Neunzehntes Kapitel
Der Sturm auf das Luftschloß
Die Sonne war volle vier Stunden untergegangen, und es war später, als die meisten Reisenden sich gern außerhalb der Mauern von Rom befinden, als Mr. Dorrits Wagen immer noch auf der letzten mühsamen Station über die einsame Campagna hinrollte. Die wilden Hirten und die finster blickenden Bauern, die noch den Weg belebt und bunt gemacht hatten, solange es hell war, waren alle mit der Sonne zur Ruhe gegangen und ließen die Einöde leer. An einigen Ecken des Weges zeigte ein blasser Schimmer am Horizont, gleich einer Ausdünstung aus dem trümmerübersäten Land, daß die Stadt noch weit entfernt war; aber dieser dürftige Trost war selten und kurz. Der Wagen senkte sich wieder in ein Loch des schwarzen, trockenen Meeres, und für lange Zeit war wieder nichts zu sehen als die versteinerte Woge und der düstere Himmel.
Mr. Dorrit, obgleich er mit dem Bau seines Luftschlosses beschäftigt war, fühlte sich doch an diesem Ort nicht ganz behaglich. Er war bei jedem Umbiegen des Wagens und jedem Ruf des Postillions neugieriger als er auf dem ganzen Wege seit London gewesen. Der Kammerdiener auf dem Bock zitterte sichtlich. Dem Kurier Hintenauf war es nicht wohl zumute. Sooft Mr. Dorrit das Fenster herunterließ und sich nach ihm umsah (was sehr oft geschah), sah er ihn allerdings John Chivery rauchen, aber dabei zumeist stehen und sich umschauen wie ein Mann, der seinen Verdacht hat und auf seiner Hut bleibt. Dann zog Mr. Dorrit die Fenster wieder in die Höhe und dachte bei sich, diese Postillione seien mörderartig aussehende Kerle, und er würde besser daran getan haben, wenn er in Civitavecchia übernachtet und beizeiten morgens aufgebrochen wäre. Aber trotzdem baute er immer wieder an seinem Luftschloß.
Und jetzt zeigten Bruchstücke verfallener Einfassungen, gähnende Fensteröffnungen und morsche Mauern, öde Häuser, lecke Brunnen, geborstene Zisternen, gespenstische Zypressen, Büsche verschlungener Weinreben und der Übergang des Geleises in eine lange, unregelmäßige, unordentliche Gasse, wo alles im Verfall war, von den unansehnlichen Gebäuden bis zu dem holperigen Weg – all dies zeigte, daß sie sich Rom näherten. Und jetzt flößte ein plötzliches Ausbiegen und Anhalten des Wagens Mr. Dorrit die Besorgnis ein, daß nun der Straßenräuberaugenblick gekommen sei, um ihn in einen Graben zu schleppen und auszuplündern; bis er das Fenster wieder herunterließ und sah, daß ihm nichts Schlimmes den Weg versperrte als eine Leichenprozession, die ein undeutliches Schauspiel von schmutzigen Kleidern, flackernden Fackeln, geschwungenen Weihrauchpfannen und einem großen, vor einem Priester hergetragenen Kreuze entfaltete, mit mechanischer Gleichgültigkeit an ihm vorüberzog. Jener Priester war ein häßlicher Mann, wenn man ihn so bei Fackellicht sah, von finsterem Aussehen, mit vorstehender Stirn, und als seine Augen denen von Mr. Dorrit begegneten, der entblößten Hauptes zum Wagen heraussah, schienen die vom Singen bewegten Lippen diesem bedeutenden Reisenden zu drohen, auch die Bewegung seiner Hand, die nichts als die Erwiderung des Grußes des Reisenden war, schien diese Drohung zu unterstützen. So kam es wenigstens Mr. Dorrit vor, dessen Phantasie durch das ermüdende Bauen und Fahren aufgeregt war, als der Priester an ihm vorüberzog und die Prozession mit ihrer Leiche sich entfernte. Einen ganz andern Weg schlug Mr. Dorrit mit seinem Gefolge ein; und bald klopften sie mit ihrer Wagenladung von Luxuswaren aus den beiden großen Hauptstädten Europas (gleich umgekehrten Goten) an die Tore von Rom.
Mr. Dorrit wurde von seinen Leuten nicht mehr diese Nacht erwartet. Man hatte auf ihn gewartet, hatte es aber endlich bis zum andern Morgen verschoben, da man glaubte, er werde zu so später Nachtzeit nicht mehr in einem solchen Lande unterwegs sein. Als daher sein Wagen vor der Tür seines Hauses hielt, erschien niemand zu seinem Empfang als der Portier. Ob Miß Dorrit nicht zu Hause, fragte er. Doch, sie sei zu Hause. Gut, sagte Mr. Dorrit zu den herbeikommenden Dienern, sie sollten bleiben, wo sie wären, und den Wagen abladen helfen, er wolle Miß Dorrit selbst aufsuchen.
Er ging langsam und müde die große Treppe hinauf und blickte in verschiedene Zimmer, die leer waren, bis er Licht in einem kleinen Vorzimmer bemerkte.
Es war ein verhangener Raum wie ein Zelt, hinter dem sich zwei Zimmer befanden; er sah warm und hellfarbig aus, da er durch den dunklen Gang geschritten kam.
Der Eingang hatte eine Portiere, aber keine Tür, und als er hier stehenblieb und ungesehen hineinschaute, fühlte er einen Stich im Herzen. Wohl nicht aus Eifersucht? Warum auch Eifersucht? Es waren ja nur sein Bruder und seine Tochter drinnen; er hatte den Stuhl an den Kamin gerückt und genoß die Wärme des abendlichen Holzfeuers; sie saß an einem kleinen Tischchen und war mit einer Stickerei beschäftigt. Wenn man den großen Unterschied in der Umgebung des Bildes zugibt, so bleibt doch eine große Ähnlichkeit in den Personen, denn sein Bruder sah ihm ähnlich genug, um ihn für einen Augenblick vorstellen zu können. So hatte er manchen Abend an einem Steinkohlenfeuer in der alten Heimat gesessen, so hatte sie gesessen, ganz nur seinem Dienst geweiht. Und doch war in der alten, elenden Armut nichts, worauf man hätte eifersüchtig sein können. Woher dann dieser Stich im Herzen?
