Einundzwanzigstes Kapitel.
Die Geschichte einer Selbstquälerin
Ich hatte das Unglück, nicht einfältig zu sein. Schon in frühester Jugend durchschaute ich, was meine Umgebung mir verborgen zu halten dachte. Wäre ich gewöhnlich hintergangen worden, statt daß ich gewöhnlich hinter die Wahrheit kam, so hätte ich so ruhig leben können, wie die meisten Toren leben.
Meine Kindheit verlebte ich bei meiner Großmutter, das heißt bei einer Dame, die diese Stelle bei mir vertrat und diesen Titel für sich in Anspruch nahm. Sie hatte kein Recht auf denselben, aber ich – so töricht war ich doch damals – hegte kein Mißtrauen gegen sie. Sie hatte einige Kinder ihrer eigenen Familie bei sich und einige Kinder von anderen Leuten. Lauter Mädchen, zehn an der Zahl, mich eingerechnet. Wir lebten alle miteinander, wurden alle zusammen erzogen.
Ich muß ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich zu merken anfing, wie entschlossen diese Mädchen waren, mich zu bevormunden. Man sagte mir, ich sei eine Waise. Es war keine andere Waise unter uns; und ich bemerkte (das war der erste Nachteil, nicht einfältig zu sein), daß sie mich mit einem zudringlichen Mitleid und mit einer gewissen Überlegenheit schonten. Ich nahm dies nicht so unbesonnen hin. Ich stellte sie oft auf die Probe. Ich konnte sie nur mit Mühe dahin bringen, daß sie sich mit mir zankten. Wenn es mir bei einer gelang, so kam sie gewiß nach einer oder zwei Stunden und versuchte eine Aussöhnung. Ich stellte sie immer und immer wieder auf die Probe und erlebte es nie, daß eine auf mich gewartet hätte, bis ich begonnen. Sie verziehen mir immer in ihrer Eitelkeit und Herablassung. Kleine Ebenbilder erwachsener Leute.
Eines der Mädchen war meine erwählte Freundin. Ich liebte dieses dumme unbedeutende Geschöpf mit einer Leidenschaft, die sie ebensowenig verdiente, wie ich mich ihrer erinnern kann, ohne mich zu schämen, obgleich ich nur ein Kind war. Sie hatte, was man ein liebenswürdiges Temperament, ein liebevolles Wesen nannte. Sie hatte für jedes von uns einen freundlichen Blick und ein freundliches Lächeln. Ich glaube, es war nicht eine Seele im Hause außer mir, die wußte, daß sie es vorsätzlich tat, um mich zu verletzen und zu erbittern.
Demungeachtet liebte ich dieses unwürdige Mädchen so, daß mein Leben durch meine Liebe zu ihr ein ungemein unruhiges wurde. Ich bekam beständig Strafreden und zog mir ihren Unwillen zu, weil, wie sie es nannte, ich »sie reize«, mit andern Worten, weil ich dem Mädchen seine kleine Perfidie vorwarf und sie zu Tränen brachte, indem ich ihr zeigte, wie ich in ihrem Herzen las. Und dennoch liebte ich das Kind aufrichtig und begleitete sie mal während der Festtage nach Hause.
Sie war zu Hause schlimmer, als sie in der Schule gewesen war. Sie hatte eine Unzahl von Kusinen und Bekannten, und wir tanzten zu Hause bei ihr und bei andern Leuten, und sowohl zu Hause als auswärts quälte sie meine Liebe, daß es nicht zu ertragen war. Ihre Absicht war, alle in sich verliebt zu machen und mich vor Eifersucht wahnsinnig werden zu lassen, mit allen vertraut und gegen alle liebreich zu sein – und mich vor Neid vergehen zu lassen. Des Abends, wenn wir allein in unserm Schlafzimmer waren, machte ich ihr gewöhnlich Vorwürfe und zeigte ihr, wie sehr ich ihre niedrige Gesinnung durchschaue; dann weinte sie in einem fort und sagte, ich sei grausam; dann hielt ich sie in meinen Armen bis zum Morgen: und liebte sie so sehr wie immer, und oft war es mir, als wenn, lieber denn so zu leiden, ich sie so in meinen Armen halten und mich in einen tiefen Strom stürzen möchte – wo ich sie immer noch umschlungen halten würde, wenn wir beide längst tot wären.
