34. Kapitel


34. Kapitel

Mark und Martin begeben sich in die Heimat und begegnen unterwegs einigen hervorragenden »Köpfen des Landes«

Unter den Reisenden an Bord des Dampfschiffs zog zuvörderst ein ausgemergelter Gentleman ihre Aufmerksamkeit auf sich, der, auf einem niedrigen Feldstuhl sitzend, die Beine auf ein Mehlfaß gelegt hatte, als wolle er mit seinen Fußknöcheln die Aussicht bewundern.

Er hatte straffes schwarzes Haar, in der Mitte des Kopfes gescheitelt und zu beiden Seiten über den Rockkragen niederwallend. Eine schmale Bartfranse umsäumte sein Kinn über dem bloßen Hals. Er trug einen weißen Hut, einen schwarzen Anzug, der an den Ärmeln zu lang und an den Beinen zu kurz war, schmutzige braune Strümpfe und Schnürstiefel. Sein Teint, von Natur schon unappetitlich, erschien noch schmutziger infolge der sorgsam geübten Sparsamkeit des Mannes hinsichtlich Seife und Wasser. Dasselbe traf auch bei allen waschbaren Teilen seiner Kleidung zu, die er ganz gut einmal zu seiner eigenen Bequemlichkeit sowohl wie aus Achtung für seinen Verkehr hätte wechseln können. Der Gentleman mochte ungefähr fünfunddreißig Jahre alt sein, saß unter dem Schatten eines großen grünen Baumwollschirms zu einem Häuflein zusammengekauert und kaute an seinem Tabakröllchen wie eine Kuh am Grase.

An all dem wäre nun nichts Auffälliges gewesen, denn jeder Gentleman an Bord schien mit seiner Wäscherin auf Kriegsfuß zu stehen und von früher Jugend auf das armselige, erbärmliche Geschäft, sich selbst zu waschen, aufgegeben zu haben. Überdies war jeder Gentleman sozusagen vollgepfropft mit Kautabak und, was die Gliedmaßen beim Sitzen und Liegen anbelangte, nahezu grotesk verrenkt. Im Äußern dieses Gentlemans lag jedoch eine so eigentümliche Mischung von Schlauheit und Weisheit, daß Martin sofort erkannte, er habe es hier mit einem durchaus nicht gewöhnlichen Charakter zu tun. Und schließlich stellte es sich auch heraus, daß dies tatsächlich der Fall war. »Wie geht’s, Sir?« tönte nämlich plötzlich eine Stimme in Martins Ohr.

»Wie geht’s Ihnen, Sir?« lautete Martins Erwiderung.

Der erste Sprecher war ein kleiner schmächtiger Gentleman mit einer Tuchmütze auf dem Kopf und einem langen, losen Rock aus grünwollenem Stoff, der an den Taschen mit schwarzem Samt verbrämt war. »Sie sind wohl aus Europa, Sir?«

»Allerdings«, antwortete Martin.

»Da können Sie von Glück sagen, Sir.«

Martin dachte das auch, bemerkte aber rechtzeitig, daß der Gentleman seine Bemerkung in einem ganz andern Sinne meinte, als es anfänglich geschienen.

»Da können Sie von Glück sagen, daß Sie Gelegenheit haben, unsern Elijah Pogram von Angesicht zu Angesicht kennenzulernen.«

»Ihren Elijahpogram?« versetzte Martin in der Meinung, es sei ein einziges Wort und bedeute irgendein öffentliches Gebäude.

»So ist es, Sir.«

Martin versuchte eine Miene zu machen, als ob er den Yankee verstehe, konnte aber der Sache nicht auf den Grund kommen.

»So ist es, Sir«, wiederholte der Gentleman. »Unser Elijah Pogram, Sir, sitzt in diesem Augenblick, wie er leibt und lebt, dort beim Dampfkessel«

In diesem Augenblick legte der Gentleman unter dem grünen Schirm seinen rechten Zeigefinger an die Augenbraue, als ob er soeben über höchst bedeutsame Fragen nachgrüble.

»So, so. Das also ist Elijah Pogram!« rief Martin.

»So ist es«, versetzte der Amerikaner. »Das ist Elijah Pogram.«

»Oh!« rief Martin. »Da staune ich wirklich außerordentlich!« In Wirklichkeit hatte er nicht die geringste Idee, wer Mr. Elijah Pogram sein könne, da er den Namen in seinem ganzen Leben noch nie gehört hatte.

»Wenn der Schiffskessel zerspringen sollte, Sir«, fing der Fremde wieder an, »jetzt in diesem Augenblick – so wäre dies ein Festtag im Kalender des Despotismus. In seinen Folgen für die Menschheit vielleicht ebenso groß, Sir, wie unser glorreicher vierter Juli. Jawohl, Sir, das ist seine Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram, Kongreßmitglied – einer der größten Geister unseres Landes. Sehen Sie sich einmal seine Stirne an.«

»Höchst bemerkenswert«, sagte Martin.

»So ist es, Sir. Als unser unsterblicher Chiggle, Sir, die berühmte Pogramstatue aus Marmor meißelte, die in ganz Europa zu soviel Streit und Geschrei Anlaß gab, soll er gesagt haben, die Stirne sei übermenschlich. Das war noch vor der allgemeinen Pogrambewegung und folglich eine verdammt gescheite Prophezeiung.«

»Was ist das: die Pogrambewegung?« fragte Martin, in der Meinung, es handle sich wahrscheinlich um eine Wirtshausreklame.

»Eigentlich Pogramtrutzbewegung, Sir«, verbesserte der Amerikaner.

»Ja, ja, natürlich«, rief Martin. »Wo hab ich denn meine Gedanken. Sie trotzte –«

»Sie trotzte der ganzen Welt, Sir«, ergänzte der Gentleman gravitätisch. »Die Bewegung forderte die Welt im allgemeinen heraus, sich mit uns zu messen, entwickelte das Programm der Erschließung unsrer innern Hilfsquellen, die uns instand setzen, das Universum zu bekriegen. Sie wünschen gewiß, Elijah Pogram kennenzulernen, Sir?«

»Wenn Sie die Güte haben wollten«, sagte Martin.

»Mr. Pogram«, rief der Fremde – Mr. Pogram hatte übrigens jedes Wort des Dialoges gehört – »hier steht ein Gentleman aus Europa, Sir; aus England, Sir; aber ich dächte, edeldenkende Feinde können ganz gut auf dem neutralen Boden des Privatlebens miteinander zusammenkommen.«

Der ausgemergelte Mr. Pogram schüttelte Martin die Hand, wie ein Uhrwerk, das soeben abläuft; aber quasi als Gegensatz dazu fing er gleich darauf wieder zu kauen an und bewegte langsam seine Kiefer wie ein Uhrwerk, das gerade aufgezogen wird.

»Mr. Pogram«, erklärte der Gentleman, »ist ein Diener der Öffentlichkeit. Wenn der Kongreß seine Ferien antritt, zeigt sich Mr. Pogram dem Volke in den einzelnen Bezirken der Vereinigten Freien Staaten, deren begabter Sohn er ist.«

Martin dachte, wenn seine Hochwohlgeboren Elijah Pogram zu Hause geblieben wäre und seine Schuhe allein auf Reisen geschickt hätte, daß damit der gleiche Zweck ebensogut erfüllt worden wäre; denn diese waren im Grunde genommen so ziemlich das Sehenswerteste an ihm.

Schließlich stand Mr. Pogram auf, und nachdem er ein paar Tabakknödel, die ihn in seiner Artikulation gehindert haben würden, ausgespuckt hatte, suchte er sich einen Platz, wo er sich bequem anlehnen konnte, und begann mit Martin zu plaudern, dabei sich stets mit seinem grünen Schirme beschattend.

Als er mit den Worten: »Wie gefällt Ihnen –« begann, fiel ihm Martin sofort in die Rede und ergänzte:

»Amerika, nicht wahr?«

»Jawohl, Sir«, versetzte Mr. Elijah Pogram. – Inzwischen hatte sich ein Häuflein Passagiere, um mit zuzuhören, was jetzt folgen werde, um sie versammelt, und Martin hörte den ersten Gentleman einem Herrn, sich die Hände reibend, zuflüstern:

»Geben Sie acht, Pogram wird ihm einheizen, daß er braun und blau anläuft. Mordsspaß, das.«

»Nun«, fuhr Martin nach einem kurzen Zögern fort, »ich weiß aus Erfahrung, daß ihr Amerikaner immer gern diese Frage stellt mit der Absicht, ein gewisses eingebildetes Übergewicht vis-à-vis einem Fremden zur Geltung zu bringen. Sie wollen eben nur eine ganz bestimmte Antwort zu hören bekommen und keine andere. Ich habe nun aber durchaus keine Lust, diese eine gewisse Antwort zu geben und kann es auch nicht mit gutem Gewissen tun. Deshalb will ich lieber schweigen.«

Mr. Pogram gedachte jedoch, in seiner nächsten Sitzung eine große Rede zu halten über die Urteile und Vorurteile des Auslandes und das Thema schriftstellerisch zu verwerten, und da er die »freie und unabhängige« Gewohnheit liebte, sich jede Art von »Auskunft« auf jede nur mögliche zudringliche Art zu verschaffen und sie dann öffentlich mit seinem Zwecke dienenden Verdrehungen zu benutzen, so ließ er sich nicht so leicht abspeisen und trachtete durch alle möglichen Mittel Martin seine Ansichten auf die eine oder die andere Weise herauszulocken; denn wäre ihm das nicht gelungen, so hätte er sich ja etwas erfinden müssen, und das wäre doch viel zu mühsam gewesen. Er notierte sich demgemäß im Geiste seine Antwort voraus und fing von neuem an:

»Sie kommen aus Eden, Sir. Wie hat Ihnen Eden gefallen?«

Martin sagte ihm seine Meinung über diesen Teil von Amerika ziemlich offen und in recht starken Ausdrücken.

»Sonderbar«, meinte Mr. Pogram und warf einen listigen Blick auf die Gruppe ringsum. »Der Haß gegen unser Vaterland und seine Institutionen und die nationale Antipathie im britischen Volksgebiet ist wahrhaftig tief eingewurzelt.«

»Gott im Himmel, Sir«, rief Martin. »Ist denn die Edener Landaktien-Gesellschaft mit Mr. Scadder an der Spitze mit all dem Jammer und Elend, das sie verschuldet, eine amerikanische Institution? Hat je ein Mensch gehört oder behauptet, daß sie einen Teil der hiesigen Regierungsform ausmache?«

»Ich bin der Ansicht«, sagte Mr. Pogram, abermals umherblickend, und nahm seine Rede wieder auf, wo ihn Martin unterbrochen, »der Grund liegt zum Teil in der Eifersucht und in den Vorurteilen, zum Teil in der angebotenen Untauglichkeit des britischen Volkes, die erhabenen Institutionen unseres Vaterlandes gebührend zu würdigen. Ich hoffe, Sir«, fuhr er zu Martin gewendet fort, »daß Sie in Eden die Bekanntschaft eines Gentlemans namens Chollop gemacht haben.«

»Allerdings«, gab Martin zu. »Übrigens, mein Freund hier kann diese Frage vielleicht besser beantworten als ich, da ich damals sehr schwer krank daniederlag. – Mark, der Gentleman spricht von Mr. Chollop.«

»Oh! Jawohl, Sir, jawohl, ich kenne ihn«, entgegnete Mark.

»Ein glänzendes Vorbild unseres vaterländischen Kernvolkes, Sir?« warf Pogram fragend hin.

»Jawohl, Sir«, rief Mark.

Seine Hochwohlgeboren Elijah Pogram sah seine Freunde an, als wolle er sagen: »Jetzt gebt mal acht! Gebt acht, was jetzt kommen wird!« – Ein allgemeines leises Gemurmel zollte dem Pogramgenie seinen Tribut.

»Unser Landsmann ist ein Musterbild des Menschen, wie er frisch und stark aus der Hand der Natur hervorgeht«, rief Pogram begeistert. »Er ist ein echtes Kind dieser freien Hemisphäre. Grünend wie die Gebirge unseres Landes, frisch und übersprudelnd wie unsere Salzquellen, unberührt von verpestenden Konvenienzen wie unsere weiten, grenzenlosen Prärien. Rauh mag er sein, aber das sind auch unsere Bären. Wild mag er sein, doch das sind auch unsere Büffel. Aber er ist ein Kind der Natur und ein Kind der Freiheit, und voller Stolz ruft er den Despoten und Tyrannen zu: ›Meine herrliche Heimat ist dort, wo die Sonne zur Ruhe geht.‹«

Dies stimmte teilweise auf Chollop, teilweise auf einen gewissen berüchtigten Postmeister im Westen, der vor nicht sehr langer Zeit wegen Unterschlagung aus seinem Amte entfernt werden mußte. Doch da der Mann für Mr. Pogram gestimmt, hatte dieser von seinem Sitz im Kongreß das Todesurteil auf das Haupt des unpopulären Präsidenten, der diese Unzukömmlichkeiten aufgedeckt, herabgedonnert.

Mr. Pograms Worte hatten eine glänzende Wirkung. Die Umstehenden waren entzückt, und einer von ihnen sagte laut, daß es Martin hören mußte: er schätze, der Fremde habe jetzt ein Pröbchen von der Beredsamkeit Amerikas zu kosten bekommen und betrachte sich wohl als gänzlich erledigt.

Mr. Pogram wartete, bis sich seine Zuhörer wieder beruhigt hatten, und fuhr dann zu Mark gewendet fort:

»Sie scheinen diese Ansicht nicht zu teilen, Sir?«

»Je nun«, meinte Mark, »gefallen hat mir Mr. Chollop nicht besonders; das könnte ich gerade nicht behaupten, Sir. Er kam mir vor wie ein Eisenfresser, und ich war auch nicht sonderlich entzückt, daß er mit seinen kleinen Mordwerkzeugen, die er bei sich zu führen liebt, immer so rasch bei der Hand war.« »Es ist doch höchst seltsam!« rief Mr. Pogram und hob seinen Schirm höher empor, um darunter hervor seine Umgebung besser mustern zu können. »Es ist doch höchst auffallend! Wiederum bemerken Sie den eingewurzelten Haß, den die Engländer gegen uns und unsere Institutionen hegen – –«

»Mein Gott, sind Sie aber ein sonderbares Volk!« unterbrach Martin. »Ist denn Mr. Chollop und die ganze Menschenklasse, die er repräsentiert, eine der Institutionen des Landes? Sind Revolver, Stockdegen, Bowie-Messer und dergleichen vielleicht Institutionen, auf die man stolz sein könnte? Sind blutige Duelle, rohe Kämpfe, wilde Überfälle, Niederknallen und Erstechen auf offener Straße Institutionen von Amerika? Vielleicht bekommt man nächstens noch zu hören, daß Ehrlosigkeit und Betrug gleichfalls zu den ›Institutionen‹ dieser großen Republik gehören.«

Kaum waren diese Worte seinen Lippen entflohen, da blickte seine Hochwohlgeboren Elijah Pogram schon wieder bedeutsam umher.

»Dieser krankhafte Haß gegen unsere Institutionen«, bemerkte er, »ist wirklich ein vortreffliches Studium für den Psychologen. – – Er spielt jetzt gar auf die ›Repudiation‹ an.«

»Ach Gott, Sie können ja alles, wenn Sie wollen, zur Institution machen«, meinte Martin lachend, »und ich gestehe, ich bin schon bald so weit, daß ich schließlich alles für möglich halte. Aber der größte Teil von alledem umfaßt bei uns eine einzige ›Institution‹, und die nennen wir Old Bailey oder Zuchthaus.«

Da in diesem Augenblick die Glocke zum Dinner rief, rannte alles nach der Kajüte, und auch Mr. Elijah Pogram wurde von solcher Eile ergriffen, daß er ganz vergaß, seinen Regenschirm zuzumachen, und sich mit ihm dermaßen in der Kajütentüre verklemmte, daß man ihn nur mit Mühe wieder befreien konnte. Ein paar Minuten lang entfesselte diese Störung fast eine Revolution unter den heißhungrigen Passagieren hinter ihm, die schon im Geiste die Teller sahen, die Messer und Gabeln arbeiten hörten und genau wußten, was geschehen würde, wenn sie versäumten, sich rechtzeitig Plätze zu erobern. Sie rasten förmlich, und mehrere ehrenwerte Bürger, die bereits an der Tafel saßen, es bemerkten und trachteten, die Situation für sich nach Kräften auszunutzen, gerieten infolge ihrer unnatürlichen Anstrengungen, alles aufgetragene Fleisch hinunterzuschlingen, bevor die andern kämen, in Todesgefahr, so daß die meisten von ihnen zu ersticken drohten. Endlich jedoch wurde die Regenschirmbarrikade mit Todesmut gestürmt und die Festung genommen. Nach hartnäckigem Kampfe befanden sich schließlich Elijah Pogram und Martin Seite an Seite, wie etwa im Parterre eines Londoner Theaters, und die nächsten vier Minuten schnappte Mr. Pogram von allem, was noch zu erwischen war, wie ein Rabe große Brocken auf. Nachdem er sein Dinner, das sich so ungewöhnlich lange verzögerte, glücklich hinter sich hatte, nahm er seine Unterhaltung mit Martin wieder auf und bat ihn, sich ihm gegenüber ohne Rückhalt auszusprechen, denn er sei ein Philosoph und erfreue sich infolgedessen einer unerschütterlichen Seelenruhe. Martin vernahm das mit Vergnügen, denn er hatte sich bereits mit der Vermutung getragen, Mr. Elijah Pogram sei ein Anhänger jener gewissen hemmungslosen republikanischen Ideen und pflege seine Gesinnungen mehr mit Messer und Revolver als mit Feder und Tinte zum Ausdruck zu bringen.

