Sechsundvierzigstes Kapitel.


Sechsundvierzigstes Kapitel.

Prüfend und nachdenklich

Unter verschiedenen kleineren Änderungen, die um diese Zeit in Mr. Carkers Leben und Gewohnheiten stattzufinden begannen, war keine merkwürdiger, als der außerordentliche Fleiß, mit dem er sich dem Geschäft widmete, und die Sorgfalt, mit der er die vor ihm offen daliegenden Angelegenheiten des Hauses bis ins einzelnste verfolgte. Obgleich er in solchen Dingen stets tätig und scharfblickend war, hatte sich doch jetzt seine luchsäugige Wachsamkeit ums zwanzigfache gesteigert. Seine behutsame Aufmerksamkeit hielt nicht nur gleichen Schritt mit jenen Punkten, die jeder Tag ihm in irgendeiner neuen Form darbot, sondern er fand auch inmitten dieser sich häufenden Beschäftigungen Muße – d.h. er nahm sich dieselbe – die früheren Verbindungen der Firma, die während einer langen Reihe von Jahren abgeschlossen worden waren, und seine Beteiligung dabei zu prüfen. Oft, wenn sämtliche Angestellte fort waren, die Kontore leer und dunkel, und alle ähnlichen Geschäftslokale geschlossen waren, pflegte Mr. Carker, vor dem die ganze Anatomie des eisernen Zimmers offen dalag, mit dem geduldigen Eifer eines Mannes, der die kleinsten Nerven und Fasern eines tierischen Körpers zergliedert, die Geheimnisse der Bücher und Papiere zu erforschen. Der Ausläufer Perch, der bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich dablieb, um sich beim Licht einer einzigen Kerze mit dem Lesen der Preisliste zu unterhalten, oder im äußeren Kontor auf die Gefahr hin, jeden Augenblick kopfüber in die Kohlentruhe zu purzeln, über dem Feuer schlummerte, konnte diesem Fleiß den Zoll seiner Bewunderung nicht versagen, wie sehr er auch dadurch in dem Genusse seines häuslichen Glückes verkürzt wurde, und verbreitete sich wieder und wieder gegen Mrs. Perch, die jetzt Zwillinge säugte, über den Eifer und die Pünktlichkeit ihres geschäftsführenden Gentlemans in der City.

Dieselbe gesteigerte, scharfe Aufmerksamkeit, mit der Mr. Carker die Geschäfte des Hauses behandelte, verwendete er auch auf seine persönlichen Angelegenheiten. Obgleich er kein Associé der Firma war, da diese Auszeichnung bisher nur den Erben des großen Namens Dombey vorbehalten gewesen, bezog er doch von dem Ertrag gewisse Prozente, und da es ihm vermöge seiner Stellung sehr leicht wurde, Geld vorteilhaft zu verwenden, so galt er bei den Schmerlen unter den Tritonen des Ostens als ein reicher Mann. Diese schlauen Beobachter begannen schon untereinander zu bemerken, daß Jem Carker bei Dombey sich umschaue, um zu sehen, was er wert sei, und als ein in die Ferne blickender Mann darauf Bedacht nehme, sein Geld in guter Zeit einzuziehen; ja es wurden sogar auf der Stockbörse Wetten auf die Wahrscheinlichkeit angeboten, daß Jem eine reiche Witwe heiraten werde.

Gleichwohl taten diese vermehrten Geschäfte Mr. Carker in dem Bewachen seines Prinzipals, in seiner Reinlichkeit, seiner Glätte oder irgendeiner katzenartigen Eigenschaft, die er besaß, nicht den mindesten Abtrag. In seinen Gewohnheiten war nicht derart ein Wechsel vorgegangen, sondern sie zeigten sich nur in einer gesteigerten Tätigkeit. Alles, was man früher an ihm bemerken konnte, war auch jetzt noch an ihm zu sehen, nur in höherem Grade konzentriert. Er besorgte jedes einzelne, als ob es nichts anderes für ihn gebe – ein ziemlich sicheres Anzeichen bei einem Mann von seiner Fähigkeit und seinem Geiste, daß er etwas tut, was seine ganze Energie schärft und rege erhält. Die einzige entschiedene Veränderung an ihm bestand darin, daß er, wenn er in den Straßen hin und her ritt, oft in ein ähnliches tiefes Nachdenken versank, wie das, in dem er an dem Morgen von Mr. Dombeys Unfall das Haus des letzteren verlassen hatte. Zu solchen Zeiten wich er nur mechanisch den im Wege liegenden Hindernissen aus, und es hatte den Anschein, als sehe und höre er nichts, bis er seinen Bestimmungsort erreichte, oder ein plötzlicher Zufall ihn aus seinen Träumen weckte.

So ließ er eines Tages sein weißbeiniges Pferd im Schritt nach dem Kontor von Dombey und Sohn gehen, ohne das Lauern von zwei Paar Weiberaugen oder den von seinem Anblick bezauberten Schleifer Rob zu bemerken, der, um seine Pünktlichkeit zu zeigen, eine Straßenlänge näher, als auf dem bestimmten Platz, seines Gebieters harrte und vergeblich durch ein wiederholtes Greifen an seinen Hut die Aufmerksamkeit desselben auf sich zu ziehen suchte, weshalb er denn jetzt zu Fuß an seiner Seite hintrabte, um bei seinem Absteigen sogleich bereit zu sein, ihm den Bügel zu halten.

»Siehst du ihn vorbeireiten?« rief eine der beiden Frauen, eine alte Hexe, die ihre welke Hand ausstreckte, um ihn ihrer jüngeren Begleiterin, die unter einem Torweg dicht an ihrer Seite stand, zu zeigen.

Auf dieses Geheiß von seiten der Mrs. Brown schaute ihre Tochter hinaus, und in ihrem Gesicht zeigte sich die wilde Aufregung des Zorns und der Rachsucht.

»Ich hätte nie gedacht, ihn wieder zu sehen«, sagte sie mit gedämpfter Stimme; »aber es ist vielleicht gut so. Ich sehe. Ich sehe!«

»Nicht verändert!« sagte die Alte mit einem boshaften Blick.

»Er verändert?« entgegnete die andere. »Warum auch? Was hat er gelitten! Nur in mir ist Veränderung genug für zwanzig. Genügt das nicht?«

»Sieh, wie er reitet!« murmelte die Alte, die roten Augen auf ihre Tochter heftend: »so leicht und so geschniegelt auf seinem Pferd, während wir im Kot –«

»Und von Kot sind«, unterbrach sie die Tochter ungeduldig. »Wir sind der Schmutz unter den Füßen seines Pferdes. Was könnten wir auch anders sein?«

In der Begierde, mit der sie ihm wieder nachsah, machte sie, als die Alte antworten wollte, mit der Hand eine hastige Gebärde, wie wenn der bloße Ton einer Stimme sie im Sehen störe. Mrs. Brown, die nur sie, nicht ihn im Auge behielt, blieb stumm, bis der funkelnde Blick ihrer Tochter milder geworden war. Letztere atmete endlich tief auf, als fühle sie sich erleichtert, daß er fort war.

»Herzchen!« begann die Alte. »Alice! Schönes Mädel! Ally!« Sie zupfte sie leicht am Ärmel, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. »Willst du ihn so ziehen lassen, da du ihm doch Geld abringen kannst? Ei, das wäre gottlos, meine Tochter.«

»Habe ich Euch nicht gesagt, daß ich kein Geld von ihm wolle?« versetzte Alice. »Und Ihr glaubt mir noch immer nicht? Habe ich von seiner Schwester Geld angenommen? Würde ich auch nur einen Penny berühren, wenn ich wüßte, er sei durch seine weißen Hände gegangen – es wäre denn, daß ich denselben vergiftet ihm zurückschicken könnte? Seid stille, Mutter, und kommt mit.«

»Und er so reich?« murmelte die Alte. »Und wir so arm!«

»Arm, weil wir nicht imstande sind, ihm etwas von dem Leid heimzuzahlen, das wir ihm verdanken«, entgegnete die Tochter. »Könnte er mir solche Schätze ablassen, so würde ich sie von ihm annehmen und Gebrauch davon machen. Kommt mit; es führt zu nichts, seinem Pferde nachzusehen, kommt mit, Mutter!«

Für die Alte aber schien der Anblick Robs, des Schleifers, der das reiterlose Pferd die Straße heraufführte, irgendein außerordentliches Interesse zu haben, das er an sich selbst nicht besaß; sie betrachtete daher den jungen Menschen mit der größten Angelegentlichkeit und faßte, was sie auch sonst für Bedenken hegen mochte, bei seinem Näherkommen schnell einen Entschluß. Mit einem funkelnden Blick nach ihrer Tochter legte sie den Finger an ihre Lippe, trat in dem Augenblick, als Rob vorüberging, aus dem Torweg und legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Ei, wo ist denn mein munterer Rob diese ganze Zeit über gewesen?« fragte sie, als er sich umwandte.

Der muntere Rob, dessen Munterkeit durch diese Begrüßung sehr gemindert wurde, machte ein sehr langes Gesicht und entgegnete, während ihm das Wasser in die Augen stieg:

»O! warum könnt Ihr einen armen Burschen nicht gehen lassen, Mrs. Brown, wenn er einem ehrlichen Unterhalt nachgeht und sich ordentlich aufführt? Warum kommt Ihr her, um einen jungen Burschen dadurch seines guten Namens zu berauben, daß Ihr ihn auf der Straße anredet, während er das Pferd seines Herrn nach einem ehrlichen Stall bringt – ein Pferd, das Ihr für Katzen- und Hundefleisch verkaufen würdet, wenn man Euch gewähren ließe! Ich dachte wahrhaftig«, fügte der Schleifer hinzu, seine Schlußbemerkung in einer Weise vorbringend, als sei sie der Höhepunkt aller von ihm erlittenen Kränkungen, »Ihr wäret längst tot.«

»So spricht er jetzt mit mir«, rief die Alte, sich an ihre Tochter wendend, »und doch hat er wochen- und monatelang mit mir Bekanntschaft gepflogen, mein Herzchen, und ich bin oft und vielmals seine Freundin gewesen unter den Galgenstricken, die sich mit dem Fang von Tauben und Vögeln abgaben.«

»O redet mir nur nicht von den Vögeln, Mrs. Brown«, versetzte Rob im Ton der bittersten Reue. »Ich denke, es ist besser, sich mit Löwen abzugeben als mit solchen kleinen Geschöpfen, denn sie fliegen einem immer ins Gesicht zurück, wo man es am wenigsten erwartet, Nun, wie geht es Euch und was wollt Ihr?«

Der Schleifer brachte diese höflichen Fragen vor, als verwahre er sich dagegen in großer Gereiztheit.

»Höre, wie er mit einer alten Freundin spricht, mein Schatz!« sagte Mrs. Brown, sich wieder an ihre Tochter wendend. »Doch es gibt einige von seinen alten Freunden, die nicht so geduldig sind wie ich. Wenn ich einigen, die er kennt, mit denen er sich umgetrieben und mit denen er Spitzbübereien angerichtet hat, mitteile, wo sie ihn finden können –«

»Wollt Ihr Euer Maul halten, Mrs. Brown«, unterbrach sie der unglückliche Schleifer, der jetzt hurtig umherschaute, als erwarte er die glänzenden Zähne seines Gebieters neben seinem Ellenbogen zu sehen. »Macht es Euch denn eine so große Freude, einen jungen Burschen zugrunde zu richten? Und noch dazu in Eurem Alter, in dem Ihr an ganz andere Dinge denken solltet.«

»Welch ein schönes Pferd«, sagte die Alte, den Hals des Tieres streichelnd.

»Wollt Ihr so gut sein, es gehen zu lassen?« rief Rob, ihre Hand zurückschiebend. »Ihr seid imstande, einen reuigen, jungen Burschen von Sinnen zu bringen.«

»Ei, was schadet’s ihm denn, Kind?« entgegnete die Alte.

»Was es ihm schadet?« fragte Rob. »Es hat einen Herrn, der dahinterkommt, und wenn es nur mit einem Strohhalm berührt wird.«

Er blies auf die Stelle, wo die Hand der Alten einen Augenblick geruht hatte, und glättete sie sanft mit seinen Fingern, als glaube er ernstlich an die Wahrheit seiner Worte.

Die Alte, die nach der ihr folgenden Tochter murmelnd zurücksah, hielt sich dicht an die Ferse Robs, der mit dem Zügel in der Hand weiterging, und setzte das Gespräch fort.

»Ein guter Platz, Rob, he?« sagte sie. »Ihr seid im Glück, mein Kind.«

»O sprecht mir nicht von Glück, Mrs. Brown«, versetzte der unglückliche Schleifer, indem er sein Gesicht umwandte und haltmachte. »Wenn Ihr nie hierhergekommen wäret oder wenn Ihr fortginget, dann könnte sich ein junger Bursch in der Tat für ziemlich glücklich halten. Wollt Ihr denn gar nicht gehen und ablassen, mich zu verfolgen, Mrs. Brown?« heulte Rob in plötzlichem Trotz. »Wenn die junge Frauensperson eine Freundin von Euch ist, warum nimmt sie Euch nicht lieber hinweg, statt daß sie Euch gestattet, Euch hier so unangenehm zu machen!«

»Was?« krächzte die Alte und näherte mit einem boshaften Grinsen, das ihre welke Haut bis nach dem Hals hinunter in Falten legte, ihr Gesicht dem seinen. »Ihr verleugnet Eure alten Kameradschaften? Seid Ihr nicht dutzend- und dutzendmal in mein Haus geschlichen und habt bei mir in einer Ecke geschlafen, als Ihr kein anderes Bett hattet als das Straßenpflaster – und jetzt sprecht Ihr so mit mir? Habe ich nicht, als Ihr noch ein vagabundierender Schuljunge wart, Euch in meiner Art fortgeholfen und für Euch gekauft und verkauft – und jetzt kommt Ihr mir und heißt mich gehen? Bin ich nicht imstande, Euch schon morgen früh einen Haufen alter Kameraden über den Hals zu schicken, die sich wie Euer Schatten an Euch heften und Euch ins Verderben hetzen können – und Ihr werft mir so kecke Blicke zu? Doch ich will gehen. Komm, Alice.«

»Haltet, Mrs. Brown!« rief der Schleifer außer sich. »Was wollt Ihr denn? Geratet nur nicht so in Zorn! O, seid so gut, sie nicht gehen zu lassen. Ich hab’s ja nicht böse gemeint. Sagte ich nicht gleich anfangs: ›Wie geht’s Euch?‹ aber Ihr wolltet nicht antworten. Wie geht’s Euch? Außerdem könntet Ihr ja selbst einsehen«, fügte Rob mit einer Jammermiene hinzu, »daß es einem Burschen nicht möglich ist, mit dem Pferd seines Gebieters auf der Straße stehenzubleiben, wenn es gestriegelt werden sollte, und der Herr gleich hinter alles kommt, sobald nur im geringsten etwas Unrechtes vorfällt.«

Die Alte tat, als sei sie teilweise beschwichtigt, schüttelte aber noch immer den Kopf und maulte vor sich hin.

»Kommt mit nach dem Stall und laßt Euch ein Gläschen schmecken, das Euch gut tun wird – könnt Ihr nicht, Mrs. Brown?« sagte Rob. »Dies wäre doch besser, als daß Ihr’s in solcher Weise macht, die weder Euch noch jemand anders von Nutzen ist. Bringt sie mit, wollt Ihr so gut sein?« fügte Rob gegen Alice hinzu, »Gewiß, es hätte mich sehr gefreut, sie wieder zu sehen, wenn das Pferd nicht gewesen wäre!«

Mit dieser Rechtfertigung wandte sich Rob, ein jämmerliches Bild der Verzweiflung, ab und führte sein Tier eine Nebenstraße hinunter. Die Alte, die nach ihrer Tochter hinmurmelte, blieb nicht zurück, und Alice folgte.

Nachdem sie ein ruhiges kleines Square oder einen Hofraum, den ein großer Kirchturm überragte und dessen Geschäftsplätze aus den Magazinen eines Packers und eines Flaschenhändlers bestanden, erreicht hatten, überlieferte Rob, der Schleifer, das weißbeinige Tier einem Stallknecht und lud Mrs. Brown mit ihrer Tochter ein, sich auf einer steinernen Bank neben dem Stalltor niederzulassen. Dann begab er sich nach einem benachbarten Wirtshaus, um einige Augenblicke später mit einer zinnernen Maßkanne und einem Glas wieder zurückzukehren.

»Auf die Gesundheit Eures Gebieters – des Mr. Carker, Kind!« lautete der langsam vorgebrachte Trinkspruch der Alten. »Gott segne ihn.«

»Ei, ich habe Euch ja nicht gesagt, wie er heißt«, bemerkte Rob mit weit aufgesperrten Augen.

»Wir kennen ihn vom Ansehen«, versetzte Mrs. Brown, deren murmelnder Mund und wackelnder Kopf in der Spannung ihrer Aufmerksamkeit unbeweglich wurden. »Wir sahen ihn heute früh vorbeireiten und Euch in seiner Nähe, um ihm das Pferd abzunehmen.«

»Ei, daß dich!« entgegnete Rob, augenscheinlich im geheimen wünschend, daß ihn sein Diensteifer lieber an jeden andern Platz hingeführt hätte. »Was ist denn mit ihr – will sie nicht trinken?«

Diese Frage bezog sich auf Alice, die, in ihren Mantel eingehüllt, ein wenig zur Seite saß, ohne auf das ihr angebotene volle Glas auch nur im mindesten zu achten.

Die Alte schüttelte den Kopf.

»Kehrt Euch nicht an sie«, sagte sie. »Ihr fändet ein sonderbares Geschöpf in ihr, wenn Ihr sie kennen würdet, Rob. Aber Mr. Carker –«

»Bst!« versetzte Rob, der vorsichtig seine Blicke nach den Magazinen des Packers und des Flaschenhändlers hin schießen ließ, als fürchte er, Mr. Carker könnte aus den Fenstern auf ihn niederschauen. »Still!«

»Ei, er ist ja nicht hier!« rief Mrs. Brown.

»Ich weiß das nicht gewiß«, murmelte Rob und sein unsteter Blick wandelte nach dem Kirchturm hinauf, als könnte er von dort aus, mit einer übernatürlichen Hörgabe versehen, ihn belauschen.

»Ein guter Herr?« fragte Mrs. Brown.

Rob nickte und fügte mit gedämpfter Stimme bei:

»Aber haarscharf.«

»Er wohnt außerhalb der Stadt – nicht wahr, mein Schatz?« sagte die Alte.

»Wenn er zu Hause ist«, versetzte Rob; »aber wir haben jetzt ein anderes Quartier.«

»Wo?« fragte die Alte.

»Eine Mietwohnung – in der Nähe von Mr. Dombeys Haus«, antwortete Rob.

Die jüngere Frauensperson heftete ihre Augen so plötzlich und so spähend auf Rob, daß dieser völlig verwirrt wurde und ihr abermals das Glas anbot, obschon mit nicht größerem Erfolg als früher.

»Mr. Dombey – Ihr wißt. Ihr und ich, wir beide pflegten bisweilen von ihm zu sprechen«, sagte Rob zu Mrs. Brown. »Ihr hattet es gern, wenn ich Euch von ihm erzählte.«

Die Alte nickte.

»Nun, Mr. Dombey hat einen Unfall gehabt und ist vom Pferd gestürzt«, fuhr Rob wider Willen fort. »Mein Herr muß deshalb jetzt mehr als gewöhnlich entweder bei ihm oder bei Mrs. Dombey sein, und so sind wir in die Stadt gekommen.«

»Sind sie gute Freunde, mein Schatz?« fragte die Alte.

»Wer?« entgegnete Rob.

»Er und sie?«

»Wie, Mr. und Mrs. Dombey?« sagte Rob. »Wie könnte ich das wissen?«

»Nicht sie – Euer Herr und Mrs. Dombey, mein Hühnchen«, versetzte die Alte schmeichelnd.

»Ich weiß es nicht«, sagte Rob, sich wieder umschauend. »Ich glaube es. Wie neugierig Ihr seid, Mrs. Brown. Je weniger man davon spricht, desto besser ist es.«

»Ei, was sollte es denn schaden?« rief die Alte, indem sie lachend die Hände zusammenschlug. »Der muntere Rob ist ja ganz zahm geworden, seit es ihm gut geht! Es kann nichts schaden.«

»Ich weiß es wohl«, entgegnete Rob mit demselben mißtrauischen Blicke nach der Kirche sowohl als nach den Magazinen des Packers und des Flaschenhändlers; »aber das Plaudern geht nicht an, wenn’s auch nur die Zahl der Knöpfe auf dem Rocke meines Herrn beträfe. Ich sage Euch, bei ihm geht es nicht, und ein junger Bursche täte besser, vorher ins Wasser zu springen. Er sagte dies, und ich würde Euch sicherlich seinen Namen nicht genannt haben, wenn Ihr ihn nicht zuvor gewußt hättet. Sprecht lieber von jemand anders.«

Während Rob sich abermals vorsichtig im Hof umsah, machte die Alte eine geheime Bewegung gegen ihre Tochter. Dies war nur ein Moment, aber die Tochter wandte mit einem leichten Ausdruck des Verständnisses ihre Augen von dem Gesicht des Knaben ab und blieb wieder in ihren Mantel gehüllt sitzen.

»Rob, mein Schätzchen«, sagte die Alte, ihm nach dem andern Ende der Bank zuwinkend, »Ihr seid immer mein Liebling gewesen. War’s etwa nicht so – und wißt Ihr es nicht selbst?«

»Ja, Mrs. Brown«, entgegnete der Schleifer nicht in der angenehmsten Stimmung.

»Und Ihr konntet mich verlassen«, sagte die Alte, ihre Arme um seinen Hals schlingend. »Ihr konntet weggehen und groß werden, so daß man Euch kaum mehr kennt – ohne auch nur ein einziges Mal zu Eurer armen alten Freundin zu kommen und ihr zu erzählen, wie glücklich Ihr geworden seid! Stolzer Junge – oho, oho!«

»O, es ist schrecklich für einen armen Burschen, der einen hellwachenden Herrn in der Nachbarschaft hat«, rief der unglückliche Schleifer, »wenn er sich so anheulen lassen muß.«

»Wollt Ihr mich nicht besuchen, Robby?« sagte Mrs. Brown. »Oho, wollt Ihr nie kommen und nach mir sehen?«

»Ja, sage ich Euch! Ja, ich will!« antwortete der Schleifer.

»So ist’s recht, Rob, mein Schätzchen!« sagte Mrs. Brown, die Tränen von ihrem welken Gesicht wegwischend und ihm einen empfindsamen Händedruck gebend. »Am alten Platze, Rob?«

»Ja«, versetzte der Schleifer.

»Bald, mein lieber Robby«, rief Mrs. Brown, »und oft?«

»Ja. Ja«, entgegnete Rob. »Ich verspreche es Euch auf Seele und Leib.«

»Und dann«, sagte Mr«. Brown, ihren Arm zum Himmel erhebend und den wackelnden Kopf zurückwerfend, »wenn er Wort hält, will ich nie in seine Nähe kommen, obschon ich weiß, wo er ist, und nie eine Silbe über ihn verlauten lassen. Nie!«

Dieser Ausruf schien wie ein Tröpflein Trostes auf den unglücklichen Schleifer zu wirken. Er gab Mrs. Brown die Hand und bat sie flehentlich und mit Tränen in den Augen, sie möchte einen jungen Burschen gehen lassen und nicht seine Aussichten zerstören. Mrs. Brown sagte dies unter einer abermaligen zärtlichen Umarmung zu; aber als sie schon im Begriff war, ihrer Tochter zu folgen, wandte sie sich mit verstohlen aufgerichtetem Finger noch einmal um und bat ihn mit heiserem Flüstern um etwas Geld.

»Einen Schilling, mein Schatz«, sagte sie mit gierigem Gesicht, »oder sechs Pence! Um alter Bekanntschaft willen. Ich bin so arm. Und mein schönes Mädel, Rob«, – sie blickte über ihre Achseln zurück – »sie ist mein Mädel, Rob – nagt mit mir am Hungertuche.«

Während der Schleifer mit Widerstreben ihrer Forderung entsprach, kehrte die Tochter ruhig zurück, ergriff die Hand ihrer Mutter und entrang ihr die Münze.

»Wie, Mutter!« sagte sie. »Immer Geld – Geld vom Anfang an bis zuletzt? Denkt Ihr so wenig an das, was ich Euch vor kurzem erst gesagt habe. Hier. Nehmt es wieder.«

Die Alte stieß bei der Zurückerstattung des Geldes ein tiefes Stöhnen aus, ohne jedoch einen andern Widerstand zu versuchen, und folgte humpelnd ihrer Tochter nach der Nebenstraße, die von dem Hof abführte. Der erstaunte und entsetzte Rob, der ihnen mit weit aufgesperrten Augen nachglotzte, sah, daß sie bald nachher haltmachten und sich sehr angelegentlich miteinander besprachen, dabei bemerkte er mehr als einmal eine wild drohende Gebärde der jüngeren Frauensperson (augenscheinlich hatte sie Beziehung auf eine Person, von der sie redete) und eine ärmliche Nachahmung derselben von seiten der Mrs. Brown, eine Wahrnehmung, die ihm die ernstliche Hoffnung einflößte, daß nicht er der Gegenstand ihres Gespräches sein möchte.

Mit dem vorläufigen Trost, daß sie fort seien, und der Aussicht, Mrs. Brown könne nicht ewig leben und werde ihn wahrscheinlich nicht mehr lange belästigen, suchte der Schleifer, der seine schlimmen Streiche nur dann bereute, wenn sie für ihn von derartigen schlimmen Folgen begleitet waren, die Bestürzung seines Gesichtes in einen heiteren Ausdruck umzuwandeln, indem er an die bewunderungswürdige Weise dachte, mit der er Kapitän Cuttle abgefertigt hatte – eine Erinnerung, die selten verfehlte, seinen Geist wieder in Schwung zu bringen. Dann begab er sich nach Dombeys Kontor, um die Befehle seines Gebieters einzuholen. Dort empfing ihn das Auge seines Gebieters so schlau und wachsam, daß er davor zurückbebte, weil er mehr als halbwegs erwartete, es werde ihm seine Besprechung mit Mrs. Brown vorgehalten werden. Mr. Carker übergab ihm die gewöhnliche Briefkapsel für Mr. Dombey und ein Billett an Mrs. Dombey, wobei er als Einschärfung pünktlicher und schneller Besorgung nur mit dem Kopf nickte. Diese geheimnisvolle Ermahnung schloß, wie der Schleifer sich einbildete, die unheimlichsten Warnungen und Drohungen in sich und wirkte mächtiger auf ihn, als es alle Worte imstande gewesen wären. Mr. Carker ging in seinem Zimmer wieder allein ans Geschäft und arbeitete den ganzen Tag. Er ließ viele Besuche vor, überblickte eine Menge von Dokumenten, begab sich nach verschiedenen Handelsplätzen und ließ keine Zerstreutheit aufkommen, bis die Aufgabe des Tages beendigt war. Sobald er jedoch seinen Tisch in der gewohnten Weise von den Papieren gesäubert hatte, versank er wieder in seine gedankenvolle Stimmung.

Er stand in der gewöhnlichen Haltung an seinem alten Platz, die Augen auf den Boden geheftet, als sein Bruder eintrat, um einige Briefe zurückzubringen, die im Laufe des Tages ausgetragen worden waren. Er legte sie ruhig auf den Tisch und wollte sich sogleich wieder entfernen; aber Mr. Carker, der Geschäftsführer, dessen Augen bei seinem Eintritt auf ihm ruhten, als hätten sie stets ihn und nicht den Zimmerboden zum Gegenstand ihrer Betrachtung gehabt, redete ihn an:

»Nun, John Carker, was bringt Ihr da?«

Sein Bruder deutete auf die Papiere und wollte wieder gehen.

»Es wundert mich«, sagte der Geschäftsführer, »daß Ihr kommen und gehen könnt, ohne zu fragen, wie sich Euer Herr befindet.«

»Es ist heute morgen im Kontor gemeldet worden, daß es mit Mr. Dombey gut gehe«, versetzte sein Bruder.

»Ihr seid ein so zahmer Bursche«, bemerkte der Geschäftsführer mit einem Lächeln, – »oder seid es doch im Lauf der Jahre geworden, – daß ich darauf schwören will. Ihr würdet Euch unglücklich fühlen, wenn ihm etwas Schlimmes zustieße.«

»Es würde mir in der Tat sehr leid tun, James«, entgegnete der andere.

»Es würde ihm leid tun!« sagte der Geschäftsführer, nach ihm hindeutend, als ob eine andere Person zugegen sei, an die er sich berufe, »Es würde ihm in der Tat leid tun! Dieser Bruder von mir! Der Junior des Platzes, dieses verachtete Stück Gerümpel, beiseite geschoben mit dem Gesicht gegen die Wand gleich einem verschimmelten Gemälde, und so gelassen, der Himmel weiß, wie viele Jahre; er möchte mich glauben machen, daß er voll Dankbarkeit, Achtung und Anhänglichkeit sei!«

»Ich will Euch nichts glauben machen, James«, erwiderte der andere. »Seid gegen mich so gerecht, wie Ihr es gegen jeden andern sein würdet, der unter Euch steht. Ihr fragt mich, und ich antworte.«

»Und du hast dich über nichts gegen ihn zu beschweren, hündische Seele?« sagte der Geschäftsführer mit ungewöhnlicher Gereiztheit. »Keine stolze Behandlung, keine Unverschämtheit, keine Anmaßung irgendeiner Art zu ahnden? Was zum Teufel – bist du ein Mensch oder eine Maus?«

»Es müßte wunderlich zugehen, wenn zwei Personen, namentlich in der Stellung des Vorgesetzten und des Untergeordneten, so viele Jahre beisammen sein könnten, ohne daß sie gegenseitig an sich etwas auszusetzen fänden – jedenfalls in Gedanken«, versetzte John Carker. »Aber abgesehen von meiner Geschichte hier – –«

»Seine Geschichte hier!« rief der Geschäftsführer, »Ja, da liegt’s. Sogar der Umstand, der ihn zu einem äußersten Fall macht, wirft ihn aus dem ganzen Kapitel! Nun?«

»Abgesehen davon, liegt in ihr, wie Ihr andeutet, für mich (zum Glück für alle übrigen) ein ausschließlicher Grund zum Dank, und es ist gewiß niemand im Hause, der nicht teilnehmend mitfühlen würde, wenn dem Prinzipal ein Unglück zustößt. Ihr glaubt doch nicht, daß in einem solchem Falle irgend jemand hier gleichgültig bleiben könnte?«

»Ja, Ihr habt guten Grund, an ihn gefesselt zu sein!« sagte der Geschäftsführer verächtlich. »Seht Ihr denn nicht ein, daß man Euch nur hier behält als ein wohlfeiles, glänzendes Beispiel der Milde von Dombey und Sohn, das die Ehre des erlauchten Hauses ausposaunen soll?«

»Nein«, versetzte sein Bruder mild. »Ich habe stets geglaubt, daß ich aus wohlwollenderen, uneigennützigeren Gründen hierbehalten wurde.«

»Wie ich bemerkte«, sagte der Geschäftsführer mit dem Pfauchen einer Tigerkatze, »wart Ihr im Zuge, irgendeinen christlichen Spruch vorzubringen.«

»Nein, James«, entgegnete der andere; »aber obschon das brüderliche Band längst zwischen uns zerbrochen und abgelöst ist –«

»Wer zerbrach es, mein guter Sir?« fragte der Geschäftsführer.

»Ich, durch mein schlechtes Benehmen. Euch mache ich daher keinen Vorwurf.«

Der Geschäftsführer erwiderte mit derselben stummen Tätigkeit seines wohlbewehrten Mundes, »o, Ihr macht mir keinen Vorwurf!« und hieß ihn weiter sprechen.

»Ich sage, obgleich kein solches Band mehr zwischen uns besteht, so bitte ich Euch doch flehentlich, mich nicht mit unnötigem Hohn anzugreifen, oder das, was ich spreche oder sprechen will, falsch zu deuten. Ich wollte nur bemerken, daß Ihr im Irrtum seid, wenn Ihr glaubt, bloß Ihr nähmet Rücksicht auf sein Wohl und seinen Ruf, weil Ihr um Eurer Treue willen vor allen andern so hoch in Mr. Dombeys Vertrauen steht, mit ihm fast auf dem Fuße der Gleichheit umgeht und von ihm bereichert worden seid. Ja, ich glaube aufrichtig, daß von Euch herab bis zum Niedrigsten niemand sich im Haus befindet, der nicht warme Teilnahme fühlt für das Wohlergehen des Prinzipals.«

»Ihr lügt!« rief der Geschäftsführer, den eine plötzliche Zornglut überflog. »Ihr seid ein Heuchler, John Carter, und lügt!«

»James!« entgegnete der andere, gleichfalls tief errötend. »Wie muß ich diese beschimpfenden Worte nehmen? Warum behandelt Ihr mich in so schnöder Weise, ohne daß ich Euch Anlaß dazu gab?«

»Ich will Euch nur sagen«, erwiderte der Geschäftsführer, »daß mir Eure Heuchelei und Demut – alle Heuchelei und Demut an diesem Platze nicht so viel gilt«, er schnippte dabei mit den Fingern. »Ich durchschaue sie, als ob sie Luft wäre! Es ist niemand zwischen mir und dem Geringsten an diesem Platze (Ihr habt guten Grund, Euch um den letzteren so anzunehmen, da er nicht fern ist), den es nicht von Herzen freuen würde, seinen Herrn gedemütigt zu sehen – der ihn nicht im geheimen haßte – der ihm nicht lieber Schlimmes als Gutes wünschte – und der ihm nicht zuwiderhandelte, wenn er die Macht und den Mut dazu hätte. Je näher seiner Gunst, desto näher seiner Unverschämtheit – je näher an ihm, desto weiter von ihm ab. Das ist hier das Glaubensbekenntnis.«

»Ich weiß nicht«, versetzte sein Bruder, dessen Unwille bald der Überraschung gewichen war, »wer Euch mit solchen Darstellungen behelligt haben mag, oder warum Ihr gerade mich und nicht lieber einen andern wählen mußtet, um ihre Wirkung zu versuchen. So viel sehe ich ein, daß Ihr mich auf die Probe stellen wolltet. Euer Wesen und Aussehen ist ganz anders, als ich es je an Euch bemerkte. Indes muß ich Euch noch einmal sagen, daß Ihr getäuscht seid.«

»Das weiß ich«, entgegnete der Geschäftsführer, »und habe es Euch gesagt.«

»Nicht durch mich«, erwiderte sein Bruder – »durch Euren Angeber, wenn ein solcher vorhanden ist, – wo nicht, durch Eure Gedanken und durch Euren Argwohn.«

»Ich habe keinen Argwohn«, sagte der Geschäftsführer, »sondern Gewißheit. Ihr hasenherzigen, verächtlichen, kriechenden Hunde! Alle stellen sich in der gleichen Weise an, alle leiern das nämliche Lied, alle winseln dieselben Beteuerungen her, und alle bergen das nämliche durchsichtige Geheimnis in ihrem Innern.«

Sein Bruder entfernte sich, ohne weiter zu sprechen, und drückte die Tür hinter sich zu. Mr. Carker, der Geschäftsführer, brachte einen Stuhl dicht vor das Feuer und fing an, mit dem Schüreisen sanft auf die Kohlen loszuschlagen.

»Die feigen, wedelnden Schufte«, murmelte et, und seine beiden glänzenden Zahnreihen entblößten sich. »Es ist keiner unter ihnen, der nicht dergleichen täte, als fühle er sich ebenso erschüttert und beleidigt! Pah! Und doch würde jeder, wenn er einmal die Macht, den Verstand und den Mut dazu hätte, Dombeys Stolz so schonungslos in den Staub legen, wie ich hier diese Asche auseinander breite.«

Er fuhr mit einem gedankenvollen Lächeln in diesem Geschäft fort.

»Noch dazu, ohne daß ihm dieselbe Königin winkte!« fügte er plötzlich hinzu: »und wohlgemerkt, es ist Stolz da, wie wir aus eigener Erfahrung wissen!«

Er versank in ein noch tieferes Brüten und blieb vor dem Kamin sitzen, bis die Funken nahezu erstorben waren; dann stand er gleich einem Manne auf, der sich in ein Buch vertieft hat, schaute umher, nahm Hut und Handschuhe auf, begab sich nach dem Platz, wo sein Pferd wartete, bestieg dasselbe und ritt in den nächsten Straßen weiter; denn es war Abend.

Er ritt in die Nähe von Mr. Dombeys Haus, wo er sein Tier im Schritt gehen ließ und nach den Fenstern hinaufschaute. Das Fenster, wo er vordem Florence mit ihrem Hund hatte sitzen sehen, fesselte zuerst seine Aufmerksamkeit, obschon es nicht erhellt war; dann ließ er seine Blicke lächelnd an der hohen Vorderseite des Hauses hingleiten, als sei er längst weg über den früheren Gegenstand.

»Es gab eine Zeit«, sagte er, »in der es sich schon der Mühe verlohnte, sogar über deinem aufgehenden kleinen Stern zu wachen und sich nach der Richtung der Wolken umzusehen, um dich im Notfall damit zu beschatten. Aber ein Planet ist aufgestiegen, und in seinem Licht verschwindet das deine.«

Er lenkte das weißbeinige Pferd um die Straßenecke und suchte an der Hinterseite des Hauses ein anderes Fenster auf, das erhellt war. Es knüpfte sich daran die Erinnerung an eine gewisse stattliche Person, an eine mit dem Handschuh bedeckte Hand, an die Schwungfedern eines schönen Vogels, die auf dem Boden umhergestreut worden, und an das Beben des leichten, weißen Schwanenflaums, als ahne derselbe einen fernen Sturm. Mit solchen Vorstellungen erfüllt, wandte er sich wieder ab und ritt raschen Trabs durch die dunkler werdenden verlassenen Parke.

Verhängnisvolle Wahrheit, – seine Gedanken galten einer Frau, einer stolzen Frau, die ihn haßte, die aber durch seine Schlauheit und durch ihren eigenen gekränkten Stolz langsam und sicher dazu verleitet worden war, seine Gesellschaft zu dulden und ihn mehr und mehr als einen Mann zu empfangen, der das Vorrecht hatte, mit ihr von ihrer trotzigen Mißachtung des Gatten und ihrer Rücksichtslosigkeit für sich selbst zu sprechen. Sie galten einer Frau, die ihn aus tiefster Seele haßte, – die ihn kannte und Mißtrauen in ihn setzte, weil sie ihn und er sie kannte, aber gleichwohl durch ihre wilde Rachsucht sich bewegen ließ, zu gestatten, daß er ihr mit jedem Tage näher kam, ungeachtet des Hasses, den sie gegen ihn hegte.

Ungeachtet desselben? Nein, gerade deswegen; denn auf dem Grunde – zu weit unten, als daß ihr drohendes Auge es hätte erfassen können, obschon sie es in unbestimmten Zügen sah – lag die düstere Vergeltung, deren leisester Schatten – einmal und nie wieder unter Schaudern bemerkt – zugereicht haben würde, ihre Seele zu beflecken.

Umspukte ihn das Phantom eines solchen Weibes auf seinem Wege – der Wirklichkeit getreu und von ihm erkannt?

Ja. Er sah sie in seinem Geiste gerade so, wie sie war. Sie leistete ihm Gesellschaft mit ihrem Stolz, ihrer Rachsucht und ihrem Haß, alles ihm so deutlich wie ihre Schönheit, aber nichts deutlicher als ihr Haß gegen ihn. Er sah sie bisweilen stolz und abstoßend an seiner Seite, bisweilen aber unter den Hufen seines Pferdes, gefallen und im Staube. Doch stets sah er sie, wie sie war, ohne Maske, und bewachte sie auf dem gefährlichen Wege, den sie ging.

Nachdem er seinen Ritt beendigt und sich umgekleidet hatte, kam er mit gesenktem Haupte, weicher Stimme und beschwichtigendem Lächeln in das Licht ihres prächtigen Zimmers. Auch jetzt sah er sie noch ebenso deutlich. Er argwöhnte sogar das Geheimnis der Hand in dem Handschuh, und hielt sie um dieses Verdachtes willen nur um so länger in der seinen. Auf dem gefährlichen Pfade, den sie ging, war auch er, und sie ließ keine Spur ihres Fußes zurück, ohne daß er sogleich seinen eigenen darauf setzte.

Siebenundvierzigstes Kapitel.


Siebenundvierzigstes Kapitel.

Der Donnerschlag

Die Schranke zwischen Mr. Dombey und seiner Gattin wurde durch die Zeit nicht geringer. Unglücklich in ihrem Innern und durch einander, durch kein Band zusammengeknüpft, als durch die Kette, die gegenseitig ihre Hände fesselte, und an der sie so mächtig zerrten, daß sie bis auf den Knochen schnitt, war die Zeit, diese Trösterin im Leid, diese Beschwichtigerin der Leidenschaft, außerstande, dem schlecht zusammenpassenden Paare zu helfen. Ihr Stolz, wie verschieden er auch der Art und dem Gegenstand nach war, blieb stets in der gleichen Höhe, so daß in dem gegenseitigen kieselharten Zusammenprallen Funken aufflogen, die je nach den Umständen still fortglosteten oder in helle Lohe ausbrachen, stets aber alles in ihrem wechselseitigen Bereich niederbrannten und den Weg ihrer Ehe zu einem Aschenpfad machten.

Laßt uns gerecht gegen ihn sein. In der ungeheuerlichen Verblendung seines Lebens, die sich mit jedem Sandkorn im Stundenglase steigerte, drängte er sie vorwärts, ohne daß er sich einfallen ließ, wohin, oder auf die dazu gewählten Mittel Rücksicht nahm; aber dennoch blieb sein Gefühl gegen sie stets das gleiche wie im Anfang. Es haftete an ihr die große Verschuldung, der Anerkennung seines gewaltigen Einflusses und ihrer völligen Unterwerfung unter denselben einen unerklärlichen Widerspruch entgegenzusetzen, und insoweit war es nötig, sie zu bessern und zur Besinnung zu bringen; aber anderseits sah er in seiner kalten Weise in ihr noch immer eine Dame, die, wenn sie wollte, imstande war, seiner Wahl und seinem Namen Ehre zu machen, so daß er sich auf ihren Besitz etwas zugute tun konnte.

Sie dagegen richtete von jener Nacht an, als sie die Schatten an der Wand betrachtend dasaß, bis zu der schnell kommenden tieferen Nacht, mit der ganzen Stärke leidenschaftlichen, stolzen Rachegefühls täglich und stündlich ihren düsteren Blick auf eine einzige Gestalt, die mit Demütigungen aller Art darauf antwortete, und diese Gestalt war die ihres Gatten.

Kann man wohl den Hauptmangel, der so unerbittlich Mr. Dombey beherrschte, einen unnatürlichen Charakterzug nennen? Es dürfte bisweilen der Mühe wert sein, zu fragen, was die Natur ist, wie die Menschen arbeiten, um sie umzuwandeln, und ob bei den hierdurch veranlaßten Verzerrungen das Unnatürlichsein nicht als natürlich erscheint. Man bringe was immer für einen Sohn oder Tochter unserer mächtigen Mutter in eine enge Sphäre, knüpfe sie fest an eine einzige Idee, die man durch kriechende Unterwerfung von seiten der kleinen, schüchternen oder arglistigen Umgebung nährt, und was wird die Natur sein für den freiwilligen Gefangenen, der sich nie mit den Fittichen eines freien Geistes aufgeschwungen hat? Sicher vermag er bald nicht mehr, sie im Lichte ihrer umfassenden Wahrheit zu erkennen!

Ach, gibt es denn so wenige Dinge in unserer nächsten Umgebung, die ganz natürlich höchst unnatürlich sind? Höre man die Ermahnungen der Richter und Magistratspersonen an die unnatürlichen Auswürflinge der Gesellschaft – unnatürlich in ihren tierischen Gewohnheiten, unnatürlich in ihrem Mangel an Anstand, unnatürlich in dem Mangel an Erkenntnis des Guten und Bösen, unnatürlich in Unwissenheit, Laster, Leichtsinn, Schande, Geist, Miene und allem. Folge man nur dem wackeren Geistlichen oder Arzt, der, mit jedem Atemzug sein Leben gefährdend, in ihre Höhlen geht, in denen man den Widerhall von dem Rasseln unserer Prachtwagen und den täglichen Tritt der Menschen auf dem Straßenpflaster hört. Seht Euch um in der Welt voll häßlicher Anblicke – Millionen unsterblicher Wesen haben auf Erden keine andere Welt –, bei deren leisester Erwähnung schon die Menschheit sich empört und die ekle Verfeinerung in der nächsten Straße sich die Ohren verstopft; seht Euch um in ihr und sprecht: »Ich glaube es nicht.« Atmet die befleckte Luft, angefüllt mit jeder Unreinigkeit, die die Gesundheit und das Leben vergiftet; denkt Euch jeden Sinn, der unserem Geschlecht zum Glück und zur Freude geschenkt wurde, aufs abscheulichste beleidigt und zu einem Kanal umgewandelt, durch den nur Elend und Tod eintreten kann. Macht den vergeblichen Versuch, Euch eine einfache Pflanze, eine Blume oder ein gesundes Gewächs zu denken, die, in ein so häßliches Beet versetzt, ihren natürlichen Wuchs haben oder ihre Blätter der Sonne zuwenden könnten, wie es Gott beabsichtigt hat. Und dann ruft irgendein leichenhaft aussehendes Kind mit verkümmerter Gestalt und boshaftem Gesicht auf, haltet ihm seine unnatürliche Sündigkeit vor und beklagt, daß es in seiner frühen Jugend schon so weit abgekommen ist vom Himmel – denkt aber auch ein wenig daran, daß es in einer Hölle gezeugt, geboren und erzogen wurde.

Diejenigen, die die physikalischen Wissenschaften in ihrem Verhältnis zur Gesundheit des Menschen zu erforschen bemüht sind, sagen uns, wenn die schädlichen Teilchen, die aus einer verdorbenen Luft aufsteigen, dem Gesicht erkennbar wären, so würden wir sie über solchen Schlupfwinkeln in dichten schwarzen Wolken schweben sehen, die langsam weiterrollen, um auch die besseren Teile der Stadt in ihr Bereich zu ziehen. Aber wenn die moralische Pest, die sich mit ihnen hebt und nach den ewigen Gesetzen der beleidigten Natur von ihnen unzertrennlich ist, gleichfalls dem Auge zugänglich wäre, welche Schrecken müßten sich da nicht offenbaren? Wir würden sittliche Verderbnis, Gottlosigkeit, Trunksucht, Diebstahl, Mord und eine lange Reihe namenloser, gegen die Statur verstoßender Sünden über den unglücklichen Plätzen hängen und sich weiterverbreiten sehen, um die Unschuldigen in ihre feindselige Atmosphäre zu ziehen und auch unter die Reinen Ansteckung zu bringen. Wir würden sehen, wie dieselben vergifteten Quellen, die in unsern Spitälern und Lazaretten springen, die Gefängnisse unter Wasser setzen, die Deportationsschiffe fast zum Versinken bringen, ihre Wellen über die Meere hin entsenden und ungeheure Kontinente mit Verbrechen überfluten. Mit Entsetzen würden wir erfahren, daß wir, wo wir Krankheiten aufkommen lassen, die unsere Kinder wegraffen und sich sogar an ungeborene Geschlechter anheften, durch denselben Prozeß auch eine Kindheit heranziehen, die keine Unschuld kennt, eine Jugend ohne Bescheidenheit oder Scham, eine Reife, die in nichts reif ist als in Leiden und Schuld, und ein hohes Alter, das zur Schmähschrift wird auf die Gestalt, die wir tragen. Eine unnatürliche Menschheit! Wenn wir Trauben sammeln von Dornen und Feigen von den Disteln – wenn der Kehricht an den Straßen unserer verderbten Städte sich zu Getreidefeldern umwandelt und in den von Elend gemästeten Kirchhöfen Rosen aufblühen, dann mögen wir uns auch nach einer natürlichen Menschheit umsehen und ihr Gedeihen nach solch einer Saat erwarten.

O daß doch ein guter Geist mit mächtigerer und wohlwollenderer Hand als der lahme Dämon im Märchen, die Hausgiebel abnehmen und einem christlichen Volke zeigen könnte, welch schwarze Gestalten von solchen Herden aufsteigen, um das Gefolge des langsam weiterschreitenden Zerstörungsengels anzuschwellen! Könnten wir nur eine einzige Nacht die blassen Gespenster der Szenen sehen, die von uns zu lang vernachlässigt wurden, um dann mit der dicken, schweren Luft, in welcher Verbrechen und Fieber sich fortpflanzen, der schrecklichen Wiedervergeltung Einhalt zu tun, die stets von solchen Plätzen ausströmt und immer qualmender herankommt! Wie heiter und gesegnet müßte der Morgen nach einer solchen Nacht sein; denn die Menschen – nicht mehr durch selbstgeschaffene Hemmnisse aufgehalten, die nur Staubflecken sind auf dem Pfade zwischen ihnen und der Ewigkeit – würden als Geschöpfe einer gemeinsamen Abkunft, die dem Vater einer einzigen Familie dieselbe Pflicht schulden und nach dem gleichen gemeinsamen Ziele ringen, sich dann bemühen, die Welt zu einem besseren Aufenthalt zu machen!

Nicht weniger heiter und gesegnet würde der Tag sein, weil er in einigen, die nie hinausgeblickt haben auf die sie umgebende Welt von Menschenleben, das Bewußtsein ihrer eigenen Beziehung zu ihr weckte und sie in ihren engherzigen Sympathien und Ansichten eine Verkehrtheit der Natur erkennen ließe, die ebenso groß und, wenn ihre Entwicklung einmal angefangen hat, in ihrem Fortschreiten ebenso natürlich ist wie ihre niedrigste Abstufung.

Aber für Mr. Dombey oder seine Gattin, und für den Pfad, den jeder von ihnen eingeschlagen hatte, war nie ein solcher Tag aufgedämmert. Sechs Monate lang nach Mr. Dombeys Sturz mit seinem Pferde blieben sie stets in dem gleichen gegenseitigen Verhältnis. Ein Marmorfels hätte ihm nicht starrer im Wege liegen können als sie, während er so eisig kalt blieb wie die Quelle, die, nie von einem Lichtstrahle erheitert, in den Tiefen einer tiefen Höhle sprudelt.

Die Hoffnung, die in Florence sich regte, als ihr die Aussicht auf eine neue Heimat dämmerte, war jetzt ganz aus ihrer Seele gewichen. Diese Heimat war jetzt beinahe zwei Jahre alt, und sogar ihr geduldiges Vertrauen konnte nicht standhalten gegen den täglichen Mehltau einer solchen Erfahrung. Wenn sie auch im geheimen noch einem leisen Gedanken Raum gab, Edith und ihr Vater könnten vielleicht in einer fernen Zeit miteinander glücklich leben, so war jetzt jeder Funke von Hoffnung erstorben, daß ihr Vater je sie selbst lieben würde. Der kleine Zeitraum, in dem sie sich vorgestellt hatte, er sei etwas milder gegen sie geworden, geriet durch den Hinblick auf seine Kälte vor- und nachher in Vergessenheit, oder erschien ihr nur noch in dem Lichte einer schmerzlichen Selbsttäuschung.

Florence liebte ihn noch, war aber dabei allmählich so weit gekommen, daß sie sich bei ihrem Lieben nicht in der kalten Wirklichkeit, die vor ihren Augen stand, sondern als etwas vorstellte, was der Vergangenheit angehörte oder doch hätte gewesen sein können. Etwas von der milden Trauer, mit der sie das Andenken an den kleinen Paul oder an ihre Mutter liebte, schien sich in ihre Gedanken an ihn zu mischen und sie sozusagen zu einer teuren Erinnerung zu machen. Lag der Grund darin, daß er für sie tot war, oder teilweise in seiner Beziehung zu früheren Gegenständen ihrer Liebe und in dem Rückblick auf die lang genährten zärtlichen Hoffnungen, die durch ihn vernichtet worden waren? – Sie wußte es nicht; aber der Vater, den sie liebte, begann für sie eine unbestimmte träumerische Idee zu werden, die kaum wesenhafter mit ihrem wirklichen Leben verkettet war als das Bild, das sie sich bisweilen von ihrem Bruder heraufbeschwor, indem sie sich dachte, er sei noch am Leben, wachse zu einem Manne heran und werde sie liebevoll beschützen.

Dieser Wechsel, wenn man ihn so nennen kann, hatte sie beschlichen, wie der Übergang vom Kind zur Jungfrau, in dessen Gefolge er gekommen. Florence war fast siebzehn, als sie bei ihrem einsamen Grübeln sich dieser Gedanken bewußt wurde.

Sie war jetzt allein, denn auch in ihrem Verhältnis zu ihrer Mama war vieles anders geworden. Nach dem Unfall ihres Vaters, als dieser in seinem Zimmer unten lag, bemerkte Florence zum erstenmal, daß Edith ihr auswich. Verletzt und erschüttert, aber doch nicht imstande, diese Gefühle mit ihrer Liebe in Einklang zu bringen, suchte sie eines Abends wieder einmal ihre Mutter in ihrem Zimmer auf.

»Mama«, sagte Florence, leise an ihre Seite tretend, »habe ich Euch etwas zuleide getan?«

»Nein«, lautete Ediths Antwort.

»Und doch muß ich etwas Unrechtes begangen haben«, entgegnete Florence. »Sagt mir, worin es besteht. Ihr seid so ganz anders gegen mich geworden, liebe Mama. Ich kann Euch nicht beschreiben, wie schnell ich auch nur den mindesten Wechsel fühle, denn ich liebe Euch aus ganzer Seele.«

»Und ich dich auch«, sagte Edith. »Ach, Florence, glaube mir, ich liebte dich nie mehr als gerade jetzt!«

»Warum weicht Ihr mir so oft aus und haltet Euch fern von mir?« fragte Florence. »Und warum seht Ihr mich bisweilen so seltsam an, liebe Mama? Ihr wißt doch selbst, daß Ihr es tut?«

Edith deutete mit ihren dunkeln Augen eine Bejahung an.

»Warum«, entgegnete Florence bittend – »ach, sagt mir, warum, damit ich weiß, wie ich’s anfangen muß, um Euch besser zu gefallen. Sagt es mir, und ich werde gewiß allen weiteren Anlaß vermeiden.«

»Meine Florence«, versetzte Edith, indem sie die Hand ergriff, die ihren Nacken umschlungen hielt, und in die so liebevoll zu ihr aufschauenden Augen blickte, während Florence vor ihr auf dem Boden kniete, »warum es so ist, kann ich dir nicht sagen, da es nicht für deine Ohren paßt. Genug, daß ich weiß, es muß so sein. Glaubst du, ich würde es tun, wenn es nicht der Fall wäre?«

»Sollen denn wir einander fremd werden, Mama?« fragte Florence, erschrocken zu ihr aufblickend.

Ediths stumme Lippen bildeten ein »Ja«.

Florence blickte sie mit zunehmender Furcht und Verwunderung an, bis sie unter den sie blendenden Tränen, die auf ihre Wangen niederfielen, nichts mehr sehen konnte.

»Florence! mein Leben!« sagte Edith hastig, »höre mich an. Ich kann es nicht ertragen, dich so bekümmert zu sehen. Beruhige dich. Du siehst, ich bin gefaßt – und meinst du, die Aufgabe werde mir so leicht?«

Bei den letzteren Worten nahm sie ihre gewöhnliche Festigkeit in Ton und Wesen wieder an und fügte dann hastig hinzu:

»Nicht ganz fremd, Nur teilweise – und auch dies nur zum Schein, Florence, denn in meinem Innern bin ich noch immer dieselbe gegen dich und werde es stets sein. Was ich tue, geschieht nicht um meinetwillen.«

»Etwa um meinetwillen, Mama?« fragte Florence.

»Es ist genug, zu wissen, daß es so ist«, antwortete Edith nach einer Pause. »An dem Warum liegt nicht viel. Liebe Florence, es ist besser – es ist notwendig, daß wir weniger häufig miteinander verkehren. Die Vertraulichkeit, die zwischen uns stattgefunden hat, muß abgebrochen werden.«

»Wann?« rief Florence. »O, Mama, wann?«

»Jetzt«, versetzte Edith.

»Für alle künftige Zeit?« fragte Florence.

»Ich will das nicht sagen«, antwortete Edith, »weiß es aber selbst noch nicht. Ebensowenig will ich behaupten, daß eine Freundschaft zwischen uns im besten Falle nur eine unpassende, unheilige Verbindung sei, von der ich hätte vorauswissen können, daß sie zu nichts Gutem führe. Mein Weg hier ging auf Pfaden, die du nie betreten wirst, und welches Ende ihm bevorsteht – Gott weiß es –, mir ist es noch dunkel –.«

Ihre Stimme erstarb in einem Schweigen, und wie sie so dasaß, schauderte sie fast vor Florence zurück, während sie ihr den nämlichen seltsamen, scheuen Blick zuwarf, den das Mädchen schon früher an ihr bemerkt hatte. Dann stürmte derselbe düstere Stolz und Zorn über ihre Züge hin, gleich einer zürnenden Hand über die Saiten einer wild ertönenden Harfe. Keine Weichheit, keine Milde folgte darauf. Sie senkte jetzt nicht weinend ihr Haupt und sagte, daß sie keine Hoffnung habe als in Florence, sondern hielt es aufrecht wie eine schöne Meduse, als wolle sie ihn Angesicht gegen Angesicht in Stein verwandeln. Ja, und sie würde es getan haben, wenn sie diesen Zauber besessen hätte.