»Weißt du, Onkel, ich glaube, du wirst wieder jung.«
Ihr Onkel schüttelte den Kopf und sagte: »Seit wann, meine Liebe, seit wann?«
»Ich glaube«, versetzte Klein-Dorrit, fleißig mit der Nadel fortarbeitend, »daß du schon seit Wochen immer jünger wirst. So heiter, Onkel, und so munter und so teilnehmend an allem, was vorgeht!«
»Mein liebes Kind – das tust du mir alles.«
»Ich alles, Onkel?«
»Ja, ja. Du hast unendlich wohltätig auf mich eingewirkt. Du warst so rücksichtsvoll gegen mich und gingst so zart mit mir um und suchtest so zart mir deine Aufmerksamkeiten zu verbergen, daß ich – ja, ja, ja! Ich habe es in treuem Herzen bewahrt, gutes Kind, in treuem Herzen bewahrt.« »Aber, lieber Onkel, das phantasierst du dir nur alles so zusammen«, sagte Klein-Dorrit heiter.
»Ja, ja, ja!« murmelte der Alte. »Gott sei Dank!«
Sie hielt einen Augenblick mit ihrer Arbeit inne, um ihn anzusehen, und ihr Blick machte, daß der Stich in ihres Vaters Brust wieder schmerzte: in seiner armen, schwachen Brust, die so voll von Widersprüchen, Ungereimtheiten und Schwankungen, so voll von den kleinen armseligen Verlegenheiten dieses dunklen Lebens war, Nebeln, die der Morgen ohne Nacht allein verscheuchen kann.
»Ich konnte mein Herz offner vor dir ausschütten, mein Täubchen«, sagte der alte Mann, »seit wir allein sind. Ich sage allein, denn ich zähle Mrs. General nicht: ich kümmere mich nicht um sie: sie hat nichts mit mir zu schaffen. Aber ich weiß, Fanny hat keine Geduld mit mir. Und das wundert mich nicht, auch klage ich nicht darüber, denn ich fühle wohl, ich muß im Wege sein, obgleich ich mich so viel wie möglich seitab halte. Ich weiß, ich passe nicht in unsre Gesellschaft. Mein Bruder William«, sagte der alte Mann ganz von Bewunderung voll, »würde ein Umgang für Fürsten sein: aber mit deinem Onkel ist’s etwas anderes, mein Kind. Frederick Dorrit mehrt das Ansehen William Dorrits nicht, und er weiß es ganz wohl. Ach! Wie, da ist ja dein Vater, Amy! Mein lieber William, sei willkommen! Mein geliebter Bruder, ich freue mich herzlich, dich wiederzusehen!«
Als er sich während des Sprechens umgewandt, hatte er ihn auf der Schwelle stehen sehen.
Klein-Dorrit schlang mit einem Freudenschrei die Arme um ihres Vaters Hals und küßte ihn wieder und wieder. Ihr Vater war etwas ungeduldig und mißgestimmt. »Ich freue mich, dich endlich wiederzusehen, Amy«, sagte er. »Ha. Wirklich, ich freue mich, endlich – hm – irgend jemand zu finden, der mich empfängt. Ich scheine so wenig – ha – erwartet worden zu sein, daß ich wahrhaftig – ha – hm – zu glauben begann, es werde nötig sein, mich zu entschuldigen, daß ich – ha – mir die Freiheit nahm, überhaupt zurückzukommen.«
»Es war so spät, mein lieber William«, sagte sein Bruder, »daß wir die Hoffnung für heute nacht aufgegeben hatten.«
»Ich bin stärker als du, lieber Frederick«, versetzte sein Bruder mit einer gemachten Brüderlichkeit, in der mehr Strenge lag, »und ich hoffe, ich kann ohne Nachteil für meine Gesundheit – ha – zu jeder Stunde, wenn ich will, reisen.«
»Gewiß, gewiß«, versetzte der andere, besorgt, er möchte Anstoß gegeben haben. »Gewiß, William.«
»Ich danke dir, Amy«, fuhr Mr. Dorrit fort, während sie ihm die Schals abnehmen half, »ich kann es schon allein machen. Ich will – ha – dir keine Mühe verursachen, Amy. Könnte ich ein Stückchen Brot und ein Glas Wein haben, oder – hm – würde es zu viele Umstände machen?«
»Lieber Vater, du sollst dein Abendessen in wenigen Minuten haben.«
»Ich danke, mein liebes Kind«, sagte Mr. Dorrit mit vorwurfsvoller Kälte; »ich – ha – fürchte zu viele Umstände zu veranlassen. Hm. Mrs. General ganz wohl?«
»Mrs. General klagte über Kopfweh und Müdigkeit; sie ging deshalb zu Bett, als wir glaubten, du kämst nicht mehr, mein lieber Vater.«
Vielleicht dachte Mr. Dorrit, Mrs. General habe recht gehabt, wenn sie durch die Täuschung, die durch ein Nichtankommen verursacht worden, sich gedrückt gefühlt. Jedenfalls heiterte sich sein Gesicht auf, und er sagte mit offenbarer Befriedigung: »Bedaure außerordentlich zu hören, daß Mrs. General nicht wohl ist.«
Während dieses kurzen Gespräches hatte ihn seine Tochter mit etwas mehr als gewöhnlichem Interesse betrachtet. Es hatte den Anschein, als wenn er ihr verändert und schlechter aussehend vorkäme: er bemerkte es und nahm es empfindlich auf: denn er sagte, mit neuer Verdrießlichkeit, als er sich seines Reiserocks entledigt hatte und an das Feuer getreten war:
»Amy, wonach siehst du? Was siehst du an mir, das dich veranlaßt, deine – ha – besorgte Teilnahme mir in – hm – so eigentümlicher Weise zuzuwenden?«
»Ich wußte es nicht, Vater: ich bitte um Entschuldigung. Es beglückte meine Augen, dich wiederzusehen: das ist alles.«
»Sage nicht, das ist alles, weil – ha – das nicht alles ist. Du – hm – glaubst,« sagte Mr. Dorrit mit einer Emphase, in der eine Anklage lag, »daß ich nicht gut aussehe.«
»Ich dachte, du sähest etwas ermüdet aus, lieber Vater.«
»Dann täuschest du dich«, sagte Mr. Dorrit. »Ha, ich bin nicht müde. Ha, hm. Ich bin frischer, als ich war, als ich wegging.«
Er war so nahe daran, in Zorn auszubrechen, daß sie nichts mehr zu ihrer Verteidigung sagte, sondern ruhig neben ihm stehenblieb und seinen Arm umschlungen hielt. Als er so dastand, wahrend sein Bruder von der andern Seite ihn ansah, versank er in eine Träumerei von kaum einer Minute, aus der er plötzlich auffuhr.