Es kam zu einem Ende, und ich wurde wieder frei. In der Familie war eine Tante, die mich nicht leiden mochte. Ich zweifle, daß irgend jemand von der Familie mich leiden mochte; aber ich kümmerte mich ja auch nicht darum, daß sie mich leiden mochten, so sehr nahm mich ganz und gar dieses eine Mädchen in Anspruch. Die Tante war eine junge Frau, und sie hatte eine ernste Art, mich mit ihren Augen zu beobachten. Sie war eine kecke Frau und sah mich mit unverhohlenem Mitleid an. Nach einer von den Nächten, von denen ich gesprochen, kam ich vor dem Frühstück in ein Gewächshaus.
Charlotte (so hieß meine falsche junge Freundin) war vor mir hinuntergegangen, und ich hörte, wie ihre Tante mit ihr von mir sprach, als ich eintrat. Ich blieb einen Augenblick stehen, wo ich war, und lauschte, von dem Laub versteckt.
Die Tante sagte: »Charlotte, Miss Wade quält dich zu Tode, und das darf nicht fortdauern.« Ich wiederhole wörtlich, was ich gehört hatte.
Was antwortete sie nun? Sagte sie: »Ich bin es, die sie zu Tode quält, ich, die sie beständig auf der Folter hält, ich bin der Henker, und doch sagt sie mir jede Nacht, dass sie mich von Herzen liebt, obwohl sie weiß, was sie von mir zu erdulden hat?« Nein. Meine erste denkwürdige Erfahrung entsprach ganz dem, was ich von ihr erwartet, und all meinen übrigen Erfahrungen. Sie begann zu schluchzen und zu weinen (um sich die Teilnahme der Tante zu sichern) und sagte: »Liebe Tante, sie hat ein unglückliches Temperament; auch andere Mädchen in der Schule, außer mir, geben sich viele Mühe, es zu bessern: wir geben uns alle viele Mühe.«
Als sie dies sagte, liebkoste die Tante sie, als wenn sie etwas Edles gesagt hätte, statt etwas Verächtliches und Falsches, und ging auf die niederträchtige Behauptung durch die Antwort ein: »Aber es gibt für alles Vernünftige Grenzen, mein liebes Kind, und ich sehe, daß dies arme dürftige Mädchen dir mehr beständigen und nutzlosen Schmerz verursacht, als sogar ein so guter Zweck rechtfertigt.«
Das arme dürftige Geschöpf trat aus seinem Schlupfwinkel hervor, wie Sie sich wohl denken können, und sagte: »Schicken Sie mich nach Hause.« Ich habe nie ein anderes Wort zu einem von ihnen gesprochen als: »Schicken Sie mich nach Hause, oder ich werde allein heimgehen, bei Tag und Nacht!« Als ich nach Hause kam, erzählte ich meiner vermeintlichen Großmutter, wenn man mich zur Vollendung meiner Erziehung nicht anderswohin schicke, ehe dies Mädchen oder eines von den andern zurückkäme, so würde ich mir lieber die Augen ausbrennen, indem ich mich selbst in das Feuer würfe, als den Anblick ihrer intriganten Gesichter ertragen.
Ich kam darauf unter andre junge Mädchen und fand sie nicht besser. Schöne Worte und schöner Schein: aber ich durchschaute diese Versicherungen von sich und ihre Herabsetzungen meiner Person, und sie waren nicht besser. Ehe ich sie verließ, erfuhr ich, daß ich keine Großmutter und keine anerkannten Verwandten hatte. Ich beleuchtete mit dem Lichte dieses Wissens meine Vergangenheit und meine Zukunft. Es zeigte mir viele neue Gelegenheiten, wo Leute über mich triumphierten, während sie sich den Anschein gaben, als behandelten sie mich voll Rücksicht oder erwiesen mir einen Dienst.
Ein Geschäftsmann hatte für mich ein kleines Vermögen zu verwalten. Ich sollte Gouvernante werden und kam in die Familie eines armen Edelmanns, der zwei Töchter hatte – kleine Mädchen, aber die Eltern wünschten sie womöglich unter einer Erzieherin aufwachsen zu lassen. Die Mutter war jung und hübsch. Vom ersten Augenblick an machte sie es recht in die Augen fallend, daß sie mich mit großem Zartgefühl behandeln wolle. Ich behielt meinen Groll für mich; aber ich wußte recht wohl, daß dies ihre Art war, sich mit dem Bewußtsein zu schmeicheln, daß sie meine Herrin sei und ihre Dienerin anders behandeln könnte, wenn ihr das in den Sinn käme.
