Vierundzwanzigstes Kapitel.
Von Demoiselle Snevelliccis großem Benefiz und Nicolaus‘ erstem Auftreten auf der Bühne.
Nicolaus war am Morgen zeitig aufgestanden. Er hatte aber kaum begonnen, sich anzukleiden, als er Tritte auf der Treppe vernahm und bald darauf auch durch die Stimmen des Pantomimisten, Herrn Folair, und des tragischen Helden, Herrn Lenville, begrüßt wurde.
»Zu Hause? zu Hause?« rief Herr Folair.
»Hollaho! Ist er drinnen?« tönte Herrn Lenvilles Baßstimme.
»Hol‘ der Henker die Kerle!« dachte Nicolaus. »Die wollen wahrscheinlich ein Frühstück. – Haben Sie nur einen Augenblick Geduld, ich werde sogleich die Tür öffnen.«
Die Herren baten ihn, sich nicht zu übereilen; und um sich inzwischen die Zeit zu vertreiben, hielten sie auf dem sehr engen Flur zum nicht geringen Verdruß der um einen Stock weiter unten wohnenden Mieter mit ihren Spazierstöcken eine Fechtübung.
»Wollen Sie jetzt hereinkommen«, sagte Nicolaus, als er seine Toilette beendigt hatte. »Um Himmels willen – aber machen Sie außen keinen solchen Lärm.«
»Ein ungemein behagliches Nestchen«, sagte Herr Lenville, ins Zimmer tretend, nachdem er vorher seinen Hut abgenommen hatte, um durchkommen zu können, »verdammt nett.«
»Für einen Mann, der in derartigen Dingen etwas eigen ist, dürfte es nur ein bißchen gar zu behaglich sein«, entgegnete Nicolaus; »denn obgleich es unbezweifelt sehr bequem ist, etwas, das man braucht, von der Decke, dem Boden oder den Wänden ablangen zu können, ohne den Stuhl zu rücken, so sind doch diese Vorteile nur in einem Zimmer von dem allerbeschränktesten Umfange möglich.«
»Es ist nichts weniger als zu klein für einen einzelnen Mann«, erwiderte Herr Lenville. »Das erinnert mich indessen an meine Frau, Herr Johnson; ich hoffe, sie wird eine hübsche Rolle in Ihrem Stück bekommen?«
»Ich überflog gestern nacht das Französische«, sagte Nicolaus; »ich denke, es wird sich gut machen.«
»Was gedenken Sie für mich zu tun, Kamerad?« fragte Herr Lenville, indem er mit seinem Spazierstock in dem spärlichen Feuer umherstocherte und denselben nachher an seinen Rockschößen abwischte. »Gibt es etwas Wildes und Tobendes darin?«
»Sie werfen Weib und Kinder zum Hause hinaus«, antwortete Nicolaus, »und erstechen in einem Anfall von Wut und Eifersucht Ihren ältesten Sohn.«
»Habe ich wirklich etwas der Art?« rief Herr Lenville. »Nun, das lasse ich mir gefallen.«
»Dann«, fuhr Nicolaus fort, »kriegen Sie Gewissensbisse bis zum letzten Akt und kommen zu dem Entschluß, sich das Leben zu nehmen. Wenn Sie aber die Pistole vor die Stirne halten, schlägt eine Glocke – zehn.«
»Ich merke«, rief Herr Lenville. »Sehr gut.«
»Sie halten inne«, sprach Nicolaus weiter. »Sie erinnern sich, in Ihrer Kindheit einmal eine Glocke zehn schlagen gehört zu haben. Die Pistole entsinkt Ihrer Hand – Sie sind überwältigt – Sie brechen in Tränen aus und werden ein tugend- und musterhafter Charakter für Ihr ganzes übriges Leben.«
»Fabelhaft!« rief Herr Lenville. »Das ist ein sicherer Trumpf – ein sicherer Trumpf. Wenn der Vorhang bei einer so natürlichen Rührung sinkt, so kann der Erfolg nur ein Triumph sein.«
»Gibt’s auch was Gutes für mich?« fragte Herr Folair besorgt.
»Lassen Sie sehen«, sagte Nicolaus. »Sie spielen den treuergebenen Diener und werden mit Weib und Kind zum Fenster hinausgeworfen.«
»Immer gepaart mit diesem höllischen Wunderkinde«, seufzte Herr Folair. »Wahrscheinlich beziehen wir dann ein armseliges Quartier, wo ich keinen Lohn nehme und mit sentimentalen Phrasen um mich werfe?«
»Richtig«, versetzte Nicolaus, »das ist der Gang des Stücks.«
»Ich muß einen Tanz dabei haben«, entgegnete Herr Folair. »Jedenfalls werden Sie einen für das Wunderkind einlegen müssen. Es geht dann in einem hin, wenn Sie ihn zu einem Tanz zu zweien machen.«
»Nichts ist leichter als das«, meinte Herr Lenville, als er die verlegene Miene des angehenden dramatischen Dichters bemerkte.
»Auf Ehre, ich sehe nicht, wie sich’s tun läßt«, erwiderte Nicolaus.
»Aber das springt ja in die Augen«, erklärte Herr Lenville. »Tausend Element, wenn Sie das nicht einsehen, so sind Sie blind. Sie bringen die unglückselige Dame, das kleine Kind und den treuen Diener in ihre armselige Wohnung, nicht wahr? – Nun schauen Sie einmal. Die unglückliche Dame sinkt in einen Stuhl und begräbt ihr Gesicht in ihr Schnupftuch. – ›Warum weinst du, Mama?‹ sagt das Kind. ›Weine nicht, Mama, oder du machst mich auch weinen.‹ – ›Und mich‹, sagt der treue Diener, der dabei seine Augen mit dem Rockärmel reibt. – ›Was können wir tun, um dich zu ermuntern, Mama?‹ sagt das kleine Kind. – ›Ach ja, was können wir tun?‹ sagt der treue Diener. – ›O Pierre‹, sagt die Dame, ›!ch wollte, ich könnte diese schmerzlichen Gedanken abschütteln.‹ – ›Versuchen Sie es, versuchen Sie es‹, sagt der treue Diener; ›geben Sie sich Mühe und erheitern Sie sich, Madame.‹ – ›Ich will lernen, meine Leiden mit Standhaftigkeit zu ertragen‹, sagt die Dame. ›Erinnerst du dich noch des Tanzes, mein ehrlicher Freund, den du in glücklicheren Tagen mit diesem süßen Engel aufführtest? Er hat damals nie verfehlt, mein Gemüt zu beruhigen. O laß mich ihn noch einmal sehen, ehe ich sterbe.‹ – Da haben wir’s – Stichwort für das Orchester, ›ehe ich sterbe‹ – und dann geht´s drauf und los! So ist’s ganz wunderschön – nicht wahr, Thomas?«
»Ja, ja«, erwiderte Herr Folair; »die unglückliche Dame, von alten Erinnerungen überwältigt, fällt am Ende des Tanzes in Ohnmacht, und Sie schließen die Szene mit einer schönen Gruppierung.«
Nicolaus nahm sich diese und andere Lehren, die das Ergebnis einer langjährigen Erfahrung der beiden Schauspieler waren, zu Herzen, gab ihnen ein so gutes Frühstück, wie es in seinen Kräften stand, und machte sich, sobald er sie endlich losgeworden war, an seine Arbeit, die er zu seinem größten Vergnügen weit leichter fand, als er anfangs gedacht hatte. Er war den ganzen Tag über
ungemein fleißig und verließ sein Zimmer erst gegen Abend, um nach dem Schauspielhaus zu gehen, wo sich Smike bereits früher eingefunden hatte und eben im Begriff war, mit einem anderen Herrn die Vorbereitungen zu einem allgemeinen Auftritt einzuleiten.