»Was halten Sie zum Beispiel von meinen anwesenden Landsleuten?« fragte Mr. Elijah Pogram.

»Ach Gott, es sind recht nette Leute«, meinte Martin.

Und das waren sie allerdings, wenigstens sprach niemand ein Wort; jeder hatte, wie in Amerika in solchen Fällen üblich, nur auf seine Privatschlingorgane Bedacht; genauer gesagt, benahm sich der größte Teil der Anwesenden bei Tisch wie das Schwein beim Trog.

Seine Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram warf Martin einen Blick zu, der soviel ausdrücken sollte wie: »Ich weiß ganz gut, das ist nicht dein Ernst«, und bald erhielt er auch eine Bestätigung dieser Ansicht.

Gegenüber saß ein Gentleman, der im buchstäblichsten Sinne des Wortes mit Tabaksaft durchtränkt war. Ein kleiner Bart aus Tabakjauche, an seinen Mundwinkeln und an seinem Kinn eingetrocknet, zierte seine Lippe. Das bedeutete indes in Amerika einen so gewöhnlichen Schmuck, daß er kaum Martins Aufmerksamkeit fesselte, allein der gute Bürger, der offenbar darauf brannte, seine republikanische Gleichheit jedem Fremden zu beweisen, zog jetzt sein Messer durch den Mund und schnitt sich dann von der Butter ab, eben als Martin sich davon nehmen wollte. Die ganze Sache hatte etwas derartig »Saftiges« an sich, daß einem Gassenkehrer dabei übel geworden wäre.

Als Mr. Elijah Pogram, dem dies natürlich ein Alltagsereignis war, bemerkte, daß Martin verekelt seinen Teller zurückschob und auf die Butter verzichtete, geriet er in großes Entzücken darob und sagte:

»Wirklich, ich muß gestehen – der geradezu krankhafte Haß von euch Engländern gegen die Institutionen unseres Landes ist geradezu erstaunlich.«

»Meiner Seel!« fuhr Martin auf. »Sie bilden da Zusammenhänge, daß es wirklich unglaublich ist. Da macht einer mit Absicht ein Schwein aus sich, und das nennen Sie eine – ›Institution‹!«

»Es mangelt uns an Zeit, uns mit Formalitäten abzugeben, Sir«, erklärte Mr. Elijah Pogram.

»Abzugeben?!« rief Martin. »Ich dächte, es handelt sich hier einfach darum, daß der Herr drüben vorzieht, sich die Manieren eines Wilden anzueignen und jede gute selbstverständliche Sitte beiseite zu lassen, die doch jedem Gebildeten vorschreiben muß, nicht andern Leuten geradezu absichtlich Ekel einzuflößen. Ich bin zum Beispiel überzeugt, daß der Herr da drüben von Haus aus ganz gut weiß, was schicklich ist, und nur glaubt, seine ›Unabhängigkeit‹ dadurch zu beweisen, daß er sich wie ein Vieh aufführt.«

»Er ist aus unserm Lande gebürtig und daher von Natur aus vorurteilsfrei und unverfroren«, sagte Mr. Pogram.

»Bedenken Sie einmal, wozu dies alles noch führen soll, Mr. Pogram!« stellte Martin vor. »Die große Masse Ihrer Landsleute fängt an, hartnäckig gewisse kleine Regeln zu vernachlässigen, die mit Vornehmheit, Sitte, Regierung oder Vaterland durchaus nichts zu tun haben, sondern lediglich Dinge des Anstandes und der gewöhnlichsten Sittlichkeit sind. Sie leisten Ihnen darin Vorschub, indem Sie alle Angriffe auf derartige gesellige Verstöße mit beißenden Antworten erwidern und die größte Unflätigkeit als schönen Nationalzug erklären. Aber aus Mißachtung kleinerer Verpflichtungen entsteht allmählich auch das Bedürfnis, sich jeder Rücksicht auf die größeren zu entäußern und, sagen wir einmal, schließlich die Bezahlung jeder Schuld im allgemeinen zu verweigern. Was daraus folgen wird, weiß ich nicht, aber jeder von uns muß, wenn er nur will, einsehen, daß nur etwas Ähnliches daraus resultieren kann wie der Vorgang, der einen Baum zum Verwelken bringt, wenn seine Wurzel anfängt zu faulen.«

Mr. Pogram war zu sehr Philosoph, um dies einsehen zu können. Sie gingen also wieder auf das Verdeck, wo der Amerikaner seinen frühern Posten einnahm, weiterkaute und schließlich infolge der unvermeidlichen Tabakvergiftung in einen an Lethargie grenzenden Zustand versank.

Nach einer mehrtägigen ermüdenden Fahrt gelangten sie wieder an demselben Kai an, wo Mark am Abend ihres Aufbruchs nach Eden beinahe das Schiff versäumt hätte. Kapitän Kedgick stand gerade dort und schien sehr überrascht, als er die beiden an Land steigen sah.

»Zum Teufel nochmal«, rief der Kapitän, »na, das ist aber merkwürdig!«

»Wir können doch bei Ihnen übernachten, Kapitän?« fragte Martin. »Schätze, Sie können wohl im Hotel bleiben, wenn Sie Lust dazu haben«, entgegnete Mr. Kedgick kühl. »Aber unsern Leuten wird’s nicht sonderlich gefallen, daß Sie wieder zurückkommen.«

»Wieso denn nicht, Kapitän Kedgick?« fragte Martin.

»Man hat bestimmt erwartet, Sie würden sich dort dauernd niederlassen«, entgegnete Kedgick achselzuckend. »Sie können doch nicht leugnen, daß sich die Leute in diesem Punkte enttäuscht sehen müssen?«

»Was meinen Sie damit?« fragte Martin erstaunt.

»Sie hätten sie damals nicht ›empfangen‹ sollen«, erklärte der Kapitän, »das hätten Sie bleiben lassen müssen

»Aber, lieber Freund«, entgegnete Martin, »habe ich denn darauf bestanden? Es geschah doch von meiner Seite durchaus nicht freiwillig. Sagten Sie mir denn nicht, es gäbe einen Skandal und es würde mir das Fell über die Ohren gezogen wie einer wilden Katze, wenn ich’s abschlüge? Wurde mir denn nicht sogar gedroht, wenn ich die Leute nicht empfinge?«

»Davon weiß ich nichts«, versetzte der Kapitän. »Aber wenn unsern Leuten mal der Kamm schwillt, so wird er hochrot, das kann ich Ihnen versichern.«

Mit diesen Worten blieb er zurück, um sich Mark anzuschließen, während Martin mit Mr. Elijah Pogram voraus zum National-Hotel ging.

»Sie sehen, Kapitän, wir sind glücklich und lebendig wieder zurückgekommen«, fing Mark wieder an.

»Hätt es nicht gedacht«, brummte der Kapitän. »Der Mensch hat kein Recht, ein öffentlicher Charakter zu sein, wenn er sich nicht auch den öffentlichen Voraussetzungen fügt. Unsere fashionable Welt wäre nicht zu dem Lever gekommen, wenn sie das gewußt hätte.«

Kein Zureden vermochte den Kapitän umzustimmen: beharrlich bestand er darauf, es übelzunehmen, daß die beiden Engländer nicht in Eden gestorben waren. Die Gäste des National-Hotels hatten hinsichtlich dieses Punktes gleichfalls sehr ausgesprochene Ansichten, und es war ein großes Glück, daß ihnen keine Zeit blieb, über ihre Enttäuschung nachzudenken, denn die Anwesenheit seiner Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram forderte unbedingt, daß man ihm sofort ein Lever gab.

Da das gemeinschaftliche Souper bei Ankunft des Dampfbootes bereits vorüber war, so nahmen Martin, Mark und Mr. Pogram den Tee, und was dazu gehörte, an der öffentlichen Tafel gesondert ein. Und gleich darauf trat die Deputation ein, die dem Kongreßmitglied die zugedachte Ehre ankündigen sollte. Sie bestand aus sechs Gentlemen und einem noch im Stimmwechsel begriffenen Jüngling.

»Sir!« begann der erste Sprecher.

»Mr. Pogram!« schrillte der Jüngling dazwischen.

Der Sprecher, dadurch an seine Anwesenheit erinnert, stellte ihn vor:

»Doktor Ginery Dunkle, Sir! Ein Herr von ganz hervorragender poetischer Begabung. Er ist erst vor kurzem hier angekommen und bedeutet für uns eine Akquisition ersten Ranges, Sir. Ich kann Ihnen das versichern. Jawohl, Sir. Hier – Mr. Jodd, Sir. Mr. Izzard, Sir. Mr. Julius Bib, Sir.«

»Julius Washington Merryweather Bib«, ergänzte Mr. Bib. »Ich bitte um Verzeihung, Sir, pardon: also Mr. Julius Merryweather Bib – aus der Holzbranche, Sir; ein sehr angesehener Gentleman. Und hier – Oberst Groper, und hier – Professor Piper. Mein Name, Sir, ist Oscar Buffum.«

Jeder der vorgestellten Herren trat bei Nennung seines Namens einen Schritt vor, nickte seiner Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram zu, schüttelte ihm die Hand und glitt dann wieder in den Hintergrund. Als die Vorstellungszeremonien beendet waren, fing der erste Sprecher wieder an.

»Sir!«

»Mr. Pogram!« schrillte der Jüngling abermals dazwischen.

»Vielleicht«, wendete sich der Sprecher sofort an ihn, »sind Sie so gütig, Doktor Ginery Dunkle, unsern kleinen Antrag dem Herrn gegenüber vorzutragen.«

Dem schrillen jungen Mann konnte nichts erwünschter sein; sofort trat er vor.

»Mr. Pogram! Sir! Einige unserer Mitbürger, Sir«, begann er, »vernahmen von Ihrer Ankunft im National-Hotel und wünschten aus Anerkennung Ihrer Dienste für das Vaterland, Sir, das Vergnügen zu haben, Sie näher kennenzulernen und sich mit Ihnen auszusprechen in einem Zeitpunkt, der für unser ganzes großes freies Vaterland so bedeutsam ist.«

»Hört, hört!« rief Oberst Groper mit lauter Stimme. »Sehr gut, hört, hört! Ausgezeichnet!«

»Und deshalb, Sir«, fuhr der junge Doktor fort, »erbitten sie sich die Ehre Ihrer Gesellschaft bei einem kleinen Lever, Sir – um acht Uhr an der Damentable d’hôte.«

Mr. Pogram verbeugte sich und erwiderte:

»Mitbürger!«

»Sehr gut!« rief der Oberst. »Hört, hört! Ausgezeichnet!«

Mr. Pogram dankte dem Oberst mit einer Verbeugung und fing dann wieder an:

»Ihre Anerkennung, meine Herren, meiner Bemühungen in Sachen der gemeinsamen Wohlfahrt geht mir sehr zu Herzen. Zu allen Zeiten und an allen Orten – an dem Damentable d’hôte, meine Herrn, und auf dem Schlachtfelde – werde ich es mir zur Ehre anrechnen, mit Ihnen zusammenzutreffen. Und mögen, meine Freunde, dereinst die Worte auf meinem Grabe geschrieben stehen: ›Er war Kongreßmitglied unseres gemeinsamen Vaterlandes und unermüdlich in seinem Amte‹.«

»Das Komitee, Sir«, unterbrach ihn der schrille Jüngling, »wird Ihnen fünf Minuten vor acht Uhr seine Aufwartung machen. Gestatten Sie, daß ich mich jetzt empfehle, Sir.«

Mr. Pogram drückte ihm und allen andern Herrn noch einmal die Hand.

Als die Gentlemen sich fünf Minuten vor acht Uhr wieder einstellten, leierten sie einer nach dem andern mit melancholischer Stimme den Bewillkommnungsgruß herunter: »Wie geht es Ihnen, Sir.«

Sie wechselten dann mit Mr. Pogram abermals Händedrücke, als seien sie in der Zwischenzeit mindestens ein Jahr über Land gewesen und träfen sich jetzt bei einem Leichenbegängnis.

Mittlerweile hatte sich Mr. Pogram ein wenig restauriert und sowohl Haare wie Gesicht hergerichtet, sorgfältig bestrebt, sich seiner Statue, die im Lande allgemein bekannt war, so ähnlich wie möglich zu machen. Es glückte ihm, und jeder Mann, der nur halbwegs normalsichtig war, rief sofort, wenn er ihn erblickte, aus: »Das ist er, wie er leibt und lebt; ganz wie er damals die Trutzrede hielt!«

Auch das Komitee hatte sich verschönt, und als es in den Table-d’hôte-Saal strömte, hörte man viele Damenhände klatschen, und Ausrufe: Pogram! Pogram! Manche Herren stiegen sogar auf die Stühle, um den berühmten Mann besser sehen zu können.

Stolz, so der allgemeine Mittelpunkt zu sein, blickte Mr. Pogram wohlgefällig umher, lächelte und bemerkte gleichzeitig zu dem schrillen jungen Herrn, er wisse wahrhaftig so mancherlei Gutes über die Schönheit der Töchter ihres gemeinsamen Vaterlandes zu sagen, aber nie habe er einen solchen Blütenkranz von Damen beisammen gesehen. Später ließ dies der schrille Jüngling zu Elijah Pograms großer Überraschung in die Zeitung setzen.

»Wir möchten Sie höflichst bitten, Sir, wenn es Ihnen angenehm ist«, meldete sich Mr. Buffum und legte Hand an Mr. Pogram, gerade, als ob er ihm Maß zu einem Rock nehmen wolle, »sich gefälligst mit dem Rücken gegen die Wand rechts in der vordersten Ecke zu stellen, damit unsere Mitbürger mehr Platz haben. Wenn Sie sich mit dem Rücken gefälligst an die eine Seite des Vorhangs anlehnen und das linke Bein hinter den Ofen stecken, Sir, so wird hoffentlich genügend Raum bleiben.«

Mr. Pogram tat, wie ihm geheißen, und keilte sich in einen Winkel, worunter seine Ähnlichkeit mit der bekannten Pogramstatue allerdings beträchtlich litt.

Sodann begann die Unterhaltung des Abends. Die Herren brachten ihre Damen herbei, stellten sie zuerst vor und erwiesen sich dann gegenseitig den gleichen Dienst. Dabei fragte man ununterbrochen Mr. Pogram, was er von dieser oder jener politischen Frage halte, musterte ihn von oben bis unten, betrachtete sich gegenseitig und machte höchst unglückliche Gesichter. Die Damen auf ihren Stühlen blickten durch ihre Lorgnons auf Mr. Elijah Pogram und sagten so laut, daß man es unfehlbar hören mußte: »Wenn er nur endlich spräche! Warum spricht er denn eigentlich nicht? Man fordere ihn doch zum Reden auf!«

Von Zeit zu Zeit warf Mr. Elijah Pogram einen Blick auf die Damen, dann wieder auf die Decke und gab gelegentlich mit der Miene eines Senators kurze Gutachten ab, wenn man ihn darum anging. Das Ganze machte den Eindruck, als ob der große Zweck der Zusammenkunft lediglich darin bestünde, Seine Hochwohlgeboren um keinen Preis aus seiner Ecke herauszulassen und ihn dort fest eingekeilt zu halten.

