlich getrübte. Das mußte man aus der Art merken, wie selbst die ergreifendsten Dinge auf sie wirkten. Doch das nur nebenbei.

»Man sagt«, fuhr Mr. Skewton in geziertem Ton fort, »Edith, diese vollkommene Perle meines Lebens, habe Ähnlichkeit mit mir, und ich glaube, daß sie mein leibhaftiges Ebenbild ist.«

»Es gibt einen Mann in der Welt, der nie zugeben wird, daß irgend etwas mit Euch zu vergleichen sei, Ma’am«, sagte der Major; »und dieser Mann ist der alte Joe Bagstock.«

Kleopatra tat, als wolle sie mit ihrem Fächer dem Schmeichler das Gehirn einschlagen, kam übrigens doch auf eine mildere Gesinnung zurück und lächelte ihm zu, während sie weiter sprach:

»Boshafter Mann«, – hiermit war der Major gemeint – »wenn mein bezauberndes Mädchen irgend etwas Gutes von mir geerbt hat, so ist sie auch die Erbin meiner törichten Natur. Sie besitzt große Charakterstärke – auch an mir wollte man sie in ungemeinem Grade bemerkt haben, obschon ich es nicht glaube – aber einmal gerührt, ist sie ausnehmend empfänglich und gefühlvoll. Denkt Euch meine Empfindungen, wenn ich sehen muß, wie sie sich abhärmt! Wahrhaftig, sie bringen mich noch unter die Erde.«

Der Major schob sein Doppelkinn vor, legte in seine blauen Lippen einen beschwichtigenden Ausdruck und bekundete seine tiefste Teilnahme.

»Das Vertrauen, das zwischen uns bestanden hat«, sagte Mrs. Skewton – »die freie Entfaltung der Seele und die Offenheit der Empfindung – ach, wie ergreifend ist es nicht, nur daran zu denken. Wir lebten mehr wie Schwestern, als wie Mutter und Kind.«

»Ganz J. B.s Ansicht«, bemerkte der Major, »von J. B. schon fünfzigtausendmal ausgesprochen.«

»Unterbrecht mich nicht, roher Mann!« sagte Kleopatra. »Was müssen also meine Gefühle sein, wenn ich finde, daß e i n Gegenstand vorhanden ist, der von uns vermieden wird – daß (wie soll ich’s doch nennen?) eine Meeresenge sich zwischen uns geöffnet hat – daß sternchenland.com meine arglose Edith sich so gegen mich ändern könnte! Die« schneidet natürlich tief in die Seele ein.«

Der Major verließ seinen Stuhl und setzte sich auf einen andern, der dem kleinen Tische näher stand.

»Von Tag zu Tag muß ich das mit ansehen, mein teurer Major«, fuhr Mr. Skewton fort. »Von Tag zu Tag fühle ich es. Von Stunde zu Stunde mache ich mir Vorwürfe über das Übermaß der Vertrauensfülle, die zu so betrübenden Folgen führte, und fast von Minute zu Minute hoffe ich, Mr. Dombey werde sich erklären und mir die Folter abnehmen, die mich aufreibt. Aber nichts von alledem ergibt sich, mein teurer Major. Ich bin eine Sklavin meiner Gewissensbisse – nehmt doch die Tasse in acht; Ihr seid so ungeschickt – meine teure Edith ist ein ganz anderes Wesen, und ich sehe in der Tat nicht ein, was sich tun läßt oder mit welcher wohlmeinenden Person ich mich beraten kann.«

Vielleicht ermutigt durch den sanften und vertraulichen Ton, in den Mrs. Skewton mehrere Male für eine kurze Weile verfallen war, schien der Major geneigt zu sein, den Wohlmeinenden zu spielen; denn er streckte seine Hand über den kleinen Tisch aus und sagte mit einem Schielblick:

»Beratet Euch mit Joe, Ma’am.«

»O Ihr abscheuliches Ungeheuer«, versetzte Kleopatra, die eine Hand dem Major reichend und mit dem Fächer, den sie in der andern hielt, dessen Finger klopfend, »warum sprecht Ihr dann nicht mit mir? Ihr wißt, was ich meine. Warum sagt Ihr mir nicht etwas Sachgemäßes?«

Der Major lachte, küßte die ihm vertraute Hand und lachte abermals aus vollem Hals.