»Mama«, sagte Florence ängstlich, »es ist eine Veränderung in Euch vorgegangen, größer, als Ihr mir sagt, und ich erschrecke darüber. Laßt mich ein wenig bei Euch bleiben.«

»Nein«, entgegnete Edith, »nein, meine Liebe. Es ist am besten, wenn ich jetzt allein bleibe – auch am besten für dich, wenn namentlich du dich fern von mir hältst. Stelle keine Fragen an mich und glaube nur, – wenn ich, was auch kommen mag, wankelmütig und launenhaft gegen dich erscheine, so geschieht dies nicht mit Absicht und gegen meinen Willen. Obgleich wir jetzt fremder gegeneinander sein müssen, als wir waren, so vertraue darauf, daß mein Inneres gegen dich unverändert ist. Vergib mir, daß ich je deine freudelose Heimat getrübt habe – ich weiß es wohl, ich bin ein Schatten darauf – und laß uns nie wieder davon sprechen.«

»Mama«, schluchzte Florence, »wir sollen uns doch nicht trennen?«

»Damit dies nicht geschehe, müssen wir so handeln«, sagte Edith. »Frage nicht weiter. Geh‘ jetzt, Florence! Meine Liebe und mein Schmerz begleiten dich.«

Sie entließ Florence mit einer Umarmung und sah der sich Entfernenden mit einem Blick nach, als weiche in der lieblichen Gestalt ihr guter Engel von ihr, um sie den stolzen, zürnenden Leidenschaften zu überlassen, die sich ihrer bemächtigt und ihr Siegel auf ihre Stirne gedrückt hatten.

Von dieser Stunde waren Florence und Edith einander nie mehr, was sie sich gewesen. Es vergingen Tage, ohne daß sie anders als bei Tisch und in Mr. Dombeys Gegenwart zusammentrafen. Edith saß dann gebieterisch, stumm und unbeugsam da, ohne nur nach ihr hinzusehen.

Nahm Mr. Carker an dem Mahl teil, was im Laufe von Mr. Dombeys Genesung und nachher oft geschah, so benahm sie sich sogar noch abgemessener gegen das arme Mädchen als zu anderen Zeiten. Trafen sie sich aber allein, so schlang sie Florence ebenso liebevoll in ihre Arme wie vordem, obschon nicht mit demselben Milderwerden ihres stolzen Aussehens, und oft, wenn sie spät nach Hause gekommen war, konnte sie wie früher im Dunkeln sich nach ihrem Zimmer hinaufstehlen, um über ihrem Pfühl ein »gute Nacht« zu flüstern. Florence, die in ihrem Schlummer nichts von solchen Besuchen ahnte, erwachte bei diesen leisen Worten zuweilen wie aus einem Traum, und es war ihr, als fühle sie ihr Gesicht von Lippen berührt. Doch kam dies im Laufe der Monate weniger und weniger häufig vor.

Und nun begann die Leere in Florences Herzen abermals eine Öde um sie her zu breiten. Wie das Bild ihres Vaters, den sie liebte, unbewußt zu einem bloßen Gedanken geworden war, so verblich auch Edith, das Schicksal aller übrigen teilend, an die sich ihre Liebe gekettet hatte, mit jedem Tage mehr in der Entfernung. Ganz allmählich wich sie von Florence zurück, gleich dem entschwindenden Geiste dessen, was sie gewesen; allmählich schien die Kluft zwischen ihnen weiter und tiefer zu werden; allmählich erstarrte die Innigkeit, die sie an den Tag gelegt hatte, mehr und mehr in dem kecken, zornigen Trotz, mit dem sie, ohne daß Florence eine Ahnung davon hatte, sich dem Rande eines tiefen Abgrunds näherte und in denselben niederschaute. Der schwere Verlust, den Florence in Edith erlitten, wurde nur durch eine einzige Rücksicht gemildert, und obschon ihr schwer belastetes Herz nicht viele Beruhigung darin fand, so versuchte sie doch, sich zu überreden, daß einiger Trost für sie darin liege. Nicht länger in ihrer Zuneigung und ihrem Pflichtgefühl gegen die Eltern geteilt, konnte sie jetzt beide lieben, ohne einem davon unrecht zu tun. Waren sie doch nur Schatten in ihrer warmen Einbildungskraft, und sie konnte ihnen in ihrem Herzen einen gleichen Platz anweisen, ohne daß sie zweifelhaft an ihr werden mußten.

Sie versuchte es so. Bisweilen, ja sogar oft konnten sich ihr verwunderte Mutmaßungen über den Grund zu Ediths verändertem Benehmen aufdrängen und ihr Schrecken einflößen; doch fand sie in der Ruhe ihrer Einsamkeit und ihres stummen Grams nicht Raum zu nachhaltigem Grübeln. Genügte es ja an der Erinnerung, daß der Stern ihrer Hoffnung von dem allgemeinen Düster, das über dem Hause hing, umwölkt war, und sie ergab sich darein mit Tränen.

In einem solchen Traumleben, in dem die überströmende Liebe ihres jungen Herzens sich an luftigen Gestalten erschöpfte, während sie in der wirklichen Welt nicht viel anderes erfuhr, als das Aufsichselbstzurückschlagen der gewaltigen Flut, wurde Florence siebzehn. Die Einsamkeit hatte sie zwar schüchtern gemacht, aber ihr sanftes Gemüt und die Innigkeit ihres Wesens nicht verbittert. In unschuldiger Einfalt ein Kind, in bescheidenem Selbstvertrauen und in der Wärme ihres Herzens eine Jungfrau, schienen diese beiden Eigenschaften sich zugleich als anmutiges Gemisch in ihrem schönen Gesicht und in der Zartheit ihres Körpers auszudrücken, gleichsam als wolle der Frühling nur ungern dem kommenden Sommer Platz machen, dessen Pracht er mit der früheren Schönheit seiner Blüten zu erhöhen suchte. In ihrer ansprechenden Stimme aber, in ihren ruhigen Augen, zuweilen in einem eigentümlichen ätherischen Licht, das auf ihrem Haupte zu ruhen schien, und stets in einem gewissen sinnigen Zug ihrer Schönheit lag ein Ausdruck, wie man ihn an dem toten Knaben gesehen hatte, und der hohe Rat in der Bedientenhalle flüsterte unter Kopfschütteln davon und aß und trank desto mehr in dem engen Bunde guter Kameradschaft.

Die erwähnte achtsame Körperschaft wußte gar viel über Mr. und Mrs. Dombey, namentlich aber über Mr. Carker zu sagen, der augenscheinlich den Vermittler zwischen beiden machen sollte und stets ab- und zuging, als versuche er Frieden zu stiften, obschon es nie gelang. Alle beklagten den unbehaglichen Stand der Angelegenheit und drückten vereint ihre Ansicht dahin aus, Mrs. Pipchin, die im höchsten Grade unpopulär war, habe ihre Hand mit im Spiel; im ganzen übrigens war es angenehm, eine so gute Zielscheibe zu haben, und man ging mit aller Lust auf dieselbe los.

Diejenigen, die im Hause Besuch machten oder die von Mr. und Mrs. Dombey besucht wurden, hielten – jedenfalls sofern der Stolz in Rechnung kam – das Ehepaar für ziemlich gut zusammenpassend und machten sich keine weiteren Gedanken darüber. Die junge Lady mit dem Rücken ließ sich einige Zeit nach Mrs. Skewtons Tode nicht mehr sehen und bemerkte gegen ihre besonderen Freunde mit ihrem gewöhnlichen mädchenhaften Gekreisch, daß sie bei dieser Familie stets an Grabsteine und derartige entsetzliche Dinge denken müsse; als sie aber endlich wieder erschien, bemerkte sie nichts Unrechtes, mit Ausnahme des Umstandes, daß Mr. Dombey einen großen Bündel goldener Petschafte an seiner Uhr trug, der ihr ein abergläubisches Entsetzen einflößte. Diese junge Herzenseroberin war der Ansicht, daß eine Stieftochter schon dem Grundsatz nach verwerflich sei; außerdem hatte sie gegen Florence nichts einzuwenden, als daß es ihr kläglich an »Stil« fehle, womit sie vielleicht »Rücken« sagen wollte. Viele, die nur bei besonders wichtigen Anlässen ins Haus kamen, wußten kaum, wer Florence war, und sagten beim Nachhausegehen:

»Das Mädchen in der Ecke war also Miß Dombey? Recht hübsch, aber so zart und gedankenvoll in ihrem Aussehen!«

Diese übergroße Zartheit wurde durch das Leben, das Florence während der letzten sechs Monate geführt hatte, nicht gemildert, und sie nahm am Abend vor dem zweiten Jahrestage der Vermählung ihres Vaters und Ediths (am ersten hatte Mrs. Skewton ihren Lähmungsanfall erlitten) mit einer Unruhe, die sich bis zur Furcht steigerte, an der Dinertafel Platz. Sie wußte sich eigentlich keinen anderen Grund dafür anzugeben, als das bevorstehende Fest, den Ausdruck in dem Gesicht ihres Vaters, den sie in einem hastigen Hinblick bemerkte, und die Anwesenheit Mr. Carkers, die ihr, obschon stets unangenehm, an diesem Tage bedrückender wurde als je.

Edith war reich gekleidet, denn sie und Mr. Dombey wollten an diesem Abend eine große Gesellschaft besuchen, und das Diner war auf eine späte Stunde bestellt worden. Mrs. Dombey erschien erst, als die übrigen schon Platz genommen hatten, und bei ihrem Eintritt erhob sich Mr. Carker, um sie nach ihrem Stuhl zu führen. So schön und prächtig sie auch war, lag doch in ihrem Gesicht und in ihrer Haltung ein Zug, der sie hoffnungslos von Florence und jedermann sonst zu scheiden schien. Und doch erblickte Florence für einen Moment einen Strahl von Wohlwollen in ihren Augen, der sie den Abstand, der zwischen ihnen stattfand, nur um so bitterer beklagen ließ.

Bei Tisch wurde nur wenig gesprochen, Florence hörte ihren Vater gelegentlich mit Mr. Carker über Geschäftssachen reden, worauf der letztere leise antwortete; aber sie achtete nicht auf das, was sie sagten, und wünschte nur, daß das Diner zu Ende wäre. Nachdem der Nachtisch aufgetragen worden und die Diener sich entfernt hatten, begann Mr. Dombey nach mehrmaligem Räuspern, das auf nichts Gutes deutete:

»Vermutlich wißt Ihr, Mrs. Dombey, daß ich der Haushälterin die kleine Gesellschaft angekündigt hatte, die morgen hier dinieren wird.«

»Ich speise nicht zu Hause«, entgegnete sie.

»Keine große Partie«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er tat, als habe er sie nicht gehört; »nur zwölf oder vierzehn. Meine Schwester, Major Bagstock und einige andere, die Euch nur wenig bekannt sind.«

»Ich speise nicht zu Hause«, wiederholte sie.

»Wie zweifelhaften Grund ich auch haben mag, Mrs. Dombey,« sagte Mr. Dombey, majestätisch weitersprechend, als ob keine Silbe von ihr erwidert worden wäre, »den Anlaß eben jetzt in sehr erfreulicher Erinnerung zu tragen, so muß doch in diesen Dingen vor der Welt der Schein bewahrt werden. Wenn Ihr keine Achtung vor Euch selbst habt, Mrs. Dombey–«

»Ich habe keine«, unterbrach ihn Edith.

»Madame«, rief Mr. Dombey, mit der Hand auf den Tisch schlagend, »laßt mich ausreden, wenn ich bitten darf. Ich sage, wenn Ihr keine Achtung vor Euch selbst habt –«

»Und ich sage, daß ich keine habe«, antwortete sie.

Er blickte nach ihr hin; aber das Gesicht, das sie ihm zeigte, würde sich nicht verändert haben, selbst wenn der Tod ihr seinen Blick zugeworfen hätte.

»Carker«, sagte Mr. Dombey, sich mit mehr Ruhe an diesen Gentleman wendend, »da Ihr schon bei früheren Gelegenheiten die Vermittlung zwischen mir und Mrs. Dombey übernahmt, und da ich, soweit ich selbst mit in Beteiligung komme, den Anstand des Lebens wahren möchte, so will ich Euch um die Gefälligkeit bitten, Mrs. Dombey zu unterrichten, wenn sie keine Achtung vor sich selbst habe, so sei der Fall bei mir wenigstens anders, und ich bestehe deshalb auf meiner Maßregel für morgen.«

»Sagt Eurem souveränen Gebieter, Sir«, ergriff Edith das Wort, »daß ich mir die Freiheit nehmen werde, gelegentlich über diesen Gegenstand mit ihm zu sprechen, aber nur unter vier Augen.«

»Mr. Carker, Madame«, sagte ihr Gatte, »kennt den Grund, der mich nötigt, Euch dieses Vorrecht zu verweigern, und hat deshalb nicht nötig, sich mit einem solchen Auftrag zu befassen.«

Er bemerkte während dieser Worte eine Bewegung ihrer Augen und folgte derselben mit den seinen.

»Eure Tochter ist anwesend, Sir«, bemerkte Edith.

»Meine Tochter wird anwesend bleiben«, sagte Mr. Dombey.

Florence, die aufgestanden war, setzte sich wieder und verbarg zitternd ihr Antlitz mit den Händen.

»Meine Tochter, Madame« – begann Mr. Dombey.

Aber Edith fiel ihm mit einer Stimme ins Wort, die zwar nicht heftig, aber doch so klar, nachdrücklich und bestimmt klang, daß man sie in einem Sturm hätte hören können.

»Ich erkläre Euch, daß ich allein mit Euch sprechen will«, sagte sie, »Wenn Ihr nicht wahnsinnig seid, so achtet auf das, was ich sage.«

»Ich habe das Recht, Madame«, entgegnete ihr Gatte, »mit Euch zu sprechen, wann und wo es mir beliebt, und es beliebt mir, dies jetzt und hier zu tun.«

Sie stand auf, als wolle sie das Zimmer verlassen, setzte sich aber wieder nieder, blickte mit der größten äußeren Ruhe nach ihm hin und sagte mit derselben Stimme:

»So tut es!«

»Ich muß Euch zuvörderst bemerken, Madame«, sagte Mr. Dombey, »daß ich in Eurem Benehmen etwas Drohendes finde, das Euch nicht zusteht.«

Sie lachte. Die erschreckten Diamanten zitterten in ihrem Haare. Man kennt Sagen von kostbaren Steinen, die erblaßten, wenn sich ihr Träger in Gefahr befand. Wären diese mit solcher Eigenschaft begabt gewesen, so hätten ihre gefangenen Lichtstrahlen in diesem Augenblicke die Flucht ergriffen und einer trüben Bleifarbe Raum gegeben. Carker hörte mit zur Erde gesenkten Augen zu.

»Was meine Tochter betrifft, Madame«, sagte Mr. Dombey, den Faden seiner Rede wieder aufnehmend, »so ist es keineswegs mit ihrer Pflicht gegen mich unverträglich, wenn sie erfährt, welches Benehmen sie zu vermeiden hat. Ihr gebt ihr in diesem Augenblick eine sehr bezeichnende Probe davon, und ich hoffe, daß sie sich dieselbe zunutzen macht.«

»Ich will Euch nicht unterbrechen«, erwiderte seine Gattin unbeweglich in Blick, Stimme und Haltung, »ich würde nicht aufstehen, mich entfernen oder Euch im Sprechen auch nur eines Wortes hindern, selbst wenn das Zimmer in Flammen stünde.«

Mr. Dombey bewegte seinen Kopf, wie in spöttischem Dank für ihre Aufmerksamkeit, und fuhr fort. Aber nicht mit derselben Fassung wie zuvor, denn Ediths Unruhe in Beziehung auf Florence und ihre Gleichgültigkeit gegen ihn und seinen Tadel wirkten so bitter auf ihn wie eine starrende Wunde.

»Mrs. Dombey«, sagte er, »es wird sich wohl mit der besseren Belehrung meiner Tochter vertragen, wenn sie erfährt, wie sehr ein starrsinniger Charakter zu beklagen und wie nötig dessen Umwandlung ist, besonders da, wo er – ich muß hinzufügen, undankbar – nach Befriedigung des Ehrgeizes und des Interesses sich geltend macht. Ich glaube, diese beiden Punkte haben einigermaßen mitgewirkt, um Euch zu veranlassen, Eure gegenwärtige Stellung an diesem Tische einzunehmen.«

»Nein, ich will nicht aufstehen, will nicht gehen, will Euch an keiner Silbe hindern«, wiederholte sie in derselben Weise wie zuvor, »und wenn das Zimmer in Flammen stünde.«

»Es ist wohl natürlich genug, Mrs. Dombey«, fuhr er fort, »daß Ihr Euch bei so unangenehmen Wahrheiten durch die Anwesenheit von Zuhörern beunruhigt fühlt, obschon ich« – er konnte hier sein wahres Gefühl nicht verhehlen und ebensowenig es seinen Augen verwehren, daß sie nicht einen düsteren Blick nach Florence hinwarfen – »obschon ich gestehen muß, daß ich nicht begreife, wie jemand anders als ich, den sie so nahe angehen, ihnen einen größeren Nachdruck zu verleihen imstande sein sollte. Es mag natürlich genug sein, daß Ihr vor Zeugen nicht gern die Rüge Eures widerspenstigen Charakters anhört, den Ihr nicht bald genug zügeln könnt, den Ihr zügeln müßt, Mrs. Dombey, und den Ihr, wie ich schon vor unserer Vermählung bei mehreren Gelegenheiten mit Zweifel und Mißfallen bemerkte, leider sogar gegen Eure eigene Mutter kundgegeben habt. Doch das Abhilfmittel steht Euch zu Gebot. Ich habe von Anfang an keineswegs vergessen, daß meine Tochter zugegen ist, Mrs. Dombey, muß aber jetzt Euch bitten, nicht zu vergessen, daß morgen mehrere Personen anwesend sein werden, die Ihr mit einiger Rücksicht auf den Schein in anständiger Weise zu empfangen habt.«

»So, ist es nicht genug«, sagte Edith, »daß Ihr wißt, was zwischen Euch und mir vorgegangen; es ist nicht genug, daß dieser Anblick hier« – sie deutete auf Carker, der mit zu Boden gesenkten Augen noch immer zuhörte – »Euch an die Beschimpfungen erinnert, denen Ihr mich aussetztet; es ist nicht genug, daß Ihr jenes Wesen dort seht«, während sie nach Florence hinwies, bemerkte man das erste- und einzigemal ein leichtes Zittern ihrer Hand, »und dabei denkt, was Ihr getan habt, um mir täglich, stündlich und ohne Unterlaß den herbsten Schmerz zu bereiten; es ist nicht genug, daß vor allen andern im Jahr gerade dieser Tag mich erinnern muß an einen Kampf – er ist zwar wohl verdient, obschon ein Mann, wie Ihr seid, keinen Sinn dafür hat –, in dem mir der Tod so wünschenswert gewesen wäre! Ihr fügt zu alledem noch die das Ganze krönende Gemeinheit, daß Ihr sie zur Zeugin macht von der Tiefe, in die ich gefallen bin, während Ihr doch wißt, daß Ihr mich für Ihren Frieden zum Opfer machtet – das einzig edle Gefühl und Interesse meines Lebens –, während Ihr wißt, daß ich um ihretwillen sogar jetzt noch, wenn ich könnte – aber ich kann’s nicht, meine Seele verabscheut Euch zu sehr – mich ganz Eurem Willen unterwerfen und der demütigste Abhängige sein würde, der unter Euch steht.«

Dies war nicht die Art, die Mr. Dombeys Größe gefallen konnte. Ihre Worte riefen das alte Gefühl stärker und ungestümer als je ins Dasein. Abermals zeigte sich ihm sein vernachlässigtes Kind auf dem rauhen Pfade seines Lebens sogar in seiner widerspenstigen Gattin als mächtig, wo er machtlos – als alles, wo er nichts war.

Er wandte sich an Florence, als sei sie die Sprecherin gewesen, und befahl ihr, das Zimmer zu verlassen. Mit verhülltem Antlitz gehorchte sie, indem sie zitternd und weinend sich entfernte.

»Ich begreife den Geist des Widerspruchs, Madame«, sagte Mr. Dombey mit der Glut eines grimmigen Triumphs auf seinem Gesicht, »der Eure Zuneigung in diesen Kanal leitete; aber sie hat keine Erwiderung gefunden, Mrs. Dombey – sie hat keine Erwiderung gefunden!«

»Um so schlimmer für Euch«, antwortete sie, unverändert in ihrer Stimme und in ihrem Wesen. »Ja!« sie wandte sich rasch um, während sie dieses sprach, »was schlimm für mich ist, wird zwanzigmillionenfältig schlimmer für Euch. Faßt dies ins Auge, wenn Ihr auch auf sonst nichts Rücksicht nehmt.«

Der Diamantenbogen, der sich über ihr dunkles Haar breitete, blitzte und funkelte wie eine Sternbrücke. Es war kein Warnzeichen, sonst wäre er trüb und dunkel geworden wie eine befleckte Ehre. Carker saß noch immer da und hörte mit niedergeschlagenen Augen zu.

»Mrs. Dombey«, sagte Mr. Dombey, seine frühere anmaßende Haltung nach Kräften wieder annehmend, »durch ein solches Verhalten werdet Ihr mich nicht versöhnen oder von irgendeinem Vorsatz abbringen.«

»Es ist das einzig Wahre, obschon nur ein matter Ausdruck dessen, was in meinem Innern lebt«, versetzte sie. »Wenn ich übrigens dächte, es könnte Euch versöhnen, so würde ich es unterdrücken, sofern dies menschlicher Anstrengung möglich wäre. Ich werde nichts tun, um was Ihr mich ersucht.«

»Ich bin nicht gewöhnt, zu ersuchen, Mrs. Dombey«, bemerkte er. »Ich befehle.«

»Was auch morgen in Eurem Hause vorgehen wird, ich werde keine Rolle dabei übernehmen, denn ich mag mich zu einer solchen Zeit nicht als die widerspenstige Sklavin, die Ihr gekauft habt, zur Schau stellen lassen. Wenn ich meinen Hochzeitstag feire, will ich ihn als einen Tag der Schmach begehen. Selbstachtung! Schein vor der Welt! Was soll dies mir? Ihr habt alles aufgeboten, um sie für mich zu nichts zu machen, und sie sind wirklich nichts.«

»Carker«, sagte Mr. Dombey mit gefurchter Stirn und nach kurzem Besinnen, »Mrs. Dombey hat alle Rücksichten auf sich und auf mich vergessen und versetzt mich in eine mit meinem Charakter so unverträgliche Stellung, daß ich diesen Stand der Dinge zu einem Schluß bringen muß.«

»So befreit mich von der Kette, durch die ich gefesselt bin«, entgegnete Edith, unbeweglich in Stimme, Blick und Haltung, wie sie es die ganze Zeit über gewesen. »Laßt mich ziehen.«

»Madame!« wiederholte er, »Mrs. Dombey!«

»Erlöst mich! Gebt mir die Freiheit!«

»Madame!« wiederholte er. »Mrs. Dombey!«

»Bedeutet ihm«, sagte Edith, ihr stolzes Gesicht Mr. Carker zukehrend, »daß ich die Scheidung wünsche – daß sie wohl das beste sein werde – daß ich sie ihm empfehle. Sagt ihm, er dürfe dabei seine eigenen Bedingungen machen – sein Reichtum ist nichts für mich –, aber sie könne nicht zu bald stattfinden.«

»Gütiger Himmel, Mrs. Dombey«, sagte ihr Gatte mit größtem Erstaunen, »haltet Ihr es für möglich, daß ich je einem solchen Vorschlag Gehör schenken könnte? Wißt Ihr, wer ich bin, Madame? Wißt Ihr, was ich vertrete? Habt Ihr je von Dombey und Sohn gehört? Die Leute sagen zu lassen, daß Mr. Dombey – Mr. Dombey! – von seiner Frau geschieden worden sei! Gemeines Volk sollte reden dürfen von Mr. Dombey und seinen häuslichen Angelegenheiten! Glaubt Ihr ernstlich, Mrs. Dombey, ich könne je meinen Namen in solcher Weise preisgeben? Bah, bah, Madame! Pfui! Ihr seid abgeschmackt.«

Mr. Dombey lachte hellauf.

Aber nicht wie sie. Besser, sie wäre tot gewesen, als daß sie lachen konnte, wie sie es jetzt tat, während ihr Blick noch immer fest auf ihm haftete. Besser, er wäre tot gewesen, als daß er dasitzen mußte in seiner Großartigkeit, um sie zu hören.

»Nein, Mrs. Dombey«, nahm er wieder auf, »nein, Madame. Eine Scheidung zwischen Euch und mir ist etwas Unmögliches, und ich rate Euch deshalb um so mehr, der Stimme Eures Pflichtgefühls Gehör zu schenken. Und Carker, wie ich gegen Euch bemerken wollte –«

Mr. Carker, der die ganze Zeit dagesessen und zugehört hatte, schlug jetzt seine Augen auf, in denen ein helles, ungewöhnliches Licht blitzte.

»Wie ich Euch bemerken wollte«, wiederholte Mr. Dombey, »ich muß Euch, nun die Sache so weit gekommen ist, bitten, Mrs. Dombey zu belehren, es sei gegen meine Grundsätze, zu gestatten, daß mir irgend jemand in den Weg trete – wer es auch sein mag, Carker – oder zu dulden, daß denjenigen, die mir zur Unterwürfigkeit verpflichtet sind, ein kräftigerer Beweggrund zum Gehorsam vorgehalten werde, als ich bin. Die Art, wie meiner Tochter erwähnt wurde, und der Gebrauch, der im Widerspruch gegen mich von meiner Tochter gemacht wurde, ist unnatürlich. Ob meine Tochter in wirklichem Einvernehmen mit Mrs. Dombey steht, weiß ich nicht, und ich kümmere mich auch nicht darum; aber nach dem, was Mrs. Dombey heute gesagt und was meine Tochter heute angehört hat, möchte ich Euch bitten, Mrs. Dombey mitzuteilen, daß ich, wenn sie fortfährt, dieses Haus in einen Kampfplatz umzuwandeln, dem eigenen Zugeständnisse dieser Dame gemäß, meine Tochter einigermaßen verantwortlich machen und mit meinem strengsten Mißfallen strafen werde, Mrs. Dombey hat gefragt, ob es nicht genug sei, daß sie dies und dies getan habe. Ihr seid wohl so gütig, ihr darauf zu antworten: ›Nein, es ist nicht genug.‹«

»Gestattet mir einen Augenblick«, rief Carker, sich ins Mittel legend. »So peinlich auch im besten Falle meine Lage ist, und wie leid es mir tut, wenn es den Anschein gewinnen sollte, als hege ich eine von der Eurigen verschiedene Meinung« – er wandte sich dabei an Mr. Dombey – »so möchte ich doch fragen, ob es nicht besser wäre, wenn Ihr die Frage der Scheidung noch einmal in Erwägung zöget. Ich weiß, wie wenig sie sich mit Eurer hohen öffentlichen Stellung zu vertragen scheint, und kenne Eure Entschlossenheit, wenn Ihr Mrs. Dombey zu verstehen gebt« – das Licht in seinen Augen flog zu ihr hin, als er die nachstehenden Worte mit der Bestimmtheit ebenso vieler Glocken getrennt vortrug –, »daß nichts Euch je trennen könne, als der Tod. Nichts anderes. Wenn Ihr aber bedenkt, daß Mrs. Dombey, so lange sie in diesem Hause lebt und es, wie Ihr Euch ausdrücktet, zu einem Kampfplatz macht, in diesem Zwist nicht nur ihre Rolle hat, sondern auch (denn ich kenne Eure Entschiedenheit) jeden Tag Miß Dombey darin verflicht, so findet Ihr es doch vielleicht besser, sie vor einer unablässigen Geistesaufregung zu bewahren und ihr das fast unerträgliche Gefühl zu ersparen, daß sie ungerecht gegen jemand anders sei. Gewänne es andernfalls nicht den Anschein – ich will nicht sagen, daß es wirklich so sei –, als wolltet Ihr Mrs. Dombey bei der Erhaltung Eurer hohen und unangreifbaren Stellung zum Opfer bringen?«

Abermals fiel das Licht seiner Augen auf sie, als sie jetzt dastand und mit einem unheimlichen Lächeln auf ihrem Gesicht nach ihrem Gatten hinsah.

»Carker«, versetzte Mr. Dombey mit hochmütigem Stirnerunzeln und in einem Ton, der entscheidend sein sollte, »Ihr verkennt Eure Stellung, wenn Ihr mir über einen solchen Punkt Euren Rat anbietet, und verkennt auch, wie ich erstaunt bemerken muß, mich, indem Ihr mir mit einem derartigen Rat kommt. Ich habe nichts weiter zu sagen.«

»Vielleicht verkanntet Ihr meine Stellung«, sagte Carker, mit einem ungewöhnlichen und unbeschreiblichen Hohn in seiner Miene, »als Ihr mich mit den Aufträgen betrautet, die ich« – mit einer Handbewegung nach Mrs. Dombey hin – »hier auszurichten hatte.«

»Durchaus nicht, Sir, durchaus nicht«, entgegnete der andere hochmütig. »Es war Eure Aufgabe – –«

»Durch meine untergeordnete Persönlichkeit zu Mrs. Dombeys Demütigung beizutragen. Ich vergaß dies. O ja, dies war die wohlverstandene Absicht«, sagte Carker. »Ich bitte um Verzeihung!«

Während er mit einer Haltung von Unterwürfigkeit, die schlecht mit seinen in vollkommen bescheidenem Ton vorgebrachten Worten zusammenstimmte, gegen Mr. Dombey den Kopf verbeugte, drehte er ihn seitwärts gegen sie und entsandte seine spähenden Blicke in diese Richtung.

Besser, ihre Schönheit hätte sich in Häßlichkeit verwandelt und sie wäre tot zusammengesunken, als daß sie dastand mit einem solchen Lächeln auf ihrem Gesicht in der trotzigen Majestät eines gefallenen Geistes. Sie erhob ihre Hand zu dem Juwelen-Diadem, das auf ihrem Kopfe funkelte, riß es mit einem Ungestüm herab, so daß ihr grausam zerrauftes, üppiges schwarzes Haar wirr auf ihre Schultern niederfiel, und schleuderte die Edelsteine auf den Boden. Dann zerrte sie die diamantenen Spangen von ihren Armen, warf sie dem Kopfschmucke nach und zertrat den funkelnden Haufen mit ihren Füßen. Ohne ein Wort, ohne einen Schatten in dem Feuer ihres blitzenden Auges schaute sie, während sie sich nach der Tür hin bewegte, mit demselben unheimlichen Lächeln nach Mr. Dombey hin und verließ das Zimmer.

Florence hatte während ihrer Anwesenheit genug gehört, um daraus die Überzeugung zu gewinnen, daß Edith sie noch liebe, daß sie um ihretwillen gelitten und daß sie in der Stille ihr Opfer gebracht hatte, um nicht den Frieden des ihr teuren Wesens zu stören. Sie verlangte nicht, mit ihr hierüber zu sprechen – konnte es auch nicht, wenn sie dachte, wem sich ihre Mutter entgegengesetzt hatte –, aber sie sehnte sich nach einer einzigen stummen liebevollen Umarmung, um ihr die dankbare Versicherung zu geben, daß sie all dies in tiefster Seele empfand.

Ihr Vater ging an jenem Abend allein aus, und bald nach seiner Entfernung verließ Florence ihr Zimmer, um im Hause umherzuwandeln, ob ihr nicht Edith begegne; aber vergeblich. Letztere befand sich in ihren eigenen Gemächern, und Florence wagte schon lange nicht mehr, dorthin zu gehen, um nicht willkürlich neue Mißhelligkeiten herbeizuführen. Gleichwohl gab Florence der Hoffnung Raum, sie noch zu sehen, bevor sie sich schlafen legte, weshalb sie in dem so prächtigen und doch so traurigen Hause ruhelos die Zimmer durchwandelte.

Sie ging eben durch eine Galerie, die nach der Treppe hinführte und nur bei besonders wichtigen Anlässen beleuchtet wurde, als sie durch die bogenförmige Öffnung die Gestalt eines Mannes auf der entgegengesetzten Stiege herunterkommen sah, In der Furcht, ihrem Vater zu begegnen, machte sie im Dunkeln halt und schaute durch den Bogen in das Licht hinaus. Es war jedoch nicht Mr. Dombey, sondern Carker, der allein herabkam und über das Geländer nach der Halle hinunterschaute. Keine Klingel wurde angezogen, um seine Entfernung zu melden, und auch von den Dienern war niemand in der Nähe. Er stieg ruhig hinab, öffnete selbst die Türe, glitt ruhig hinaus und schloß leise hinter sich zu.

Ihr unüberwindlicher Widerwille gegen diesen Mann und vielleicht auch ihr heimliches Beobachten eines andern, das selbst unter so unschuldigen Umständen ihr wie ein Verbrechen vorkam, ließ sie vom Kopf bis zu den Füßen erzittern. Das Blut schien eiskalt durch ihre Adern zu rinnen, und sobald es ihr möglich war – denn anfangs bannte sie die Furcht an die Stelle – eilte sie hastig nach ihrem Zimmer hinauf, wo sie sich mit ihrem Hunde einschloß. Aber auch da noch fühlte sie ein Frösteln des Schreckens, als ob irgendwo in ihrer Nähe Gefahr lausche. Diese Vorstellung mischte sich in ihre Träume und beunruhigte sie die ganze Nacht. Nach einem unerquicklichen Schlaf stand sie am andern Morgen mit der peinlichen Erinnerung an das häusliche Unglück des gestrigen Tages auf und spähte abermals in allen Zimmern, die sie während der Frühstunden zu öfteren Malen durchwandelte, nach Edith. Diese aber blieb in ihren Gemächern, und Florence sah nichts von ihr. Als sie übrigens erfuhr, das beabsichtigte Diner im Hause sei verschoben worden, so hielt sie es für wahrscheinlich, ihre Mutter werde abends ausgehen, um der besprochenen Einladung Folge zu geben, weshalb sie sich vornahm, zu sehen, ob sie nicht mit ihr auf der Treppe zusammenkommen könne.

Bei Eintritt der Dämmerung hörte sie von dem Zimmer aus, in dem sie absichtlich harrte, einen Fußtritt auf der Treppe, den sie für den ihrer Mutter hielt. Sie eilte hinaus und begegnete ihr auf dem Weg nach ihrem Zimmer.

Florence wollte mit ihren verweinten Augen und ausgestreckten Armen auf sie zugehen; aber wie erschrak sie nicht, als Edith bei ihrem Anblick mit einem Aufschrei zurückwich.

»Komm nicht in meine Nähe!« rief sie. »Bleib zurück! Tritt mir nicht in den Weg!«

»Mama!« sagte Florence.

»Nenne mich nicht mit diesem Namen! Sprich nicht mit mir! Sieh mich nicht an, Florence!« Sie wich zurück, als Florence ihr einen Schritt näher kam, »berühre mich nicht.«

Während Florence wie gebannt dem hageren Gesichte und dem starren Blicke gegenüber stand, bemerkte sie wie in einem Traum, daß Edith ihre Hände über die Augen breitete, am ganzen Leibe schaudernd sich nach der Wand hin duckte, wie ein scheues Tier an ihr vorbeischlich, sich dann wieder aufrichtete und von hinnen floh.

Florence brach auf der Treppe ohnmächtig zusammen und wurde daselbst, wie sie glaubte, von Mrs. Pipchin aufgefunden. Sie kam erst wieder zur Besinnung, als sie auf ihrem Bette lag und die erwähnte Dame mit einigen Dienstboten um sie her stand.

»Wo ist Mama?« war ihre erste Frage.

»Zu einem Diner ausgegangen«, antwortete Mrs. Pipchin.

»Und Papa?«

»Mr. Dombey befindet sich auf seinem Zimmer, Miß Dombey«, sagte Mrs. Pipchin, »und Ihr tut wohl am besten, wenn Ihr jetzt Eure Kleider abnehmt und Euch sogleich zu Bett legt.«

Dies war das Heilmittel dieser weisen Frau gegen alle Beschwerden, namentlich aber gegen Schwermut und Schlaflosigkeit – ein paar Vergehungen, deretwegen viele junge Opfer in den Tagen des Brightoner Kastells oft schon morgens um zehn Uhr nach dem Bett verwiesen worden waren.

Ohne gerade Gehorsam zu versprechen, wohl aber unter dem Vorwande, daß sie völlig ungestört zu sein wünsche, befreite sich Florence, sobald sie konnte, von der fürsorglichen Mrs. Pipchin und ihrer Dienstleute, und nun machte sie sich in ihrer Einsamkeit Gedanken über den Vorgang auf der Treppe – anfangs an dessen Wirklichkeit zweifelnd, dann aber mit Tränen und endlich unter einer unbeschreiblichen Angst, ähnlich derjenigen, von der sie in der Nacht zuvor befallen worden war.

Sie beschloß, nicht zu Bett zu gehen, bis Edith zurückgekehrt wäre, damit sie wenigstens, wenn sie diese auch nicht sprechen könne, die Überzeugung habe, sie sei wohlbehalten zu Hause angelangt. Welche unbestimmte und schattenhafte Furcht sie zu diesem Entschluß bewog, wußte sie selbst nicht, und sie wagte es nicht einmal, daran zu denken. Nur dies fühlte sie, daß ihr schmerzender Kopf oder ihr pochendes Herz keine Ruhe finden konnte, ehe Edith zurück war.

Der Abend wurde zur Nacht und die Mitternacht kam heran; keine Edith.

Florence konnte nicht lesen und fand keinen Augenblick Ruhe. Sie schritt in ihrem Zimmer hin und her, öffnete die Tür, ging in der Treppengalerie draußen auf und ab, sah durchs Fenster in die Nacht hinaus, hörte auf das Sausen des Windes und das Klatschen des Regens, setzte sich nieder, um den Gesichtern im Feuer zuzusehen, stand aufs neue auf und blickte dem Mond nach, der wie ein vom Sturm getriebenes Schiff durch das Wolkenmeer hinflog.

Im Hause hatte sich mit Ausnahme zweier Dienstboten, die unten die Rückkehr ihrer Gebieterin erwarteten, alles zu Bett gelegt.

Ein Uhr. Die Wagen, die in der Ferne rasselten, schlugen eine andere Richtung ein, machten halt oder fuhren vorbei. Die tiefe Stille wurde immer seltener und zuletzt nur noch durch das Getöse des Windes oder des Regens unterbrochen. Zwei Uhr. Keine Edith.

Florences Aufregung steigerte sich. Sie fand weder in ihrem Zimmer, noch in der Galerie draußen Ruhe und schaute abermals in die Nacht hinaus, trübe von den Regentropfen an den Scheiben und von den Tränen in ihren Augen. Welchen Gegensatz bildete nicht das bewegte Treiben am Himmel zu der einsamen Ruhe unten! Drei Uhr! Jedes Fünkchen, das aus dem Feuer sprühte, war mit Schrecken beladen. Noch keine Edith.

Mit immer größerer Aufregung schritt Florence in ihrem Zimmer und auf der Galerie umher oder schaute nach dem Mond hinauf, der ihr jetzt wie ein bleicher Flüchtling vorkam, der von hinnen eilte, um sein schuldiges Gesicht zu verbergen. Vier – fünf Uhr! Noch immer keine Edith!

Aber jetzt regte es sich behutsam im Hause, und Florence fand, daß Mrs. Pipchin von denen, die aufgeblieben, geweckt worden war. Die Haushälterin hatte ihr Bett verlassen und sich nach der Türe Mr. Dombeys begeben. Florence, die sich die Treppe hinunterschlich, um der kommenden Dinge zu harren, sah ihren Vater in seinem Schlafrock heraustreten und zusammenfahren, als er die Kunde vernahm, daß seine Gattin nicht nach Hause zurückgekehrt sei. Er schickte einen Diener nach dem Stall, um nachfragen zu lassen, ob der Kutscher dort sei, und kleidete sich dann hastig an.

Der Diener kehrte eiligst mit dem Kutscher zurück, und dieser erklärte, er sei schon seit zehn Uhr zu Hause und in seinem Bett. Er habe seine Gebieterin nach ihrem alten Hause in Brook Street gefahren, wo sie mit Carker zusammengetroffen sei, –

Florence stand auf derselben Stelle, wo sie ihn hatte herunterkommen sehen. Abermals durchschauerte sie das namenlose Entsetzen jenes Anblicks, und es blieb ihr kaum Besinnung genug, um das, was nun folgte, zu hören und zu verstehen.

– der ihm bedeutet habe, fuhr der Kutscher fort, daß seine Gebieterin zu ihrer Rückkehr des Wagens nicht bedürfe und ihn in entsprechender Weise abfertigte.

Sie sah das Gesicht ihres Vaters leichenblaß werden und hörte ihn rasch und mit bebender Stimme nach Mrs. Dombeys Mädchen fragen. Das ganze Haus geriet in Aufregung; denn sie war im Augenblick herbeigeholt, sah sehr blaß aus und sprach unzusammenhängend.

Sie sagte, sie habe ihre Gebieterin früh ankleiden müssen – volle zwei Stunden früher, ehe sie ausging – und von ihr, wie dies oft geschehen sei, die Abfertigung erhalten, daß ihre Dienste für die Nacht nicht nötig wären. Sie komme eben von den Gemächern ihrer Frau herunter, aber –

»Was aber? was ist dort?« hörte Florence ihren Vater wütend fragen.

Aber das innere Ankleidezimmer sei abgeschlossen und der Schlüssel fort.

Mr. Dombey ergriff eine Kerze, die auf dem Boden brannte – es hatte sie jemand hingestellt und vergessen – und stürmte dann mit solcher Wut die Treppe hinauf, daß Florence in ihrer Furcht kaum Zeit hatte, sich vor ihm zu flüchten, Mit wild ausgebreiteten Händen, wallendem Haar und einem Gesicht, ähnlich dem einer Wahnsinnigen, eilte sie nach ihrem Zimmer zurück, und inzwischen hörte sie ihren Vater die Türe einschlagen.

»Was sah er dort, nachdem die Tür seinem Ungestüm gewichen war? Niemand erfuhr es. Aber in wirrer Masse lagen alle Kostbarkeiten, die sie als seine Gattin getragen, ihre kostbaren Kleider und alles, was sie besessen, auf dem Boden. Dies war das Zimmer, wo er im Spiegel das stolze Gesicht gesehen, das ihm die Türe wies. Dies war das Zimmer, in dem er der eitlen Neugierde Raum gegeben hatte, wie wohl die Gegenstände sich ausnehmen würden, wenn er sie zum nächsten Mal sähe.

Während er die Sachen wieder in die Schubfächer warf und eigentlich in einer Wuthast die Kummoden verschloß, sah er einige Papiere auf dem Tisch liegen. Der Ehevertrag, den er vor der Vermählung abgeschlossen, und ein Brief. Er las, daß sie fort war. Er las das Zeugnis seiner Entehrung. Er las, daß sie sich an dem Jahrestag ihres schmählichen Ehebundes mit dem Manne geflüchtet hatte, den er zu ihrer Demütigung auserlesen. Mit der verwirrten Vorstellung, er könne sie noch an der Stelle finden, nach der sie sich begeben hatte, stürzte er aus dem Zimmer und aus dem Hause, um mit seiner Faust ihr jede Spur von Schönheit aus dem triumphierenden Gesichte zu schlagen. Florence legte, ohne zu wissen, was sie tat, ein Halstuch um und setzte einen Hut auf. Sie träumte von einem Laufen durch alle Straßen, bis sie Edith gefunden habe, um sie dann in ihre Arme zu schlingen, sie zu retten und wieder zurückzuführen. Aber als sie auf die Treppe hinauskam und die erschreckten Diener sah, die mit Lichtern auf und nieder gingen, sich gegenseitig zuflüsterten und vor ihrem herunterkommenden Vater auswichen, erwachte sie zum Bewußtsein ihrer eigenen Machtlosigkeit. Sie verbarg sich in einem der großen Gemächer, die man um eines solchen Endes willen so prächtig ausgestattet hatte, und das Herz wollte ihr brechen vor Gram. Mitleid mit ihrem Vater war die erste bestimmte Regung, die gegen den gewaltigen Strom ihres Schmerzes sich anstemmte.

Ihre treue Seele fühlte sich in seinem Unglück so warm und innig zu ihm hingezogen, als wäre er in seinem Glück die Verkörperung jener Idee gewesen, die allmählich so matt und trübe geworden war. Obgleich sie den Schimpf, der ihn betroffen, nur aus den Einflüsterungen ihrer Furcht zu ermessen vermochte, stand er doch verlassen und gekränkt vor ihr, und ihr liebevolles Sehnen drängte sie an seine Seite. Er blieb nicht lange aus. Florence gab noch unter Tränen in dem großen Zimmer solchen Gedanken Raum, als sie ihn wieder zurückkehren hörte. Er befahl den Dienern, wieder ihren gewöhnlichen Geschäften nachzugehen, und begab sich nach seinem Gemach, in dem er so ungestüm auf und nieder schritt, daß man seine Tritte von einem Ende des Hauses bis zum andern hören konnte.

Noch einmal dem Antrieb ihrer Liebe nachgebend, zu allen andern Zeiten schüchtern, aber kühn in ihrer Treue zu ihm in seiner Widerwärtigkeit und uneingeschüchtert durch frühere Zurückweisung, eilte Florence, angekleidet wie sie war, die Treppe hinunter. Als sie ihren leichten Fuß in die Halle setzte, kam er aus seinem Zimmer heraus. Sie stürzte mit dem Rufe: »O lieber, lieber Papa!« auf ihn zu und breitete die Arme aus, als ob sie seinen Hals umschlingen wollte.

Und sie würde es getan haben. Aber in seiner Wut erhob er seine grausame Faust und ließ sie so schwer auf das Haupt seiner Tochter niederfallen, daß sie auf den Marmorboden hinstürzte; und während er den Streich führte, sagte er ihr, was Edith sei, und gab ihr die Weisung, der Entlaufenen zu folgen, da sie doch immer mit ihr im Bunde gestanden.

Sie sank nicht zu seinen Füßen nieder; sie schloß nicht seinen Anblick mit ihren zitternden Händen aus; sie weinte nicht und sprach keine Silbe des Vorwurfs. Aber sie sah nach ihm hin, und ein Schmerzensruf der Verlassenheit entrang sich ihrem Herzen. Denn mit diesem Blicke sah sie ihn jene teure Vorstellung morden, die sie so lange trotz aller Umstände mit Liebe gehegt hatte. Sie sah, daß seine Grausamkeit und sein Haß den Sieg davontrugen und jenes Bild zu Boden traten. Sie sah, daß sie auf Erden keinen Vater hatte, und flüchtete sich als Waise aus seinem Hause.

Sie floh aus seinem Hause. Ein Augenblick, und ihre Hand war auf der Klinke, der Schrei entrang sich ihren Lippen, und sein Gesicht nahm sich in dem doppelten Licht der tief niedergebrannten, träufenden Kerzen und der über der Tür einfallenden Tageshelle nur noch blasser aus. Ein weiterer Augenblick, und das dumpfe Düster des verschlossenen Hauses (man hatte es zu öffnen vergessen, obschon es längst Tag war) wich dem unerwarteten Licht und der Freiheit des Morgens. Florence stand mit gesenktem Haupt, weil sie den Schmerz ihrer Tränen verbergen wollte, auf der Straße.

Dreiunddreißigstes Kapitel.


Dreiunddreißigstes Kapitel.

Gegensätze

Wenden wir unsere Blicke auf zwei Wohnungen. Sie liegen nicht Seite an Seite, sondern weit voneinander, obschon beide dem Bann der großen Stadt London angehören.

Die erste müssen wir auf dem grünen, waldigen Strich in der Nähe von Nordwood aufsuchen. Sie ist kein Landhaus und sehr anspruchslos, was ihren Umfang angeht, aber hübsch eingerichtet und in guter Ordnung erhalten. Der Hof, der weiche glatte Rasen, der Blumengarten, die Baumgruppen, unter denen die zierlichen Eschen und Weiden nicht fehlen, die Diele, die ländliche Veranda mit süßduftenden Schlingpflanzen, die sich um die Strebepfeiler winden, die einfache Außenseite, die wohlgeordneten Arbeitsräume, obschon ihr Umfang nur dem eines bloßen Bauernhauses entspricht – alles dies deutet auf eine behagliche Eleganz im Innern, die einem Palast nicht übel anstehen würde. Auch zeigt wirklich die innere Einrichtung seinen Geschmack und Luxus. Reiche Farben in schöner Verbindung treten in jedem Gemach dem Auge entgegen. In dem Möbelwerk, das durch Form sowohl wie Größe bewundernswürdig den kleinen Gemächern angepaßt ist, zeigt sich derselbe Geschmack. An den Wänden und auf den Fußböden wird das Licht, das da und dort durch die hübschen Glastüren und Fenster einfällt, in eigentümlicher Weise gedämpft und gebrochen. Auch einige auserlesene Kupferstiche und Gemälde sind vorhanden. In den Nischen stehen gefüllte Bücherschränke, und auf den Tischen sieht man die Gerätschaften zu allerlei Hazard- und Geschicklichkeitsspielen, zum Beispiel phantastische Schachfiguren, Würfel, Brettspiele, Karten und Billardkugeln.

Dennoch drückt sich in dem Allgemeincharakter dieser gemächlichen Wohlhabenheit ein Zug aus, der etwas erkältend wirkt. Liegt er in der Weichheit der Teppiche und Polster, so daß die, die sich darauf bewegen, nur verstohlen zu handeln scheinen? Rührt es daher, daß die Gemälde und Kupferstiche nicht Kunde geben von großen Gedanken und Taten oder von der Poesie der Natur in schönen Landschaftsbildern, sondern daß sie insgesamt einer wollüstigen Phantasie entstammen, die weiter nichts bietet als Farben und Formen? Hat er seinen Grund in den Bücherreihen, die all ihr Gold nur auf der Außenseite tragen und deren Titel großenteils darauf hindeuten, daß sie passende Gefährten der Gemälde und Kupferstiche sind? Liegt er darin, daß die Pracht des Ganzen mitunter in unwesentlichen bedeutungslosen Dingen durch eine erkünstelte Bescheidenheit ebenso falsch ist, wie das Gesicht des an der Wand hängenden, nur allzu treu aufgefaßten Porträts oder wie das des Originals, das darunter in seinem Lehnstuhl beim Frühstück sitzt – der Lüge geziehen wird? Oder rührt er davon her, daß mit dem täglichen Atem des besagten Originals und Gebieters im Hause ein feiner Teil seines Ichs ausströmt, der der gesamten Umgebung einen unbestimmten Ausdruck der Verwandtschaft mit diesem Ich verleiht?

Der in dem Lehnstuhl Sitzende ist Mr. Carker, der Geschäftsführer. Ein bunter Papagei in einem auf dem Tisch stehenden, blanken Käfig hackt mit seinem Schnabel in die Drähte, spaziert nach der Kuppel hinauf, rüttelt sein Haus und kreischt. Aber Mr. Carker ist gleichgültig gegen den Vogel und blickt mit gedankenvollem Lächeln nach einem Bild an der gegenüberstehenden Wand.

»In der Tat eine höchst merkwürdige Zufallsähnlichkeit«, sagte er.

Vielleicht ists eine Juno, vielleicht Potiphars Weib, vielleicht auch eine stolze Nymphe – je nachdem der Gemäldehändler den Markt fand, auf dem er es kaufte. Das Bild stellt ein ungemein schönes Weib vor, das sich abwendet, aber doch dem Betrachter das Gesicht zukehrt und das stolze Auge nach ihm hinblitzen läßt.

Es gleicht Edith.

Mit einer flüchtigen Gebärde seiner Hand nach dem Gemälde – wie, ist sie eine Drohung? nein; aber doch etwas dergleichen – ein Zeichen des Triumphs? nein; aber etwas Ähnliche« – ein dreist ihr zugeworfenes Kußhändchen? nein; aber doch dem nahekommend – nimmt er sein Frühstück wieder auf und ruft dem ungeduldigen Vogel zu. Dieser kommt nach dem vergoldeten Reif herunter, der wie ein großer Trauring in dem Käfig hängt, und unterhält seinen Gebieter damit, daß er darin Purzelbäume macht.

Die zweite Wohnung liegt auf der andern Seite von London, unfern der vormaligen großen Nordstraße, die jetzt so still und verlassen geworden ist, daß man auf ihr nur noch zu Fuß gehende Wanderer weiterziehen sieht. Es ist ein armes, kleines Häuschen mit spärlichem Möbelwerk, aber sehr reinlich gehalten und sogar mit Schmuckversuchen, wie sich in den einheimischen Blumen, die um die Türe her und in dem kleinen Garten blühen, zu erkennen gibt. Die Umgebung kann sich ebensowenig eines ländlichen wie eines städtischen Aussehens rühmen, da sie weder dem Lande noch der Stadt angehört. Erstere ist wie der Riese mit den Siebenmeilenstiefeln darüber hinausgeschritten und hat ihre Ziegel- und Mörtelferse weit vorgeschoben. Aber der Raum zwischen den Füßen des Recken zeigt sich bis jetzt nur als ein verkümmerter Strich, ohne Stadt zu sein. Hier nun, unter einigen hohen Schornsteinen, die Tag und Nacht ihren Qualm ausfauchen, unter den Ziegelfeldern und Torfstichen, wo die Zäune zusammenbrechen, staubige Nesseln wachsen, ein paar Überreste einer Hecke noch zu sehen sind und nur hin und wieder der Vogelfänger sich blicken läßt, obschon er es jedesmal verschwört, nie wieder nach diesem Platz zu kommen – hier müssen wir die zweite Wohnung aufsuchen.

Die Bewohnerin ist die, die den einen Bruder verließ, um sich dem verstoßenen zu widmen. Mit ihr zog aus jenem Hause der versöhnende Geist und aus der Brust seines Gebieters der einzige Engel. Aber obgleich nach diesem undankbaren Benehmen, wie er es nennt, seine Liebe gegen sie erloschen ist, obschon zur Erwiderung auch er sie vollkommen aufgegeben hat, kann er sich doch des Gedankens an sie nicht völlig entschlagen. Ihr kleiner Blumengarten ist ein sprechendes Zeugnis dafür; denn neben allen den kostspieligen Veränderungen wird er noch ebenso erhalten, als wäre sie erst gestern abgezogen – trotzdem er nie seinen Fuß hineinsetzt.

Harriet Carker hat sich seit damals verändert, und über ihrer Schönheit liegt ein Schatten, schwerer als ihn die sonst doch so allmächtige Zeit ohne Beihilfe zu werfen vermag – der Schatten des Kummers und der Sorge in dem täglichen Kampf um ein dürftiges Dasein. Gleichwohl ist sie noch immer schön – eine sanfte, ruhige, zurückgezogene Schönheit, die man suchen muß, weil sie sich nicht vordrängen kann. Wäre sie hierzu fähig, so würde sie nicht mehr das sein, was sie ist.

Ja, die schmächtige, kleine, geduldige, hübsch in einfache Stoffe gekleidete Gestalt, an der sich nichts bekundet als die Langweiligkeit häuslicher Tugenden, die so wenig gemein haben mit der beliebten Idee von Heldengröße, wenn nicht etwa ein Strahl davon durch das Leben der Großen auf Erden leuchtet und dann zu einer Konstellation wird, die geradeswegs zum Himmel fährt – jene schmächtige, kleine, geduldige Gestalt, angeschmiegt an den Mann, dessen Haare ergraut sind in seiner Jugend, ist die Schwester, die allein in der ganzen Welt zu ihm überging in seiner Schmach, ihre Hand in die seine legte und mit edler Fassung und Entschlossenheit hoffnungsvoll ihn weiterführte auf seinem einsamen Pfade.

»Es ist noch früh, John«, sagte sie. »Warum gehst du heute so zeitig?«

»Nicht viele Minuten früher als gewöhnlich, Harriet. Wenn mir noch Zeit dazu bleibt, so möchte ich, glaub‘ ich, wohl – es ist nur eine Grille – einmal an dem Hause vorbeigehen, wo ich von ihm Abschied nahm.«

»Ich wünschte, ich hätte ihn gesehen oder gekannt, John.«

»Wenn wir an sein Schicksal denken, ist es besser so, wie es ist, Liebe.«

»Dennoch könnte ich ihn nicht mehr bedauern, auch wenn ich ihn gekannt hätte. Ist nicht dein Kummer auch der meine? Und hätte ich ihn gekannt, so würdest du mich vielleicht für geeigneter halten, mit dir von ihm zu sprechen, als das jetzt der Fall ist.«

»Meine teure Schwester, gibt es wohl ein Leid oder eine Freude, worin ich nicht deiner warmen Teilnahme sicher sein kann?«

»Ich hoffe, du bist hiervon überzeugt, John.«

»Wie könntest du mir also dann eine bessere Gefährtin oder mir näher sein, als jetzt oder überhaupt?« entgegnete der Bruder. »Es ist mir, Harriet, als hättest du ihn gekannt und als teiltest du meine Gefühle für ihn.«

Sie schlang den Arm, den sie auf seiner Schulter liegen hatte, um seinen Hals und antwortete mit einigem Zögern:

»Nein, nicht ganz.«

»Ich verstehe«, versetzte er. »Du meinst, es würde ihm keinen Schaden gebracht haben, wenn ich zugelassen hätte, daß er mich näher kennenlernte?«

»Ob ich dies meine? Ich weiß es gewiß!«

»Der Himmel ist mein Zeuge, mit Absicht wäre es nicht geschehen«, erwiderte er mit einem wehmütigen Kopfschütteln: »aber sein Ruf war mir zu kostbar, als daß ich ihn durch einen Verkehr mit mir hätte gefährden dürfen. Ob du nun dieses Bewußtsein teilst oder nicht, meine Liebe –«

»Ich teile es nicht«, versetzte sie mit Ruhe.