Plötzlich verkündete ein Tumult vor der Türe die Ankunft irgendeiner Notabilität, und gleich darauf sah man einen sehr aufgeregten ältlichen Gentleman sich in die Massen stürzen, um sich einen Weg zu Seiner Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram zu bahnen. Martin, der sich in einer fernen Ecke ein kleines Lauschwinkelchen gesichert hatte und Mark an seiner Seite wußte, vermeinte diesen Gentleman zu kennen, wenn er auch nicht gleich wußte, wo er ihn hintun sollte. Aber sofort wurde ihm jeder Zweifel genommen, denn der Herr rief mit Stentorstimme, wobei ihm die Augen fast aus dem Kopfe quollen: »Sir, gestarteten Sie – Mrs. Hominy!«

»Gott segne das Frauenzimmer, Mark« rief Martin. »Da ist sie schon wieder!«

»Ja, da kommt sie«, lachte Mr. Tapley. »Pogram kennt sie, wie man sieht. Sie ist doch eine öffentliche Person! – Hat stets ein wachsames Auge aufs Vaterland, Sir! Wenn der Gatte dieser Dame meinen Prinzipien huldigt, so muß er ein ungemein ›fideler‹ alter Herr sein.«

Die Menge bildete eine Gasse, und Mrs. Hominy schritt mit aristokratischem Gang, das Taschentuch in der Hand und die klassische Haube auf, langsam wie eine Prozession hindurch. Mr. Pogram sprach sein Entzücken aus, sie zu sehen, und sofort trat allgemeine Stille ein. Man begriff, wenn eine Frau wie Mrs. Hominy mit einem Manne wie Mr. Pogram zusammentraf, so mußte notwendigerweise etwas Höchstinteressantes dabei herauskommen. Die ersten Begrüßungen wurden mit leiser Stimme ausgetauscht, wurden aber bald hörbarer, denn Mrs. Hominy war sich ihrer Stellung bewußt und sich darüber klar, was man von ihr erwartete. Anfangs setzte sie dem berühmten Kongreßmitglied ziemlich scharf zu und kanzelte es wegen eines gewissen von ihm abgegebenen Votums herunter, das sie als die »Mutter der modernen Gracchen« ausdrücklich durch eine Zeile gesperrt gedruckten Textes abzulehnen für nötig gefunden hätte. Mr. Pogram wich einer Erwiderung geschickt durch zeitgemäße Anspielung auf das sternengesprenkelte Banner aus, das die merkwürdige Kraft zu haben scheine, sooft es gehißt werde, jeden ausbrechenden Sturm im Keim zu ersticken – und die Sache lief glatt ab. Es kamen sodann gewisse Fragen über Tarife, Handelsverträge, Grenzstreitigkeiten und Import und Export zur Verhandlung. Mrs. Hominy redete nicht nur, wie man sagt, wie ein Buch, sondern rezitierte geradezu fort und fort den Inhalt ihrer eigenen Werke.

»O Gott, was ist das!« rief sie plötzlich und öffnete ein kleines Billett, das ihr ein sehr erhitzt aussehender Gentleman einhändigte. »Sagen Sie! Oh, man denke!«

Und laut las sie folgendes vor:

»Zwei literarische Damen vermelden der ›Mutter der modernen Gracchen‹ ihr Kompliment und bitten ihre talentvolle Mitbürgerin, sie freundlichst Seiner Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram vorzustellen, den sie beide so oft und naturgetreu als Statue von der Hand des großen Meisters, Mr. Chiggle, bewundert haben. Auf eine mündliche Andeutung von Seiten der ›Mutter der modernen Gracchen‹, daß sie dem Gesuche der beiden Damen willfahren wolle, würden sie sich sodann das Vergnügen nehmen, sich der glänzenden Versammlung, die das patriotische Vorgehen eines Pogram zu ehren gedenkt, anzuschließen. Es würde dies vielleicht dazu beitragen, ein weiteres Band der Einigkeit zwischen den beiden Damen und der ›Mutter der modernen Gracchen‹ zu knüpfen; – um so mehr, als beide Damen hinsichtlich Denkungsweise vollständig zum Transzendentalismus gravitieren.«

Sofort erhob sich Mrs. Hominy, eilte zur Tür und kam nach einer Minute mit den beiden Damen zurück, die sie mit der ganzen Würde, die ihr so eigentümlich war, durch die Gasse in dem Gedränge dem großen Mr. Elijah Pogram zuführte. Das Ganze glich, wie der schrille junge Mann verzückt ausrief, aufs Haar der letzten Szene aus dem Coriolan.

Eine der Damen trug eine braune Perücke von bemerkenswertem Umfang. An der Stirne der andern stak, durch irgendein geheimnisvolles Mittel befestigt, eine riesige Kamee in der Form und Größe einer Kirchweih-Himbeertorte, die im Zentrum das Kapitol zu Washington erblicken ließ.

»Miss Toppit und Miss Codger«, stellte Mrs. Hominy vor.

»Codger, scheint mir, ist der Name der Dame, den ich so oft in den englischen Zeitungen als den der ältesten hier lebenden Einwohnerin gelesen habe«, flüsterte Mark.

»Einem Pogram durch eine Mrs. Hominy vorgestellt zu werden«, begann Miss Codger, »bedeutet in der Tat ein außerordentliches Moment in dem Eindruckskomplex dessen, was wir gemeinhin unser Gefühl nennen. Warum wir es so nennen oder wieso es überhaupt Eindrücke aufnimmt oder ob wir überhaupt eindrucksfähig sind oder ob es wirklich, wie uns unsere Sinne vortäuschen, einen Pogram und eine Mrs. Hominy gibt – oder ob nicht vielmehr ein tätiges Prinzip obwaltet, dem wir unbewußt diesen Titel geben –, das ist ein viel zu verwickeltes philosophisches Thema, als daß es im gegenwärtigen Augenblick eine Kritik vertrüge.«

»Geist und Materie«, fügte die Dame in der Perücke hinzu, »gleiten rasch in den Strudel der Unendlichkeit hinab. Auf heult das Erhabene gen Himmel, und sanft schlummert das stille Ideal in den verschwiegenen Kammern der Phantasie. Es zu hören ist süß, aber wild auflachet der ernste Philosoph und sagt zum Grotesken: Was soll das? Haltet mir fest dieses Phantom. Gehet und bringet es her! Und so entschwindet die Vision.«

Nach diesen Worten ergriffen die beiden Damen Mr. Pograms Hände und drückten sie an ihre Lippen. Sodann rief die Mutter der modernen Gracchen nach Stühlen, damit die drei literarischen Damen allen Ernstes beginnen könnten, den armen Mr. Pogram regelrecht zu bearbeiten und in die Enge zu treiben, auf daß er sich in seinen glänzendsten Farben zeige.

Wieso Mr. Pogram sogleich aus den Tiefen seines Geistes herauftauchte und die drei literarischen Damen nie darin gewesen waren, ist nicht des Erzählens wert. Genug, alle vier warfen, um sich über Wasser zu halten, gewaltig nach allen Seiten mit großen Worten um sich und faselten das Blaue vom Himmel herunter. Natürlich war man allgemein der Ansicht, daß hier der schärfste geistige Wettkampf stattfand, den man je im National-Hotel erlebt. Dem schrillstimmigen Jüngling standen des öftern die Tränen in den Augen, und die ganze Versammlung wurde gewahr, daß ihr vor lauter Denken der Kopf brummte. Als schließlich noch das Komitee Mr. Elijah Pogram aus seiner Ecke erlösen mußte und wohlbehalten wieder in das nächste Zimmer geleitete, glühte alles förmlich vor Bewunderung.

»Eine Bewunderung, die sich Luft machen muß«, erklärte Mr. Buffum, »wenn man nicht bersten soll. Ich bin Ihnen wahrhaft dankbar, Mr. Pogram. Ich fließe über, Sir, vor stolzer Verehrung vor Ihnen und tiefer Erregung. Das Gefühl, dem Ausdruck zu geben ich vorschlagen möchte, Sir, heißt: ›Mögen Sie immer so unerschütterlich bleiben, Sir, wie Ihre Marmorstatue; mögen Sie stets ein so großer Schrecken für Ihre Feinde bleiben, wie Sie es jetzt sind.‹«

Mr. Pogram dankte seinem Freund und Landsmann für die liebenswürdigen Wünsche, und das Komitee begab sich nach abermaligem feierlichem Händeschütteln zu Bett. Nur der Doktor eilte noch in eine Zeitungsredaktion, um dort ein kurzes Gedicht niederzuschreiben, zu dem ihn die Ereignisse des Abends begeistert hatten. Es begann mit den »Sternen auf dem Banner der Republik« und trug den Titel: »Ein Fragment, geistig empfangen anläßlich eines Begebnisses, bei dem Seine Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram sich mit drei von Columbias schönsten Töchtern in eine philosophische Dissertation einließ«, von Doktor Ginery Dunkle, Troja.

Wenn sich Mr. Pogram so sehr auf sein Bett freute wie Martin, so war er für seine Mühewaltung jedenfalls reichlich belohnt. Am nächsten Tage verkauften Martin und Mark ihre Habseligkeiten um jeden Preis an dieselben Händler zurück, von denen sie sie erworben, traten dann ihre Weiterreise an und wurden abermals Mr. Pograms Reisegefährten bis kurz vor New York. Als das berühmte Kongreßmitglied im Begriffe stand, sie zu verlassen, wurde es plötzlich höchst gedankenschwer und nahm, nachdem es eine Weile vor sich hingebrütet, Martin beiseite.

»Wir müssen uns jetzt trennen, Sir«, begann es.

»Ach, lassen Sie sich das nicht so zu Herzen gehen«, tröstete Martin, »wir müssen uns dareinschicken.«

»Darum handelt es sich nicht, Sir!« entgegnete Mr. Pogram. »Keineswegs! Aber ich sähe es gern, wenn Sie ein Exemplar von meiner Trutzrede annehmen wollten.«

»Ich danke Ihnen verbindlichst, Sir«, sagte Martin. »Sie sind sehr gütig. Es würde mich sehr freuen.«

»Auch darum handelt es sich nicht, Sir«, fing Pogram wieder an. »Hätten Sie den Mut, ein Exemplar nach England mitzunehmen?«

»Natürlich«, versicherte Martin, »warum denn nicht.«

»Die Rede ist etwas scharf, Sir«, gab Pogram zu bedenken.

»Das macht nichts«, meinte Martin. »Wenn Sie wollen, nehme ich ein ganzes Dutzend mit.«

»Nein, Sir«, wehrte Mr. Pogram ab; »ein Dutzend, das wäre mehr als zuviel. Also, wenn Sie wirklich vor der Gefahr nicht zurückschrecken, Sir, so ist hier ein Exemplar für Ihren Lordkanzler «, er zog eine Broschüre aus der Tasche, »und hier ein zweites für ihren ersten Staatssekretär. Ich wünschte, daß die Leute, Sir, es läsen und meine Gesinnungen kennenlernten, damit sie später nicht Unkenntnis vorschützen können. Aber immerhin möchte ich nicht, daß Sie sich meinetwegen in Gefahr begeben, Sir!«

»Es ist nicht die geringste Gefahr dabei, versichere ich Ihnen«, lachte Martin, dann steckte er die Pamphlete in die Tasche und verabschiedete sich von Mr. Pogram.

Mr. Bevan hatte ihm geschrieben, daß er sie zu einer bestimmten Zeit – und glücklicherweise kamen sie zurecht – in einem bestimmten Hotel in der Stadt erwarten wolle. Ohne Verzug begaben sich Mark und Martin dorthin und hatten die Freude, ihren wackern Freund bereits dort zu finden und sich herzlich und warm von ihm aufgenommen zu sehen.

»Es tut mir wirklich sehr leid und beschämt mich tief«, sagte Martin, »daß ich Ihnen so zur Last fallen muß, aber werfen Sie nur einen Blick auf unsere Kleidung, und Sie werden erkennen, wie heruntergekommen wir sind.«

»Ich bin weit davon entfernt zu glauben, daß ich Ihnen einen Dienst geleistet habe, der der Rede wert wäre«, unterbrach ihn Mr. Bevan. »Ich muß mir vielmehr Vorwürfe machen, daß ich unwissentlich die Hauptursache Ihrer Leiden geworden bin. Ich hätte mir ebensowenig träumen lassen, daß Sie nach Eden gehen oder sich hier überhaupt noch goldene Berge versprechen würden, als ich daran dachte, selber nach Eden zu gehen.«

»Die Sache ist so: Ich faßte nämlich den verrückten Entschluß, und zwar in sanguinischer Unbesonnenheit«, erklärte Martin. »Am liebsten möchte ich gar nichts mehr davon hören. Mark da wurde überhaupt nicht in der Sache gefragt.«

»Nun, er wird wohl auch in anderer Hinsicht keine Stimme gehabt haben«, meinte Mr. Bevan mit einem Lachen, das klar verriet, wie genau er Marks und Martins Charaktere durchschaute.

»Ich fürchte, allerdings keine besondere«, gab Martin errötend zu, »aber man lebt, um zu lernen, Mr. Bevan. Und wenn man dann infolge eigener Unbesonnenheit knapp vor dem Tode steht, so lernt man’s nur um so schneller.« »Was haben Sie jetzt im Sinn?« fragte Mr. Bevan. »Sie gedenken wohl sofort nach England zurückzukehren?«

»Allerdings, allerdings«, versetzte Martin hastig, denn er bangte schon vor dem Gedanken an irgendeine andere Möglichkeit. »Hoffentlich ist das auch Ihr Rat?«

»Gewiß. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie nach Amerika kamen. Freilich kommt derartiges leider nur zu oft vor, als daß wir weiter viel Worte drüber zu verlieren brauchten. Sie wissen natürlich nicht, daß das Schiff, in dem Sie mit unserm Freund, dem General Fladdock, die Reise hierher gemacht haben, im Hafen liegt?«

»Wirklich?« rief Martin.

»Ja. Die Fahrtliste besagt, daß es morgen in See gehen wird.«

Das war eine verlockende und doch zugleich sehr peinliche Nachricht, denn Martin begriff, daß er nicht hoffen durfte, an Bord eines derartigen Schiffes irgendeine Beschäftigung zu erhalten. Das Geld, das er noch besaß, reichte nicht zu einem Viertel hin, die Summe zurückzuzahlen, die er sich bereits ausgeborgt; und wenn es selbst zur Heimreise gelangt hätte, würde er es doch kaum über sich gewonnen haben, alles dafür auszugeben. Er setzte dies Mr. Bevan in Kürze auseinander und teilte ihm seinen Plan mit.

»Das ist ein ebenso verrückter Einfall wie der, nach Eden zu gehen«, versetzte der Amerikaner. »Sie müssen einfach wegfahren, und zwar reisen wie ein Christ – wenigstens wie es ein Christ als Vorderkajütenpassagier tun kann – und mir noch einige Dollar mehr schuldig werden, als Sie beabsichtigten. Wenn Mr. Mark im Schiff drüben nachsehen will, wie viele Passagiere angemeldet sind, und findet, daß Sie an Bord gehen können, ohne im Zwischendeck direkt zu ersticken, so lautet mein Rat: Fahren Sie. Wir beide können uns inzwischen in der Stadt umsehen. Zu Norris brauchen wir ja nicht zu gehen – außer es läge Ihnen besonders viel daran! –, und am Nachmittag können wir dann alle drei gemeinschaftlich dinieren.«

Martin konnte nur seinen Dank stammeln, und damit war die Sache abgemacht.

Als Mark das Zimmer verließ, eilte ihm Martin nach und riet ihm, unter allen Umständen Plätze auf der »Schraube« zu belegen, und wenn sie selbst auf dem bloßen Deck kampieren müßten: ein Auftrag, den Mr. Tapley, der natürlich genau so dachte, bereitwilligst zu besorgen versprach.

Als er später wieder mit Martin allein zusammentraf, war er in prächtigster Laune und hatte offenbar etwas mitzuteilen, auf das er sich nicht wenig zugute tat.

»Ich habe Mr. Bevan hinters Licht geführt, Sir«, sagte er grinsend vor Vergnügen.

»Mr. Bevan hinters Licht geführt!?« wiederholte Martin.

»Der Koch der ›Schraube‹ hat das Schiff verlassen und gestern geheiratet«, versetzte Mr. Tapley.

Martin sah ihn ratlos an.