»Ist in Mr. Dombey so viel Herz, wie ich ihm zutraue?« sprach Kleopatra mit zärtlichem Schmachten. »Glaubt Ihr, es sei ihm Ernst, mein teurer Major? Ratet Ihr dazu, daß man mit ihm darüber spreche, oder soll man es unterlassen? So sprecht Euch aus wie ein lieber Mann, und sagt mir Eure Ansicht.«

»Sollen wir ihn mit Edith Granger verheiraten, Ma’am?« versetzte der Major mit heiserem Kichern.

»Geheimnisreicher Mensch!« entgegnete Kleopatra, ihren Fächer in die Nähe der Nase des Majors bringend. »Wie können wir ihn verheiraten?«

»Sollen wir ihn mit Edith Granger verheiraten, Ma’am? sage ich«, kicherte der Major abermals.

Mrs. Skewton gab keine Erwiderung in Worten, lächelte aber dem Major so schlau und lebhaft zu, daß der wackere Offizier, der hierin eine Herausforderung sah, ihren ungemein roten Lippen einen Kuß aufgedrückt haben würde, wenn sie nicht mit sehr gewinnender jugendlicher Gewandtheit den Fächer dazwischen gebracht hätte. Möglich, daß der Grund in ihrer Verschämtheit lag; vielleicht aber fürchtete sie auch Gefahr für ihr Rot.

»Dombey, Ma’am«, sagte der Major, »ist ein guter Fang.«

»O, Ihr jämmerlicher Geldmensch!« rief Kleopatra mit einem leichten Schrei. »Ihr entsetzt mich.«

»Und Dombey, Ma’am«, fuhr der Major fort, indem er den Kopf vorwärts schob und die Augen weit aufsperrte, »meint es ernsthaft. Joseph versichert Euch das. Bagstock weiß es, und J. B. hat ihn scharf auf dem Korn. Überlaßt es nur Dombey selbst, Ma’am. Benehmt Euch bloß wie bisher: tut nichts weiter und baut im übrigen auf J. B.«

»Glaubt Ihr dies wirklich, mein teurer Major?« entgegnete Kleopatra, die ihn ungeachtet ihrer gleichgültigen Haltung sehr behutsam und spähend ins Auge gefaßt hatte.

»Seid davon überzeugt, Ma’am«, antwortete der Major. »Kleopatra, die Unvergleichliche, und ihr Antonius Bagstock werden oft triumphierend davon sprechen, wenn sie an der Eleganz und dem Reichtum von Edith Dombeys Hause teilnehmen. Dombeys rechte Hand, Ma’am«, fügte der Major bei, indem er plötzlich in einem Kichern abbrach und sehr ernst wurde, »ist angekommen.«

»Heute morgen?« fragte Kleopatra.

»Ja, heute morgen, Ma’am«, antwortete der Major. »Und Dombeys sehnliches Verlangen nach ihm, Ma’am – nehmt J. B.s Wort dafür: denn Joe ist verteufelt schlau«, – der Major klopfte dabei an seine Nase und riß das eine seiner Augen weit auf, so daß seine natürliche Schönheit nicht sonderlich dadurch erhöht wurde – »hat bloß in dem Wunsch seinen Grund, daß dieser erfahre, wohin der Wind weht, ohne daß Dombey nötig hat, es ihm zu sagen, oder sich mit ihm zu beraten. Denn Dombey ist so stolz, Ma’am«, fügte der Major bei, »wie Luzifer.«

»Eine bezaubernde Eigenschaft«, lispelte Mrs. Skewton, »die sehr an die liebe Edith erinnert.«

»Gut, Ma’am«, sagte der Major. »Ich habe bereits Winke hingeworfen, und die rechte Hand versteht sie. Ich will noch mehr fallen lassen, ehe der Tag vorbei ist, Dombey ist heute auf den Gedanken gekommen, morgen nach einem Frühstück bei uns einen Ausflug nach Warwick Castle und Kenilworth zu machen. Ich übernahm die Besorgung dieser Einladung. Wollt Ihr uns so weit beehren, Ma’am?« fragte der Major, den Schlauheit und kurzer Atem geradezu aufblähten, als er ein Billet, der gefälligen Besorgung des Major Bagstock an die hochwohlgeborene Mrs. Skewton übergeben, hervorzog. Darin ersuchte ihr stets getreuer Paul Dombey sie und ihre liebenswürdige hochbegabte Tochter um die Gunst, sich dem beantragten Ausflug anzuschließen, während in einer Nachschrift derselbe stets getreue Paul Dombey seine schönsten Empfehlungen an Mrs. Granger ausrichten ließ.