Die Personen waren hier durchgängig so verändert, daß er sie kaum mehr kannte. Falsches Haar, falsche Waden, falsche Farben, falsche Muskeln – sie waren ganz neue Wesen geworden. Herr Lenville erschien als ein jugendlicher Krieger von ausgezeichneter Schönheit, Herr Crummles, der sein breites Gesicht durch eine verfilzte Masse schwarzer Haare beschattete, als ein hochländischer Geächteter voll majestätischer Haltung, der eine der alten Herren als ein Gefängniswärter und der andere als ein ehrwürdiger Patriarch. Der komische Bauer war ein tapferer Degen mit einer Beimischung von Humor, die beiden jungen Crummles in Purpur geborene Prinzen und der blöde Liebhaber ein verzagender Gefangener. Für den dritten Akt war ein grandioses Bankett vorbereitet, das aus zwei Pappendeckelschüsseln, einem Zwiebackteller, einer Schuhputzflasche und einem Essigkrug bestand – kurz, alle Zurüstungen trugen das Gepräge des höchsten Prunkes.
Nicolaus stand mit dem Rücken gegen den Vorhang gekehrt und betrachtete die Dekorationen der ersten Szene, in denen sich hauptsächlich ein gotischer Bogengang auszeichnete, der ungefähr zwei Fuß niedriger als Herr Crummles war und den ebengenannten Herrn bei seinem ersten Auftreten durchlassen sollte, oder horchte auf ein paar Leute, die eben auf der Galerie Nüsse knackten. Er machte sich eben seine Gedanken, ob diese wohl das ganze Auditorium bildeten, als der Direktor auf ihn zukam und ihn vertraulich anredete.
»Sind Sie schon unten gewesen?« fragte Herr Crummles.
»Nein, noch nicht«, antwortete Nicolaus. »Ich habe es erst im Sinne, wenn das Spiel beginnt.«
»Wir haben schon eine recht hübsche Einnahme gehabt«, sagte Herr Crummles. »Vier Vordersitze im Parkett und die ganze Seitenloge.«
»Wirklich?« versetzte Nicolaus. »Vermutlich eine Familie.«
»Ja«, entgegnete Crummles. »Es ist rührend mit anzusehen – sechs Kinder, die nur kommen, wenn das Wunderkind spielt.«
Es möchte wohl schwer gewesen sein, das Theater an einem Abend zu besuchen, wo das Wunderkind nicht spielte, da es bei jeder Vorstellung wenigstens in einer, nicht selten aber auch in zwei oder drei Rollen auftrat. Aber Nicolaus, der die Gefühle eines Vaters zu würdigen wußte, enthielt sich, auf diesen nichts besagenden Umstand hinzudeuten, und ließ daher Herrn Crummles fortsprechen.
»Also sechs; Papa und Mama acht, Tante neun, Gouvernante zehn, Großvater und Großmutter zwölf. Dann ist noch der Diener da, der mit einem Korb Orangen und einem Krug Brotwasser außen steht und durch eine kleine Glasscheibe in der Logentür umsonst zusieht – alles das für den Spottpreis einer Guinee. Sie gewinnen dadurch, daß sie eine Loge nehmen.«
»Es nimmt mich wunder, daß Sie für dieses Geld so viele zulassen«, bemerkte Nicolaus.
»Ist nicht zu ändern«, versetzte Herr Crummles. »Auf dem Lande sind sie das so gewöhnt. Wenn sechs Kinder da sind, so kommen auch sechs Erwachsene mit, um sie auf den Schoß zu nehmen. Eine Familienloge enthält immer die doppelte Personenzahl. – Klingeln Sie dem Orchester, Grudden.«
Diese zu allem brauchbare Dame tat, wie ihr geheißen war, und gleich darauf hörte man drei Geigen stimmen. Das hielt so lange an, wie mutmaßlich die Geduld des Publikums dauerte, worauf dann wieder zum Zeichen, daß die Musik ernstlich anfangen solle, geklingelt wurde, und das Orchester begann nun einige Volksweisen mit unfreiwilligen Variationen zu spielen.