»Als ich nun an Bord kam und man mich erkannte«, fuhr Mark fort, »kam der Maat zu mir und fragte mich, ob ich nicht auf der Heimreise die Stelle des Kochs übernehmen wolle. ›Sie sind ja daran gewöhnt‹, sagte er, ›und haben auf der Herfahrt sowieso für jedermann gekocht.‹ Und so bin ich jetzt Koch«, fügte Mark hinzu, »wenn ich auch einen Eid drauf leisten kann, daß ich mich früher nie auf dergleichen verstanden habe.«

»Und was haben Sie drauf erwidert?« fragte Martin.

»Was ich erwidert habe?« rief Mark. »Nun, ich habe gesagt, daß ich alles nehmen wolle, was ich kriegen könne. ›Wenn es sich so verhält‹, sagte der Maat, ›nun gut, dann bringen Sie mal ein Glas Rum her.‹ Und das geschah. Und mein Lohn, Sir«, rief Mark jubelnd, »bestreitet auch Ihre Überfahrt. Ich habe schon das Mangelholz in Ihr Kabuff gelegt, um es zu reservieren. Es ist die bequemste Koje rückwärts in der Ecke. – So weit wären wir jetzt. – Hoch England und Britannia drauf und dran!«

»Sie sind der famoseste Bursche, den es je gegeben hat«, jubelte Martin und drückte Mark warm die Hand. »Aber was meinen Sie damit, daß Sie sagten, Sie hätten Mr. Bevan angeführt?«

»Na, begreifen Sie’s denn nicht?« rief Mark. »Natürlich sagen wir ihm kein Wort. Wir nehmen sein Geld an, wenn wir’s auch natürlich nicht behalten wollen, schreiben ihm dann ein Briefchen, erklären ihm die ganze Sache, tun das Geld hinein und lassen ’s im Gasthof mit dem Auftrag, es ihm erst zuzustellen, wenn wir fort sind. Verstehen Sie jetzt?«

Martins Entzücken über diesen Einfall kannte keine Grenzen, und der Vorschlag Mr. Tapleys wurde natürlich angenommen. Sie verbrachten zu dritt einen heitern Abend, blieben im Hotel über Nacht, besorgten den Brief und gingen am nächsten Morgen mit so leichtem Herzen an Bord, wie es einem Menschen nach soviel erlebtem Elend nur zumute sein kann.

»Leben Sie wohl – und tausendmal Dank«, sagte Martin zu Mr. Bevan. »Wie werde ich Ihnen jemals für all Ihre Güte danken können!«

»Wenn Sie je ein reicher oder einflußreicher Mann werden«, entgegnete Mr. Bevan, »so können Sie ja versuchen, Ihre Regierung zu veranlassen, daß sie sich mehr um ihre Untertanen kümmert, wenn diese im Ausland ihr Glück probieren wollen. Erzählen Sie, welche Erfahrung Sie selbst als Auswanderer gemacht haben, und legen Sie es der Regierung nahe, mit wie wenig Mühe viel Elend verhindert werden könnte.«

Hoi a ho! Die Ankerketten rasselten um das Gangspill. Mit vollen Segeln stach das Schiff in See, und sein breites Bugspriet deutete gerade nach England zu. Wie eine Wolke lag Amerika bald hinter den Reisenden.

»Na, Koch, über was brüten Sie so angelegentlich?« fragte Martin lustig.

»Ich habe mir soeben gedacht«, entgegnete Mark, »wenn ich nun ein Maler wäre und aufgefordert würde, den amerikanischen Adler zu malen, wie ich’s wohl angreifen sollte.«

»Sie müßten ihn eben so adlerähnlich machen, wie Sie könnten.«

»Nö«, sagte Mark. »Das wäre nichts für mich. Ich würde ihn zeichnen wie ’ne Fledermaus, weil er kein Licht verträgt – wie den Hahn auf dem Mist, weil er sich so patzig macht – wie ’n Pfau wegen seiner Eitelkeit – und wie ’n Strauß, weil er glaubt, man sieht ihn nicht, wenn er den Kopf in den Sand steckt.«

26. Kapitel


26. Kapitel

Ein unerwartetes Zusammentreffen und eine vielversprechende Aussicht

Die subtilen Zusammenhänge zwischen Bärten und Vögeln und die geheime Quelle jener Anziehungskraft, die so häufig einen Barbier veranlaßt, mit letzteren Handel zu treiben, sind Fragen so unwägbarer Art, daß wir ihre Beleuchtung wissenschaftlichen Korporationen überlassen müssen. Um so mehr, als derartige Bemühungen zu keinem besondern Resultat zu führen scheinen. Für uns genügt es zu wissen, daß der Haarkünstler, der die Ehre hatte, Mrs. Gamp in seinem ersten Stock zu beherbergen, das Geschäft des Rasierens mit dem des Vogelabrichtens verband und daß dies keine ursprüngliche Idee von ihm oder gar eine Erfindung war, da es in allen Nebenstraßen und Vorstädten ringsum ein ganzes Heer von Konkurrenten in diesem Fache gab.

Sein Name war Paul Sweedlepipe, aber für gewöhnlich wurde er Poll Sweedlepipe genannt, und tatsächlich glaubte ein großer Teil seiner Freunde und Nachbarn, er hieße wirklich so.

Von der Treppe und der Privatwohnung seiner Aftermieterin abgesehen, war Poll Sweedlepipes ganzes Haus ein einziger großer Vogelbauer. Kampfhähne präsidierten in der Küche; Fasanen durchstrahlten mit dem Glanz ihres goldenen Gefieders die Dachstube; Bantamhühner hockten im Keller auf ihren Stangen; Eulen hatten das Schlafzimmer in Besitz genommen, und Exemplare von allen kleineren Vogelarten zwitscherten und zirpten im Laden. Das Treppenhaus war den Kaninchen geweiht. Hier, in Behältern von allen Formen und Arten, in alten Packkisten, Koffern, Kommoden und dergleichen, vermehrten sie sich mit bewunderungswürdiger Rastlosigkeit und steuerten ihr Teil zu dem komplizierten Dufte bei, der unparteiisch und ohne Ansehen der Person jede Nase begrüßte, die sich in Sweedlepipes Rasierstube blicken ließ.

Trotzdem fand so manche Nase ihren Weg dahin; besonders am Sonntagmorgen vor der Kirche. Bekanntlich müssen sich sogar Erzbischöfe am Sabbat rasieren lassen. Der Bart läßt sich nicht am Wachsen hindern, selbst nicht am Kinn gemeiner Tagelöhner. Solche untergeordnete Personen sind natürlich nicht imstande, sich einen eigenen Kammerdiener leisten zu können, und gehen daher zu Leuten, die das Geschäft von Fall zu Fall versehen, und bezahlen sie – oh, Schlechtigkeit des Kupfergeldes! – mit schmutzigen Pennystücken. Poll Sweedlepipe, der Sünder, rasierte alle, die da kamen, für je einen Penny und schnitt ihnen außerdem, wenn sie es wünschten, für zwei Pence das Haar. Da er außerdem ein lediger Mann war und auch mit seinem Vogelhandel sich ein wenig erwarb, befand er sich in leidlich guten Umständen.

Er war ein kleiner, ältlicher Mann mit einer feuchten kalten rechten Hand, von der sogar der beständige Verkehr mit Kaninchen und Vögeln den Geruch der Bartseife nicht zu entfernen vermochte. Poll hatte etwas Vogelartiges in seinem ganzen Wesen, nicht etwa vom Falken oder Adler, sondern eher von dem Sperling, der im Schornstein seine Nester baut und die Nähe menschlicher Gesellschaft liebt. Doch war er nicht streitsüchtig wie dieser, sondern friedlich wie die Taube. Pathetisch stolzierte er durch die Straßen und hatte in dieser Hinsicht gleichfalls eine gewisse Ähnlichkeit mit der Taube, und auch mit deren Gegirr ließ sich sein monotones Geschwätz vergleichen. Von Geburt aus sehr neugierig, fragte er viel, und wenn er am Abend vor der Türe seines Ladens stand, die Nachbarn beobachtend, den Kopf seitwärts geneigt und schlau mit einem Auge blinzelnd, hätte man ihn auch mit einem Raben verwechseln können. Aber trotzdem war nicht mehr Arglist in Poll als in einem gewöhnlichen Rotkehlchen. Zum Glück wurden seine ornithologischen Eigenheiten, wenn sie auf dem Punkte waren, zu weit zu gehen, erstickt, aufgelöst, eingeschmolzen und neutralisiert durch den Barbier in ihm, genau so wie sich sein kahles Haupt – sonst dem Kopf einer geschorenen Elster zum Verwechseln ähnlich – zu beiden Seiten in eine Perücke schwarzer Krauslocken auslief, den Schädel selbst freilassend, um die ungeheuern Verstandeskräfte anzudeuten.

Seine äußerst schrille zitternde Stimme war die Veranlassung, daß die Spottvögel von Kingsgate Street behaupteten, er hätte von Rechts wegen ein Frauenzimmer werden müssen. Er besaß zudem ein überaus empfindliches Herz, und wenn er zuweilen ein oder ein halbes Schock Spatzen zu einem Wettschießen zu liefern hatte, so pflegte er stets mitleidigen Tones zu bemerken, es sei doch höchst sonderbar, daß diese Vögel eigens zu diesem Zweck geschaffen sein sollten. Zur Erörterung der Frage, ob die Menschen zum Vogelmord geschaffen seien, reichte seine Philosophie nicht aus.

Da sein Gewerbe gewissermaßen mit dem Jagdsport verquickt war, trug er einen Samtrock, blaue Strümpfe, Schnürschuhe, ein hellfarbiges Halstuch und einen sehr hohen Hut. Angesichts seines mehr friedlichen Barbierberufs jedoch bequemte er sich, gewöhnlich eine nicht allzu saubere Schürze, eine Flanelljacke und manchesterne Kniehosen zu tragen.

In diesem Kostüm, aber mit aufgeschlagener Schürze – zum Zeichen, daß er Feierabend gemacht – schloß er eines Abends, mehrere Wochen nach den im vorigen Kapitel erzählten Ereignissen, seine Türe und blieb auf der Schwelle stehen und horchte, bis die kleine, zerbrochene Klingel drin zu läuten aufgehört hatte. Ehe dies geschehen war, hielt Mr. Sweedlepipe es nämlich niemals für rätlich, sein Geschäftslokal sich selber zu überlassen.

»Es ist das ungebärdigste Ding von einer kleinen Klingel unter der Sonne«, sagte Poll, »aber jetzt endlich schweigt sie doch.«

Mit diesen Worten rollte er seine Schürze noch ein bißchen höher zusammen und eilte die Straße hinunter. Eben wollte er nach Holborn einbiegen, als er gegen einen jungen livrierten Herrn anrannte. Der Jüngling war zwar klein, aber desto kecker und wandte sich mit den lebhaftesten Zeichen von Unwillen augenblicklich gegen ihn um.

»Na, Sie Dummkopf!« rief der junge Herr. »Sie können wohl nicht aufschauen, was? Oder achtgeben, wohin Sie gehen, was? Wozu haben Sie eigentlich Ihre Augen, was? Oh, Sie!«

Der junge Gentleman sprach die beiden letzten Worte in lautem Ton und mit fürchterlichem Nachdruck, als ob sie die Quintessenz aller bittern Kränkungen in sich faßten, aber plötzlich wich sein Zorn der Überraschung, und er rief mit milderem Tone aus:

»Was, Polly!«

»Ja, was seh ich, Sie sind’s?« rief Polly. »Aber Sie können’s doch gar nicht sein!« »Nein, ich bin’s nicht«, scherzte der Jüngling. »Es ist mein Sohn. Mein ältester. Er macht seinem Vater alle Ehre, nicht wahr, Polly?« Mit diesem geistreichen Witz machte er auf dem Pflaster halt und drehte sich langsam um, um sich von allen Seiten anstaunen zu lassen, sehr zum Verdruß der Passanten, die nicht in so heiterer Stimmung waren wie er.

»Wahrhaftig, das hätt ich nicht geglaubt«, sagte Poll. »Sie haben also Ihren alten Dienst verlassen, wie ich sehe, wie?«

»Und ob«, entgegnete der junge Herr, der inzwischen die Hände in die Taschen seiner weißen Beinkleider gesteckt hatte und freudestrahlend neben dem Barbier einherstolzierte. »Haben Sie eine Idö, was ein Paar Stulpenstiefel sin, Polly? Wenn nücht, so schauen Sie sich mal düse da an.«

»Prächtig!« rief Mr. Sweedlepipe.

»Oder haben Sie schon mal einen Knopf mit Wappen gesehen? Sehen Sie ihn nicht an, wenn Sie kein Kenner sind; denn die Löwenköpfe darauf wissen bloß Leute von Geschmack zu würdigen und keine Mopsnasen nücht.«

»Prächtig!« rief der Barbier abermals. »Grasgrüner Rock mit Gold besetzt, und noch dazu eine Kokarde am Hut!«

»Das will ich meinen«, rief der Jüngling stolz. »Übrigens, aus der Kokarde mache ich mir einen Quark! Das einzige an ihr ist noch, daß sie sich nicht dreht. Sonst würde sie sich nicht vüll von dem Fendilador, wo wir bei Todgers‘ im Küchenfenster hatten, unterscheiden. Haben Sie übrigens nicht den Namen der Alten in der Zeitung gelesen?«

»Nein«, entgegnete der Barbier. »Hat sie umgeschmissen?«

»Wenn sie’s nicht hat, so wird sie’s bald nachholen«, entgegnete Bailey, »ohne mich kann sie doch das Geschäft nicht führen! Na, und wie gehts denn Ihnen?«

»So ziemlich gut«, sagte Polly, »wohnen Sie in diesem Stadtteil, oder wollten Sie mich gerade besuchen? – Was für Geschäfte führen Sie nach Holborn?«

»Holborn ist mir ganz Wurst«, versetzte Mr. Bailey mit Verachtung, »ich hab nur noch im Westend zu tun. Jetzt hab ich endlich den richtigen Herrn gekriegt, wo zu mir paßt. Sein Gesicht kann man vor lauter Schnurrbart nicht sehen, und seinen Schnurrbart nicht vor lauter Wichse. Das nenn ich mir einen Schenlmän! Oder möchten Sie vielleicht nicht gern in einem Kabriolett fahren? Ich trau es mich auch gar nicht, es Ihnen anzubieten. Sie würden schon beim bloßen Anschauen ohnmächtig werden, wenn Sie mich im kurzen Trab um die Ecke kommen sehen.«

Und um seinem Freund einen Begriff von der Wirkung einer derartigen equestrischen Betätigung zu geben, ahmte Mr. Bailey in eigener Person die Bewegung eines galoppierenden Pferdes nach und warf dabei seinen Kopf so hoch, daß er damit gegen einen Brunnen anstieß und ihm der Hut herunterflog.

»Er ist aus der ›Kauliflower‹ und ein Bruder des ›Capricorn‹. Seit mir ihm haben, is er schon durch die Fenster von zwei Käseladen durchgsprungen, und verkauft is er worden, weil er seine Herrin erschlagen hat. Ja, das nenn ich mir einen Gaul!«

»Aber da werden Sie ja gar keine Hänflinge mehr von mir kaufen wollen«, bemerkte Poll mit einem melancholischen Blick auf seinen jungen Freund, »oder Kanarienvögel, um sie über dem Abtritt aufzuhängen.«

»Na, das sollte mir einfallen«, rief Mr. Bailey. »Billiger als mit einem Pfau geb ich’s jetzt nimmer. Selbst der ist mir schon zu gemein; – na, und wie geht’s Ihnen denn so im allgemeinen«

»Ach, ziemlich gut«, sagte Polly.

Er beantwortete die Frage zum zweitenmal, weil er zum zweitenmal gefragt wurde, und Mr. Bailey fragte zum zweitenmal, weil darin eine gewisse sportmäßige Nonchalance lag, die sich zu den weißen Hosen, den Maschen an den Knien und den Stulpenstiefeln sehr gut ausnahm.

»Und wo wollen Sie hin, alter Bursche?« fuhr Mr. Bailey mit seiner neckischen Anmut fort; – er war eben hinsichtlich Konversation ein ganzer Weltmann geworden, während der Barbier in diesem Punkte noch das reinste Kind war.

»Ich will meine Mietsfrau heimführen«, sagte Poll.

»Ein Weib?« rief Mr. Bailey. »Wegen einer Zwanzigpfundnote!«

Der kleine Barbier beeilte sich zu erklären, daß die Betreffende weder ein junges noch ein hübsches Weib sei, sondern eine Wärterin, die einige Wochen bei einem Gentleman gewissermaßen hausgehalten und diesen Abend ihren Platz zu verlassen habe, um ihn einer andern und legitimeren Persönlichkeit zu räumen, nämlich der jungen Frau des betreffenden Gentleman.