»Pst!« sagte Kleopatra plötzlich. »Edith!«

Es läßt sich kaum beschreiben, wie die liebevolle Mutter bei diesem Ausrufe ihr lässiges und geziertes Wesen wieder annahm, da sie es eigentlich nie abgelegt hatte. Daß sie es jemals tun würde, konnte man an keinem andern Orte als etwa im Grabe für möglich sternchenland.com halten. Indes beseitigte sie hastig jeden Schatten von Ernst, jedes leise Zugeständnis von löblicher oder arglistiger Absichtlichkeit, das sich für einen Augenblick in ihrem Gesicht, ihrer Stimme oder ihrem Wesen kundgegeben hatte, so daß sie, als Edith ins Zimmer trat, in ihrer trägsten und nachlässigsten Haltung wieder auf dem Sofa saß.

Edith, so schön und stattlich, aber doch so kalt und abstoßend! Mit einer leichten Verbeugung von der Gegenwart des Majors Bagstock Notiz nehmend, warf sie einen stechenden Blick auf ihre Mutter, zog von einem Fenster den Vorhang zurück, setzte sich vor diesem nieder und schaute hinaus.

»Meine teure Edith«, sagte Mrs. Skewton, »wo in aller Welt bist du denn gewesen? Ich habe dich kläglich vermißt, meine Liebe.«

»Ihr sagtet, daß Ihr beschäftigt seid, und deshalb blieb ich fort«, entgegnete Edith, ohne ihren Kopf umzuwenden.

»Es war eine Grausamkeit gegen den alten Joe, Ma’am«, sagte der Major in seiner Galanterie.

»Ich weiß, eine große Grausamkeit«, versetzte sie, noch immer zum Fenster hinaussehend, mit einer so ruhigen Verachtung, daß der Major sich geschlagen sah und nichts zu erwidern wußte.

»Major Bagstock, teure Edith«, sprach die Mutter in gedehntem Ton, »ist, wie du weißt, in der Regel der nützlichste und angenehmste Mann von der Welt –«

»Es ist in der Tat nicht der Mühe wert, solche Phrasen zu beachten, Ma’am«, entgegnete Edith zurückblickend. »Wir sind ja unter uns und kennen einander.«

Der ruhige Spott auf ihrem schönen Gesicht – ein Spott, der augenscheinlich ebensogut ihr selbst, wie den andern galt – war so nachdrücklich ausgeprägt, daß für den Augenblick ungeachtet ihrer sehr zähen Konstitution die Ziererei der Mutter davor weichen mußte.

»Mein liebes Mädchen«, begann sie wieder.

»Noch immer nicht Frau?« versetzte Edith mit einem Lächeln.

»Ach, wie bist du doch heute so seltsam, meine Liebe! Ich muß dir mitteilen, mein Kind, daß Major Bagstock ein sehr freundliches Billett von Mr. Dombey überbracht hat; er lädt uns ein, morgen bei ihm zu frühstücken und eine Fahrt nach Warwick und Kenilworth mitzumachen. Willst du dich anschließen. Edith?«

»Ob ich will!« wiederholte sie mit tiefem Erröten, und ihre Atemzüge flogen schneller, als sie nach ihrer Mutter hinblickte.

»Ich wußte es wohl, daß du damit einverstanden bist, mein Herz«, bemerkte die letztere gleichgültig, »und wie du sagst, frage ich nur um der Form willen. Hier ist Mr. Dombeys Brief, Edith.«

»Ich danke, es verlangt mich nicht danach, ihn zu lesen«, lautete die Antwort.

»Dann ist es vielleicht besser, wenn ich die Antwort übernehme«, sagte Mrs. Skewton, »obschon ich im Sinne hatte, dich zu bitten, daß du das Amt meines Sekretärs versehest.«

Da Edith keine Bewegung machte und auch nichts darauf erwiderte, sternchenland.com bat Mrs. Skewton den Major, ihr den kleinen Tisch etwas näher zu rücken, das Pult darauf zu öffnen und für sie Feder und Papier herauszunehmen. Alle diese galanten Dienstleistungen versah der Major mit vieler Unterwürfigkeit und Ergebung.

»Deine Empfehlung, liebe Edith?« fragte Mrs. Skewton, als sie, die Feder in der Hand, bei der Nachschrift innehielt.