Ich sage, daß ich keinen Groll hegte, und es war auch nicht der Fall; aber ich zeigte ihr, indem ich ihr nicht zu Gefallen lebte, daß ich sie durchschaute. Wenn sie mich aufforderte, Wein zu nehmen, so nahm ich Wasser. Wenn etwas ausgesucht Feines auf den Tisch kam, so schickte sie es immer mir; aber ich lehnte, es stets ab und aß von den verschmähten Gerichten. Dies Zurückweisen ihrer Gönnerschaft war ein scharfer Gegendruck und gab mir ein Gefühl der Unabhängigkeit. Ich liebte die Kinder. Sie waren schüchtern, aber im ganzen sehr willig, sich an mich anzuschließen. Es war jedoch eine Kinderfrau im Hause, eine Frau mit einem rosigen Gesicht, die immer ihre Heiterkeit und ihre gute Stimmung jedermann aufdrängte: sie hatte beide gestillt und sich ihre Liebe zu erwerben gewußt, ehe ich sie sah. Ich hätte, wenn diese Frau nicht gewesen wäre, mit meinem Schicksal zufrieden sein können. Ihre Kunstgriffe, ihren beständigen Wettkampf mit mir vor den Kindern zu zeigen, hätte manches Mädchen an meiner Stelle nicht bemerkt; aber ich durchschaute sie vom ersten Augenblick an. Unter dem Vorwand, in meinem Zimmer aufzuräumen und mich zu bedienen und für meine Garderobe zu sorgen (was sie alles mit großer Geschäftigkeit besorgte), war sie beständig um mich. Der schlauste ihrer vielen Kunstgriffe war die Art, wie sie sich stellte, als gebe sie sich Mühe, die Kinder mich liebgewinnen zu lehren. Sie führte sie mit allen möglichen Liebkosungen zu mir. »Kommt zur guten Miß Wade, kommt zur lieben Miß Wade, kommt zur hübschen Miß Wade. Sie liebt euch so sehr. Miß Wade ist eine gescheite Dame, die eine Menge von Büchern gelesen hat und euch weit bessere und interessantere Geschichten erzählen kann als ich. Kommt und hört Miß Wade zu!« Wie konnte ich ihre Aufmerksamkeit gewinnen, während mein Herz gegen diese gemeinen Pläne sich empörte? Wie konnte ich mich wundern, wenn ich sah, wie ihre unschuldigen Gesichter sich abwandten und ihre Arme sich um den Hals der Kinderfrau schlangen statt um den meinen. Dann sah sie mich wieder an, strich die Haare aus dem Gesicht und sagte: »Sie werden bald zu Ihnen kommen. Miß Wade; sie sind sehr einfach und herzensgut; grämen Sie sich nicht deshalb, Ma’am.« Das war ein Triumph für sie.
Noch etwas anderes tat die Frau. Bisweilen, wenn sie sah, daß es ihr gelungen war, mich auf diese Weise in ein finsteres, dumpfes Brüten zu versetzen, richtete sie die Aufmerksamkeit der Kinder darauf und zeigte ihnen den Unterschied zwischen ihr und mir. »Still! Die arme Miß Wade ist nicht wohl. Macht kein Geräusch, Kinder, sie hat Kopfweh. Kommt, tröstet sie. Kommt und fragt sie, ob sie sich besser befinde. Kommt und bittet sie, daß sie sich zu Bett lege. Ich hoffe, Sie haben doch keinen Kummer, der Sie drückt, Ma’am? Nehmen Sie’s nicht so schwer, Madame, und grämen Sie sich nicht.«
Es wurde unausstehlich. Als die gnädige Frau, meine Herrin, eines Tages, da ich allein war, zu mir kam und ich recht lebhaft fühlte, daß ich es nicht länger ertragen könne, sagte ich ihr, daß ich um meine Entlassung bitten müsse. Ich könne das Zusammensein mit dieser Dawes nicht ertragen.