»Es bleibt trotzdem eine Wahrheit, Harriet, und ich fühle mich beruhigter, wenn ich mit der Erinnerung an ihn zugleich an das denke, was mir damals das Herz so, schwer machte,« Er bekämpfte jetzt seine wehmütige Stimmung, lächelte ihr zu und sagte: »Gott sei mit dir!«

»Und mit dir, lieber John! Heute abend werde ich um die gewöhnliche Zeit bis an den alten Platz dir entgegenkommen. Gott behüte dich!«

Das herzliche Gesicht, das sie zu ihm erhob, um ihn zu küssen, war seine Heimat, sein Leben, seine Welt, und doch zugleich ein Teil seiner Strafe und seines Kummers. Denn in der Wolke, die er darauf liegen sah – zwar eine heitere, ruhige, lichte Wolke, wie nur irgendeine um Sonnenuntergang – in der treuen Hingebung ihres Lebens und in der Tatsache, daß sie ihm alle Freuden und Hoffnungen zum Opfer gebracht hatte, mußte er stets die bitteren Früchte seines einstigen Vergehens erkennen, die ihm im Geist mit immer gleicher Beständigkeit und Reife vorschwebten.

Sie blieb mit leicht ineinandergeschlungenen Händen unter der Tür stehen und schaute ihm nach, als er über den feuchten, unebenen Grund hinging. Der Platz, auf dem das Häuschen stand, war vor noch nicht langer Zeit eine Wiese gewesen, jetzt aber ein öder Boden, auf dem eine ordnungslose Ernte von schlechten Häusern aus dem Schutt aufzusteigen schien, als seien die Samen dazu von einer ungeschickten Hand hingestreut worden. So oft John zurückschaute – er tat dies einige Male –, leuchtete ihr herzliches Gesicht gleich einem freundlichen Stern in sein Herz: aber wenn er auf seinem Wege weiterwandelte, ohne sie zu sehen, füllten sich seine Augen mit Tränen, während sie ihm nachschaute.

Sie hielt sich nicht lange unter der Tür auf. Es gab tägliche Obliegenheit zu erfüllen und tägliche Arbeiten zu verrichten. So gewöhnliche, nicht heroische Seelen müssen sich oft schwer abmühen, und darum war auch Harriet bald in ihre Haushaltungsgeschäfte vertieft. Nachdem sie diese zu Ende und das arme Häuschen in nette Ordnung gebracht hatte, überzählte sie mit ängstlichem Gesicht ihren geringen Geldvorrat und ging aus, um einige Einkäufe für die Küche zu besorgen, wobei sie unterwegs sich fortwährend überlegte, wie sie wohl am besten sparen könne. So trist ist das Leben derartiger alltäglicher Naturen, die nicht nur nicht heroisch sind gegen ihre Bedienten und Kammermädchen, sondern nicht einmal Bedienten und Kammermädchen haben, gegen die sie überhaupt heroisch sein könnten.

Während ihrer Abwesenheit näherte sich auf einem andern Weg, als es der war, den ihr Bruder eingeschlagen hatte, dem leer dastehenden Hause ein Gentleman von gesunder, blühender Gesichtsfarbe, aufrechter Haltung und offener, heiterer, gutmütiger Miene, obschon er ein wenig über die Blütezeit des Lebens hinaus zu sein schien. Seine Augenbrauen und Haare waren noch schwarz; aber darein mengten sich bereits da und dort graue Sprenkeln, so daß die ersteren um so anmutiger dagegen abstachen und der breiten, freien Stirn, wie auch den biederen Augen einen sehr vorteilhaften Ausdruck verliehen.

Nachdem er an die Tür geklopft hatte, ohne Antwort zu erhalten, setzte er sich in der Laube vor der Pforte auf eine Bank, um zu warten. Eine gewisse geschickte Bewegung der Finger, während er einige Arien vor sich hinsummte und auf dem Sitz an seiner Seite den Takt schlug, schien auf einen Musiker, und zwar auf einen wissenschaftlichen Musiker zu deuten. Aus der Zufriedenheit, mit der er einige Läufe der nicht recht erkennbaren Melodie sehr langsam und gedehnt behandelte, durfte man solches schließen.

Der Gentleman gab sich noch immer mit seinem Thema ab, das sich um und um zu drehen und gleich einem auf dem Tisch in kreisende Bewegung gesetzten Korkzieher zu verwickeln schien, als ob es gar nicht zu Ende gelangen wolle, bis Harriet sich wieder dem Häuschen näherte. Er erhob sich von seinem Sitz und blieb vor ihr, den Hut in der Hand, stehen.

»Ihr seid wieder hier, Sir?« begann sie zögernd.

»Ich habe mir die Freiheit genommen«, lautete seine Antwort. »Darf ich Euch fünf Minuten lästig fallen?«

Nach kurzem Zögern öffnete sie die Tür und hieß ihn in das kleine Wohnstübchen eintreten. Der Gentleman nahm Platz, rückte seinen Stuhl ihr gegenüber an den Tisch und sprach mit gewinnender Einfachheit und einer Stimme, die ganz im Einklang stand mit seinem Aussehen:

»Miß Harriet, Ihr könnt nicht stolz sein. Zwar gabt Ihr mir bei meinem letzten Besuch zu verstehen, daß Ihr es seiet. Aber verzeiht mir, wenn ich sage, daß ich Euch bei jener Gelegenheit ins Gesicht sah, und dieses hat Euren Worten widersprochen. Ich betrachte es wieder«, fügte er bei, indem er seine Hand für einen Augenblick sanft auf ihren Arm legte, »und es widerspricht Eurer Versicherung mehr und mehr.«

Sie war etwas verwirrt und aufgeregt, so daß sie nicht gleich eine Antwort finden konnte.

»Es ist ein Spiegel der Wahrheit und der Sanftmut«, fuhr der Besuch fort. »Entschuldigt mich, daß ich im Vertrauen darauf wiederkehrte.«

Die Art, wie er dieses sagte, nahm seinen Worten ganz den falschen Schimmer einer bloßen Schmeichelei. Die Worte klangen so einfach, ernst, ungekünstelt und ehrlich, daß sie den Kopf senkte, als wolle sie ihm zumal danken und seine Aufrichtigkeit anerkennen.

»Unsere Altersungleichheit«, sagte der Gentleman, »und die Ehrlichkeit meiner Absicht sollten mir, wie ich gern denken möchte, erlauben, vom Herzen weg zu sprechen. Dies ist meine Meinung, und Ihr seht mich deshalb zum zweitenmal.«

»Es gibt eine Art Stolz, Sir«, versetzte sie nach einem kurzen Schweigen, »oder einen vermeintlichen Stolz, der nur Pflicht ist. Ich hoffe, daß ich keinen andern habe.«

»Wegen Eurer selbst?« versetzte er.

»Ja.«

»Oder – verzeiht mir«, entgegnete der Gentleman – »wegen Eures Bruders John?«

»Ich bin stolz auf seine Liebe«, sagte Harriet, ihm voll ins Gesicht sehend und plötzlich ihr ganzes Wesen ändernd – nicht als ob sie weniger gefaßt und ruhig gewesen wäre, aber sie zeigte jetzt eine tiefe, leidenschaftliche Innigkeit, durch die sogar das Beben ihrer Stimme zu einer Art Festigkeit wurde, »und ich bin stolz auf ihn. Sir, Ihr seid auf unerklärliche Weise zur Kunde der Geschichte seines früheren Lebens gekommen und habt mir das bei Eurem letzten Besuche mitgeteilt –«

»Bloß um mir zu Eurem Vertrauen einen Weg zu bahnen«, unterbrach sie der Gentleman. »Um’s Himmels willen, glaubt ja nicht –«

»Ich bin überzeugt«, fuhr sie fort, »daß Ihr mir in guter und wohlwollender Absicht die Vergangenheit wieder vorgeführt habt. Ich zweifle nicht im mindesten daran.«

»Ich danke Euch für diese gute Meinung«, entgegnete der Gentleman, ihr hastig die Hand drückend. »In der Tat, Ihr laßt mir nur Gerechtigkeit widerfahren. Ihr wolltet sagen, daß ich, der ich die Geschichte von John Carkers Leben kenne –«

»Es mir für Stolz auslegen werdet«, fuhr sie fort, »wenn ich sage, daß ich stolz auf ihn sei. Dies ist wirklich der Fall. Ihr wißt, daß es eine Zeit gab, in der ich es nicht war – nicht sein konnte – aber das ist längst vorbei. Die Demut vieler Jahre, sein Dulden ohne Murren, die wahre, tiefgefühlte Reue und der Schmerz, den ihm sogar meine Liebe bereitet – denn er meint, sie komme mich teuer zu stehen, obschon der Himmel weiß, daß ich vollkommen glücklich wäre, wenn ich nicht eine stete Zeugin seines Kummers sein müßte – o Sir, nach dem, was ich gesehen, möchte ich Euch beschwören, falls es in Eurer Macht liegt und Euch Unrecht zugefügt wird, nie eine Strafe zu verhängen, die nicht widerrufen werden kann; denn es ist ein Gott über uns, der die Herzen, die er schuf, auch umzuwandeln imstande ist.«

»Euer Bruder ist ein anderer Mensch«, entgegnete der Gentleman mit Teilnahme. »Ich versichere Euch, daß ich keinen Augenblick hieran zweifle.«

»Er war ein anderer Mensch, als er auf den Wegen des Unrechts ging«, sagte Harriet. »Dies liegt in der Vergangenheit, und glaubt mir, Sir, daß er seinem eigenen Ich wieder treu ist.«

»Aber wir treiben uns von Tag zu Tag in unserem Uhrwerkgange fort«, versetzte der Gentleman, sich zerstreut die Stirne reibend und dann gedankenvoll mit der Hand auf den Tisch trommelnd, »und haben keinen Blick für solche Veränderungen, denen wir nicht folgen können. Sie – sie sind mehr Erscheinungen für den Philosophen, und für – für ihre Beobachtung fehlt es uns an Muße. Ja wir – wir haben nicht einmal den Mut dazu. In Schulen oder Kollegs lernt man nichts davon, und wir wissen nicht, wie wir damit zustande kommen sollen. Mit einem Wort, es geht bei uns alles so verwünscht geschäftsmäßig zu«, fügte der Gentleman bei, indem er unmutig aufstand und nach dem Fenster ging, um bald nachher in derselben ärgerlichen Stimmung wieder nach seinem Sitz zurückzukehren.

»Wahrhaftig«, fuhr der Gentleman fort und rieb sich abermals die Stirne, eine Beschäftigung, die er durch das frühere Trommeln auf den Tisch unterbrach, »ich habe guten Grund zu glauben, daß der gemeine, alltägliche Trab des Lebens uns an alles gewöhnen kann. So viel ist Tatsache, daß man nicht alles sieht, nicht alles hört, nicht alles weiß. Wir nehmen die Dinge für ausgemacht an, und so geht es fort, bis unser ganzes Tun und Treiben, mag es nun gut, schlecht oder gleichgültig sein, eine Sache der Gewohnheit wird. Soll ich mich einmal auf meinem Sterbebett vor meinem Gewissen verantworten, so kann ich ihm nichts entgegenhalten, als die Gewohnheit. ›Gegen Millionen Dinge‹, muß ich sagen, ,war ich taub, stumm, blind und tot – nur Gewohnheit.‹ ›In der Tat eine sehr geschäftsmäßige Abfertigung, Mr. Soundso‹, sagt das Gewissen. ›Aber damit ist es hier nicht abgetan.‹«

Der Gentleman stand abermals auf, um nach dem Fenster zu gehen, und kehrte in ernstlicher Unruhe wieder zurück, obschon diese bei ihm einen eigentümlichen Ausdruck hatte.

»Miß Harriet«, sagte er, als er sich wieder auf seinen Stuhl niederließ, »ich muß mir bittere Vorwürfe machen, daß ich all das schon seit zwölf Jahren hätte sehen und wissen können, wenn ich mir Zeit genommen hätte, Euch kennenzulernen. Ja, ich bin so sehr ein Geschöpf nicht nur meiner eigenen, sondern auch anderer Leute Gewohnheit, daß ich es mir selbst kaum erklären kann, wie ich überhaupt hierher kam. Da es nun aber einmal so ist, so laßt mich etwas tun. Ich bitte darum in Ehren und mit aller Achtung; denn Ihr flößt mir letztere in hohem Grade ein. Laßt mich etwas tun.«

»Wir sind zufrieden, Sir.«

»Nein, nein, nicht ganz«, entgegnete der Gentleman. »Ich glaube, nicht ganz. Es gibt gewisse kleine Bequemlichkeiten, die Euch und ihm das Leben angenehmer machen können – auch ihm«, fügte er in der Meinung bei, daß er einigen Eindruck auf sie gemacht habe. »Ich hatte mich an den Gedanken gewöhnt, für ihn brauche nichts zu geschehen; aber das ist jetzt abgetan und vorüber – kurz, ich habe mir über das Ganze gar keine Gedanken gemacht. Jetzt ist es anders. Laßt mich etwas für ihn tun. Auch Ihr habt Ursache«, fügte er mit behutsamer Zartheit bei, »um seinetwillen Eure Gesundheit sehr in acht zu nehmen, da sie, wie ich fürchte, nicht die beste ist.«

»Wie Ihr auch dazu kommt, Sir«, entgegnete Harriet, zu seinem Gesicht aufblickend, »ich bin Euch zu tiefem Dank verpflichtet. Ich fühle die Überzeugung, daß alle Eure Worte die wohlwollendste Absicht haben. Aber seit wir dieses Leben begannen, sind Jahre verstrichen, und meinem Bruder nur einen Teil davon nehmen, was ihn mir so teuer gemacht und seine besseren Entschlüsse erprobt hat – die Beseitigung auch nur eines Bruchstücks von dem Verdienste seiner ununterstützten, unbeachteten und vergessenen Sühne, hieße den Trost mindern, den wir beide darin finden werden, wann die Zeit kommt, von der Ihr eben erst gesprochen habt. Ich kann Euch meinen Dank besser durch diese Tränen, als in Worten ausdrücken. Ich bitte, glaubt mir das.«

Der Gentleman war gerührt; er führte die Hand, die sie ihm darbot, an seine Lippen, etwa so, wie ein zärtlicher Vater die Hand eines liebevollen Kindes küssen würde, aber mit mehr Verehrung.

»Wenn der Tag je kommen sollte«, sagte Harriet, »der ihn teilweise wieder einsetzt in seine verlorne Stellung –«

»Einsetzt?« rief der Gentleman hastig. »Wie sollte hierauf nur zu hoffen sein? In wessen Händen liegt die Macht einer solchen Wiederherstellung? Ich täusche mich in der Tat nicht, wenn ich annehme, der Umstand, daß er mit dem unschätzbaren Segen des Lebens davonkam, sei der einzige Grund des Hasses, den sein Bruder gegen ihn hegt.«

»Ihr berührt hier einen Gegenstand, der nie zwischen uns zur Sprache kam – nicht einmal zwischen uns«, sagte Harriet.

»Ich bitte um Verzeihung«, versetzte der Besuch. »Es hätte mir bekannt sein können, und ich bitte Euch, dies zu vergessen, daß es unabsichtlich durch mich angerührt worden ist. Und jetzt, da ich nicht weiter in Euch zu dringen wage und auch vielleicht kein Recht dazu habe – obschon, weiß der Himmel, am Ende auch dieses Bedenken nur Sache der Gewohnheit ist –«, fügte der Gentleman bei, während er so kleinmütig, wie zuvor, wieder seine Stirne rieb – »möchte ich als ein Mann, der Euch zwar fremd, aber doch nicht fremd ist, um eine doppelte Gunst ersuchen.«

»Die bestünde?« lautete Harriets Frage.

»Erstlich, daß Ihr mir erlauben möchtet, Euch zu dienen, im Falle Ihr Ursache findet, Euern Entschluß zu ändern. Ihr sollt dann auch meinen Namen erfahren, der Euch jetzt nutzlos und jederzeit nur unbedeutend ist.«

»Wir haben unter unsern Freunden keine solche Auswahl«, versetzte sie mit einem matten Lächeln, »daß hierfür eine Bedenkzeit nötig wäre. Ich kann Euch das versprechen.«

»Zweitens, daß Ihr mir gestattet, hin und wieder – ich will sagen, am Montag morgen um neun Uhr – wieder Gewohnheit, die mich alles geschäftsmäßig betreiben läßt –«, sagte der Gentleman, als habe er Lust, deshalb mit sich selbst Händel anzufangen, »Euch im Vorbeigehen unter der Tür oder am Fenster zu sehen. Ich verlange nicht einzutreten, da um diese Stunde Euer Bruder anwesend ist. Auch will ich Euch nicht einmal anreden. Ich wünsche Euch bloß zu sehen und daraus die Beruhigung zu gewinnen, daß Ihr wohlauf seid; dabei möchte ich Euch ohne alle Aufdringlichkeit durch meinen Anblick erinnern, daß Ihr einen Freund habt – einen älteren Freund, der mit jedem Tage grauer wird und Euch immer zur Verfügung steht.«

Ihr herzliches Gesicht blickte vertrauensvoll zu dem seinigen auf und gab die gewünschte Zusage.

»Es versteht sich«, fuhr der Gentleman fort, indem er sich von seinem Sitze erhob, »daß Ihr wie früher meinen Besuch vor Eurem Bruder nicht erwähnt, weil ihn mein Mitwissen um seine frühere Geschichte betrüben könnte. Dies wird mir lieb sein; denn es liegt außer dem gewöhnlichen Lauf der Dinge – da haben wir wieder die leidige Gewohnheit«, unterbrach er sich unmutig –, »als ob es nichts Besseres gebe, als den alltäglichen Gang der Welt.«

Mit diesen Worten schickte er sich zum Gehen an. Er behielt, bis er vor der Haustür draußen war, den Hut in der Hand und verabschiedete sich von ihr mit einer so glücklichen Mischung von zwangloser Achtung und ungekünstelter Teilnahme, wie diese nicht in der Schule der feinen Bildung gewonnen wird und wie sie es nur eine Vertrauen weckende, reine Einfachheit des Herzens einflößen kann.

Dieser Besuch rief in der Seele der Schwester manche halbvergessenen Gefühle wieder hervor. Es war gar so lang her, seit überhaupt eine teilnehmende Person über ihre Schwelle gekommen, seit ihr Ohr die Stimme des Mitgefühls vernommen hatte; und vor dem Auge ihres Geistes stand noch immer, als sie Stunden nachher mit ihrer Näherei am Fenster saß, die Gestalt des Fremden, der wieder und wieder seine wohlgemeinten Bitten vorzubringen schien. Er hatte das Schloß berührt, das ihr ganzes Leben öffnete; und wenn sein Bild auf kurze Zeit verwischt wurde, lag der Grund nur in den vielen Formen der einen großen Erinnerung, aus denen die Kette dieses Lebens gebildet war.

Abwechselnd nachsinnend und arbeitend, indem sie bald für eine geraume Weile die Nadel angestrengt in Tätigkeit setzte, bald diese unbeachtet ruhen ließ, um dem Strom ihrer Gedanken zu folgen, fand Harriet, daß die Stunden an ihr vorüberglitten und der Tag zur Neige ging. Der Morgen war schön und heiter gewesen; jetzt aber überwölkte sich allmählich der Himmel. Ein scharfer Wind begann zu wehen, der Regen fiel mit Macht nieder, und ein dichter Nebel verhüllte die ferne Stadt vor ihren Blicken.

Zu solchen Zeiten blickte sie oft mit Mitleid auf die einzelnen Wanderer, die auf der nahegelegenen Landstraße mit müden, wunden Füßen London zuschritten und furchtsamen Blicks die ungeheure, vor ihnen liegende Stadt betrachteten, als ahnten sie, daß ihr Elend dort nur ein Tropfen im Meer oder ein Sandkorn am Gestade sei, gleichwohl aber zusammenschaudernd weiterzogen, wie sehr auch in dem Ungestüm des Wetters sogar die Elemente sie zurückzuweisen schienen. Tag um Tag schlichen solche Reisende vorbei; aber immer, wie es ihr vorkam, derselben Richtung zu – stets nach der Stadt. Aufgesogen von einem oder dem andern Teil der Unermeßlichkeit, nach der sie durch einen verzweifelten Zauber hingedrängt zu werden schienen, kehlten sie nie wieder zurück. Nahrung für die Hospitäler, die Kirchhöfe, die Gefängnisse, den Fluß, das Fieber, den Wahnsinn, das Laster und den Tod – so eilten sie dem in der Ferne brüllenden Ungeheuer zu und waren verloren.

Der kalte Wind heulte, der Regen klatschte, und der Tag hatte sich in ein tiefes Düster gehüllt, als Harriet von ihrer Arbeit, der sie schon geraume Zeit mit beharrlichem Eifer sich hingegeben hatte, ihre Augen erhob und einen solchen Wanderer herankommen sah.

Eine Frau. Eine einzelne Frau von etlichen dreißig Jahren, groß, gut gebaut und schön, aber in erbärmlicher Kleidung. An ihrem von Nässe triefenden grauen Mantel waren die Spuren verschiedener Bodenarten, Merkmale des auf vielen Landstraßen durchgemachten schlechten Wetters – Staub, Kalk, Lehm und Kies – zu unterscheiden. Kein Hut, keine andere Kopfbedeckung als ein umgebundenes, zerrissenes Taschentuch schützte ihr reiches Haar gegen den Regen, und der Wind blies ihr unaufhörlich dessen Zipfel oder einzelne Haarstränge ins Gesicht, so daß sie oft haltmachen mußte, um die blendenden Hindernisse zurückzustreifen, damit sie den Weg sehen konnte, den sie ging.

Sie war eben in diesem Geschäft begriffen, als Harriet ihrer ansichtig wurde. Als die Fremde, mit der Hand über das sonnverbrannte Gesicht fahrend, ihr Haar beiseite strich, enthüllte sich eine fast verwegene, rücksichtslose Schönheit, eine furchtlose, wilde Gleichgültigkeit auch gegen andere Dinge, als das Wetter, eine Unbekümmertheit gegen alles, was Himmel oder Erde über ihr unbedecktes Haupt senden mochte. Dieser Anblick, in Verbindung mit dem Elend und der Verlassenheit des Weibes, rührte das Herz Harriets. Sie dachte an alles, was nicht nur im Äußern, sondern auch im Innern dieser Unglücklichen verkehrt und verderbt sein mochte – an die anspruchslosen Reize der Seele, die wahrscheinlich ebenso verhärtet und gestählt waren, wie die schönen Linien des Gesichts; an die vielen Gaben des Schöpfers, gleich dem wirren Haar in die Winde gestreut, und an alle die Trümmer von Lieblichkeit, die vom Sturm durchwühlt und von der einbrechenden Nacht umdüstert wurden.

Während sie diesen Gedanken nachsann, wandte sie sich nicht ab mit empfindsamem Unwillen, wie es nur zu viele Angehörige des mitleidigen zarteren Geschlechtes getan haben würden, sondern ließ das Gefühl inniger Teilnahme walten.

Die gefallene Schwester kam näher. Sie blickte weit vor sich hin, als wollten ihre blitzenden Augen durch den Nebel dringen, der die Stadt vor ihr verhüllte, und schaute hin und wieder mit der wirren, unsicheren Miene einer Fremden seitwärts. Obschon ihr Tritt kühn und mutig war, konnte sie ihre Ermüdung doch nicht verbergen, und nach kurzer Unschlüssigkeit setzte sie sich auf einen Steinhaufen, ohne Schutz gegen den Regen zu suchen, den sie unbekümmert auf sich niederströmen ließ.

Sie saß dem Haus gegenüber. Nachdem sie ihren Kopf für einen Augenblick mit beiden Händen gestützt hatte, erhob sie ihn wieder, und ihr Auge begegnete jetzt dem Blicke Harriets. Im Nu war diese an der Tür. Auf ihr Winken stand die Fremde auf und kam mit finsterer Miene langsam heran.

»Warum setzt Ihr Euch im Regen nieder?« fragte Harriet mit sanfter Stimme.

»Weil ich keinen andern Ruheplatz habe«, lautete die Antwort.

»Aber es sind in der Nähe viele Plätze, die Euch ein Obdach geben können. Diese Laube da ist doch weit besser als der Steinhaufen dort, und der Schutz, den Ihr hier findet, ist Euch von Herzen gegönnt.«

Die Fremde sah sie erstaunt und zweifelnd an, ohne aber irgend zu danken. Dann setzte sie sich nieder und nahm einen ihrer schlechten Schuhe ab, um den Staub und die Steinchen, die dort eingedrungen waren, herauszuklopfen. Dabei zeigte sich, daß ihr Fuß verletzt und blutig war.

Harriet stieß einen Ruf des Mitleids aus. Die Fremde aber schaute sie mit einem verächtlichen, ungläubigen Lächeln an.

»Ha, was ist auch ein wunder Fuß für eine Person, wie ich es bin«, sagte sie. »Und was kann Euch ein wunder Fuß an einem armen Frauenzimmer kümmern?«

»Kommt herein und wascht ihn aus«, antwortete Harriet in mildem Ton. »Ich will Euch etwas geben, damit Ihr ihn verbinden könnt.«

Die Fremde ergriff ihren Arm, verbarg die Augen dahinter und weinte – nicht wie ein Weib, sondern wie ein finsterer Mann, der sich von einer solchen Schwäche überraschen läßt – mit einem ungestümen Wogen der Brust und einem inneren Kampf, der zeigte, wie ungewöhnlich eine derartige Erregung bei ihr war.

Sie ließ sich in das Haus führen, wo sie die wunde Stelle wusch und verband, aber augenscheinlich mehr aus Dankbarkeit als aus Sorge für sich selbst. Harriet setzte ihr dann die Überreste ihres eigenen spärlichen Mahls vor und forderte sie, nachdem sie ein wenig davon genossen hatte, auf, sie solle doch ihre Kleider vor dem Feuer trocknen, ehe sie ihre Wanderung, bei der sie es sehr eilig zu haben schien, wieder aufnehme. Abermals mehr aus Dankbarkeit als mit irgendeiner Kundgebung von Sorge für sich selbst, setzte sich die Fremde vor dem Kamin nieder, knüpfte das um den Kopf geschlungene Taschentuch los, so daß das dichte, feuchte Haar bis auf die Hüfte niederfiel, trocknete es mit ihren Handflächen und schaute in die Flamme.

»Ihr werdet wahrscheinlich denken«, sagte sie, plötzlich ihren Kopf aufrichtend, »daß ich einmal schön gewesen sein müsse. Ich glaube, daß es der Fall war – ja, ich weiß es. Schaut her!« sie hielt ihr Haar mit beiden Händen in die Höhe, umfaßte sie dann, als wolle sie sich dieselben ausreißen, und warf sie wieder zurück, als ob sie ein Haufen Schlangen wären.

»Seid Ihr fremd hier?« fragte Harriet.

»Fremd?« entgegnete sie, zwischen jeder kurzen Antwort innehaltend und ins Feuer blickend. »Ja. Fremd seit zehn oder zwölf Jahren. Wo ich war, hatte ich keinen Kalender. Zehn oder zwölf Jahre. Diesen Teil kenne ich nicht. Während meiner Abwesenheit hat sich viel verändert.«

»Seid Ihr weit fortgewesen?«

»Sehr weit. Monate um Monate auf dem Meer, und auch dann noch weit weg. Ich war an dem Platz, wo man die Missetäter hinschickt«, fügte sie bei, ihrer Wirtin voll ins Gesicht sehend. »Ich bin selbst eine Verbrecherin gewesen.«

»Der Himmel stehe Euch bei und verzeihe Euch!« lautete die sanfte Erwiderung.

»Ach, der Himmel mir beistehen und mir verzeihen!« versetzte sie, mit dem Kopf nach dem Feuer nickend. »Wenn die Menschen einigen von uns ein bißchen mehr beistehen wollten, würde Gott vielleicht uns allen desto bälder verzeihen.«

Aber das ernste Benehmen Harriets und das herzliche Gesicht, das mit so viel Milde und nicht mit der Miene der Verwerfung auf ihr ruhte, stimmte sie sanfter, so daß sie mit weniger Härte beifügte:

»Wir werden wohl im gleichen Alter sein, Ihr und ich. Wenn ich älter bin, so kann es kaum um ein Jahr oder um zwei sein. O denkt daran!«

Sie breitete ihre Arme aus, als ob sie durch Enthüllung ihrer äußeren Gestalt zeigen wolle, wie elend sie auch in ihrem Inneren sei; dann ließ sie die Arme wieder fallen und senkte den Kopf.

»Es gibt nichts, was wir nicht wieder gutmachen zu können hoffen dürfen. Zur Besserung ist es nie zu spät«, sagte Harriet. »Ihr seid reuig –«

»Nein«, entgegnete sie. »Ich bin es nicht – kann es nicht sein. Warum sollte auch ich bereuen – und die ganze übrige Welt frei ausgehen? Man schwatzt mir immer von Reue vor – wer bereut das Unrecht, das an mir geübt worden ist?«

Sie stand auf, knüpfte das Tuch wieder um den Kopf und schickte sich an, zu gehen.

»Wohin wollt Ihr?« fragte Harriet.

»Dorthin«, antwortete sie, mit der Hand deutend. »Nach London.«

»Habt Ihr dort eine Heimat?«

»Ich glaube, ich habe eine Mutter. Sie ist ebensowohl eine Mutter, wie ihre Wohnung eine Heimat genannt werden kann«, erwiderte sie mit einem bittern Lachen.

»Nehmt das«, rief Harriet, ihr ein Geldstück in die Hand drückend. »Gebt Euch Mühe, ein ordentliches Auskommen zu finden. Es ist nur sehr wenig, aber für einen Tag kann es Euch vielleicht forthelfen.«

»Seid Ihr verheiratet?« fragte die Fremde in ersticktem Ton, als sie das Almosen annahm.

»Nein. Ich lebe hier mit meinem Bruder. Wir haben nicht viel übrig, sonst würde ich Euch mehr gegeben haben.«

»Wollt Ihr mir erlauben, Euch zu küssen?«

Da sie in Harriets Gesicht kein Zeichen von Widerwillen oder Verachtung bemerkte, so beugte sie sich zu ihr nieder und drückte ihre Lippen gegen die Wangen ihrer Wirtin. Dann ergriff sie abermals Harriets Arm, bedeckte ihre Augen damit und war verschwunden.

Verschwunden in der dunkler werdenden Nacht, in dem heulenden Wind und dem schüttenden Regen. Das schwarze Haar und die Zipfel des Tuches flatterten um ihr wildes Gesicht, als sie weiter ging nach der in Nebel gehüllten Stadt mit ihrem matten Lichtergeflimmer.

Zweiundvierzigstes Kapitel.


Zweiundvierzigstes Kapitel.

Vertraulich und zufällig.

Nicht mehr in Kapitän Cuttles schwarzen Kleidern und in dem Südwesterhut, sondern in eine gute, braune Livree gehüllt, die, während sie gesetzte Nüchternheit heuchelte, in der Tat so stolz und zuversichtlich war, wie nur ein Schneider sie anzufertigen wünschen konnte, stand jetzt der in seinem äußeren Menschen so umgewandelte Rob, der Schleifer, im Dienst seines Gönners, Mr. Carker. In seinem Innern nahm er keine weitere Rücksicht auf den Kapitän und den Midshipman, als daß er einige Minuten seiner Muße der Aufgabe weihte, diese beiden unzertrennlichen Würdenträger zu verhöhnen und unter der Beifall zollenden Musik jenes Blech-Instrumentes, seines Gewissens, sich die triumphierende Manier zu vergegenwärtigen, durch die er von ihnen losgekommen war. Mitbewohner von Mr. Carkers Haus und mit dem persönlichen Dienst um seinen Beschützer betraut, hielt dafür Rob seine runden Augen mit Furcht und Zittern auf die weißen Zähne geheftet und fühlte, daß er nötig habe, sie weiter als je offenzuhalten.

Wäre er in den Dienst eines mächtigen Zauberers gekommen und hätten an besagten Zähnen die kräftigsten Bannsprüche gehaftet, so wären sie doch sicherlich nicht imstande gewesen, seinem ganzen Wesen eine größere Scheu einzuflößen. In den Augen des Knaben besaß sein Gebieter eine Gewalt und eine Autorität, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen und ihn zum unbedingtesten Gehorsam zwangen. Ja, selbst in Carkers Abwesenheit fühlte er sich, wenn er an ihn dachte, kaum sicher, ob er nicht plötzlich wieder am Kragen gepackt werde, wie an jenem Morgen der ersten Zusammenkunft, und ob nicht die Zähne die geheimste Regung seines Innern aufzufinden und zu würdigen wüßten. Angesicht in Angesicht mit ihm, zweifelte Rob ebensowenig daran, daß Mr. Carker seine geheimen Gedanken lese, oder doch, wenn er wolle, sie leicht lesen könne. Das Übergewicht war so vollständig und hielt ihn dermaßen im Bann, daß er kaum wagte, an etwas anderes zu denken, als an den unwiderstehlichen Einfluß seines Gönners und an dessen Macht, alles mit ihm anzufangen. Deshalb harrte er auch stets ängstlich seiner Befehle und versuchte in einer Art geistiger Spannung, denselben vor allen andern Dingen zuvorzukommen.

In seinem damaligen Gemütszustand wußte vielleicht Rob selbst nicht, und es wäre wohl ein Akt nicht gewöhnlicher Vermessenheit gewesen, sich darüber Gedanken zu machen, ob er sich nicht bloß deshalb so vollständig diesem Einflusse unterwarf, weil ihm der Argwohn vorschwebte, sein Gönner sei Meister in gewissen tückischen Künsten, in denen er selbst durch die Schleifer-Schule zu einem ärmlichen Anfänger geworden war. So viel ist gewiß, daß er ihn ebensosehr bewunderte wie fürchtete. Mr. Carker kannte vielleicht die Quellen seiner Macht besser und versäumte nicht, sie zu benützen.

An dem Abend nach dem Austritt aus des Kapitäns Dienst verkaufte Rob sogleich seine Tauben, ohne sich in der Eile viel an den schlechten Erlös zu kehren, und rannte geradewegs nach Mr. Carkers Haus, wo er sich mit glühendem Gesicht, das Rob zu erwarten schien, seinem neuen Gebieter vorstellte.

»Wie, du Galgenstrick!« sagte Mr. Carker, nach seinem Bündel hinsehend, »hast du deinen Platz verlassen, um zu mir zu kommen?«

»Ach, mit Eurer Erlaubnis, Sir«, stotterte Rob, »Ihr wißt ja, als ich zum letztenmal hier war, sagtet Ihr –«

»Ich sagte etwas?« erwiderte Mr. Carker. »Und was sagte ich?«

»Ich bitt‘ um Verzeihung, Sir, Ihr sagtet eigentlich nichts, Sir«, versetzte Rob in großer Verblüffung und durch die Art dieser Frage gewarnt.

Sein Gönner musterte ihn mit einer breiten Schaustellung des Zahnfleisches, schüttelte seinen Zeigefinger und bemerkte:

»Ich sehe voraus, mein vagabundierender Freund, daß es mit dir zu einem schlimmen Ende kommen wird. Es steht dir der Untergang bevor.«

»O, ich bitte, sprecht nicht so, Sir!« rief Rob, und die Knie zitterten unter ihm. »Gewiß, Sir, ich möchte nur für Euch arbeiten, Sir, Euch aufwarten, Sir, und getreulich alles tun, was Ihr mir befehlt, Sir.«

»Du wirst gut tun, alles, was man dir aufträgt, getreulich zu erfüllen, wenn du überhaupt mit mir zu schaffen hast«, erwiderte sein Gönner.

»Ja«, versetzte der unterwürfige Rob. »Ich bin davon überzeugt, Sir. Wenn Ihr nur so gut sein wolltet, es mit mir zu probieren! Und wenn Ihr je an mir findet, daß ich gegen Eure Wünsche handle, so mögt Ihr mich auf der Stelle totschlagen.«

»Du Hund!« sagte Mr. Carker, in seinem Stuhle sich zurücklehnend und ruhig nach ihm hinlächelnd. »Das wäre noch nichts gegen das, was ich dir antun würde, wenn du versuchtest, mich zu täuschen.«

»Ja, Sir«, versetzte der Schleifer geduckt, »ich weiß wohl, Ihr würdet schrecklich mit mir umgehen, Sir. Ich werde mir gewiß keinen solchen Versuch einfallen lassen, Sir, und wenn man mich sogar mit goldenen Guineen bestechen wollte.«

In seinen Erwartungen auf Lob vollkommen getäuscht, stand der verdutzte Schleifer da und sah seinen Gönner an, obschon er mit der Unruhe, die oft in ähnlicher Lage ein bissiger Hund kundgibt, vergeblich bemüht war, nicht nach ihm hinzublicken.

»Du hast also deinen alten Dienst verlassen und bist hierhergekommen, um mich zu bitten, daß ich dich in den meinen nehme?« fragte Mr. Carker.

»Mit Erlaubnis, ja, Sir«, entgegnete Rob, der bei seinem Schritt nur nach den Weisungen seines Gönners gehandelt hatte, obschon er es jetzt nicht wagte, sich durch die mindeste Andeutung darauf zu rechtfertigen.

»Gut!« sagte Mr. Carker. »Du kennst mich, Junge?«

»Ja, Sir«, erwiderte Rob, der seinen Hut rieb und noch immer durch Mr. Carkers Auge gebannt war, während er zugleich vergeblich sich abmühte, den Bann zu lösen.

Mr. Carker nickte mit dem Kopf.

»So sieh dich vor!«

Rob drückte durch eine Anzahl kurzer Verbeugungen aus, wie vollkommen er diese Warnung begriff, und setzte seine Kratzfüße bis nach der Tür fort, in der getrosten Hoffnung, sie bald hinter sich zu haben, als sein Gönner ihm Halt gebot.

»He!« sagte Mr. Carker, ihn rauh zurückrufend, »du hast – schließe die Tür dort.«

Rob gehorchte, als ob sein Leben von seiner Behendigkeit abhinge.

»Du hast dich ans Lauschen gewöhnt. Weißt du, was das besagen will?«

»Horchen, Sir?« – warf Rob aufs Geratewohl hin, nachdem er eine Weile verlegen sich besonnen hatte.

Sein Gönner nickte.

»Aufpassen und dergleichen.«

»Hier würde ich so etwas gewiß nicht tun, Sir«, erwiderte Rob. »Auf Ehre, gewiß nicht, Sir. Lieber wollte ich sterben, Sir, und wenn man mir auch alles Erdenkliche verspräche. Die ganze Welt könnte mich nicht zu so etwas bestechen, Sir, wenn es mir nicht befohlen würde, Sir.«

»Ich möchte es dir auch nicht raten. Du bist außerdem ans Schwatzen und Klatschen gewöhnt«, sagte sein Gönner mit vollkommener Ruhe. »Nimm dich hier in acht davor, Spitzbube, oder es ist um dich geschehen.« Er lächelte wieder und winkte abermals mit dem Zeigefinger.

Der Schleifer konnte vor Bestürzung kaum mehr atmen. Er versuchte die Reinheit seiner Absichten zu beteuern, konnte aber den lächelnden Gentleman nur in einer unterwürfigen Betäubung anglotzen, mit der Mr. Carker sehr wohl zufrieden zu sein schien; denn er befahl ihm nach einem kurzen Schweigen, die Treppe hinunterzugehen, und machte ihm damit bemerklich, daß er in Dienst genommen sei.

So gelangte Rob, der Schleifer, zu einem neuen Herrn, und seine ängstliche Ehrerbietung vor Mr. Carker wurde womöglich mit jeder Minute seines Dienstes noch erhöht und gekräftigt.

Er war einige Monate in seinem neuen Dienst gewesen, als er eines Morgens früh Mr. Dombey, der einer Verabredung gemäß bei seinem Gebieter frühstücken sollte, die Gartentür öffnete. Im gleichen Augenblick kam auch eiligst Mr. Carker herbei, um den angesehenen Gast zu empfangen und mit allen seinen Zähnen zu bewillkommnen.

»Ich hätte wahrhaftig nie gedacht«, sagte Mr. Carker, indem er Mr. Dombey beim Absteigen vom Pferd seine Unterstützung anbot, »Euch hier zu sehen. Das ist ein außerordentlicher Tag in meinem Kalender. Bei einem Mann wie Ihr kann es freilich als nichts Besonderes erscheinen, da Ihr in der Lage seid, alles zu tun; aber bei einem Mann wie ich gestaltet sich der Fall ganz anders.«

»Ihr habt hier eine sehr geschmackvolle Wohnung, Carker«, sagte Mr. Dombey, der sich herabließ, auf dem Rasen haltzumachen und umherzuschauen.

»Es beliebt Euch nur, so zu sagen«, entgegnete Carker. »Ich danke Euch.«

»In der Tat«, fuhr Mr. Dombey mit stolzer Gönnermiene fort, »ich habe auch allen Grund dazu. Soviel ich sehe, ist dies ein sehr bequemes, wohl eingerichtetes Heim – eigentlich elegant.«

»Es verdient wahrhaftig diese Bezeichnung nicht«, erwiderte Carker mit der Miene der Bescheidenheit. »Doch es ist genug davon gesprochen, und ich bin Euch nichtsdestoweniger dankbar, wenn Ihr es mit einem Lobe bedenkt, das ihm nicht gebührt. Wollt Ihr eintreten?«

Im Hause drinnen entgingen Mr. Dombey die vollständige Einrichtung der Zimmer und die zahlreichen Bequemlichkeiten und Zierden, an denen es wimmelte, nicht. Mr. Carker nahm in seiner geheuchelten Demut die Bemerkungen darüber mit einem ehrerbietigen Lächeln hin und sagte, er begreife wohl den zarten Sinn in Mr. Dombeys Worten und wisse ihn zu würdigen; aber in Wahrheit sei das Häuschen gut genug für einen Mann von seiner Stellung, vielleicht sogar besser, als es ihm gebühre, wie gering dasselbe auch sein möge.

»Euch aber, der Ihr so hoch über mir steht, mag es in der Tat vielleicht besser vorkommen, als es ist«, fügte er hinzu, und sein falscher Mund verzog sich von einem Ohre bis zum andern. »Gerade wie auch Monarchen in dem Leben von Bettlern einen Reiz zu finden glauben.«

Während er so sprach, richtete er einen scharfen Blick und ein scharfes Lächeln auf Mr. Dombey – einen noch schärferen Blick und ein noch schärferes Lächeln, als Mr. Dombey in der Haltung, die er so oft als der zweite im Kommando nachzubilden gewöhnt war, sich vor dem Feuer aufstellte und die Gemälde an den Wänden musterte. Das kalte Auge seines Prinzipals wanderte flüchtig darüber hin, und Mr. Carkers schlauer Blick folgte ihm allenthalben, genau sich merkend, wo es anhielt und was es sah.

Als es namentlich auf einem Gemälde ruhen blieb, schien Carker kaum zu atmen, und sein Blick wurde katzenartig lauernd; aber das Auge des großen Mannes ging darüber hin und nahm sichtlich keinen größeren Eindruck mit, als von den übrigen.

Carker sah dann hin – es war das Bild, welches Ähnlichkeit mit Edith hatte – als ob es ein lebendes Wesen wäre; ein boshaftes, stummes Lachen überflog sein Gesicht und schien teilweise dem Bild zu gelten, obschon es hauptsächlich einen Spott für den großen Mann enthielt, der ihm nichtsahnend zur Seite stand. Bald nachher dampfte das Frühstück auf dem Tisch, und während er Mr. Dombey einen Stuhl anbot, dessen Lehne dem Gemälde zugekehrt war, nahm er wie gewöhnlich ihm gegenüber seinen Sitz ein.

Mr. Dombey war sogar noch ernster, als sonst, und verhielt sich sehr schweigsam. Der Papagei, der sich auf dem vergoldeten Reif seines schönen Käfigs wiegte, gab sich vergeblich Mühe, die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu ziehen; denn Mr. Carker war zu sehr von seinem Gast in Anspruch genommen, um auf den Vogel zu achten, und Mr. Dombey, der sich ganz seinem Nachdenken hingab, schaute starr, um nicht zu sagen verdrießlich, über seine steife Halsbinde weg, ohne die Augen von dem Tischtuch zu erheben. Was den dienstleistenden Rob betraf, so galten alle seine Fähigkeiten zu sehr der Aufmerksamkeit auf seinen Gebieter, als daß er es hätte wagen können, dem Gedanken Raum zu geben, der Gast sei der vornehme Herr, dem er in seiner Kindheit als Zeugnis für die Gesundheit der Familie vorgestellt worden war und dem er seine ersten Lederhosen zu danken hatte.

»Erlaubt mir die Frage«, sagte Carker plötzlich, »wie sich Mrs. Dombey befindet.«

Er beugte sich dabei unterwürfig vorwärts und stützte das Kinn auf seine Hand; zu gleicher Zeit aber richtete er seine Augen auf das Gemälde, als wollte er sagen: »Nun werden wir sehen, wie ich ihn weiterzuführen imstande bin.« »Mrs. Dombey befindet sich vollkommen wohl«, antwortete Dombey errötend. »Ihr erinnert mich hierdurch an einen Punkt, Carker, über den ich mit Euch sprechen möchte.«

»Robin, du kannst gehen«, sagte Mr. Carker in so mildem Ton, daß Robin betroffen darüber wurde, obschon er beim Fortgehen die Augen bis zum letzten Moment auf seinem Gebieter haften ließ. »Ihr erinnert Euch natürlich dieses Knaben?« fügte er hinzu, sobald der verstrickte Schleifer das Zimmer verlassen hatte.

»Nein«, sagte Mr. Dombey mit großartiger Gleichgültigkeit.

»Von einem Mann, wie Ihr, auch nicht wahrscheinlich – ja, kaum möglich«, murmelte Carker. »Er gehört aber zu der Familie, aus der Ihr eine Amme nahmt. Vielleicht erinnert Ihr Euch noch, daß Ihr Euch großmütig mit seiner Erziehung belastetet?«

»Ist dies der Knabe?« versetzte Mr. Dombey mit einem Stirnrunzeln. »Ich glaube, er macht seiner Erziehung wenig Ehre.«

»Ich fürchte, er ist ein junger Galgenvogel«, erwiderte Carker mit einem Achselzucken; »wenigstens steht er in diesem Ruf. Die Sache verhält sich übrigens so, daß ich den Burschen in meinen Dienst nahm, weil er keine andere Beschäftigung finden konnte und – ohne Zweifel wurde er zu Hause so unterrichtet – eine Art Anspruch an Euch zu haben glaubte, weshalb er denn auch Euch überall nachging, um Euch sein Anliegen vorzubringen. Zwar beschränkte sich meine Beziehung zu Euren Angelegenheiten nur auf Geschäftssachen; aber gleichwohl nehme ich aus freien Stücken Anteil an allem, was Euch angeht, so daß ich – –« er hielt inne, als wollte er erst erkunden, ob er Mr. Dombey schon weit genug geführt habe. Und abermals stützte er das Kinn auf seine Hand, um nach dem Gemälde hinzuschielen.

»Carker«, sagte Mr. Dombey, »ich weiß, Ihr beschränkt Eure – –«

»Dienstpflicht«, ergänzte der lächelnde Geschäftsführer.

»Nein; ich sage lieber Eure Anhänglichkeit –« bemerkte Mr. Dombey mit dem Bewußtsein, daß er ihm ein sehr schmeichelhaftes Kompliment mache – »nicht auf bloße Geschäftssachen. Eure Rücksicht auf meine Gefühle, meine Hoffnungen und getäuschten Erwartungen in dem kleinen Beispiel, das Ihr eben erwähntet, ist mir ein Beweis dafür. Ich bin Euch verbunden, Carker.«

Mr. Carker verbeugte sich langsam und rieb sehr sanft seine Hände, als fürchte er, durch jede andere Gebärde den Strom von Mr. Dombeys Vertrauen zu stören.

»Eure Hindeutung darauf kommt ganz gelegen«, fuhr Mr. Dombey nach kurzem Zaudern fort, »denn sie bahnt das an, was ich Euch sagen möchte, und erinnert mich daran, daß nicht unbedingt neue Beziehungen zwischen uns erwachsen, obschon meinerseits mehr persönliches Vertrauen ins Spiel kommen dürfte, als bisher – –«

»Mir in so auszeichnender Weise zuteil wurde«, ergänzte Carker mit einer abermaligen Verbeugung. »Ich will Euch nicht sagen, wie geehrt ich mich fühle, denn ein Mann, wie Ihr, weiß wohl, daß es in seiner Macht steht, beliebig Ehre zu vergeben.«

»Wir beide, Mrs. Dombey und ich«, fuhr Mr. Dombey fort, dieses Kompliment mit majestätischer Selbstverleugnung übergehend, »sind über manche Punkte nicht ganz einig. Es scheint, als ob wir uns gegenseitig noch nicht verstehen. Mrs. Dombey hat noch etwas zu lernen.«

»Mrs. Dombey ist mit vielen, seltenen, schönen Eigenschaften beglückt und ohne Zweifel sehr an Schmeichelei gewöhnt«, sagte der glatte, geschmeidige Geschäftsführer, der jeden Blick, jeden Ton seines Herrn aufs sorgfältigste beobachtete. »Aber wo Liebe, Pflichtgefühl und Achtung herrscht, werden kleine Mißverständnisse, die aus solchen Ursachen hervorgehen, bald ausgeglichen sein.«

Mr. Dombey dachte unwillkürlich an das Gesicht, das in dem Salon seiner Gattin ihn angeblickt, und an die gebieterische Hand, die nach der Tür hingewiesen hatte. Bei der Erinnerung an die Liebe, das Pflichtgefühl und die Achtung, welche sich hierin ausgesprochen, fühlte er, wie ihm das Blut in die Wangen schoß, ebenso deutlich, als es das beobachtende Auge ihm gegenüber sah.

»Ich hatte mit Mrs. Dombey«, fuhr er fort, »vor Mrs. Skewtons Tod einen kleinen Wortwechsel über die Gründe meiner Unzufriedenheit, von denen Ihr Euch eine allgemeine Vorstellung gebildet haben werdet aus der Szene, die in Eurer Gegenwart zwischen Mrs. Dombey und mir in unserm – in meinem Hause stattfand.«

»Ich bedauerte recht sehr, Zeuge sein zu müssen«, sagte der lächelnde Carker. »So sehr ein Mann in meiner Stellung notwendig auf Euer Vertrauen stolz sein muß – zwar darf ich es Euch nicht hoch anrechnen, da Ihr alles tun könnt, ohne Euch etwas zu vergeben – und so geehrt ich mich fühlte, als Ihr mich Mrs. Dombey vorstelltet, ehe sie sich noch der Auszeichnung erfreute, Euren Namen zu tragen, muß ich Euch doch die Versicherung geben, daß ich an jenem Abend fast bedauerte, der Gegenstand einer so ganz besonderen Gunst zu sein.«

Daß jemand unter was immer für Umständen bedauern konnte, durch Herablassung und Gönnerschaft ausgezeichnet zu werden, war für Mr. Dombey ein moralisches Wunder, das er nicht begreifen konnte. Er antwortete daher mit beträchtlicher Steigerung seiner Würde: »Wirklich? Und warum?«

»Ich fürchte«, versetzte der Geschäftsführer, »daß Mrs. Dombey, die mir nie sehr geneigt war – ein Mann in meiner Stellung konnte dies auch nicht erwarten von einer Dame, die von Natur aus so stolz ist und der ihr Stolz so gut steht – mir meine unschuldige Beteiligung an jenem Gespräch nicht leicht vergeben werde. Ihr müßt bedenken, daß Euer Mißfallen nichts Geringes ist, und es vor einer dritten Person fühlen zu müssen – –«

»Carker«, sagte Mr. Dombey in anmaßendem Tone, »ich denke doch, daß mir die erste Rücksicht gebührt.«

»O! Kann hierüber ein Zweifel obwalten?« entgegnete der andere mit der Ungeduld eines Mannes, der eine bekannte unumstößliche Tatsache einräumt.

»Ich meine, wenn wir beide in Frage kommen, so nimmt Mrs. Dombey eine untergeordnete Stellung ein«, fuhr Mr. Dombey fort. »Ist’s nicht so?«

»Ob es so ist?« erwiderte Carker. »Weiß jemand besser, als Ihr, daß hierüber keine Frage nötig ist?«

»Dann hoffe ich, Carker«, sagte Mr. Dombey, »daß Euer Bedauern über das Mißfallen der Mrs. Dombey fast aufgewogen werden dürfte durch das Bewußtsein, mein Vertrauen und meine gute Meinung gewonnen zu haben.«

»Ich habe also das Unglück gehabt«, entgegnete Carker, »dieses Mißfallen auf mich zu laden. Hat sich Mrs. Dombey so gegen Euch geäußert?«

»Mrs. Dombey hat allerlei Ansichten, über die ich nicht mit ihr einverstanden bin«, sagte Mr. Dombey mit majestätischer Kälte und Gleichgültigkeit, »und ich bin nicht geneigt, mich darauf einzulassen, oder sie mir wieder ins Gedächtnis zu rufen. Wie ich Euch bereits mitteilte, habe ich gegen Mrs. Dombey erklärt, daß ich auf gewissen Punkten häuslicher Ehrerbietung und Unterwürfigkeit notwendig bestehen müsse. Es ist mir nicht gelungen, sie zu überzeugen, es sei ebensowohl für ihren Frieden und ihre Wohlfahrt, als für meine Würde zweckdienlich, daß sie unverweilt in solchen Beziehungen ihr Benehmen ändere, weshalb ich ihr bedeutete, wenn ich es nötig finde, ihr wieder Vorstellungen zu machen, so werde ich ihr meine Ansicht durch Euch, meine vertraute Mittelsperson, zugehen lassen.«

In den Blick, den Mr. Carker auf ihn heftete, mischte sich ein teuflisches Schielen nach dem Gemälde an der Wand, das wie ein Blitz danach hinzuckte.

»Ich nehme keinen Anstand, Carker«, fuhr Mr. Dombey fort, »Euch zu sagen, daß ich meinen Entschluß durchzuführen beabsichtige. Ich lasse nicht mit mir spielen. Mrs. Dombey muß belehrt werden, daß mein Wille Gesetz ist, und daß ich von dieser ganzen Regel meines Lebens keine Ausnahme gestatten kann. Ihr werdet die Güte haben, Euch dieser Aufgabe zu unterziehen; ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen einzuwenden, da sie von mir ausgeht, wie sehr Ihr es auch aus Höflichkeit gegen Mrs. Dombey bedauern mögt – ein Bedauern, für das ich Euch in ihrem Namen danke. Auch bin ich überzeugt, Ihr werdet sie so pünktlich wie jeden andern Auftrag erfüllen.«

»Ihr wißt«, sagte Mr. Carker, »daß Ihr mir nur zu befehlen braucht.«

»Ich weiß«, entgegnete Mr. Dombey mit majestätischer Zustimmung, »daß ich Euch nur zu befehlen brauche. Es ist nötig, daß ich durchgreifend verfahre. Mrs. Dombey ist eine Dame, die ohne Zweifel in vielfacher Beziehung hohe Eigenschaften besitzt, so daß sie – –«

»Sogar Eurer Wahl Ehre macht«, ergänzte Carker mit schmeichelnder Schaustellung seiner Zähne.

»Meinetwegen, wenn Ihr die Worte so gestellt wissen wollt«, sagte Mr. Dombey in seinem vornehmen Tone, »obschon ich für den Augenblick nicht bemerke, daß Mrs. Dombey diese Ehre in der gebührenden Weise zu schätzen weiß. Sie besitzt einen Widerspruchsgeist, der ausgerottet und bewältigt werden muß. Mrs. Dombey scheint nicht zu begreifen«, fügte er mit Nachdruck hinzu, »daß schon der Gedanke eines Widerstandes gegen mich ungeheuerlich und abgeschmackt ist.«

»Wir in der City kennen Euch besser«, versetzte Carker mit einem Lächeln von Ohr zu Ohr.

»Ihr kennt mich besser«, sagte Mr. Dombey. »Ich hoffe es. Gleichwohl muß ich Mrs. Dombey die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß meine Ermahnung, wie wenig dies sich auch mit ihrem späteren, sich stets gleich bleibenden Benehmen zu vertragen scheint, einen sehr mächtigen Eindruck auf sie machte, als ich ihr bei der erwähnten Gelegenheit mit etwas Strenge erklärte, daß ich nicht mit ihr zufrieden sein könne und deshalb entschieden gegen sie auftreten müsse.« Mr. Dombey entledigte sich dieser Worte mit einer ungemein wichtigtuenden Stattlichkeit. »Ich wünsche nunmehr, Carker, Ihr möget die Güte haben, Mrs. Dombey von mir aus mitzuteilen, daß ich ihr das frühere Gespräch ins Gedächtnis rufen wolle, und daß ich erstaunt sei, noch keine Wirkung desselben wahrzunehmen. Ich müsse darauf bestehen, daß sie ihr Benehmen nach den Einschärfungen regle, die sie aus jenem Gespräche kennt. Ich sei nicht zufrieden mit ihrem Betragen – ja sogar sehr unzufrieden, und werde mich in die unangenehme Notwendigkeit versetzt sehen, Euch zum Überbringer noch unwillkommenerer und bestimmterer Erklärungen zu machen, wenn ihr Verstand und ihr richtiges Gefühl sie nicht bewege, sich meinen Wünschen anzubequemen, wie dies bei der ersten Mrs. Dombey der Fall war, und – ich glaube, wohl hinzufügen zu dürfen – auch bei jeder andern Dame an ihrer Stelle der Fall sein würde.«

»Die erste Mrs. Dombey lebte sehr glücklich«, bemerkte Mr. Carker.

»Die erste Mrs. Dombey war verständig«, versetzte Mr. Dombey mit gentlemanischer Toleranz gegen die Tote, »und besaß ein sehr richtiges Gefühl.«

»Glaubt Ihr wohl, daß Miß Dombey ihrer Mutter gleiche?« fragte Carker.