»Frederick«, sagte er, sich zu seinem Bruder umwendend, »ich empfehle dir, augenblicklich zu Bett zu gehen.«
»Nein, William, ich will aufbleiben und dich zu Nacht speisen sehen.«
»Frederick«, versetzte er, »ich bitte dich, zu Bett zu gehen. Tue es mir zu Gefallen und gehe zu Bett. Du solltest schon lange zu Bett sein. Du bist sehr schwach.«
»Ha!« sagte der alte Mann, der keinen andern Wunsch hatte, als ihm zu Gefallen zu leben. »Ja, ja, ja! Das bin ich wohl.«
»Mein lieber Frederick«, versetzte Mr. Dorrit mit erstaunlicher Überlegenheit über die schwachen Kräfte seines Bruders, »es kann kein Zweifel darüber sein. Es ist sehr schmerzlich für mich, dich so schwach zu sehen. Ha. Es macht mir großen Kummer. Hm. Ich finde nicht, daß du wohl aussiehst. Du bist nicht für dergleichen Dinge gemacht. Du solltest ängstlicher auf deine Gesundheit bedacht sein, weit mehr auf deine Gesundheit bedacht sein.«
»Soll ich zu Bett gehen?« fragte Frederick.
»Lieber Frederick«, sagte Mr. Dorrit, »tue es, ich beschwöre dich! Gute Nacht, Bruder. Ich hoffe, du wirst dich morgen kräftiger fühlen. Dein Aussehen gefällt mir ganz und gar nicht. Gute Nacht, lieber Junge!« Nachdem er seinen Bruder auf diese freundliche Weise fortgeschickt, versank er wieder in ein träumerisches Sinnen, ehe der alte Mann noch zum Zimmer hinaus war; und er wäre über die Schwelle gestolpert, wenn seine Tochter ihn nicht gehalten hätte.
»Dein Onkel ist sehr verwirrt, Amy«, sagte er, als er aus seinem Sinnen erwachte. »Er spricht weniger zusammenhängend, und seine Konversation ist – hm – gebrochener, als ich es je – ha – hm – an ihm gekannt. Ist er unwohl gewesen, seit ich fort war?«
»Nein, Vater.«
»Du – ha – findest ihn doch auch sehr verändert. Amy?«
»Ich habe nichts bemerkt, Vater.«
»Er ist ganz gebrochen«, sagte Mr. Dorrit. »Ganz gebrochen. Mein armer liebevoller, schwacher Frederick! Ha. Wenn ich namentlich bedenke, was er früher war, so ist er jetzt – hm – traurig gebrochen.«
Sein Nachtessen, das ihm nunmehr gebracht und auf dem kleinen Tisch aufgestellt wurde, an dem er sie hatte arbeiten sehen, lenkte seine Aufmerksamkeit von dem bisherigen Gesprächsgegenstand etwas ab. Sie saß an seiner Seite wie in jenen früheren Tagen, zum ersten Male, seit jene Tage ihr Ende genommen. Sie waren allein, und sie reichte ihm die Speisen und schenkte ihm den Wein ein, wie sie es im Gefängnis zu tun gewohnt gewesen war. All dies geschah jetzt zum ersten Male, seit sie reich geworden. Sie fürchtete sich, ihn viel anzusehen, nachdem er Ärgernis daran genommen; aber sie beobachtete zweimal während des Essens, daß er sie ganz plötzlich ansah und sich dann umschaute, als wenn die Ideenverbindung so stark wäre, daß er sich durch seinen Gesichtssinn versichern müsse, sie seien nicht in dem alten Gefängnis. Beide Male legte er seine Hand an seinen Kopf, als vermißte er seine alte schwarze Mütze – obwohl diese schmählicherweise im Marschallgefängnis weggeschenkt und bis zu dieser Stunde nicht frei geworden, sondern noch immer auf dem Kopfe seines Nachfolgers im Hofe sich umhertrieb.
Er nahm sehr wenig zu sich, aber verweilte sehr lange beim Essen und kehrte oft auf den schwachen Zustand seines Bruders zurück. Obwohl er das größte Mitleid mit ihm aussprach, war er doch beinahe ärgerlich auf ihn. Er sagte, der arme Frederick – ha, – hm – fasle. Es gebe kein andres Wort dafür: fasle. Der arme Junge! Es war ein trauriger Gedanke, wenn man bedächte, was Amy von der unendlichen Langweiligkeit seiner Gesellschaft ausgestanden haben mußte – von der Gesellschaft dieses Mannes, der immerfort schwätze und fasle, der arme, gute, liebe Mensch, der immerfort fasle und schwatze – wenn sie nicht in Mrs. General eine Aufheiterung gefunden. Er bedauere sehr, wiederholte er dann mit der früheren Zufriedenheit, daß diese – ha – herrliche Frau unpäßlich sei.
Klein-Dorrit mit ihrer aufmerksamen Liebe würde sich des Geringsten, was er in jener Nacht sagte und tat, erinnert haben, obgleich sie später keinen Grund hatte, jene Nacht sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie erinnerte sich immer, daß wenn er unter dem starken Einfluß der Ideenverbindung des Jetzt und Ehemals umherblickte, er ihr und vielleicht sich selbst den Gedanken fernzuhalten suchte, indem er augenblicklich wieder von dem großen Reichtum und der vornehmen Gesellschaft sprach, mit der er während seiner Abwesenheit verkehrt, und von der hohen Stellung, die er und seine Familie zu behaupten hätten. Auch erinnerte sie sich deutlich, daß durch das ganze Gespräch und das ganze Benehmen ihres Vaters zwei Strömungen durchliefen, nämlich, daß er zeigen wollte, wie gut es ihm ohne sie gegangen, und wie unabhängig er von ihr sei, und daß er sich auf eine passende, zart andeutende Weise beklagte, es wäre möglich, sie hätte ihn, während er fortgewesen, vernachlässigt.