»Er führt nämlich seine Neuvermählte heute abend heim«, erklärte er, »und drum hole ich meine Mieterin ab. – Bei Mr. Chuzzlewit, gerade hinter der Post – und helf ihr den Koffer tragen.«

»Jonas Chuzzlewit?« fragte Mr. Bailey.

»Ja. Kennen Sie ihn vielleicht?«

»Na, na, was denn!« rief Mr. Bailey. »Ganz und gar nicht. Und sie kenn ich natürlich auch nicht. Wieso denn auch. – Die beiden sind doch durch mich zusammengekommen.«

»Was Sie nicht sagen«, rief Paul.

»Hum«, hüstelte Bailey. »Sie ist übrigens nicht übel. Aber ihre Schwester wär mir lieber gewesen. Das war die Lustigere von beiden. Ich hab einen Mordsjux mit ihr ghabt. Damals nämlich.«

Mr. Bailey sprach, als ob er schon mit einem oder dreiviertel Bein im Grabe stünde und sein Erlebnis vor zwanzig oder dreißig Jahren vorgefallen wäre. Poll Sweedlepipe in seiner Bescheidenheit war jedoch durch die frühreife Altklugheit und Gönnermiene seines jungen Freundes sowohl wie durch dessen Stiefel, Kokarde und Livree so vollständig verdutzt, daß förmlich ein Nebel vor seinen Augen schwamm und er nicht den jugendlichen Master Bailey aus Todgers‘ Speisehaus für die Herren Handelsbeflissenen vor sich sah, den er vor einem Jahre kennengelernt, wo dieser ein paarmal Zweipencevögel bei ihm eingekauft hatte, sondern die Akme aller Wettrenngrooms in London, den Inbegriff aller Stallwissenschaftler der Neuzeit, ein Wesen vornehmster Art, das schon viele Dezennien gelebt und furchtbare Erfahrungen gemacht haben mußte. Und wahrhaftig, wenn Mr. Baileys Geist schon in Todgers‘ wolkiger Atmosphäre von jeher glänzend geleuchtet, so übersprang er jetzt doch geradezu Zeit und Raum, ließ den unbefangenen Zuschauer an dem gesunden Urteile seiner Sinne zweifeln und machte seinen Glauben an die Wahrheit und Unerschütterlichkeit der Naturgesetze wanken. Wie er so über das bucklige Pflaster von Holbornhill hinwegspazierte, war er allerdings noch ein Knabe, und zwar ein recht kleiner, aber er blinzelte, dachte und sprach dabei wie ein Greis, und nur die äußerste Oberfläche an ihm machte den Eindruck der Jugend. Er war ein unerklärliches Wesen geworden – eine Sphinx in Hosen und Stulpenstiefeln. Dem Barbier blieb daher keine andere Wahl, als selbst von Sinnen zu kommen oder Master Bailey für ein unerklärliches Phänomen zu halten. Er wählte wohlweislich das letztere.

In seiner Leutseligkeit geruhte Master Bailey, ihm noch weiter Gesellschaft zu leisten und ihn unterwegs mit allerhand Plaudereien über verschiedene Sportsthemen zu unterhalten, besonders über die beziehungsweisen Vorzüge der Pferde mit weißen Füßen und derer ohne weiße Füße; – hinsichtlich des vornehmsten Stils, die Roßschweife zu kupieren, hatte Mr. Bailey seine eigenen Ansichten, die er zwar auseinandersetzte, dabei aber seinen Freund bat, sich keineswegs dadurch bestimmen zu lassen, denn er wisse gar wohl, daß er das Unglück habe, verschiedener Meinung wie einige gewisse hochstehende Autoritäten zu sein. So plauderte er fort, bis er schließlich auf das Rezept eines Schnapses zu sprechen kam, der von einem Mitglied des Jockeyklubs erfunden worden war. Mittlerweile hatten sie den Bestimmungsort des Barbiers beinahe erreicht, und als Mr. Bailey bemerkte, daß er noch eine Stunde Zeit übrig habe, wünschte er, wenn es seinem Freunde angenehm sei, Mrs. Gamp vorgestellt zu werden.

Paul klopfte an Jonas Chuzzlewits Türe. Sie wurde sofort geöffnet, und gleich darauf fand der Friseur Gelegenheit, die beiden distinguierten Persönlichkeiten miteinander bekannt zu machen.

Es war ein glücklicher Zug Mrs. Gamps bei ihrem doppelten Berufe, daß sie sich für jung und alt gleich interessierte. Sie kam daher Mr. Bailey mit großer Freundlichkeit entgegen.

»Dös is schön von Ihna«, sagte sie zu ihrem Hauswirt, »daß Sie kommen und noch dazu an so netten Freind mitbringen; aber ich fürchte, ich muß Sie bitten einzutreten, da das junge Paar noch nicht angekommen is.«

»Sind das Spätlinge, nicht?« sagte der Barbier, nachdem Mrs. Gamp sie die Küchentreppe hinuntergeführt hatte. »Freilich ja, bsonders, wenn man den Fittich der Liebe ins Auge faßt«, sagte Mrs. Gamp.

Mr. Bailey fragte, ob der »Fittich der Liebe« je einen silbernen Becher gewonnen habe oder ob man mit einigermaßen Aussicht auf Erfolg auf ihn wetten könne; wandte sich aber verächtlich ab, als man ihn belehrte, daß der »Fittich der Liebe« kein Pferd, sondern bloß ein poetischer oder figürlicher Ausdruck sei. Mrs. Gamp war so erstaunt über die ansprechenden Manieren und das nonchalante Benehmen des jungen Herrn, daß sie schon im Begriffe stand, ihrem Wirte die Frage zuzuflüstern, ob Mr. Bailey ein Mann oder ein Knabe sei, als Mr. Sweedlepipe, der ihre Absicht merken mochte, dem Gespräch noch rechtzeitig eine andere Wendung gab.

»Er kennt Madame Chuzzlewit«, sagte er laut.

»Er schaut mir ganz danach aus, als ob’s überhaupt nix gäb, was er net kennt«, bemerkte Mrs. Gamp. »Mir scheint, der hat’s faustdick hinter die Ohren.«

Mr. Bailey nahm dies als ein Kompliment auf und gab, seine Krawatte zurechtzupfend, zu: »So ziemlich.«

»So wissen Sie wahrscheinlich auch, wie die Mrs. Chuzzlewit mit ihrem Taufnamen heißt?« fragte Mrs. Gamp.

»Charitas«, sagte Mr. Bailey.

»Nein, nein, ’s is a andrer Name«, entgegnete Mrs. Gamp.

»Na, dann heißt sie Cherry. Cherry ist die Abkürzung davon. Das kommt aufs nämliche heraus.«

»Es fängt mit keinem ›C‹ an«, erwiderte Mrs. Gamp und schüttelte den Kopf, »sondern mit einem ›G‹.«

»Hui!« rief Mr. Bailey und klopfte eine kleine Wolke von Kreide aus seinem weißen linken Hosenbein. »Nachher hat er die Lustige gheirat.«

Da diese Worte ziemlich geheimnisvoll klangen, so bat Mrs. Gamp um eine nähere Erklärung, die Bailey auch gab, wobei sie mit begierigem Ohr auf seine Worte lauschte. Sie waren noch tief im Gespräche begriffen, als unten ein Wagen vorfuhr und ein Doppelschlag an die Haustüre die Ankunft des neuvermählten Paares verkündete. Mrs. Gamp behielt sich vor, das Ende von Mr. Baileys Geschichte auf dem Heimwege anzuhören, ergriff eine Kerze und eilte fort, um die junge Gebieterin des Hauses willkommen zu heißen.

»I wünsch Ihna von Herzen alls Glück und Segen«, begann sie, die Eintretenden mit einem Knicks empfangend, »und auch Ihnen, Mr. Jonas. Die junge Gnädige sieht a bisserl hergnommen von der Reis aus, Mr. Chuzzlewit. –– Na, ist dös aber a herzigs kleins Frauerl!«

»Sie hat mir lange genug darüber vorlamentiert«, brummte Mr. Jonas. »Na, so leuchten Sie uns doch gefälligst!« »Hier herauf, Madame, wenn’s beliebt«, säuselte Mrs. Gamp und ging mit der Kerze voran. »Mir haben alles so gemütlich hergricht, wie’s nur immer gangen ist, aber es gibt noch mancherlei, was Sie umändern werdn, wenn S‘ Ihna amal Zeit nemmen, a bisserl herumzuschaun. – Na, so a liabs kleins Frauerl! –– Aber«, fügte Mrs. Gamp in Gedanken hinzu, »bsonders guat aufg’legt sieht’s net aus.«

Sie hatte recht; es war nicht der Fall. Der Tod, der aus dem Hause gewichen war, um dem Brautabend Platz zu machen, schien seine Schatten zurückgelassen zu haben. Die Luft war dumpf und drückend, der Raum dunkel, und ein unheimliches Düster lagerte in jedem Winkel und jeder Ecke. Vor dem Kamin saß, wie ein Wesen von böser Vorbedeutung, der alte Buchhalter, den Blick auf einige verglommene Holzstücke gerichtet. Er stand jetzt auf und sah die beiden an.

»Na, da sind Sie ja, Chuff«, sagte Jonas gleichgültig und staubte seine Stiefel ab; »noch immer im Lande der Lebenden, was?«

»Noch immer im Lande der Lebenden, Sir«, versetzte Mrs. Gamp, »und das hat Mr. Chuffey Ihnen zu danken, wie ich’s ihm schon oft und oft gsagt hab.«

Mr. Jonas war nicht gerade in der besten Stimmung, denn er sah sich bloß nach der Sprecherin um und bemerkte:

»Wir brauchen Sie jetzt nicht mehr länger, Mrs. Gamp.«

»Glei geh i«, entgegnete die Wärterin, »wann i net vielleicht für die Gnädige was zu tun hab. – Habn S‘ nix«, fügte sie mit einem süßen Blick hinzu und kramte dabei in ihrer Tasche, »was i für Ihna besorgen könnt? – Na, so a liabs Frauerl!« »Nein«, entgegnete Gratia beinahe weinend; »es ist das beste, Sie gehen jetzt.«

Mit einem verzückten Schielblick, das eine Auge auf die Zukunft, das andere auf die junge Frau geheftet, und mit einem teils spirituellen, teils spirituosen schalkhaften Ausdruck im Gesicht, in dem sie jedoch etwas Berufsmäßiges nicht ganz unterdrücken konnte, stöberte Mrs. Gamp abermals in ihrer Tasche herum und brachte eine Karte zum Vorschein, auf der die Inschrift ihres Wohnungsschildes abgedruckt war.

»Wenn i bitten dürft, meine junge Gnädige – na, is dös aber a liabs jungs Frauerl –«, bemerkte sie mit leiser Stimme, »so hebn S‘ die Karten irgendwo auf, wo Sies leicht bei der Hand haben. I bin bei die Damen gut eingführt, und dies ist mei Gschäftskarten. Gamp ist mein Name. Und da i weit herumkomm, werd i so frei sein, hie und da wieder vorzusprechen, um zu fragen, wie’s mit Ihrer Gsundheit steht. – Na, is dös aber a liabs jungs Frauerl –«

Und mit vielem Blinzeln, Hüsteln, Nicken, Lächeln und Knicksen, was zur Herstellung eines geheimnisvollen und vertraulichen Rapportes zwischen ihr und der jungen Frau dienen sollte, rief Mrs. Gamp Gottes Segen auf das Haus herab, bis sie sich glücklich unter Blinzeln, Hüsteln, Nicken und Lächeln zum Zimmer hinausgeknickst hatte.

»Aber dös muß i sagen, und wann i dafür als a Märdyrer auf ’n Scheiterhaufen müßt«, bemerkte sie flüsternd, als sie unten anlangte, »lustig siehts grad net aus, da müßt i lügn.«

»Na, warten S‘ nur, bis Sie’s lachen hörn«, meinte Mr. Bailey.

»Hern«, grunzte Mrs. Gamp. »Ja, ja, dös will i, Kleiner.«

Weiter wurde kein Wort mehr gewechselt. Mrs. Gamp setzte ihren Hut auf, Mr. Sweedlepipe schulterte ihren Koffer, und Mr. Bailey begleitete sie beide nach Kingsgate Street, unterwegs Mrs. Gamp den Ursprung und Verlauf seiner Bekanntschaft mit Mrs. Chuzzlewit und ihrer Schwester erzählend. Es war so recht bezeichnend für die Frühreife des jungen Mannes, daß er sich einbildete, Mrs. Gamp habe eine zärtliche Neigung zu ihm gefaßt, und höchlichst über diesen Mißgriff ergötzt schien. –

Als die Türe schwer ins Schloß fiel, setzte sich Mrs. Jonas in einen Lehnstuhl, und ein seltsamer Schauder kroch ihr über den Rücken, während sie sich in dem Zimmer umsah. Es war beinahe noch ganz so, wie sie es von früher her kannte, schien ihr aber viel trauriger zu sein. Sie hatte es zu ihrem Empfange fröhlicher aussehend gehofft.

»Es ist dir wahrscheinlich nicht gut genug, was?« fragte Jonas, sie mit seinen Blicken belauernd.

»Ja, es ist sehr öde hier«, entgegnete Gratia, sich zusammennehmend.

»Es wird noch viel öder werden«, knurrte Jonas, »wenn du solche Gesichter schneidest. – Recht liebenswürdig von dir! Gleich am Anfang. Donnerwetter noch mal, du hattest doch Leben genug in dir, als es dir gefiel, mich zu plagen. – Übrigens, das Mädchen ist in der Küche unten. Ziehe die Klingel, damit das Nachtessen kommt, während ich mir die Stiefel ausziehe.«

Gratia sah ihrem Gatten nach, wie er sich entfernte, und stand auf, um zu tun, wie er ihr geheißen, da legte plötzlich der alte Chuffey sanft seine Hand auf ihren Arm.

»Sie sind doch nicht verheiratet?« fragte er hastig. »Doch nicht etwa verheiratet?«

»Ja, seit einem Monat – Gott im Himmel, was haben Sie denn?«

Chuffey antwortete, er habe gar nichts, und wandte sich von ihr ab. In ihrer Angst und ihrem Erstaunen drehte sie sich jedoch nach ihm um und bemerkte, wie er, die zitternden Hände über den Kopf erhoben, flüsterte:

»Wehe, wehe, wehe über dieses verfluchte Haus!«

Das war ihr Willkommen, ihr Willkommen am häuslichen Herd!

27. Kapitel


27. Kapitel

Zeigt, daß alte Freunde nicht nur mit neuen Gesichtern, sondern auch mit fremdem Gefieder auftreten können. Desgleichen, daß manchmal der der Geleimte ist, der andere zu leimen denkt

Mr. Bailey junior – denn der junge Sportsmann, einst von so allgemeiner Ersprießlichkeit für Todgers‘ hatte für immer dieser Firma den Rücken gekehrt –, Mr. Bailey junior, gerade groß genug, um einem forschenden Auge nicht direkt zu entgehn, saß auf dem Bock von seines Herrn Kabriolett und blickte mit Gleichgültigkeit auf die Welt herab. Langsam kutschierte er um die Mittagsstunde, seinen Herrn erwartend, Pall Mall auf und nieder. Das Pferd, das sich einer so ausgezeichneten Herkunft erfreute, indem es den »Capricorn« zum Bruder und die »Kauliflower« zur Mutter hatte, zeigte sich seiner hohen Verwandtschaft würdig, das heißt, es bäumte sich wie ein Wappenroß und kaute an dem Gebiß, bis seine Brust ganz weiß von Schaum war. Das plattierte Geschirr und die juchtenledernen Zügel glänzten in der Sonne, daß die Fußgänger bewundernd stehenblieben, während Mr. Bailey in steifer, wohlgefälliger Haltung umherblickte. Er schien zu sagen: »Ein Schubkarren, meine guten Leute, nichts als ein Schubkarren. Habt ihr eine Ahnung, was wir alles könnten, wenn wir wollten!« Und weiter fuhr er, seine kurzen, grünen Arme über dem Spritzleder ausbreitend, als wäre er unter den Achselhöhlen mit Haken daran befestigt.