Mr. Dombeys Gesicht veränderte sich schnell und wurde düster. Die vertraute Mittelsperson faßte es scharf ins Auge.

»Ich habe einen schmerzlichen Gegenstand berührt«, sagte er im sanften Tone des Bedauerns, der sich mit dem spähenden Blick schlecht vertrug, »und bitte daher um Verzeihung. In meiner Teilnahme übersah ich das Verbindungsglied zwischen Tochter und Mutter. Verzeiht mir.«

Ungeachtet dieser Worte blieb der Spürblick unverwandt auf Mr. Dombeys gesenktem Antlitz haften und blitzte dann in seltsamem Triumph nach dem Gemälde hin, als fordere er dasselbe auf, Zeuge zu sein, wie er seinen Prinzipal vorwärtsführe und was noch kommen werde.

»Carker«, sagte Mr. Dombey, der zuweilen auf den Tisch niederschaute, während er mit etwas veränderter, hastigerer Stimme und mit blasseren Lippen sprach, »es ist kein Grund zu einer Entschuldigung vorhanden. Ihr seid im Irrtum. Euer vermeintliches Bindeglied hat es mit der Gegenwart, nicht aber mit irgendeiner Erinnerung zu schaffen. Mrs. Dombeys Benehmen gegen meine Tochter gefällt mir nicht.«

»Verzeiht mir«, sagte Mr. Carker; »ich verstehe Euch nicht ganz.«

»Ich meine«, erwiderte Mr. Dombey, »daß Ihr Mrs. Dombey diesen Punkt von mir aus vorhalten möget. Ihr werdet die Güte haben, es zu tun – werdet ihr sagen, daß die Art, wie sie sich gegen meine Tochter anstellt, mir unangenehm ist. Sie fällt auf und könnte den Leuten Anlaß geben, Mrs. Dombey in ihrer Beziehung zu meiner Tochter mit Mrs. Dombey in ihrer Beziehung zu mir gegeneinander zu stellen. Ihr werdet so gefällig sein, Mrs. Dombey einfach wissen zu lassen, daß ich Einspruch dagegen erhebe, und daß ich von ihr erwarte, sie werde meinen Wünschen unverweilt Folge geben. Ob es Mrs. Dombey ernst sei, ob sie nur eine Grille verfolge, oder ob sie es im Widerspruch gegen mich tue, in jedem von diesen Fällen ist mir ihr Benehmen unangenehm. Wenn meine Gattin nach der ihr zustehenden Unterwürfigkeit gegen mich noch überflüssige Zärtlichkeit und Pflichten zu haben meint, so mag sie meinetwegen über dieselben verfügen, wo es ihr gut dünkt; aber zuerst will ich Unterwerfung haben! – Carker«, fügte Mr. Dombey hinzu, indem er der ungewöhnlichen Erregung, mit der er gesprochen, Einhalt tat und in einen Ton überging, der mehr mit der gewohnten Behauptung seiner Größe im Einklang stand, »Ihr werdet so gefällig sein, diesen Punkt nicht zu versäumen oder leicht darüber hinzugehen, denn ich wünsche, daß Ihr ihn als einen sehr wichtigen Teil Eures Auftrags betrachtet.«

Mr. Carker beugte den Kopf, stand von dem Tisch auf, trat, gedankenvoll die Hand an sein glattes Kinn gelegt, vor das Feuer und blickte mit der arglistigen Schlauheit eines antiken Schnitzwerks, in welchem sich halb ein menschlicher, halb ein tierischer Charakter ausdrückt, oder gleich dem lauernden Gesicht an einem alten Springbrunnen auf Mr. Dombey nieder. Letzterer, der allmählich seine Fassung wieder gewann, oder dessen Erregung in dem Bewußtsein seiner hohen Stellung nachließ, warf sich aufs neue in seine steife Haltung und schaute nach dem Papagei hin, der in dem großen Trauring seine Purzelbäume machte.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Carker, der nach einer Pause plötzlich seinen Stuhl wieder einnahm und sich Mr. Dombey gegenüber setzte, »aber ich wünsche weitere Belehrung. Ist Mrs. Dombey davon unterrichtet, daß Ihr mich möglicherweise zum Organ Eures Mißfallens machen könntet?«

»Ja«, versetzte Mr. Dombey. »Sie weiß es.«

»Ja«, erwiderte Carker hastig; »aber wie?«

»Wie?« entgegnete Mr. Dombey nicht ohne Zögern. »Weil ich es ihr gesagt habe.«

»So?« versetzte Carter. »Aber warum habt Ihr es ihr gesagt? Ihr seht«, fuhr er mit einem Lächeln fort, indem er seine Samthand gleich einer Katze, die ihre Klauen eingezogen hat, sanft auf Mr. Dombeys Arm legte, »wenn ich vollkommen Eure Gesinnung weiß, so kann ich Euch nur um so nützlicher sein und desto wirksamer dienen. Ich glaube zwar, daß ich Euch verstehe. Ich habe nicht die Ehre, bei Mrs. Dombey in Gunst zu stehen, und kann es in meiner Stellung auch nicht erwarten. Dies muß ich wohl als Tatsache voraussetzen?«

»Ich glaube es«, sagte Mr. Dombey.

»Wenn Ihr also Mrs. Dombey derartige Mitteilungen durch mich machen laßt«, fuhr Carker fort, »so werden sie dieser Dame besonders unangenehm sein?«

»Es dünkt mich«, sagte Mr. Dombey mit stolzer Zurückhaltung, aber doch mit einiger Verlegenheit, »daß Mrs. Dombeys Ansichten über den Gegenstand keinen Einfluß auf den Gesichtspunkt ausüben, in dem er sich Euch und mir darstellt, Carker. Ihr mögt recht haben.«

»Und – verzeiht mir – verstehe ich Euch recht«, entgegnete Carker, »wenn ich annehme, Ihr glaubet hierin das beste Mittel gefunden zu haben, Mrs. Dombeys Stolz – ich bediene mich dieses Wortes, da es eine Eigenschaft bezeichnet, die, in den gebührenden Schranken gehalten, einer durch Schönheit und Talente so ausgezeichneten Dame nur zum Schmuck und zur Zierde gereichen kann – zu demütigen, ich will nicht sagen, sie zu strafen, sondern sie zur Unterwerfung zu bringen, auf die Ihr natürlich so gerechte Ansprüche habt?«

»Ihr wißt, Carker«, sagte Mr. Dombey, »ich bin gewohnt, für die Schritte, die mir als passend erscheinen, ausführliche Gründe anzugeben; indes will ich Euch hierin nicht widersprechen. Etwas anders ist es, wenn Ihr Einwendungen dagegen zu machen habt, und dann reicht Eure bloße Erklärung vollkommen zu. Ich gestehe übrigens, daß ich nicht geglaubt hatte, mein Vertrauen könne Euch möglicherweise herabwürdigen –«

»O! mich herabwürdigen!« rief Carter. »In Eurem Dienst!«

»Oder in eine falsche Stellung bringen«, fuhr Mr. Dombey fort.

»Ich in einer falschen Stellung!« rief Carker. »Ich werde stolz darauf sein – es macht mir Freude, wenn ich Euer Vertrauen rechtfertigen kann. Zwar hätte ich gewünscht, der Dame, zu deren Füßen ich gern meine bescheidene Huldigung niederlegen würde – denn ist sie nicht Eure Gattin? – keinen neuen Anlaß zur Abneigung geben zu müssen; aber vor Euren Wünschen treten natürlich alle andern weltlichen Rücksichten in den Hintergrund. Außerdem, wenn Mrs. Dombey von solchen kleinen Verirrungen ihres Urteils abgekommen ist, die ohne Zweifel nur die Folge der Neuheit ihrer Stellung sind, so wird sie hoffentlich in meiner geringen Beteiligung nur einen Gran – mein so weit unten stehender Wirkungskreis gibt für wenig mehr Raum – meiner Achtung für Euch erkennen und alle Rücksichten Euch unterordnen, indem es ihr dann eine Lust und ein heiliges Vorrecht sein wird, Euch jeden Tag Opfer zu bringen.«

Mr. Dombey schien in diesem Augenblick wieder die nach der Tür deutende Hand zu sehen und durch die milde Rede seiner vertrauten Mittelsperson ein Echo der Worte zu vernehmen: »Nichts kann uns fremder machen, als wir fortan gegeneinander sein werden!« Er schüttelte jedoch diese Vorstellung, die seinen Entschluß nicht wankend machen konnte, ab und sagte:

»Ja, ohne Zweifel.«

»Habt Ihr nichts weiter zu bemerken?« fragte Carker, der seinen Stuhl wieder an den alten Platz rückte – sie hatten bis jetzt noch wenig von dem Frühstück genossen – und auf Antwort harrend stehenblieb, ehe er sich niedersetzte.

»Nichts, als dies«, sagte Mr. Dombey. »Ihr werdet ihr gefälligst bemerken, Carker, daß keine Weisung, mit der Ihr möglicherweise an Mrs. Dombey betraut seid, eine Erwiderung zuläßt. Habt daher die Güte, mir keine Antwort mitzuteilen. Mrs. Dombey weiß, daß es sich nicht mit meiner Würde verträgt, über obwaltende Meinungsverschiedenheiten zu verhandeln und in Erörterungen einzugehen. Was ich ihr sagen lasse, ist maßgebend.«

Mr. Carter deutete durch ein Zeichen an, daß er mit dieser Vollmacht einverstanden sei, und sie beendigten nun mit gutem Appetit ihr Frühstück. Zuletzt erschien auch der Schleifer wieder, der von seinem Gebieter kein Auge verwandte und in einer steten Verzückung ehrfurchtsvollen Schreckens war. Mr. Dombeys Pferd wurde vorgeführt; auch Mr. Carker bestieg das seine, und sie ritten gemeinschaftlich der City zu.

Mr. Carker war sehr aufgeräumt und sprach viel. Mr. Dombey hörte mit der hohen Miene eines Mannes zu, der ein Recht hat, unterhalten zu werden, und ließ sich gelegentlich herab, einige Worte einzuflechten. So ritten sie charakteristisch genug weiter. Mr. Dombey in seiner Würde hatte sehr lange Steigbügel, sehr lose Zügel und ließ sich selten herab, nach dem Weg hinunterzuschauen, den sein Pferd nahm. Daher fügte es sich, daß letzteres beim Wenden um eine Ecke über einen Steinhaufen strauchelte, seinen Reiter abwarf, über denselben hinstürzte und im Ringen, sich wieder zu erheben, ihn mit seinem Hufe verletzte.

Raschen Blicks und mit sicherer Hand hatte sich Mr. Carker, der ein guter Reiter war, schnell von seinem Pferde geworfen, das gestürzte Tier beim Zügel gefaßt und es im Nu wieder aufgerichtet. Weniger Eile von seiner Seite, und Mr. Dombey würde ihm an diesem Morgen wohl zum letzten Male sein Vertrauen geschenkt haben. Das Rot der Anstrengung lag noch auf seinem Gesicht, als er sich über seinen Prinzipal mit einer Schaustellung aller seiner Zähne niederbeugte und murmelnd zu sich selber sagte: »Jetzt habe ich Mrs. Dombey einen guten Grund zum Unwillen gegeben, wenn sie es erfährt.«

Mr. Dombey lag besinnungslos da, und das Blut strömte ihm über das Gesicht. Einige Arbeiter brachten ihn Carkers Weisung gemäß nach einem nahe gelegenen Wirtshaus, wo sich bald eine Anzahl Wundärzte um ihn sammelte, die rasch von allen Seiten herströmten und von dem geheimnisvollen Instinkte beseelt zu sein schienen, wie der Geier lehrt, sich um ein in der Wüste gefallenes Kamel zu scharen. Nachdem Mr. Dombey mit Mühe wieder zum Bewußtsein gebracht war, untersuchten diese Gentlemen die Beschaffenheit seiner Verletzungen. Der eine Wundarzt, der in der Nachbarschaft wohnte, erklärte sich für einen komplizierten Beinbruch – eine Ansicht, der auch die Wirtin beipflichtete; aber zwei andere Chirurgen aus größerer Entfernung, die nur zufällig in diese Gegend gekommen waren, bestritten diese Meinung so uneigennützig, daß endlich die Entscheidung erfolgte, der Patient habe zwar schwere Quetschungen erlitten, aber mit Ausnahme einer kleineren Rippe oder so keinen Knochenbruch erlitten, könne folglich unter Anwendung großer Vorsicht wohl vor Abend nach Hause geschafft werden. Die Anlegung der Verbände brauchte lange Zeit, und als endlich Mr. Dombey der Ruhe überlassen wurde, stieg Mr. Carker wieder auf sein Pferd, um zu Hause die Kunde von dem Unfall zu melden.

So verschmitzt und grausam sein Gesicht auch zur besten Zeit war, – allerdings ein in Form und Regelmäßigkeit der Züge hinreichend schönes Gesicht – nahm es sich doch ganz besonders schlimm aus, als er diese Botschaft antrat. Angefeuert von der List und Grausamkeit seiner inneren Gedanken, bewogen ihn eher die unbestimmten Hinblicke auf eine ferne Möglichkeit, als klare Absichten und Pläne, zu reiten, als habe er Männer und Weiber zu hetzen. Erst als er in die besuchteren Straßen kam, hielt er die Zügel an und mäßigte seine Eile, indem er sein weißbeiniges Tier wieder die reinlichsten Wege aufsuchen ließ und sich selbst sowohl, als sein Elfenbeinlächeln so gut wie möglich unter seinem glatten, geschmeidigen, lauernden Wesen verbarg.

Er ritt geraden Weges auf Mr. Dombeys Haus zu, stieg vor der Tür ab und bat um die Erlaubnis, Mrs. Dombey wegen einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen. Der Diener, der ihn nach Mr. Dombeys Zimmer wies, kehrte bald mit der Meldung zurück, Mrs. Dombey nehme um diese Zeit keine Besuche an; er müsse um Verzeihung bitten, daß er dies nicht gleich anfänglich erwähnt habe.

Mr. Carker, der auf einen kalten Empfang vollkommen vorbereitet war, schrieb auf eine Karte, daß er sich die Freiheit nehmen müsse, dringlichst um Gehör zu bitten; er würde sich nicht erdreisten, dies zum zweiten Male zu tun (die mit gesperrter Schrift gedruckten Worte waren unterstrichen), wenn er nicht überzeugt wäre, daß der Anlaß dazu ihn vollkommen rechtfertigen werde. Nach einigem Zögern erschien Mrs. Dombeys Mädchen und führte ihn nach einem Zimmer hinauf, in welchem sich Edith und Florence befanden.

Er hatte sich Edith früher nie halb so schön gedacht. Wie sehr er auch die frisch in seiner sinnlichen Erinnerung lebende Anmut ihres Gesichts und ihrer Gestalt bewunderte, hatte er sich sie dennoch nie halb so schön vorgestellt.

Ihr stolzer Blick fiel schon an der Schwelle auf ihn; aber er richtete den seinen – obschon nur unter Begleitung einer Kopfverbeugung beim Eintritt – mit einem ununterdrückbaren Ausdruck der neuen Gewalt, die ihm gegeben war, auf Florence. Es war ein Triumph für ihn, zu bemerken, daß jener Blick unsicher wurde, und daß Edith sich halb erhob, um ihn zu empfangen.

Er bedauerte sehr – es tat ihm ungemein leid – er konnte gar nicht sagen, welche schmerzliche Aufgabe es für ihn war, sie auf die Kunde von einem kleinen Unfall vorzubereiten. Er bat Mrs. Dombey, sich zu fassen. Auf sein heiliges Ehrenwort, es sei kein Grund zur Unruhe vorhanden. Aber Mr. Dombey – –

Florence stieß einen plötzlichen Schrei aus. Er sah nicht nach ihr hin, sondern nach Edith. Sie stieß keinen Schreckensruf aus. Nein, nein.

Mr. Dombey war beim Reiten ein Unfall zugestoßen. Sein Pferd hatte gestrauchelt und ihn abgeworfen.

»Ach, er ist schwer verwundet – wohl gar tot!« rief Florence außer sich.

Nein. Bei seinem Ehrenwort, obschon anfangs betäubt – war doch Mr. Dombey bald wieder zur Besinnung gekommen, und wenn er auch verletzt worden, so konnte doch von Gefahr durchaus nicht die Rede sein. Verhielte es sich nicht vollkommen so, so würde er, der bestürzte Aufdringling, nun und nimmermehr den Mut gehabt haben, sich Mrs. Dombey vorzustellen. Was er mitgeteilt, war, wie er feierlich versicherte, die vollkommene Wahrheit.

Alles dies sprach er nicht zu Florence, sondern zu Edith, auf der fortwährend sein Lächeln und seine Blicke hafteten.

Dann fuhr er fort, zu berichten, wo Mr. Dombey liege, und bat, ihm einen Wagen zur Verfügung zu stellen, damit er den Leidenden nach Hause bringen könne.

»Mama«, stotterte Florence in Tränen, »darf ich es wohl wagen, mitzugehen?«

Mr. Carker sah, als er diese Worte hörte, Edith an, warf ihr im geheimen einen bedeutungsvollen Blick zu und schüttelte leicht den Kopf. Es entging ihm nicht, welchen Kampf es sie kostete, ehe sie ihm mit ihren schönen Augen Antwort gab; aber er erzwang sie – zeigte ihr, daß er sie haben müsse, wenn er nicht selbst mit Florence sprechen und ihr Herz aufs tiefste verletzen sollte – und sie antwortete. Wie er am Morgen das Gemälde angeblickt hatte, so sah er jetzt nach ihr hin, als sie ihre Augen wieder abwandte. »Ich bin mit dem Ersuchen beauftragt«, sagte er, »daß die neue Haushälterin – Mrs. Pipchin, glaube ich, ist ihr Name –«

Nichts entging ihm. Er sah im Nu, daß dies ein neuer Schimpf war, den Mr. Dombey seiner Gattin zufügen wollte.

»– – Mr. Dombeys Wunsch gemäß die Weisung erhalte, seine Zimmer unten herzurichten, da er dieselben allen übrigen vorzieht. Ich kehre sogleich wieder zu Mr. Dombey zurück. Es bedarf wohl kaum der Versicherung, Madame, daß für seine Bequemlichkeit bestmöglichst Sorge getragen und er aufs angelegentlichste verpflegt wird. Erlaubt mir wiederholt die Bemerkung, daß nicht der mindeste Grund zur Besorgnis vorhanden ist. Glaubt mir, sogar Ihr könnt völlig beruhigt sein.«

Er verließ unter Bücklingen und mit Kundgebung der größten Ehrerbietigkeit das Gemach, kehrte nach Mr. Dombeys Zimmer zurück, erteilte Auftrag, ihm einen Wagen in die City nachzuschicken, und bestieg dann aufs neue sein Pferd, um langsam weiterzureiten. Unterwegs sowohl, als in der City und in dem Wagen, der ihn nach dem Wirtshaus führen sollte, wo Mr. Dombey zurückgeblieben, gab er sich tiefen Gedanken hin, so daß er erst an dem Bett seines Prinzipals wieder der wahre Carker und seiner Zähne bewußt wurde.

Um die Zeit der Dämmerung half man dem von Schmerzen schwer heimgesuchten Mr. Dombey in den Wagen und bereitete ihm mit Mänteln und Kissen ein geeignetes Lager, wahrend die vertraute Mittelsperson auf dem Vordersitz ihrem Gebieter Gesellschaft leistete. Da der Leidende nicht gerüttelt werden durfte, so kamen sie nur langsam weiter, und es war bereits völlig dunkel, als sie Mr. Dombeys Wohnung erreichten. Bitter, grimmig und – das ganze Hauswesen konnte aus Erfahrung davon reden – stets der peruvianischen Mine eingedenk, nahm Mrs. Pipchin den Patienten an der Tür in Empfang und belebte die Dienstboten mit einigem Sprenkeln von dem Essig ihrer Worte, als diese ihr den Herrn nach seinem Zimmer schaffen halfen. Mr. Carker blieb, bis sich der Leidende wohlbehalten im Bett befand, und machte dann, da letzterer sich alle weiblichen Besuche, den der Werwölfin ausgenommen, verbat, Mrs. Dombey noch einmal seine Aufwartung, um ihr über den Zustand ihres Gemahls Bericht zu erstatten.

Edith war wieder mit Florence allein, und er richtete abermals die Flut seiner beschwichtigenden Worte ausschließlich an erstere, als sei sie eine Beute der liebevollsten, peinlichsten Besorgnis. Ja er wurde in seiner achtungsvollen Teilnahme so dringend, daß er – mit einem weiteren Blick nach Florence hin – sich erdreistete, ihre Hand zu ergreifen, sich darüber hinzubeugen und sie mit seinen Lippen zu berühren.

Edith zog weder die Hand zurück, noch schlug sie ihm dieselbe in sein schönes Gesicht, obschon ihre Wange erglühte, ihre Augen blitzten und ihre Brust sich erweiterte. Aber als sie allein in ihrem Zimmer war, schlug sie diese Hand mit einer Gewalt, daß sie beim ersten Streiche blutete, gegen den marmornen Kaminsims und hielt sie in die Nähe des hellen Feuers, wie wenn sie sich dieses Glied abreißen und es verbrennen möchte.

Bis weit in die Nacht hinein saß sie in düsterer, drohender Schönheit allein vor der schwindenden Flamme, die schwarzen Schatten beobachtend, die ihre Gedanken, die Körper zu gewinnen schienen, an die Wand warfen. Was immer für Gestalten von Schimpf und Kränkung – was immer für dunkle Ahnungen der Dinge, die da kommen mußten, unbestimmt und riesenartig, vor ihr aufzuckten, stets stand an ihrer Spitze ein einziger rachsüchtiger Schatten. Es war der Schatten ihres Mannes.

Dreiundvierzigstes Kapitel.


Dreiundvierzigstes Kapitel.

Nachtwachen

Florence, seitdem längst aus ihrem Traume erwacht, bemerkte mit Wehmut die Entfremdung, die zwischen ihrem Vater und Edith stattfand und mit jedem Tage weiter und bitterer wurde. Der Schatten, der auf ihrem Lieben und Hoffen lag, wurde immer tiefer, und der alte Schmerz, der eine kleine Weile geschlummert hatte, lastete schwerer als je auf ihr.

Es war hart – wie hart, konnte niemand besser wissen als Florence –, die natürliche Zuneigung eines treuen, warmen Herzens in Kummer umwandeln und statt zärtlichen Schutzes und liebevoller Sorgfalt nur Hintansetzung und düstere Zurückweisung finden zu müssen. Wie schwer, in tiefster Seele ihre Gefühle zu tragen und nie das Glück auch nur einer leichten Erwiderung zu empfinden! Aber noch viel schlimmer war es, entweder an ihrem Vater oder an Edith, die ihr beide so teuer waren, zweifeln und an ihre Liebe zu dem einen oder der andern abwechselnd nur mit Scheu denken zu müssen.

Und doch kam es bei Florence allmählich so weit; es war eine Aufgabe, die ihr sogar von der Reinheit ihrer Seele auferlegt wurde und der sie nicht ausweichen konnte. Sie sah, daß ihr Vater gegen Edith ebenso kalt und starrsinnig, so hart und unbeugsam war, wie gegen sie selbst. War es möglich, fragte sie sich mit hervorquellenden Tränen, daß ihre eigene teure Mutter durch solche Behandlung unglücklich geworden – daß der Gram ihren frühen Tod herbeigeführt hatte? Dann dachte sie daran, wie vornehm und stolz sich Edith gegen jedermann benahm, nur gegen sie nicht – mit welcher Geringschätzung sie ihren Vater behandelte –, wie sie sich so fern von ihm hielt, und was sie ihr am Abend ihrer Ankunft im Hause gesagt hatte. In solchen Augenblicken kam es Florence fast als ein Verbrechen vor, daß sie jemand lieben konnte, der ihrem Vater so schroff gegenüberstand, und daß dieser, wenn er es wußte, sie in seinem einsamen Gemach für eine unnatürliche Tochter halten mußte, die zu dem alten, so viel beweinten Fehler, von Geburt an nie die väterliche Liebe gewinnen zu können, auch dieses neue Unrecht hinzufügte. Aber das nächste freundliche Wort, der nächste freundliche Blick von Edith erschütterte diese Gedanken wieder und ließ sie ihr im Lichte schwarzen Undanks erscheinen; denn wer, als die neue Mutter, hatte ihr tief verwundetes, vergehendes Herz aufgerichtet und war ihre beste Trösterin gewesen? So in ihrem edlen Wesen gegen beide hingezogen, ihr Elend fühlend und im steten Zweifel, ob sie ihre Pflicht gegen sie erfülle, legten Florence ihre umfassendere Liebe und Ediths Nähe eine weit schwerere Last auf, als sie getragen hatte, während sie noch ihr Geheimnis ungeteilt in dem traurigen Hause bewahrte und ehe ihre schöne Mama ein Dämmerlicht darauf geworfen hatte.

Ein großes Unglück, das dieses bei weitem überwogen haben würde, blieb Florence erspart. Sie hatte nie die mindeste Ahnung davon, daß Edith durch ihre Liebe zu ihr die Kluft zwischen ihrem Vater nur erweiterte und ihm neuen Grund zur Abneigung gab. Wie schmerzhaft hätte ihr der bloße Gedanke an eine solche Möglichkeit fallen müssen, welche Opfer würde nicht das arme, liebevolle Mädchen zu bringen versucht haben, und der Himmel weiß, wie schnell und sicher unter einer solchen Last ihr stiller Hingang zu jenem höheren Vater gewesen wäre, der die Liebe seiner Kinder nicht verschmäht und schwer geprüfte, gebrochene Herzen nicht zurückweist! Es war gut, daß ein solcher Argwohn nie in ihr auftauchte.

Zwischen Florence und Edith wurde nie ein Wort über diese Dinge gesprochen. Letztere hatte erklärt, daß sie sich hierin nie einigen könnten – daß ein Grabesschweigen darüber herrschen müsse, und Florence fühlte, daß sie recht hatte.

So standen die Dinge, als ihr Vater leidend und kaum der Bewegung fähig nach Hause gebracht wurde; er hatte sich düster in seine eigenen Zimmer zurückgezogen, wo Dienstboten seiner warteten, ohne daß ihm Edith nahe kam, und kein Freund oder Gesellschafter ihm zur Seite stand als Mr. Carker, der gegen Mitternacht das Haus verließ.

»Und was er für eine saubere Gesellschaft ist. Miß Floy«, sagte Susanna Nipper. »O, er ist ein köstliches Stück Ware. Wenn er je ein Zeugnis braucht, so soll er nur nicht zu mir kommen, dies möge er sich gesagt sein lassen.«

»Liebe Susanna, sprich nicht so«, entgegnete Florence.

»O, Ihr könnt gut sagen, ›sprich nicht so‹, Miß Floy«, erwiderte die Nipper in großer Gereiztheit; »aber mit Erlaubnis, wir kommen in der Tat in eine solche Enge, daß es einem alles Blut in Steck- und Nähnadeln umwandelt, die überall mit ihren Spitzen stechen. Mißversteht mich nicht, Miß Floy, ich will nichts gegen Eure Stiefmama sagen, die mich immer behandelt hat, wie man es von einer Lady erwarten darf, obschon sie’s etwas hoch nimmt, wenn ich gleich mir nicht anmaßen darf, ihr in dieser Beziehung einen Vorwurf zu machen; aber wenn nun gar solche Mrs. Pipchinsen kommen, die über uns gesetzt sind und an der Tür Eures Papas wie Krokodile auf der Lauer liegen – es ist nur gut, daß sie keine Eier legen –, so hat man allen Grund, außer sich zu geraten!«

»Du weißt, Susanna«, versetzte Florence, »Papa hat eine gute Meinung von Mrs. Pipchin und auch das Recht, seine Haushälterin zu wählen. Laß das also.«

»Gut, Miß Floy«, entgegnete die Nipper, »und wenn Ihr mir dies befehlt, so hoffe ich nichts mehr und nichts weniger, Miß, als daß Mrs. Pipchin wie unreife Stachelbeeren auf mich wirken.«

Susanna war an jenem Abend – es war der, an dem Mr. Dombey nach Haus gebracht worden war – in ihrem Vortrag ungewöhnlich eifrig und nahm gar keine Rücksicht auf die Punktation; denn Florence hatte sie hinuntergeschickt, um nach ihrem Vater zu fragen, und sie war bei dieser Gelegenheit genötigt gewesen, ihren Auftrag an ihre Todfeindin Mrs. Pipchin auszurichten, die, ohne Mr. Dombey davon in Kenntnis zu setzen, eine von Miß Nipper sogenannte schnippische Antwort auf eigene Verantwortlichkeit nahm. Die Jungfer legte dies als eine große Anmaßung von seiten dieser musterhaften Märtyrerin der peruvianischen Minen und für einen Schimpf gegen ihre junge Dame aus, der nicht verziehen werden könne, und insoweit war ihre Aufregung speziell. Aber seit der Hochzeit hatte sie sich in einem Zustande unablässig sich steigernden Argwohns und Mißtrauens befunden, da sie wie die meisten Menschen ihrer Geistesrichtung, die gegen Personen von weit höherer Stellung eine lebhafte und aufrichtige Zuneigung bewahren, sehr eifersüchtig war – eine Eifersucht, die natürlich Edith galt, weil diese ihr altes Reich teilte und zwischen sie und ihre junge Gebieterin getreten war. So sehr es auch Susanna Nipper zu stolzer Freude gereichte, daß Florence aus dem Schauplatz ihrer alten Vernachlässigung an den ihr gebührenden Platz vorrückte und die schöne Gattin ihres Vaters zur Gefährtin und Beschützerin hatte, konnte sie doch nicht ohne Murren und ohne ein unbestimmtes Gefühl von Groll irgendeinen Teil ihres alten Besitzes der schönen Frau überlassen, um so weniger, da sie den Stolz und die Leidenschaftlichkeit in dem Charakter der Dame schnell erfaßt hatte und diese Eigenschaften sehr uneigennützig zu würdigen wußte. Die Heirat hatte sie notwendig etwas in den Hintergrund gedrängt, und sie blickte daher auf die häuslichen Angelegenheiten im allgemeinen mit der unerschütterlichen Überzeugung, daß bei Mrs. Dombey nichts Gutes herauskommen könne, obschon sie bei allen möglichen Gelegenheiten anzukündigen bemüht war, daß sie nichts gegen dieselbe einzuwenden habe.

»Susanna«, bemerkte Florence, die noch in tiefen Gedanken an ihrem Tisch saß, »es ist sehr spät. Ich brauche heute nichts mehr.«

»Ach, Miß Floy«, entgegnete die Nipper, »ich wünsche mir wahrhaftig oft die alten Zeiten zurück, in denen ich mit Euch noch viel länger aufblieb und vor Müdigkeit einschlief, während Ihr noch brillenhell wachtet; aber Ihr habt jetzt eine Stiefmutter, Miß Floy, die Euch Gesellschaft leistet, und ich darf ihr in der Tat dankbar sein für diese Ablösung. Ich habe nicht ein Wort dagegen einzuwenden.«

»Ich werde nie vergessen, wer meine alte Gefährtin war, als ich keine andere hatte, Susanna«, erwiderte Florence sanft.

Dabei schlang sie ihren Arm um den Nacken ihrer dienenden Freundin, zog ihr Gesicht zu sich nieder, küßte sie und wünschte ihr gute Nacht. Dies rührte Miß Nipper dermaßen, daß sie zu schluchzen anfing.

»Ich will jetzt wieder hinuntergehen, meine teure Miß Floy«, sagte Susanna, »und sehen, was Euer Vater macht, denn ich weiß, Ihr grämt Euch um seinetwillen; laßt mich deshalb hinunter, damit ich selbst an seine Tür poche.«

»Nein«, sagte Florence. »Geh zu Bett. Wir werden es ja morgen hören. Ich will morgen selbst nachfragen. Ohne Zweifel ist Mama unten gewesen« – Florence errötete, da sie keiner solchen Hoffnung Raum gab – »oder vielleicht noch dort. Gute Nacht.«

Susanna war in einer zu weichen Stimmung, um über die Wahrscheinlichkeit von Mrs. Dombeys Besuch bei ihrem Gatten ihre eigene Ansicht auszudrücken, und entfernte sich schweigend. Sobald sich Florence allein sah, verbarg sie, wie sie oft in früheren Tagen getan hatte, ihr Antlitz in den Händen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Das Elend dieser häuslichen Zwietracht, die so lang gehegte, jetzt vernichtete Hoffnung – wenn man es anders eine Hoffnung nennen konnte –, je das Herz ihres Vaters zu gewinnen, ihr Zweifeln und Fürchten zwischen beiden, die Hinneigung ihres unschuldigen Herzens zu der neuen Mutter sowohl, als zu ihrem Erzeuger, der herbe Gram darüber, daß alles, was sie so verheißungsvoll vor sich gesehen, ein derartiges Ende nehmen sollte – dies waren die Betrachtungen, die sich in ihrem Geiste drängten und ihre Tränen reichlicher strömen ließen. Mutter und Bruder tot, der Vater kalt gegen sie, Edith schroff und abstoßend gegen ihn, aber doch voll Liebe gegen sie und von ihr geliebt – es schien, als ob ihre Zuneigung nie gedeihen könne, wem sie dieselbe auch zuwenden mochte. Diese vernichtende Vorstellung wurde zwar bald beseitigt; aber die Gedanken, denen sie entsprungen, waren zu zwingend und wahr, als daß sie auch dieser sich hätte entschlagen können. Sie verbrachte eine trostlose Nacht.

In ihrem Nachdenken trat stets das Bild ihres Vaters vor sie hin, der verwundet, in Schmerzen und allein in seinem Zimmer lag, die trägen Stunden in einsamer Qual verbringend, ohne daß ihn diejenigen pflegten, die ihm am nächsten stehen sollten. Der entsetzliche Gedanke, ob dem sie die Hände zusammenschlug, obschon er ihrem Geiste kein neuer war, drängte sich, ihren ganzen Körper erschütternd, ihr auf, er könnte sterben, ohne sie wiederzusehen oder ihren Namen auszusprechen. Zitternd vor Aufregung faßte sie den Entschluß, wieder die Treppe hinunterzuschleichen und sich an seine Tür zu wagen.

Sie horchte zuerst an ihrer eigenen. Im Hause herrschte die tiefste Ruhe, und alle Lichter waren ausgelöscht. Wie lange, lange her ist es, dachte sie, seit jener nächtlichen Wanderung nach seiner Tür. O wie lange – versuchte sie zu denken –, seit sie um Mitternacht in sein Zimmer getreten und er sie nach dem Fuß der Treppe zurückgeführt hatte!

Mit demselben kindlichen Gefühl wie ehedem, mit denselben schüchternen Augen und wallendem Haar schlich Florence, ihrem Vater in ihrer frühen, jungfräulichen Blüte so fremd wie in ihrer Kindheit, lauschend die Treppe hinunter und näherte sich seinem Zimmer. Niemand im Hause rührte sich. Die Tür war angelehnt, um der Luft Zutritt zu lassen, und drinnen alles so still, daß sie das Knistern des Feuers hören und die Pendelschläge der Uhr zählen konnte, die auf dem Kaminsims stand.

Sie blickte hinein. Die Haushälterin saß, von einer Decke umhüllt, in einem Armstuhl vor dem Feuer und schlief. Die Tür zwischen diesem und dem nächsten Zimmer war nicht ganz geschlossen, und ein Schirm stand davor; aber es brannte ein Licht dort, das den Rand seines Bettes erhellte. Alles war so still, daß man schon aus seinem Atem entnehmen konnte, er schlafe. Dies gab ihr den Mut, um den Schirm herumzugehen und in das Gemach hineinzusehen.

Der Anblick seines schlafenden Gesichtes machte sie so betroffen, als habe sie nicht erwartet, es zu sehen. Sie war wie an die Stelle gebannt und hätte bleiben müssen, selbst wenn er erwacht wäre.

Über seine Stirne lief eine Wunde, und man hatte sein Haar benetzt, das jetzt wirr und zusammengeklebt auf dem Kissen lag. Der eine seiner Arme lag, in einen Verband gehüllt, auf der Decke, und der Schlafende sah ungemein blaß aus. Es war jedoch nicht dies, was Florence nach dem ersten raschen Blick und der gewonnenen Überzeugung seines Schlafens an den Boden fesselte. Der feierliche Eindruck, den der Anblick auf sie machte, hatte einen ganz andern Grund.

Sie hatte in ihrem ganzen Leben sein Gesicht nie gesehen, ohne daß – wenigstens war es ihr so vorgekommen – ihre Nähe einen unangenehmen Einfluß auf dasselbe übte. Sie hatte es nie gesehen, ohne daß die Hoffnung in ihr erstarb und ihr Auge sich senkte vor seiner starren, lieblosen, abstoßenden Härte. Und als sie jetzt hinblickte, zeigte es sich ihr zum erstenmal frei von der Wolke, die es seit ihrer Kindheit umdüstert hatte. Statt ihrer lag jetzt stille, ruhige Nacht darauf. Er sah aus, als sei er schlafen gegangen mit einem Segenswunsche über seine Tochter.

Erwache, liebloser Vater! Erwache jetzt, finsterer Mann! Die Zeit entfleucht; die Stunde naht mit zornigem Tritt. Erwache!

Kein Wechsel auf seinem Gesicht! Sie blickte ängstlich hin, und die regungslose Ruhe rief ihr die Gesichter der Heimgegangenen ins Gedächtnis. So sahen sie aus, so mußte er einst aussehen, so sie, sein weinendes Kind, das sich nur nach dem Wann fragte, so die ganze umgebende Welt mit ihrer Liebe, ihrem Haß und ihrer Gleichgültigkeit! Wenn diese Zeit kam, wurde sie ihm vielleicht nicht schwerer um dessenwillen, was sie jetzt zu tun im Begriffe war, ihr aber sicherlich leichter.

Mit verhaltenem Atem schlich sie an sein Bett, beugte sich über ihn und gab seinem Gesicht einen leichten Kuß; dann legte sie ihr Köpfchen für eine kurze Weile an seine Seite und schlang den Arm, mit dem sie ihn nicht zu berühren wagte, um das Kissen, auf dem er ruhte.

Erwache, unseliger Mann, solange sie nahe ist! Die Zeit entfleucht; die Stunde naht mit zornigem Tritt; ihr Fuß ist schon im Hause. Erwache!

In ihrem Geiste betete sie zu Gott, er möchte ihren Vater segnen und ihn, wenn es möglich sei, milder gegen sie stimmen – wo nicht, ihm vergeben, wenn er unrecht tue, und ihr dieses Gebet verzeihen, das ihr fast eine Sünde zu sein schien. Dann blickte sie wieder mit von Tränen geblendeten Äugen auf ihn nieder, schlich sich schüchtern zurück, verließ sein Zimmer, ging durch das andere und war verschwunden.

Er kann jetzt fortschlafen. Er mag fortschlafen, solange er Lust hat. O daß er beim Erwachen sich umsehe nach jener schmächtigen Gestalt und sie in seiner Nähe finde, wenn die Stunde gekommen ist!

Traurig und mit gramerfülltem Herzen stieg Florence leisen Schrittes die Treppe hinan. Seit ihrem Herunterkommen war das ruhige Haus noch unheimlicher geworden. Der Schlaf, den sie aber in Mitte der stillen Nacht gesehen, hatte ihr zumal das feierliche Bild von Leben und Tod gezeigt. Ihr eigenes verstohlenes Treiben machte die Nacht geheimnisvoll, schweigsam und bedrückend. Sie war nicht imstande, in ihr Schlafzimmer zu gehen, sondern trat in den Salon, wo der umwölkte Mond durch die Blenden hereinschien, und schaute in die leeren Straßen hinaus.

Der Wind ächzte kläglich. Das Licht der Lampen brannte bleich und zitterte, als ob es friere. Fern am Himmel zeigte sich ein Dämmern von etwas, das nicht ganz Dunkelheit, aber auch nicht Licht zu nennen war, und die ahnungsvolle Nacht schauderte rastlos wie ein Sterbender vor seinem angstvollen Ende. Florence erinnerte sich, wie sie während einer ähnlich frostigen Nacht an einem Krankenlager gewacht hatte, und fühlte wie in einem geheimen, natürlichen Widerwillen dagegen ihren Einfluß. Es war jetzt so gar, so gar unheimlich.

Ihre Mama war in dieser Nacht nicht nach ihrem Zimmer gekommen – dies mit ein Grund, warum sie so lang aufgeblieben. In ihrer Unruhe und in ihrem glühenden Wunsche, jemand in ihrer Nähe zu haben, mit dem sie sprechen konnte, richtete Florence, um den schweren Bann des Düsters und Schweigens zu brechen, ihre Schritte nach dem Zimmer, wo Edith schlief.

Die Tür war innen nicht abgesperrt und wich leicht dem zögernden Druck ihrer Hand. Sie erstaunte sehr, ein hellbrennendes Licht zu finden, noch mehr aber, als sie beim Hineinsehen bemerkte, daß ihre Mama, erst halb entkleidet, noch immer vor der knisternden Asche des entschwindenden Feuers saß. Die Augen derselben waren aufwärts gerichtet, und in ihrem Glänze, in Ediths Gesicht, Gestalt und in den Händen, die die Armlehnen des Stuhls umfaßt hielten, als ob sie aufspringen wollte, erkannte Florence den Ausdruck einer so wilden Aufregung, daß sie davor erschrak.

»Mama«, rief sie; »was ist Euch?«

Edith fuhr zusammen, und in ihrem Gesicht drückte sich ein so eigentümlicher Zug von Furcht aus, daß Florence nur noch erschrockener wurde.

»Mama«, sagte sie, hastig näher tretend; »liebe Mama, was gibt es denn?«

»Ich bin nicht wohl gewesen«, versetzte Edith zitternd und mit demselben befremdlichen Ausdruck ihres Antlitzes. »Ich habe schlimme Träume gehabt, meine Liebe.«

»Und noch gar nicht im Bett gewesen, Mama?« entgegnete Florence.

»Nein«, erwiderte Edith. »Halbwache Träume.«

Ihre Züge wurden allmählich sanfter. Sie ließ Florence herankommen, schlang ihre Arme um sie und sagte in mildem Ton:

»Aber was macht mein Vögelchen hier – was macht mein Vögelchen hier?«

»Ich bin unruhig gewesen, Mama, weil ich Euch heute nacht nicht sah und weil ich nicht wußte, wie es dem Papa geht! Deshalb – –«

Florence hielt inne.

»Ist es schon spät?« fragte Edith, sanft die Locken zurückstreichend, die sich mit ihrem eigenen schwarzen Haar gemengt hatten und auf ihr Gesicht niedergefallen waren.

»Sehr spät. Nahezu Tag.«

»Nahezu Tag?« wiederholte sie erstaunt.

»Liebe Mama, was habt Ihr mit Eurer Hand gemacht?« fragte Florence.

Edith zog sie plötzlich zurück und betrachtete sie einen Augenblick mit dem früheren Ausdruck von Furcht – es lag eine Art scheuen Zurückbebens darin; dann aber entgegnete sie hastig.

»Nichts, nichts. Ein Stoß. Meine Florence!« fügte sie hinzu, und ihre Brust wogte schwer, während sie zugleich in ein leidenschaftliches Weinen ausbrach.

»Mama!« sagte Florence. »Was kann, was soll ich tun, um Euch glücklicher zu machen. Gibt es denn gar nichts?«

»Gar nichts«, lautete die Antwort.

»Wißt Ihr es auch gewiß? Wäre es nicht möglich? Ihr werdet mir gewiß keine Vorwürfe machen«, sagte Florence, »wenn ich jetzt, trotz unserer Übereinkunft von dem spreche, was meine Gedanken vorzugsweise beschäftigt.«

»Es ist vergeblich«, versetzte sie, »vergeblich. Ich habe dir gesagt, meine Liebe, daß ich von schlimmen Träumen heimgesucht wurde. Nichts kann sie anders machen, oder ihr Kommen hindern.«

»Ich verstehe Euch nicht«, entgegnete Florence, Edith in das aufgeregte Gesicht blickend, das immer düsterer zu werden schien.

»Ich träumte«, fuhr Edith mit gedämpfter Stimme fort, »von einem Stolz, der völlig machtlos ist fürs Gute, aber allmächtig für das Böse – von einem Stolz, der mich viele schimpfliche Jahre gequält und gehetzt hat, immer nur auf sich selbst zurückprallend –, von einem Stolz, der seine Besitzerin mit dem Bewußtsein der tiefsten Demütigung heimsuchte und sie nie unterstützte, dieselbe zu ahnden, ihr auszuweichen, oder zu sagen: ›dies darf nicht geschehen‹ – von einem Stolz, der unter gehöriger Leitung vielleicht zu besseren Dingen geführt haben würde, in seiner falschen, verkehrten Richtung aber wie alles andere, das der gleichen Besitzerin gehört, Selbstverachtung zur Folge hatte und am Ende nur in zugrunde richtender Unerschrockenheit bestand.«

Sie sah Florence nicht an und richtete auch ihre Worte nicht an das Mädchen, sondern sprach weiter, als ob sie allein wäre.

»Ich habe von Gleichgültigkeit und Härte geträumt, die aus dieser Selbstverachtung hervorgingen. O des elenden, unnützen, kläglichen Stolzes, der mit gedankenlosen Schritten sogar an den Altar trat, dem alten bekannten winkenden Finger nachgebend – o Mutter, Mutter! – während er ihn verachtete und ein für allemal lieber sich selbst gehaßt, als sich täglich seinen stets in neuer Gestalt auftretenden Foltern preisgegeben hätte. Trauriges, armes Geschöpf!«

Die Aufregung wurde übermächtig in ihr, und sie warf Florence wieder denselben Blick zu, wie bei ihrem Eintritt.

»Und ich träumte«, sagte sie, »daß er in einem ersten, späten Versuch, ein besseres Ziel zu erringen, niedergetreten wurde von einem schändlichen Fuß, obschon er Widerstand leistete. Es träumte mir, er sei verwundet, bedrängt und mit Hunden gehetzt worden. Aber er stellt sich zur Wehr und will sich nicht ergeben; nein, dies kann er nicht, selbst wenn er wollte; aber er sieht sich gezwungen, den Menschen zu hassen, gegen ihn aufzutreten und ihm Trotz zu bieten.«

Ihre Hand umfaßte den zitternden Arm, den sie in dem ihrigen hielt, fester, und als sie auf das verwunderte, erschreckte Antlitz niederschaute, wurden ihre Züge ruhiger.

»O Florence!« sagte sie, »ich bin heute nacht fast wahnsinnig geworden!«

Ihr stolzes Haupt sank demütig auf den Nacken des Mädchens nieder, und sie weinte abermals.

»Verlaß mich nicht! Bleibe mir nahe! Ich habe keine Hoffnung, als in dir!« Diese Worte wiederholte sie oft und vielmal.

Sie wurde bald wieder ruhiger. Florences Tränen und ihr Wachen zu so später Stunde erfüllte sie mit Mitleid. Da der Tag jetzt dämmerte, nahm Edith das Mädchen in ihre Arme, brachte es, ohne selbst niederzuliegen, auf ihr Bett, nahm daneben ihren Sitz und forderte es zu dem Versuch auf, zu schlafen.

»Denn du bist müde und unglücklich, mein Herz; du bedarfst der Ruhe.«

»Ach, teure Mama, heute nacht bin ich in der Tat unglücklich«, sagte Florence. »Aber auch Ihr seid müde und unglücklich.«

»Nicht, wenn du mir schlafend so nahe liegst, mein Herz.«

Sie küßten einander, und die erschöpfte Florence versank allmählich in einen sanften Schlummer. Aber als sich ihre Augen vor dem Gesicht neben ihr schlossen, kamen ihr so traurige Gedanken über das Gesicht oben, daß ihre Hand Edith nahete, als suche sie Trost bei ihr, obschon sie auch in dieser Gebärde zögerte, als fürchte sie, damit eine Sünde an ihm zu begehen. So versuchte sie in ihrem Schlaf die beiden zu versöhnen und ihnen zu zeigen, daß sie das eine wie das andere liebe; aber es wollte nicht gehen, und ihr wacher Gram bildete einen Teil ihrer Träume.

Edith, die an dem Bett saß, blickte auf die dunkeln Wimpern nieder, die feucht auf den glühenden Wangen lagen. Inniges Mitleid erfüllte ihre Seele, denn sie kannte die Wahrheit. Aber kein Schlaf senkte sich auf ihre Augen. Als der Tag kam, saß sie noch immer wachend da, die kleine Hand in der ihrigen, und wenn sie auf das geängstigte Gesicht niederschaute, flüsterte sie bisweilen: »Bleibe mir nahe, Florence. Ich habe keine Hoffnung, als in dir!«

Vierundvierzigstes Kapitel.


Vierundvierzigstes Kapitel.

Eine Trennung

Mit dem Tage, obschon nicht gleichzeitig mit der Sonne, stand Miß Susanna Nipper auf. Um die ungemein scharfen, schwarzen Augen dieser jungen Person lag eine Schwere, die das Funkeln derselben etwas minderte und im Widerspruch mit ihrer gewöhnlichen Eigenschaft auf die Möglichkeit hindeutete, daß sie bisweilen geschlossen seien. Auch ihr Gesicht sah geschwollen aus, als ob sie die Nacht über geweint hätte. Gleichwohl war die Nipper durchaus nicht niedergeschlagen, sondern auffallend lebhaft und kühn; sie schien alle ihre Tatkraft zu irgendeiner Heldentat aufgeboten zu haben. Dies gab sich sogar in ihrem Anzug, mit dem sie sich besondere Mühe gegeben, und in den gelegentlichen Rucken ihres Kopfes zu erkennen, die bei ihrem Umherschießen im Haus auf einen gewaltigen Entschluß hindeuteten. Mit einem Wort, sie hatte sich etwas Großes vorgenommen – nichts Geringeres, als bis zu Mr. Dombey zu dringen und diesen Gentleman unter vier Augen zu sprechen.

»Ich habe schon oft gesagt, ich wolle es tun«, bemerkte sie an jenem Morgen in drohender Weise und mit vielen Rucken ihres Kopfs gegen sich selbst; »aber jetzt muß es einmal geschehen.«

Mit einer Schärfe, wie sie nur ihr eigentümlich war, sich zur Ausführung dieses verzweifelten Planes spornend, spukte Susanna Nipper den ganzen Vormittag auf der Treppe und in der Halle umher, ohne für ihren Angriff eine günstige Gelegenheit zu finden. Sie ließ sich jedoch durch die vergeblichen Versuche nicht irre machen, sondern lauerte nur mit erhöhter Wachsamkeit, bis sie endlich gegen Abend bemerkte, ihre geschworene Feindin Mrs. Pipchin mache, weil sie die ganze Nacht über auf gewesen, in ihrem Zimmer ein Schläfchen und Mr. Dombey sei jetzt allein anzutreffen.

Mit einem Ruck – diesmal nicht bloß des Kopfes, sondern ihrer ganzen Person – schlich die Nipper auf den Zehen nach Mr. Dombeys Tür und klopfte.

»Herein!« sagte Mr. Dombey.

Susanna ermutigte sich mit einem Schlußruck und ging hinein.

Der auf einem Sofa liegende Mr. Dombey, der zum Zeitvertreib das Feuer betrachtet hatte, warf jetzt seinem Besuch einen erstaunten Blick zu und stützte sich ein wenig auf seinen Arm. Die Nipper machte einen Knix.

»Was wollt Ihr?« fragte Mr. Dombey.

»Mit Erlaubnis, Sir, ich wünsche mit Euch zu sprechen«, sagte Susanna.

Mr. Dombey bewegte seine Lippen, als wiederhole er die Worte, schien aber ob der Anmaßung des jungen Frauenzimmers so in Erstaunen verloren zu sein, daß er keinen Laut dafür finden konnte.

»Ich bin nun zwölf Jahre in Eurem Dienst, Sir«, sagte Susanna Nipper mit ihrer gewöhnlichen Geschwindigkeit, »und bediene so lang meine junge Lady, Miß Floy, die noch nicht recht sprechen konnte, als ich hierher kam, und ich war schon alt in diesem Hause, als Mrs. Richards neu war, und wenn ich auch kein Methusalem bin, so bin ich doch auch nicht ein Wickelkind.«

Mr. Dombey, der auf seinen Arm gestützt sie ansah, störte sie nicht in dieser einleitenden Aufzählung von Tatsachen.

»Es hat nie eine liebere oder gesegnetere junge Lady gegeben, als meine junge Lady ist, Sir«, fuhr Susanna fort, »und ich muß dies wohl besser wissen als irgend jemand, denn ich habe sie gesehen in ihrem Kummer und habe sie gesehen in ihrer Freude, was freilich nicht oft bei ihr vorkam, und ich habe sie gesehen mit ihrem Bruder und habe sie gesehen in ihrer Verlassenheit, und gewisse Personen haben sie nie gesehen, und ich sage jedem, der es hören will, ja, dies tue ich« – die Schwarzäugige schüttelte den Kopf und stampfte leicht mit dem Fuß – »daß Miß Floy der gesegnetste und liebevollste Engel ist, der je einen Lebensatem hatte, und je mehr man mich in Stücke reißen wollte, desto mehr würde ich es sagen, obschon ich vielleicht keine Märtyrerin bin.«

Der von seinem Sturz schon blasse Mr. Dombey wurde noch blasser vor Unwillen und Erstaunen, während seine Augen auf der Sprecherin hafteten, als glaubte er, daß diese Organe und seine Ohren dazu ihn betrögen.

»Man kann nichts anderes als treu und anhänglich an Miß Floy sein, Sir«, sagte Susanna, »und ich rechne mir meine zwölfjährige Dienstleistung nicht zum Verdienst an, denn ich liebe sie, – ja, und dies sage ich jedem, der es hören will!« – Die Schwarzäugige schüttelte abermals den Kopf, stampfte leicht mit dem Fuß und erstickte einen Seufzer; »aber meine treuen Dienste geben mir hoffentlich das Recht, zu sprechen, und sprechen muß und will ich jetzt, mag es nun recht oder unrecht ausfallen.«

»Was wollt Ihr damit, Weib?« rief Mr. Dombey sie mit großen Augen ansehend. »Wie könnt Ihr Euch unterstehen –«

»Ich will nur mit aller Achtung und ohne Anstoß zu geben mich aussprechen, Sir, und wie ich mich unterstehen kann, weiß ich selbst nicht, aber ich tue es einmal!« sagte Susanna. »O, Ihr kennt meine junge Dame nicht, Sir, Ihr kennt sie wahrhaftig nicht, denn wenn es der Fall wäre, würdet Ihr nicht so wenig von ihr wissen.«

Mr. Dombey streckte wütend seine Hand nach der Klingelschnur aus; aber sie befand sich nicht auf dieser Seite des Kamins, und er war nicht in der Lage, ohne Unterstützung aufzustehen und sich nach der andern hinüber zu begeben. Das rasche Auge der Nipper entdeckte augenblicklich seine Hilflosigkeit und wußte jetzt, wie sie nachher erklärte, daß sie ihn »fest« hatte.

»Miß Floy«, sagte Susanna Nipper, »ist die treuste, die geduldigste, die liebevollste und schönste von allen Töchtern, es gibt keinen Gentleman, nein, Sir, keinen, und wenn er so groß und so reich wie alle die Größten und Reichsten von ganz England zusammengenommen wäre, der nicht stolz sein dürfte auf sie, ja und stolz auf sie wäre und stolz auf sie sein sollte. Wenn er ihren Wert recht kennen würde, so würde er lieber seine Größe und sein Vermögen Stück für Stück aufgeben und sich in Lumpen von Tür zu Tür betteln – ja, dies erkläre ich jedem, der es hören will!« rief Susanna Nipper, in Tränen ausbrechend, »als über ihr zartes Herz das Leid bringen, das ich sie in diesem Hause habe erdulden sehen!«

»Weib«, rief Mr. Dombey, »verlaßt das Zimmer!«

»Mit Erlaubnis, nein, Sir«, entgegnete die beharrliche Nipper, »und wenn ich den Platz verlieren müßte, auf dem ich so viele Jahre gewesen und so viel gesehen habe, obschon ich hoffe, Ihr werdet nicht das Herz haben, mich um einer solchen Ursache von Miß Floy fortzuschicken. Ich gehe nicht, bis ich alles gesagt habe, ich bin vielleicht keine indianische Witwe, Sir, und will auch keine sein oder werden, aber wenn ich mir einmal vorgenommen hätte, mich lebendig zu verbrennen, so würde ich es tun, und jetzt habe ich den Entschluß gefaßt, weiter zu reden.«

Hieran ließ sich nicht zweifeln und Susanna Nippers Gesicht drückte es ebensogut aus, wie ihre Worte.

»Es gibt keine Person in Eurem Dienst, Sir«, fuhr die Schwarzäugige fort, »die vor Euch mehr Ehrfurcht gehabt hätte, als ich, und Ihr könnt Euch denken, wie wahr dies ist, wenn ich zu sagen so frei bin, daß ich hundert und hunderte Male daran gedacht habe, mit Euch zu reden, ohne zu einem Entschluß zu kommen, bis gestern nacht, aber die gestrige Nacht hat entschieden.«

In einer weiteren Zornaufwallung griff Mr. Dombey abermals nach der Klingelschnur, die nicht da war, und riß dann in Ermangelung derselben lieber an seinem Haar, als an gar nichts.