War Nicolaus schon über den Wechsel, der mit den männlichen Schauspielern vorgegangen, verwundert, so schien ihm die Umwandlung der Damen noch viel außerordentlicher. Aus einem behaglichen Winkel der Direktorloge sah er Demoiselle Snevellicci in der ganzen Glorie eines weißen, mit einem Goldsaum versehenen Musselinkleids, Madame Crummles in der vollen Majestät der Gattin eines Geächteten, Demoiselle Bravassa mit aller Süßigkeit einer Busenfreundin der Demoiselle Snevellicci und Demoiselle Belvawney in den weiten seidenen Höschen eines Pagen, der überall seine Pflicht tut und schwört, in dem Dienste von jedermann zu leben und zu sterben. Er konnte bei dem Anblick aller dieser Herrlichkeiten seine Bewunderung nicht zurückhalten, sondern bezeugte diese durch lebhaftes Beifallsklatschen und eine möglichst gespannte Aufmerksamkeit auf alles, was auf der Bühne vorging. Das Stück war höchst interessant. Es gehörte keiner besondern Zeit, keinem besondern Volke, keinem besondern Lande an und war vielleicht deshalb nur um so ergötzlicher, da niemand auch nur die entfernteste Ahnung davon haben konnte, wie es enden würde. – Ein Geächteter hatte irgendwo etwas glücklich durchgeführt und kam unter Jubel und Geigenschall triumphierend in seine Heimat zurück, um seine Gattin, eine Dame von männlicher Seele, zu begrüßen, die viel von den Gebeinen ihres Vaters sprach, die noch unbeerdigt zu sein schienen, obgleich sich nicht ausfindig machen ließ, ob dieser wichtige Umstand auf einem seltsamen Geschmack des alten Herrn selbst oder auf einer unverzeihlichen Nachlässigkeit von seiten seiner Verwandten beruhte. Das Weib des Geächteten kam auf irgendeine Weise mit einem Patriarchen in Verbindung, der in einem fernen Schlosse lebte, und dieser Patriarch war der Vater mehrerer in dem Stücke vorkommenden Personen, obgleich er nicht genau wußte, welcher. Er geriet in Ungewißheit darüber, ob er die rechten oder die unrechten im Schlosse aufgezogen hätte, und da er deshalb sehr unruhig wurde und sich eher zu der letzteren Ansicht hinneigte, so suchte er den Sturm seiner Seele durch ein Bankett zu beschwichtigen, bei welcher Feierlichkeit jemand in einem Mantel rief: »Nimm dich in acht!« Kein Mensch – das Publikum ausgenommen – wußte, daß dieser jemand der Geächtete selbst war, der sich aus unerklärlichen Gründen, vielleicht mit einer Absicht auf die silbernen Löffel, gleichfalls eingefunden hatte. Eine angenehme kleine Überraschung gaben gewisse Liebeshändel zwischen dem verzagenden Gefangenen und Fräulein Snevellicci, dem humoristischen Degen und Fräulein Bravassa. Herr Lenville spielte mehrere höchst tragische Szenen im Dunkeln, bei Gelegenheit von gurgelschneiderischen Unternehmungen, die aber alle durch die Gewandtheit und den Mut des humoristischen Degens, der das ganze Stück über den Horcher gespielt hatte, und durch die Unerschrockenheit der Demoiselle Snevellicci, die sich in Hosen mit einem Körbchen voll Erfrischungen und einer Blendlaterne nach dem Gefängnisse ihres Geliebten begab, vereitelt wurden.
Endlich kam es heraus, daß der Patriarch der Mann war, der die Gebeine von dem Schwiegervater des Geächteten so geringschätzig behandelt hatte. Darum erschien die Gattin des Geächteten auf dem Schlosse des Patriarchen, um ihn zu töten. Sie gelangte daselbst in ein finsteres Gemach, wo nach langem Herumtappen im Finstern jedermann jemandem faßte und noch außerdem für jemanden hielt, wodurch eine große Verwirrung mit einigem Pistolenschießen, Umbringen und schließlichem Fackeltanz herbeigeführt wurde. Dann kam der Patriarch zum Vorschein und erklärte mit einem gar klugen Gesichte, daß er jetzt alles hinsichtlich seiner Kinder wisse und ihnen alles sagen wolle, wenn sie mit ihm hineingingen. Er bemerkte dabei zugleich, daß es keine geschicktere Gelegenheit geben könne, die jungen Leute zu vermählen, als die gegenwärtige. Deshalb legte er ihre Hände ineinander unter voller Beistimmung des unermüdlichen Pagen, der die einzige weitere am Leben gebliebene Person war und nun mit seiner Mütze nach den Wolken, mit der Rechten aber nach der Erde deutete, um den Segen des Himmels dadurch herabzuflehen und dem Vorhang den Wink zu geben, daß er sich niedersenken möchte, was denn auch dieser unter allgemeinem Beifall tat.
»Was sagen Sie dazu?« fragte Herr Crummles, als Nicolaus wieder auf die Bühne kam.
Herr Crummles war sehr rot und erhitzt, denn ein Geächteter muß ganz verzweifelt schreien.
»In der Tat ein außerordentliches Stück«, versetzte Nicolaus. »Namentlich war Fräulein Snevellicci ungemein gut.«
»Das Mädchen ist ein Genie«, sagte Herr Crummles, »ein wahres Genie. Übrigens, ich habe im Sinne, Ihr Stück zu ihrem Benefiz auf die Bühne zu bringen. Bei einem solchen Anlaß muß es notwendig ziehen; und selbst für den Fall, daß es nicht ganz so ausfällt, wie wir erwarten, so begreifen Sie leicht, daß das Risiko auf ihrer Seite und nicht auf der unsrigen ist.«
»Auf der Ihrigen, wollen Sie sagen«, entgegnete Nicolaus.
»Sagte ich nicht auf der meinigen?« erwiderte Herr Crummles. »Nächsten Montag über acht Tage. Was sagen Sie dazu? Sie sind dann damit fertig und haben gewiß auch lange vorher die Liebhaberrolle einstudiert.«
»Von einem ›lange vorher‹ wird wohl keine Rede sein«, sagte Nicolaus; »aber um diese Zeit denke ich gesattelt zu sein.«
»Gut also«, versetzte Herr Crummles, »wir können die Sache als abgemacht betrachten. Aber nun muß ich Sie noch etwas anderes fragen. Bei solchen Gelegenheiten muß ein bißchen – wie soll ich es nur nennen – ein bißchen Werben stattfinden.«
»Bei den Gönnern, denke ich?« sagte Nicolaus.
»Freilich, bei den Gönnern. Die Sache ist nämlich die: die Snevellicci hat hier schon so viele Benefize gehabt, daß es eines besonderen Lockmittels bedarf. Sie hatte ein Benefiz, als ihre Stiefmutter starb, und ein zweites nach dem Tode ihres Onkels. Ich und meine Frau haben Benefize gehabt an dem Jahrestag der Geburt des Wunderkindes, an dem unserer Verehelichung und bei andern derartigen Anlässen, so daß es in der Tat etwas schwer hält, ein gut begründetes Benefiz zusammenzubringen. Wollen Sie nicht dem armen Mädchen Beistand leisten, Herr Johnson?« fügte Herr Crummles bei, indem er sich auf eine Trommel niederließ und, während er seine Nase mit einer Prise Schnupftabak füllte, Nicolaus fest ins Auge faßte.
»Wie soll ich das verstehen?« versetzte Nicolaus.
»Glauben Sie nicht, morgen früh ein halbes Stündchen erübrigen zu können, um mit ihr einige der angesehensten Personen dieser Stadt zu besuchen?« flüsterte der Theaterdirektor in einem überredenden Tone.