Mr. Bailey hatte eine hohe Meinung von dem Sohne der Kauliflower und schätzte dessen Tugenden ungemein, aber er sagte es ihm nie; im Gegenteil, es war seine Taktik, wenn er das Pferd kutschierte, es mit respektswidrigen, wenn nicht beleidigenden Ausdrücken zu überschütten, wie zum Beispiel: »Na also, was is denn, dummes Luder? Links oder rechts gefällig? Na, wohin denn schon wieder. Oha! Mistviech!« usw. Diese abgerissenen Bemerkungen begleitete er gewöhnlich mit einem Ruck am Zügel oder einem Peitschenknall, was zu manchem Wettstreit und Messen der Kräfte Anlaß gab und jetzt damit enden zu wollen schien, daß das edle Roß wieder einmal in Porzellanläden und andere wenig geeignete Orte rennen wollte.

Augenblicklich war Mr. Bailey besonders gut aufgelegt und daher ungewöhnlich hart gegen seinen Pflegling, und demgemäß beschränkte sich das edle Tier fast ausschließlich darauf, auf den Hinterbeinen zu gehen und sich ohne Unterlaß in dem Riemenwerk zu verfangen, was den Spaziergängern ungemein großen Spaß machte. Mr. Bailey jedoch ließ sich das nicht anfechten, und immer hatte er noch Zeit und Muße genug, um jeden, der ihm den Weg versperrte, mit einem Platzregen von Artigkeiten zu überschütten. So rief er zum Beispiel einem stämmigen Kohlenträger in einem Wagen, der ihm gerade über den Weg fuhr, zu: »Na, Lausbub, so was kutschiert auch schon?!« Ein paar ältliche Damen, die noch rasch über die Straße wollten und dann wieder zurückeilten, fragte er, warum sie nicht ins Arbeitshaus gingen und sich einen Begräbnisschein ausstellen ließen. Und die Straßenjugend verleitete er durch freundliche Worte, hinten aufzuspringen, um sie, wenn sie oben waren, wieder herunterzupeitschen – kurz, mit derartigen Lichtblitzen eines unerschöpflichen Humors vertrieb er sich auf seiner Runde um St. James Square die Zeit und fuhr auf der andern Seite wieder ganz langsam nach Pall Mall hinein, als hätte er sein Tier nie anders als im Schneckentempo kutschiert.

Erst, als er diese Belustigungen einige Male wiederholt und den Apfelstand an der Ecke so gefährdet hatte, daß es ein wahres Wunder war, wieso derselbe unbeschädigt bleiben konnte, machte er an der Türe eines gewissen Hauses in Pall Mall halt und sprang, offenbar einem erhaltenen Befehle gehorsam, heraus. Nachdem er einige Minuten die Zügel gehalten und mit jedem Ruck oder Zügelriß an den Nüstern des Sohnes der Kauliflower diesen auf die Hinterbeine gebracht, stiegen zwei Personen in das Kabriolett, von denen die eine die Zügel ergriff und rasch davonfuhr. Mr. Bailey mußte erst einige hundert Schritt vergebens hintendrein laufen, aber schließlich gelang es ihm, seine kurzen Beine auf den eisernen Tritt zu bringen und endlich samt seinen Stiefeln auf das kleine Fußbrett hintenauf zu gelangen. Dann freilich bot er ein sehenswürdiges Schauspiel: bald auf dem linken, bald auf dem rechten Bein balancierend, suchte er einmal rechts, einmal links um das Kabriolett herumzugucken, und dann wieder bemühte er sich, hochmütig über das Kleinfuhrwerk hinwegzublicken, das rasselnd zwischen den Kutschen und Karren umherfuhr; kurz, er war vom Scheitel bis zur Zehe ganz und gar »Newmarket«.

Die Außenseite von Mr. Baileys Gebieter rechtfertigte im vollen Maße die Schilderung, die der begeisterte Jüngling dem verwunderten Poll gegeben. Er trug einen Wald von pechschwarz glänzendem Haar auf dem Kopf, auf den Backen, auf dem Kinn und auf der Oberlippe. Seine Kleidung, von feinstem und modernstem Schnitt, war aus den teuersten Stoffen gefertigt. Eingewebte Blumen von Gold, Blau, Grün und Rot zierten seine Weste, und kostbare Ketten und Juwelen funkelten an seiner Brust. Die Finger waren mit Brillantringen so überladen, daß sie sich kaum biegen ließen, und das Sonnenlicht spiegelte sich in seinem glänzenden Hut und in seinen Stiefeln wie in geschliffenem Glas.

Und doch, wenn auch mit verändertem Namen und umgewandelter Außenseite, war es niemand anders als Mr. Tigg.

Wohl war das Äußere nach innen gekehrt und das innere nach außen, und ein fremdes Gefieder zierte den ganzen Mann, aber es war Mr. Tigg. Wenn auch nicht Mr. Montague Tigg, sondern Mr. Tigg Montague; derselbe diabolische, tapfere militärische Haudegen, Mr. Tigg. Das Metall war vergoldet, lackiert und neu punziert, aber trotzdem die alte Legierung.

Neben ihm saß mit lächelndem Munde ein Gentleman von geringeren Prätentionen und von geschäftsmäßigem Aussehen, den er mit »David« anredete. Sollte das wirklich der David mit dem anrüchigen Wappen der drei goldenen Kugeln sein? David, der Pfandverleihergehilfe? Allerdings, derselbe David war es.

»Das Sekretärsgehalt, David«, näselte Mr. Montague, »– denn das Institut ist jetzt begründet – beträgt achthundert Pfund im Jahr; Wohnung, Heizung und Licht frei und fünfundzwanzig Stück Aktien als Anteil; selbstverständlich. Ist das genug?« David lächelte und nickte, nickte und lächelte, rieb sich die Nase mit seinem kleinen verschlossenen Portefeuille, das er bei sich führte; – alles mit einer Miene, die deutlich verriet, daß er selbst der Sekretär war.

»Na also, wenn’s genug ist«, fuhr Mr. Montague fort, »so will ich’s bei der heutigen Sitzung in meiner Eigenschaft als Präsident in Vorschlag bringen.«

Der Sekretär lächelte wieder – lachte sogar, rieb sich abermals pfiffig die Nase und sagte:

»Es war ein Kapitalgedanke, meinen Sie nicht?«

»Was war ein Kapitalgedanke, David?« fragte Mr. Montague.

»Na, die Anglo-Bengalische«, kicherte der Sekretär.

»Die Anglo-Bengalische uneigennützige Anlehen- und Lebensversicherungskompagnie ist ein Kapitalgeschäft, das wollen wir hoffen. Was David? Hahaha!« lachte Mr. Montague.

»Kapital! Allerdings«, rief der Sekretär ebenfalls lachend, »in einem Sinne wenigstens.«

»In dem allein wichtigen Sinne des Wortes«, verbesserte der Präsident. »Das ist Nummer eins, David.«

»Wie hoch«, fragte der Sekretär unter fortwährendem Gelächter, »wird sich nach dem nächsten Prospekt das eingezahlte Kapital belaufen?«

»Eine Zwei und so viel Nullen dahinter, wie der Drucker auf die Zeile bringen kann«, versetzte Mr. Montague. »Ha, ha, ha.«

Darüber lachten beide, und der Sekretär so heftig, daß er mit den Füßen das Spritzleder niederstampfte, worüber der Sohn der Kauliflower beinahe in einen Austernladen hineinrannte und Mr. Bailey einen so plötzlichen Stoß erhielt, daß er für einen Augenblick an einem einzigen Haltriemen hing und wie die symbolische Gestalt einer jungen Fama mit den Beinen in der Luft schwebte.

»Sind Sie ein pfiffiger Kunde!« rief David bewundernd, als er sich wieder gefaßt hatte.

»Sagen Sie: ein Genie, David.«

»Gut also – meiner Seel, Sie sind ein Genie. Ich hab’s ja immer gewußt, daß Sie ein tüchtiges Mundwerk hatten, aber nie würde ich geglaubt haben, daß Sie nur halb der Mann wären, der Sie wirklich sind. Nie wär mir so was eingefallen.« »Ich weiß mich den Umständen anzupassen, David; das ist schon an und für sich eine geniale Eigenschaft«, erklärte Mr. Tigg. »Wenn Sie zum Beispiel in dieser Minute eine Wette von hundert Pfund an mich verlören, David, und sie bezahlen müßten, was verteufelt unwahrscheinlich wäre, würde ich mich sofort der veränderten Sachlage anzupassen wissen.«

– Allerdings war nicht zu leugnen, daß Mr. Tigg sich den »Umständen anzupassen« gewußt hatte, und sofern er das Geschäft der Prellerei jetzt in einem großartigen Maßstabe betrieb, auch ein größerer Mann geworden war.

»Ha, ha, ha!« kicherte der Sekretär und legte mit steigender Vertraulichkeit seine Hand auf den Arm des Präsidenten, »wenn ich Sie so ansehe und an Ihre Güter in Bengalen denke – ha, ha, ha! –«

Die halb ausgesprochene Idee schien für Mr. Montague nicht weniger belustigend zu sein als für seinen Freund, wenigstens lachte er ebenfalls herzlich.

»Daß diese«, nahm David seine Rede wieder auf, »daß diese Ihre Güter in Bengalen – alle Ansprüche an die Kompagnie decken sollen! Wenn ich Sie mir so ansehe und mir alles das denke – meiner Seel, ich glaube, ich zerspringe vor Lachen.«

»Es sind auch verflucht hübsche Besitzungen«, sagte Mr. Tigg Montague. »Die Tigerjagden allein sind schon eine Bank wert, David.« – David fuhr fort zu lachen, sich die Seiten zu halten und sich die Augen zu wischen, ohne etwas anderes herauszubringen als: »Ach Gott, sind Sie ein Gerissener!«

»Ein Kapitalgedanke!« fing Mr. Tigg, nach einer Weile auf die erste Bemerkung seines Begleiters zurückkommend, wieder an. »Ohne Zweifel war es ein Kapitalgedanke. Es war meine Idee.«

»O nein, es war die meine«, remonstrierte David. »Ehre dem, dem Ehre gebührt. Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich einige Pfund zurückgelegt hätte?«

»Ganz recht«, gab Tigg zu, »aber sagte ich Ihnen nicht, daß auch mir ein paar Pfund zugefallen seien?«

»Jawohl«, erwiderte David. »Aber das hat ja mit der Idee nichts zu tun. – Wer hat Ihnen den Vorschlag gemacht, wir sollten unser Geld zusammenschließen, ein Bureau errichten und die Lärmtrommel schlagen?« »Und wer sagte«, rief Mr. Tigg, »wir könnten ganz ohne Geld ein Bureau errichten und Aufsehen erregen, wenn wir’s nur in gehörigem Maßstabe anfingen? – Seien Sie vernünftig und gerecht – und sagen Sie mir, von wem die Idee ausging?«

»Nun ja« – David sah sich genötigt, dieses Zugeständnis zu machen – »hierin haben Sie einen gewissen Vorsprung vor mir. Ich will mich übrigens auch nicht mit Ihnen auf gleiche Höhe stellen, sondern verlange nur das bißchen Ehre, das mir bei dem Geschäfte zukommt.«

»Alles, was Ihnen gebührt, sollen Sie haben«, versetzte Mr. Tigg. »Die glatte Arbeit der Gesellschaft, David – die Bücher, die Eintragungen, die Zirkulare, Annoncen, Tinte, Papier und Feder, Siegellack- und Oblatenwirtschaft –, alles das wird bewunderungswürdig von Ihnen besorgt. Sie sind ein Allerweltskritzler, das bestreite ich nicht, aber der ganze weitere Ausbau, David – das erfinderische und sozusagen poetische Departement –«

»Gehört Ihnen«, ergänzte David. »Fraglos! Und bei so ner Frachtequipage mit all den schönen Dingen, die Sie am Leibe haben, und bei dem Leben, das Sie führen, glaube ich, ist’s ein recht angenehmes Departement, das Sie übernommen haben.«

»Erfüllt es nicht seinen Zweck? Ist es nicht Anglo-Bengalisch?« fragte Mr. Tigg.

»Ja, allerdings.«

»Und glauben Sie vielleicht, daß Sie es könnten?«

»Nein«, gab David zu.

»Ha, ha«, lachte Mr. Tigg, »dann seien Sie mit Ihrer Stellung und mit Ihrem Profit zufrieden, lieber Freund, und segnen Sie den Tag, der uns an dem Ladentisch unseres gemeinschaftlichen ›Onkels‹ zusammenführte, denn es war ein goldener Tag für Sie.«

Wie man leicht aus diesem Gespräche entnehmen konnte, hatten sich die beiden Biedermänner in ein großartiges Unternehmen eingelassen, und da dabei alles zu gewinnen und nichts zu verlieren war, schien das Geschäft vortrefflich angelegt zu sein.

Die »Anglo-Bengalische uneigennützige Anlehens- und Lebensversicherungskompagnie« trat eines Morgens ins Dasein, aber nicht etwa als Säugling, sondern als eine völlig ausgewachsene Kompagnie, die schon recht gut alleine laufen konnte und all und überall Geschäfte machte. Eine Filiale befand sich im Westende der Stadt, im ersten Stockwerk einer Schneiderswohnung, und das Hauptbureau lag in einer neuen Straße der City, den ganzen geräumigen Teil eines Hauses umfassend, das reichlich mit Stuck und Spiegelscheiben geschmückt, mit Drahtgaze vor allen Fenstern und mit der Aufschrift »Anglo-Bengalische Kompagnie« versehen war. Am Eingangstor stand die Inschrift: »Bureau der Anglo-Bengalischen uneigennützigen Leih- und Lebensversicherungsgesellschaft«. Daneben hing ein großes Messingschild mit derselben Ankündigung, blitzblank gehalten, um Kunden anzulocken. An Werktagen, nach den Bureaustunden, geriet die ganze City davor außer sich und an Sonntagen den ganzen langen Tag über, denn es stach mehr in die Augen als sogar ein Bankschild. Innen waren die Räume frisch gemörtelt, geweißt, tapeziert, mit neuen Comptoirtischen, Stühlen und Fußteppichen versehen, kurz, auf alle mögliche Art neu ausstaffiert und mit kostspieliger und solider Einrichtung möbliert. Geschäft! Funkelnagelneue grüne Hauptbücher mit roten Rücken, wie starke, flachgeschlagene Spielbälle, die Hof- und bürgerlichen Adreßbücher, Tagebücher, Almanache, Briefkasten, Maschinen, um Briefe zu wiegen, ganze Reihen von Feuereimern, um eine Feuersbrunst im ersten Augenblick zu ersticken und das ganze ungeheure Vermögen in Wechseln und Banknoten retten zu können, das der Gesellschaft gehörte – dann eiserne Geldschränke, Bureauuhren und Geschäftssiegel von ungeheurem Umfang, die an und für sich schon Sicherheit verbürgten – und Solidität! Man brauchte sich nur die massiven Marmorblöcke an den Kaminen ansehen und das prächtige Dachsims oben am Hause! Sogar auf den Kohlenkasten waren die Insignien der »Anglo-Bengalischen uneigennützigen Anlehens- und Lebensversicherungsgesellschaft« angebracht. Sie wiederholten sich an allen Enden und Ecken, daß einem die Augen übergingen und der Kopf schwindelig wurde, in Kupfer gestochen über jedem Bogen Briefpapier und im Schnörkelrand um das Siegel. Sie leuchteten einem entgegen von den Rockknöpfen des Portiers, wiederholten sich wohl zwanzigmal in jedem Zirkular und jeder öffentlichen Annonce, in der Mr. David Crimple Esquire, Sekretär und stellvertretender Direktor, sich die Freiheit nahm, die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Angaben hinsichtlich der Vorteile zu lenken, die die Anglo-Bengalische uneigennützige Anlehen- und Lebensversicherungsgesellschaft bot und die vollkommen bewiesen, daß jede Verbindung mit diesem Institut für das Publikum soviel wie ein fortwährendes Weihnachtsgeschenk und eine Art sich selbst füllender Sparbüchse bedeutete und daß niemand bei diesem Geschäfte etwas riskieren konnte als das Bureau allein, das bei seiner anerkannten großen Freigebigkeit nur auf Schaden rechnete. Und das war – erlaubte sich David Crimple, Esquire, zu bemerken – wohl die beste Garantie, die das Direktorium billigerweise für seine Solidität bieten konnte.

Beiläufig bemerkt, lautete der Name dieses Gentleman ursprünglich Crimp, da aber »Crimp« auf englisch soviel bedeutet wie Seelenverkäufer und der ominöse Klang daher leicht mißdeutet werden konnte, war er in Crimple verwandelt worden.