»Ich habe Miß Floy sich mühen und mühen sehen«, sagte Susanna Nipper, »als sie nur noch ein Kind war, so süß und geduldig, daß die besten Frauen sie zum Muster hätten nehmen können, ich habe gesehen, wie sie oft und vielmal die halbe Nacht aufblieb, um ihren zarten Bruder im Lernen zu unterstützen, ich habe gesehen, wie sie zu andern Zeiten ihm half und bei ihm wachte – manche Personen wissen wohl, wann –, ich habe gesehen, wie sie ohne Ermutigung und Beistand zu einer Lady heranwuchs, so daß sie, Gott sei Dank, der Stolz und die Zierde jeder Gesellschaft ist, in die sie geht, und habe immer gesehen, wie sie grausam vernachlässigt und ihr Herz bitter verletzt wurde – ja, dies erkläre ich jedermann, der es hören will – obschon sie nie ein Wörtchen darüber sagte – aber sich bescheiden und ehrerbietig gegen seine Oberen benehmen, ist noch kein Anbeten geschnitzter Bilder, und ich will und muß sprechen.«

»Ist denn niemand da!« rief Mr. Dombey laut hinaus. »Wo sind die Bedienten – wo die Weiber! Ist denn niemand da!«

»Ich verließ gestern nacht meine liebe junge Dame, wie sie noch nicht zu Bett gegangen war«, fuhr Susanna fort, ohne sich einschüchtern zu lassen, »und ich wußte, warum sie aufblieb, denn Ihr wart krank, Sir, und sie wußte nicht, wie krank, und dies reichte hin, um sie so elend zu machen, wie ich sie sah. Ich bin vielleicht kein Pfau, aber ich habe meine Augen, und ich blieb in meinem eigenen Stübchen auf, weil ich dachte, sie könnte in ihrer Einsamkeit mich brauchen, und da sah ich, wie sie die Treppe hinunterschlich und an diese Tür kam, als sei es ein Verbrechen, nach dem eigenen Pa zu sehen, und dann schlich sie wieder zurück in den langweiligen Salon, und weinte dabei so, daß ich es kaum mit anhören konnte. Nein, ich kann’s nicht mit anhören«, sagte Susanna, ihre schwarzen Augen wischend und sie furchtlos auf Mr. Dombeys wütendes Gesicht richtend. »Es ist nicht das erstemal, daß ich es gehört habe, o wie viel und vielmal, und ich wiederhole Euch, Ihr kennt Eure Tochter nicht, Sir, und wißt nicht, was Ihr tut, Sir, und ich erkläre jedem, der es hören will«, rief Susanna Nipper mit einem endlichen Losplatzen, »daß es eine Sünde und eine Schande ist!«

»Ei der Tausend!« rief die Stimme der Mrs. Pipchin, während das schwarze Bombassingewand jener schönen Märtyrerin der peruvianischen Minen in das Zimmer rauschte. »Was soll denn dies heißen?«

Susanna beglückte Mrs. Pipchin mit einem Blick, den sie schon bei der ersten Bekanntschaft ausdrücklich für sie erfunden hatte, und überließ die Antwort Mr. Dombey.

»Was dies heißen soll?« wiederholte Mr. Dombey fast schäumend. »Ich will an Euch diese Frage richten, Ma’am, denn bei Euch, die Ihr an der Spitze dieses Hauswesens steht und verpflichtet seid, es in Ordnung zu halten, ist sie wohl eher am Ort. Kennt Ihr dieses Weib?«

»Ich weiß nicht viel Gutes von ihr, Sir«, krächzte Mrs. Pipchin. »Wie kann ein solcher Racker sich unterstehen, hierher zu kommen! Fort mit Euch!«

Die unbeugsame Nipper beehrte jedoch Mrs. Pipchin nur mit einem weiteren Blick und blieb.

»Nennt Ihr es Ordnung im Hause halten, Madame«, sagte Mr. Dombey, »wenn eine Person, wie diese, hereinlaufen und mich anreden kann? Ein Gentleman – in seinem eigenen Hause – in seinem eigenen Zimmer – und nicht einmal sicher vor der Unverschämtheit weiblicher Dienstboten!«

»Ich beklage es ungemein, Sir«, entgegnete Mrs. Pipchin, und ihr hartes, graues Auge blitzte Rache. »Nichts kann ordnungswidriger, maßloser und toller sein; aber es tut mir leid, sagen zu müssen, Sir, daß diese junge Person aller Disziplin Trotz bietet. Sie ist von Miß Dombey verzogen worden und nimmt von niemand Belehrung an. Ihr wißt dies selbst am besten«, fügte Mrs. Pipchin mit Schärfe hinzu, indem sie gegen Susanna Nipper den Kopf schüttelte. »Pfui über den Racker! fort mit Euch!«

»Wenn Ihr in meinem Dienste Leute findet, die sich nicht fügen wollen, Mrs. Pipchin«, sagte Mr. Dombey, sich wieder dem Feuer zuwendend, »so wißt Ihr vermutlich, was mit ihnen zu geschehen hat. Es ist Euch doch bekannt, um wessen willen Ihr hier seid? Schafft sie fort!«

»Sir, ich weiß, was ich zu tun habe, und werde mich natürlich danach verhalten«, entgegnete Mrs. Pipchin. »Susanna Nipper«, fügte sie in kurz angebundener Abfertigung hinzu, »seht Euch auf heute über vier Wochen nach einem andern Platz um.«

»O, in der Tat?« rief Susanna, sich in die Brust werfend.

»Ja«, versetzte Mrs. Pipchin. »Ihr braucht nicht nach mir herzulächeln, Hexe, oder ich will den Grund wissen! Jetzt augenblicklich fort mit Euch!«

»Ja, Ich gehe augenblicklich, darauf mögt Ihr Euch verlassen«, entgegnete die zungenfertige Nipper. »Ich habe in diesem Haus meine junge Dame ein Dutzend Jahre bedient, will aber keine Stunde mehr bleiben, wenn ich von einer Person, die den Namen Pipchin führt, eine Kündigung annehmen muß, Mrs. P.«

»Gut, daß man dieses schlimme Unkraut los wird!« sagte die aufgebrachte alte Dame. »Fort mit Euch, oder ich lasse Euch in anderer Art den Weg weisen.«

»Es ist mir ein Trost«, entgegnete Susanna, auf Mr. Dombey zurückblickend, »daß ich mir heute doch ein Stückchen Wahrheit vom Herzen geschafft habe, das schon längst hätte heraus sollen und nie zu oft oder zu deutlich gesagt werden kann, gottlob, daß alle Pipchinsen der Welt – ich hoffe, ihre Anzahl ist nicht groß« (Mr. Pipchin stieß ein sehr scharfes »Fort mit Euch!« aus, und Miß Nipper wiederholte ihren Blick) – »nicht ungesprochen machen können, was ich gesagt habe, und wenn sie sich das ganze Jahr mit Kündigungen plagten von morgens zehn Uhr an ohne Unterlaß bis nachts zwölf und dann an Erschöpfung stürben, was eine Freude sein würde im Himmel und auf Erden.«

Mit diesen Worten ging Miß Nipper ihrem Feinde voran aus dem Zimmer und begab sich, zum bitteren Ärger der zornigen Pipchin, mit großer Stattlichkeit nach ihrem Zimmer hinauf, wo sie sich unter ihren Schachteln niedersetzte und zu weinen begann.

Aus dieser weichen Stimmung wurde sie bald durch die heilsame und erfrischende Wirkung geweckt, die Mrs. Pipchins Stimme vor der Tür draußen auf sie übte.

»Gedenkt die keckstirnige Schlumpe«, rief die schnöde Pipchin, »die Kündigung anzunehmen oder nicht?«

Miß Nipper erwiderte von innen, die angezogene Person wohne nicht in diesem Teil des Hauses; ihr Name sei Pipchin und man könne sie in dem Zimmer der Haushälterin finden.

»Naseweiser Balg!« erwiderte Mrs. Pipchin, mit der Hand an der Türklinke rasselnd. »Macht, daß Ihr noch in dieser Minute fortkommt. Packt augenblicklich Eure Sachen zusammen. Wie könnt Ihr Euch erdreisten, in solcher Weise mit einer anständigen Frau zu reden, die bessere Tage gesehen hat?«

Miß Nipper antwortete darauf aus ihrer Festung, sie habe Mitleid mit den besseren Tagen, die Mrs. Pipchin gesehen, und was sie selbst betreffe, so betrachte sie es für die schlimmsten Tage im Jahr, wenn man in Sehweite dieser Dame sein müsse, obschon sie für besagte Dame selbst noch viel zu gut seien.

»Ihr habt übrigens nicht nötig, so viel Lärm an meiner Tür zu machen«, fuhr Susanna Nipper fort, »und braucht auch das Schlüsselloch nicht mit Eurem Auge zu verunreinigen, denn Ihr könnt darauf schwören, daß ich jetzt zusammenpacke und mich zum Fortgehen fertig mache.«

Die Witwe drückte ihre lebhafte Zufriedenheit über diese Kunde aus und entfernte sich unter einigen Bemerkungen über junge Racker im allgemeinen nebst einigen besonderen Hindeutungen auf ihre Wertlosigkeit, wenn sie durch Miß Dombey verzogen seien, um den Lohn der anstößigen Person ins reine zu bringen. Susanna tummelte sich nun mit ihren Koffern, um sogleich einen würdevollen Weggang feiern zu können, schluchzte aber aus tiefstem Herzen, so oft sie an Florence dachte.

Der Gegenstand ihres Leides zögerte nicht lange, zu ihr zu kommen, denn die Kunde, Susanna Nipper habe mit Mrs. Pipchin Streit gehabt, verbreitete sich schnell durch das ganze Haus mit dem Zusatz, die beiden feindseligen Parteien hätten sich auf Mr. Dombey berufen, in dessen Zimmer ein beispielloser Auftritt stattgefunden habe; die Folge davon sei, daß Susanna fort müsse. Den letzteren Teil dieses verwirrten Gerüchtes erkannte Florence als Wahrheit; denn als sie in Susannas Zimmer trat, fand sie, daß ihre treue Dienerin schon den letzten Koffer geschlossen und mit ihrem Hut auf demselben Platz genommen hatte.

»Susanna!« rief Florence. »Du willst mich verlassen? Du?«

»O, um aller Barmherzigkeit willen. Miß Floy«, versetzte Susanna schluchzend, »redet doch kein Wort mit mir, oder ich mache mich gemein vor den Pi–i–ipchinsen, und ich möchte nicht um alle Welt, Miß Floy, daß sie mich weinen sähe!«

»Susanna!« versetzte Florence. »Mein liebes Mädchen – meine alte Freundin! Was soll ich anfangen ohne dich? Kannst du es über dich gewinnen, so zu gehen?«

»Nei–ei–ei–ein, meine liebe herzige Miß Floy, ich kann es in der Tat nicht«, schluchzte Susanna. »Aber es läßt sich nicht ändern, ich habe meine Pflicht getan, Miß, ja, das habe ich, und die Schuld liegt nicht an mir. Ich muß mich darein erge–ben. Ich könnte meinen Monat nicht aushalten oder könnte Euch dann gar nicht verlassen, meine teure Miß, und ich müßte es am Ende doch so gut wie jetzt; sprecht nicht mit mir, Miß Floy, denn wenn ich auch ziemlich fest zu sein glaube, bin ich doch kein marmorner Türpfosten, meine liebe Miß.«

»Was hat es denn gegeben? Warum dies?« fragte Florence. »Du willst es mir nicht sagen?« fügte sie hinzu, da Susanna den Kopf schüttelte.

»Nei–nei–nein, meine liebe Miß«, entgegnete Susanna. »Fragt mich nicht, denn ich kann nicht, und was Ihr auch tun mögt, so legt ja kein gutes Wort für mich ein, denn es geschähe doch nicht, und Ihr würdet nur Euch selbst unrecht tun, so behüt Euch Gott, mein liebes Herz, und vergebt mir, was ich Euch in allen diesen vielen Jahren zuleid getan habe!«

Mit dieser aus tiefstem Herzen kommenden Bitte schlang Susanna die Arme um ihre Gebieterin.

»Meine liebe Miß, es gibt viele, die Euch dienen können und froh darüber sein werden, ja, und wohl auch Euch gute, treue Dienste leisten«, sagte Susanna; »aber das ist mein Trost, daß Euch niemand mit so viel Anhänglichkeit dienen oder Euch nur halb so lieben kann, wie ich. Lebt wo–o–ohl, süße Miß Floy!«

»Und wohin willst du gehen, Susanna?« fragte Florence unter Tränen.

»Ich habe einen Bruder im Lande drunten. Miß – einen Farmer in Esser«, versetzte die Nipper unter herzbrechendem Schluchzen, »der immer so viele Kü–ü–ühe hält und Schweine, und ich will mit der Landkutsche zu ihm fahren und bei ihm bleiben; kümmert Euch nicht um mich, denn ich habe Geld in der Sparkasse, meine Liebe, und brauche nicht sogleich wieder in Dienst zu gehen, was ich jetzt ja doch nicht könnte, meine herzige Miß Floy.«

Susanna schloß mit einem Schmerzensausbruch, dem zu gelegener Zeit Einhalt geschah durch die Stimme der Mrs. Pipchin, die unten sprach. Sobald sie dies hörte, trocknete sie ihre roten, geschwollenen Augen und versuchte die nur schlecht gelingende Ausrede, Mr. Towlinson munter zuzurufen, er solle einen Wagen holen und ihre Koffer hinuntertragen.

Die arme Florence wagte es auch hier nicht, nutzlose Fürsprache einzulegen, weil sie eine neue Spaltung zwischen ihrem Vater und seiner Gattin, deren finsteres, entrüstetes Gesicht ihr schon vor einigen Augenblicken zur Warnung gedient hatte, zu veranlassen fürchtete; ja sie besorgte sogar, daß sie, ohne es zu wissen, Schuld trage an der Verabschiedung ihrer alten Dienerin und Freundin, weshalb sie der letzteren trostlos, blaß und unter Tränen in Ediths Salon nacheilte, wohin sich Susanna begeben hatte, um sich von Mrs. Dombey zu verabschieden.

»So, der Wagen ist da und die Koffer sind draußen. Jetzt fort mit Euch!« sagte Mrs. Pipchin, die fast in dem gleichen Augenblick eintrat. »Ich bitte um Verzeihung, Ma’am, aber Mr. Dombey hat die bestimmtesten Befehle erteilt.«

Edith, der das Kammermädchen sich ankleiden half – sie wollte auswärts speisen – bewahrte ihr stolzes Gesicht und tat, als ob sie nichts hörte.

»Hier ist Euer Geld«, sagte Mrs. Pipchin, die gemäß ihres alten Systems mit den Dienstboten umzugehen gewöhnt war, wie sie ihre jungen Brightoner Kostgänger behandelt hatte – zur unsterblichen Erbitterung des Master Bitherstone, »und je früher dies Haus Euern Rücken sieht, desto besser ist es.«

Susanna war so kleinlaut, daß sie nicht einmal Mrs. Pipchin den Blick zuwerfen konnte, der ihr von Rechts wegen gebührte; sie machte daher ihre Verbeugung gegen Mrs. Dombey, die, ohne ein Wort zu sprechen, den Kopf neigte und nur für Florence einen Blick zu haben schien, umschlang ihre junge Gebieterin noch einmal und nahm deren Abschiedsumarmung entgegen. Bei dieser Krisis zeigte das Gesicht der armen Susanna eine Reihe der außerordentlichsten physiognomischen Erscheinungen, die man je sehen konnte, denn sie war, trotz des Überströmens ihrer Gefühle, entschlossen, ihr Schluchzen zu ersticken, damit es nicht für Mrs. Pipchin hörbar würde und diese liebenswürdige Dame einen Triumph feiern könnte.

»Ich bitte um Verzeihung, Miß«, sagte Towlinson, der mit den Koffern vor der Tür stand, zu Florence, »aber Mr. Toots ist in dem Speisezimmer und läßt unter Vermeldung seiner Komplimente anfragen, wie es Diogenes und dem Herrn ergehe.«

Mit Gedankenschnelle glitt Florence aus dem Zimmer und eilte die Treppe hinunter, wo sie Mr. Toots in seiner prächtigsten Kleidung, der im Zweifel und in der Aufregung über den Zweck seines Erscheinens kaum atmen konnte, antraf.

»O, wie geht es Euch, Miß Dombey?« sagte Mr. Tools. »Um Gottes willen!«

Dieser letztere Ausruf hatte seinen Grund in seiner tiefen Teilnahme mit dem Kummer, den er in Florences Antlitz bemerkte. Mr. Toots hielt sogar in einem Anfall von Kichern inne und bot ein leibhaftiges Bild der Verzweiflung dar.

»Lieber Mr. Toots«, sagte Florence, »Ihr seid so freundlich gegen mich und so ehrlich, daß ich Euch gewiß um eine Gefälligkeit bitten darf.«

»Miß Dombey«, entgegnete Mr. Toots, »wenn Ihr mir etwas auftragen wollt, so werdet Ihr – werdet Ihr mir meinen Appetit wiedergeben, der mir«, fügte er mit Gefühl hinzu, »seit langer Zeit vergangen ist.«

»Susanna, eine alte Freundin von mir, die älteste, die ich habe«, sagte Florence, »ist im Begriff, plötzlich das Haus zu verlassen, und das arme Mädchen steht so ganz allein. Sie will in ihre Heimat auf dem Lande. Darf ich Euch bitten, daß Ihr Euch ihrer annehmt, bis sie in der Kutsche ist?«

»Miß Dombey«, erwiderte Mr. Toots, »Ihr erweist mir in der Tat eine Ehre und eine Liebe. Dieser Beweis Eures Vertrauens nach der erzdummen Weise, in der ich mich in Brighton benahm –«

»Ja«, versetzte Florence hastig – »nein, denkt nicht daran. Ihr wollt also die Güte haben, zu – zu gehen – und sie zu erwarten, bis sie herauskommt? Tausend, tausend Dank! Ihr erleichtert mir das Herz. Sie sieht dann doch nicht so ganz verlassen aus. Ihr könnt gar nicht glauben, wie verpflichtet ich mich Euch fühle oder welchen Freundschaftsdienst Ihr mir erweist.«

Und Florence dankte ihm in ihrem Eifer wieder und wieder, während Toots in dem seinen forteilte – aber rücklings, damit er ja keinen Blick von ihr verliere.

Florence hatte nicht den Mut, hinauszutreten, als sie die arme Susanna in die Halle kommen sah, Mrs. Pipchin hinter ihr drein und Diogenes um sie herhüpfend, bei welcher Gelegenheit letzterer Mrs. Pipchin im höchsten Grade durch sein wiederholtes Schnappen nach ihren Bombassinschößen und durch sein ohrzerreißendes Heulen bei dem Ton ihrer Stimme erschreckte; denn die gute Duenna war die teuerste Antipathie seiner Hundebrust. Aber sie sah, wie Susanna sämtlichen Dienstboten die Hand drückte und noch einmal sich umwandte, um ihre alte Heimat zu betrachten: und sie sah Diogenes, der mit ihr wollte, nach dem Wagen hinausstürzen, wo er fast nicht überzeugt werden konnte, daß er nicht mit zu der Fracht gehöre. Der Kutschenschlag wurde geschlossen, das Getümmel legte sich, und ihre Tränen flossen um den Verlust einer alten Freundin, die niemand ersetzen konnte. Niemand. Niemand.

Mr. Toots, die treue zuverlässige Seele, hatte im Nu den Wagen angehalten und teilte Susanna Nipper seinen Auftrag mit, über den sie nur um so heftiger weinte.

»Auf Leib und Seele!« sagte Toots, der seinen Sitz an ihrer Seite nahm, »ich fühle für Euch. Bei meinem Ehrenwort, ich glaube, Eure Empfindungen können Euch kaum so klar sein, als ich sie mir vorstelle. Es gibt gewiß nichts Schrecklicheres, als Miß Dombey verlassen zu müssen.«

Susanna gab sich jetzt ganz ihrem Schmerze hin, und es war in der Tat rührend, sie anzusehen.

»O, tut dies jetzt nicht«, sagte Mr. Toots. »Ich meine wenigstens, es wäre jetzt besser, wenn – –«

»Wenn was, Mr. Toots?« entgegnete Susanna.

»Wenn Ihr mit mir nach Hause ginget und ein Diner einnähmet, ehe Ihr aufbrecht«, sagte Mr. Toots. »Meine Köchin ist eine sehr achtbare Person – eine der mütterlichsten Personen, die ich je gesehen habe – und es wird sie freuen, wenn sie’s Euch gemütlich machen kann. Ihr Sohn«, fügte Mr. Toots als zugäbliche Empfehlung bei, »wurde in der Blaurockschule erzogen und flog mit einer Pulvermühle in die Luft.«

Da Susanna dieses freundliche Anerbieten gefiel, so führte Mr. Toots sie nach seiner Wohnung. Sie wurden daselbst von der fraglichen Matrone, die das ihr gespendete Lob vollkommen rechtfertigte, und von dem Preishahn empfangen, der, als er in dem Wagen eine Dame sah, anfänglich glaubte, Mr. Dombey sei in Gemäßheit seines alten Rats eingeknickt und Miß Dombey entführt worden. Dieser Gentleman setzte Miß Nipper in nicht geringeres Erstaunen, denn er hatte in dem Kampf mit einem übermütigen Jungen eine Niederlage erlitten, und infolge davon befand sich sein Gesicht in einem so kläglichen Zustand, daß er sich in Gesellschaft kaum zeigen konnte, ohne bei den Zuschauern Anstoß zu erregen. Der Preishahn selbst schrieb seinen Nachteil dem Umstand zu, daß der Straßenjunge zu unehrenhaften, nicht kampfgerechten Mitteln Zuflucht genommen habe, obschon die veröffentlichten Gerüchte über diesen großen Strauß das Gegenteil behaupteten und dem andern Streiter bezeugten, er habe den Preishahn in aller Ordnung gewalkt und gepfeffert, bis derselbe demütig weich nachgegeben habe.

Nach einem guten Mahl, bei dem es der gastfreundliche Toots an nichts fehlen ließ, brach Susanna wieder von ihrem Wirte begleitet in einem andern Wagen nach dem Beförderungsbureau auf. Bei dieser Gelegenheit bestieg der Preishahn den Bock, obschon dieser Ehrenmann – um seiner zahlreichen Pflaster willen – der kleinen Gesellschaft nicht sehr zur Zierde gereichte, wie hoch auch die Auszeichnung anzuschlagen sein mochte, die er derselben durch das moralische Gewicht und den Heroismus seines Charakters zuteil werden ließ. Der Preishahn hatte übrigens im geheimen ein Gelübde getan, von Mr. Toots, der im Innern seines Herzens sich sehnte, ihn los zu werden, bloß unter der Bedingung abzulassen, daß ihm derselbe durch seine Mittel zur Betreibung einer Wirtschaft behilflich sei – ein Geschäft, das ihm sein ehrgeiziger Wunsch, sich sobald als möglich tot zu trinken, besonders wünschenswert erscheinen ließ, und um diesen Zweck um so eher zu erreichen, war er mit sich einig geworden, seine Gesellschaft so unangenehm als möglich zu machen.

Die Nachtkutsche, deren sich Susanna zu ihrer Reise bedienen wollte, war eben im Begriff, abzufahren. Nachdem Mr. Toots die junge Dame im Innern untergebracht hatte, zögerte er noch unschlüssig an dem Schlage, bis der Kutscher sich anschickte, den Bock zu besteigen. Dann schwang er sich in den Tritt hinauf, zeigte im Licht der Lampe sein ängstliches, verwirrtes Gesicht und sagte abgebrochen:

»He, Susanna! Miß Dombey, Ihr wißt –«

»Ja, Sir.«

»Glaubt Ihr, sie könnte – Ihr wißt – wie?«

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Toots«, versetzte Susanna, »aber ich höre Euch nicht.«

»Glaubt Ihr, sie könnte – Ihr versteht mich – nicht gerade auf einmal, aber mit der Zeit – wie lange es auch anstehen mag, dazu gebracht werden, mich – zu – zu lieben? So!« sagte der arme Mr. Toots.

»O Himmel, nein!« entgegnete Susanna, den Kopf schüttelnd. »Ich darf wohl sagen nie. Ni – ie!«

»Danke Euch«, sagte Mr. Toots. »Es ist von keinem Belang. Gute Nacht. Es ist von keinem Belang, danke Euch.«

Fünfundvierzigstes Kapitel.


Fünfundvierzigstes Kapitel.

Die zuverlässige Mittelsperson.

Edith ging an jenem Tag allein aus und kehrte früh wieder zurück. Es waren nur wenige Minuten nach zehn Uhr, als ihr Wagen in die Straße einfuhr, in der Mr. Dombeys Haus stand.

Auf ihrem Antlitz lag dieselbe erzwungene Ruhe, wie zur Zeit, als sich Susanna von ihr verabschiedete, und der Kranz auf ihrem Kopf umgab die nämliche kalte, feste Stirne. Es wäre aber ein minder bedrückender Anblick gewesen, wenn ihre leidenschaftliche Hand die Blätter und Blumen in Stücke zerrissen, oder das krampfhafte Pochen eines nach Ruhe sich sehnenden wirren Gehirns den Kranz formlos gemacht hätte. So starr, so unnahbar und unbeugsam, daß man glauben mußte, nichts könne das Herz eines solchen Weibes erweichen und alles im Leben habe nur dazu beigetragen, es zu verhärten.

Sie war vor der Haustür angelangt und wollte eben aussteigen, als jemand, der mit entblößtem Haupt in der Halle stand, herankam und ihr den Arm darbot. Da der Diener beiseite gedrängt worden war, so blieb ihr keine andere Wahl, als die Hilfe anzunehmen, und nun sah sie, wessen Arm ihr dieselbe geboten hatte.

»Was macht Euer Patient, Sir?« fragte sie mit aufgeworfener Lippe.

»Es geht besser«, versetzte Carker. »Es geht ihm ganz gut. Ich habe ihm bereits gute Nacht gewünscht.«

Sie beugte den Kopf und wollte eben die Treppe hinaufgehen, als er sie noch mit den Worten zurückhielt:

»Madame, darf ich mir die Gunst eines kurzen Gehörs erbitten?«

Sie blieb stehen und schaute nach ihm zurück.

»Die Zeit ist sehr unpassend, Sir, und ich bin müde. Habt Ihr ein so dringendes Anliegen?«

»Ein sehr dringendes«, versetzte Carker. »Da ich so glücklich war, Euch noch zu treffen, so gestattet mir, meine Bitte zu wiederholen.«

Sie blickte einen Moment auf seine glänzenden Zähne, während er nach ihr, die in ihrem stattlichen Anzug ein paar Treppen höher stand, hinaufsah und abermals dachte, wie schön sie sei.

»Wo ist Miß Dombey?« fragte sie den Diener laut.

»In dem Frühstückszimmer, Ma’am.«

»So geht dahin voran!«

Sie wandte ihre Augen abermals nach dem aufmerksamen Gentleman am Fuß der Treppe, bedeutete ihm mit einem leichten Winke ihres Kopfes, daß er ihr folgen könne, und ging weiter.

»Ich bitte um Verzeihung, Madame – Mrs. Dombey!« rief der glatte hurtige Carker, der im Nu an ihrer Seite war. »Ist mir die Bitte gestattet, mein Anliegen Euch nicht in Miß Dombeys Gegenwart vorbringen zu dürfen?«

Sie sah ihn mit einem raschen Blick, aber mit derselben Fassung und Festigkeit an.

»Ich möchte Miß Dombey die Kunde von dem ersparen, was ich Euch zu sagen habe«, fuhr Carker mit gedämpfter Stimme fort. »Wenigstens solltet Ihr entscheiden können, Madame, ob sie davon wissen soll oder nicht. Es geschieht um Eurer selbst willen, und ich glaube, Euch dies schuldig zu sein. Nach unserer früheren Besprechung wäre es schmählich von mir, wenn ich anders handelte.«

Sie wandte langsam ihre Augen von seinem Gesicht ab und rief dem Diener zu: »Ein anderes Zimmer.« Letzterer ging nach dem Salon voran, wo er Lichter aufstellte und sich sodann entfernte. Während seiner Abwesenheit wurde kein Wort gesprochen. Edith nahm auf einem Sofa neben dem Kamin Platz, während Mr. Carker, den Hut in der Hand und die Augen auf den Teppich gerichtet, in einiger Entfernung vor ihr stehen blieb.

»Ehe Ihr sprecht, Sir«, sagte Edith, sobald die Tür geschlossen war, »wünsche ich, daß Ihr mich anhöret.«

»Von Mrs. Dombey angeredet zu werden«, versetzte er, »selbst wenn es im Tone unverdienten Vorwurfs geschieht, ist eine Ehre, die ich so hoch zu schätzen weiß, daß ich, wäre ich auch nicht in allen Stücken ihr Diener, mich aufs bereitwilligste einem solchen Wunsche unterwerfe.«

»Wenn Ihr von dem Manne, den Ihr eben verlassen« – Mr. Carker erhob seine Augen, als wolle er damit Überraschung ausdrücken, aber der Blick, mit dem ihm die ihren entgegenkamen, taten ihm, wenn anders dies seine Absicht war, Einhalt – »einen Auftrag an mich auszurichten habt, so gebt Euch keine Mühe damit, denn ich werde ihn nicht annehmen. Ich brauche kaum zu fragen, ob Ihr zu einem solchen Zweck hier seid, denn ich habe längst etwas Derartigem entgegengesehen.«

»Leider bin ich ganz gegen meinen Willen in solcher Absicht hier«, versetzte er. »Erlaubt mir, zu bemerken, daß zwei Punkte mich zu Euch führen, den einen habt Ihr erraten.«

»Er ist abgetan, Sir«, erwiderte sie. »Oder wenn Ihr darauf zurückkommt – –«

»Kann Mrs. Dombey glauben«, sagte Carker, näher tretend, »daß ich so ihren Befehlen zuwiderzuhandeln imstande bin. Ist es möglich, daß Mrs. Dombey mit Absicht so ungerecht sein kann, ohne Rücksicht auf meine leidige Stellung mich stets für unzertrennlich von meinem Auftraggeber zu halten?«

»Sir«, entgegnete Edith, ihren dunkeln Blick voll auf ihn heftend und in einer steigenden Leidenschaftlichkeit sprechend, unter der ihre stolzen Nasenlöcher sich ausdehnten, der Busen schwoll und der leicht um ihre Schultern geworfene zarte weiße Schwanenpelz in seiner schneeigen Nachbarschaft unruhig sich bewegte, »warum tretet Ihr, wie Ihr es getan habt, vor mich hin, um mit mir von Liebe und Pflicht gegen meinen Gatten zu reden und Euch anzustellen, als haltet Ihr mich für glücklich verheiratet und als seiet Ihr der Meinung, ich ehre ihn? Wie erdreistet Ihr Euch, mich so zu kränken, während Ihr doch wißt – ich selbst weiß es nicht besser, Sir, denn ich habe dies in jedem Eurer Blicke gesehen, in jedem Eurer Worte gehört – daß zwischen uns statt Liebe Abneigung und Verachtung herrscht, daß ich ihn kaum weniger verabscheue, als ich mich selbst verabscheue, weil ich die Seinige heiße? Ungerechtigkeit! Hätte ich der Qual, die Ihr mich fühlen ließt, und dem Schimpf, den Ihr mir antatet, Genüge leisten wollen, so hätte ich Euch ermorden müssen!«

Sie hatte ihn gefragt, warum er dies getan habe. Wäre sie nicht durch ihren Stolz, ihren Zorn und ihre Selbstdemütigung geblendet gewesen – dies war der Fall, so wild sie auch ihren Blick auf ihn heftete – so hätte sie in seinem Gesicht die Antwort lesen können. Der Grund war, sie zu dieser Erklärung zu bringen.

Sie sah es jedoch nicht und kümmerte sich auch nicht darum, da sie nur ein Auge für die Beschimpfungen und Kämpfe hatte, die sie durchgemacht, die ihr noch bevorstanden und die eben jetzt ihr Innerstes durchwühlten. Während sie so dasaß und ihren Blick eher ihrer Zerrissenheit als ihm zuwandte, riß sie aus der Schwinge eines seltenen schönen Vogels, der an einem goldenen Kettchen von ihrem Armband niederhing, um ihr als Fächer zu dienen, die Federn und streute sie über den Boden.

Er bebte nicht zurück vor ihrem Blick, sondern blieb in der Erwartung, bis die äußeren Zeichen ihres unwillkürlich ausbrechenden Zornes sich gelegt hätten, mit der Miene eines Mannes stehen, der auf eine genügende Antwort gefaßt und sie vorzubringen bereit ist. Dann begann er mit einem festen Blick in ihre funkelnden Augen:

»Madame«, sagte er, »ich weiß und wußte längst, daß ich bei Euch nicht in Gunst stehe. Auch der Grund ist mir bekannt. Ja. Ich weiß, warum. Ihr habt offen gegen mich gesprochen, und ich fühle mich so erleichtert durch den Besitz Eures Vertrauens – –«

»Vertrauen!« wiederholte sie mit Verachtung.

»– Daß ich nicht versuchen will, etwas vor Euch zu verhehlen. Ich sah in der Tat von Anfang an, daß Ihr keine Liebe hegtet zu Mr. Dombey – wie hätte dies auch bei so verschiedenen Charakteren möglich sein können! Auch entging mir nicht, daß seitdem mächtigere Gefühle als bloße Gleichgültigkeit in Eurer Brust um sich griffen – wie ließ sich dies auch unter Verhältnissen, wie die Euren sind, anders erwarten! Aber kam es mir zu, dieses mein Mitwissen in Worten gegen Euch kundzugeben?«

»Kam es Euch zu, Sir«, versetzte sie, »einen andern Glauben zu heucheln und ihn dreist mir Tag für Tag vorzuhalten?«

»Ja, Madame«, entgegnete er hastig. »Hätte ich weniger getan, hätte ich überhaupt anders gehandelt, so könnte ich nicht so mit Euch sprechen, und ich sah voraus – wer könnte dies besser, als ein Mann, der Mr. Dombey so genau kennt, wie ich? – wenn Euer Charakter nicht ebenso nachgiebig und gehorsam wäre, als der seiner ersten unterwürfigen Gattin, was ich von Euch nicht annahm – –«

Ein stolzes Lächeln gab ihm Anlaß, zu glauben, daß er dies wiederholen könne.

»Ich sage, was ich von Euch nicht annahm – so müsse ohne Zweifel eine Zeit kommen, in der ein Einverständnis wie das, zu dem es jetzt zwischen uns gekommen ist, zweckmäßig werden könnte.«

»Für wen zweckmäßig, Sir?« fragte sie verächtlich.

»Für Euch. Ich will nicht hinzufügen, für mich, weil ich mich enthalten soll, Mr. Dombey auch das beschränkte Lob zu spenden, das ich ihm mit aller Ehrlichkeit nachrühmen kann. Ich möchte mir nicht das Unglück zuziehen, einer Dame, deren Widerwillen und Verachtung« – er sprach dies mit großem Nachdruck – »so bitter sind, etwas Unangenehmes zu sagen.«

»Es ist sehr ehrlich von Euch, Sir«, versetzte Edith, »dieses beschränkte Lob einzuräumen und sogar von ihm in solchem Ton der Geringschätzung zu sprechen, während Ihr doch sein Hauptratgeber und Schmeichler seid.«

»Ratgeber – ja«, sagte Carker. »Schmeichler – nein. Ich fürchte, ein wenig Rückhaltung einräumen zu müssen; aber unser Interesse und die Schicklichkeit überhaupt nötigen gemeiniglich viele von uns, sich in einer Weise zu benehmen, bei der das Gefühl sich nicht beteiligen kann. Es gibt jeden Tag Geschäftsverbindungen aus Interesse und Konvenienz, einen Verkehr im allgemeinen aus Interesse und Konvenienz, und Heiraten aus Interesse und Konvenienz.«

Sie biß sich in ihre blutrote Lippe, ohne jedoch den düsteren strengen Blick, mit dem sie ihn ins Auge faßte, von ihm zu wenden.

»Madame«, fuhr Mr. Carker fort, mit der Miene der tiefsten, rücksichtsvollsten Achtung sich auf einen in der Nähe stehenden Sessel niederlassend, »warum sollte ich jetzt, der ich mich ganz und gar Eurem Dienst geweiht habe, Anstand nehmen, offen zu sprechen? Es war natürlich, daß eine Dame von Euren trefflichen Eigenschaften es für möglich hielt, in manchem Betracht den Charakter ihres Gatten umzuwandeln und ihn in eine bessere Form zu gießen.«

»Bei mir war dies nicht natürlich, Sir«, entgegnete sie. »Ich habe nie etwas der Art erwartet oder beabsichtigt.«

Das stolze unerschütterliche Gesicht zeigte ihm, daß es entschlossen war, die ihm angebotene Maske nicht aufzunehmen, und rücksichtslos sich zeigen wollte, in was immer für einem Lichte es dann auch erscheinen mochte.

»Wenigstens war es natürlich«, nahm er wieder auf, »daß Ihr es für möglich hieltet, mit Mr. Dombey als Gattin zu leben, ohne Euch ihm zu unterwerfen oder ohne mit ihm in einen so entschiedenen Widerstreit zu kommen. Wenn Ihr übrigens dies glaubt, so habt Ihr, wie Euch seitdem die Erfahrung gelehrt haben muß, Mr. Dombey nicht gekannt. Ihr wußtet nicht, wie anspruchsvoll und stolz er ist. Wenn ich mich so ausdrücken darf, so möchte ich ihn den Sklaven seiner Größe nennen, denn er zieht im Joche seines eigenen Triumphwagens wie ein Lasttier, ohne einer andern Idee Raum zu geben, als daß er ihn hinter sich habe, und daß er über und durch alles fortgeschleppt werden müsse.«

Seine Zähne glänzten in boshaftem Behagen über diesen Gedanken, während er zu sprechen fortfuhr:

»Mr. Dombey, Madame, ist gegen Euch ebensowenig einer wahren Rücksicht fähig, als gegen mich. Der Vergleich scheint zwar einen ungeheuren Abstand zu bieten; aber sei es darum – er ist richtig. Im Gefühl seiner Machtvollkommenheit stellte mir Mr. Dombey gestern das Ansinnen, ich solle seine Mittelsperson gegen Euch machen – wie er mir selbst mitteilte, aus keinem andern Grund, als weil er weiß, daß ich Euch unangenehm bin, und er in dieser Weise die Strafe zu erhöhen meint: auch ist er in der Tat der Ansicht, daß die Verwendung seines bezahlten Dieners in solchen Aufträgen der Würde – nicht der Dame, mit der ich zu sprechen das Glück habe, denn diese ist für ihn gar nicht vorhanden, sondern seiner Gattin, eines Teils seiner eigenen Person, Abtrag tue. Ihr könnt Euch denken, wie rücksichtslos er gegen mich ist, und wie er sogar nicht die Möglichkeit zu fassen vermag, als könnte ich hierin anderer Meinung sein, wenn er mir so unumwunden mitteilt, daß er sich aus einem solchen Grunde meiner Vermittlung bediene. Auch erseht Ihr vollkommen seine Gleichgültigkeit gegen Eure Gefühle aus dem Umstand, daß er Euch mit einem solchen Boten drohte – denn natürlich ist Euch noch im Gedächtnis, daß er dies getan hat.«

Sie faßte ihn noch immer aufmerksam ins Auge, aber er sie gleichfalls, und es wurde ihm daraus klar, daß ein Mitwissen um einen Auftritt, der zwischen ihr und ihrem Gatten vorgegangen war, in ihrer stolzen Brust wie ein vergifteter Pfeil schmerzte.

»Ich führe dies nicht an, um die Kluft zwischen Euch und Mr. Dombey zu erweitern, Madame – der Himmel verhüte dies, denn was könnte es mir nützen – sondern nur um Euch zu beweisen, wie hoffnungslos es ist, ihn zur Überzeugung zu bringen, daß irgend jemand Rücksicht verdiene, sobald er in Frage kommt. Ich muß allerdings sagen, daß wir, die wir um ihn sind, in unsern verschiedenen Stellungen das Unsrige beigetragen haben, um ihn in dieser Denkweise zu befestigen; aber wäre es von uns nicht geschehen, so würden es andere getan haben – oder sie hätten’s nicht bei ihm aushalten können. So ist es immer gewesen, ich möchte sagen vom Beginn seines Lebens an. Mit einem Wort, Mr. Dombey hat nie mit jemand anders verkehrt, als mit unterwürfigen, abhängigen Personen, die Knie und Nacken vor ihm beugten. Er weiß nicht, was es heißt, beleidigten Stolz und den kräftigen Willen, eine Kränkung zu ahnden, gegen sich zu haben.«

»Jetzt soll er es erfahren«, schien sie zu entgegnen, obschon ihre Lippen sich nicht öffneten und ihr Auge unbeweglich blieb. Er sah den weichen Schwanenpelz abermals auf ihrer Brust zittern, sah, wie sie das Gefieder des schönen Vogels einen Augenblick an ihren Busen drückte, und schlug einen weiteren Ring des Taus, mit dem er sich ausgerüstet hatte.

»Obschon ein im höchsten Grade ehrenhafter Mann«, fuhr er fort, »so ist er doch sehr geneigt, selbst die Tatsachen, die gegen ihn sprechen, nach seinem eigenen Sinn zu verdrehen, und ich kann Euch kein besseres Beispiel davon geben, als wenn ich Euch sage: er glaubt aufrichtig (Ihr werdet die Torheit dessen, was ich nun vorbringe, entschuldigen, da sie nicht von mir ausgeht), seine entschiedene Meinungsäußerung gegen seine dermalige Gattin bei einem gewissen besonderen Anlaß, der, wie sie sich erinnern wird, vor dem viel beklagten Tode der Mrs. Skewton stattfand, habe eine vernichtende Wirkung geübt und sie für den Augenblick ganz zu Paaren getrieben.«

Edith lachte. Wie hart und unmusikalisch, brauchen wir nicht zu schildern. Es ist genug, daß er erfreut war, sie so lachen zu hören.

»Madame«, nahm er wieder auf, »genug davon, Eure eigenen Ansichten sind so energisch und, wie ich überzeugt bin, so unwandelbar« – er wiederholte diese Worte langsam und mit großem Nachdruck – »daß ich fast Euer Mißfallen von neuem auf mich zu ziehen fürchte, wenn ich sage, ich sei trotz dieser Mängel und meiner vollen Kenntnis derselben so an Mr. Dombey gewöhnt, daß ich ihn hochschätze. Glaubt mir übrigens, wenn ich so spreche, geschieht es nicht, um mit einem Gefühle zu prahlen, das so ganz im Widerstreit mit dem Euren ist und für das Ihr keine Sympathie haben könnt« – o wie bestimmt, klar und nachdrücklich war nicht dies! – »sondern um Euch eine Versicherung von dem Eifer zu geben, mit dem ich in dieser unglücklichen Angelegenheit Euch dienen möchte. Ihr könnt daraus entnehmen, mit welchem Unwillen mich die Rolle erfüllen muß, die zu spielen man von mir erwartet hat.«

Sie saß da, als scheue sie sich, ihre Augen von seinem Gesicht zu verwenden.

Und nun zu Abwindung des letzten Tauringes.

»Es wird spät«, sagte Carker nach einer Pause, »und Ihr seid, wie Ihr sagtet, ermüdet. Aber ich darf den zweiten Punkt dieser Unterredung nicht vergessen. Aus zureichenden Gründen muß ich Euch empfehlen – ja, Euch aufs dringlichste bitten, in Kundgebung Eurer Zuneigung für Miß Dombey vorsichtig zu sein.«

»Vorsichtig? Was meint Ihr damit?«

»Ihr müßt Sorge tragen, daß Ihr dieser jungen Dame nicht allzuviel Liebe erzeiget.«

»Allzuviel Liebe, Sir?« versetzte Edith, und ihre breite Stirne furchte sich, während sie von ihrem Sitze aufstand. »Wer urteilt über meine Liebe, oder ermißt sie? Ihr?«

»Nein, ich gewiß nicht.«

Er war verwirrt oder stellte sich wenigstens so.

»Wer denn?«

»Könnt Ihr dies nicht erraten?«

»Ich will nicht raten«, antwortete sie.

»Madame«, sagte er nach kurzem Zögern, während dessen sie sich gegenseitig in der früheren Weise angesehen hatten, »ich befinde mich in einer schwierigen Lage. Ihr habt mir erklärt, daß Ihr keinen Auftrag annehmen wollet, und das Verbot daran geknüpft, diesen Gegenstand überhaupt zu berühren; aber ich finde, die beiden Punkte sind so eng miteinander verflochten, daß ich die mir von Euch auferlegte Einschärfung zu verletzen genötigt bin, wenn Ihr Euch nicht mit dieser unbestimmten Warnung eines Mannes begnügen wollt, der jetzt die Ehre hat, Euer Vertrauen zu besitzen, obschon er dazu durch Euer Mißfallen sich Bahn brechen mußte.«

»Ihr wißt, daß Ihr die Freiheit habt, dies zu tun«, sagte Edith. »Sprecht.«

So blaß, so zitternd, so leidenschaftlich; er hatte sich also in der Wirkung nicht verrechnet.

»Er hat mir aufgetragen«, entgegnete er mit gedämpfter Stimme, »daß ich Euch erklären solle, Euer Benehmen gegen Miß Dombey sei ihm nicht angenehm. Es führe zu Vergleichen mit ihm, die ihm nicht günstig seien, und er verlange deshalb, daß es gänzlich geändert werde. Wenn es Euch ernst damit sei, so hoffe er um so zuversichtlicher, daß dies geschehe, denn die fortgesetzte Kundgebung Eurer Zuneigung dürfte dem Gegenstand derselben übel zustatten kommen.«

»Dies ist eine Drohung!« sagte sie.

»Ja, eine Drohung«, antwortete er in seiner tonlosen Weise und fügte dann laut hinzu, »die aber nicht Euch gilt.«

Sie stand ihm stolz, aufrecht und würdevoll gegenüber und richtete ihr blitzendes Auge voll auf ihn, als ob sie ihn durchbohren wolle; dann überflog ihr Antlitz ein Lächeln voll Verachtung und Bitterkeit, bis sie endlich niedersank, als ob der Grund unter ihr eingesunken wäre. Sie würde zu Boden gesunken sein, wenn er sie nicht mit seinen Armen aufgefangen hätte. Aber in dem Augenblick der Berührung schüttelte sie ihn ab, trat zurück und stand unbeweglich mit ausgestreckter Hand vor ihm.

»Habt die Güte, mich zu verlassen. Sprecht heute nichts mehr.«

»Ich fühle die Dringlichkeit des Umstandes«, sagte Mr. Carker, »weil es unmöglich ist, zu wissen, welche unvorhergesehene Folgen daraus entspringen mögen, oder wie bald sie stattfinden dürften, wenn Ihr nicht von seiner Stimmung unterrichtet seid. Wie ich höre, ist Miß Dombey schuld an der Entlassung ihrer alten Dienerin – vielleicht schon eine der kleineren Folgen. Ihr macht mir doch keinen Vorwurf, daß ich Euch bat, Miß Dombey bei unserer Besprechung nicht anwesend sein zu lassen? Darf ich dies hoffen?«

»Ich mache Euch keinen Vorwurf. Habt die Güte, mich zu verlassen, Sir.«

»Ich weiß und bin vollkommen überzeugt, daß Eure Liebe zu dieser jungen Dame sehr aufrichtig und innig ist; aber eben deshalb müßte es Euch sehr unglücklich machen, wenn in Eurem Innern der Gedanke Raum gewinnen könnte, Ihr selbst hättet ihre Stellung beeinträchtigt und ihre künftigen Hoffnungen zugrunde gerichtet«, sagte Carker hastig und mit großem Eifer.

»Heute nichts mehr. Verlaßt mich, wenn ich bitten darf.«

»Ich werde stets hier im Hause und um ihn sein, da dies schon die Geschäfte erfordern. Ihr erlaubt mir doch, Euch wieder zu besuchen, damit ich mich bei Euch über das, was zu geschehen hat, Rats erholen und Eure Wünsche kennenlernen kann?«

Sie winkte ihm nach der Tür.

»Ich bin noch nicht einmal mit mir im klaren, ob ich ihm sagen soll, daß ich mit Euch gesprochen habe, oder ob es nicht besser ist, ihn in dem Glauben zu lassen, ich sei nicht imstande gewesen, seinen Auftrag zu erfüllen, entweder aus Mangel an Gelegenheit, oder aus irgendeinem andern Grunde. Es dürfte daher nötig sein, daß ich mich hierüber sehr bald mit Euch verständige.«

»Wann Ihr wollt, nur jetzt nicht«, antwortete sie.

»Ihr werdet einsehen, daß auch bei der nächsten Besprechung Miß Dombey nicht anwesend sein kann. Darf ich des Glaubens leben, Ihr sähet bei jener Zusammenkunft in mir nur einen Mann, der das Glück hat, Euer Vertrauen zu besitzen, und bereit ist, Euch jeden ihm zu Gebot stehenden Beistand zu leisten – ja, vielleicht auch sich in der Lage befindet, von ihr Schlimmes abzuwehren?«

Von ihrer Seite noch immer dieselbe Furcht, ihn auch nur einen Moment von dem Einfluß ihres festen Blickes, welch derselbe auch sein mochte, zu entbinden. Sie antwortete mit Ja und hieß ihn abermals sich entfernen.

Er machte eine willfährige Verbeugung, wandte sich aber, als er die Tür nahezu erreicht hatte, noch einmal um und sagte:

»Erfreue ich mich Eurer Verzeihung und habe ich meinen Fehler aufgeklärt? Darf ich – um Miß Dombeys und um meiner selbst willen – Eure Hand ergreifen, ehe ich gehe?«

Sie reichte ihm die mit dem Handschuh bedeckte Hand, die sie abends zuvor verstümmelt hatte. Er nahm sie, drückte einen Kuß darauf und entfernte sich. Sobald er die Tür hinter sich geschlossen, schwenkte er die Hand, in der die ihre gelegen, und legte sie auf seine Brust.

Zweiunddreißigstes Kapitel.


Zweiunddreißigstes Kapitel.

Der hölzerne Midshipman geht in die Brüche.

Der ehrliche Kapitän Cuttle versäumte, obgleich er schon Wochen in seinem befestigten Zufluchtsorte zugebracht hatte, keineswegs die klugen Vorsichtsmaßregeln gegen Überraschung, und ließ sich durch das Ausbleiben des Feindes nicht beirren. Er war der Ansicht, daß seine gegenwärtige Sicherheit viel zu tief und wunderbar sei, um für die Dauer bestehen zu können. Er wußte, daß der Wetterhahn selten nagelfest blieb, wenn der Wind aus einer ungünstigen Richtung blies, und war zu gut mit dem entschlossenen furchtlosen Charakter der Mrs. Mac Stinger bekannt, um daran zu zweifeln, daß diese heroische Dame nicht alle ihre Kräfte aufbieten werde, um ihn aufzufinden und wieder zu kapern. Zitternd unter dem Gewicht dieser Gründe, führte Kapitän Cuttle ein sehr stilles, zurückgezogenes Leben und ging selten anders als nach Einbruch der Dunkelheit aus. Selbst dann wagte er sich nur in die dunkelsten Straßen. Namentlich hütete er sich, an Sonntagen seine Wohnung zu verlassen, und bei jeder Gelegenheit, sowohl innerhalb wie außerhalb der Mauern seines Zufluchtsorte, mied er Weiberhüte, als würden sie von brüllenden Löwen getragen.

Der Kapitän ließ sich nie den Gedanken kommen, daß es, wofern Mrs. Mac Stinger ihn auf einem seiner Ausgänge ertappte, möglich sein könnte, ihr Widerstand zu bieten. Er fühlte, daß dieses nicht anging, und vergegenwärtigte sich sogar schon, wie er ganz zahm in eine Mietkutsche gepackt und nach seiner alten Wohnung abgeführt wurde. War er einmal dort eingemauert, so mußte er sich als verlorenen Mann betrachten. Sein Hut wurde in Beschlag gelegt, Mrs. Mac Stinger bewachte ihn Tag und Nacht, Vorwürfe fielen auf sein Haupt nieder vor der jungen Familie, und er selbst erschien als der schuldbeladene Gegenstand des Argwohns und Mißtrauens – in den Augen der Kinder als ein Werwolf, in denen der Mutter als ein entdeckter Verräter.

Der Kapitän wurde stets ganz kleinmütig, und der Schweiß brach ihm aus allen Poren, wenn er sich dieses düstere Bild seiner Einbildungskraft vergegenwärtigte. Das war in der Regel der Fall, ehe er nachts um der frischen Luft und der Bewegung willen sich aus dem Hause schlich. Im Gefühl der Gefahr, die ihn bedrohte, verabschiedete er sich bei solchen Anlässen von Rob mit der Feierlichkeit eines Mannes, der vielleicht nie wieder zurückkehrt. Er ermahnte ihn für den Fall seines plötzlichen zeitweiligen Verschwindens, auf den Pfaden der Tugend fortzuwandeln und die Messing-Instrumente blank zu erhalten.

Um übrigens keine Gelegenheit zu versäumen, sich für den schlimmsten Fall ein Mittel zu sichern, mit der äußern Welt in Verkehr zu treten, kam Kapitän Cuttle bald auf den glücklichen Gedanken, Rob, den Schleifer, über ein geheimes Signal zu belehren, wodurch dieser Anhänger ihm in der Stunde der Not seine Nähe und Treue bekunden konnte. Nach reiflicher Erwägung entschied er sich dafür, ihn die Melodie des Matrosenliedes: »Auf, Matrosen, die Anker gelichtet!« pfeifen zu lehren, und nachdem es Rob, der Schleifer, darin zu einer Vollkommenheit gebracht hatte, wie sie besser von einer Landratte nicht zu erwarten war, legte ihm sein Gebieter noch folgende geheimnisvolle Weisungen ans Herz:

»Jetzt halt bei, mein Junge! Wenn ich gefaßt werde –«

»Gefaßt, Kapitän?« unterbrach ihn Rob, seine runden Augen weit aufsperrend.

»Ah!« entgegnete Kapitän Cuttle geheimnisvoll, »wenn ich je fortgehe, in der Absicht, beim Nachtessen wieder da zu sein, und nicht wieder in Rufweite komme, so suchst du vierundzwanzig Stunden nach meinem Verschwinden Brig-Place auf und pfeifst dort in der Nähe meines alten Ankergrundes diese Melodie. Merke wohl, nicht als ob du etwas damit im Schild führst, sondern unter dem Anschein, als seiest du von ungefähr dahin getriftet. Gebe ich in der gleichen Weise Antwort, mein Junge, so stoppst du ab und kommst nach vierundzwanzig Stunden wieder; pfeife ich aber eine andere Melodie, so steuerst du aus und ein und wartest, bis ich dir weitere Signale zugehen lasse. Begreifst du diese Weisungen?«

»Wie soll ich denn aus- und einsteuern, Kapitän?« fragte Rob. »Auf dem Fahrwege?«

»Du bist mir ein pfiffiger Bursche«, rief der Kapitän, ihn finster ins Auge fassend, »der nicht einmal sein eigenes ABC versteht! Du gehst abwechselnd ein bißchen weg und kommst wieder zurück – begreifst du das?«

»Ja, Kapitän«, versetzte Rob.

»Gut also, mein Junge«, sagte der Kapitän in milderem Ton. »So wirst du es halten.«

Damit hierin ja kein Fehler vorgehe, ließ sich Kapitän Cuttle abends, nachdem der Laden geschlossen war, bisweilen herab, den Schleifer eine Probe des Patrouillenganges vornehmen zu lassen. Zu diesem Ende begab er sich in das Hinterstübchen, das die Wohnung einer vermeintlichen Mac Stinger vorstellen mußte, und faßte von dem Spionierloch aus, das er in die Mauer gebohrt hatte, das Benehmen seines Verbündeten sorgfältig ins Auge. Bei derartigen Gelegenheiten machte Rob, der Schleifer, seine Sache mit solcher Pünktlichkeit und Umsicht, daß ihm der Kapitän zu verschiedenen Zeiten als Zeichen seiner Zufriedenheit sieben Sechspencestücke schenkte. Anbei faßte allmählich in seinem Geiste die Ergebung eines Mannes Wurzel, der für den schlimmsten Fall seine Maßregeln getroffen und nichts versäumt hat, um sich gegen ein unvermeidliches Schicksal bestens zu verwahren.

Trotzdem hütete sich der Kapitän sorgfältig, das Schicksal herauszufordern, und er benahm sich um kein Haar waghalsiger, als zuvor. Zwar hielt er es für einen Anstands- und Ehrenpunkt, als Freund der Familie im allgemeinen Mr. Dombeys Trauung, von der ihm durch Mr. Perch Kunde zugegangen war, beizuwohnen und dem Bräutigam von der Emporkirche aus ein erfreutes, Beifall zollendes Gesicht zu zeigen. Aber er machte die Fahrt nach der Kirche in einer Mietkutsche, deren beide Blenden er niedergelassen hatte. Vielleicht würde er in seiner Furcht vor Mrs. Mac Stinger auch vor diesem Wagnis Anstand genommen haben. Aber da die erwähnte Dame unter die Gemeinde des ehrwürdigen Melchisedek gehörte, so war es sehr unwahrscheinlich, daß man ihrer in einem Gotteshause der bischöflichen Kirche begegnen könnte.

Der Kapitän war glücklich wieder nach Hause gekommen und fühlte seine neue Lebensweise fort, ohne daß von dem Feind eine unmittelbare Behelligung ausging, ausgenommen die tägliche Erscheinung von Weiberhüten auf der Straße. Aber jetzt begannen auch andere Gegenstände den Geist des Kapitäns zu bedrängen. Von Walters Schiff hatte man noch immer nichts gehört, und auch von dem alten Sol Gills lief keine Kunde ein.