»Bewahre«, entgegnete Nicolaus mit der Miene des lebhaftesten Widerwillens; »dazu habe ich keine Lust.«
»Das Kind geht auch mit«, sagte Herr Crummles. »Ich gab auf der Stelle die Erlaubnis dazu. Es liegt durchaus nichts Ungebührliches darin; denn Demoiselle Snevellicci ist eine äußerst achtbare Dame. Es würde ihr einen wesentlichen Dienst leisten; – der Herr von London – Verfasser des neuen Stücks, der selbst in demselben spielt – erstes Auftreten auf den Brettern – es müßte das Haus füllen, Herr Johnson.«
»Ich möchte nicht gerne jemandem eine Aussicht verkümmern, am allerwenigsten einer Dame«, erwiderte Nicolaus; »aber in der Tat, ich muß es entschieden ablehnen, an dem Werbegang teilzunehmen.«
»Was sagt Herr Johnson dazu, Vincent?« fragte eine Stimme dicht neben Nicolaus, und als er sich umsah, bemerkte er Madame Crummles und Fräulein Snevellicci unmittelbar hinter sich stehen.
»Er weigert sich, meine Liebe«, antwortete Herr Crummles mit einem Blick auf Nicolaus.
»Er weigert sich?« rief Madame Crummles – »nicht möglich!«
»Ach, ich hoffe nicht«, sagte Fräulein Snevellicci. »Gewiß, Sie sind nicht so grausam. Du mein Himmel! Nur so etwas denken zu müssen, nachdem man so zuversichtlich darauf gehofft hat.«
»Herr Johnson wird nicht darauf bestehen, meine Liebe«, sagte Madame Crummles. »Wir denken besser von ihm und sind überzeugt, daß Ritterlichkeit, Menschenfreundlichkeit und alle besseren Gefühle seines Wesens sich vereinigen werden, um ihn für die Sache zu gewinnen.«
»Um so mehr, da sogar der Direktor sein Wort einlegt«, fügte Herr Crummles lächelnd bei.
»Und die Gattin eines Direktors«, sagte Madame Crummles in ihrem gewohnten Tragödientone. »Kommen Sie, kommen Sie; ich weiß gewiß, daß Sie sich erweichen lassen.«
»Ich bin nicht stark genug«, sagte Nicolaus, der sich durch so viele Aufforderungen rühren ließ, »einer Bitte zu widerstehen, solange nicht etwas entschieden Unrechtes von mir verlangt wird; und außer einem kleinen Gefühl von Stolz wüßte ich nicht, was mich in dem gegenwärtigen Falle hindern könnte. Ich kenne hier niemanden und bin selbst auch unbekannt. So sei’s denn. Ich gebe nach.«
Fräulein Snevellicci errötete einmal über das andere und konnte ihres Dankes gar kein Ende finden, mit welch letzterer Ware auch Herr und Madame Crummles keineswegs geizten. Es wurde die Übereinkunft getroffen, daß Nicolaus am nächsten Morgen um elf Uhr Demoiselle Snevellicci abholen sollte, und bald darauf trennte sich die Gesellschaft – er, um nach Hause zu gehen und an seinem Drama zu arbeiten, Fräulein Snevellicci, um sich für das Nachspiel anzukleiden, und der uneigennützige Theaterdirektor nebst Gattin, um den wahrscheinlichen Gewinn des besprochenen Benefizes zu berechnen, von dessen Ertrag ihnen kontraktmäßig zwei Drittel zufallen sollten.
Des andern Morgens erschien Nicolaus zur bestimmten Stunde bei Fräulein Snevellicci, die in dem Hause eines Schneiders in der Lombardstraße wohnte. Die Hausflur durchdrang ein starker Bügeleisengeruch, und die Tochter des Schneiders, die die Tür öffnete, erschien in jener Unordnung und Aufgeregtheit, die gewöhnlich die periodischen Hauswäschen begleiten.
»Wohnt hier Fräulein Snevellicci?« fragte Nicolaus, als die Tür geöffnet war.
Die Schneiderstochter bejahte.
»Wollen Sie wohl die Güte haben, ihr zu sagen, daß Herr Johnson hier sei?« fuhr Nicolaus fort.
»Ah, belieben Sie nur die Stiege heraufzukommen«, versetzte die Schneiderstochter.
Nicolaus folgte der jungen Dame und wurde in ein kleines Zimmer des ersten Stocks geführt, das mit einem Nebenstübchen in Verbindung stand, in dem, wie er aus einem gewissen gedämpften Klirren der Tassen entnahm, Fräulein Snevellicci ihr Frühstück im Bett einnahm.
»Sie möchten sich gefälligst ein wenig gedulden«, sagte die Schneiderstochter nach einer kurzen Abwesenheit, währenddem das Klirren in dem Nebenstübchen nachgelassen und einem Flüstern Platz gemacht hatte.
Mit diesen Worten machte sie die Fensterläden auf, und als sie dadurch Herrn Johnsons Aufmerksamkeit von dem Fenster weg nach der Straße abgeleitet zu haben glaubte, nahm sie einige am Kamin aufgehängte Gegenstände weg, die eine große Ähnlichkeit mit Strümpfen und dergleichen hatten, und schoß damit hinaus.
Da sich außerhalb des Fensters nicht viel Anziehendes bot, so blickte Nikolaus mit mehr Neugierde im Zimmer umher, als er diesem vielleicht sonst geschenkt haben würde. Auf dem Sofa lagen eine alte Gitarre, mehrere abgegriffene Musikstücke und eine Partie zerstreuter Haarwickeln, nebst einigen wirr übereinander liegenden Theaterzetteln, und einem Paar beschmutzter weißer Atlasschuhe mit großen blauen Rosetten. Über einer Stuhllehne hing ein halbfertiges Musselinschürzchen mit kleinen, von roten Bändern gesäumten Seitentaschen, wie es allenfalls ein Kammerkätzchen auf dem Theater und eben deshalb keine andere ehrliche Frauenzimmerseele zu tragen pflegt. In einer Ecke stand das winzige Paar Stulpenstiefel, in dem Fräulein Snevellicci den kleinen Jockey spielte, und gleich nebenan befand sich, auf einem Stuhl zusammengeschlagen, ein kleines Päckchen, das eine verdächtige Ähnlichkeit mit den zu den Stiefeln gehörigen Hosen trug.