Waren dies nicht Beweise und Bekräftigungen genug, um alles Mißtrauen gegen die »Anglo-Bengalische uneigennützige Anlehens- und Lebensversicherungsgesellschaft« im Keime zu ersticken? Damit aber außerdem niemand in Tigg Montague, Esquire, von Pall Mall und Bengalen, oder irgendeinen anderen Namen auf der imaginären Liste der Direktoren Zweifel setze, falls man Mr. Tigg noch nicht in seinem Kabriolett gesehen, so hatte das Institut einen Portier angestellt, eine wunderbare Erscheinung in einer großen roten Weste und einem kurzschößigen pfeffer-und-salz-farbigen Frack, der die skeptischsten Gemüter zum Glauben schneller bekehren mußte als das ganze Institut ohne ihn. Zwischen ihm und dem Direktorium bestand keinerlei Verbindung; niemand wußte, wo er früher Portier gewesen, und niemand hatte ihm ein Zeugnis oder sonstige Auskunft abverlangt. Von keiner Seite waren Fragen gestellt worden. Das geheimnisvolle Geschöpf hatte sich, nur auf seine Figur bauend, für die Stelle gemeldet und sie auch augenblicklich auf seine eigenen Bedingungen hin erhalten. Seine Ansprüche schienen allerdings recht bedeutend, aber er wußte ohne Zweifel, daß niemand eine so große Weste tragen könne wie er, und fühlte den vollen Wert seiner Befähigung für ein derartiges Institut. Wenn er auf dem ausdrücklich für ihn entworfenen Sessel in einer Ecke des Bureaus saß, seinen glänzenden Hut an einem Nagel über sich, da war es unmöglich, an der Solidität des Unternehmens zu zweifeln. Das Vertrauen verdoppelte sich sozusagen mit jedem Quadratzoll seiner Weste und häufte sich wie bei dem Rechenexempel mit dem Schachbrett und dem Weizenkorn zu einer ungeheuern Summe. Man wußte von Leuten, die ihr Leben für tausend Pfund versichern wollten, sobald sie aber seiner ansichtig wurden, das Formular sofort für zweitausend ausfüllten. Und doch war der Mann durchaus kein Riese. Sein Frack konnte eher klein als groß genannt werden. Der ganze Zauber lag lediglich in seiner Weste. Achtbarkeit, Vermögensstand, große Güter in Bengalen oder sonstwo, hinlängliche Mittel zur Deckung jeden Betrages von seiten der Kompagnie, die ihn angestellt – alles das war in diesem einzigen Kleidungsstücke ausgedrückt.

Rivalisierende Unternehmungen hatten getrachtet, ihn an sich zu locken; selbst Lombard Street hatte ihm ein schönes Auskommen angeboten, und reiche Landgemeinden hatten ihm zugeflüstert: sei unser Kirchspieldiener. Aber dennoch blieb er unentwegt der Anglo-Bengalischen Kompagnie treu. Ob er ein findiger Spitzbube oder ein aufgeblasener Einfaltspinsel war, ließ sich unmöglich ermitteln, jedenfalls schien er auf seine Prinzipalschaft unbedingtes Vertrauen zu setzen. Sein Ansehen war gravitätisch vor lauter eingebildeten Geschäftssorgen. Obwohl er nichts zu tun und nichts zu behüten oder zu bewachen hatte, machte er ein Gesicht, als ob die Last seiner zahllosen Pflichten und die Kenntnisse der Schätze, die in den Geldkästen der Gesellschaft begraben lagen, ihn ungeheuer niederdrückten und ihn feierlich und gedankenvoll stimmten.

Als das Kabriolett vor das Haupttor gefahren kam, erschien dieser Würdenträger barhäuptig auf der Schwelle und rief laut: »Platz für den Präsidenten, Platz für den Präsidenten, wenn’s gefällig ist« – sehr zur Verwunderung der Umstehenden, die, wie wohl kaum zu erwähnen nötig, von diesem Augenblick an ihre Aufmerksamkeit beständig der Anglo-Bengalischen Kompagnie zuwandten. Mit einem anmutigen Satz sprang Mr. Tigg aus dem Wagen, gefolgt von dem Sekretär, der jetzt sehr abgemessen und respektvoll geworden war, und stieg die Treppe empor, wobei ihm der Portier mit dem fortwährenden Rufe voranschritt: »Platz, wenn ich bitten darf, Platz! Der Präsident der Kompagnie, meine Herren!« – In gleicher Weise, nur mit noch kräftigerer Stentorstimme, führte er den Präsidenten durch das öffentliche Bureau, wo einige Klienten bescheiden warteten, in ein ehrfurchtgebietendes Gemach mit der Inschrift: Beratungssaal. Sofort schloß sich die Türe dieses Heiligtums jedoch wieder, um den großen Kapitalisten dem Anblick der Profanen zu entziehen.

Der »Beratungssaal« war mit einem türkischen Teppich belegt und geschmückt mit dem Porträt von Tigg Montague, Esquire, als Präsidenten. Außerdem befanden sich darin ein sehr imposanter offizieller Lehnstuhl, zu dem ein elfenbeinerner Hammer und eine kleine Handglocke gehörten, ein Nebentisch und eine lange Tafel, auf der hie und da einige Bogen Löschpapier, Foliobogen, saubere Federn und Tintenfässer standen. Nachdem der Präsident höchst feierlich seinen Sitz eingenommen, stellte sich ihm der Sekretär zur Rechten, während sich der Portier hinter ihm kerzengerade als farbiger Westenhintergrund aufpflanzte. Das war das ganze Kollegium –– alles übrige gehörte ins Reich der Fiktion.

»Bullamy!« rief Mr. Tigg.

»Sir!«

»Richten Sie dem Doktor der Gesellschaft mein Kompliment aus. Ich möchte ihn gerne sprechen.«

Bullamy, der Portier, räusperte sich, eilte in das Bureau hinaus und rief: »Der Herr Präsident wünschen den Doktor der Gesellschaft zu sprechen!«

Gleich darauf kehrte er mit dem fraglichen Herrn zurück, und beim jedesmaligen Öffnen der Sitzungszimmertüre reckten die harmlosen Klienten ihre Hälse und stellten sich auf die Zehen, voll sehnsüchtigen Verlangens, nur einen Blick in das geheimnisvolle Gemach werfen zu dürfen.

»Jobling, mein lieber Freund!« rief Mr. Tigg. »Wie geht’s Ihnen? Bullamy, warten Sie draußen! Crimple, Sie brauchen uns nicht zu verlassen. Mein lieber Jobling, es freut mich, Sie zu sehen!« »Und wie geht es Ihnen, Mr. Montague?« fragte der Arzt, sich behaglich in den Lehnstuhl werfend – das Sitzungszimmer hatte nämlich lauter Lehnstühle –, und holte eine schöne goldene Tabatiere aus der Tasche seiner schwarzen Atlasweste, »wie geht es Ihnen? Ein bißchen angegriffen vom Geschäfte, wie? Wenn dem so ist, so ruhen Sie sich ein wenig aus. Oder ein bißchen Fieber vom Weine, hm? In diesem Falle Wasser. Sind Sie wohl und geht es Ihnen ganz gut, dann nehmen Sie einen Lunch. Es ist äußerst heilsam, sich um diese Tageszeit zur Auffrischung der Magensäfte eines Lunchs zu bedienen, Mr. Montague.«

Der Arzt, er war derselbe, der Anthony Chuzzlewit zu Grabe geleitet und Mrs. Gamps Patienten im Ochsen behandelt hatte, lächelte bei diesen Worten und fügte so nebenbei hinzu, einige Schnupftabakskörner von seinem Busenstreif schnippend:

»Sie müssen wissen, ich selbst pflege zu dieser Tageszeit stets etwas zu mir zu nehmen.«

»Bullamy!« rief der Präsident sofort und läutete mit der kleinen Glocke.

»Sir?«

»Lunch!«

»Aber doch nicht hoffentlich um meinetwillen«, wehrte der Doktor ab. »Oh, Sie sind sehr gütig; ich danke Ihnen. Sie beschämen mich. Wenn ich in meiner Praxis auf Geld sähe, Mr. Montague, würde ich die Sache nur gegen ein Honorar erwähnt haben. Verlassen Sie sich darauf, mein werter Herr, wenn Sie sich’s nicht zur Regel machen, täglich und pünktlich einen Lunch zu nehmen, so kommen Sie bald unter meine Hände. Erlauben Sie mir übrigens, das näher zu beleuchten. In Mr. Crimples Bein zum Beispiel –«

Der Sekretär fuhr unwillkürlich zurück, denn der Doktor hatte ihn in der Hitze seines Belehrungseifers am Bein gepackt und dieses quer über sein eigenes gelegt, als wäre er eben im Begriff, es zu amputieren.

»In Mr. Crimples Bein werden Sie bemerken«, fuhr der Arzt fort, schlug die Manschetten zurück und umspannte den Schenkel mit beiden Händen, »da, wo das Knie in die Gelenkhöhle paßt, hier – das heißt zwischen dem Bein und der Gelenkhöhle –, befindet sich ein gewisses Quantum animalischen Öles.« »Wozu suchen Sie sich dazu gerade mein Bein aus«, fragte Mr. Crimple und blickte den Arzt ängstlich an. »Es ist doch nicht interessanter als irgendein anderes, nicht wahr?«

»Kehren Sie sich nicht daran, mein lieber Herr«, versetzte der Arzt abweisend, »ob es wie andere Beine ist oder nicht.«

»Aber es geht mich doch etwas an«, wendete David ein.

»Ich wähle einen speziellen Fall, Mr. Montague«, fuhr der Doktor fort, »um, wie Sie sehen, meine Bemerkung zu illustrieren. In diesem Teil von Mr. Crimples Bein also befindet sich eine gewisse Menge animalischen Öles. In jedem von Mr. Crimples Gelenken befindet sich mehr oder weniger von derselben Flüssigkeit. Gut. Wenn nun Mr. Crimple seine Mahlzeiten vernachlässigt oder sich die gehörige Ruhe versagt, so nimmt dieses Öl ab. – Es verzehrt sich. Was ist die Folge davon? Mr. Crimples Knochen vermorschen, Sir. Mr. Crimple wird ein magerer, schwächlicher, verkümmerter und elender Mensch.« Dann ließ Doktor Jobling Mr. Crimples Bein plötzlich fallen, als befände sich der Patient, dem es angehörte, bereits in diesem angenehmen Zustande, schlug seine Manschetten wieder herunter und blickte den Präsidenten triumphierend an.

»Unsere Kunst ermöglicht es uns, gewisse Naturgeheimnisse zu durchschauen«, sagte er. »Das versteht sich übrigens von selbst. Wofür studierten wir denn sonst? Nur zu diesem Zwecke machen wir unsern Kurs an der Universität und sichern uns eine geachtete Stellung in der Gesellschaft. – – Es ist außerordentlich seltsam, wie wenig man im allgemeinen von solchen Gegenständen weiß. Wo glauben Sie zum Beispiel« – er lehnte sich lächelnd in seinem Stuhle zurück, schloß das eine Auge und bildete mit seinen Händen ein Dreieck, wozu beide Daumen die Basis abgaben – »wo glauben Sie zum Beispiel, daß Mr. Crimples Magen liegt?«

Mr. Crimple klopfte noch aufgeregter als vorhin mit der Hand auf die Stelle unter seiner Weste.

»Weit gefehlt«, rief der Doktor, »weit gefehlt! Übrigens ein ganz gewöhnlicher Irrtum. Mein werter Herr, Sie haben vollständig unrichtige Begriffe.«

»Wenn er in Unordnung ist, fühle ich ihn hier, weiter weiß ich nichts«, entschuldigte sich Mr. Crimple. »Das bilden Sie sich nur ein«, verwies der Arzt streng. »Die Wissenschaft gibt hierüber bündigere Auskunft. Ich hatte einmal einen Patienten« – er berührte dabei einen der vielen Trauerringe auf seinen Fingern und neigte das Haupt ein wenig – »einen Gentleman, der mir die Ehre erwies, in seinem Testamente meiner auf eine sehr schöne Weise zu gedenken – ›aus Anerkennung‹, wie er es zu nennen beliebte, ›für den unablässigen Eifer und die hohe Kunst meines Freundes und Hausarztes, John Jobling, Esquire, usw. usw.‹ – Dieser Gentleman also war so sehr von der Idee eingenommen, sein Leben lang an einer irrigen Ansicht über die Lage dieses Organs gelitten zu haben, daß er, als ich ihm bei meiner medizinischen Ehre und Reputation versicherte, er sei im Irrtum, in Tränen darüber ausbrach, die Hand ausstreckte und sagte: ›Jobling, Gott segne Sie dafür!‹ Unmittelbar darauf verlor er die Sprache und fand zuletzt in Brixton seine letzte Ruhestätte.«

»Platz, wenn ich bitten darf«, rief Bullamy draußen, »Platz, wenn ich bitten darf. Erfrischungen für das Sitzungszimmer!«

»Ha!« rief der Doktor, sich humorvoll die Hände reibend, und rückte seinen Stuhl näher an den Tisch. »Die wahre Lebensversicherung, Mr. Montague, die beste Versicherungspolice auf Erden, mein werter Herr! Ja, wir müssen vorsorglich handeln und essen und trinken, solange wir können. – Was meinen Sie, Mr. Crimple?«

Der Sekretär stimmte bei, wenn auch etwas mürrisch, als ob seine Vorfreude, sich den Magen zu füllen, durch die Erschütterung seiner vorgefaßten Meinung über die Lage dieses Organs immerhin gelitten hätte. Aber die Erscheinung des Portiers und Unterportiers mit je einem Servierbrett, das mit einem schneeweißen, teilweise zurückgeschlagenen Tuche bedeckt war, so daß man ein paar gebratene Hühner nebst Kompott und Salat zu sehen bekam, stellte bald wieder seine gute Laune her. Noch erhöht wurde sie durch die Ankunft einer Flasche Champagner und einer andern mit vortrefflichem Madeira. Und bald griff er zu Messer und Gabel mit einem Appetit, der dem des Arztes kaum in etwas nachgab.

Der Lunch wurde sehr luxuriös serviert mit einem Überfluß von schöngeschliffenen Gläsern und Porzellantellern, denn man schien damit andeuten zu wollen, daß ein zur Schau getragener Prunk in Essen und Trinken keine unwichtige Beigabe zu dem Geschäfte der Anglo-Bengalischen Kompagnie ausmache. Im Verlaufe des Mahles wurde der Assekuranzarzt immer aufgeräumter und rotköpfiger, und jeder Bissen, den er aß, und jeder Tropfen Wein, den er trank, schienen seinen Augen neuen Glanz zu verleihen und auf Nase und Stirn neue Funken anzuzünden.