Seine Schilderung von der großartigen Stellung, die Mr. Merdle einnehme, und von dem Hofe, der sich vor ihm beuge, brachte ihn natürlich auf Mrs. Merdle. So natürlich, daß, obgleich ungewöhnlicher Mangel an Folgerichtigkeit in dem größern Teil seiner Bemerkungen sichtlich war, er plötzlich auf sie überging und fragte, wie sie sich befände.
»Sie ist ganz wohl. In nächster Woche geht sie fort.«
»Nach Hause?« fragte Mr. Dorrit.
»Nachdem sie sich einige Wochen unterwegs aufgehalten habe.«
»Sie wird ein großer Verlust für die hiesige Gesellschaft sein«, sagte Mr. Dorrit. »Ein großer Gewinn für die Heimat. Für Fanny und – hm – die übrige – ha – große Welt.«
Klein-Dorrit dachte an den Wetteifer, der nun beginnen sollte, und stimmte außerordentlich sanft zu.
»Mrs. Merdle will eine große Abschiedsgesellschaft geben, lieber Vater, der ein Diner vorangehen soll. Sie drückte ihre Besorgnis aus, du möchtest nicht mehr zur rechten Zeit eintreffen. Sie hat dich und mich zu ihrem Diner eingeladen.«
»Sie ist – ha – sehr freundlich. Wann soll es stattfinden?«
»Übermorgen.«
»Schreibe ihr morgen und sage, daß ich zurückgekehrt sei und mich sehr – hm – freue.«
»Darf ich dich die Treppe hinauf in dein Zimmer begleiten, lieber Vater?«
»Nein!« antwortete er, ärgerlich sich umsehend: denn er ging weg, als wenn er das Abschiednehmen vergäße. »Du sollst nicht, Amy! Ich brauche keine Hilfe. Ich bin dein Vater, nicht dein gebrechlicher Onkel!« Er unterbrach sich ebenso plötzlich, als er diese Antwort gegeben hatte, und sagte: »Du hast mich nicht geküßt, Amy. Gute Nacht, liebes Kind! Wir müssen dich nun verheiraten – ha – dich verheiraten.« Mit diesen Worten ging er langsam und müde die Treppe hinauf nach seinen Zimmern, und beinahe sofort, als er dort angekommen, entließ er seinen Kammerdiener. Die nächste Sorge war, nach seinen Pariser Einkäufen zu sehen und, nachdem er ihre Kapseln geöffnet und sie genau in Augenschein genommen hatte, sie unter Schloß und Riegel zu legen. Darauf sank er, halb dösend, halb Schlösser bauend, auf lange Zeit in träumerisches Sinnen, so daß bereits ein leichter Morgenschimmer den östlichen Rand der öden Campagna umsäumte, als er in das Bett kroch.
Mrs. General ließ sich am nächsten Tag frühzeitig nach seinem Befinden erkundigen: sie hoffe, er habe nach seiner anstrengenden Reise wohl geruht. Er ließ ihr danken und bat Mrs. General zu versichern, daß er vortrefflich geschlafen und sich außerordentlich wohl befinde. Nichtsdestoweniger verließ er seine Zimmer erst spät am Nachmittag, und obgleich er sich für eine Fahrt mit Mrs. General und seiner Tochter prachtvoll ankleiden ließ, reichte doch seine äußere Erscheinung nicht an die Beschreibung, die er von sich machte.
Da die Familie an diesem Tage keine Besuche hatte, speisten die vier Familienmitglieder allein zusammen. Er führte Mrs. General mit ungeheurer Zeremonie an den Platz zu seiner Rechten, und Klein-Dorrit bemerkte unwillkürlich, als sie mit ihrem Onkel folgte, daß er wieder mit ausgesuchtem Geschmack gekleidet, und daß sein Benehmen gegen Mrs. General ganz eigentümlicher Art war. Die vollendete Bildung des Äußern dieser vollkommenen Dame machte es schwierig, ein Atom von ihrer feinen Politur zu verrücken, aber Klein-Dorrit glaubte in einer Ecke ihres frostigen Auges ein flüchtiges Auftauen des Triumphes zu gewahren.
Trotz des prunischen und prismatischen Charakters des Familienbanketts, wie wir jenen in diesem Roman bezeichnen wollen, schlief Mr. Dorrit mehrere Male im Verlauf des Diners ein. Seine Anfälle von Schlummer waren so plötzlich, als sie es in der Nachtzeit vor Schlafengehen waren, und auch so kurz und tief. Als ihn zum erstenmal ein solcher Schlummer überfiel, war Mrs. General etwas erstaunt, aber bei jeder Wiederholung dieses Symptoms betete sie ihren höflichen Rosenkranz, der aus den Worten: Papa, Potateos, Poultry, Prunes und Prism bestand: und indem sie äußerst langsam dieses unfehlbare Mittel anwandte, schien sie mit ihrem Rosenkranz beinahe im selben Augenblick zu Ende zu kommen, als Mr. Dorrit aus seinem Schlafe auffuhr.
Er bemerkte wieder eine Neigung zur Schlafsucht bei Frederick (die außerhalb seiner Phantasie jedoch nicht existierte) und entschuldigte nach dem Diner, als Frederick weggegangen, im Vertrauen den armen Mann bei Mrs. General. »Der ehrenwerteste und liebevollste Bruder, den man sich denken kann«, sagte er, »aber –- ha, hm – ganz gebrochen. Ein großes Unglück, er wird immer schwächer.«
»Mr. Frederick, Sir«, sagte Mrs. General, »ist gewöhnlich abwesend und gedrückt, aber lassen Sie uns hoffen, daß es nicht so schlimm mit ihm steht.«
Mr. Dorrit war jedoch entschlossen, ihn nicht aufkommen zu lassen. »Er wird sichtlich schwächer. Ein Wrack. Eine Ruine. Er fällt vor unsern Augen zusammen. Hm. Der gute Frederick.«
»Sie haben hoffentlich Mrs. Sparkler wohl und glücklich verlassen?« sagte Mrs. General, nachdem sie Frederick einen kühlen Seufzer gewidmet.