»Was Ihr wollt, Mama«, antwortete Edith mit ungemeiner Gleichgültigkeit, ohne daß sie den Kopf umwandte.

Mrs. Skewton schrieb, was sie wollte, ohne weitere bestimmtere Weisungen einzuholen, und übergab ihr Billett dem Major, der, als er die kostbaren Zeilen in Empfang nahm, tat, als wolle er das Blatt in der Nähe seines Herzens aufbewahren. Da jedoch seine Weste ein etwas unsicherer Platz war, so mußte er es der Tasche seiner Hosen anvertrauen. Der Major nahm sodann von den beiden Damen einen sehr höflich galanten Abschied, der von der älteren in der gewöhnlichen Weise aufgenommen wurde, während die jüngere, die mit ihrem Gesicht gegen das Fenster gekehrt dasaß, ihren Kopf nur so leicht verneigte, daß es für den Major ein größeres Kompliment gewesen wäre, wenn sie gar kein Zeichen von sich gegeben und ihn bei der Meinung gelassen hätte, sein »Auf Wiedersehen« sei gar nicht gehört worden.

Was die Veränderung an ihr betrifft, Sir, dachte der Major auf seinem Heimwege, auf dem er, da der Nachmittag sehr sonnig und heiß war, den Eingeborenen mit dem leichten Gepäck vorausgehen ließ, um in dem Schatten dieses aus dem Vaterland verbannten Prinzen wandeln zu können – was die Veränderung, das Abhärmen usw. betrifft, so muß man damit Joseph Bagstock nicht kommen wollen. Nichts da, Sir. Es verfängt hier nicht. Aber daß eine Art Spaltung zwischen ihnen herrscht – eine Meeresenge, wie es die Mutter nennt, – Gott verdamme mich, Sir, dies scheint richtig genug zu sein. Und es ist auch seltsam genug! Na, Sir, keuchte der Major, Edith Granger und Dombey sind sich gegenseitig trefflich gewachsen; sie mögen es miteinander ausfechten! Bagstock hält sich auf die Seite des gewinnenden Teils.

Da der Major in der Wärme seiner Gedanken diese letzteren Worte laut sprach, so blieb der unglückliche Eingeborene, der sich persönlich angeredet wähnte, stehen und schaute zurück. Über diesen Akt des Ungehorsams im höchsten Grade aufgebracht, stieß der Major, obschon er in jenem Augenblicke aus Freude über seinen eigenen Humor förmlich aufgedunsen war, sogleich seinen Stock zwischen die Rippen des Eingeborenen und fuhr fort, in kurzen Zwischenräumen diesen dauernd auf dem ganzen Weg nach dem Hotel in solcher Weise zu spornen.

Der Unmut des Majors hatte sich noch nicht gelegt, als er sich zum Diner ankleidete; denn während dieses Geschäfts war der schwarze Diener einem Schauer von unterschiedlichen Gegenständen ausgesetzt, die der Größe nach vom Stiefel bis zur Haarbürste wechselten und alles in sich schlossen, was in den Bereich des strengen sternchenland.com Gebieters geriet. Der Major tat sich nämlich viel darauf zu gut, den Eingeborenen vollkommen einexerziert zu haben, und suchte daher auch das mindeste Abweichen von der pünktlichsten Mannszucht mit einer derartigen erschöpfenden Anstrengung heim. Dazu kam noch, daß der Eingeborene als ein Gegenmittel gegen Gicht und alle anderen, sowohl körperlichen wie geistigen Verdrießlichkeiten stets in seiner Nähe sein mußte, so daß der arme Schwarze augenscheinlich seinen nicht großen Lohn sauer verdiente.

Nachdem endlich der Major alle Wurfgeschoße, die ihm unter die Hand kamen, verbraucht und den Eingeborenen mit so vielen neuen Titeln beehrt hatte, daß dieser wohl allen Grund erhielt, sich über den Reichtum der Sprache seines Herrn zu wundern, ließ er sich seine Halsbinde anlegen. Sobald er nun angekleidet war und die Bemerkung machte, daß er durch die erwähnte Übung in einen hohen Geistesschwung versetzt worden, begab er sich die Treppe hinunter, um zu der Erheiterung von Dombey und dessen rechter Hand beizutragen.

Dombey befand sich noch nicht im Zimmer, aber die rechte Hand war da und hielt wie gewöhnlich die Zahnschätze für den Major bereit.