Florence war nicht einmal von dem Verschwinden des alten Mannes unterrichtet, und dem Kapitän gebrach es an Mut, ihr die betreffende Mitteilung zu machen. In der Tat begannen seine Hoffnungen für den wackeren, hübschen, treuherzigen Jungen, den er nach seiner rauhen Art von Kindheit auf geliebt hatte, von Tag zu Tag mehr hinzuschwinden, weshalb schon der Gedanke an eine Rücksprache mit Florence ihm schmerzlich wurde. Freilich, wäre er der Überbringer guter Neuigkeiten gewesen, so würde er sich zu ihr Bahn gebrochen haben, trotz des neu herausgeputzten Hauses und der prächtigen Möbel, obschon ihm diese in Verbindung mit der Dame, die er in der Kirche gesehen, einen geheimen Schrecken einflößten. So aber umdüsterte ein schwarzer Horizont ihre gemeinschaftlichen Hoffnungen. Es kam dem Kapitän fast vor, als sei er für sie ein neuer Gegenstand des Unglücks und des Leides, so daß er sich vor einem Besuch bei Florence kaum weniger fürchtete, als vor dem Erscheinen der Mrs. Mac Stinger selbst.

Es war ein frostiger trüber Herbstabend, und Kapitän Cuttle hatte Feuer in dem kleinen Hinterstübchen anzünden lassen, das jetzt mehr als je wie die Kajüte eines Schiffes aussah. Der Regen fiel in Strömen nieder, und es stürmte sehr. Der Kapitän ging in dem windigen Dachstübchen, wo sein alter Freund zu schlafen pflegte, umher und stellte Witterungsbeobachtungen an. Aber das Herz erstarb ihm fast in seinem Innern, als er wahrnahm, wie wild und trostlos es draußen aussah. Zwar fiel es ihm nicht ein, das damalige Wetter mit dem Schicksal des armen Walter in Verbindung zu bringen, oder daran zu zweifeln, daß es längst mit ihm vorbei sein müsse, wenn die Vorsehung beschlossen habe, ihn durch Schiffbruch umkommen zu lassen. Jedoch unter dem äußeren Einflusse, wie verschieden er auch sein mochte von dem Hauptgegenstand seiner Gedanken, entsank dem Kapitän der Mut; und seine Hoffnungen erblichen, was auch weiseren Männern schon oft so ergangen ist und noch oft ergehen wird.

Das Gesicht gegen den scharfen Wind und den schräg einfallenden Regen kehrend, blickte Kapitän Cuttle nach der schweren Wolke hinauf, die schnell über das Labyrinth von Hausgiebeln hinflog, ohne auch nur eine Spur von Ermutigung darin zu finden. Die Aussicht in unmittelbarer Nähe war nicht besser. Zu seinen Füßen girrten in allerlei Teekisten und anderen rauhen Truhen die Tauben Robs, des Schleifers, gleich ebenso vielen aufspringenden unheimlichen Winden. Eine gichtbrüchige Windfahne, einen Midshipman mit dem Teleskop vor Augen darstellend, der vordem von der Straße aus sichtbar gewesen war, jetzt aber unter der Masse von Ziegeln verschwunden zu sein schien, ächzte und jammerte auf ihrem rostigen Stift, wie die pfeifenden Stöße, die den Midshipman umherdrehten und grausames Spiel mit ihm trieben. Auf der groben blauen Weste des Kapitäns standen die kalten Regentropfen gleich Stahlperlen, und er vermochte sich kaum zu halten vor dem steifen Nordwest, der gegen ihn andrängte, als habe er Lust, ihn über die Böschung aufs Pflaster hinunterzuwerfen. »Wenn an einem solchen Abend sich noch ein bißchen Hoffnung regt«, dachte der Kapitän, während er seinen Hut festhielt, »so ist sie sicherlich im Hause und nicht draußen«; er schüttelte daher verzagt den Kopf und ging hinunter, um nach ihr zu sehen.

Er stieg langsam nach dem kleinen Hinterstübchen hinab, setzte sich in seinen gewöhnlichen Stuhl und suchte sie in den Flammen des Feuers; aber da war sie nicht, obschon das Feuer hell aufloderte. Dann nahm er Tabak, Dose und Pfeife heraus, um zu rauchen. Er suchte sie in der roten Glut des Pfeifenkopfs und in den Dampfwolken, die von seinen Lippen aufwirbelten. Aber auch hier wollte sich nicht einmal ein Atom von dem Rost des Hoffnungsankers zeigen. Er versuchte es mit einem Glas Grog; indessen die traurige Wahrheit lag auf dem Boden dieses Brunnens, und er konnte nicht damit fertig werden. Dann machte er einige Gänge durch den Laden und spähte nach der Hoffnung unter den Instrumenten. Doch sie arbeiteten hartnäckig, trotz aller Einreden, die er vorzubringen vermochte, für das fehlende Schiff nur Gissungen aus, die mit dem Grunde des einsamen Meeres endigten.

Der Wind brauste fort, und der Regen klatschte noch immer gegen die geschlossenen Läden. Der Kapitän legte vor dem hölzernen Midshipman auf dem Ladentisch bei und machte sich, während er mit seinem Ärmel die Uniform des kleinen Offiziers trocknete, Gedanken, wie alt dieser wohl sein möge – wie wenige Wechsel (kaum irgendeiner) seine Schiffskameradschaft betroffen habe – wie die Veränderungen sozusagen fast auf einen Tag zusammenfielen – und wie erschütternder Art sie gewesen. Die kleine Gesellschaft des Hinterstübchens war aufgelöst und weit und breit hin zerstreut. Es gab keine Zuhörerschaft mehr für die liebliche Peg, selbst wenn jemand da gewesen wäre, um das Lied zu singen. Der Kapitän fühlte nämlich die moralische Überzeugung, außer ihm sei niemand einer derartigen Aufgabe gewachsen, und unter obwaltenden Umständen befand er sich nicht in der Stimmung, es auch nur zu versuchen. Es gab kein heiteres Wal’r-Gesicht im Hause – hier führte der Kapitän für einen Augenblick seinen Ärmel von der Uniform des Midshipmans nach der eigenen Wange – die bekannte Perücke und die Knöpfe des alten Sol Gills gehörten der Vergangenheit an. Richard Whittington war auf den Kopf geschlagen, und jeder Plan, jeder Entwurf, der Bezug auf den Midshipman hatte, lag ohne Mast und Steuer triftig auf der endlosen Wasserfläche.

Während der Kapitän mit trostlosem Gesicht sich in solchen Gedanken erging und teils in der liebevollen Zärtlichkeit alter Bekanntschaft, teils in der Zerstreutheit seines Geistes an dem Midshipman polierte, jagte ein Klopfen an die Ladentür Rob, dem Schleifer, einen mächtigen Schrecken ein. Dieser saß nämlich auf dem Ladentisch, verwandte keines seiner großen Augen von dem Gesicht des Kapitäns und überlegte schon hundertmal in seinem Innern, ob wohl sein Gebieter einen Mord verübt, daß er ein so böses Gewissen habe und alle Augenblicke Reißaus nehme.

»Was ist das?« fragte Kapitän Cuttle leise.

»Es klopft jemand, Kapitän«, antwortete Rob, der Schleifer.

Mit scheuer, schuldbewußter Miene schlich der Kapitän auf den Zehen in das kleine Hinterstübchen und schloß sich ein. Rob, der die Tür öffnete, hatte im Sinne, auf der Schwelle den Besuch wie ein Kriminalkommissar zu behandeln, falls sich dieser in weiblicher Verkleidung zeigte. Aber der Besuch gehörte seinem Äußern nach dem männlichen Geschlecht an, und da Cuttles Weisungen sich nur auf Weiber bezogen, so riß er die Tür auf und ließ den Gast eintreten, der seinerseits nicht zögerte und überfroh war, aus dem Regen zu kommen.

»Jedenfalls wieder Arbeit für Burgeß und Co.«, sagte der Besuch, der mit kläglicher Miene abwärts auf seine durchnäßten und mit Kot bespritzten Schuhe sah. »O, wie geht es Euch, Mr. Gills?«

Diese Begrüßung galt dem Kapitän, der tat, als komme er ganz zufällig aus dem Hinterstübchen heraus, obschon dieses Anstellen so erkünstelt war, daß man es auf den ersten Blick durchschauen konnte.

»Danke«, fuhr der Gentleman in demselben Atem fort, »ich bin in der Tat ganz wohl. Mein Name ist Toots – Mister Toots.«

Der Kapitän erinnerte sich, den jungen Herrn bei der Hochzeit gesehen zu haben, und machte eine Verbeugung. Mr. Toots antwortete mit einem Kichern, und da er sich, wie gewöhnlich, in großer Verlegenheit befand, so atmete er tief auf und schüttelte dem Kapitän geraume Zeit die Hand, um sodann in Ermangelung eines anderen Auskunftsmittels in der herzlichsten Weise mit Rob, dem Schleifer, dasselbe Manöver vorzunehmen.

»Wenn Ihr nichts dagegen habt, so möchte ich gern ein Wörtchen mit Euch sprechen, Mr. Gills«, sagte endlich Toots mit überraschender Geistesgegenwart. »Ihr wißt, ich meine wegen Miß D.D.M.«

Mit entsprechender geheimnisvoller Würde schwenkte der Kapitän seinen Haken nach dem Hinterstübchen, wohin ihm Mr. Toots folgte.

»O, ich muß Euch um Verzeihung bitten«, fuhr Mr. Toots fort und blickte, sobald er auf dem für ihn neben den Kamin gerückten Stuhl Platz genommen, zu Kapitän Cuttles Gesicht auf. »Ihr werdet wohl den Preishahn nicht kennen, Mr. Gills – oder?«

»Den Preishahn?« versetzte der Kapitän.

»Ja, den Preishahn«, sagte Mr. Toots.

Der Kapitän schüttelte den Kopf, und Mr. Toots setzte nun auseinander, daß er auf die berühmte öffentliche Person anspiele, die sich und sein Vaterland in dem Kampf gegen den Nobby aus Shropshire mit Lorbeeren bedeckt habe. Aber diese Mitteilung schien den Kapitän nicht sonderlich aufzuklären.

»Weil er draußen ist, meine ich«, sagte Mr. Toots. »Doch es ist von keinem Belang, obschon er vielleicht tüchtig durchnäßt wird.«

»Ich kann ihm augenblicklich das Signal zugehen lassen«, versetzte der Kapitän.

»Recht; wenn Ihr so gut sein wollt, so kann er bei Eurem jungen Mann im Laden draußen bleiben«, kicherte Mr. Toots. »Es wäre mir lieb; denn Ihr müßt wissen, daß er sich leicht beleidigt fühlt, und die Nässe könnte seinem Urstoff nachteilig werden. Ich will ihn hereinrufen, Mr. Gills.«

Mit diesen Worten kehrte Mr. Toots nach der Ladentür zurück und entsandte in die Nacht hinaus ein eigentümliches Pfeifen, worauf ein stoischer Gentleman mit zottigem, weißem Überrock, einem flachrandigen Hut, sehr kurzem Haar, zerbeulter Nase und einem beträchtlichen Strich kahlen und unfruchtbaren Bodens hinter jedem Ohr eintrat.

»Setzt Euch, Preishahn«, sagte Mr. Toots.

Der schmiegsame Preishahn spuckte einige Grashalme aus, an denen er sich eben geletzt hatte, und versah sich aus dem Büschelchen, das er in der Hand trug, mit neuem Vorrat.

»Ist da nichts zum Wärmen zur Hand?« fragte der Prelshahn im allgemeinen. »Es ist eine schwere Sudelnacht für einen Mann, der von seiner Stellung leben muß.«

Kapitän Cuttle brachte ein Glas Rum herbei, das der Preishahn mit zurückgeworfenem Kopf wie in ein Faß leerte, nachdem er zuvor den kurzen Trinkspruch hingeworfen hatte: »Eure Gesundheit!« Mr. Toots und der Kapitän kehrten alsdann wieder nach dem Hinterstübchen zurück, wo sie abermals vor dem Feuer Platz nahmen.

»Mr. Gills –«, begann Mr. Toots.

»Halt da!« versetzte der Kapitän. »Mein Name ist Cuttle.«

Mr. Toots zeigte ein sehr verwirrtes Gesicht, während der Kapitän gravitätisch fortfuhr:

»Kapt’n Cuttle ist mein Name, England ist mein Vaterland, dies hier ist mein Aufenthalt und schütz‘ uns Gottes Vaterhand – Hiob«, fügte der Kapitän als Hinweisung auf seine Autorität bei.

»Aber könnte ich denn nicht Mr. Gills sehen?« fragte Mr. Toots; »denn – –«

»Wenn Ihr Sol Gills sehen könntet, junger Mann«, versetzte der Kapitän mit Nachdruck, indem er seine schwere Hand auf das Knie seines Gefährten legte – »wohlgemerkt, den alten Sol – mit leiblichen Augen – und wie Ihr so dasitzt – so würdet Ihr mir willkommener sein, als ein Wind vom Stern her einem von Windstille betroffenen Schiff. Aber Ihr könnt Sol Gills nicht sehen. Und warum könnt Ihr ihn nicht sehen?« fragte der Kapitän, der aus dem Gesicht des jungen Gentleman entnahm, daß er einen tiefen Eindruck auf diesen machte. »Weil er unsichtbar ist.«

Mr. Toots wollte in seiner Aufregung eben erwidern, daß es nicht von Belang sei, besann sich aber eines Besseren und sagte:

»Gott behüte mich!«

»Jener Mann«, fuhr Kapitän Cuttle fort, »hat vermöge eines Schreibens mir die Obhut über alles hier vertraut. Aber obschon er mir fast wie ein geschworener Bruder war, weiß ich doch nicht, wohin oder warum er gegangen ist. Tat er es, um seinen Neffen zu suchen, oder weil es nicht ganz richtig in seinem Kopf stand – das ist für mich ein ebenso großes Rätsel wie für Euch. Eines Morgens um Tagesanbruch machte er sich über Bord – ohne Wellenschlag, ohne Plätschern«, sagte der Kapitän. »Ich habe hoch und nieder nach ihm durchsucht, aber von Stund‘ an weder etwas von ihm sehen noch hören können.«

»Ach du mein Himmel, und Miß Dombey weiß nicht –« begann Mr. Toots.

»Nun, ich frage Euch als einen Menschen von Gefühl«, unterbrach ihn der Kapitän mit gedämpfter Stimme, »warum sollte sie es auch wissen? Warum es ihr früher kundtun, als bis es einmal nicht mehr zu verheimlichen ist? Das süße Geschöpf hing an dem alten Sol Gills mit einer Liebe, einer Freundlichkeit, einer – doch was nützt es, wenn ich alles dies ausführe! Ihr kennt sie?«

»Ich sollte es meinen«, kicherte Mr. Toots mit einem schuldbewußten Erröten, das sich über sein ganzes Gesicht breitete. »Dann brauche ich Euch nur zu bemerken«, sagte der Kapitän, »daß Ihr einen Engel kennt und von einem Engel bevorrechtet seid.«

Mr. Toots ergriff augenblicklich die Hand des Kapitäns und bat ihn um seine Freundschaft.

»Ich gebe Euch mein Ehrenwort«, sagte Mr. Toots angelegentlich, »daß ich es als eine große Gunst betrachten würde, wenn Ihr näher mit mir bekannt werden wolltet. Es wäre mir sehr lieb, mich Eures Umgangs weiter erfreuen zu dürfen, Kapitän, denn es fehlt mir in der Tat an einem Freund. Der kleine Dombey war bei den alten Blimbers mein Freund und wäre es noch, wenn er nicht im Grabe läge. Der Preishahn«, fuhr Mr. Toots in schüchternem Flüstern fort – »ist wohl ganz recht – bewundernswürdig in seiner Art – vielleicht der schärfste Mann von der Welt. Jeder sagt, es gebe nichts, dem er nicht gewachsen sei – aber ich weiß nicht – er ist doch nicht alles. Ja, Kapitän, sie ist ein Engel. Wenn es irgendwo einen Engel gibt, so ist er in Miß Dombey zu finden. Das habe ich immer gesagt. Und eben deshalb«, fügte Mr. Toots bei, »werde ich es Euch sehr Dank wissen, wenn Ihr meine Bekanntschaft fördern wolltet.«

Kapitän Cuttle nahm diesen Antrag in höflicher Weise entgegen, ohne sich jedoch durch die Annahme desselben eine Blöße zu geben, indem er nur bemerkte:

»Ja, ja, mein Junge. Wir wollen sehen – wir wollen sehen.«

Dann erinnerte er Mr. Toots an den augenblicklichen Zweck seiner Sendung durch die Frage, welchem Umstand er die Ehre seines Besuchs zu danken habe.

»Die Sache verhält sich so«, antwortete Mr. Toots, »daß ich eben von dem jungen Frauenzimmer komme – nicht von Miß Dombey, müßt Ihr wissen, sondern von Susanne.«

Der Kapitän nickte mit ernstem Ausdruck, als wolle er andeuten, daß er vor dieser Person die größte Achtung habe.

»Und ich will Euch sagen, wie das kam«, fuhr Mr. Toots fort. »Ihr wißt, ich mache bisweilen Miß Dombey meinen Besuch. Wohlgemerkt, ich gehe nicht ausdrücklich deshalb hin, sondern nur, weil ich sehr oft in die Gegend komme. Und bin ich einmal in der Nähe – nun, so spreche ich auch vor.«

»Natürlich«, bemerkte der Kapitän.

»Ja«, versetzte Mr. Toots. »So war ich heute nachmittag dort. Auf Ehre, ich glaube nicht, daß man sich eine Vorstellung machen kann, wie so ganz engelgleich Miß Dombey sich heute nachmittag ausnahm.«

Kapitän Cuttle antwortete mit einem Ruck seines Kopfes, der ausdrückte, andern Leuten dürfte dies schwer werden, ihm aber nicht.

»Als ich wieder herauskam«, sagte Mr. Toots, »führte mich das junge Frauenzimmer in der unerwartetsten Weise in die Speisekammer.«

Dem Kapitän schien für den Augenblick ein derartiges Benehmen anstößig zu sein; denn er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Mr. Toots mit mißtrauischem, wo nicht mit drohendem Blick.

»Da zog sie nun diese Zeitung hervor«, sagte Mr. Toots. »Sie teilte mir mit, sie habe diese den ganzen Tag vor Miß Dombey verborgen, weil über eine Person etwas darin stehe, die ihr und Miß Dombey wohl bekannt sei; und dann las sie mir die Stelle vor. Gut also. Dann sagte sie – wartet ein wenig – was war es doch, was sie zu mir sagte?«

Mr. Toots, der sich alle Mühe gab, alle seine Geisteskräfte der gedachten Frage zuzuwenden, begegnete jetzt zufällig den Augen des Kapitäns und wurde durch dessen strengen Ausdruck so verwirrt, daß es ihn nur eine um so peinlichere Anstrengung kostete, den Faden des beabsichtigten Vortrags wieder aufzufinden.

»O!« rief Mr. Toots nach langem Besinnen. »O ja! Sie sagte, sie hoffe, daß doch noch die Möglichkeit einer Unwahrheit dieses Berichtes vorhanden sei. Da sie nun nicht wohl selbst herauskommen könne, ohne daß es Miß Dombey auffalle, so solle ich zu Mr. Solomon Gills, dem Instrumentenmacher, einem Onkel des betreffenden Menschen, der in dieser Straße wohne, gehen und ihn fragen, ob er der Nachricht Glauben schenke oder ob er nichts in der City gehört habe. Sie sagte, wenn er nicht mit mir darüber sprechen könne, sei ohne Zweifel Kapitän Cuttle in der Lage. Beiläufig«, setzte Mr. Toots hinzu, als sei er eben auf diese Entdeckung gekommen, »Ihr – Ihr werdet wissen –«

Der Kapitän schaute nach der Zeitung in der Hand des jungen Gentleman hin und atmete schwer.

»Der Grund nun«, fuhr Mr. Toots fort, »warum ich so spät komme, liegt darin, daß ich zuerst bis Finchley hinauf mußte, um von der ungemein schönen Vogelmiere, die dort wächst, einigen Vorrat für Miß Dombeys Vogel zu holen. Dann bin ich sogleich hiehergeeilt. Ihr habt ohne Zweifel die Zeitung zu Gesicht bekommen?«

Der Kapitän, der sich wohl vor dem Zeitungslesen hütete, aus Furcht, es könnte ihm sein von Mrs. Stingers eingerücktes volles Signalement vor Augen kommen, schüttelte den Kopf.

»Soll ich Euch die Stelle vorlesen?« fragte Mr. Toots.

Der Kapitän machte ein Zeichen der Bejahung, und Mr. Toots las aus den Schiffsnachrichten, wie folgt:

»›Southampton. Die Barke Defiance, Kommandeur Henry James, ist heute mit einer Ladung von Zucker, Kaffee und Rum in unserm Hafen eingelaufen. Sie meldet, daß ste am sechsten Tag nach ihrer Abfahrt von Jamaica unter – dieser und dieser Breite, Ihr kennt das ja« – sagte Mr. Toots, nachdem er mit den Zahlen einen schwachen Anlauf genommen, ohne übrigens mit ihnen fertig zu werden.

»– – Breite«, wiederholte Toots mit einem verlegenen Blick auf den Kapitän, »und Länge so und so von einer Windstille befallen wurde. Bei dieser Gelegenheit bemerkte der Ausluger eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang einige Schifftrümmer, die in der Entfernung von nicht ganz einer halben Seemeile schwammen. Das Wetter war klar, und da die Barke ruhig lag, so wurde ein Boot ausgehißt und Befehl erteilt, von dem Wrack Kenntnis zu nehmen. Es bestand nur noch aus einigen großen Spieren und einem Teil des Haupttakelwerks einer englischen Brigg von ungefähr fünfhundert Tonnen Last nebst einem Teil des Stern, auf dem die Worte und Buchstaben ›Sohn und E–‹ noch deutlich zu lesen waren. Auf den schwimmenden Trümmern zeigte sich keine Spur von toten Menschen. Das Log der Defiance gibt an, daß in der Nacht eine Brise aufsprang und von dem Wrack nichts weiter gesehen wurde. Es kann jetzt keinem Zweifel mehr unterliegen, daß alle Mutmaßungen übel das vermißte Schiff ›Sohn und Erbe‹, ausgefahren aus dem Hafen von London und nach Barbados bestimmt, als erledigt anzusehen sind, daß besagtes Schiff bei dem letzten Orkan zugrunde ging und daß die gesamte an Bord befindliche Mannschaft ein Raub der Wellen wurde.«

Wie jeder Mensch, hatte auch Kapitän Cuttle nicht gewußt, wie viel Hoffnung trotz aller ungünstigen Verhältnisse ihm übrig geblieben war, bis ihr dieser Todesstoß versetzt wurde. Während diese Notiz vorgelesen wurde und auch noch einige Minuten nachher saß er da wie verstört, seinen Blick auf den bescheidenen Mr. Toots heftend; dann erhob er sich plötzlich, setzte den Hut, den er zu Ehren seines Besuchs auf den Tisch gelegt hatte, auf den Kopf, wandte sich ab und beugte sein Gesicht auf den Kaminmantel nieder.

»O, auf mein Ehrenwort«, rief Mr. Toots, dessen empfindsames Herz sich von dem Anblick der tiefen Betrübnis, die der Kapitän so unerwartet zeigte, tief ergriffen fühlte, »es ist doch eine gar schlimme Sache um die Welt. Immer stirbt jemand oder bereitet andern Leid. Wahrhaftig, wenn ich das gewußt hätte, würde ich mich nicht so danach gesehnt haben, in mein Eigentum zu kommen. Ich habe nie eine solche Welt gesehen; sie ist bei weitem ärger, als die bei Blimber.«

Kapitän Cuttle gab, ohne seine Stellung zu ändern, Mr. Toots durch ein Zeichen zu verstehen, daß er sich nicht an ihn kehren möchte. Dann wandte er sich, den Glanzhut bis auf die Ohren niedergedrückt, um und fuhr mit der Hand über sein braunes Gesicht.

»Wal’r, mein lieber Junge«, sagte der Kapitän, »lebe wohl! Ich habe dich geliebt, als du ein Kind, ein Knabe und ein Jüngling warst«, fuhr er fort und schaute dabei in das Feuer. »Er gehörte mir nicht an durch die Bande des Fleisches und Blutes – ich habe kein Kind gezeugt – aber bei dem Verlust Wal’rs fühle ich etwas von dem, was ein Vater empfindet, der einen Sohn verliert. Und warum?« fuhr der Kapitän fort. »Weil es sich hier nicht um einen einzigen Verlust handelt, sondern um ein ganzes Dutzend. Wo ist der kleine Schuljunge mit dem frischen Gesicht und den Locken, der in diesem Stübchen hier die ganze Woche über so lustig war, wie eine Spieluhr? Mit Wal’r untergegangen. Wo ist der prächtige Junge, den nichts ermüden und erschöpfen konnte, dessen Auge, wenn man ihn mit der Herzensfreude aufzog, so hell glänzte und dessen Gesicht so glühend errötete, daß es eine Lust war, es mit anzusehen? Mit Wal’r untergegangen. Wo ist der feurige Geist des Jünglings, der es nicht ertragen konnte, wenn der alte Mann nur eine Minute kleinmütig war, und sich nie um sich selbst kümmerte? Mit Wal’r untergegangen. Es ist nicht ein einziger Wal’r, sondern es waren ihrer ein ganzes Dutzend, die ich kannte und liebte, und alle hielten sich an seinem Halse fest, als er in den Wellen versank. Ach, sie leben noch immer in meinem Herzen!«

Mr. Toots blieb schweigend sitzen und faltete die Zeitung auf seinem Knie so klein wie möglich zusammen.

»Und Sol Gills«, sagte der Kapitän, ins Feuer schauend, »armer, deines Neffen beraubter alter Sol – wo bist du hingekommen! Du wurdest meiner Obhut anvertraut; denn seine letzten Worte waren: ›Habt acht auf meinen Onkel‹ Was ist dir wohl zugestoßen, seit du gingst und Ned Cuttle im Stich ließest, und wie soll ich deinetwegen mich verantworten, wenn er jetzt auf mich niederschaut? Sol Gills, Sol Gills«, fügte der Kapitän mit langsamem Kopfschütteln hinzu, »wenn du jetzt fern von der Heimat diese Zeitung zu Gesicht bekommst und niemanden, der Wal’r kannte, in der Nähe hast, daß er dir ein Wort des Trostes spende, so wird die Nachricht wohl wie eine Breitseitensalve auf dich wirken, und es muß mit dir hinuntergehen, den Schnabel voran!«

Mit einem schweren Seufzer wandte sich der Kapitän wieder an Mr. Toots, der Anwesenheit dieses Gentleman jetzt eine bewußte Aufmerksamkeit schenkend.

»Mein Junge«, sagte der Kapitän, »Ihr müßt dem jungen Frauenzimmer mitteilen, daß diese unglückliche Neuigkeit leider nur zu wahr ist. Ihr seht, über solche Dinge schreibt man keine Romane. Es ist im Schiffslog eingetragen, und ein zuverlässigeres Buch gibt es auf der ganzen Welt nicht. Morgen früh will ich einen Ausgang machen und Nachforschungen anstellen«, fuhr er fort, »obschon ich voraussehe, daß sie zu nichts führen werden. Es ist auch nicht möglich. Wenn Ihr morgen vormittag vorsprechen wollt, so sollt Ihr erfahren, was ich gehört habe. Aber sagt nur dem jungen Frauenzimmer von dem Kapt’n Cuttle, daß es vorbei sei. Vorbei!«

Und der Kapitän holte mit seinem Haken den Glanzhut herab, langte aus der Krone sein Schnupftuch heraus, wischte sich verzweifelnd seinen grauen Kopf und warf das Tuch mit der Gleichgültigkeit des höchsten Kleinmuts wieder hinein.

»O, ich versichere Euch«, sagte Mr. Toots, »es tut mir in der Tat schrecklich leid. Ihr dürft mir auf mein Wort glauben, obschon ich mit dem betreffenden Menschen nicht bekannt war. Glaubt Ihr, Miß Dombey werde darüber sehr betrübt sein, Kapitän Gills – Mr. Cuttle, wollte ich sagen?«

»Aber Gott behüte Euch«, entgegnete der Kapitän wie in einem Anflug von Mitleid mit Mr. Toots‘ Unschuld. »Als sie noch nicht größer als so war, hatten sie einander schon so lieb wie ein Paar junge Tauben.«

»Was Ihr da sagt!« versetzte Mr. Toots mit erheblich länger werdendem Gesicht.

»Sie waren ganz füreinander geschaffen«, fuhr der Kapitän traurig fort. »Aber was will das jetzt besagen!«

»Auf Ehre«, rief Mr. Toots, mit einem eigentümlichen Gemisch von linkischem Kichern und Aufregung herausplatzend, »jetzt tut es mir um so mehr leid. Ihr müßt wissen, Kapitän Gills, ich – bete Miß Dombey eigentlich an; – ich – bin wahrhaftig ganz krank vor Liebe zu ihr;« die Art, wie sich dieses Geständnis dem unglücklichen Mr. Toots entrang, bekundete das Ungestüm seiner Gefühle; »aber wozu nützte es, solche Empfindungen gegen sie zu hegen, wenn ich nicht schmerzlichen Anteil nähme an ihrer Betrübnis, was auch die Ursache davon sein mag? Ihr wißt, meine Neigung ist nicht selbstsüchtig«, fuhr Mr. Toots mit dem Vertrauen fort, das Kapitän Cuttle durch die unverhohlene Äußerung seiner Gefühle in ihm geweckt hatte, »sondern von der Art, Kapitän Gills, daß mir auf der ganzen Welt nichts Entzückenderes begegnen könnte, als wenn ich um Miß Dombeys willen überrannt – oder – oder – niedergetreten – oder von einem hohen Platz heruntergeworfen – oder sonst mit etwas Ähnlichem heimgesucht würde.«

Mr. Toots sprach alles das mit gedämpfter Stimme, um zu verhindern, daß seine Worte das eifersüchtige Ohr des Preishahns erreichten, der keinen großen Gefallen fand an den zarteren Regungen der menschlichen Natur. Die Anstrengung wie auch die Innigkeit seiner Gefühle hatte ihm das Rot bis in die Ohren hinausgejagt, und er bot deshalb in den Augen des Kapitän Cuttle ein so ansprechendes Schauspiel von uneigennütziger Liebe dar, daß ihn dieser gute Gentleman tröstend auf den Rücken klopfte und wohlgemut sein hieß.

»Danke Euch, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots. »Es ist sehr freundlich von Euch, daß Ihr in Eurer eigenen Trauer so sprecht, und ich bin Euch sehr verbunden dafür. Wie ich Euch schon früher sagte, ich bedarf in der Tat eines Freundes, und es würde mich freuen, wenn Ihr mich mit Eurer Bekanntschaft beehren wolltet. Obgleich es mir ganz gut geht«, fuhr Mr. Toots mit Nachdruck fort, »so könnt Ihr Euch gar nicht denken, was ich für ein unglückliches Tier bin. Der große Haufen – Ihr wißt es ja – hält mich für glücklich, wenn er mich mit dem Preishahn und ähnlichen ausgezeichneten Persönlichkeiten umgehen sieht. Aber ich bin elend. Ich leide um Miß Dombeys willen, Kapitän Gills. Es schmeckt mir kein Essen, ich habe keine Freude mehr an meinem Schneider, und wenn ich allein bin, muß ich oft weinen. Ich versichere Euch, es wird mir ein Trost sein, wenn ich morgen und noch oft und oft zu Euch kommen kann.«

Mit diesen Worten drückte Mr. Toots dem Kapitän die Hand, um sodann jene Spuren der Aufregung, die sich in der Schnelligkeit verwischen ließen, vor dem durchbohrenden Blicke des Preishahns zu verbergen und sich diesem trefflichen Gentleman in dem Laden wieder anzuschließen. Der Preishahn, der auf die Erhaltung seines Übergewichts eifersüchtig war, faßte den Kapitän Cuttle nicht aufs freundlichste ins Auge, als sich dieser von Mr. Toots verabschiedete, folgte übrigens seinem Gönner, ohne anderweitig seinen Groll zu bekunden. Der Kapitän blieb mit seinem Leid zurück, während Rob, der Schleifer, sich überglücklich fühlte, weil er die Ehre gehabt hatte, den Besieger des Nobby aus Shropshire fast eine halbe Stunde lang zu beaugenscheinigen.

Rob schlief schon lang in seinem Bett unter dem Ladentisch, während der Kapitän noch immer am Feuer saß, bis dieses zuletzt ausging, so daß er unter einer Flut von fruchtlosen Gedanken an Walter und den alten Sol nur noch die rostigen Kaminstangen ansehen konnte. Der Rückzug nach der windigen Kammer unter dem Dache des Hauses brache ihm keine Ruhe, und er stand am andern Morgen bekümmert und unerfrischt wieder auf.

Sobald die Geschäftslokale der City geöffnet wurden, verfügte sich der Kapitän nach dem Kontor von Dombey und Sohn. An jenem Morgen blieben die Fenster des Midshipman geschlossen. Der Weisung des Kapitäns gemäß nahm Rob, der Schleifer, die Läden nicht ab, und das Haus glich einem Hause des Todes.

Zufällig langte mit Kapitän Cuttle auch Mr. Carker an der Tür an. Der erstere erwiderte die Begrüßung des Geschäftsführers mit ernstem Schweigen und erlaubte sich, jenem nach dessen Zimmer zu folgen.

»Das ist eine schlimme Geschichte, Kapitän Cuttle«, begann Mr. Carker, mit dem Hut auf dem Kopf seine gewöhnliche Stellung vor dem Kamin einnehmend.

»Ihr habt die Nachricht erhalten, die gestern im Druck ausgegeben wurde, Sir?« fragte der Kapitän.

»Ja«, sagte Mr. Carker; »sie ist bei uns eingegangen. Ein ganz genauer Bericht. Die Versicherungsgesellschaft erleidet beträchtlichen Verlust. Wir sind sehr bekümmert wegen dieses Vorfalls. Doch da ist nicht zu helfen. So geht es im Leben.«

Mr. Carker beschnitt sich mit einem Federmesser die Nägel und lächelte dem Kapitän zu, der an der Tür stand und ihn ansah.

»Es tut mir ungemein leid um den armen Gay und um die Mannschaft«, fuhr Carker fort. »Wie ich höre, waren einige von unsern besten Leuten darunter. So geht es leider immer. Noch dazu viele Familienväter. Es liegt ein Trost in dem Gedanken, daß der arme Gay keine Familie hinterließ, Kapitän Cuttle.«

Der Kapitän rieb sich das Kinn und schaute den Geschäftsführer an. Dieser blickte nach den ungeöffneten Briefen, die auf dem Tisch lagen, und nahm eine Zeitung auf.

»Kann ich noch etwas Weiteres für Euch tun, Kapitän Cuttle?« fragte er, von dem Zeitungsblatte aufschauend und einen lächelnden, ausdrucksvollen Blick nach der Tür werfend.

»Ich wünschte, Sir, Ihr könntet mich über etwas beruhigen, das mir schwer auf dem Herzen liegt«, versetzte der Kapitän.

»So?« rief der Geschäftsführer. »Und worin besteht das? Ich muß Euch bitten, Kapitän Cuttle, Euer Anliegen schnell vorzubringen, wenn Ihr so gut sein wollt. Ich habe viel zu tun.«

»Ja, schaut, Sir«, entgegnete der Kapitän, einen Schritt näher kommend. »Ehe mein Freund Walter diese unglückselige Reise antrat – –«

»Ei, ei, Kapitän Cuttle«, fiel ihm der Geschäftsführer lächelnd ins Wort, »sprecht nicht in solcher Weise von unglückseligen Reisen. Wir haben hier nichts mit unglückseligen Reisen zu schaffen, mein guter Freund. Ihr müßt mit Eurer Tagesration schon sehr früh angefangen haben, Kapitän, wenn Ihr Euch nicht erinnert, daß mit allen Reisen Gefahr verbunden ist, sei es zu Wasser oder zu Land. Ihr beunruhigt Euch doch nicht mit der Mutmaßung, der Junge, wie heißt er doch, sei in dem schlechten Wetter umgekommen, das in diesen Geschäftslokalen um ihn zusammengeblasen wurde – oder? Pfui, Kapitän! Schlaf und Sodawasser sind die besten Heilmittel für derartige Beunruhigungen.«

»Mein Junge«, entgegnete der Kapitän langsam – »Ihr seid jedenfalls noch sehr jung gegen mich, und ich bitte daher nicht um Verzeihung, daß mir dieses Wort entschlüpfte – wenn Ihr bei dieser Sache einen Spaß findet, so seid Ihr nicht der Gentleman, für den ich Euch hielt. Und wenn Ihr nicht der Gentleman seid, für den ich Euch hielt, so mag ich wohl Ursache haben, unruhig zu sein. Nun, dies ist schon so, wie es ist, Mr. Carker. – Ehe der arme Bursche seiner Weisung gemäß abfuhr, sagte er mir, er wisse wohl, daß man bei dieser Versendung nicht sein Bestes oder eine Beförderung im Auge habe. Ich glaubte, er habe hierin unrecht, und sagte es ihm auch. Um mich nun persönlich zu überzeugen, bin ich, während gerade Euer Chef abwesend war, hierher gekommen, um Euch in höflicher Art ein paar Fragen vorzulegen. Ihr habt mir darauf unverhohlen geantwortet. Es ist jetzt freilich alles vorüber, und wo nicht mehr zu helfen ist, muß man sich eben zufriedengeben – Ihr seid ein belesener Mann, und wenn Ihr in dem Buch, wo es steht, nachsehen wollt, so knickt ein Ohr hinein; – aber es würde mir das Gemüt doch sehr erleichtern, wenn ich, mit einem Wort, noch einmal erführe, daß ich nicht im Irrtum war, daß ich meine Pflicht nicht verabsäumte, als ich dem alten Mann vorenthielt, was mir Wal’r sagte, und daß der Wind gut in sein Segel blies, als er die Fahrt nach Barbadoes Hafen antrat. Mr. Carker«, fuhr der Kapitän in der Gutmütigkeit seines Wesens fort, »als ich zum letztenmal hier war, hat alles ganz angenehm zwischen uns gestanden. Wenn es meinerseits diesen Morgen wegen des armen Jungen nicht ganz so ist und ich gegen eine Bemerkung von Euch, die mir nicht gefiel, unwillig wurde, so ist mein Name Ed’ard Cuttle, und ich bitte Euch um Verzeihung.«

»Kapitän Cuttle«, erwiderte der Geschäftsführer mit aller möglichen Höflichkeit, »ich muß Euch bitten, mir eine Gunst zu erweisen.«

»Und die bestünde, Sir?« fragte der Kapitän.

»Darin, daß Ihr die Güte habt, Euch zu entfernen«, erwiderte der Geschäftsführer, seinen Arm ausstreckend, »und Euer Kauderwelsch anderswo anzubringen.«

Jeder Knauf im Gesicht des Kapitäns wurde weiß vor Erstaunen und Entrüstung. Sogar der rote Streifen auf seiner Stirne verblich wie ein Regenbogen unter sich auftürmenden Wolken.

»Ich will Euch was sagen, Kapitän Cuttle«, fuhr der Geschäftsführer fort, indem er seinen Zeigefinger nach ihm hinschüttelte und, obschon noch immer in liebenswürdigem Lächeln, alle seine Zähne wies, »ich war zu mild gegen Euch, als Ihr das letztemal hierher kamet. Ihr gehört zu einem hinterlistigen und kühnen Menschenschlag. Ich hatte Nachsicht mit Euch, mein guter Kapitän, weil ich dem Jungen, wie heißt er doch, die Schmach ersparen wollte, daß er Hals über Kopf aus dem Haus geworfen wurde. Das ist einmal, aber nur ein einziges Mal geschehen. Jetzt macht, daß Ihr fortkommt, mein Freund.«

Der Kapitän blieb sprachlos an den Boden gewurzelt stehen.

»Seid ein verständiger Mensch und geht«, sagte der lächelnde Geschäftsführer, indem er seine Frackschöße aufnahm und mit gespreizten Beinen auf dem Teppich vor dem Kamin sich aufpflanzte. »Laßt es nicht darauf ankommen, daß man Euch hinausschafft oder zu sonstigen gewaltsamen Maßregeln seine Zuflucht nimmt. Wäre Mr. Dombey hier, Kapitän, so könntet Ihr vielleicht in schimpflicherer Weise abziehen müssen. Ich sage daher nur – geht!«

Der Kapitän, der seine schwere Hand auf die Brust legte, um sich durch einen tiefen Atemzug zu unterstützen, betrachtete Mr. Carker vom Kopf bis zu den Füßen und sah sich in dem kleinen Zimmer um, als begreife er nicht recht, wo oder in wessen Gesellschaft er sich befinde.

»Ihr seid schlau, Kapitän Cuttle«, fuhr Carker mit der leichten, lebhaften Freimütigkeit eines Mannes fort, der die Welt zu gut kennt, um sich durch die Entdeckung eines Mißverhaltens aufbringen zu lassen, wenn es nicht eben ihn selbst betrifft, »aber doch nicht schlau genug, als daß man Euch nicht einigermaßen auf den Grund sehen könnte – weder Ihr, noch Euer abwesender Freund. Was habt Ihr mit Eurem abwesenden Freunde angefangen, he?«

Der Kapitän legte wieder seine Hand auf die Brust, atmete aufs neue tief und beschwor sich selbst »beizuhalten«. Dies geschah jedoch nur in einem Flüstern.

»Ihr heckt hübsche kleine Anschläge aus, haltet hübsche kleine Beratungen, macht hübsche kleine Bestellungen und empfangt auch hübsche kleine Besuche, Kapitän – he?« sagte Carker, seine Stirne runzelnd, aber nichtsdestoweniger alle seine Zähne zeigend, »Und dann die Kühnheit hintendrein, hierherzukommen! Das verträgt sich schlecht mit Eurer Klugheit! Verschwörer, Gewährer von Unterschlüpfen und Ausreißer sollten dies besser verstehen. Wollt Ihr mir jetzt den Gefallen erweisen, Euch zu entfernen?«

»Mein Junge«, keuchte der Kapitän in erstickter, bebender Stimme und mit einem eigentümlichen Zucken in seiner gewichtigen Faust, »ich hätte Euch noch allerlei zu sagen, weiß aber im Augenblick nicht recht, wo die Worte untergestaut sind. Nach meiner Gissung ist mein junger Freund Wal’r erst gestern abend ertrunken, und seht Ihr, das greift mich an. Aber wir werden schon wieder einmal zusammenkommen, mein Junge«, fügte der Kapitän bei, indem er seinen Haken ausstreckte, »wenn uns Gott das Leben schenkt.«

»Dies wäre in der Tat nichts weniger als klug von Euch, mein guter Freund«, erwiderte der Geschäftsführer mit demselben Freimut; »denn ich sage Euch im voraus, und Ihr mögt Euch darauf verlassen, daß ich dann Eure Schliche aufdecken und Euch bloßstellen werde. Ich maße mir nicht an, ein moralischerer Mann sein zu wollen, als meine Nebenmenschen, mein guter Kapitän. Aber das Vertrauen dieses Hauses oder eines Angehörigen dieses Hauses soll nicht mißbraucht werden, solange ich Augen und Ohren habe. Guten Tag!« fügte Mr. Carker hinzu und nickte mit dem Kopf.

Kapitän Cuttle faßte Mr. Carker fest ins Auge – ein Blick, der ebenso fest von dem Geschäftsführer erwidert wurde – und verließ das Bureau. Mr. Carker dagegen blieb mit gespreizten Beinen vor dem Feuer stehen, so ruhig und selbstgefällig, als ob seine Seele nicht mehr Flecken zeige, als das reine Weiß seiner Wäsche und seine glatte, weiche Haut.

Als der Kapitän durch das äußere Kontor ging, schaute er nach dem Pulte hin, wo sonst der arme Walter zu arbeiten pflegte. Es saß jetzt ein anderer Junge dort mit einem Gesicht, fast so frisch und hoffnungsvoll, wie das seine, als sie in dem kleinen Hinterstübchen die berühmte vorletzte Flasche des alten Madeira anbrachen. Die Gedankenkette, die sich knüpfte, kam dem Kapitän sehr zustatten: denn sie milderte seinen Zorn und trieb ihm Tränen in die Augen.

In dem Bereich des hölzernen Midshipman wieder angelangt, setzte sich der Kapitän in eine Ecke des dunkeln Ladens nieder, und so groß auch seine Entrüstung war, konnte sie doch vor seinem Kummer nicht recht aufkommen. Die Leidenschaftlichkeit schien nicht nur das Andenken an den Toten zu kränken, sondern auch beim Hinblick auf diesen den Todesstoß zu erhalten und in nichts zu zerfallen. Was waren auch alle lebenden Schurken und Lügner der Welt im Vergleich mit der Ehrlichkeit und Treue eines einzigen toten Freundes?

In diesem Gemütszustand wollte dem ehrlichen Kapitän außer dem Unglück, das Walter betroffen, nichts klar werden, als daß mit dem jungen Freund fast seine ganze eigene Welt in den Wellen versunken sei. Wenn er sich mitunter schwere Vorwürfe machte, daß er je auf Walters unschuldige Täuschung eingegangen sei, dachte er wenigstens ebenso oft an den Mr. Carker, den keine Woge zurückbringen konnte, an den Mr. Dombey, der für ihn nun außer dem Bereich aller menschlichen Hilfe zu liegen schien, an die »Herzensfreude«, die ihm fortan für immer fernbleiben sollte, und an die liebliche Peg, dieses gut gebaute und schmuck aufgetakelte Liebchen, das auf ein Riff gelaufen und in bloße Reimbalken und Planken zerschellt war. Der Kapitän saß in dem dunkeln Laden, wo er, ohne an die ihm selbst widerfahrene Kränkung zu denken, solchen Vorstellungen nachging, und schaute dabei mit trauernden Blicken auf den Boden, als sehe er in Wirklichkeit die Trümmer an sich vorbeischwimmen.

Trotzdem vergaß er nicht, dem Andenken Walters diejenigen gebührenden Achtungsbeweise darzubringen, die in seiner Macht lagen. Er raffte sich auf, weckte Rob, den Schleifer, der in dem unnatürlichen Dämmerlicht fest schlief, und machte sich, den Hausschlüssel in der Tasche, mit dem erwähnten Diener auf den Weg nach einer von jenen bequemen und die schönste Auswahl darbietenden Trödelbuden im Ostende Londons, um dort ohne Verzug zwei Traueranzüge zu kaufen – einen für Rob, den Schleifer. Dieser Anzug war übrigens unglücklicherweise viel zu klein; und einen für sich selbst, der bei weitem zu groß war. Ferner versah er Rob mit jener um ihrer Symmetrie und Brauchbarkeit willen so sehr beliebten Hutart, die unter dem Namen »Südwester« ein glückliches Mittelglied bildet zwischen der Kopfbedeckung eines Matrosen und der eines Kohlenträgers, demnach in dem Geschäft des Instrumentenhandels als eine außerordentliche Neuigkeit zu betrachten war. Diese Anzüge paßten der Erklärung des Verkäufers nach so herrlich, wie dies nur durch ein seltenes Zusammentreffen von günstigen Umständen möglich wurde, und mit ihrem Schnitt war seit Menschengedenken nichts zu vergleichen. Darein hüllten sich ohne Zögern der Kapitän und Rob, in ihrem neuen Putz ein Schauspiel darbietend, das die Bewunderung aller Zuschauer auf sich zog.

In solcher Weise war der Kapitän verändert, als Mr. Toots seinen zweiten Besuch machte.

»Ich bin für den Augenblick ganz niedergeschlagen, mein Junge«, sagte der Kapitän, »und kann nur bestätigen, daß die Neuigkeiten sehr schlimm sind. Bedeutet dem Mädchen, sie möge die Nachricht ihrer jungen Lady beizubringen suchen, und sagt ihr, sie beide sollen nicht mehr an mich denken – das heißt, wohlverstanden – nicht, daß ich nicht an sie denken wolle, wenn die Nacht kommt auf den Flügeln des Orkans und die Wellen sich berghoch auftürmen. Schlagt dies im Doktor Watts nach, Bruder, und wenn Ihr gefunden habt, so biegt ein Ohr ein.«

Der Kapitän behielt sich vor, die Freundschaftserbietungen des jungen Gentleman in nähere Erwägung zu ziehen, und so wurde Mr. Toots entlassen. Der wackere Mann fühlte sich in der Tat so niedergeschlagen, daß er halb und halb beschloß, von Stund‘ an keine weitere Vorsichtsmaßregel zur Abwehr eines Überfalls der Mrs. Mac Stinger zu beobachten, sondern sich dem Zufall zu überlassen und gelassen hinzunehmen, was da kommen möge. Mit Einbruch der Nacht trat aber auch eine bessere Stimmung ein, und er sprach mit Rob, dem Schleifer, dessen Achtsamkeit und Treue er gelegentlich lobte, viel über Walter. Rob errötete nicht über das ihm von dem Kapitän gespendete Lob, sondern sah seinen Gebieter nur mit großen Augen an, schneuzte sich in geheuchelter Teilnahme und stellte sich ganz fromm an, indem er wie ein echter junger Spion mit vielversprechender Arglist tat, als bewahre er jedes gesprochene Wort wie einen teuren Schatz in seinem Innern.

Rob war in sein Bett gekrochen und lag schon in tiefem Schlaf. Der Kapitän putzte das Licht, setzte seine Brille auf – er meinte, das gehöre zum Instrumentenhandel, obschon seine Augen so gut waren, wie die eines Sperbers – und schlug im Gebetbuch die Begräbnisgebete auf. So las er denn in dem kleinen Hinterstübchen leise vor sich hin, machte hin und wieder halt, um sich die Augen zu wischen, und übergab im Geiste treuer Einfalt Walters Leiche der Tiefe.

Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Pauls Gedeihen und Taufe.

Der kleine Paul, der von dem Blute der Toodles keinen Unglimpf erlitt, wurde mit jedem Tage stärker und kräftiger. Auch hätschelte ihn Miß Tox mit jedem Tage immer leidenschaftlicher, so daß schließlich Mr. Dombey ihre Anhänglichkeit an das Kind einigermaßen zu würdigen begann. Er sah sie nämlich allmählich als sternchenland.com Frauensperson von gutem natürlichen Verstand an, deren Gefühle ihr Ehre machten und wohl eine Aufmunterung verdienten. Er ging sogar in seiner Herablassung so weit, daß er sich bei verschiedenen Anlässen nicht nur in ganz besonderer Weise gegen sie verneigte, sondern auch seine Schwester mit manchen stattlichen Grüßen an sie beauftragte. Zum Beispiel sagte er ihr: »Ich bitte dich, deiner Freundin, Louisa, zu bemerken, daß sie sehr gütig ist«, oder »sage Miß Tox, Louisa, daß ich ihr sehr zu Dank verpflichtet bin«, – Besonderheiten, die auf die in solcher Weise ausgezeichnete Dame einen tiefen Eindruck machten.

Miß Tox pflegte Mrs. Chick oft zu versichern, daß »ihr nichts über die Teilnahme an allem gehe, was mit der Entwicklung dieses süßen Kindes im Zusammenhang stünde«, und wer Miß Tox genauer beobachtete, mußte aus ihrer Art sich zu geben selbstverständlich diesen Schluß ziehen, ohne daß es einer erklärenden Bestätigung bedurft hätte. So konnte sie z.B. mit unaussprechlicher Selbstzufriedenheit und fast mit einer Miene, als teile sie mit Richards das Glück der Ernährung, während der unschuldigen Labungen des jungen Erben den Vorsitz führen. Bei den kleinen Zeremonien des Bads und der Toilette leistete sie begeisterte Beihilfe. Die Anwendung kindlicher Dosen von Arzneimitteln weckte all die tätige Sympathie ihres Charakters, und einmal, als Mr. Dombey, von seiner Schwester begleitet, nach der Kinderstube kam, um nachzusehen, wie man seinen Sohn zu Bette legen wollte, der in seinem kurzen luftigen Jäckchen mit den Beinen an Richards‘ Kleidern hinaufstrampelte – sah ich Miß Tox, die vorher aus lauter Bescheidenheit in einen Geschirrschrank gekrochen war, so über die alberne Gegenwart hinausgerissen, daß sie nicht imstande war, sich des Ausrufs zu erwehren: »Ist er nicht schön, Mr. Dombey! Ist er nicht ein Liebesgott, Sir!« Dann aber brach sie, vor lauter Verwirrung und Erröten, hinter der Schranktür fast zusammen.

»Louisa«, sagte Mr. Dombey eines Tags zu seiner Schwester, »ich glaube wirklich, ich muß deine Freundin bei Gelegenheit von Pauls Taufe mit einem kleinen Andenken erfreuen. Sie hat sich von Anfang an so warm des Kindes angenommen und scheint ihre Aufgabe so durchaus zu verstehen – leider ein gar seltenes Verdienst in dieser Welt – daß ich ihr gerne eine Aufmerksamkeit erweisen möchte.«

Wir wollen den Vorzügen der Miß Tox keinen Abbruch tun, wenn wir andeuten, daß in den Augen Mr. Dombeys, wie in denen so mancher anderen, die man gelegentlich zu sehen kriegt, nur diejenigen zu jenem gewaltigen Stück Kenntnis, dem Verstehen ihrer eigenen Stellung gelangt waren, die der seinigen eine passende Verehrung zollten. Die Überzeugung, daß sie sich selbst kannten, hatte bei ihm lange nicht die hohe Bedeutung, als das Bewußtsein, daß sie ihn kannten und sich tief vor ihm verbeugten.

»Mein lieber Paul«, erwiderte seine Schwester, »du läßt Miß Tox nur Gerechtigkeit widerfahren, wie das von einem Manne mit sternchenland.com deinem Scharfblick zu erwarten ist. Ich glaube, wenn es drei Worte in der englischen Sprache gibt, vor denen sie eine Achtung hat, die sich fast zur Verehrung steigert, so sind diese Worte Dombey und Sohn.«

»Nun, ich glaube es«, versetzte Mr. Dombey. »Es macht Miß Tox Ehre.«

»Und was das Andenken betrifft, von dem du gesprochen hast, mein lieber Paul«, fuhr seine Schwester fort, »so kann ich mit voller Überzeugung behaupten, daß alles, mit dem du Miß Tox zu bedenken beabsichtigst, wie eine Reliquie aufbewahrt und geschätzt werden wird. Es gibt übrigens eine Art, mein lieber Paul, ihr deine Anerkennung für ihre Freundlichkeit in noch schmeichelhafterer Weise zu bekunden, falls du dazu geneigt sein solltest.«

»Und das wäre?« fragte Mr. Dombey.

»Paten sind natürlich im Punkte der Bekanntschaft und des Einflusses von großer Wichtigkeit«, fuhr Mrs. Chick fort.

»Ich sehe nicht ein, welchen Wert sie für meinen Sohn haben könnten«, versetzte Mr. Dombey kalt.

»Ganz richtig, mein lieber Paul«, entgegnete Mrs. Chick mit außerordentlicher Lebhaftigkeit, um das Plötzliche ihrer Bekehrung zu bemänteln, »und sehr würdig gesprochen. Ich hätte nichts anderes von dir erwarten sollen und zuvor schon wissen können, daß das deine Ansicht ist. Aber vielleicht ist gerade das«, fügte Mrs. Chick etwas zögernd hinzu, als ob sie sich bei der Sache nicht ganz behaglich fühle – »vielleicht ist das eben ein Grund, warum du weniger dagegen einzuwenden haben dürftest, wenn Miß Tox bei dem lieben Ding zu Gevatter steht, wäre es auch nur als Stellvertreterin für jemand anders. Ich brauche nicht zu sagen, mein lieber Paul, daß eine solche Erlaubnis als eine große Ehre und Auszeichnung aufgenommen werden würde.«

»Louisa«, sagte Mr. Dombey nach einer kurzen Pause, »man glaubt doch nicht –«

»Gewiß nicht«, rief Mrs. Chick, welche sich beeilte, der Abweisung zuvorzukommen; »ich habe in meinem Leben nie daran gedacht.«

Mr. Dombey sah sie ungeduldig an.

»Bringe mich nicht in Verwirrung, mein lieber Paul«, sagte seine Schwester, »denn das richtet mich zugrunde. Ich fühle mich überhaupt sehr angegriffen und bin nicht mehr ich selbst gewesen, seit die arme liebe Fanny heimgegangen ist.«

Mr. Dombey schaute nach dem Taschentuch, das seine Schwester nach ihren Augen führte, und sprach weiter:

»Ich sage, man werde doch nicht glauben –«

»Und ich sage«, murmelte Mrs. Chick, »daß ich in meinem Leben nie daran gedacht habe.«

»Gütiger Gott, Louisa!« sagte Mr. Dombey.

»Nein, mein lieber Paul«, erwiderte sie mit tränenvoller Würde, »du mußt mir schon erlauben zu sprechen. Ich bin nicht so gewandt, sternchenland.com so raisonierend, so beredt oder überhaupt etwas der Art, wie du. Ich weiß das recht wohl. Um so schlimmer für mich. Aber wenn es die letzten Worte wären, die von meinen Lippen kämen – und nach dem Heimgang der armen teuren Fanny sollten letzte Worte für dich und mich sehr feierlich sein, mein lieber Paul – so würde ich doch noch immer sagen, daß ich nie daran dachte. Und was noch mehr ist«, fügte Mrs. Chick mit zunehmender Würde hinzu, als ob sie das gewichtigste Argument bis zuletzt aufgespart hätte, »ich habe nie daran gedacht.«

Mr. Dombey ging nach dem Fenster und wieder zurück.