Aber der ansprechendste Gegenstand war wohl ein Album, das zwischen einigen wirr umherliegenden Theaterschriften aufgeschlagen lag, und in dem sich verschiedene kritische Notizen über Demoiselle Snevelliccis Spiel – Auszüge aus verschiedenen Provinzzeitungen – befanden, unter denen man auch einen poetischen Erguß lesen konnte, der folgermaßen begann:
»Sing, Liebesgott, und sag, in welcher Not
Der Himmel uns die Snevellicci bot,
So hochbegabt, um uns mit ihren Tränen
Und ihrem heitern Aug das Leben zu verschönern.«
Außer diesem hohen dichterischen Schwung las man auch unzählige schmeichelhafte Anspielungen aus Zeitungen, z. B.: ›Wir entnehmen aus einer Ankündigung auf einer andern Seite der heutigen Nummer unseres Blattes, daß die bezaubernde und hochbegabte Demoiselle Snevellicci künftigen Dienstag eine Benefizvorstellung gibt, für welche Gelegenheit sie eine Speisekarte ausgelegt hat, die sogar imstande wäre, Heiterkeit in der Brust des Menschenhassers zu entzünden. In der Überzeugung, daß unsere Mitbürger den Sinn für die gehörige Würdigung hoher Vorzüge und persönlichen Wertes, durch den sie sich seit langen Jahren so vorteilhaft auszeichneten, nicht verloren haben, glauben wir, ihr versprechen zu dürfen, daß diese bezaubernde Schauspielerin von einem vollen Hause begrüßt werden wird.‹ – ›An die Korrespondenten. J. S. ist irrig berichtet, wenn er glaubt, daß die hochbegabte und schöne Demoiselle Snevellicci, die jeden Abend in unserem hübschen und bequemen kleinen Theater aller Herzen gewinnt, nicht dieselbe Dame sei, der der junge Edelmann von unermeßlichem Vermögen, der etwa hundert Meilen von der guten Stadt York wohnt, einen Heiratsantrag gemacht hat. Wir wissen es aus der zuverlässigsten Quelle, daß Fräulein Snevellicci wirklich die in jenes geheimnisvolle und romantische Abenteuer verwickelte Dame ist, deren Benehmen bei diesem Anlasse ihrem Kopf und Herzen nicht weniger Ehre machte, als ihre Bühnentriumphe die sprechendsten Belege für ihr hohes Talent sind. Eine ganze Sammlung derartiger Artikel, nebst langen Zetteln von Benefizvorstellungen, die immer mit der in sehr großen Buchstaben gedruckten Aufforderung ›man komme früh‹ schlossen, bildeten den Hauptinhalt von Demoiselle Snevelliccis Album.
Nicolaus hatte einen großen Teil dieser aufgeklebten Papierabschnitte durchgelesen. Er hatte sich eben in einen umständlichen und trauervollen Bericht über ein Ereignis vertieft, wonach Fräulein Snevellicci auf einer Orangenschale, die ein Ungeheuer in Menschengestalt – so sagte die Zeitung – auf die Bühne von Winchester geworfen hatte, ausglitt und den Fuß verrenkte. Da trippelte diese junge Dame selbst mit ihrem Kohlenkübelhut auf dem Kopf und vollständig zum Ausgehen angekleidet in das Zimmer. Sie bat tausendmal um Verzeihung, daß sie ihren verehrten Freund so lange über die bestimmte Zeit hingehalten hätte.
»Aber die gute Led«, fuhr Fräulein Snevellicci fort, »mit der ich zusammen wohne, wurde in der letzten Nacht so krank, daß ich glaubte, sie würde in meinen Armen den Geist aufgeben.«
»Ich könnte sie um dieses Los fast beneiden«, versetzte Nicolaus, »obschon es mir um der Dame willen leid tut.«
»Ah, wie Sie zu schmeicheln wissen«, sagte Fräulein Snevellicci, indem sie in süßer Verwirrung ihren Handschuh zuknöpfte.
»Wenn es Schmeichelei ist, Ihre Reize und Ihre sonstigen hohen Vorzüge zu bewundern«, entgegnete Nicolaus, seine Hand auf das Album legend, »so haben Sie hier noch bessere Proben davon.«
»Ach, Sie entsetzlicher Mensch – so etwas zu lesen! Ich kann Ihnen in der Tat vor Scham nicht mehr ins Gesicht sehen«, entgegnete Fräulein Snevellicci, indem sie das Album nahm und in einen Schrank schloß. »Die unachtsame Led! Wie konnte sie nur so etwas tun?«
»Ich dachte, Sie seien so gütig gewesen, es hier zu lassen, damit ich es lese«, sagte Nicolaus.
Und in der Tat, dies schien sehr möglich.
»Um keinen Preis hätte ich es Sie sehen lassen!« versetzte Fräulein Snevellicci. »Ich könnte mich zu Tod ärgern; aber sie ist zu unbekümmert – man kann ihr nichts anvertrauen.«
Das Gespräch wurde hier durch das Eintreten des Wunderkindes unterbrochen, das bis zu diesem Augenblick gar rücksichtsvoll in dem Nebenzimmer geblieben war und sich nun ungemein graziös mit einem sehr kleinen, grünen, breitgefransten Sonnenschirm ohne Handgriff präsentierte. Nach einigen weiteren Worten traten sie ihren Gang an.
Das Wunderkind erwies sich als eine sehr lästige Begleitung; denn zuerst gingen ihr die Bänder ihres rechten und dann ihres linken Schuhes auf, und als diese Unfälle gutgemacht waren, zeigte sich’s, daß das eine Bein der weißen Höschen länger als das andere war; dann fiel der grüne Sonnenschirm in einen eisernen Abtropftrog und konnte nur mit vieler Mühe wieder aufgefischt werden. Da sie die Tochter des Direktors war, so durfte man natürlich nicht mit ihr zanken, weshalb Nicolaus alles in bestmöglicher Laune hinnahm und – Fräulen Snevellicci mit dem einen, das lästige Wunderkind mit dem andern Arme führend – weiter ging.
Das erste Haus, zu dem sie ihre Schritte lenkten, lag auf einer vornehm aussehenden Terrasse. Auf Fräulein Snevelliccis bescheidenes Anklopfen öffnete ein Laufbube, der auf die Frage der Schauspielerin, ob Madame Curdle zu Hause sei, die Augen weit aufriß, den Mund bis an die Ohren verzog und die Antwort gab, daß er es nicht wisse, aber nachsehen wolle. Er führte sie dann in ein Zimmer, wo er sie warten ließ, bis zwei weibliche Dienstboten unter irgendeinem scheinbaren Vorwande die Schauspieler beaugenscheinigt hatten. Erst nachdem in der Hausflur eine Weile geflüstert und gekichert worden war, ging der Junge die Treppe hinauf, um Demoiselle Snevellicci anzumelden.