»Miß Wade! Die arme Dawes hat Sie ja so sehr lieb: sie würde alles für Sie tun!«
Ich wußte es im voraus, daß sie das sagen würde; ich war ganz darauf vorbereitet; ich antwortete nur, es sei nicht meine Sache, meiner Herrin zu widersprechen; ich müsse gehen.
»Ich hoffe, Miß Wade«, versetzte sie, indem sie augenblicklich den Ton der Überlegenheit anschlug, den sie bis dahin so schwach verdeckt hatte, »daß nichts, was ich seit unsrem Zusammensein gesagt oder getan habe, Ihren Gebrauch dieses unangenehmen Wortes ›Herrin‹ gerechtfertigt habe. Es müßte ganz unabsichtlich von meiner Seite geschehen sein. Bitte sagen Sie mir, was es ist.«
Ich antwortete, daß ich mich nicht zu beklagen habe, weder über meine Herrin, noch gegen meine Herrin; aber ich müßte fort.
Sie war einen Augenblick unschlüssig, setzte sich aber dann neben mich und legte ihre Hand auf die meine, als wenn diese Ehre jede Erinnerung verwischen würde.
»Miß Wade, ich fürchte, Sie sind unglücklich, aus Gründen, auf die ich keinen Einfluß habe.«
Ich lächelte, indem ich an die Erfahrung dachte, die dieses Wort mir vor Augen rief, und sagte: »Ich habe vermutlich ein unglückliches Temperament.«
»Ich sagte das nicht.«
»Es läßt sich auf solche Weise alles erklären«, sagte ich.
»Wohl möglich; aber ich sagte das nicht. Was ich zu berühren wünschte, ist etwas ganz anderes. Mein Gemahl und ich haben mehrmals darüber gesprochen, seit wir mit Schmerz bemerkt haben, daß Sie sich nicht behaglich bei uns fühlen.«
»Behaglich? Oh! Sie sind so vornehme Leute, Mylady«, sagte ich.
»Ich bin unglücklich, wenn ich ein Wort gebrauchte – und offenbar ist dies der Fall -, das gar nicht in meiner Absicht lag. (Sie hatte meine Antwort nicht erwartet, die sie in Verlegenheit setzte.) Ich meinte nur, daß Sie sich nicht glücklich bei uns fühlen. Es ist ein schwieriger Gegenstand, über den nicht leicht zu sprechen ist: aber eine junge Frau kann das doch wohl gegenüber einer andern tun, – kurz, wir haben befürchtet, daß gewisse Familienverhältnisse, an denen niemand weniger schuld sein kann als Sie, auf Ihren Geist niederdrückend wirken möchten. Wenn dies der Fall ist, so lassen Sie uns bitten, daß Sie sich nicht zu sehr darüber grämen. Mein Gatte selbst, wie wohl bekannt ist, hatte früher eine sehr liebe Schwester, die nicht seine rechtmäßige Schwester war, die jedoch allgemein beliebt und geachtet war.«
Ich sah gleich, daß sie mich nur wegen dieser Verstorbenen aufgenommen hatte, wer diese auch war, nur um mir diese gegenüberzustellen und dadurch einen Vorteil über mich zu haben: ich sah darin, daß die Kinderfrau es wußte, eine Aufmunterung für sie, mich zu quälen, wie sie es getan hatte; und ich sah in dem Fernbleiben der Kinder den Ausdruck des unbestimmten Gefühls, daß ich nicht sei wie andere Leute. Ich verließ noch am selben Abend das Haus.
Nach ein oder zwei kurzen ähnlichen Erfahrungen, die hier zu erzählen unnütz wäre, trat ich in eine andere Familie, wo ich nur einen Zögling hatte: ein Mädchen von fünfzehn Jahren, die einzige Tochter des Hauses. Die Eltern waren ältliche Leute: Leute von Rang und Vermögen. Ein Neffe, den sie auferzogen, besuchte neben manchen andern Gästen das Haus häufig, und er begann, mir den Hof zu machen. Ich war entschlossen, ihn zurückzuweisen: denn ich hatte den festen Vorsatz, als ich in diese Familie eintrat, mich von niemand mitleidig und herablassend behandeln zu lassen. Aber er schrieb mir einen Brief. Es führte dazu, daß wir uns verlobten.