»Nun, Sir,« rief der Major, »wie habt Ihr die Zeit verbracht, seit ich das Glück hatte, zum erstenmal mit Euch zusammenzutreffen? Seid Ihr ausgegangen?«

»Ich bin kaum ein halbes Stündchen umhergeschlendert«, versetzte Carker. »Wir waren sehr in Anspruch genommen.«

»Vermutlich durch Geschäftsangelegenheiten?« fragte der Major.

»Es waren allerlei Kleinigkeiten zu verhandeln«, entgegnete Carker. »Ihr müßt übrigens wissen – das ist ganz ungewöhnlich für mich, denn ich bin in einer mißtrauischen Schule erzogen und in der Regel nicht zur Mitteilsamkeit geneigt.« Dann brach er plötzlich ab und sprach in einem bezaubernden Tone von Freimut: »Trotzdem ist es mir, als könne ich ganz vertraulich gegen Euch sein, Major Bagstock.«

»Sehr viele Ehre für mich, Sir«, entgegnete der Major, »Ihr dürft es übrigens unverhohlen.«

»So will ich Euch denn sagen«, fuhr Carker fort, »daß ich meinen Freund – oder unsern Freund, sollte ich ihn vielmehr nennen –«

»Ihr meint wohl Dombey, Sir?« erwiderte der Major. »Ihr seht mich, Mr. Carker, wie ich hier stehe – J.B. –?«

Er war gedunsen und blau genug anzusehen, und Mr. Carker entgegnete, daß er das Vergnügen habe.

»Dann seht Ihr einen Mann, Sir, der durch Feuer und Wasser gehen würde, um Dombey zu dienen«, entgegnete Major Bagstock.

Mr. Carker lächelte und entgegnete, daß er davon überzeugt sei.

»Um da fortzufahren, Major, wo ich stehenblieb«, nahm er wieder auf, »muß ich Euch sagen, daß ich unsern Freund heute nicht so aufmerksam auf Geschäftssachen fand, wie gewöhnlich.«

»Nicht?« bemerkte der entzückte Major.

»Er war etwas zerstreut und schien geneigt zu sein, seine Gedanken anderwärts umherirren zu lassen«, sagte Carker.

»Beim Jupiter, Sir«, rief der Major, »dann ist eine Dame mit im Spiel.«

»Ich fange in der Tat an, zu glauben, daß etwas Derartiges der Fall sein muß«, versetzte Carker. »Als Ihr heute einen Wink hinzuwerfen schienet, hielt ich es für einen Scherz, denn ich weiß, Ihr Herren vom Militär –«

Der Major ließ seinen Pferdehusten erschallen und schüttelte Kopf und Schultern, als wollte er sagen, »ja wir sind freilich lockere Zeisige; das ist nicht in Abrede zu stellen«. Dann faßte er Mr. Carker beim Knopfloch und flüsterte ihm mit weit vorspringenden Augen ins Ohr, sie sei ein Frauenzimmer von außerordentlichen Reizen, Sir – eine junge Witwe, Sir – von einer ausgezeichneten Familie, Sir – Dombey sei über Kopf und Ohren in sie verliebt, Sir, und es handle sich dabei um eine treffliche Partie von beiden Seiten. Sie besitze Schönheit, Blut und Talent, Dombey dagegen sei reich; was könne man also von einem Paar weiter verlangen. Da sich jetzt draußen Mr. Dombeys Fußtritt vernehmen ließ, so brach der Major kurz mit den Worten ab, Mr. Carter werde sie morgen früh sehen und könne sich dann selbst ein Urteil bilden. In dieser geistigen Aufregung und unter der Anstrengung, alles dies in einem kurzatmigen Flüstern zu sagen, blieb der Major mit gurgelnder Kehle und tränenden Augen sitzen, bis das Diner bereit war.

Wie einige andere edle Tiere nahm sich der Major bei der Fütterungszeit sehr vorteilhaft aus. Bei dieser Gelegenheit glänzte er eigentlich am einen Ende der Tafel, gehoben durch das mildere Strahlen Mr. Dombeys an dem anderen, während Mr. Carker sein Licht bald nach der einen Seite hin, oder nach Befund der Umstände nach beiden leuchten ließ.