Madame Curdle galt unter denen, die sich auf derartige Sachen verstanden, als eine Dame, die in Literatur- und Theaterangelegenheiten ganz den Londoner Geschmack besaß. Herr Curdle hatte eine Abhandlung von vierundsechzig Seiten Großoktav über den Charakter des seligen Mannes der Amme in ›Romeo und Julia‹ geschrieben, in der er die Frage erörterte, ob er zu seinen Lebzeiten wirklich ein ›lustiger Mann‹ gewesen, oder ob ihm seine Witwe nur aus zärtlicher Parteilichkeit dieses Prädikat beigelegt hätte. Ebenso war auch von ihm der Beweis geliefert worden, daß jedes von Shakespeares Stücken durch eine veränderte Interpunktion zu einem ganz andern gemacht werden würde und einen durchaus verschiedenen Sinn erhielte. Es ist daher unnötig, zu sagen, daß er ein großer Kritiker und ein sehr tiefer, höchst origineller Denker war.
»Ach, Fräulein Snevellicci«, sagte Madame Curdle, als sie ins Empfangszimmer trat; »wie geht es Ihnen?«
Fräulein Snevellicci machte einen anmutigen Knix und hoffte, daß sich Madame Curdle wohlbefände; desgleichen Herr Curdle, der in diesem Augenblick in das Zimmer trat. Madame Curdle war in einen Frisiermantel gekleidet und hatte ein kleines Häubchen ganz oben auf ihrem Kopf sitzen. Herr Curdle trug einen weiten Schlafrock und hielt seinen rechten Zeigefinger an die Stirn, etwa wie man’s auf Sternes Porträt6 sehen kann, mit dem er, wie ihm einer oder der andere einmal gesagt hatte, eine sprechende Ähnlichkeit hatte.
»Ich wagte es, bei Ihnen vorzusprechen, um mir Ihren Namen für mein Benefiz zu erbitten, Madame«, sagte Fräulein Snevellicci, Papiere zum Vorschein bringend.
»Ah, ich weiß in der Tat nicht, was ich sagen soll«, versetzte Madame Curdle. »Die Glanzperiode des Theaters ist dahin – nehmen Sie doch Platz, Fräulein Snevellicci; mit dem Drama ist’s vorbei, vollkommen vorbei!«
»Als eine schöne Verkörperung der Phantasiegebilde des Dichters, als eine Verwirklichung des menschlichen Geistes, die unsere träumerischen Augenblicke mit strahlendem Lichte vergoldet und dem geistigen Auge eine neue zauberhafte Welt auftut – von diesem Standpunkte aus betrachtet, ist es mit dem Drama vorbei – vollkommen vorbei«, sagte Herr Curdle.
»Wer unter den jetzigen Lebenden ist imstande, uns alle jene wechselnden und vielfachen Farben vorzuführen, in denen uns Hamlets Charakter erscheint?« rief Madame Curdle.
»Ja wer – auf der Bühne nämlich –«, sagte Herr Curdle, der in dem letzteren Beisatz einen Vorbehalt zu seinen eigenen Gunsten aussprach. »Hamlet? – Ach, lächerlich! Mit Hamlet ist’s vorbei – vollkommen vorbei.«
Ganz ergriffen durch diese schmerzlichen Betrachtungen, seufzten Herr und Madame Curdle und saßen eine Weile da, ohne zu sprechen. Endlich wandte sich die Dame an Fräulein Snevellicci und fragte, auf welches Stück ihre Wahl gefallen wäre.
»Auf ein ganz neues«, antwortete Fräulein Snevellicci. »Herr Johnson hier ist der Verfasser desselben und erweist mir die Ehre selbst mitzuspielen. Es ist sein erstes Auftreten.«
»Ich hoffe. Sie haben die Einheiten bewahrt7, Sir?« fragte Herr Curdle.
»Das Original ist französisch«, erwiderte Nicolaus. »Es ist reich an Handlung, der Dialog lebendig, die Charaktere scharf gezeichnet –«
»Nützt alle« nichts ohne strenge Berücksichtigung der Einheiten, Sir«, versetzte Herr Curdle. »Die Einheiten des Dramas sind die Hauptsache.«
»Darf ich fragen«, entgegnete Nicolaus, der zwischen der Achtung, die er beobachten zu müssen glaubte, und zwischen dem Hange, eine Lächerlichkeit zu verfolgen, schwankte – »darf ich fragen, was Sie unter den Einheiten verstehen?«
Herr Curdle hustete und überlegte.
»Die Einheiten, Sir«, sagte er endlich, »sind eine Vollständigkeit, eine Art allgemeinen Zusammenklangs hinsichtlich des Ortes und der Zeit – ein gewisses generelles Vereinigtsein, wenn ich mich eines so kräftigen Ausdrucks bedienen darf. Dies betrachte ich als die dramatischen Einheiten, soweit ich ihnen meine Aufmerksamkeit zuwenden konnte, und gewiß – ich habe viel über den Gegenstand gelesen und nachgedacht. Wenn ich die Darstellungen dieses Kindes durchgehe«, fuhr Herr Curdle gegen das Wunderkind fort, »so finde ich eine Einheit des Gefühls, einen Umfang, einen Wechsel des Kolorits, eine Wärme der Farben, einen Ton, eine Harmonie, eine Glut, eine künstlerische Entwicklung origineller Auffassungen, nach denen ich mich vergebens unter älteren Schauspielern umsehe. Ich weiß nicht, ob ich mich Ihnen begreiflich gemacht habe?«
»Vollkommen«, versetzte Nicolaus.
»Nun gut«, sagte Herr Curdle, sein Halstuch zurechtzupfend; »das ist meine Definition der dramatischen Einheiten.«
Madame Curdle hatte dieser lichtvollen Entwicklung mit großem Wohlgefallen zugehört und fragte dann, was Herr Curdle von der Subskription dächte.
»Ich weiß nicht, meine Liebe – auf Ehre, ich weiß nicht«, sagte Herr Curdle. »Wenn wir es tun, so geschieht es natürlich unter dem Vorbehalt, daß man unser Erscheinen nicht als eine Bürgschaft für die gute Darstellung nimmt. Die Welt muß erfahren, daß wir besagter Darstellung durch unsere Namen keine garantierende Empfehlung erteilen wollen, sondern daß diese Auszeichnung nur auf Rechnung der Person der Demoiselle Snevellicci kommt. Unter dieser Voraussetzung betrachte ich es sozusagen als eine Pflicht, daß wir einer gesunkenen Bühne unseren Schutz zuteil werden lassen, wäre es auch nur um der Ideenverbindungen willen, die sich daran ketten. Können Sie zwei Schillinge und sechs Pence auf eine halbe Krone herausgeben, Fräulein Snevellicci?« fragte Herr Curdle, indem er vier Stücke von dieser Geldsorte durch die Finger laufen ließ.