Er war ein Jahr jünger als ich und sah noch jünger aus, als diese Verlobung eingegangen wurde. Er war auf Urlaub von Indien, wo er einen Posten innehatte, der bald sehr einträglich zu werden versprach. In sechs Monaten wollten wir uns heiraten und dann nach Indien gehen. Ich sollte im Hause bleiben, und im Hause sollte auch die Hochzeit gefeiert werden. Niemand hatte etwas gegen die Sache einzuwenden.
Ich kann nicht verschweigen, daß er mich bewunderte: aber ich würde es gern, wenn ich es könnte. Eitelkeit ist bei dieser Erklärung nicht im Spiel, denn seine Bewunderung quälte mich. Er gab sich keine Mühe, sie zu verbergen: ja, er machte nur den Eindruck, als stellte er mich unter den reichen Leuten aus, um zu zeigen, daß er mich wegen meines Gesichts gekauft und seinen Kauf rechtfertigen wolle. Sie schätzten mich im stillen ab, wie ich sah, und waren neugierig, was wohl mein voller Wert wäre. Ich war entschlossen, sie es nicht wissen zu lassen. Ich war unbeweglich vor ihnen und stumm und hätte mich lieber von jedem von ihnen töten lassen, als daß ich mich zur Schau gestellt, um mir ihren Beifall zu erringen.
Er sagte mir, ich handle ungerecht gegen mich. Ich sagte ihm, das sei nicht der Fall, und gerade weil ich gegen mich gerecht sei und bis zum letzten Augenblick bleiben würde, wolle ich mich nicht herablassen, einen von ihnen zu gewinnen zu suchen. Er war betroffen und sogar verletzt, als ich hinzufügte, ich wünschte, er würde seine Neigung zu mir nicht so zur Schau tragen: aber er sagte, er wolle selbst diese ehrlichen Regungen seiner Liebe meinem Frieden opfern.
Unter diesem Vorwand begann er Vergeltung an mir zu üben. Ganze Stunden lang hielt er sich fern von mir, indem er mit jedermann eher als mit mir sprach. Ich saß halbe Abende lang allein und unbemerkt, während er mit seiner jungen Kusine, meinem Zögling, sich unterhielt. Während dieser Zeit las ich in den Augen der Leute, daß sie dachten, diese beiden paßten besser zusammen als er und ich. Ich ahnte ihre Gedanken und erwog sie lange bei mir, während ich so dasaß, bis ich fühlte, daß sein junges Aussehen mich lächerlich mache, und ich habe gegen mich gewütet, daß ich ihn jemals geliebt hatte.
Denn ich liebte ihn einst. So wenig er es verdiente und so wenig er an all diese Kämpfe dachte, die es mich kostete, – Kämpfe, die ihn hätten bis an mein Lebensende mir ganz zu eigen und dankbar machen sollen – liebte ich ihn. Ich ertrug es, daß seine Kusine ihn mir ins Gesicht lobte und zu glauben vorgab, daß es mir Freude mache, obgleich sie wohl wußte, daß es mir das Herz zerriß. Ich ertrug es um seinetwillen. Während ich in seiner Gegenwart dasaß und mir alles von ihm geschehene Unrecht, alle Vernachlässigungen ins Gedächtnis zurückrief und mir überlegte, ob ich nicht gleich aus dem Hause fliehen sollte, um es nie wieder zu sehen, – liebte ich ihn.
Seine Tante – man wolle sich erinnern, daß es meine Herrin war – trug absichtlich und wohlüberlegt zu meinen Prüfungen und Qualen bei. Es machte ihr Vergnügen, sich in Schilderungen unseres Lebens in Indien und des Hauses, das wir machen, und der Gesellschaft, die wir bei uns sehen würden, sobald er sein Avancement habe, zu ergehen. Mein Stolz empörte sich gegen dieses plumpe Hervorheben des Kontrastes, in dem mein Leben als Frau zu meiner gegenwärtigen abhängigen und untergeordneten Stellung stehen würde. Ich verbarg meine Entrüstung; aber ich zeigte ihr, daß ihre Absicht an mir nicht unerreicht bleibe, und bezahlte ihre Quälereien mit geheuchelter Demut. Was sie schildere, sei sicherlich zu viel Ehre für mich, sagte ich dann gewöhnlich. Ich fürchtete, einen so großen Wechsel der Verhältnisse nicht ertragen zu können, wenn man sich denke, eine Gouvernante, die Gouvernante ihrer Tochter, die zu einer so hohen Auszeichnung gelange! Sie war verlegen, und alle übrigen waren verlegen, wenn ich auf solche Weise antwortete. Sie wußten, daß ich sie vollständig verstand.