Während der ersten paar Gänge war der Major gewöhnlich ernst; denn der Eingeborene sammelte gemäß der insgeheim an ihn erlassenen Weisungen alle Tellerchen und Näpfe um seinen Gebieter her, und gab ihm deshalb mit Herausnehmen der Stöpsel und Mischen des Inhalts auf seinem Teller viel zu schaffen. Außerdem hatte der schwarze Diener besondere Zugaben und Gewürze auf einem Seitentisch stehen, mit denen der Major sich täglich beizte, der seltsamen Maschinen gar nicht zu gedenken, aus denen er unbekannte Flüssigkeiten in das Getränk spritzen ließ. Doch auch bei dieser Gelegenheit und sogar in Mitte der vielen Beschäftigungen fand Major Bagstock Zeit, gesellig zu sein, und seine Unterhaltsamkeit bestand in einer ausnehmenden Schlauheit gegen Mr. Carker, wie auch im Bloßlegen von Mr. Dombeys Gemütszustand.

»Dombey«, sagte der Major; »Ihr eßt nicht; was fehlt Euch?«

»Ich danke«, entgegnete dieser Gentleman. »Ich befinde mich wohl, habe aber heute keinen sonderlichen Appetit.«

»Aber, Dombey, was ist denn daraus geworden?« fragte der sternchenland.com Major. »Wo ist er geblieben? Ich will darauf schwören, Ihr habt ihn nicht bei unsern Freundinnen gelassen; denn ich stehe dafür, daß sie heute niemanden beim Lunch hatten. Für eine davon kann ich wenigstens Bürgschaft leisten, obschon ich nicht sagen will, für welche.«

Der Major blinzelte sodann Carker zu und wurde dabei so schrecklich schlau, daß der schwarze Diener ihn ohne Auftrag auf den Rücken klopfen mußte, weil sein Gebieter sonst wahrscheinlich unter dem Tisch verschwunden wäre.

In einem späteren Zeitpunkt des Diners – d.h. als der Eingeborene neben seinem Gebieter stand, um die erste Flasche Champagner einzugießen, wurde der Major noch schlauer.

»Fülle dies bis zum Rand, du Schurke«, sagte der Major, ihm sein Glas hinhaltend. »Gieße auch Mr. Carker randvoll ein – desgleichen Mr. Dombey. Bei Gott, Gentlemen«, fuhr der Major mit einem Blinzeln gegen seinen neuen Freund fort, während Mr. Dombey mit schuldbewußter Miene auf seinen Teller schaute, »wir wollen dieses Glas einer Gottheit weihen, die Joe mit Stolz unter seine Bekanntschaften zählt und die er aus dem Staube ehrerbietig bewundert. Edith ist ihr Name«, sagte der Major. »Die engelgleiche Edith.«

»Die engelgleiche Edith!« rief Carker lächelnd.

»Auf alle Fälle Edith!« sagte Mr. Dombey.

Das Eintreten der Kellner, die neue Schüsseln brachten, bewog den Major zu noch größerer Schlauheit, obschon er in eine ernstere Stimmung überging.

»Wenn wir unter uns sind, Sir«, sagte der Major, einen Finger an seine Lippen legend und halb beiseite zu Carker sprechend, »so liebt es Joe Bagstock wohl, in dieser Angelegenheit Scherz und Ernst zu mengen. Aber er hält den erwähnten Namen für viel zu heilig, als daß solche Kerle oder überhaupt gewöhnliche Kreaturen darin eingeweiht werden dürften. Keine Silbe darüber, Sir, solange sie hier sind!«

Das war anerkennenswert und achtungsvoll von seiten des Majors, und Mr. Dombey fühlte es vollkommen. Obschon in seiner kalten Weise durch die Anspielungen seines Freundes in einige Verlegenheit gebracht, hatte er doch nichts gegen solche Neckereien einzuwenden, sondern schien sich sogar darin zu gefallen. Vielleicht hatte der Major ziemlich die Wahrheit getroffen, als er sich heute morgen einbildete, der große Mann sei zu stolz, um sich in einer solchen Angelegenheit mit seinem Premierminister förmlich zu beraten oder ihn ins Vertrauen zu ziehen, obschon er wünschte, daß dieser vollkommen davon in Kenntnis gesetzt werde. Mochte dem übrigens sein, wie es wolle, Dombey schaute, während der Major seine leichten Geschosse spielen ließ, oft nach Mr. Carker hin und schien beobachten zu wollen, welche Wirkung sie auf seine rechte Hand machten.