Fräulein Snevellicci suchte in allen Ecken ihres rosa Strickbeutels nach, aber da war nichts zu finden. Nicolaus murmelte einen Scherz über die leeren Taschen der Schriftsteller und hielt es für das beste, die Förmlichkeit des Umhertastens in den seinigen ganz zu unterlassen.
»Warten Sie«, sagte Herr Curdle; »zweimal vier ist acht; vier Schillinge für ein Logenbillett, Fräulein Snevellicci, ist ungemein teuer für den gegenwärtigen Zustand des Dramas. Drei halbe Kronen sind sieben Schillinge und sechs Pence. Ich denke, wir werden uns wegen sechs Pence nicht veruneinigen – was meinen Sie, Fräulein Snevellicci?«
Das arme Fräulein Snevellicci nahm die drei halben Kronen mit vielem Lächeln und Knixen, und Madame Curdle gab noch einige nachträgliche Anweisungen hinsichtlich des Aufbewahrens ihrer Plätze, des Ausstäubens der Sitze und zweier sauberer Theaterzettel, die sie gleich aus der Druckerei haben wollte, worauf sie zum Zeichen, daß die Audienz geschlossen sei, die Klingel zog.
»Abgeschmacktes Volk!« sagte Jucolaus, als sie die Straße erreicht hatten.
»Glauben Sie mir«, versetzte Fräulein Snevellicci, seinen Arm nehmend, »ich darf mich sehr glücklich schätzen, daß Sie nicht alles schuldig geblieben sind und nur sechs Pence abgezogen haben. Geben Sie acht, wenn Ihr Stück Beifall erhält, so muß alle Welt hören, daß man Sie immer begünstigt habe: Fallen Sie aber durch, so hat man das schon von Anfang an vorausgesehen.«
In dem nächsten Haus, das sie besuchten, blühte ihnen ein glorreicher Empfang; denn hier wohnten die sechs Kinder, die von den öffentlichen Leistungen des Wunderkindes so ganz und gar hingerissen waren, und die jetzt, als man sie um der besagten jungen Dame willen aus der Kinderstube heruntergerufen hatte, ihr mit den Fingern nach den Augen griffen, sie auf die Zehen traten und ihr noch viele andere kleine Aufmerksamkeiten bewiesen, die diesem Lebensalter eigentümlich sind.
»Ich werde zuverlässig Herrn Borum bereden, eine ganze Loge zu nehmen«, sagte die Dame des Hauses nach einem ungemein huldreichen Empfange. »Ich will aber nur zwei von den Kindern mitnehmen, die übrigen Plätze aber mit Herren besetzen – Bewunderern von Ihnen, Fräulein Snevellicci. August, du Galgenstrick, laß doch das kleine Mädchen gehen!«
Die Schlußworte galten einem jungen Herrchen, das das Wunderkind von hinten kniff, augenscheinlich in der Absicht, sich zu überzeugen, ob es ein wirkliches Mädchen oder eine Puppe wäre.
»Sie sind wahrscheinlich sehr ermüdet«, sagte die Mama zu Fräulein Snevellicci; »Ich kann Sie daher unmöglich gehen lassen, ohne daß Sie vorher ein Glas Wein annehmen. Pfui, Charlotte, schäme dich doch! Mamsell Lane, ich muß bitten, daß Sie auf die Kinder besser achthaben.«
Mamsell Lane war die Gouvernante, und die an sie gerichtete Aufforderung war durch das zwanglose Benehmen des jüngsten Fräuleins Borum nötig geworden, das dem Wunderkinde den kleinen grünen Sonnenschirm weggemaust hatte und ihn eben fortschleppte, während die bestürzte Eigentümerin trostlos nachsah.
»Ach, wo haben Sie auch nur Ihr Spiel gelernt?« fuhr die gutmütige Frau Borum gegen Fräulein Snevellicci fort. »Ich kann gar nicht begreifen – Emma, laß doch diese Grimmassen –, wie man in dem einen Augenblick lachen und dem andern weinen kann; und das alles so natürlich! –«
»Ich fühle mich ungemein glücklich, aus Ihrem Munde ein so günstiges Urteil zu vernehmen«, sagte Fräulein Snevellicci. »Ich bin ganz entzückt, mich Ihres Beifalls zu erfreuen.«
»Ja, ja, wem sollten Sie nicht gefallen?« rief Madame Borum. »Ich würde zweimal wöchentlich ins Theater gehen, wenn ich könnte, denn ich bin ganz darin vernarrt. Sie werden nur bisweilen gar zu rührend. Sie versetzen mich in einen Zustand, daß ich laut aufschluchzen muß! Barmherziger Himmel, Mamsell Lane, wie können Sie nur zusehen, wenn die Rangen das arme Kind so quälen.«
Das Wunderkind war wirklich auf gutem Wege, in Stücke zerrissen zu werden; denn zwei kräftige kleine Jungen hatten sich ihrer Hände bemächtigt und zogen sie, um ihre Stärke zu versuchen, nach verschiedenen Richtungen. Mamsell Lane waren übrigens die erwachsenen Schauspieler viel zu wichtig, als daß sie auf solche Kleinigkeiten hätte achten können, weshalb sie erst infolge dieser Aufforderung dem kleinen Mädchen zu Hilfe kam. Man erquickte es nun mit einem Glas Wein, und bald nachher entfernte es sich mit seinen Begleitern, ohne einen ernsteren Schaden genommen zu haben, als daß sein rosa Gazehut plattgedrückt und das weiße Kleid nebst den Höschen ziemlich zerknüllt worden war.
Es war in der Tat ein Morgen der Prüfung; denn noch viele andere Häuser mußten besucht werden, und jedermann wollte etwas anderes. Einige wünschten Trauerspiele, andere Lustspiele, die einen machten Einwürfe gegen den Tanz, die andern wollten fast nichts als Tänze. Einige meinten, der komische Sänger wäre entschieden schlecht, andere hofften, er würde mehr zu tun bekommen, als gewöhnlich der Fall wäre. Einige wollten nicht versprechen zu kommen, weil andere nicht hatten versprechen wollen zu kommen, und wieder andere Leute wollten nicht kommen, weil andere kamen. Fräulein Snevellicci mußte in dem einen Haus versichern, daß sie etwas weggelassen, in dem andern, daß sie etwas beifügen wolle, und verpflichtete sich zu einem Theaterzettel, der, wenn er auch sonst kein anderes Verdienst hätte, wenigstens umfassend genug wäre (er enthielt nämlich unter andern Kleinigkeiten vier Stücke: einige Arien, ein paar Zweikämpfe und mehrere Tänze), und dann kehrten sie völlig erschöpft von der Anstrengung des Tages nach Hause zurück.