»Umgeben«, versetzte Mr. Dorrit, »von allem – ha –, was die Sinne erfreuen und – hm – den Geist erheben kann. Ganz glücklich, meine Verehrte, im Besitze eines – ha – Gatten.«
Mrs. General wurde etwas verlegen; sie schien das Wort zart mit ihren Handschuhen wegzuschieben, als wenn sie nicht wüßte, wie man dazu kommt.
»Fanny«, fuhr Mr. Dorrit fort, »Fanny, Mrs. General, hat bedeutende Eigenschaften. Ha. Ehrgeiz – hm –, festen Charakter, Bewußtsein – ha – ihrer Stellung, Entschlossenheit, diese Stellung zu wahren – ha, hm –, Anmut, Schönheit und angeborene Noblesse.«
»Ganz gewiß«, sagte Mrs. General mit einer kleinen Extrasteifheit.
»In Verbindung mit diesen Eigenschaften, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »hat Fanny – ha – einen Fehler an den Tag gelegt, der mir sehr – hm – unangenehm war und – ha –, ich muß hinzufügen, mich ärgerlich machte; der jedoch als abgemacht zu betrachten sein dürfte, sogar was sie selbst betrifft, und unzweifelhaft auch – ha –, was andere betrifft – getilgt ist.«
»Worauf, Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, während ihre Handschuhe wieder etwas in Aufregung kamen, »worauf können Sie anspielen? Ich weiß nicht –«
»Sagen Sie das nicht, meine Verehrte«, unterbrach sie Mr. Dorrit.
Mrs. Generals Stimme erstarb in den Worten: »Ich weiß nicht, was ich mir denken soll.«
Mr. Dorrit überkam wieder ein Schlummer von ungefähr einer Minute, aus dem er mit krampfhafter Schnelligkeit erwachte.
»Ich meine, Mrs. General, jenen – ha – starken Oppositionsgeist, oder – hm – ich möchte sagen – ha – jene Eifersucht bei Fanny, die bisweilen gegen dieses Gefühl – ha – aufgetaucht, das ich von den Ansprüchen hege, die die Dame, mit der ich jetzt zu sprechen die Ehre habe, machen könnte.«
»Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, »ist stets zu gütig gegen mich, schlägt meine Verdienste stets zu hoch an. Wenn es Augenblicke gab, wo ich mir einbildete, Miß Dorrit sei ungehalten über die günstige Meinung, die Mr. Dorrit von meinen Diensten habe, so fand ich eben in dieser nur zu hohen Meinung meinen Trost und Lohn.«
»Meinung von Ihren Diensten, Madame?« sagte Mr. Dorrit.
»Von meinen Diensten«, wiederholte Mrs. General in zarter und eindrucksvoller Weise.
»Von Ihren Diensten allein, meine Teure?« sagte Mr. Dorrit.
»Ich denke wohl«, versetzte Mrs. General in ihrer früheren eindrucksvollen Weise, »von meinen Diensten allein. Denn wem sonst«, sagte Mrs. General mit einer flüchtig fragenden Bewegung ihrer Handschuhe, »könnte ich die Schuld geben –?«
»Ihnen selbst, Mrs. General. Ha, hm. Ihnen selbst und Ihren Verdiensten«, lautete Mr. Dorrits Antwort.
»Mr. Dorrit wird mir verzeihen«, sagte Mrs. General, »wenn ich die Bemerkung mache, daß jetzt nicht die Zeit und dies nicht der Ort ist, dieses Gespräch fortzusetzen. Mr. Dorrit wird mich entschuldigen, wenn ich ihn daran erinnere, daß sich Miß Dorrit im anstoßenden Zimmer befindet, und daß ich sie sehen kann, während ich ihren Namen ausspreche. Mr. Dorrit wird mir verzeihen, wenn ich bemerke, daß ich aufgeregt bin und daß ich finde, es gibt Augenblicke, wo die Schwache, die ich überwunden zu haben glaubte, sich mit verdoppelter Kraft wieder geltend macht. Mr. Dorrit wird mir erlauben, mich zu entfernen.«
»Hm. Vielleicht nehmen wir ein andermal diese – ha – interessante Unterhaltung wieder auf«, sagte Mr. Dorrit: »wenn sie nicht etwa, was ich nicht hoffe, irgendwie Mrs. General – ha – unangenehm wäre.«
»Mr. Dorrit«, sagte Mrs. General, ihre Blicke niederschlagend, während sie mit einer Verbeugung aufstand, »wird mich stets zu seinen Diensten finden.«
Mrs. General entfernte sich in pomphafter Weise und nicht mit jenem Grade von Zittern, den man bei einer minder bedeutenden Person wohl gefunden hätte. Mr. Dorrit, der seinen Teil am Gespräch mit einer gewissen majestätischen und bewundernden Herablassung vorgebracht hatte – ganz wie man manche Leute in der Kirche ihren Teil am Gottesdienst verrichten sieht –, erschien im ganzen sehr zufrieden mit sich und auch mit Mrs. General. Bei der Rückkehr dieser Dame zum Tee hatte sie sich mit etwas Puder und Pomade aufgebessert und war gleicherweise auch moralisch in etwas gesteigerter Stimmung! das letztere zeigte sich in der sanften wohlwollenden Art ihres Benehmens gegen Miß Dorrit und in der Äußerung zärtlichen Interesses für Mr. Dorrit, soweit sich dies mit dem strengen Anstand vertrug. Am Schluß des Abends, als sie aufstand, um sich zu entfernen, nahm Mr. Dorrit sie bei der Hand, als wollte er sie hinaus auf die Piazza del Popolo führen, um ein Menuett mit ihr beim Mondenschein zu tanzen, und brachte sie mit großer Feierlichkeit nach der Zimmertür, wo «r ihre Knöchel an seine Lippen hob. Nachdem er mit einem, wir dürfen wohl sagen, ziemlich knochigen Kuß von kosmetischem Duft sich von ihr verabschiedet hatte, gab er seiner Tochter seinen freundlichen Segen. Und nachdem er auf diese Weise angedeutet, daß etwas Wichtiges im Anzüge sei, ging er wieder zu Bett.