Der Major aber, der sich einen aufmerksamen Zuhörer, einen Mann mit einem Lächeln, wie es in der ganzen Welt keines mehr sternchenland.com gab, kurz »einen verdammt gescheiten und angenehmen Burschen«, wie er ihn später oft nannte, gesichert hatte, wollte ihn nicht bloß mit dem bißchen Schlauheit, die sich persönlich auf Mr. Dombey bezog, loslassen. Daher zeigte er sich nach Entfernung des Tischtuches als einen ganz erlesenen Geist in dem weit umfassenderen Bereiche des Erzählens von Regimentsgeschichten und Vorbringens von Soldatenspäßen. Das tat er mit einem so erstaunlichen Überströmen, daß Carker – wenn er nicht nur sich so anstellte, von Lachen und Bewunderung völlig erschöpft wurde, während Mr. Dombey über seiner steifen Halsbinde herausblickte, als sei er der Eigentümer des Majors oder irgendein Raritätenvorweiser, der sich darüber freute, daß sich sein Bär so gut aufs Tanzen verstand.

Nachdem der Major vom Essen, Trinken und der Kundgebung seiner gesellschaftlichen Fähigkeiten zu heiser geworden war, um sich länger verständlich zu machen, ging man zum Kaffee über. Dann fragte der Major Mr. Carker, den Geschäftsführer, scheinbar mit geringer Hoffnung auf eine bejahende Antwort, ob er Pikett spiele.

»Ja, ein wenig«, versetzte Mr. Carker.

»Vielleicht auch Brettspiel?« bemerkte der Major zögernd.

»Auch dies ein wenig«, versetzte der Mann der Zähne.

»Ich glaube, Carker versteht sich auf alle Spiele«, sagte Mr. Dombey, sich wie ein hölzerner Mann ohne Gelenk und ohne Scharnier auf das Sofa hinstreckend, »und zwar recht gut.«

In der Tat kannte er die fraglichen beiden Spiele so vollkommen, daß der Major ganz erstaunt wurde und aufs Geratewohl hin ihn fragte, ob er auch Schach spiele.

»Ja, ich kann es ein wenig«, antwortete Carker. »Bisweilen machte ich mir schon den Spaß zu spielen, und gewann, ohne daß ich auf das Brett hinsah.«

»Bei Gott, Sir«, sagte der Major, die Augen aufsperrend, »Ihr seid ein vollkommener Gegensatz von Dombey, der sich auf gar kein Spiel versteht.«

»O! er!« entgegnete der Geschäftsführer. »Er hat nie Gelegenheit gehabt, sich mit solchen kleinen Künsten abzugeben, während sie für Männer, wie ich bin, bisweilen nützlich werden können. Im gegenwärtigen Augenblick zum Beispiel, Major Bagstock, setzen sie mich in den Stand, meine Geschicklichkeit gegen Euch zu erproben.«

Der glatte, weite Mund war vielleicht nicht der rechte; aber doch schien unter der Demut und Unterwürfigkeit dieser kurzen Rede etwas zu lauern, gleich einem Knurren; und für einen Augenblick hätte man denken können, die weißen Zähne seien geneigt, die Hand zu beißen, der sie schmeichelten. Der Major machte sich übrigens keine Gedanken darüber, und Mr. Dombey lag während des ganzen Spiels, das bis zum Schlafengehen dauerte, mit halbgeschlossenen Augen nachsinnend da.

Obschon Mr. Carker gewann, stieg er doch hoch in der guten Meinung des Majors. Und zwar in dem Grade, daß dieser, als sich Carker nach seinem Schlafgemach begab, aus besonderer Aufmerksamkeit sternchenland.com den Eingeborenen, der stets sein Lager auf einer Matratze vor der Tür seines Gebieters hatte, in die Galerie hinausschickte, um mit allem Prunk dem neuen Freunde nach seinem Zimmer zu leuchten.

Auf der Oberfläche des Spiegels in Mr. Carkers Gemach lag ein trüber Duft, so daß er vielleicht einen falschen Widerschein bot. Aber er zeigte in jener Nacht das Bild eines Mannes, der vor seinem geistigen Auge eine Menge zu seinen Füßen auf dem Boden schlummernder Menschen sah, ähnlich dem armen Eingeborenen vor der Tür seines Gebieters. Er schlich sich dazwischen durch und schaute boshaft darauf nieder, obschon er wenigstens vorderhand noch nicht auf ein aufwärts gekehrtes Gesicht trat.