»Man darf nicht glauben, Louisa«, sagte er (Mrs. Chick hatte ihre Flagge an den Mast genagelt und wiederholte: Ich weiß es wohl! aber er nahm keine Notiz davon, sondern fuhr fort), »daß es nicht viele Personen gebe, die, angenommen, daß ich in irgendeinem solchen Fall überhaupt Ansprüche anerkenne, weit höhere Berechtigung an mich haben, als Miß Tox. Aber wie gesagt, ich erkenne nichts dergleichen an. Wenn einmal die Zeit kommt, so werden Paul und ich imstande sein, unser Eigentum zusammenzuhalten – oder mit andern Worten, das Haus wird für sich selbst und ohne dergleichen gemeine Beihilfen sich und sein Eigentum erhalten können. Die Art fremder Hilfe, welche man gewöhnlich für Kinder sucht, kann ich wohl entbehren, da ich hoffentlich darüber weg bin. Sofern Pauls Kindheit und Jugend nur gut verläuft – und er sich ohne Zeitverlust für die Laufbahn, für die ich ihn bestimmt habe, qualifiziert, so bin ich zufrieden. Im spätern Leben kann er sich nach Belieben mächtige Freunde suchen, wenn er nach Kräften die Würde und den Kredit der Firma aufrecht erhält, ja, wenn möglich, sie sogar noch ausdehnt. Bis dahin bin ich vielleicht genug für ihn und alles in allem. Ich wünsche nicht, daß jemand zwischen uns trete. Viel lieber möchte ich deshalb einer so verdienstvollen Person, wie deine Freundin ist, meine Anerkennung für ihr verbindliches Benehmen zeigen. Sei es darum, wie du gesagt hast. Dein Gatte und ich, wir beide werden dann wohl als übrige Paten ausreichen.«

Im Verlauf dieser Bemerkungen, die mit viel Majestät und Großartigkeit vorgetragen wurden, hatte Mr. Dombey die geheimen Gefühle seines Innern enthüllt. Ein unbeschreibliches Mißtrauen vor jedermann, der sich zwischen ihn und seinen Sohn stellen könnte, eine hochmütige Furcht, in der Achtung und in dem Gehorsam des Knaben einen Nebenbuhler oder Teilnehmer zu haben, eine peinigende Ahnung, welche erst kürzlich in ihm aufgestiegen war, daß seine Macht, den menschlichen Willen zu binden und zu beugen, zweifelhaft sei, und eine nicht minder quälende Besorgnis über irgendeinen zweiten Hemmstein oder Querstrich – waren damals die Haupttasten seiner Seele. In seinem ganzen Leben hatte er sich nie einen Freund erworben, da sein kaltes abgemessenes Wesen weder Freunde suchte, noch gewinnen konnte. Und nun, während diese Natur ihre ganze Gewalt so kräftig auf einen Lieblingsplan der väterlichen Teilnahme und des Ehrgeizes konzentrierte, schien es, als ob ihr eisiger sternchenland.com Strom, statt durch solchen Einfluß frei zu werden und klar zu laufen, nur für einen Augenblick aufgetaut sei, um die Last aufzunehmen und dann wieder zu einer einzigen, unnachgiebigen Masse zu gefrieren.

Kraft ihrer Unbedeutsamkeit war Miß Tox von Stund‘ an zur Patin des kleinen Paul erkoren, und Mr. Dombey deutete noch an, es sei ihm lieb, wenn die bereits schon so lang verschobene Zeremonie ohne weitere Verzögerung stattfinde. Seine Schwester, die einen so ausgezeichneten Erfolg nicht entfernt geahnt hatte, entfernte sich in möglichster Eile, um das erzielte Resultat der besten ihrer Freundinnen mitzuteilen, und Mr. Dombey blieb in seinem Bibliothekzimmer allein.

In dem Kinderzimmer sah es nichts weniger als einsam aus, denn Mrs. Chick und Miß Tox erfreuten sich daselbst eines geselligen Abends – sehr zum Verdruß der Miß Susanna Nipper, die jede Gelegenheit ergriff, um hinter der Tür schiefe Gesichter zu machen. Die Gefühle dieser jungen Dame waren so aufgeregt, daß sie es für unerläßlich fand, ihnen diese Erleichterung zu verschaffen, selbst ohne daß sie dabei den Trost irgendeines Auditoriums oder irgendeiner Sympathie hatte. Wie vor alters die fahrenden Ritter ihr Gemüt dadurch erleichterten, daß sie in Wildnissen, Wüsten und andern verlassenen Plätzen, wohin aller Wahrscheinlichkeit nach gewiß nie jemand zum Lesen kam, die Namen ihrer Gebieterinnen dem Gestein oder den Baumrinden anvertrauten, so rümpfte Miß Susanne Nipper ihre Mopsnase in Schubladen oder Kleiderkästen, warf verächtliche Schielblicke in Wandkästen, sandte ihr spottendes Blinzeln in steinerne Krüge und schimpfte aus Leibeskräften draußen auf dem Flurplatz.

Die beiden anstößigen Personen aber, die sich hinsichtlich der Gefühle der jungen Dame in glücklicher Unwissenheit befanden, sahen zu, wie der kleine Paul wohlbehalten alle Stadien des Entkleidens, Entlüftens, des Nachtessens und des Zubettgebrachtwerdens durchmachte; worauf sie sich vor dem Feuer zum Tee niedersetzten. Infolge der guten Dienste, die Polly geleistet hatte, schliefen jetzt die beiden Kinder in einem Zimmer, und erst als die Damen an ihrem Teetisch beisammensaßen, fügte es sich, als sie zufällig nach den kleinen Betten hinübersahen, daß sie an Florence dachten.

»Wie gesund sie schläft!« sagte Miß Tox.

»Na, Ihr wißt ja, meine Liebe«, entgegnete Mrs. Chick, »daß sie sich den ganzen Tag über viel Bewegung macht und um den kleinen Paul herumspielt.«

»Sie ist ein artiges Kind«, sagte Miß Tox.

»Meine Liebe«, erwiderte Mrs. Chick in gedämpfter Stimme, »ganz und gar ihre Mama!«

»Wirklich!« sagte Miß Tox. »Ach du mein Himmel!«

Miß Tox hatte das im Tone des außerordentlichsten Mitleids gesprochen; obgleich sie keine bestimmte Idee von dem Grunde hatte, sondern sich nur etwa dachte, daß das von ihr erwartet werde.

»Florence wird nie, nie und nimmermehr eine Dombey sein«, sagte Mrs. Chick, »und wenn sie tausend Jahre alt würde.«

Miß Tox zog ihre Augenbrauen empor und machte abermals eine Miene des Bedauerns.

»Ich härme mich unaufhörlich ab um ihretwillen«, fuhr Mrs. Chick mit einem Seufzer bescheidenen Verdienstes fort. »Wahrhaftig, ich sehe nicht ein, was aus ihr werden soll, oder welche Stellung sie einnehmen kann, wenn sie älter wird. Ihren Papa weiß sie gar nicht für sich zu gewinnen. Und wie ließe sich das auch erwarten, da sie den Dombeys so ganz unähnlich ist?«

Miß Tox machte ein Gesicht, als sehe sie durchaus kein Mittel, einem so zwingenden Argumente auszuweichen.

»Und das Kind, seht Ihr«, nahm Mrs. Chick im Tone besonderen Vertrauens wieder auf, »hat ganz die Natur der armen lieben Fanny. Ich stehe dafür, sie wird in ihrem ganzen spätern Leben nie eine Anstrengung machen. Nie! Sie wird es nicht versuchen, sich um das Herz ihres Papas zu schlingen und zu winden, wie –«

»Wie der Efeu«, ergänzte Miß Tox.

»Wie der Efeu«, pflichtete Mrs. Chick bei. »Nie! Sie wird nie hineinschlüpfen und sich ein Nestchen bauen in dem Busen der väterlichen Liebe, wie das –«

»Wie das aufgeschreckte Reh?« ergänzte Miß Tox.

»Wie das aufgeschreckte Reh«, sagte Mrs. Chick. »Nie! Die arme Fanny! Und doch, wie lieb ist sie mir gewesen!«

»Ihr müßt Euch nicht selbst betrüben, meine Liebe«, tröstete Miß Tox im Tone der Beschwichtigung. »In der Tat habt Ihr viel zu viel Gefühl.«

»Wir haben alle unsere Schwächen«, versetzte Mrs. Chick weinend und den Kopf schüttelnd, »das darf ich wohl sagen. Ich bin nie blind gegen die ihrigen gewesen und habe das auch nie behauptet. Gerade im Gegenteil. Und doch, wie sehr liebte ich sie!«

Welche Beruhigung war es für Mrs. Chick – eine ganz gewöhnliche, törichte Person, gegen die ihre Schwägerin ein wahrer Engel von weiblicher Einsicht und Zartheit gewesen – das Andenken dieser Dame zu patronisieren und dabei zärtlich zu tun, geradeso, wie sie es bei Lebzeiten der Lady getan hatte. Dabei setzte sie vollkommenen Glauben in sich, lobte sich und tat sich auf das Übermaß ihrer Duldung ungemein zugute! In wie hohem Grade lieblich muß die Tugend der Duldsamkeit sein, wo wir recht haben, wenn sie schon im entgegengesetzten Falle und unter Umständen so angenehm wirkt, wo man sich durchaus nicht erklären kann, wie wir zu dem Vorrecht, sie zu üben, gekommen sind.

Mrs. Chick trocknete sich noch die Augen und schüttelte den Kopf, als sich Richards die Freiheit nahm, ihr anzudeuten, daß Miß Florence wache und in ihrem Bette aufrecht sitze. Sie hatte sich, wie die Amme sagte, erhoben, und die Wimpern ihrer Augen waren naß von Tränen. Aber niemand sah sie glänzen, als Polly. Niemand anders beugte sich zu ihr hin, um ihr beruhigende Worte sternchenland.com zuzuflüstern, oder war nahe genug, um das laute Klopfen ihres Herzens zu hören.

»O, liebe Wärterin«, sagte das Kind angelegentlich zu ihrem Gesicht aufblickend, »laßt mich bei meinem Bruder liegen!«

»Warum, mein Schätzchen?« fragte Richards.

»O, ich denke, er liebt mich«, rief das Kind ungestüm. »Laßt mich bei ihm liegen. Ich bitte, tut es!«

Mrs. Chick legte sich mit einigen mütterlichen Worten ins Mittel und sprach davon, die Kleine solle schlafen wie ein liebes Kind; aber Florence wiederholte ihre Bitte mit erschreckter Miene und mit einer durch Schluchzen und Tränen unterbrochenen Stimme.

»Ich will ihn gewiß nicht aufwecken«, sagt sie, indem sie ihr Gesicht bedeckte und ihr Köpfchen hängen ließ. »Ich will ihn gern nur mit der Hand berühren und schlafen. O ich bitte, bitte, laßt mich heute nacht bei meinem Bruder liegen, denn ich glaube, daß er mich liebt.«

Richards nahm sie, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, heraus, trug sie nach dem Bettchen, in welchem das Knäbchen schlief, und legte sie an seiner Seite nieder. Sie schmiegte sich so nahe an Paul an, als sie nur konnte, ohne seine Ruhe zu stören, streckte einen ihrer Arme so aus, daß er schüchtern seinen Hals umschlang, verbarg ihr Gesicht mit dem andern, über den das feuchte wirre Haar lose niederfiel, und blieb regungslos liegen.

»Das arme Ding«, sagte Miß Tox. »Wahrscheinlich hat sie geträumt.«

Dieser unbedeutende Vorfall hatte den Faden der Unterhaltung so sehr unterbrochen, daß es schwer wurde ihn wieder aufzunehmen. Außerdem fühlte sich Mrs. Chick von der Betrachtung ihres eigenen toleranten Wesens so angegriffen, daß sie durchaus nicht bei Stimmung war. Die beiden Freundinnen tummelten sich daher, um mit ihrem Tee zu Ende zu kommen, und dann wurde ein Diener abgesandt, um für Miß Tox eine Mietkutsche herbeizuholen. Miß Tox hatte in Betracht der Mietkutsche große Erfahrung, und ihr Fortkommen brauchte in der Regel einige Zeit, da sie umfangreiche Vorbereitungsmaßregeln traf.

»Wenn ich bitten darf, Towlinson«, sagte Miß Tox, »habt vor allem die Güte, Feder und Tinte herauszuholen und die Nummer deutlich niederzuschreiben.«

»Ja, Miß«, versetzte Towlinson.

»Dann möcht‘ ich Euch auch um die Gefälligkeit bitten, Towlinson«, fuhr Miß Tox fort, »das Polster umzudrehen. Es ist in der Regel feucht, meine Liebe«, fügte sie, sich nach Mrs. Chick umdrehend, hinzu.

»Ja, Miß«, versetzte Towlinson.

»Auch möchte ich Euch, wenn Ihr die Güte haben wollt, Towlinson, mit dieser Karte und diesem Schilling bemühen«, sagte Miß Tox. »Er soll nach der auf dieser Karte angegebenen Adresse fahren, sternchenland.com und es versteht sich von selbst, daß er um keinen Preis mehr als den Schilling erhält.«

»Nein, Miß«, versetzte Towlinson.

»Und – es tut mir leid, Euch so viele Mühe zu machen, Towlinson« – sagte Miß Tor, sinnend nach ihm hinschauend.

»Ist durchaus nicht nötig, Miß«, versetzte Towlinson.

»So habt denn die Güte, Towlinson, dem Mann zu sagen«, sagte Miß Tor, »daß der Onkel der Dame eine Magistratsperson sei und er schrecklich bestraft werde, wenn er ihr mit einer von seinen Unverschämtheiten kommt. Wenn Ihr so gut sein wollt, könnt Ihr so tun, als sagtet Ihr ihm das bloß in freundschaftlicher Weise und weil Ihr wüßtet, daß es einem andern Manne, der jetzt zu den Toten zählt, so ergangen sei.«

»Soll nicht fehlen, Miß«, versetzte Towlinson.

»Und nun gute Nacht, mein süßes, süßes, süßes Patchen«, sagte Miß Tor, indem sie jede Wiederholung des Adjektivs mit einem sanften Schauer von Küssen begleitete. »Und Louisa, meine liebe Freundin, versprecht mir, daß Ihr vor dem Schlafengehen noch etwas Warmes nehmen und Euch nicht unnötigen Kummer machen wollt!«

Bei dieser Krise kam es die schwarzäugige Miß Nipper, die aufmerksam zusah, außerordentlich schwer an, sich zusammenzunehmen, obschon die peinliche Selbstbeherrschung fortdauern mußte, bis sich Mrs. Chick entfernt hatte. Sobald aber endlich die Kinderstube frei von Besuchern war, hielt sie sich für den erlittenen Zwang einigermaßen schadlos.

»Ihr könnt mich sechs Wochen in eine Zwangsjacke stecken«, sagte Nipper, »und wenn ich los bin, würde ich nur noch ärgerlicher sein, wer hat je so was von zwei Greisinnen gehört, Mrs. Richards?«

»Und dann zu sagen, das arme Ding habe geträumt!« entgegnete Polly.

»O ihr Schönheiten!« rief Susanna Nipper, und tat so, als werfe sie der Tür, durch welche sich die Damen entfernt hatten, ein Kußhändchen zu. »Sie wird also nie eine Dombey sein, es ist nie von ihr zu hoffen, wir brauchen keine solche mehr, wir haben an einer genug.«

»Weckt die Kinder nicht auf, liebe Susanna«, sagte Polly.

»Ich bin Euch sehr verbunden, Mrs. Richards«, entgegnete Susanna, die in ihrer Wut durchaus keinen Unterschied machte, »und es ist mir geradeso, als ob ich es mir zur Ehre rechnen müßte, Eure Befehle entgegenzunehmen, da ich Eure Sklavin und eine Mulattin bin. Mrs. Richards, wenn Ihr mir noch andere Aufträge erteilen wollt, so bitte ich, es ohne weiteres zu tun.«

»Unsinn – wer spricht von Aufträgen!« sagte Polly.

»O, Gott behüte Euch, Mrs. Richards«, rief Susanna, »die Temporären wollen hier immer den Permanenten kommandieren, habt Ihr dies nicht gewußt, ei, wo seid Ihr denn geboren, Mrs. Richards? Aber wo immer Ihr auch geboren sein mögt, Mrs. Richards«, fuhr Sprühteufel fort, indem sie entschlossen den Kopf sternchenland.com schüttelte, »und wann immer und wie immer (was Ihr selbst wohl am besten wissen werdet), so seid so gut, Euch zu erinnern, daß es etwas anderes ist, Befehle zu erteilen und etwas anderes, sie auszuführen. Eine Person kann zu einer andern Person sagen, sie soll kopfüber von einer Brücke fünfundvierzig Fuß tief ins Wasser hinunter springen, Mrs. Richards, aber es kann der Person einfallen, es recht hübsch bleiben zu lassen.«

»Ich weiß schon«, sagte Polly, »Ihr seid zornig, weil Ihr ein gutes kleines Ding seid und Miß Florence gerne habt; da wollt Ihr jetzt Eure Wut an mir auslassen, weil niemand anders da ist.«

»Es ist sehr leicht für manche, bei guter Stimmung und sanften Worten zu bleiben, Mrs. Richards«, entgegnete Susanna einigermaßen beruhigt, »wenn man aus ihrem Kind so viel macht, wie aus einem Prinzen, und wenn man es hätschelt und pätschelt, bis es seine Freunde weit weg wünscht, aber wenn eine süße junge hübsche Unschuld, zu der man nie ein häßliches Wort sagen sollte, mit Füßen getreten wird, so ist das natürlich ein ganz anderer Fall. Du gütiger, barmherziger Himmel, Miß Floy, Ihr garstiges sündhaftes Kind, wenn Ihr nicht augenblicklich Eure Augen schließt, so rufe ich die Kobolde herein, die sich in der Dachkammer droben herumtreiben, damit sie Euch lebendig auffressen!«

Hier stimmte Miß Nipper ein schreckliches Geheul an, um die Kleine glauben zu machen, es komme von einem gewissenhaften Kobold aus der Ochsenspezies her, der ungeduldig sei, das grausame Amt seiner Stellung zu erfüllen. Nachdem sie noch weiter ihren jungen Pflegling dadurch, daß sie ihm den Kopf mit Bettüchern zudeckte, zur Ruhe gebracht und dem Kissen drei oder vier zornige Klapse gegeben hatte, kreuzte sie die Arme, warf die Lippen auf, setzte sich vor den Kamin und sah für den Rest des Abends ins Feuer hinein.

Obschon der kleine Paul, wie es in der Ammensprache lautete, »für sein Alter schon sehr aufpaßte«, so nahm er doch von all dem, wie auch von den Vorbereitungen, die am übernächsten Tage zu seiner Taufe getroffen wurden, sehr wenig Notiz. Doch ging alles, was seiner Schwester und der beiden Wärterinnen persönlichen Putz betraf, mit großer Regsamkeit vor sich. Als endlich der wichtige Morgen anbrach, zeigte er durchaus keinen Sinn für die Wichtigkeit dessen, was nun stattfinden sollte, da er im Gegenteil ungewöhnlich zum Schlafen geneigt und gegen diejenigen, die ihn ankleiden wollten, über die Maßen widerwärtig war.

Es war ein eisengrauer Herbsttag mit einem unfreundlichen Ostwind – ein Tag, der mit den Vorgängen im Einklang stand. Mr. Dombey repräsentierte in seiner Person den Wind, den Schatten und den Herbst des Taufakts. Er stand so hart und kalt wie das Wetter in seiner Bibliothek, um die Gesellschaft zu empfangen, und als er durch das verglaste Zimmer nach den Bäumen in dem kleinen Garten hinaussah, flatterten die braunen und gelben Blätter nieder, als habe sein Anblick sie zum Fallen gebracht. sternchenland.com Huh – die Zimmer waren düster und kalt! Sie schienen gleich den Insassen des Hauses Trauer angelegt zu haben. Die Bücher, alle von gleicher Größe und gleich Soldaten in einer Linie aufgestellt, sahen in ihren kalten, harten, schlüpfrigen Uniformen aus, als hätten sie nur eine Aufgabe zu erfüllen – die des Gefrierens. Der verschlossene und mit Glastüren versehene Bücherschrank wies jede Vertraulichkeit zurück.

Obendrauf stand Mr. Pitt in Bronze, ohne eine Spur seines himmlischen Ursprungs in sich zu tragen, und hütete den unzugänglichen Schatz wie ein verzauberter Mohr. An jeder Ecke des Schranks predigte eine staubige Urne, aus altertümlichen Gräbern geholt, wie von zwei Kanzeln herunter Verödung und Hinfälligkeit, während der Spiegel über dem Kaminsims, der Mr. Dombey und sein Porträt mit einem Male reflektierte, sich in den melancholischsten Betrachtungen zu ergehen schien.

Die steifen, starren Feuereisen schienen vor allem übrigen die nächste Verwandtschaft mit Mr. Dombey ansprechen zu können, der in zugeknöpftem Frack, weißer Krawatte, knarrenden Stiefeln und mit einer schweren goldenen Uhrkette dastand. So verharrte er bis zur Ankunft von Mr. und Mrs. Chick, seinen gesetzmäßigen Verwandten, die sich bald nachher einstellten.

»Mein lieber Paul«, murmelte Mrs. Chick, als sie ihn umarmte, »hoffentlich der Anfang von vielen erfreulichen Tagen.«

»Danke dir, Louisa«, versetzte Mr. Dombey grämlich. »Wie geht es Euch, Mr. John?«

»Wie befindet Ihr Euch, Sir?« versetzte Chick.

Er reichte Mr. Dombey die Hand in einer Weise, als fürchte er, sie könnte ihn elektrisieren; Mr. Dombey aber nahm sie entgegen, als sei sie ein Fisch, ein Seeschwamm oder eine derartige schleimige Substanz, und ließ sie sogleich mit gesteigerter Höflichkeit wieder los.

»Vielleicht würdest du ein Feuer vorgezogen haben, Louisa?« bemerkte Mr. Dombey, seinen Kopf leicht in der Krawatte drehend, als bewege er sich in einem Scharnier.

»O, mein lieber Paul, nein«, versetzte Mrs. Chick, welche Mühe hatte, sich des Zähneklapperns zu erwehren; »um meinethalben ist es nicht nötig.«

»Mr. John«, sagte Mr. Dombey, »Ihr neigt doch nicht zur Erkältung?«

Mr. John, der bereits seine beiden Hände bis über die Handgelenke in die Taschen gesteckt hatte und gerade im Begriff war, denselben hundeartigen Chorus anzustimmen, der bei einer früheren Gelegenheit Mrs. Chick so viel Anstoß gegeben, versicherte, daß er es hier vollkommen behaglich finde.

Er fügte in gedämpfter Stimme bei, »mit dem Tiddle Tol Turull«, wurde aber glücklicherweise von Towlinson unterbrochen, der die Meldung machte:

»Miß Tor!«

Die holde Zauberin trat ein mit blauer Nase und einem unbeschreiblich sternchenland.com frostigen Gesicht, das sie dem Umstand verdankte, daß sie sich zu Ehren der Feierlichkeit in luftige und flatternde Fähnchen gehüllt hatte.

»Wie geht es Euch, Miß Tor?« sagte Mr. Dombey.

Miß Tor verbeugte sich inmitten des sie umgebenden Flitters sehr tief, so daß sie den Eindruck eines sich schließenden Opernglases erweckte. Sie knixte nämlich deshalb so tief, um Mr. Dombey für die Auszeichnung zu danken, daß er ihr ein paar Schritte entgegenkam.

»Ich kann diese Gelegenheit nie vergessen«, sagte Miß Tor mit weicher Stimme. »Das ist unmöglich! Meine teure Louisa, ich kann kaum dem Zeugnis meiner Sinne trauen.«

Wenn Miß Tor dem Zeugnis eines ihrer Sinne Glauben schenken konnte, so war es zuverlässig ein sehr kalter Tag. Das lag klar auf der Hand. Um die Zirkulation des Blutes in ihrer Nasenspitze zu fördern, rieb sie diese heimlich mit dem Taschentuch, damit sie den Säugling nicht zu sehr erschrecke, falls sie ihn küssen würde.

Der Kleine wurde bald nachher in großer Glorie von Richards hereingebracht, während Florence unter der Obhut der Susanna Nipper, die einer diensthabenden Polizistin glich, die Nachhut bildete. Obgleich sie jetzt alle leichtere Trauerkleidung trugen, lag doch noch genug im Äußeren der mutterlosen Kinder, um das Drückende des Tages hervortreten zu lassen. Auch der Säugling – vielleicht war die Nase der Miß Tor daran schuld gewesen – begann zu schreien und hinderte dadurch gefälligerweise Mr. Chick an der linkischen Erfüllung eines sehr wohlgemeinten Vorhabens, da er nämlich beabsichtigt hatte, viel aus Florence zu machen. Denn dieser Gentleman, der nichts von den überlegenen Ansprüchen einer vollkommenen Dombey wußte – vielleicht weil er selbst die Ehre hatte, mit einer Dombey vereinigt zu sein und deshalb mit Vortrefflichkeit vertraut war – liebte die Kleine wirklich, und war eben im Begriff, dieses in seiner eigenen Weise zu zeigen, als Paul zu schreien anfing und sich unverzüglich darauf sein teures Ehegemahl ins Mittel legte.

»Nun Florence, Kind?« sagte die Tante rasch. »Was treibst du, meine Liebe? Zeig dich ihm. Beschäftige seine Aufmerksamkeit!«

Die Atmosphäre wurde kälter und kälter oder hätte es wenigstens werden können, als Mr. Dombey so eisig dastand und seiner kleinen Tochter zusah, die ihre Händchen zusammenschlug, sich vor dem Thron seines Sohnes und Erben auf die Zehenspitzen stellte und ihm schmeichelte, daß er sich aus seiner Erhabenheit herabließ und sie ansah. Mrs. Richards hatte wohl die richtige Art, mit dem Kleinen umzugehen, denn er sah verklärt auf Florence herab und blieb jetzt ruhig. Als nun seine Schwester sich hinter der Amme versteckte, folgte er ihr mit seinen Augen, und als sie mit einem heiteren Zuruf wieder hervorguckte, streckte er sich, schrie lustig hinaus und lachte hell auf, als sie auf ihn zueilte. Er schien mit seinen kleinen Händchen ihre Locken liebhaben zu wollen, während sie ihn mit Küssen fast erstickte.

War Mr. Dombey wohl über diesen Anblick erfreut? Er bekundete wenigstens nicht durch das mindeste Muskelzucken ein Wohlbehagen. Aber äußere Merkmale irgendwelcher Gefühle waren bei ihm etwas Ungewöhnliches. Wenn sich je ein Sonnenstrahl in das Zimmer stahl, um die Kinder bei ihren Spielen zu beleuchten, so erreichte er nie sein Gesicht. Er sah so starr und kalt zu, daß das warme Licht sogar aus den lachenden Augen der kleinen Florence verschwand, als sie endlich zufällig den seinen begegnete.

Es war in der Tat ein trüber, grauer Herbsttag, und in der kurzen stummen Pause, die nun folgte, fielen die Blätter in Menge nieder.

»Mr. John«, sagte Mr. Dombey, nachdem er auf seine Uhr und nach seinem Hut und seinen Handschuhen griff, »Seid so gut, Euch meiner Schwester anzunehmen: mein Arm gehört heute Miß Tor. Es wird am besten sein, Richards, wenn Ihr mit Master Paul vorausgeht. Gebt aber wohl acht auf ihn.«

In Mr. Dombeys Wagen saßen Dombey und Sohn, Miß Tor, Mrs. Chick, Richards und Florence, während in einem kleineren Gefährt der Eigentümer desselben, Mr. Chick und Susanna Nipper folgten. Susanna sah ohne Unterlaß zum Kutschenschlag hinaus, um sich Erleichterung in der Verlegenheit zu verschaffen, dem breiten Gesichte dieses Gentleman gegenüber zu sitzen; dabei dachte sie, so oft sie etwas rauschen hörte, daß er ein anständiges klingendes Kompliment für sie in Papier einwickle.

Als sie sich auf dem Wege nach der Kirche befanden, klopfte Mr. Dombey zur Unterhaltung seines Sohnes in die Hände – ein Pröbchen seiner väterlichen Freude, über das Miß Tor ganz entzückt war. Aber abgesehen von diesem Vorfall bestand der Hauptunterschied zwischen der Taufpartie und einer Gesellschaft in einer Trauerkutsche nur in den Farben der Equipage und der Pferde.

An den Treppenstufen der Kirche angelangt, wurden sie von einem stattlichen Kirchendiener in Empfang genommen. Mr. Dombey verließ den Wagen zuerst, um den Damen herauszuhelfen, und sah, da er sich neben dem andern an dem Kutschenschlag aufpflanzte, wie ein zweiter Kirchendiener aus – als Büttel zwar weniger prunkhaft, aber schrecklicher, der Büttel des Privatlebens, der Büttel unserer Geschichte und unserer Herzen.

Die Hand der Miß Tor zitterte, als sie sie in Mr. Dombeys Arm legte und sich so die Treppe hinauf geleitet sah, voraus einen Eckenhut und einen babylonischen Kragen. Es kam ihr für einen Augenblick eine andere Feierlichkeit in den Sinn. »Willst du diesen Mann haben, Lukretia?« »Ja, ich will.«

»Wenn Ihr so gut sein wollt, so bringt das Kind hurtig aus der scharfen Luft herein«, flüsterte der Kirchendiener, indem er die innere Tür des Gotteshauses offen hielt.

Der Platz war so frostig und erdig, daß der kleine Paul mit Hamlet hätte fragen können: »In mein Grab?« Die hohe, verhüllte Kanzel und das Lesepult, die traurige Perspektive von leeren Stühlen, sternchenland.com Mrs. Richards hatte wohl die richtige Art, mit dem Kleinen umzugehen, denn er sah verklärt auf Florence herab und blieb jetzt ruhig. sternchenland.com die sich unter den Galerien hin erstreckten, und leere Bänke, die bis zu dem Dach hinaufstiegen und sich im Schatten der großen finsteren Orgel verloren, der staubige Teppich und die kalten Fliesensteine, die grauen freien Sitze in den Gängen und die feuchte Ecke bei dem Glockenseil, wo die schwarzen Schragen für die Leichenbegängnisse nebst einigen Schaufeln, Körben und ein paar unheimlich aussehenden Tauringen aufbewahrt waren, der befremdliche, ungewöhnliche und unbehagliche Geruch, die leichenhafte Erhellung – alles das stand im Einklang mit der kalten, unheimlichen Szene.

»Es geht eben eine Trauung vor, Sir«, sagte der Kirchendiener; »sie wird aber gleich vorüber sein. Wollt Ihr vielleicht inzwischen in die Sakristei hereinkommen?«

Ehe er sich wieder umwandte, um voranzugehen, verbeugte er sich vor Mr. Dombey mit einem halben Lächeln des Wiedererkennens, um ihm damit anzudeuten, daß er schon beim Begräbnis seiner Gemahlin das Vergnügen hatte ihn zu sehen, und er hoffte, es sei ihm, Mr. Dombey, inzwischen gut gegangen.

Auch die Hochzeitspartie sah sehr trübselig aus, als sie vor dem Altar vorbeiging. Die Braut war zu alt und der Bräutigam zu jung, die Hochzeitszeugen schauderten, und ein hoch in Jahren stehender Beau mit einem Auge, der das fehlende durch ein Augenglas ersetzte, führte die Dame hinweg. In der Sakristei rauchte das Feuer, und ein wohlbetagter, abgearbeiteter und schlecht bezahlter Attorny-Schreiber, der etwas suchte, ließ seine Zeigefinger über die Pergamentseiten eines ungeheuren Registers, aus einer langen Reihe ähnlicher Bände genommen, die gleichfalls mit Begräbnisaufzeichnungen vollgepfropft waren, herunterlaufen. Über dem Kamin befand sich ein Plan von den Grabgewölben unter der Kirche, und Mr. Chick, der, um die Gesellschaft zu beleben, den literarischen Teil davon laut zum besten gab, las die Hindeutung auf Mrs. Dombeys Ruhestätte vollständig, ehe er sich Einhalt zu tun vermochte.

Nach einem abermaligen kalten Zeitraume bot eine kleine magere Stuhlschließerin mit einem Asthma, das wohl auf den Kirchhof, aber nicht auf die Kirche hindeutete, die Gesellschaft nach dem Taufsteine auf. Hier warteten sie eine kleine Weile, während der die Hochzeitsgesellschaft sich in Reih und Glied setzte; die asthmatische Stuhlschließerin aber humpelte – teilweise infolge ihrer Gebrechlichkeit, aber auch um der Hochzeitsgesellschaft ihre Person in Erinnerung zu bringen – in dem Gebäude umher und hustete wie ein Nordkaper. Bald darauf erschien der Küster (hier der einzige heiter aussehende Gegenstand, obschon er zugleich Leichenbestatter war) mit einem Krug warmen Wassers, goß davon in den Taufkessel und sagte dabei etwas von möglicher Erkältung des Kindes, die bei dem gegenwärtigen Anlaß durch Millionen Eimer heißen Wassers nicht hätte vermieden werden können. Dann kam der Geistliche, ein angenehmer, mild aussehender junger Vikar, vor dem sich aber augenscheinlich das Kind fürchtete, gleich der Hauptfigur einer Geistergeschichte – »eine hohe, weiße Gestalt«. Wie Paul seiner ansichtig wurde, sternchenland.com erfüllte er die Luft mit seinem Geschrei und ließ nicht ab davon, bis er ganz schwarzblau im Gesicht war.

Ja selbst als es endlich zur großen Beruhigung von jedermann so weit gekommen war, hörte man ihn noch während des Restes der Zeremonie unter dem Portikus bald schwächer, bald lauter, bald gedämpft, bald aufs neue wieder losbrechen aus dem unwiderstehlichen Gefühl des an ihm begangenen Unrechts. Das verwirrte die Aufmerksamkeit der beiden Damen dermaßen, daß Mrs. Chick unaufhörlich nach dem mittleren Gang hinging, um durch die Stuhlschließerin etwas zu bestellen, während Miß Tox ihr Gebetbuch bei der Schießpulververschwörung offen hielt und gelegentlich aus diesem Kapitel ihre Antworten ablas.

Während dieses ganzen Vorgangs blieb Mr. Dombey so teilnahmslos und gentlemanisch, wie nur je; vielleicht verursachte seine Anwesenheit die Kälte, welche dazu Anlaß gab, daß dem jungen Vikar beim Lesen jeder Hauch seines Mundes dampfte. Nur einmal bemerkte man eine Veränderung in seiner Miene, und das geschah, als der Geistliche in einfachem Vortrag seine Schlußermahnung an die Paten des Kindes hielt und dabei sein Auge auf Mr. Chick ruhen ließ. Mr. Dombeys Miene war bei dieser Gelegenheit so majestätisch, daß sich deutlich darin ausdrückte, »ich möchte doch sehen, ob es dieser je nötig hat, solchen Verpflichtungen nachzukommen«.

Es dürfte für Mr. Dombey gut gewesen sein, wenn er ein bißchen weniger an seine eigene Würde und mehr an den hohen Ursprung und an den Zweck der Feierlichkeit gedacht hätte, bei der er eine so förmliche und steife Rolle spielte. Seine Anmaßung bildete einen befremdlichen Gegensatz zu der Geschichte der heiligen Handlung.

Nachdem alles vorüber war, gab er Miß Tox abermals seinen Arm und führte sie nach der Sakristei, wo er dem Geistlichen mitteilte, es würde ihm ein großes Vergnügen gemacht haben, wenn er sich zum Diner die Ehre seiner Gesellschaft hätte erbitten können; hierauf müsse er aber wegen des unglücklichen Zustandes seiner häuslichen Angelegenheiten verzichten. Die Eintragungen wurden gemacht, die Gebühr bezahlt und weder die Stuhlschließerin, deren Husten wieder sehr schlimm geworden war, noch der Kirchendiener oder der Küster, der wie zufällig in der Tür, die zur Treppe führte, stand und mit großem Interesse das Wetter betrachtete, vergessen. Dann stiegen sie wieder in den Wagen und fuhren in derselben kalten Geselligkeit nach Hause.

Dort war Mr. Pitt, der die Nase über einen kalten Imbiß rümpfte, der in kaltem Pomp von Glas und Silber aufgetragen war und eher einem toten Diner auf dem Paradebette, als einer sozialen Erfrischung glich. Bei ihrer Ankunft brachte Miß Tox einen Becher für ihr Patchen zum Vorschein, und Mr. Chick beschenkte es mit Messer, Gabel und Löffel in einem andern Futteral. Auch Mr. Dombey hatte sich mit einem Armband für Miß Tox versehen, und beim Empfang dieses Andenkens entwickelte besagte Dame eine große Rührung.

»Mr. John«, sagte Dombey, »wollt Ihr die Güte haben, unten am Tisch Platz zu nehmen? Was steht vor Euch, Mr. John?«

»Kalter Nierenbraten, Sir«, entgegnete Mr. Chick, die steifen Hände hart gegeneinander reibend. »Was habt Ihr dort, Sir?«

»Das«, versetzte Mr. Dombey, »ist, glaube ich, irgendein kaltes Präparat von Kalbskopf. Ich sehe noch kaltes Geflügel – Schinken – Pastetchen – Salat – Hummern. »Miß Tox, wollt Ihr mir die Ehre erweisen, etwas Wein anzunehmen? Champagner für Miß Tox.«

Lauter zahnwehmachende Dinge. Der Wein war so grimmig kalt, daß Miß Tox einen leichten Schrei ausstieß, und sie hatte große Mühe, ihn zu einem »hem« umzuwandeln. Der Nierenbraten kam aus einer so luftigen Speisekammer, daß der erste Bissen auf Mr. Chick den Eindruck machte, als ränne ihm kaltes Blei bis an die Zehenspitzen. Nur Mr. Dombey blieb unbewegt. Man hätte ihn auf einem russischen Jahrmarkt als Probe eines erfrorenen Gentlemans zum Verkauf aushängen können.

Der vorherrschende Eindruck war sogar für seine Schwester zu viel. Sie gab sich sogar keine Mühe, ihre sonstigen Schmeicheleien und ihre Redseligkeiten anzubringen, sondern richtete alle ihre Anstrengungen darauf hin, so warm, als sie nur konnte, auszusehen.

»Na, Sir«, sagte Mr. Chick, nach langem Schweigen einen verzweifelten Anlauf nehmend und sich dazu ein Glas Xeres füllend; »mit Eurer Erlaubnis, Sir, will ich ein Hoch auf den kleinen Paul ausbringen.«

»Gott segne ihn!« murmelte Miß Tox, von ihrem Weine schlürfend.

»Der liebe kleine Dombey!« flüsterte Mrs. Chick.

»Mr. John«, sagte Mr. Dombey mit ernster Gravität, »wenn mein Sohn die Gunst, die Ihr ihm erwiesen habt, zu würdigen wüßte, so würde er sich ohne Zweifel sehr verpflichtet fühlen und Euch seinen Dank ausdrücken. Doch ich hoffe zuversichtlich, er wird mit der Zeit den Beweis liefern, daß er jeder Verantwortlichkeit gewachsen ist, welche ihm die Verbindlichkeit seiner Verwandten und Freunde im Privatleben oder die beschwerliche Beschaffenheit unserer Stellung im öffentlichen auferlegen kann.«

Der Ton, in dem das gesprochen wurde, gab nichts Weiterem Raum, und Mr. Chick verfiel wieder in ein trübseliges Schweigen. Nicht so Miß Tox, welche Mr. Dombey sogar mit emphatischerer Aufmerksamkeit als gewöhnlich und mit einer ausdrucksvolleren Neigung ihres Kopfes auf die eine Seite zugehört hatte. Sie lehnte sich jetzt quer über den Tisch und sagte mit leiser Stimme zu Mr. Chick:

»Louisa!«

»Meine Liebe«, versetzte Mrs. Chick.

»Die beschwerliche Beschäftigung unserer Stellung im öffentlichen ihm – ich habe den Ausdruck wieder vergessen.«

»Zulegen könnte«, sagte Mrs. Chick.

»Verzeiht, meine Liebe«, erwiderte Miß Tox. »Ich glaube nicht. sternchenland.com Er war gerundeter und fließender. Die Verbindlichkeit seiner Verwandten und Freunde im Privatleben oder die beschwerliche Beschaffenheit der Stellung im öffentlichen – ihm – auflegen könnte?«

»Natürlich ihm auflegen könnte«, sagte Mrs. Chick.

Miß Tox schlug triumphierend, aber doch nur leicht ihre zarten Hände zusammen und fügte mit einem aufwärts gerichteten Blick hinein: »In der Tat Beredsamkeit!«

Mittlerweile hatte Mr. Dombey Befehl erteilt, daß die Richards herbeigerufen werden sollte, und diese trat jetzt mit Verbeugungen, aber ohne Bübchen, herein, da Paul nach den Anstrengungen des Morgens schläfrig geworden war. Mr. Dombey überreichte dieser Vasallin ein Glas Wein und redete sie mit nachstehenden Worten an, nachdem zuvor Miß Tox ihren Kopf zur Seite geneigt und alle übrigen Vorbereitungen getroffen hatte, sie in den Tiefen ihrer Seele einzugraben.

»Während der sechs Monate oder so, Richards, welche Ihr eine Insassin dieses Hauses gewesen seid, habt Ihr Eure Pflicht getan. Es war daher mein Wunsch, Euch bei dieser Gelegenheit einen kleinen Dienst zu erweisen. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich das am besten könnte, und befragte deshalb meine Schwester, Mistreß –«

»Chick«, flocht der Gentleman dieses Namens ein.

»O, seht, wenn ich bitten darf!« sagte Miß Tox.

»Ich wollte Euch sagen, Richards«, nahm Mr. Dombey mit einem streng zurechtweisenden Blick gegen Mr. John wieder auf, »daß meinen Entschluß die Erinnerung an ein Gespräch unterstützte, das ich mit Eurem Gatten in diesem Zimmer hatte, zur Zeit, als Ihr gemietet wurdet. Er entdeckte mir damals den traurigen Umstand, daß Eure Familie, ihn selbst, das Haupt, nicht ausgenommen, tief in Unwissenheit versunken sei.«

Richards bebte unter der Großartigkeit dieses Vorwurfs.

»Ich bin zwar durchaus kein Freund von dem«, fuhr Mr. Dombey fort, »was von den aufdringlichen Gleichmachern allgemein Erziehung genannt wird; aber es ist immerhin nötig, daß die unteren Klassen fortwährend unterrichtet werden, wie sie ihre Stellung erkennen und sich demgemäß gebührend aufführen müssen. Insoweit haben die Schulen meinen Beifall. Da es nun in meiner Macht steht, für eine alte Anstalt, die von einer verehrungswerten Gesellschaft den Namen der barmherzigen Schleifer erhalten hat, ein Kind zu nominieren – die Schüler erhalten dort nicht nur eine gesunde Erziehung, sondern auch einen mit dem Abzeichen des Instituts versehenen Anzug – so habe ich, nachdem ich zuerst durch Mrs. Chick mit Eurer Familie Rücksprache nehmen ließ, Euren ältesten Sohn für eine erledigte Stelle bezeichnet, und wie ich höre, trägt er schon heute die Montierung. Die Nummer ihres Sohnes«, fügte Mr. Dombey gegen seine Schwester bei, als ob er nicht von einem Kinde, sondern von einer Mietkutsche spreche – »ist, wie ich glaube, hundertsiebenundvierzig. Louisa, du kannst es ihr sagen.«

»Hundertsiebenundvierzig«, bekräftigte Mrs. Chick. »Die Montierung, sternchenland.com Richards, besteht aus einem netten, warmen blauwollenen Fräcklein, einer Mütze mit orangefarbigem Band, rotwollenen Strümpfen und sehr starken Lederhosen. Man könnte die Sachen selbst tragen«, fügte Mrs. Chick mit Enthusiasmus hinzu, »und Gott dafür danken.«

»So, Richards!« sagte Miß Tox. »Nun dürft Ihr in der Tat stolz sein. Die barmherzigen Schleifer!«

»Ich bin Euch gewiß sehr verbunden, Sir«, entgegnete Richards kleinlaut, »und weiß es sehr zu schätzen, daß Ihr meiner Kleinen gedenkt.«

Wie sie aber zu gleicher Zeit sich den Sieder als barmherzigen Schleifer dachte und sich seine sehr kleinen Beine in der dauerhaften Kleidung, wie sie Mrs. Chick beschrieben hatte, vergegenwärtigte, schwamm es ihr vor den Augen, so daß sie ganz feucht wurden.

»Es freut mich, zu bemerken, daß Ihr soviel Gefühl habt, Richards«, sagte Miß Tox.

»Ja wahrhaftig, es läßt einen fast hoffen«, sagte Mrs. Chick, die sonst sehr darauf hielt, die menschliche Natur durch das Auge des Argwohns zu betrachten, »daß vielleicht noch ein kleiner Funke von Dankbarkeit und richtigem Gefühl in der Welt übrig geblieben ist.«

Richards erwiderte diese Komplimente nur mit Knixen und gemurmelten Dankesäußerungen. Da es ihr aber unmöglich war, sich von der Verwirrung zu befreien, in welche sie das Bild ihres Sohnes mit der vorzeitigen Beinbekleidung versetzt hatte, so näherte sie sich allmählich der Tür und schätzte sich glücklich, durch dieselbe entkommen zu können.

Solche vorübergehende Anzeichen eines teilweisen Auftauens, die mit ihr aufgetaucht waren, verschwanden mit ihrer Entfernung wieder, und der Frost trat aufs neue so kalt und hart ein, wie nur je. Unten am Tisch hörte man zwar etliche Male Mr. Chick eine Arie summen, aber stets war es nur ein Bruchstück aus dem Totenmarsch im Saul. Die Gesellschaft schien kälter und kälter zu werden, ja zuletzt sich in einen gefrorenen und festen Zustand zu versetzen, gleich dem Imbiß, um den sie sich versammelt hatte. Endlich sah Mrs. Chick nach Miß Tox hin, und Miß Tox erwiderte den Blick; dann erhoben sich beide und sagten, daß es wahrhaftig Zeit sei, aufzubrechen. Mr. Dombey nahm diese Ankündigung mit völligem Gleichmut entgegen; die Anwesenden verabschiedeten sich von diesem Gentleman und entfernten sich ohne Zögerung unter dem Schutze des Mr. Chick, der, sobald sie dem Hause den Rücken gekehrt und den Gebieter desselben in seinem gewöhnlichen einsamen Zustande zurückgelassen hatten, die Hände in seine Taschen steckte, sich in den Wagen zurückwarf und ein »mit dem Heidideldumdidum!« ganz durchpfiff. Dabei legte er in sein Gesicht einen Ausdruck so voll düsteren und schrecklichen Trotzes, daß es Mrs. Chick nicht wagte, zu protestieren oder in irgendeiner Weise ihn zu belästigen.

Obgleich Richards den kleinen Paul auf ihrem Schoß hatte, konnte sie doch ihren eigenen Erstgeborenen nicht vergessen. Sie fühlte zwar sternchenland.com wohl, daß sie undankbar war; aber der Einfluß des Tages fiel sogar auf die barmherzigen Schleifer, und sie konnte sich kaum erwehren, das zinnerne Abzeichen mit Nummer hundertundsiebenundvierzig in irgendeiner Weise als einen Teil seiner Förmlichkeit und Kälte zu betrachten. Auch sprach sie in der Kinderstube von seinen »gesegneten Beinen«, und aufs neue fühlte sie sich durch sein Abbild in Uniform beunruhigt.

»Ich weiß nicht, was ich darum geben würde«, sagte Polly, »wenn ich den armen lieben Kleinen sehen könnte, ehe er sich daran gewöhnt hat.«

»Ei, so will ich Euch etwas sagen, Mrs. Richards«, entgegnete Nipper, die ins Vertrauen gezogen worden war, »besucht ihn, damit Ihr Euch darüber beruhigen könnt.«

»Mr. Dombey wird es nicht gerne haben«, sagte Polly.

»Warum nicht gar, Mrs, Richards«, erwiderte Nipper; »im Gegenteil, ich glaube, er würde sich freuen, wenn er darum gebeten würde.«

»Vermutlich würdet Ihr ihn nicht darum bitten wollen?« sagte Polly.

»Nein, Mrs. Richards, ganz im Gegenteil, und da, wie ich sie heute sagen hörte, jene zwei Inspektorinnen, Tox und Chick, morgen nicht Dienst zu tun gedenken, so wollen ich und Miß Floy morgen früh mit Euch gehen, recht gerne, Mrs. Richards, wenn es Euch recht ist, denn wir können dort so gut die Straße auf und ab spazieren, als anderswo, ja noch besser.«

Polly wies diesen Gedanken anfänglich ziemlich standhaft zurück; aber allmählich begann sie sich daran zu gewöhnen, um so mehr, da die verbotenen Bilder ihrer Kinder und ihrer Heimat ihr immer lebhafter vor die Seele traten. Endlich kam sie zu dem Schlusse, es schade ja nichts, wenn sie einen Augenblick an der Tür anspreche, und dieser Grund bewog sie, auf Klippers Vorschläge einzugehen.

Nachdem die Sache in dieser Weise beschlossen war, begann der kleine Paul kläglich zu schreien, als habe er eine Vorahnung, daß nichts Gutes dabei herauskommen würde.

»Was ist mit dem Kinde?« fragte Susanna.

»Es wird ihn frieren, denke ich«, entgegnete Polly, und ging mit ihm hin und her, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Es war in der Tat ein frostiger Herbstnachmittag, und als sie, ihren Pflegling pätschelnd, hin und her ging, ihn fester an ihre Brust drückte und durch die traurigen Fenster hinausschaute, fielen die welken Blätter mit Macht nieder.

Sechstes Kapitel.


Sechstes Kapitel.

Pauls zweite Verwaisung.

Am Morgen kamen Polly so allerlei Bedenken, daß sie ohne das unaufhörliche Drängen ihrer schwarzäugigen Gefährtin alle Gedanken an den Ausflug aufgegeben und förmlich um die Erlaubnis sternchenland.com gebeten haben würde, Nummer 147 unter dem unheimlichen Schatten von Mr. Dombeys Dach zu sehen. Aber Susanna, die persönlich auf den Spaziergang erpicht war, konnte es durchaus nicht ertragen, wenn ihre eigenen Erwartungen getäuscht würden, wie standhaft sie sich auch bei den fehlgeschlagenen Hoffnungen anderer zu benehmen wußte. Sie brachte gegen diesen späteren Gedanken so viele scharfsinnige Zweifel, dann wieder so viele sinnreiche Gründe für die ursprüngliche Absicht zum Vorschein, daß Mr. Dombey seinem Hause kaum den stattlichen Rücken gedreht hatte, um seinen täglichen Gang nach der City zu machen, als sich sein nichtsahnender Sohn schon auf dem Wege nach Staggs Gärten befand.

Die vielverheißende Lokalität lag in einer Vorstadt, die bei den Bewohnern von Staggs Gärten unter dem Namen Camberling Town bekannt war – eine Bezeichnung, die die Fremdenkarte von London, die zwecks angenehmer und bequemer Benutzung auf Taschentücher gedruckt ist, mit einigem Schein von Grund in Cambden Town zusammengezogen hat. Dahin nun lenkten die zwei Wärterinnen, von ihren Pfleglingen begleitet, ihre Schritte. Richards trug natürlich den kleinen Paul, und Susanna, die Florence an der Hand führte, versetzte ihrer Mündel von Zeit zu Zeit so viele Rucke und Stöße, als ihr zweckdienlich schienen.

Der erste Stoß eines großen Erdbebens hatte eben damals diese ganze Gegend bis in ihren Mittelpunkt auseinander gerissen. Spuren seines Verlaufs waren noch zu jeder Seite sichtbar. Man bemerkte eingestürzte Häuser, zerrissene Straßen, tiefe Furchen und Gruben in dem Boden, Aufwürfe von Erde und Lehm, unterminierte Häuser, die wankend dastanden und durch schweres Holzgebälk abgestützt wurden. Hier lag ein Chaos von übereinander gestürzten Karren unten an einem steilen unnatürlichen Hügel, dort sah man Schätze von Eisen eingeweicht und rostend an einer Stelle, die zufälligerweise ein Teich geworden war. Überall befanden sich Brücken, die nirgends hinführten, völlig unpassierbare Straßen, babylonische Türme von Schornsteinen, die die Hälfte ihrer Höhe verloren hatten, zackige Holzhütten und Verzäunungen in den unwahrscheinlichsten Lagen, Gerippe von zerrissenen Baracken, Bruchstücke unvollendeter Mauern und Bogen, Schichten von Gerüsten, eine wahre Wildnis von Backsteinen, riesige Formen von Kranen und Dreifüßen, die über nichts ihre Beine breiteten. Hunderttausend unvollendete Formen und Substanzen, wild untereinander gemengt, das Unterste zu oberst gekehrt, bald in die Erde tauchend, bald in die Luft hinausstrebend oder im Wasser modernd, zeigten sich allenthalben wie die unverständlichen Bilder eines Traumes. Heiße Quellen und feurige Eruptionen, die gewöhnlichen Begleiter von Erdbeben, trugen dazu bei, die Verwirrung der Szene zu erhöhen. Kochendes Wasser zischte und prudelte in verfallenen Mauern, aus denen auch der Glanz und das Getöse von Flammen hervorging. Aschenhaufen benahmen den Straßen ihre Rechte und veränderten ganz und gar den gewohnten regelmäßigen Gang in der Umgegend. sternchenland.com Mit einem Worte, die noch uneröffnete und unvollendete Eisenbahn nahm ihren Fortgang, aus dem Herzen aller dieser wilden Unordnung glatt sich weiterstreckend im mächtigen Lauf der Zivilisation und des Fortschritts.

Aber bis jetzt war die Umgegend noch schüchtern und wagte es nicht, die Eisenbahn sich zuzueignen. Ein paar kecke Spekulanten hatten Straßen projektiert, einer davon sogar ein wenig gebaut, unter dem Schmutz und der Asche aber innegehalten, um sich noch eines weiteren zu besinnen. Eine Schenke, die noch nach Mörtel roch und ohne Bewurf war, hatte sich das Eisenbahn-Wappen zum Schild gewählt; die Unternehmung war vielleicht voreilig – indes stand doch zu hoffen, daß die Bahnarbeiter trinken wollten. So war eine Bierkneipe zum Zuspruchshaus für Grabarbeiter und die alte Garküche zum Eisenbahn-Speisehaus geworden, wo man täglich gebratene Schweinshaxen haben konnte; auch gab es noch weitere Umwandlungen aus eigennützigen Motiven einer ähnlich plötzlichen und populären Art. Die Vermieter von Zimmern und Schlafstätten zeigten sich ebenso wohlwollend, fanden aber aus den gleichen Gründen kein sonderliches Vertrauen, da man im allgemeinen noch nicht recht an das Ganze glaubte. Da sah man muffige Felder, Kuhställe, Dünger- und Kehrichthaufen, Gräben, Gärten und Plätze zum Teppichausklopfen sozusagen an der Tür der Eisenbahn. Zur Austernzeit Hügel von Austernschalen, oder zur Hummerzeit Berge von Hummernscheren, stets aber zerbrochenes Töpfergeschirr und welke Kohlblätter türmten sich an den hohen Plätzen auf. Pfosten, Geländer, alte Warnungstafeln für unberufene Personen, Hinterseiten von schlechten Häusern und Striche verkümmerter Vegetation stierten grimmig nach der Bahn hin; nichts war durch sie gebessert worden oder wollte um ihrerwillen besser sein. Wenn der jämmerliche Grund in der Nähe hätte lachen können, so würde er, wie so viele von den armseligen Nachbarn, seine Verachtung in dieser Weise ausgedrückt haben.

Staggs Gärten waren über die Maßen merkwürdig. Sie bestanden aus einer kleinen Reihe von Häusern mit kleinen, schmutzigen Plätzen davor, die mit alten Türen, Faßdauben, Fetzen von Teerleinwand oder abgestorbenen Hecken verzäunt waren, während die Lücken durch bodenlose Blechkessel und ausgediente eiserne Kaminschirme ausgefüllt wurden. Da zogen die Staggs-Gärtner Feuerbohnen, hielten Vögel und Kaninchen, bauten morsche Gartenhäuschen (eines aus einem alten Boot), trockneten Wäsche und rauchten Pfeifen. Einige waren der Ansicht, die Staggs-Gärten führten den Namen von einem verstorbenen Kapitalisten, einem gewissen Mr. Staggs, der sie zu seinem Vergnügen angelegt hätte. Andere von mehr ländlichem Geschmack meinten, die Bezeichnung rühre aus jenen Zeiten her, als die mit Geweihen versehene Herde, unter dem Namen Stags (Hirsche) bekannt, diese schattigen Räume besucht habe. Sei dem nun wie ihm wolle, die dortige Bevölkerung betrachtete Staggs Gärten als einen geheiligten Hain, der nicht durch Eisenbahnen verderbt sternchenland.com werden sollte, und lebte der völligen Überzeugung, sie würden alle derartige lächerliche Erfindungen lang überleben. Ja, der Hauptkaminfeger an der Ecke, der zugestandenermaßen der erste unter den Lokal-Politikern in den Gärten war, hatte öffentlich erklärt, am Tage der Eröffnung der Eisenbahn, wenn diese je stattfinde, müßten zwei von seinen Burschen auf die Schornsteine seines Hauses steigen und von dort aus das Fehlschlagen der Unternehmung mit Spott und Hohn begrüßen.

Nach diesem ungeheiligten Platz also, dessen Namen sogar Mrs. Chicks ihrem Bruder sorgfältig verschwiegen hatte, wurde jetzt der kleine Paul vom Fatum und von Richards getragen.

»Dort ist mein Haus, Susanna«, sagte Polly, und zeigte mit dem Finger darauf.

»Das ist es wirklich, Mrs. Richards?« versetzte Susanna herablassend.

»Und wahrhaftig, ich sehe meine Schwester Jemima an der Tür,« rief Polly, »mit meinem süßen köstlichen Bübchen auf den Armen!«

Dieser Anblick beflügelte Pollys Ungeduld, so daß sie ihre Schritte zu einem eigentlichen Rennen beschleunigte. Sie stürzte auf Jemima zu und hatte im Nu die beiden Kleinen ausgewechselt – zum unaussprechlichen Erstaunen der jungen Dame, auf welche der Erbe der Dombeys wie aus den Wolken herabgefallen zu sein schien.