Er blieb am nächsten Morgen wieder auf seinem Zimmer für sich abgeschlossen: aber früh am Nachmittag schickte er seine besten Empfehlungen an Mrs. General durch Mr. Tinkler und bat, sie möchte Miß Dorrit auf einem Spaziergang ohne ihn begleiten. Seine Tochter war für Mrs. Merdles Diner angekleidet, ehe er erschien. Endlich zeigte er sich in strahlendem Glänze, was seinen Anzug betrifft, im übrigen aber sah er unbeschreiblich gebrochen und alt aus. Da er jedoch offenbar entschlossen war, ärgerlich zu werden, wenn sie ihn fragte, wie er sich befände, so wagte sie es nur, seine Wange zu küssen, ehe sie ihn mit ängstlichem Herzen zu Mrs. Merdle begleitete.
Die Entfernung bis zum Hause derselben war sehr kurz: aber er war wieder an seinem Luftschlösserbauen, ehe der Wagen die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Mrs. Merdle empfing ihn mit großer Auszeichnung. Der Busen befand sich im allerbesten Wohlsein und war höchst zufrieden mit sich: das Diner war außerordentlich fein und die Gesellschaft sehr erlesen.
Sie bestand meist aus Engländern, mit Ausnahme des gewöhnlichen französischen Grafen und der gewöhnlichen italienischen Marchese – dekorativen sozialen Meilensteinen, die man immer an gewissen Orten trifft und die im Äußern wenig voneinander variieren. Der Tisch war lang, und das Diner dauerte lange, und Klein-Dorrit, überschattet von einem großen schwarzen Backenbart und einer großen weißen Krawatte, verlor ihren Vater ganz aus dem Gesicht, bis ein Diener ein Stückchen Papier ihr in die Hand steckte und ihr im Auftrag von Mrs. Merdle zuflüsterte, sie möchte dies augenblicklich lesen. Mrs. Merdle hatte mit Bleistift darauf geschrieben: »Bitte, kommen Sie und sprechen Sie mit Mr. Dorrit. Ich glaube, er ist nicht ganz wohl.«
Sie eilte unbemerkt zu ihm hin, als er sich aus seinem Stuhl erhob und, sich über den Tisch hinüberbeugend, ihr, in der Meinung, sie sei noch an ihrem Platze, zurief:
»Amy, Amy, mein Kind!«
Diese Handlung war so ungewöhnlich, ganz abgesehen von seinem seltsam aufgeregten Aussehen und seiner seltsam hohen Stimme, daß augenblicklich tiefe Stille eintrat. »Meine liebe Amy«, wiederholte er. »Willst du nachsehen, ob Bob heute das Schließeramt hat?«
Sie war nun an seiner Seite, aber er glaubte immer noch in seinem Wahn, sie sitze an ihrem Platze, und rief, über die Tafel hinübergelehnt: »Amy, Amy. Ich fühle mich nicht ganz Herr meiner selbst. Ha. Ich weiß nicht, was mit mir ist. Ich wünsche besonders Bob zu sehen. Ha. Von allen Schließern ist er ebensosehr mein Freund wie der deine. Sieh, ob Bob im Schließerstübchen ist, und bitte ihn, zu mir zu kommen.«
Alle Gäste waren konsterniert und standen auf.
»Lieber Vater, ich bin nicht dort: ich bin hier, bei dir.«
»Oh! Du bist hier, Amy! Gut. Hm. Gut. Ha. Rufe Bob. Wenn er abgelöst wurde und nicht am Tor ist, so sage Mrs. Bangham, sie möchte gehen und ihn holen.«
Sie suchte ihn freundlich wegzuführen; aber er widerstand und wollte nicht gehen.
»Ich sage dir, Kind«, rief er trotzig, »ich kann die engen Treppen nicht ohne Bob hinaufkommen. Ha. Schick‘ nach Bob. Hm. Schick‘ nach Bob, Hm. Schick‘ nach Bob – dem besten aller Schließer – schick‘ nach Bob!«
Er sah sich verlegen um, und als er bemerkte, von welcher Menge von Gesichtern er umgeben war, redete er sie folgendermaßen an:
»Ladies und Gentlemen, es ist – ha – meine Pflicht – hm –, Sie im Marschallgefängnis willkommen zu heißen. Willkommen im Marschallgefängnis! Der Raum ist – ha – beschränkt – beschränkt – der Spazierplatz könnte größer sein; aber Sie werden ihn sichtlich mit der Zeit weiter werden sehen – mit der Zeit, Ladies und Gentlemen, und die Luft ist, im ganzen genommen, sehr gut. Sie kommt über die – ha – Surreyhügel herüber. Weht über die Surreyhügel herüber. Das ist die Snuggery. Hm. Unterhalten durch eine kleine Subskription der – ha – Kollegiatenkörperschaft. Dafür hat man heißes Wasser – gemeinschaftliche Küche – und kleine häusliche Vorteile. Die Habitués des – ha – Marschallgefängnisses nennen mich gern den Vater. Ich bin daran gewöhnt, daß Fremde dem – ha – Vater des Marschallgefängnisses ihre Aufwartung machen. Und wirklich, wenn jahrelanger Aufenthalt in demselben auf einen solchen Ehrentitel ein Anrecht geben kann, so darf ich diese – hm – Auszeichnung annehmen. Mein Kind, Ladies und Gentlemen, meine Tochter, hier geboren!«
Sie schämte sich deswegen nicht, noch seinethalben. Sie war blaß und erschrocken; aber sie hatte keine andere Sorge, als ihn zu besänftigen und ihn um seiner selbst willen fortzubringen. Sie stand zwischen ihm und den erstaunten Gesichtern und drehte sich zu ihm herum, indem sie die Augen zu ihm erhob. Er hielt sie mit seinem linken Arm umschlungen, und zuweilen hörte man sie mit ihrer sanften Stimme ihn zärtlich bitten, mit ihr wegzugehen.