Gerade zu der Zeit, als meine Qual am höchsten gestiegen und ich am aufgebrachtesten gegen die Undankbarkeit meines Geliebten war – der sich so wenig um die zahllosen Kränkungen kümmerte, die ich um seinetwillen erfuhr, erschien Ihr teurer Freund, Mr. Gowan, in dem Hause. Er war mit demselben seit lange befreundet, aber auf Reisen gewesen. Er merkte mit einem Blick, wie es stand, und verstand mich.
Er war die erste Person, die mir je im Leben begegnet, die mich verstand. Er war nicht dreimal bei uns gewesen, als ich schon wußte, daß er jeder Regung meines Geistes folgte. In seiner kalten nachlässigen Weise, wie er sich gegen alle und gegen mich benahm und die ganze Sache behandelte, sah ich das deutlich. In seiner flüchtigen Beteurung der Bewunderung meines künftigen Gatten, in seinem Enthusiasmus über unsere Verbindung und unsere Aussichten, in seinem hoffnungsvollen Glückwunsch zu unserm künftigen Reichtum und seinen niedergeschlagenen Äußerungen über seine Armut – alle gleich hohl, ironisch und voll Spott – sah ich das klar. Er machte mich immer ungehaltener über mich und lehrte mich, mich verachten, indem er mir alles, was mich umgab, in einem neuen hassenswerten Lichte zeigte, während er sich beständig den Anschein gab, als stelle er sie mir in ihrem besten Lichte, zu meiner und seiner Bewunderung dar. Er war wie der aufgeputzte Tod in den holländischen Totentänzen; was für eine Gestalt es sein mochte, die er mit seinem Arm umfaßte, mochte sie jung oder alt sein, hübsch oder häßlich, ob er mit ihr tanzte, sang, spielte oder betete, sie bekam ein geisterhaftes Aussehen.
Sie werden begreifen, daß, wenn Ihr teurer Freund mir Komplimente machte, er mich wirklich bedauerte: daß, wenn er mich in meinem Kummer zu trösten suchte, er jede schmerzende Wunde bloßlegte: daß, wenn er erklärte, mein »getreuer Schäfer« zu sein, der verliebteste junge Mann mit dem zärtlichsten Herzen, das jemals geschlagen, er meine alte Besorgnis wieder wachrief, man mache mich lächerlich. Das waren keine großen Dienste, werden Sie sagen. Sie waren dennoch annehmbar für mich, weil sie das Echo meines eigenen Gefühls waren und meine eigene Ansicht bestätigten. Ich war bald gern in der Gesellschaft Ihres teuren Freundes, lieber als in jeder andern.
Als ich gewahr wurde (was fast sogleich geschah), daß Eifersucht daraus entstand, war mir diese Gesellschaft noch lieber. Hatte ich nicht selbst von Eifersucht leiden müssen und sollte ich allein leiden? Nein. Er sollte wissen, was es ist. Ich freute mich, daß er es erfahren sollte; ich freute mich, daß er es tief empfand, und ich hoffte es. Mehr noch. Er war zahm im Vergleich mit Mr. Gowan, der mich auf gleichem Fuß zu behandeln verstand und unsre elende Umgebung zu zergliedern wußte.
Das ging so fort, bis die Tante, meine Herrin, es übernahm, mit mir zu sprechen. Es sei kaum der Rede wert: sie wüßte, ich dächte nichts dabei: aber sie möchte von sich aus die Andeutung machen, und sie wisse, daß eine solche genüge, ob es nicht besser wäre, wenn ich etwas weniger mit Mr. Gowan verkehrte.
Ich fragte sie, wie sie für das, was ich meinte, stehen könne? Sie antwortete, sie könne gewiß dafür stehen, daß ich nichts Böses dabei denke. Ich dankte ihr, sagte jedoch, ich würde vorziehen, für mich selbst zu stehen und mir selbst Rede zu stehen. Ihre andern Diener würden ihr wahrscheinlich für ein gutes Zeugnis dankbar sein, aber ich brauchte keines.