»Ei, Polly!« rief Jemima. »Du! Was hast du da für eine Verwechslung vorgenommen? Wer hätte das je gedacht! Komm mit herein, Polly. Und wie gut du aussiehst! Die Kinder werden ganz außer sich geraten, wenn sie dich sehen, Polly.«

Und so war es auch, wenn anders man einen Schluß ziehen durfte aus dem Geschrei, das sie jetzt anfingen, und aus der Art, wie sie auf Polly zustürzten, um sie nach einem Schemel in der Kaminecke zu zerren, wo ihr Apfelgesicht plötzlich der Mittelpunkt eines Häufleins von Borsdorferäpfeln wurde, die ihre rosigen Wangen dicht daran schmiegten – alle augenscheinlich Erzeugnisse desselben Baumes. Was Polly betraf, so war sie ebenso laut und ungestüm, wie die Kinder, und in dieser Verwirrung trat erst eine Pause ein, als sie kaum noch zu Atem kommen konnte, ihr Haar zerzaust um das glühende Gesicht hing und ihr neues Taufkleid schon recht sehr zerknittert war. Aber auch dann noch blieb der zweitjüngste Toodle auf ihrem Schoß, ihren Hals mit seinen Armen fest umfassend, während der nächst ältere Toodle auf die Stuhllehne stieg und, das eine Bein in die Luft streckend, verzweifelte Anstrengungen machte, seine Mutter um die Ecke herum zu küssen.

»Seht, da ist eine hübsche kleine Dame zu euch auf Besuch gekommen«, sagte Polly. »Und wie ruhig sie ist! Ist es nicht ein hübsches Mädchen?«

Diese Hindeutung auf Florence, die von der Tür aus der Szene zugesehen hatte, wandte die Aufmerksamkeit der jüngeren Toodles ihr zu und übte in gleicher Weise die glückliche Wirkung, eine förmliche sternchenland.com Begrüßung der Miß Nipper herbeizuführen, die es schon wurmte, daß sie so vernachlässigt wurde.

»O kommt doch herein und nehmt ein Weilchen Platz, Susanna, ich bitte«, sagte Polly. »Das hier ist meine Schwester Jemima. Jemima, ich wüßte nicht, was ich je mit mir selbst anfangen sollte, wenn Susanna Nipper nicht wäre; ohne sie würde ich jetzt nicht hier sein.«

»O, so nehmt doch Platz, Miß Nipper, wenn ich bitten darf«, ergriff jetzt Jemima das Wort.

Susanna setzte sich mit stattlicher und zeremoniöser Miene auf das äußerste Ende eines Stuhls.

»In meinem Leben bin ich nie so erfreut gewesen, jemand zu sehen; ja wahrhaftig nicht. Miß Nipper«, sagte Jemima.

Susanna erweichte sich ein wenig, rückte auf ihrem Stuhl etwas weiter herauf und lächelte in Gnaden.

»Nehmt doch Euern Hut ab und tut, als ob Ihr zu Hause wäret. Miß Nipper«, bat Jemima. »Leider ist es nur ein armes Haus, und Ihr seid an dergleichen nicht gewöhnt; aber ich bin überzeugt, daß Ihr Nachsicht haben werdet.«

Durch dieses unterwürfige Benehmen wurde die Schwarzäugige so erweicht, daß sie die kleine Miß Toodle, welche an ihr vorbeiging, beim Händchen faßte und sie unverweilt nach Banbury-Croß führte.

»Aber wo ist mein netter Junge?« fragte Polly. »Mein armer Knabe? Ich bin hierher gekommen, um zu sehen, wie er sich in seinen neuen Kleidern ausnimmt.«

»Ach, wie schade!« rief Jemima. »Es wird ihm das Herz brechen, wenn er hört, daß seine Mutter hier war. Er ist in der Schule, Polly.«

»Schon angefangen?«

»Ja. Gestern ging er zum ersten Male hin, weil er fürchtete, von dem Lernen etwas zu verlieren. Aber es ist ein halber Vakanztag, Polly; wenn du nur hier bleiben könntest, bis er nach Hause kommt – du und Miß Nipper«, fügte Jemima bei, sich noch rechtzeitig der Würde der Schwarzäugigen erinnernd.

»Und wie sieht er aus, Jemima? Gott segne ihn!« stotterte Polly.

»Nun, er sieht wahrhaftig nicht so schlimm aus, als du wohl glauben magst«, erwiderte Jemima.

»Ah!« sagte Polly bewegt, »ich weiß, seine Beine müssen zu kurz sein.«

»Seine Beine sind freilich kurz«, erwiderte Jemima, »namentlich hinten; aber sie werden mit jedem Tag länger, Polly.«

Das war eine Art Trost von langsamer Aussicht, aber die Heiterkeit und Laune, mit welcher er angebracht ward, verlieh ihm einen Wert, den er dem Wesen nach nicht besaß. Nach einem kurzen Schweigen fragte Polly etwas aufgeräumter:

»Und wo ist der Vater, liebe Jemima?« – denn unter dieser sternchenland.com patriarchalischen Bezeichnung wurde in der Familie Mr. Toodle verstanden.

»Da haben wir es wieder!« sagte Jemima. »Wie schade! Der Vater hat heute morgen sein Mittagessen mitgenommen und kommt vor Nacht nicht nach Hause. Aber er spricht immer von dir, Polly, und erzählt den Kindern von dir. Er ist die friedliebendste, geduldigste und frohherzigste Seele auf der Welt, wie er es stets war und sein wird!«

»Ich danke dir, Jemima«, rief die einfache Polly, erfreut über diese Mitteilung, wie sehr ihr auch seine Abwesenheit leid tat.

»O, du brauchst mir nicht zu danken, Polly«, versetzte ihre Schwester, indem sie ihr einen schallenden Kuß auf die Wangen drückte und dann wohlgemut mit dem kleinen Paul umhertanzte. »Ich sage bisweilen das nämliche auch von dir, und es kommt mir von Herzen.«

Trotz der zweifachen getäuschten Erwartung war es unmöglich, einen Besuch, der solche Aufnahme gefunden hatte, im Lichte eines Fehlgangs zu betrachten. Die Schwestern sprachen daher voll Hoffnung über Familienangelegenheiten, über Sieder und über alle seine Brüder und Schwestern, während die Schwarzäugige, nachdem sie mehrere Gänge nach Banbury-Croß und zurück gemacht hatte, das Möbelwerk, die Schwarzwälderuhr, den Wandschrank, das Schloß auf dem Kaminsims mit seinen roten und grünen Fenstern, die das Licht einer innen angezündeten Kerze durchstrahlen lassen konnten, und die paar kleinen schwarzen Samtkätzchen musterte, von denen jedes einen Damenbeutel im Munde hatte. Die letzteren Stücke galten unter den Staggs Gärtnern als wahre Wunderwerke der nachahmenden Kunst. Da die Unterhaltung bald allgemein wurde, damit der Schwarzäugigen auch ihr Anteil zukommen möchte, so erzählte diese junge Dame in sarkastischer Weise Jemima alles, was sie von Mr. Dombey, seinen Aussichten, seiner Familie, seinem Treiben und Charakter wußte. Dann ging sie auf ein genaues Inventar ihrer eigenen Garderobe und auf eine Aufzählung ihrer hauptsächlichsten Verwandten und Freundinnen über. Nachdem sie in dieser Weise ihr Herz erleichtert hatte, nahm sie teil an den Garnelen und dem Porter, und befand sich in der Stimmung, ewige Freundschaft zu schwören.

Die kleine Florence versäumte gleichfalls nicht, diese Gelegenheit zu benützen; denn nachdem sie unter der Führung der beiden jungen Toodles einige Hexenschirme und andere Merkwürdigkeiten der Gärten inspiziert hatte, ließ sie sich mit ihnen wohlgemut auf die Herstellung eines zeitweiligen Damms durch eine kleine grüne Lache ein, die sich in einer Ecke gesammelt hatte. Sie war noch eifrig in diesem Geschäft begriffen, als sie von Susanna gesucht und aufgefunden wurde. Letztere hatte selbst unter dem humanisierenden Einfluß der Garnelen ihre Pflicht nicht vergessen und ergoß sich jetzt unter vielen Daumenstößen in eine moralische Rede über ihre entartete Natur, indem sie ihr zugleich Gesicht und Hände wusch und sternchenland.com die Prophezeiung beifügte, sie werde die grauen Haare ihrer ganzen Familie mit Leidwesen ins Grab bringen. Nach einiger Verzögerung, die ihren Grund in einem vertraulichen Gespräch zwischen Polly und Jemima über Geldangelegenheiten hatte (natürlich wurde das eine Treppe weiter oben abgemacht), fand wieder ein Austausch der Säuglinge statt, da Polly die ganze Zeit über ihr eigenes Kind für sich behalten und den kleinen Paul Jemima überlassen hatte. Dann verabschiedeten sich die Gäste.

Die jungen Toodles waren zuvor als Opfer einer frommen List insgesamt nach dem Laden eines benachbarten Spezereihändlers geschickt worden, unter dem ostensibeln Vorwand, sich für einen Penny etwas zu kaufen. Sobald die Küste frei war, flüchtete sich Polly. Jemima rief ihr noch nach, daß sie, wenn sie auf dem Rückwege die Citystraße einschlagen würden, sicher den von der Schule zurückkommenden Sieder treffen würden.

»Glaubt Ihr, wir haben noch Zeit, den kleinen Umweg in dieser Richtung zu machen, Susanna?« fragte Polly, als sie haltmachten, um Atem zu schöpfen.

»Warum nicht, Mrs. Richards?« entgegnete Susanna.

»Ihr wißt, es ist bald Mittagessenszeit«, sagte Polly.

Aber das bereits eingenommene Lunch machte ihre Begleiterin mehr als gleichgültig gegen diese gewichtige Rücksicht; sie nahm die Sache auf die leichte Achsel, und so wurde denn der Beschluß gefaßt, sich an dem kleinen Umwege nicht zu stoßen.

Des armen Sleders Leben war seit dem gestrigen Morgen durch den Umstand, daß er das Kostüm der barmherzigen Schleifer trug, sehr leidig geworden, da die Straßenjugend gewaltigen Anstoß daran nahm. Kein junger Galgenstrick konnte den Anblick desselben auch nur einen Moment aushalten, ohne sich auf den harmlosen Träger zu stürzen und ihm einen Possen zu spielen. Seine soziale Existenz glich mehr der eines Christen aus den ersten Zeiten, als der eines unschuldigen Kindes aus dem neunzehnten Jahrhundert. In den Straßen hatte man ihn gesteinigt, man warf ihn in die Gossen, besudelte ihn mit Kot oder drückte ihn ungestüm an die Eckpfosten. Wildfremde Jungen hatten ihm seine gelbe Kappe vom Kopf gerissen und sie in die Luft geworfen. Seine Beine mußten sich nicht nur Verbal-Kritiken und Schmähungen gefallen lassen, sondern wurden auch handgreiflich behandelt und gezwickt. Schon am Morgen hatte er auf seinem Wege nach der Anstalt der Schleifer ein vollkommen unerbetenes blaues Auge davongetragen und war deshalb von dem Schulmeister, einem hochbetagten alten Schleifer von wilder Gemütsart, den man zum Lehrer ernannt hatte, weil er nichts wußte, zu nichts taugte und mit seinem grausamen Rohr alle rundbäckigen kleinen Jungen in beharrlichem Schrecken erhalten konnte – in Strafe genommen worden.

So kam es denn, daß Sieder auf dem Heimwege die unbegangensten Pfade aufsuchte und durch enge Wege und Hintergassen schlich, um seinen Quälgeistern auszuweichen. Als er endlich in die sternchenland.com Hauptstraße einbiegen mußte, führte ihn sein Mißgeschick unter einen Bubenhaufen, der unter der Anführung eines wilden Metzgerlehrlings auf der Lauer lag, ob sich nichts ergebe, wodurch sie sich eine angenehme Aufregung verschaffen könnten. Da sie nun plötzlich einen barmherzigen Schleifer mitten unter sich sahen – sozusagen unerklärlicherweise ihren Händen überantwortet – stimmten sie ein allgemeines Gejohl an und stürzten auf ihn los.

Zu gleicher Zeit fügte es sich, daß Polly des Wegs kam. Sie war bereits eine gute Stunde gegangen und hatte hoffnungslos die Straße vor sich hinaufgesehen, so daß sie schon meinte, es nütze nichts, weiter zu gehen, als sie plötzlich diese Szene gewahr wurde. Kaum hatte sie ihren Knaben erkannt, als sie einen hastigen Schrei ausstieß, Master Dombey der Schwarzäugigen aufdrang und unter den Haufen stürzte, um ihren unglücklichen Sohn zu retten.

Überraschungen kommen gleich dem Unglück selten allein. Die erstaunte Susanna Nipper und ihre beiden jungen Pflegebefohlenen mußten, noch ehe sie wußten, was um sie vorging, von den Umstehenden vor den Rädern eines vorbeifahrenden Wagens weggerissen werden, und im gleichen Augenblick (es war Markttag) ließ sich der donnernde Lärmruf »ein wütender Ochse!« vernehmen.

Die wilde Verwirrung vor sich, Leute, die schreiend auf und ab rannten, Räder, die sie überfahren wollten, sich balgende Knaben, heranjagende tolle Stiere und die Amme, welche inmitten dieser Gefahren fast in Stücke gerissen wurde – alles das war zuviel für Florence; sie fing an zu schreien und lief davon. Sie lief fort, bis sie nicht mehr konnte, und drängte Susanna, dasselbe zu tun; als sie aber endlich haltmachte und daran dachte, daß sie die andere Amme zurückgelassen hatte, machte sie unter Händeringen und mit einem Schrecken, der sich nicht beschreiben läßt, die Entdeckung, daß sie ganz allein war.

»Susanna! Susanna!« rief sie, im Übermaß ihrer Angst die Händchen zusammenschlagend. »O, wo sind sie! wo sind sie!«

»Wo sie sind?« sagte ein altes Weib, die von der andern Seite des Weges humpelnd auf sie zukam. »Warum bist du ihnen entlaufen?«

»Ich fürchtete mich«, antwortete Florence. »Ich wußte nicht, was ich tat. Ich meinte, sie seien bei mir. Wo sind sie?«

Die Alte nahm sie bei der Hand und sagte:

»Ich will es dir zeigen,«

Es war ein sehr häßliches altes Weib mit roten Augenrändern und einem Munde, der immer mummelnde Bewegungen machte, auch wenn sie nicht sprach. Ihr Anzug war erbärmlich, und sie trug einige Felle über dem Arm. Allem Anschein nach war sie, wenigstens eine Strecke weit, Florence nachgegangen, denn sie konnte fast kaum zu Atem kommen. Ihr Schnauben machte sie noch häßlicher, und ihr welkes gelbes Gesicht samt dem Halse verzog sich dabei zu allen Arten von Verzerrungen.

»Du brauchst dich jetzt nicht mehr zu fürchten«, sagte die Alte, sie fest am Handgelenk haltend, »Komm nur mit mir.« sternchenland.com

»Ich – ich kenne Euch ja nicht. Wie heißt Ihr?« fragte Florence.

»Mistreß Brown«, sagte die Alte. »Die gute Mrs. Brown.«

»Wohnt Ihr in der Nähe?« fragte Florence, die sich wegführen ließ.

»Susanna ist nicht weit«, sagte die gute Mrs. Brown; »und die andern kommen gleich hinterher.«

»Ist jemand verletzt worden?« fragte Florence.

»O, nicht im geringsten«, entgegnete die gute Mrs. Brown.

Als die Kleine das hörte, vergoß sie Freudentränen und folgte der Alten bereitwillig, obschon sie nicht umhin konnte, im Weitergehen nach dem Gesicht und namentlich nach dem geschäftigen Mund der Alten aufzusehen, wobei sie sich Gedanken machte, ob die böse Mrs. Brown, wenn es anders eine solche Person gab, wohl eine Ähnlichkeit mit ihr haben könne.

Ihr Weg führte sie nicht sehr weit, wohl aber an manchen sehr unbequemen Plätzen, z. B. an Backsteinlagern und Ziegeleien vorbei; dann aber bog die Alte seitwärts in eine schmutzige Straße ein, wo der Kot in der Mitte des Wegs tiefe schwarze Fahrrinnen bildete. Sie machte halt vor einem schäbigen Häuschen, das so dicht verschlossen war, als es eine Hütte von Rissen und Spalten nur sein konnte. Nachdem sie mit einem Schlüssel, den sie aus ihrem Hut genommen, die Tür geöffnet hatte, schob sie das Kind vor sich her nach einem Hinterstübchen, wo ein großer Haufen von verschiedenfarbigen Lumpen auf dem Boden lag, daneben ein Berg von Knochen und ein Haufen Asche oder gesiebten Staubes. Möbelwerk war nirgends zu sehen, und Decke sowohl als Wände hatten eine völlig schwarze Farbe.

Die Kleine war so erschrocken, daß sie nicht zu sprechen vermochte und einer Ohnmacht nahe war.

»Na, sei kein Gänslein«, sagte die gute Mrs. Brown, indem sie sie durch ein tüchtiges Rütteln wieder zum Leben brachte. »Ich will dir ja nichts tun. Setze dich auf die Lumpen dort.«

Florence gehorchte und streckte in stummer Bitte die gefalteten Hände aus.

»Ich will dich nicht dabehalten, nein, nicht einmal eine Stunde«, sagte Mrs. Brown. »Hast du mich verstanden?«

Mit großer Mühe konnte das Kind nur ein einfaches Ja herausbringen.

»Dann bring‘ mich nicht in Ärger«, sagte die gute Mrs. Brown, indem sie sich auf den Knochenhaufen niedersetzte. »Ich sage dir, wenn du mich nicht reizest, soll dir nichts geschehen; tust du das aber, so bring‘ ich dich um. Ich kann dich umbringen zu jeder Zeit – ja selbst wenn du zu Haus in deinem Bette liegst. Jetzt laß hören, wer du bist, was du bist und dergleichen.«

Das Drohen und die Versprechungen der Alten, die Furcht, ihr Anstoß zu geben, und die bei einem Kind so selten vorkommende, aber bei Florence fast natürliche Gewohnheit, sich ruhig zu verhalten und sternchenland.com ihre Gefühle, die der Furcht sowohl als die der Hoffnung, zu unterdrücken, setzten die Kleine in den Stand, der Aufforderung zu entsprechen und ihre kurze Geschichte, so weit sie ihr selbst bekannt war, vorzutragen. Mrs. Brown hörte ihr aufmerksam zu, bis sie zu Ende gekommen war.

»Du heißt also Dombey, he?« fragte Mrs. Brown.

»Ja, Madame.«

»Ich brauche dieses kleine hübsche Röcklein, Miß Dombey«, sagte Mrs. Brown, »dieses kleine Hütlein, ein paar Unterröckchen und alles was du entbehren kannst. Tummle dich! Leg‘ ab!«

Florence gehorchte so schnell, als ihre zitternden Hände es gestatten wollten, und hielt dabei stets ihre furchtsamen Blicke auf Mrs. Brown gerichtet. Nachdem sie sich all der von der alten Dame bezeichneten Kleidungsstücke entledigt hatte, ließ sich Mrs. Brown Zeit zu einer gemächlichen Musterung des Erworbenen und schien mit der Qualität und dem Wert der Sachen ganz zufrieden zu sein.

»Hum!« sagte sie, und ließ ihre Augen über die schmächtige Gestalt des Mädchens hingleiten. »Ich sehe sonst nichts mehr, als die Schuhe. Ich muß die Schuhe haben, Miß Dombey.«

Die arme kleine Florence nahm sie mit der gleichen Behendigkeit ab und schätzte sich überglücklich, noch einige Mittel zu besitzen, um ihre Gesellschafterin freundlich zu stimmen. Die Alte klaubte sodann aus dem Lumpenhaufen verschiedene erbärmliche Ersatzstücke heraus, dazu noch ein ganz abgetragenes und sehr altes Kindermäntelchen, nebst den zerknitterten Überresten eines Hutes, der wahrscheinlich aus einem Graben oder von einem Düngerhaufen aufgelesen war. Dann befahl sie Florence, sich in diese appetitlichen Sachen zu hüllen, und die Kleine willfahrte der Aufforderung, womöglich mit noch größerer Bereitwilligkeit, weil sie ein Vorspiel ihrer Befreiung darin sah.

Als sie hastig den Hut, der eher wie ein Bausch zum Tragen von Lasten aussah, aufsetzte, verfing sich derselbe in ihrem wallenden Haar und konnte nicht gleich wieder losgemacht werden. Die gute Mrs. Brown zog eine Schere heraus und geriet in einen unerklärlichen Zustand von Aufregung.

»Warum konntest du mich nicht gehen lassen, du kleine Närrin, nachdem ich zufrieden war?« sagte Mrs. Brown.

»Verzeiht mir«, keuchte Florence; »ich weiß ja nicht, was ich getan habe, und konnte nicht dafür.«

»Konntest du nicht dafür?« rief Mrs. Brown. »Und weshalb glaubst du, daß ich dafür kann? Ach Himmel!« sagte die Alte, indem sie mit wütender Lust die Locken der Kleinen durchwühlte, »jedermann außer mir würde es zuerst auf sie abgesehen haben.«

Florence fühlte sich erleichtert, als sie fand, daß Mrs. Brown nur nach ihrem Haar, nicht nach ihrem Kopf verlangte; sie ließ sich darum alles ohne Widerstand oder Bitte gefallen und richtete bloß ihre unschuldigen Augen zu dem Gesicht der guten Seele auf.

»Wenn ich nicht selbst einmal ein Mädel gehabt hätte – jetzt weit über dem Meer drüben – das auf ihr Haar stolz war«, sagte sternchenland.com Mrs. Brown, »so müßte jedes Löckchen mir gehören. Sie ist weit weg! Oho! oho!«

Der Ausruf von Mrs. Brown war nicht melodisch; sie warf aber dabei voll leidenschaftlichen Grams ihre abgezehrten Arme in die Höhe, und das ging Florence so zu Herzen, daß sie sich mehr als je fürchtete. Vielleicht lag hierin auch der Grund, daß ihre Locken geschont wurden; denn nachdem Mrs. Brown sie einige Augenblicke gleich einer neuen Art von Schmetterling mit ihrer Schere umschwebt hatte, befahl sie ihr, sich den Kopf mit dem Hut zu bedecken und keine Spur von ihren Haaren blicken zu lassen, damit sie nicht in weitere Versuchung geführt werde. Nach diesem Sieg über sich selbst setzte sich die Alte wieder auf die Knochen nieder und rauchte mummelnd eine kurze schwarze Pfeife mit einer Gier, als ob sie das Rohr essen wolle.

Sobald die Pfeife ausgeraucht war, gab sie der Kleinen eine Kaninchenhaut über den Arm, damit sie sich wie ihre gewöhnliche Begleiterin ausnehmen möchte, und bedeutete ihr sodann, sie wolle sie jetzt nach einer Hauptstraße hinführen, wo sie sich nach dem Weg zu ihren Freunden erkundigen könne. Zugleich aber warnte sie Florence unter Drohungen summarischer und tödlicher Rache für den Fall eines Ungehorsams und verbot ihr, ja keine Fremden anzureden oder sich nach ihrem eigenen Hause zu begeben, das vielleicht für Mrs. Browns Bequemlichkeit zu nahe lag, sondern das Geschäftslokal ihres Vaters in der City aufzusuchen. Ferner sollte sie an der Straßenecke, wohin sie gebracht würde, warten, bis die Uhr drei geschlagen hätte. Diesen Weisungen gab Mrs. Brown noch größeren Nachdruck durch die Versicherung, daß sie mächtige Augen und Ohren im Dienst habe, die alles Tun und Treiben des Mädchens genau beobachten würden, und Florence versprach, allem, was ihr geboten worden, treu und eifrig nachzukommen.

Endlich brach Mrs. Brown auf und führte ihre so umgewandelte und zerlumpte kleine Freundin durch ein Labyrinth von engen Straßen, Gassen und Gäßchen, bis sie nach langer Zeit in einen Stallhof mit einer Einfahrt gelangten, in welchem das Getümmel einer belebten Hauptstraße hörbar war. Hier tat die Alte noch einen Abschiedsgriff nach den Locken des Kindes – ganz unwillkürlich und aus unbewältigbarem Impulse, wie es schien – deutete aber dann nach dem Tore hin und teilte Florence mit, wenn es drei geschlagen habe, solle sie sich nach links wenden; sie wisse jetzt, was sie zu tun habe, und solle danach handeln, aber dabei nicht vergessen, daß sie aufs schärfste beobachtet werde.

Mit leichterm Herzen, aber noch immer in großer Angst fühlte sich Florence nun befreit und eilte nach der Ecke hin. Dort angelangt schaute sie zurück und bemerkte noch den Kopf der guten Mrs. Brown, der zu dem niedrigen hölzernen Gang heraussah, wo die Abschiedseinschärfungen erteilt worden waren, zugleich aber auch die Faust, mit der die gute Mrs. Brown ihr drohte. Sooft sie aber auch später wieder zurückschaute – und sie tat das in ihrer erschreckten Erinnerung sternchenland.com an die Alte jede Minute – konnte sie nichts mehr von ihr entdecken.

Florence blieb, wo sie war, und schaute in das Gewühl auf der Straße, durch das sie immer noch mehr verwirrt wurde. Mittlerweile schienen die Glocken darauf versessen zu sein, nie und nimmermehr drei Uhr zu schlagen. Endlich klang es von dem Kirchturme herab – einer davon war ganz in der Nähe, und es konnte keine Täuschung obwalten. Die Kleine schaute oft über ihre Schulter zurück, ging oft ein Streckchen weit und kam ebensooft wieder nach der alten Stelle, damit die allgewaltigen Spione der Mrs. Brown keinen Anstoß nehmen sollten; dann aber eilte sie, so schnell es in ihren Schlappschuhen möglich war, mit ihrem Kaninchenfell in der Hand weiter.

Von den Geschäftslokalen ihres Vaters wußte sie weiter nichts, als daß sie Dombey und Sohn gehörten und daß diese Firma eine große zur City gehörige Macht war. Sie konnte daher nur nach Dombey und Sohn in der City fragen und erhielt, da sie sich hauptsächlich mit ihren Erkundigungen an Kinder wendete, weil sie sich scheute, erwachsene Personen um Auskunft zu bitten, sehr ungenügende Erwiderungen. Es gelang ihr aber doch durch ihre Nachfragen, die sie vorderhand nur auf den Weg nach der City beschränkte, allmählich dem Herzen jener großen Region näher zu kommen, die durch den schrecklichen Lord-Mayor beherrscht wird.

Müde vom Gehen, allenthalben hin und her gestoßen, betäubt von dem Lärm und der Verwirrung, voll Angst um ihren Bruder und die Wärterinnen, erschreckt durch das Vorgefallene und durch die Aussicht, ihrem zornigen Vater in einem so veränderten Zustand entgegenzutreten, wankte Florence mit tränenvollen Augen auf ihrem Wege weiter und konnte sich’s nicht erwehren, ein- oder zweimal haltzumachen, um ihr übervolles Herz durch ein bitterliches Weinen zu erleichtern. Aber in dem Gewande, das sie trug, achteten bei solchen Gelegenheiten nur wenige Leute auf sie, oder wenn es auch geschah, so glaubte man, sie sei dazu angehalten, um Mitleid zu erregen, und ging weiter. Doch bot die Kleine all die Festigkeit und Selbstzuversicht eines Charakters, der durch traurige Erfahrungen frühzeitig geprüft und gereift ist, auf und strebte stetig dem Ziele zu, das sie im Auge hatte.

Volle zwei Stunden später, nachdem sie ihren letzten abenteuerlichen Gang angetreten, gelangte sie aus dem Lärm einer engen Straße voller Karren und Frachtwagen nach einer Art Werft oder einem Landungsplatz an der Flußseite, wo viel Gepäck, Fässer und Kisten umherlagen. Neben einer großen hölzernen Wage stand ein kleines Bretterhaus auf Rädern, vor dem ein stämmiger Mann pfeifend, die Feder hinter dem Ohr und die Hände in der Tasche, als ob sein Tagwerk bald zu Ende sei, nach den benachbarten Masten und Booten hinsah.

»Was willst du?« sagte der Mann, der sich zufällig nach ihr umdrehte. »Wir haben nichts für dich, Mädchen. Mach‘, daß du fortkommst!«

»Mit Erlaubnis, ist hier die City?« fragte die zitternde Tochter der Dombeys.

»Ja, freilich ist es die City, aber ich denke mir, du weißt das ebenso gut. Marsch da! Wir haben nichts für dich.«

»Ich verlange nichts, danke Euch«, lautete die schüchterne Antwort. »Ich möchte nur den Weg zu Dombey und Sohn wissen.«

Der Mann, der sorglos auf sie zugegangen war, schien über diese Antwort in Staunen zu geraten; er sah ihr aufmerksam ins Gesicht und erwiderte:

»Der Tausend, was kannst du von Dombey und Sohn wollen?«

»Nur den Weg dahin, wenn ich bitten darf.«

Der Mann sah sie noch neugieriger an und rieb sich vor Verwunderung den Hinterkopf so eifrig, daß ihm der Hut herunterflog.

»Joe!« rief er einem andern Manne, einem Arbeiter zu, während er seine Kopfbedeckung aufhob und sie wieder aufsetzte.

»Was verlangt Ihr von Joe?« versetzte der Angerufene.

»Wo ist denn der junge Bursch von Dombey, der die Aufsicht über die Einschiffung der Güter hat?«

»Eben nach dem andern Tore gegangen«, sagte Joe.

»Ruft ihn auf einen Augenblick zurück.«

Joe lief rufend einen Bogenweg hinauf und kehrte mit einem blühend aussehenden Knaben zurück.

»Ihr seid Dombeys Jockei, nicht wahr?« fragte der erste Mann.

»Ich bin in Dombeys Haus, Mr. Clark«, entgegnete der Knabe.

»So seht dahin«, sagte Mr. Clark.

Der Andeutung von Mr. Clarks Hand entsprechend, ging der Knabe auf Florence zu, wie man sich denken kann, sehr verwundert, was er mit dem Geschöpfe wohl zu schaffen haben könnte. Sie aber, sobald sie gehört hatte, was vorging, und daraus die Beruhigung entnehmen konnte, plötzlich wohlbehalten am Ziel ihrer Reise angelangt zu sein, fühlte sich über die Maßen ermutigt durch das lebhafte jugendliche Gesicht und das Benehmen des Knaben; sie eilte hastig auf ihn zu, wobei einer ihrer Schlappschuhe auf dem Boden zurückblieb, und ergriff mit ihren beiden Händchen seine Hand.

»Ich habe mich verirrt«, sagte Florence.

»Verirrt!« rief der Knabe.

»Ja; ich hab‘ mich heute mittag, weit weg von hier, verirrt. Man hat mich meiner Kleider beraubt, und diese Lumpen gehören nicht mir. Ich heiße Florence Dombey und bin die Schwester meines kleinen Bruders – und, ach Gott, nehmt Euch meiner an, seid so gütig!« schluchzte Florence, indem sie ihren so lang unterdrückten kindlichen Gefühlen in vollem Maße Luft machte und in Tränen ausbrach. Zu gleicher Zeit war ihr erbärmlicher Hut abgefallen, so daß die Locken ihr über das Gesicht niederwallten – welch‘ ein Gegenstand für die sprachlose Bewunderung und das Mitleid des jungen Walters, des Neffen von Solomon Gills, dem Schiffsinstrumentenmacher.

Mr. Clark stand im größten Erstaunen da und bemerkte halblaut sternchenland.com vor sich hin, daß ihm auf dieser Werft nie zuvor etwas Ähnliches vorgekommen sei. Walter hob den verlorenen Schuh auf und paßte ihn dem kleinen Fuß an, wie es etwa der Prinz in dem Märchen Aschenbrödel getan haben mochte. Er hing das Kaninchenfell über seinen linken Arm, gab den rechten Florence und fühlte sich dabei, ich will nicht sagen wie Richard Whittington, denn das wäre nur ein matter Vergleich, sondern wie der heilige Georg von England, als der Drache tot zu seinen Füßen lag.

»Weint nicht, Miß Dombey«, sagte Walter im Übermaß seiner Begeisterung. »Eine wunderbare Fügung ist es, daß ich gerade hier bin. Ihr seid jetzt so sicher, als stündet Ihr unter dem Geleite einer ganzen Bootsmannschaft, der besten, die man von einem Kriegsschiff auswählen kann. O, weint nicht.«

»Ich will nicht mehr weinen«, versetzte Florence. »Ich habe es nur aus Freude getan.«

»Vor Freude geweint!« dachte Walter. »Und ich bin die Ursache davon! Kommt mit, Miß Dombey. Jetzt ist der andere Schuh auch abgefallen! Nehmt meine, Miß Dombey.«

»Nein, nein, nein«, entgegnete Florence, ihn abhaltend, als er eben im größten Eifer seine Schuhe ausziehen wollte. »Diese sind schon gut; ich komme ganz gut darin weiter.«

»Ei freilich«, erwiderte Walter, indem er seinen Fuß ansah, »meine sind um eine Meile zu groß. Was denke ich auch! Ihr könntet nie in meinen Schuhen gehen! Doch kommt mit, Miß Dombey. Wir wollen den Schurken sehen, der sich erdreisten wird. Euch jetzt zu belästigen.«

Bei diesen Worten schaute Walter mit unendlich wilder Miene umher und führte in der seligsten Stimmung Florence weiter. Sie gingen Arm in Arm ihrer Straße, ohne sich um das Erstaunen zu kümmern, das ihr Aussehen bei den Vorübergehenden erregte oder doch zu erregen imstande war.

Es wurde nachgerade dunkel, neblig, und am Ende fing es gar an zu regnen; aber sie kümmerten sich nicht darum. Beide waren zu sehr in die kürzlichen Abenteuer vertieft, welche Florence mit der unschuldigen Vertraulichkeit und Zuversicht ihrer Jahre erzählte, während ihr Walter zuhörte, als ergingen sie sich fern von dem Kot und Unflat der Themsestraße, allein unter den breiten Blättern und hohen Bäumen irgendeiner verlassenen Tropeninsel – ja es ist sehr gut möglich, daß er sich in diesem Augenblick sogar ein derartiges Bild vergegenwärtigte.

»Haben wir noch weit zu gehen?« fragte Florence endlich, die Augen zu dem Gesicht ihres Begleiters erhebend.

»Ah! beiläufig«, sagte Walter stehenbleibend, »laß mich sehen, wo wir sind. O! ich kenne mich aus. Aber die Geschäftslokale sind jetzt geschlossen, Miß Dombey. Es ist niemand dort. Mr. Dombey ist längst nach Hause gegangen. Vermutlich müssen wir auch nach Hause gehen – oder halt! Gesetzt, ich brächte Euch zu meinem Onkel, bei dem ich lebe – es ist ganz in der Nähe hier – und ließe sternchenland.com mich in einer Kutsche nach Eurer Wohnung fahren, um dort zu sagen, daß Ihr wohlbehalten seid, und holte für Euch Kleider? Wäre nicht das das beste?«

»Ich denke so«, antwortete Florence. »Meint Ihr nicht? Was haltet Ihr davon?«

Während sie noch überlegend auf der Straße standen, kam ein Mann an ihnen vorbei, der Walter einen raschen Blick zuwarf, als ob er ihn erkannt hätte; er schien jedoch den ersten Eindruck für einen Irrtum zu halten und ging sogleich wieder weiter.

»Ei, ist das nicht Mr. Carter gewesen?« sagte Walter. »Carter in unserm Hause. Nicht Carter der Magazinverwalter, Miß Dombey – der andere Carter, der jüngere. – He, Mr. Carter!«

»Seid Ihr es wirklich, Walter Gay«, entgegnete der andere, indem er haltmachte und wieder umkehrte. »Ich habe es nicht glauben können, Ihr seid in so seltsamer Gesellschaft.«

Er hörte mit Erstaunen Walters hastiger Auseinandersetzung zu, und da er gerade unter einer Straßenlaterne stand, so bot er einen merkwürdigen Gegensatz zu den beiden jugendlichen Gestalten, die Arm in Arm neben ihm standen. Er war nicht alt, aber sein Haar war weiß und sein Körper gebeugt wie unter der Last einer schweren Sorge; auch zeigten sich in seinem hagern melancholischen Gesichte tiefe Linien. Das Feuer seiner Augen, der Ausdruck seiner Züge und sogar die Stimme, mit der er sprach – alles war gedämpft und erloschen, als läge der ihm inwohnende Geist in Asche. Er trug eine anständige, obgleich sehr einfache schwarze Kleidung, aber die einzelnen Teile derselben, nach dem allgemeinen Charakter seiner Figur geformt, schienen auf ihm zusammenzuschrumpfen und sich der bekümmerten Bitte anzuschließen, die der ganze Mann vom Kopf bis zu den Füßen ausdrückte – man möchte seiner nicht achten und ihn gehen lassen in seiner Geringfügigkeit.

Und doch war sein Interesse an der Jugend und den Hoffnungsvollen nicht mit den übrigen Funken seiner Seele erloschen, denn er beobachtete das eifrige Gesicht des Sprechers mit ungewöhnlicher Sympathie, zugleich aber auch mit einer nicht erklärbaren Miene von Sorge und Mitleid, wie sehr er sich auch Mühe gab, diese Äußerungen zu unterdrücken. Als Walter zum Schluß ihm die Frage vorlegte, die er eben mit Florence beraten hatte, blieb Carter noch immer stehen und sah ihn mit dem gleichen Ausdruck an, als lese er in dessen Gesichte ein Schicksal, traurig genug und nicht im Einklang mit der Heiterkeit des Augenblicks.

»Was ratet Ihr mir, Mr. Carter?« fragte Walter lächelnd. »Ihr wißt, so oft Ihr mit mir sprecht, gebt Ihr mir stets einen guten Rat, obschon es freilich nicht oft geschieht.«

»Ich denke, Euer Gedanke ist der beste«, antwortete er, von Florence auf Walter und dann wieder auf Florence zurückblickend.

»Mr. Carter«, sagte Walter, in welchem ein großmütiger Gedanke auflebte, »hier bietet sich eine Gelegenheit für Euch. Geht Ihr zu Mr. Dombey und werdet so der Bote einer guten Kunde. Es sternchenland.com kann Euch nützlich werden, Sir. Ich will zu Hause bleiben. Geht Ihr.«

»Ich?« versetzte der andere.

»Ja. Warum nicht, Mr. Carter?« fragte der Knabe.

Er drückte ihm bloß die Hand zur Antwort, obschon es den Anschein hatte, als schäme und scheue er sich, auch nur dieses zu tun. Dann wünschte er ihm gute Nacht, riet ihm, sich zu beeilen, und ging weiter.

»Kommt, Miß Dombey«, sagte Walter, ihm im Weitergehen nachsehend, »wir wollen uns beeilen, daß wir schnell zu meinem Onkel kommen. Habt Ihr je Mr. Dombey von dem jüngeren Mr. Carter sprechen hören, Miß Florence?«

»Nein«, erwiderte das Kind sanft; »ich höre den Papa nicht oft sprechen.«

»Ach ja, es ist wahr; um so mehr Schande für ihn«, dachte Walter. Nach einer kurzen Pause, während welcher er auf das sanfte, geduldige Antlitz an seiner Seite niedergesehen hatte, bemühte er sich mit seiner gewohnten knabenhaften Lebhaftigkeit und Unruhe, den Gesprächsgegenstand zu ändern; und da ganz gelegen jetzt wieder einer von den unglücklichen Schuhen zurückblieb, machte er Florence den Vorschlag, er wolle sie auf den Armen nach dem Hause seines Onkels tragen. Trotz ihrer Ermüdung lehnte die Kleine lachend den Vorschlag ab, weil er sie fallen lassen könnte. Sie waren dem hölzernen Midshipman schon ziemlich nahe, und da Walter fortfuhr, verschiedene Vorgänge bei Schiffskatastrophen und andern ergreifenden Vorfällen zu erzählen, wo jüngere Knaben als er viel ältere Mädchen als Florence gerettet und triumphierend davongetragen hätten, so befanden sie sich noch in voller Unterhaltung darüber, als sie an der Tür der Instrumentenmacherswohnung anlangten.

»Holla, Onkel Sol!« rief Walter, in den Laden hineinstürzend und von dieser Zeit an für den ganzen übrigen Abend sehr unzusammenhängend und außer Atem redend. »Wir haben da ein wundervolles Abenteuer! Mr. Dombeys Tochter hier hat sich in den Straßen verirrt und ist durch eine alte Hexe von einem Weibsbild ihrer Kleider beraubt worden. Ich habe sie gefunden – nach unserm Hause gebracht, damit sie hier ausruhe – schaut her!«

»Gütiger Himmel!« rief Onkel Sol, gegen seinen Lieblingskompaß zurückprallend. »Es kann nicht sein! Na, das –«

»Nein, weder Ihr, noch jemand anders«, fiel ihm Walter ins Wort, dem begonnenen Satze vorgreifend. »Ihr wißt, niemand würde oder hätte es können. So! Wollt Ihr so gut sein, Onkel Sol, mir das kleine Sofa in die Nähe des Feuers rücken zu helfen? – Habt acht auf die Teller – richtet ihr etwas zum Essen her, wollt Ihr, Onkel? – werft diese Schuhe unter den Rost, Miß Florence – setzt Eure Füße zum Trocknen auf die Kaminstange – wie feucht sie sind! – ist das nicht ein Abenteuer, Onkel? Gott behüte mich, wie heiß es mir ist!«

Und Solomon Gills war es eben so heiß geworden, infolge seiner sternchenland.com Teilnahme sowohl, als seiner großen Verwirrung. Er streichelte Florence den Kopf, drängte sie zum Essen, nötigte ihr Trinken auf, rieb die Sohlen ihrer Füße mit seinem am Feuer gewärmten Taschentuch, folgte seinem beweglichen Neffen mit Augen und Ohren, und hatte von nichts eine klare Vorstellung, ausgenommen, daß er unaufhörlich gegen diesen aufgeregten jungen Gentleman anprallte oder über ihn stolperte, wenn derselbe im Zimmer umherschoß und zwanzig Dinge auf einmal auszuführen versuchte, ohne überhaupt mit einem einzigen zustande zu kommen.

»Wartet eine Minute, Onkel«, fuhr er fort und zündete ein Licht an, »bis ich die Treppe hinaufgeeilt bin und eine andere Jacke angezogen habe; dann will ich mich sogleich auf den Weg machen. Was meint Ihr, Onkel, ist das nicht ein Abenteuer?«

»Mein lieber Junge«, sagte Solomon, der mit seiner Brille auf der Stirne und dem großen Chronometer in der Tasche unaufhörlich zwischen Florence auf dem Sofa und seinem Neffen in allen Teilen des Zimmers hin und her oszillierte, »es ist das Alleraußerordentlichste –«

»Nein, Onkel, aber eßt jetzt – und eßt auch Ihr, Miß Florence – Ihr wißt, Onkel.«

»Ja, ja«, rief Solomon, indem er unverzüglich von einer Hammelkeule ein Stück abschnitt, als müßte er einen Riesen verproviantieren. »Ich will Sorge für sie tragen, Wally! Ich verstehe das liebe Herz – natürlich ganz ausgehungert. Und du, geh jetzt und mache dich fertig. Gott behüte mich. Sir Richard Whittington, dreimal Lord-Mayor von London!«

Walter brauchte nicht lange, um nach seinem luftigen Dachstübchen hinaufzueilen und wieder herunterzukommen; aber inzwischen war Florence, von Müdigkeit überwältigt, vor dem Feuer eingeschlummert. Der kurze Zwischenraum von Ruhe, obschon er nur einige Minuten dauerte, setzte Solomon Gills in den Stand, sich so weit zu sammeln, daß er für die Bequemlichkeit seines Gasts einige kleine Vorbereitungen treffen, das Zimmer verdunkeln und den Ofenschirm zum Schutz gegen die Feuerhitze vorschieben konnte. Als der Knabe wieder zurückkehrte, lag sie in ruhigem Schlafe.

»Das ist vortrefflich!« flüsterte er, indem er Solomon in einer Weise umarmte, daß diesem ein neuer Ausdruck in sein Gesicht gepreßt wurde. »Jetzt will ich fort. Gebt mir nur noch ein Brotkrüstchen mit auf den Weg, denn ich bin sehr hungrig – und – weckt sie nicht auf, Onkel Sol.«

»Nein, nein«, entgegnete Solomon. »Das hübsche Kind.«

»Jawohl, hübsch!« erwiderte Walter. »In meinem Leben habe ich noch nie ein solches Gesicht gesehen, Onkel Sol. Jetzt geh ich.«

»Recht so«, sagte Solomon, in hohem Grade erleichtert.

»He, Onkel Sol«, rief Walter, und steckte den Kopf wieder zur Tür herein.

»Da ist er schon wieder«, sagte Solomon.

»Wie sieht sie jetzt aus?«

»Ganz glücklich«, antwortete Solomon.

»Das ist herrlich! Jetzt flugs fort.«

»Hoffentlich ist es einmal an dem«, sagte Solomon zu sich selbst.

»He, Onkel Sol«, rief Walter, wieder zur Tür hereinschauend.

»Da haben wir ihn schon wieder!« sagte Solomon.

»Wir haben Mr. Carter, den Jüngeren, auf der Straße getroffen; er sah seltsamer aus als je. Er sagte mir Adieu, kam aber hinter uns drein – das ist doch kurios! – denn als wir die Haustür erreichten, schaute ich zurück und sah, daß er ruhig wegging, wie ein Diener, der mich auf dem Wege nach Hause beaufsichtigen wollte, oder wie ein treuer Hund. Wie sieht sie jetzt aus, Onkel?«

»So ziemlich wie vorhin, Wally«, versetzte Onkel Sol.

»Das ist recht. So, jetzt gehe ich!«

Diesmal hielt er auch richtig Wort, und Solomon Gills, dem der Appetit zum Essen vergangen war, setzte sich auf die andere Seite des Ofens, und wenn man ihn so im Schatten und in der Umgebung aller seiner Instrumente sah, nahm er sich wie ein in eine welsche Perücke und in einen kaffeebraunen Anzug verkleideter Magier aus, der das Kind in einem Zauberschlaf erhielt.

Mittlerweile fuhr Walter in einem Trabe, wie ihn selten ein Droschkengaul vom Stande weg zu erreichen vermag, nach Mr. Dombeys Haus, steckte aber dabei alle zwei oder drei Minuten den Kopf zum Fenster hinaus, um dem Kutscher ungeduldige Vorhaltungen zu machen. Am Ziel seiner Fahrt angelangt, sprang er hinaus, teilte atemlos einem Diener den Zweck seiner Ankunft mit und folgte ihm geradeswegs nach dem Bibliothekzimmer, wo Mr. Dombey, seine Schwester, Miß Tox, Richards und Nipper unter gewaltigem Zungenlärm versammelt waren.

»O, ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Walter, auf Mr. Dombey zueilend, »aber ich bin so glücklich, Euch sagen zu können, daß alles gut ist, Sir. Miß Dombey ist gefunden!«

Der Knabe mit seinem offenen Gesicht, dem wallenden Haar und den funkelnden Augen, während er vor Freude und Aufregung fast nicht zu Atem kommen konnte, bot einen wunderbaren Gegensatz zu Mr. Dombey, der in seinem Bibliothekstuhle saß.

»Ich sagte dir ja, Louisa, sie werde sich sicherlich finden«, bemerkte Mr. Dombey, indem er leicht über die Achsel nach dieser Dame hinsah, die gemeinsam mit Miß Tox weinte. »Bedeutet den Dienstboten, daß keine weiteren Schritte nötig sind. Der Knabe, der uns Nachricht bringt, ist der junge Gay aus dem Bureau. Wie ist meine Tochter gefunden worden, Sir? Ich weiß, wie sie verlorenging.« Dabei warf er einen geradezu majestätischen Blick auf Richards. »Aber wie wurde sie gefunden? Wer fand sie?«

»Je nun, ich glaube, daß ich Miß Dombey gefunden habe, Sir«, versetzte Walter bescheiden. »Freilich weiß ich nicht, ob ich Anspruch auf das Verdienst erheben kann, sie wirklich gefunden zu haben, Sir, aber ich war das glückliche Werkzeug –«

»Was meint Ihr damit, Sir«, unterbrach ihn Mr. Dombey, die sternchenland.com Freude und den augenscheinlichen Stolz des Knaben auf seinen Anteil an dem Vorfall mit instinktartigem Widerwillen betrachtend, »wenn Ihr sagt, Ihr habet meine Tochter nicht gerade gefunden, sondern seiet nur ein glückliches Werkzeug gewesen? Faßt Euch einfach und zusammenhängend, wenn ich bitten darf.«

Aber es war zuviel gefordert, wenn man von Walter verlangte, er solle zusammenhängend reden; er gab jedoch in seinem atemlosen Zustande die Aufklärung, so gut er konnte, und fügte hinzu, warum er allein gekommen sei.

»Ihr habt es gehört, Mädchen«, sagte Mr. Dombey mit einem finsteren Blick auf die Schwarzäugige. »Nehmt das Nötige und begleitet augenblicklich diesen jungen Menschen, um Miß Florence nach Haus zu holen. Gay, Ihr werdet morgen belohnt werden.«

»O, ich danke, Sir«, versetzte Walter. »Ihr seid sehr gütig. Aber ich habe nicht entfernt an eine Belohnung gedacht, Sir.«

»Ihr seid ein Knabe«, sagte Mr. Dombey gereizt und fast in grimmigem Tone, »und was Ihr denkt oder zu denken meint, hat wenig zu bedeuten. Ihr habt Euch ordentlich benommen, Sir – macht es nicht wieder zunichte. Louisa, sei so gut, gib dem Knaben etwas Wein.«

Als Walter Gay unter dem Geleite von Mrs. Chick das Zimmer verließ, folgte ihm Dombeys Blick mit großer Ungunst, und vielleicht sah ihm dessen geistiges Auge mit noch größerem Mißbehagen nach, als der Knabe mit Miß Susanna Nipper nach der Wohnung seines Onkels zurückfuhr.

Dort fanden sie Florence sehr erfrischt von ihrem Schlafe. Sie hatte mittlerweile gespeist und in der Bekanntschaft mit Solomon Gills, gegen den sie sich ganz vertraulich benahm, große Fortschritte gemacht. Die Schwarzäugige, die inzwischen so viel geweint hatte, daß man sie jetzt wohl die Rotäugige hätte nennen können, benahm sich sehr kleinlaut und niedergeschlagen. Sie umschlang die Wiedergefundene ohne ein Wort des Tadels oder Vorwurfs mit ihren Armen, so daß sich der Anblick recht rührend ausnahm; dann wurde die Wohnstube für den Augenblick in ein Privat-Ankleidezimmer umgewandelt. Miß Nipper putzte ihren Pflegling unter großer Sorgfalt mit passenden Bekleidungsstücken heraus und führte sie bald so ganz als eine Dombey vor, wie das bei ihren natürlichen schlechten Qualifikationen dafür nur möglich war.

»Gute Nacht!« sagte Florence, auf Solomon zueilend. »Ihr seid sehr gütig gegen mich gewesen.«

Der alte Sol war hierüber ganz entzückt und küßte sie, als wäre er ihr Großvater.

»Gute Nacht, Walter! Gott befohlen!« sagte Florence.

»Gott befohlen!« entgegnete Walter, indem er ihr beide Hände hinhielt.

»Ich werde Euch nie vergessen«, fuhr Florence fort. »Nein, gewiß nicht. Gott befohlen, Walter!«

In der Unschuld ihres dankbaren Herzens hob die Kleine ihr sternchenland.com Gesichtchen zu seinem empor. Walter beugte sich zu ihr nieder, erhob aber sein Antlitz glühend rot und brennend wieder, mit einem einfältigen Gesicht nach Onkel Sol hinsehend.

»Wo ist Walter!« »Gute Nacht, Walter!« »Gott befohlen, Walter!« »Noch einmal Eure Hand, Walter!« So hörte man Florence noch rufen, als sie bereits mit ihrer kleinen Wärterin in der Kutsche saß. Und als die Kutsche endlich abfuhr, erwiderte Walter noch auf der Türschwelle das Schwenken ihres Taschentuches, während der hölzerne Midshipman hinter ihm gleichfalls nur auf diese eine Kutsche versessen zu sein und kein Auge für alle vorüberfahrenden Equipagen zu haben schien.

Nach kurzer Zeit war Mr. Dombeys Wohnung erreicht, und aus der Bibliothek erscholl abermals der Zungenlärm. Auch die Kutsche erhielt wiederholt die Weisung, zu warten – »für Mrs. Richards«, flüsterte eine von Susannas Mitdienerinnen bedeutungsvoll, als diese mit Florence an ihr vorbeikam.

Der Eintritt des verlorenen Kindes machte einiges Aufsehen, aber nicht viel. Mr. Dombey, der sie nie gefunden haben würde, küßte sie ein einziges Mal auf die Stirn und warnte sie, nicht wieder wegzulaufen oder mit treulosen Dienstboten umherzuziehen, Mrs. Chick hielt ein mit ihren Lamentationen über die Verderbnis der Menschennatur, selbst wenn sie durch einen barmherzigen Schleifer auf den Pfad der Tugend zurückgerufen würde, und bewillkommte Florence in einer Weise, beinahe so, als wäre sie eine vollkommene Dombey. Miß Tox regulierte ihre Gefühle nach den Vorbildern, die sie vor sich hatte, und empfing sie mit einem Willkomm, der jedenfalls nicht so war, wie ihn eine vollkommene Dombey verdient haben würde. Nur Richards, die schuldige Richards, ergoß ihr Herz in gebrochenen Worten herzlicher Begrüßung und beugte sich über die Kleine nieder, als ob sie dieselbe wirklich lieb habe.

»Ach, Richards«, sagte Mrs. Chick mit einem Seufzer, »es wäre für Euch weit ziemender und für diejenigen, die von ihrem Nebenmenschen eine gute Meinung haben möchten, viel befriedigender gewesen, wenn Ihr zu rechter Zeit ein passendes Gefühl gezeigt hättet für das kleine Kind, das jetzt nur allzu früh seiner natürlichen Nahrung beraubt werden soll.«

»Abgeschnitten«, fügte Miß Tox in bedauerndem Flüstern bei, »von einer gemeinsamen Quelle.«

»Wenn ich mich eines solchen Falls von Undank schuldig gemacht hätte«, fuhr Mrs. Chick feierlich fort, »und ich an Eurer Stelle wäre, Richards, so wäre es mir immer, als ob die Tracht der barmherzigen Schleifer mein Kind verzehren und die Erziehung es ersticken müßte.«

Was das betraf – aber freilich wußte Mrs. Chick nichts davon – war der Knabe um des Anzugs willen jedenfalls schon sehr zerzaust worden, und vielleicht übte mit der Zeit auch die Erziehung die eben erwähnte vergeltende Wirkung, da sie aus nichts anderem als aus einem Sturm von Schlägen und Schmerzrufen bestand.

»Louisa!« sagte Mr. Dombey. »Es ist nicht nötig, dies Thema weiter zu verfolgen. Das Weib ist entlassen und bezahlt. Ihr verlaßt dieses Haus, Richards, weil Ihr meinen Sohn – meinen Sohn«, fügte Mr. Dombey mit erhöhtem Nachdruck der beiden letzten Worte hinzu – »in Spelunken und in eine Gesellschaft gebracht habt, an die man nicht ohne Schauder denken kann. Was den Unfall anbelangt, der heute morgen Miß Florence zustieß, so betrachte ich denselben in einem gewissen sehr bedeutungsvollen Sinn als einen glücklichen Umstand, insofern ich ohne denselben nie, und noch obendrein nicht von Euren eigenen Lippen erfahren haben würde, wessen Ihr Euch schuldig gemacht habt. Ich denke, Louisa, daß die andere Wärterin, die eine junge Person ist« – hier fing Miß Nipper an, laut zu schluchzen – »und sich deshalb natürlich von Pauls Amme verleiten ließ, im Hause bleiben kann. Sei so gut, dem Kutscher die Weisung zu erteilen, daß der Wagen für dieses Weib bezahlt ist nach –« Herr Dombey stockte und konnte das Wort fast nicht über die Lippen bringen – »nach den Staggs Gärten.«

Polly wandte sich nach der Tür; aber Florence hielt sich weinend an ihren Kleidern fest und bat sie auf das flehendlichste, nicht fortzugehen. Es war ein Dolchstoß für das Herz des hochmütigen Vaters und ein Pfeil in sein Gehirn, daß er sehen mußte, wie das Fleisch und Blut, das er sein eigen nennen mußte, in seiner Gegenwart sich an diese niedrige Fremde anklammerte. Nicht, weil er sich darum kümmerte, wen seine Tochter liebte oder mied. Das Schmerzgefühl, das ihn durchzuckte, haftete an dem Gedanken, was möglicherweise sein Sohn tun könnte.

Jedenfalls weinte sein Sohn die ganze Nacht hindurch mit Macht. In Wahrheit gesprochen, der arme Paul hatte einen weit besseren Grund für seine Tränen, als das bei Söhnen von ähnlichem Alter oft der Fall ist, denn ihm war seine zweite Mutter genommen worden – die erste, die er kannte – und zwar durch einen ebenso plötzlichen Streich, als es derjenige gewesen war, der das Band der natürlichen Liebe bei Beginn seines Lebens löste. Und in demselben Augenblicke hatte auch seine Schwester, die gleichfalls nur unter schmerzlichen Tränen ihren Schlummer fand, eine gute treue Freundin verloren. Doch das ist von gar geringem Belang; verlieren wir deshalb keine Worte mehr darüber.