»Hier geboren«, wiederholte er unter Tränen. »Ladies und Gentlemen, meine Tochter. Kind eines unglücklichen Vaters, aber – ha – doch eines Gentleman. Arm, freilich, aber – hm – stolz. Immer stolz. Es wurde eine – hm – nicht ungewöhnliche Sitte unter – ha – meinen persönlichen Verehrern – sich das Vergnügen zu machen, mir ihren Wunsch auszudrücken, meiner halboffiziellen Stellung hier ihre Huldigung durch die Anerbietung eines kleinen Tributs darzubringen, der gewöhnlich die Form von – ha – Ehrengeschenken – Ehrengeschenken in Geld annahm. In der Annahme dieser – ha – freiwilligen Anerkennung meiner schwachen Bemühungen, einen – ha – Ton hier aufrechtzuerhalten einen Ton – bitte mich wohl zu verstehen, halte ich mich nicht für kompromittiert. Ha. Nicht kompromittiert. Ha. Nicht kompromittiert. Ha. Kein Bettler. Nein, ich weise diesen Titel zurück! Zu gleicher Zeit sei es fern von mir – hm –, auf die zarten Gefühle, von denen meine parteiischen Freunde geleitet waren, den mindesten Verdacht fallen zu lassen, als wenn – hm – solche Gaben nicht außerordentlich annehmbar wären. Im Gegenteil, sie sind äußerst annehmbar. In meines Kindes Namen, wenn auch nicht meinem, muß ich dies energisch behaupten, indem ich zu gleicher Zeit – ha –- meine persönliche Würde bewahre. Ladies und Gentlemen, Gott segne Sie alle!«
Inzwischen hatte die furchtbare Kränkung, die der Busen erdulden mußte, den größern Teil der Gesellschaft veranlaßt, in andre Zimmer zu gehen. Die wenigen, die so lange geblieben waren, folgten den übrigen, und Klein-Dorrit und ihr Vater waren mit der Dienerschaft allein noch im Zimmer. »Liebster, bester Vater, willst du jetzt nicht mit mir gehen, nicht?« Er antwortete auf ihre dringende Bitte, er werde die engen Treppen nicht ohne Bob hinaufkommen; wo Bob sei, ob niemand Bob holen wolle! Unter dem Vorwand, nach Bob zu sehen, brachte sie ihn hinaus; sie mußte dabei an der nun hereinströmenden glänzenden Gesellschaft vorbei, die zu der Abendunterhaltung eingeladen war; sie setzte ihn in einen Wagen, der eben hielt, und führte ihn nach Hause.
Die breiten Treppen seines römischen Palastes waren in seinen gebrochenen Augen zu den engen Treppen seines Londoner Gefängnisses zusammengeschrumpft, und er würde sich von niemand haben anrühren lassen als von ihr und seinem Bruder. Sie brachten ihn ohne Hilfe in sein Zimmer hinauf und legten ihn auf sein Bett. Und von diesem Augenblick war in seinem gelähmten Geist, der sich nur noch des Ortes erinnerte, wo er seine Schwingen gebrochen, der Traum verwischt, durch den er sich seit jener Zeit getastet, und er wußte von nichts mehr als vom Marschallgefängnis. Wenn er Tritte auf der Straße hörte, hielt er sie für die alten traurigen Schritte auf dem Hof. Wenn die Stunde zum Schließen kam, glaubte er, alle Fremden seien nun für die Nacht ausgeschlossen. Wenn dann wieder die Stunde zum Öffnen kam, wollte er um jeden Preis Bob sehen, so daß sie genötigt waren, eine Geschichte zu erfinden, wie dieser Bob, der edle Schließer, der seit vielen Jahren tot war, sich erkältet habe – aber morgen oder den nächsten Tag oder den übernächsten wieder ausgehen zu können hoffe.
Er wurde so außerordentlich schwach, daß er seine Hand nicht aufheben konnte. Aber er ließ seinem Bruder, wie er es seit lange gewohnt war, seine Nachsicht angedeihen und sagte wohl fünfzigmal am Tage, wenn er ihn an seinem Bett stehen sah, mit wohlwollender Teilnahme: »Nein, guter Frederick, setze dich. Du bist wirklich sehr schwach.«
Sie versuchten es mit Mrs. General, ihm sein früheres klares Bewußtsein zu geben, aber er hatte nicht die geringste Ahnung von ihr. Ein beleidigender Verdacht schlich sich sogar in sein Gehirn, sie wolle nämlich Mrs. Bangham ersetzen und sei dem Trunk ergeben. Er machte ihr in maßlosen Ausdrücken Vorwürfe darüber und drang so ungestüm in seine Tochter, sie solle zum Marschall gehen und ihn bitten, sie hinauszuschaffen, daß man sie nach diesem ersten mißlungenen Versuche nicht mehr zum Vorschein brachte.
Mit Ausnahme der einmaligen Frage, ›ob Tip in die Stadt gegangen sei‹, schien er keine Erinnerung an seine beiden abwesenden Kinder zu haben. Aber das Kind, das so viel für ihn getan und so armselig dafür belohnt worden, verlor sich keinen Augenblick aus seinem Gedächtnis. Nicht, daß er sie geschont hätte oder fürchtete, sie möchte durch das Wachen und die Anstrengung sich aufreiben; er machte sich darüber so wenig Sorgen wie gewöhnlich. Nein, er liebte sie auf seine alte Weise. Sie waren wieder im Gefängnis, und sie pflegte ihn, und er bedurfte ihrer beständig und konnte sich nicht ohne sie hin und her wenden; er sagte ihr bisweilen, daß er gern viel um ihretwillen gelitten. Sie aber beugte sich mit ihrem stillen Gesicht zu ihm herab und hätte ihr eigenes Leben hingegeben, wenn sie das seine damit hätte wieder anfachen können.
Als er auf diese schmerzlose Weise zwei bis drei Tage lang an Kräften abgenommen, bemerkte sie, daß ihn das Ticken seiner Uhr inkommodiere – einer prachtvollen goldenen Uhr, die viel Lärm mit ihrem Gehen machte, wie wenn sonst nichts ginge als sie und die Zeit. Sie ließ sie ablaufen; aber er war immer noch unruhig und gab zu verstehen, daß es das nicht gewesen, was er gewollt. Endlich raffte er sich soweit auf, um zu erklären, daß er Geld auf diese Uhr aufgenommen zu wissen wünsche. Er war sehr angenehm berührt, als sie vorgab, sie zu diesem Zweck fortzunehmen, und er fand von da ab die kleinen Delikatessen von Wein und Gelee weit besser als früher.