Nicolaus beendigte sein Stück, von dem sogleich eine Leseprobe gehalten wurde, und machte sich dann an seine eigene Rolle, die er mit großem Fleiße einstudierte und nach dem Urteil der ganzen Gesellschaft ganz vortrefflich spielte. Endlich erschien der große Tag. Die Ausrufer wurden am Morgen herumgeschickt, um die Unterhaltung des Abends in allen Straßen bei dem Klang der Schelle zu verkündigen. Besondere Zettel von drei Fuß Länge und neun Zoll Breite wurden in allen Richtungen ausgeteilt, in die Hausflure geworfen, unter die Türklopfer gesteckt, in allen Läden aufgelegt und auch an den Wänden der Häuser angeklebt, obgleich hier der Erfolg nicht vollkommen entsprach; denn wegen Krankheit des regelmäßigen Zettelanklebers hatte eine nicht wissenschaftlich gebildete Person dieses Amt übernommen und einen Teil in die Quere und den Rest verkehrt aufgepappt.
Um halb sechs Uhr strömten vier Leute nach der Galerietür: um dreiviertel auf sechs waren es wenigstens ein Dutzend; um sechs Uhr waren die Fußstöße gegen die Tür fürchterlich: und als der ältere Herr Crummles endlich öffnete, sah er sich genötigt, hinter die Tür zu treten, um sein Leben zu retten. In den ersten zehn Minuten waren schon fünfzehn Schillinge in die Kasse geflossen.
Hinter den Kulissen herrschte dieselbe ungewohnte Aufregung. Fräulein Snevellicci war so in Schweiß gebadet, daß die Schminke kaum auf ihrem Gesicht halten wollte. Madame Crummles fühlte sich so angegriffen, daß sie sich kaum auf ihre Rolle besinnen konnte. Fräulein Bravassas Haare gingen vor Hitze und Angst aus den Locken, der Direktor selbst aber sah fleißig durch das Loch im Vorhang und eilte hin und wieder zurück, um anzukünden, daß wieder ein Neuer in dem Parterre angekommen wäre.
Endlich schwieg das Orchester, und der Vorhang ging in die Höhe. Die erste Szene, in der nichts Besonderes vorfiel, lief ruhig genug ab, aber als in der zweiten Demoiselle Snevellicci von dem Wunderkinde begleitet auftrat – welch ein donnernder Beifallslärm! Die Leute in der Borumloge standen wie ein Mann auf, winkten mit ihren Hüten und Taschentüchern und brüllten ihre Bravos. Madame Borum und die Gouvernante warfen Kränze auf die Bühne, von denen einige die Lampen umwarfen und einer die Schläfen eines dicken Herrn im Parterre kränzte, der vor lauter Aufmerksamkeit, die er dem Stücke schenkte, dieser Ehre gar nicht einmal gewahr wurde. Der Schneider und seine Familie trampelten gegen das Getäfel der oberen Logen, daß es beinahe in Trümmer ging: der Ingwerbierjunge blieb ganz bezaubert in der Mitte des Hauses stehen, und ein junger Offizier, der als ein Anbeter der Demoiselle Snevellicci galt, drückte sein Monokel ins Auge, vielleicht um eine Träne zu verbergen. Fräulein Snevellicci knixte immer tiefer, und immer lauter und stürmischer wurde der Applaus. Er erreichte endlich seine höchste Höhe, als das Wunderkind einen der rauchenden Kränze aufhob und ihn von der Seite über Fräulein Snevelliccis Auge hielt, worauf das Stück seinen Fortgang nahm.
Aber als Nicolaus mit Madame Crummles seine Glanzszene aufführte – welch ein Klatschen ging da nicht los! Als ihn Madame Crummles (die seine unwürdige Mutter war) mit Hohnlachen einen anmaßenden Knaben nannte, und er ihr kühn Trotz bot – welch ein wütender Applaus! Als er mit dem andern Herrn wegen der jungen Dame Händel bekam und, ein Kästchen mit Pistolen hervorholend, erklärte, daß er sich, wenn er ein Mann von Ehre wäre, mit ihm in diesem Zimmer schießen müßte, bis das Mobilar mit dem Blut des einen, wenn nicht beider, bespritzt sei – zu welch einstimmigem Jubelruf vereinigten sich da nicht die Logen, Parterre und Galerie! Als er seiner Mutter allerlei Ehrentitel gab, weil sie das Vermögen der jungen Dame nicht herausgeben wollte, worauf sie endlich nachgab und dadurch auch ihn weicher stimmte, so daß er auf ein Knie niedersank und um ihren Segen flehte, wie weinten und schluchzten nicht da die Damen des Auditoriums alle zusammen! Als er hinter dem Vorhang versteckt war und der verruchte Verwandte mit einem scharfen Schwerte nach allen Richtungen, nur nicht nach der, wo man deutlich seine Beine sehen konnte, hinstieß, – welch ein Angstruf tönte dabei nicht durch das ganze Haus! Seine Miene, seine Haltung, sein Gang, sein Blick und alles, was er sagte oder tat, wurde gepriesen. Sooft er sprach, erscholl Beifallsrauschen durch den Raum. Und als endlich in der Brunnen- und Waschzuberszene Madame Grudden das bengalische Feuer anzündete und alle bei der Szene nicht beteiligten Mitglieder der Gesellschaft hereinkamen, um in verschiedenen Richtungen niederzustürzen – nicht weil solcherlei etwas mit der Entwickelung zu tun hatte, sondern bloß um mit einem Tableau zu enden –- so machte sich das Auditorium, das inzwischen beträchtlich angewachsen war, durch einen so tobenden, wiehernden und stampfenden Jubel Luft, wie er in Jahr und Tag in diesen Mauern nicht gehört worden war.
Mit einem Wort: das Glück sowohl des neuen Stückes wie des neuen Schauspielers war gemacht, und als Fräulein Snevellicci am Schlusse der Vorstellung herausgerufen wurde, präsentierte sie sich an Nicolaus‘ Arm, der an ihrem Beifall teilnahm.