So gab ein Wort das andere, und es bot sich die Veranlassung, sie zu fragen, wie sie wisse, daß es nur eine Andeutung von ihr bedürfe, um mich gehorchen zu machen? Ob sie meine Geburt oder meinen Lohn dabei in Anschlag bringe? Ich sei nicht mit Leib und Seele gekauft. Sie scheine zu glauben, daß ihr ausgezeichneter Neffe auf den Sklavenmarkt gegangen und sich eine Frau erhandelt habe.
Es würde wahrscheinlich früher oder später zu dem Ende gekommen sein, zu dem es kam, aber sie brachte die Sache sogleich zur Entscheidung. Sie sagte mir mit gemachtem Mitleid, daß ich ein unglückliches Temperament habe. Bei dieser Wiederholung der alten boshaften Beleidigung hielt ich nicht länger an mich, sondern setzte ihr alles auseinander, was ich von ihr wußte und gesehen, und was ich innerlich durchgemacht, seitdem ich diese verabscheuungswerte Stellung, mit ihrem Neffen verlobt zu sein, eingenommen hätte. Ich sagte ihr, Mr. Gowan sei mein einziger Trost in meiner Erniedrigung; ich hätte es zu lange ertragen und schüttle es zu spät ab; aber ich wolle nie wieder einen von ihnen zu Gesicht bekommen. Und dies geschah auch.
Ihr werter Freund folgte mir in meine Einsamkeit und war sehr drollig, wenn er über den Bruch des Verhältnisses sprach: obgleich ihm auch die ausgezeichneten Leute leid taten (in ihrer Art die besten, die er kannte) und die Notwendigkeit bedauerte, bloße Stubenfluren rädern zu müssen. Er beteuerte bald und weit aufrichtiger, als ich vermutete, daß er nicht wert sei, vor einer Frau von solchen Gaben und solcher Charakterkraft Gnade zu finden: aber – schon gut, schon gut! –
Ihr werter Freund amüsierte mich und amüsierte sich, solange er daran Geschmack fand; und dann erinnerte er mich, daß wir beide Leute von Welt seien und daß wir beide die Welt kennten, daß wir beide wüßten, es gebe keine Poesie auf Erden, daß wir beide darauf gefaßt seien, verschiedene Wege zu gehen, um unser Glück zu suchen wie vernünftige Menschen, und daß wir beide einsähen, wenn wir uns wieder einmal begegnen sollten, wir uns als die besten Freunde von der Welt begrüßen würden. So sagte er, und ich widersprach ihm nicht.
Es dauerte nicht lange, so entdeckte ich, daß er seiner gegenwärtigen Frau den Hof machte, und daß man mit ihr weggereist sei, um sie aus seinem Bereich zu bringen. Ich haßte sie damals, ganz wie ich sie jetzt noch hasse; und ich konnte deshalb natürlich nichts mehr wünschen, als daß sie ihn heirate. Aber ich hatte keine Ruhe mehr, ich mußte sie sehen – ich war so neugierig, daß ich fühlte, es sei einer der wenigen Genüsse, die mir noch geblieben wären. Ich machte einige kleine Reisen: reiste, bis ich mit ihr zusammenkam und mit ihr und ihnen reiste. Ihr teurer Freund war, wie ich glaube, Ihnen damals noch nicht bekannt, und er hatte Ihnen noch keinen jener ausgezeichneten Beweise seiner Freundschaft gegeben, mit denen er Sie seitdem beschenkte.
In dieser Gesellschaft befand sich ein Mädchen, dessen Lage in verschiedenen Beziehungen der meinen so ähnlich war, und in dessen Charakter ich mit Interesse und Freude viel von dem als mir eigentümlich bezeichneten Widerstand gegen anmaßende Gönnerschaft und Selbstsucht fand, die sich Freundlichkeit, Herablassung, Wohlwollen und andre schönen Namen beilegt. Ich hörte oft von ihr sagen, »daß sie ein unglückliches Temperament habe«. Da ich wohl wußte, was durch diese bequeme Phrase gesagt werden sollte, und da ich eine Gefährtin brauchte, die wußte, was ich wußte, und erfahren, was ich erfahren hatte, so kam ich auf den Gedanken, das Mädchen von ihrer Sklaverei und dem Gefühl ungerechter Behandlung zu befreien. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, daß es mir gelang.
Wir haben die ganze Zeit zusammen gelebt und meine kleinen Mittel miteinander geteilt.