Er gab bald deutlich zu verstehen, daß das seinem Wunsche gemäß sei: denn er schickte ein oder zwei Tage später seine Hemdenknöpfe und Fingerringe fort. Es gewährte ihm eine ganz erstaunliche
Mr. Dorrits Tod.
Befriedigung, wenn er ihr diese Aufträge erteilt, und schien sie wie die methodischsten und vorsorglichsten Anordnungen, die man treffen könnte, zu betrachten. Nachdem seine Kleinodien oder zum mindesten diejenigen, die er davon zu sehen imstande, versetzt waren, zogen seine Kleider seine Aufmerksamkeit auf sich; und es ist so wahrscheinlich wie nicht, daß ihn einige Tage die Befriedigung am Leben erhielt, sie Stück für Stück zu einem eingebildeten Pfandleiher zu schicken.
So beugte sich Klein-Dorrit zehn Tage lang über sein Kissen und legte ihre Wange an die seine. Bisweilen war sie so erschöpft, daß sie beide einige Minuten lang schliefen. Dann erwachte sie wieder, um mit rasch fließenden stillen Tränen zu bedenken, was sie mit ihrem Gesicht berührte, und über das geliebte Gesicht auf dem Pfühl einen dunklern Schatten ziehen zu sehen, als der Schatten der Mauer des Marschallgefängnisses.
Leise und unmerklich verschwammen alle Linien des Plans zu dem großen Schlosse, eine nach der andern. Unmerklich wurde das Gesicht, auf dem sich diese Linien kreuz und quer gezogen hatten, glatt und schön. Unmerklich verschwanden die Schatten der Gefängnisgitter und der Zickzackstacheln auf dem Mauerfirst. Unmerklich wurde das Gesicht zu einem weit jüngeren Ebenbild ihres eigenen, als sie es sonst unter dem grauen Haar zu sehen gewöhnt war, und schlief endlich zur ewigen Ruhe ein.
Anfangs war ihr Oheim ganz verstört, »O, mein Bruder! O, William, William! Du gehst mir voran, du gehst allein. Du sollst gehen, und ich soll bleiben. Du, der so viel höher stand. Du ein so ausgezeichneter, vornehmer Charakter, und ich eine arme, nutzlose Kreatur, die zu nichts taugt und die niemand vermißt haben würde!«
Das tat ihr für den Augenblick soweit gut, als sie an ihn denken, ihm eine Stütze sein mußte. »Onkel, lieber Onkel, schon dich, schone mich!«
Der alte Mann war nicht taub für die letzten Worte. Als er sich zusammenzunehmen anfing, tat er es, um sie zu schonen. Er kümmerte sich nicht um sie; aber mit der ganzen Kraft, die seinem ehrlichen Herzen noch übrigblieb, dem Herzen, das so lange geschlummert und nun aufwachte, um gebrochen zu werden, ehrte und segnete er sie.
»O Gott!« rief er, ehe sie das Zimmer verließen, indem er seine runzlichen Hände über ihr faltete. »Du siehst dieses Kind meines teuren verstorbenen Bruders. Alles, was ich mit meinen halbblinden und sündigen Augen gesehen, hast du klar und hell erkannt. Nicht ein Haar ihres Hauptes soll vor dir gekrümmt werden. Du wirst sie aufrechterhalten bis zu ihrer letzten Stunde. Und ich weiß, du wirst sie belohnen in der andern Welt!«
Sie blieben in einem schwach erleuchteten Zimmer, bis es beinahe Mitternacht war, und saßen still und traurig beisammen. Bisweilen suchte sein Schmerz Erleichterung in einem Ausbruch, gleich jenem, in dem er zuerst seinen Ausdruck gefunden; aber außer daß die Kraft, die er noch besaß, solchen Anstrengungen nicht mehr standhalten konnte, erinnerte er sich auch stets wieder ihrer Worte, machte sich Vorwürfe und beruhigte sich. Die einzige Äußerung, mit der er seinem Kummer Luft machte, war der häufige Ausruf, daß sein Bruder allein von der Erde geschieden, daß sie beim Eingang ihres Lebens zusammengewesen, daß sie zusammen ins Unglück geraten, daß sie in den langen Jahren ihrer langen Armut zusammengehalten, daß sie bis auf den heutigen Tag zusammengeblieben, und daß dieser Bruder dennoch allein, allein von hinnen gegangen.
Sie schieden mit schwerem und kummervollem Herzen. Sie wollte ihn erst in seinem eigenen Zimmer verlassen, und sie sah ihn sich in seinen Kleidern auf das Bett legen und deckte ihn mit eignen Händen zu. Dann sank sie auf ihr Bett und fiel in einen tiefen Schlaf: den Schlaf der Erschöpfung und Ruhe, obgleich nicht vollständig befreit von einem alles durchdringenden Schmerzbewußtsein. Schlafe, gute Klein-Dorrit. Schlafe die Nacht hindurch!
Es war Mondnacht; aber der Mond ging spät auf, da der Vollmond längst vorüber. Als er hoch an dem friedlichen Firmament stand, schien er durch halbgeschlossene Jalousien in das feierlich stille Gemach, wo die unsicheren Schritte und Tritte eines Lebens vor so kurzer Zeit stillgestanden. Zwei stumme Gestalten waren im Zimmer; zwei Gestalten, gleich still und regungslos, gleich entfernt durch einen unüberschreitbaren Raum von der fruchtbaren Erde und allem, was sie birgt, obgleich sie bald in ihr liegen werden.
Eine Gestalt ruhte auf dem Bett. Die andere kniete auf dem Boden und war über sie gesunken; die Arme ruhten leicht und friedlich auf der Bettdecke; das Gesicht war herabgesunken, so daß die Lippen die Hand berührten, über die sein letzter Atem sich gebeugt hatte. Die beiden Brüder standen vor ihrem Vater, weit erhaben über dem dämmerartigen Urteil der Welt; hoch über ihren Nebeln und Finsternissen.