In gewissen Teilen der City und der Nachbarschaft war Mr. Jobling eine sehr populäre Persönlichkeit. Er hatte ein auffallend glattes Kinn und eine zuversichtliche Fettstimme, die einem das Herz aufgehen machte wie ein Lichtstrahl, der sich in dem rötlichen Medium eines auserlesenen alten Burgunders bricht. Seine Halsbinde und sein Jabot waren stets von fleckenlosestem Weiß, seine Kleider von glänzendstem Schwarz, seine Uhrkette höchst gewichtig und die Petschafte daran so groß, wie man nur welche zu sehen kriegt. Seine blanken Stiefel knarzten, wenn er ging. Bestimmt konnte er besser als irgend sonst ein Lebendiger den Kopf schütteln, sich die Hände reiben oder den Rücken vor dem Ofen wärmen. Auch hatte er eine eigentümliche und seinen Patienten großes Vertrauen einflößende Weise an sich, mit den Lippen zu schmatzen und während der Berichte seiner Patienten: »Ah!« zu sagen. Er schien damit auszudrücken: »Was Sie sagen wollen, weiß ich viel besser als Sie, aber fahren Sie nur immerhin fort, fahren Sie nur immerhin fort.« Mochte er nun etwas zu sagen haben oder nicht, jedenfalls schwatzte er in einem fort, und man wußte allgemein, daß er voll von Anekdoten stak. Aus demselben Grunde nahm man auch an, daß der Umfang seiner Erfahrung und der daraus gezogene Gewinn jeder Beschreibung spotte. Seine weiblichen Patienten konnten ihn gar nicht genug lobpreisen, und die kältesten und zurückhaltendsten unter seinen männlichen Patienten pflegten zu ihren Freunden stets zu sagen: »Was man auch immer von Joblings medizinischer Geschicklichkeit halten mag – und es ist nicht zu leugnen, daß er einen großen Ruf hat –, soviel steht nun einmal fest, er ist einer der angenehmsten Menschen, die es je gegeben hat.«

Doktor Jobling war aus mehreren Gründen – und darunter war der nicht unwichtigste, daß er seine meisten Patienten unter den Handelsständen hatte – gerade der Mann, den die Anglo-Bengalische Gesellschaft als Assekuranzarzt brauchte. Er war aber viel zu gescheit, um sich mit ihr weiter zu identifizieren, als daß er als ihr bezahlter ärztlicher Beistand galt, oder um sein Verhältnis zu ihr von andern mißverstehen zu lassen, wenn er es verhindern konnte. Daher ließ er sich gegenüber jedem, der darüber etwas wissen wollte, ungefähr in folgender Art und Weise aus:

»Ja, was die Anglo-Bengalische betrifft, werter Herr, so ist mein Wissen sehr beschränkt, sehen Sie, sehr beschränkt. Ich bin dort Assekuranzarzt gegen ein gewisses monatliches Fixum. ›Der Arbeiter ist seines Lohnes wert‹, und ich bekomme mein Geld sehr pünktlich; folglich bin ich verpflichtet, von dem Institut, soweit ich es kenne, nur das Beste zu sagen. (Es kann keinen honetteren Menschen auf der Welt geben als Jobling, denkt dann der Patient, der eben selbst Joblings Rechnung bezahlt.) – Wenn Sie mich aber, lieber Freund, über die Kapitalien der Gesellschaft fragen, so bin ich außerstande, Ihnen zu dienen. Ich habe keinen Sinn für Ziffern, und wenn ich mich darüber äußern soll, so bin ich in Verlegenheit. Außerdem verbietet es mir das Zartgefühl. – Und Zartgefühl – Ihre liebenswürdige Frau Gemahlin wird mir darin recht geben – sollte eine der ersten Eigenschaften eines guten Arztes sein (nichts kann schöner oder gentlemanliker sein als das Gefühl, das Jobling hat, denkt dann der Patient). Sehr gut, werter Herr, also so steht die Sache. – Sie kennen Mr. Montague nicht persönlich? Tut mir leid. Ein ungemein liebenswürdiger Herr. Ein vollkommener Gentleman in jeder Hinsicht. Er hat Vermögen, das heißt, in Indien. Haus und alles aufs kostbarste, höchst elegant, in verschwenderischer Fülle! Und Gemälde, die, selbst vom anatomischen Gesichtspunkt aus betrachtet, vollkommen sind. – Falls Sie also mit der Gesellschaft einen Vertrag schließen wollen, so bringe ich Sie durch, verlassen Sie sich darauf. – Ich kann Sie übrigens mit gutem Gewissen für vollständig gesund erklären. Wenn ich eine menschliche Konstitution verstehe, so ist es die seine, und diese kleine Unpäßlichkeit hat ihm mehr genützt, Madame«, sagt der Doktor dann und wendet sich an die Gattin des Patienten, »als wenn er die Hälfte von all den unsinnigen Mixturen aus meiner Apotheke verschluckt hätte. Denn das Zeug ist Unsinn, um es ehrlich zu gestehen: die Hälfte davon ist Unsinn – in Anbetracht einer Konstitution wie der seinen.« (Jobling ist der liebenswürdigste Mensch, den ich jemals in meinem Leben gesehen habe, denkt der Patient, und auf mein Ehrenwort, ich will mir die Sache überlegen.) – –

»Sie haben uns diesen Morgen vier neue Policen und ein Anlehen zugewiesen, nicht wahr?« fragte Mr. Crimple, nach Beendigung des Lunchs einige Papiere durchlesend, die der Portier hereingebracht. »Famos!«

»Jobling, mein lieber Freund«, rief Mr. Tigg, »mögen Sie recht lange leben.«

»Lächerlich, Unsinn. Auf mein Wort, ich maße mir wirklich nicht an, Ihnen jemanden ›zugewiesen‹ zu haben«, sagte der Doktor. »Ich würde Ihnen damit das Geld aus der Tasche stehlen. Ich empfehle niemand hierher; ich sage nur, was ich weiß. Meine Patienten fragen mich, wie ich über die Sache denke, und mehr, als ich weiß, kann ich ihnen ja auch nicht sagen. Vorsicht ist meine schwache Seite, das ist wahr, und sie ist es gewesen, seit ich ein Junge war, das heißt«, sagte der Doktor und füllte sein Glas, »Vorsicht mit Rücksicht auf andere Leute. Ob ich selbst dieser Gesellschaft mein Vertrauen schenken würde, wenn ich nicht schon seit vielen Jahren anderswohin mein Geld schickte, ist eine zweite Frage.«

Er suchte eine Miene anzunehmen, als ob daran gar kein Zweifel wäre, aber er fühlte, daß es ihm nur schlecht gelang, er änderte daher das Thema und lobte den Wein.

»Da wir gerade vom Weine reden«, fuhr er fort, »so erinnere ich mich da an eines der besten Gläser alten hellen Oportos, das ich je in meinem Leben getrunken habe, und das war bei einem Leichenbegängnis. – – Haben Sie übrigens nie – von diesem Herrn hier gehört, Mr. Montague, wie?« Dabei händigte er Mr. Tigg eine Karte ein.

»Er ist doch hoffentlich nicht tot?« fragte Tigg. »In diesem Falle wäre mir die Ehre seiner Gesellschaft nicht wünschenswert.«

»Ha, ha, ha!« lachte der Doktor. »Nein, nicht ganz. Indes, beteiligt war er dabei.« »Oh!« rief Tigg, sich den Schnurrbart streichend, und warf einen Blick auf den Namen. »Ich entsinne mich jetzt. Nein, er ist niemals hier gewesen.«

Die Worte waren noch nicht seinen Lippen entflohen, als Bullamy eintrat und dem Arzt eine Karte überreichte.

»Kaum malt man den – –« sagte der Doktor aufstehend, »– den Teufel an die Wand –«

»– so ist er schon da, wie?« ergänzte Mr. Tigg.

»Nein, nein, Mr. Montague, nein«, entgegnete der Doktor, »im gegenwärtigen Falle können wir das – wenigstens vom Teufel – nicht sagen, denn dieser Gentleman denkt nicht entfernt daran, einer zu sein.«

»Um so besser«, entgegnete Mr. Tigg, »kann der Anglo-Bengalischen Gesellschaft nur angenehm sein. – Bullamy, räumen Sie den Tisch ab und tragen Sie den Rest zur andern Türe hinaus. – Mr. Crimple: Geschäft.«

»Soll ich den Herrn hereinführen?« fragte Doktor Jobling.

»Wird mich unendlich freuen«, antwortete Mr. Tigg, sich mit süßem Lächeln die Fingerspitzen küssend.

Sofort begab sich der Arzt in das Bureau hinaus und kehrte gleich darauf mit Jonas Chuzzlewit zurück.

»Mr. Montague«, stellte er vor, »erlauben Sie: mein Freund, Mr. Chuzzlewit – mein lieber Freund – unser Präsident. Sie müssen nämlich wissen«, setzte er hinzu, hielt mit unendlicher Feinheit inne und sah sich lächelnd um, »daß darin etwas Besonderes liegt. Ich sage: a unser Präsident. Und warum sage ich unser Präsident? Weil er nicht mein Präsident ist, müssen Sie wissen. Ich stehe in keiner andern Verbindung mit der Gesellschaft, als daß ich für eine gewisse Entlohnung – ein Salär, sozusagen – als Arzt meine bescheidenen Meinungen abgebe, gerade wie ich es für jeden andern auch tun könnte. Warum sage ich nun dennoch unser Präsident? Einfach darum, weil ich die Phrase fortwährend um mich herum wiederholen höre. So groß ist die unwillkürliche Wirkung der geistigen Fähigkeiten bei dem nachahmungsliebenden zweifüßigen Geschöpfe Gottes. – Mr. Crimple, ich glaube, Sie schnupfen. Nein? Das ist nicht recht von Ihnen, Sie sollten schnupfen.« Während dieser Bemerkungen von Seiten des Doktors und der sehr vernehmlichen Prise, mit der sie abgeschlossen wurden, nahm Jonas ungeniert Platz, so rüpelhaft wie nur je.

Es liegt wohl in jedes Menschen Natur, namentlich aber in der einer gemeinen Seele, sich durch Äußerlichkeiten imponieren zu lassen. Auf Jonas übten daher die prächtigen Möbel einen sehr entschiedenen Einfluß aus.

»Nun, ich weiß, die Herren haben Geschäfte miteinander«, fuhr der Doktor fort, »und ihre Zeit ist kostbar. Meine übrigens auch. In diesem Augenblick erwarten mich nebenan mehrere Klienten, die mir die Entscheidung über ihr Leben anvertraut haben, und außerdem muß ich später noch eine Reihe von Visiten machen. – Da ich das Glück hatte, Sie einander vorzustellen, meine Herren, kann ich ja wieder an meine Geschäfte gehen. Also leben Sie wohl! Aber ehe ich gehe, Mr. Montague, erlauben Sie mir, daß ich von diesem meinem Freunde, der jetzt neben Ihnen sitzt, sage: dieser Gentleman hat mehr dazu beigetragen, mich mit der Menschheit und der Welt zu versöhnen, als irgendein Lebender oder Toter auf Erden. – Gott befohlen!«

Mit diesen Worten eilte Doktor Jobling aus dem Zimmer und begann in seinem offiziellen Departement den wartenden Klienten sowohl seine Gewissenhaftigkeit hinsichtlich der Erfüllung seiner Berufspflichten wie auch die große Schwierigkeit der Aufnahme in die Anglo-Bengalische uneigennützige Lebensversicherungsgesellschaft deutlich und nachdrucksvoll vor Augen zu führen. Er befühlte ihnen den Puls, besichtigte ihre Zungen, horchte an ihren Rippen, klopfte ihnen an den Brustkasten und so weiter und so weiter.

Wenn er übrigens nicht bereits im voraus wußte, die Anglo-Bengalische Gesellschaft werde jede Art von Leben bereitwillig assekurieren, so war er nicht entfernt der Jobling, für den ihn seine Freunde hielten – nicht der Originaljobling, sondern ein jämmerlicher Nachdruck.

Mr. Crimple mußte bald gleichfalls Geschäfte halber aufbrechen, und so blieben Jonas Chuzzlewit und Mr. Tigg miteinander allein. »Ich erfahre von unserm Freunde«, begann Mr. Tigg mit gewinnender Leichtigkeit und rückte seinen Stuhl neben den seines Gastes, »Sie gedächten –«

»Zum Donnerwetter noch mal, er hat kein Recht, etwas derartiges zu behaupten«, rief Jonas, Mr. Tigg unterbrechend. »Ihm habe ich mein Vorhaben gewiß nicht anvertraut. Wenn er sich einbildet, ich käme in einer derartigen Absicht her, so soll er dafür einstehen. Ich habe damit nichts zu tun.«

Er sagte dies ziemlich grob heraus, fast in beleidigendem Tone; und außer dem gewohnten Mißtrauen, das er stets an den Tag zu legen pflegte, lag etwas in seinem Benehmen, als ob er sich gewissermaßen gegen den Eindruck, den die Pracht der Umgebung auf ihn machte, zu wehren versuchte.

»Wenn ich herkomme, um eine oder ein paar Fragen zu stellen, mir einen oder ein paar Belege zeigen zu lassen, damit ich mir die Sache überlegen kann, so verpflichtet mich das noch zu gar nichts. Darüber müssen wir uns zuerst verständigen, wissen Sie.«

»Mein Bester!« rief Mr. Tigg, Jonas auf die Schulter klopfend. »Ihre Offenheit gefällt mir! Wenn Leute wie wir gleich von Anfang an offen miteinander reden, so wird das am besten jedem möglichen Mißverständnis vorbeugen. Warum sollte ich vor Ihnen bemänteln, was Sie ganz genau wissen, wovon sich aber die Menge nichts träumen läßt? Wir Versicherungskompagnien sind lauter Raubvögel, nichts als Raubvögel. Es fragt sich jetzt nur, ob wir auch Ihnen dienen können, während wir uns selbst dienen – ob wir eine Ausfütterung für Ihr Nest finden können und dabei das unserige noch doppelt auszufüttern imstande sein werden. Sie sind natürlich in unser Geheimnis eingeweiht. Sie stehen hinter den Kulissen. Wir werden uns ein Verdienst daraus machen, ehrlich gegen Sie zu sein, weil wir ganz genau wissen, daß es nicht anders geht.«

Es lag vollständig in Mr. Jonas‘ Charakter, augenblicklich bereit zu sein, rückhaltslos zu glauben, wenn von einer Spitzbüberei die Rede war. Es gibt ebenso gut eine Einfalt der Unschuld wie eine solche des Gaunertums. Hätte Mr. Tigg von Anfang an eine hohe Ehrenhaftigkeit vorgeschützt, so würde Jonas ihn beargwöhnt haben, und wäre er ein Musterbild von Rechtschaffenheit gewesen. So aber, wo er von vornherein auf Jonas‘ Denkweise einging, erschien er diesem als ein höchst netter Mensch, mit dem man offen reden konnte.

Mr. Chuzzlewit änderte seine Stellung im Lehnsessel – er wurde dadurch nicht weniger linkisch, wenn auch etwas renommistischer – und erwiderte in seinem armseligen Dünkel lächelnd:

»Sie sind kein übler Geschäftsmann, Mr. Montague; ich muß Ihnen wirklich nachsagen, daß Sie sich auszukennen scheinen.«

»Tüt, tüt«, machte Mr. Tigg, vertraulich nickend und seine weißen Zähne zeigend, »wir sind doch keine Kinder, Mr. Chuzzlewit, und wahrhaftig schon gehörig ausgewachsen.«

Jonas pflichtete bei und entgegnete nach einem kurzen Schweigen, wobei er prahlerisch seine Beine spreizte und die Arme in die Hüften stemmte, um zu zeigen, wie vollkommen heimisch er sich fühle:

»Die Wahrheit ist –«

»Sprechen Sie mir nicht von Wahrheit«, fiel ihm Mr. Tigg grinsend ins Wort. »Es sieht so windbeutelig aus.«

Durch diese Äußerung höchlichst erbaut, begann Jonas aufs neue:

»Kurz und gut – –«

»Das klingt schon besser«, murmelte Tigg, »schon besser.«

»– ich halte mich für von ein oder zwei der alten Kompagnien, mit denen ich zu tun hatte, nicht reell bedient; – ich meine, ich hatte vorzeiten mit ihnen zu tun. Sie kamen mir damals mit Einwürfen, zu denen sie kein Recht hatten, warfen Fragen auf, zu denen sie gleichfalls nicht befugt waren, und betrieben die Sache nicht in einer Art, die mir gepaßt hätte.«

Dann schlug er plötzlich die Augen nieder und sah starr auf den Teppich. Mr. Tigg blickte ihn neugierig an. Jonas schwieg so lange, daß Mr. Tigg die Pause zu unterbrechen für geraten hielt und auf sehr freundliche Weise das Wort nahm:

»Wünschen Sie nicht vielleicht ein Glas Wein?«

»Nein, nein«, lehnte Jonas mit schlauem Blick ab, »nichts dergleichen; ich danke Ihnen. Keinen Wein bei Geschäften. Mag ja gut für Sie sein, aber für mich taugt das nicht.« »Was Sie doch für ein alter Praktikus sind, Mr. Chuzzlewit«, scherzte Tigg und lehnte sich in seinem Lehnstuhl zurück, ihn durch die halbgeschlossenen Augen anblinzelnd.

Jonas schüttelte als Antwort den Kopf, als wollte er sagen: »Da haben Sie recht«, und fuhr dann in scherzhaftem Tone fort:

»Nicht gerade so alt, wie Sie vielleicht denken, wenn ich mich auch verheiratet habe. Das ist ein Kinderstreich, werden Sie sagen. Vielleicht haben Sie recht, besonders da sie eine junge Person ist, aber man weiß doch nie, was diesen Weibern zustoßen kann. Kurz und gut, ich gedenke also ihr Leben zu versichern. Es ist nicht mehr als recht und billig, daß sich ein Mann für den Fall eines solchen Verlustes sicherstellt – sich quasi einen Trost bereithält.«

»Wenn ihn überhaupt etwas unter so herzzerbrechenden Umständen trösten kann«, murmelte Tigg mit halbgeschlossenen Augen.

»Richtig«, bestätigte Jonas, »wenn ihn überhaupt etwas trösten kann. Nun gesetzt den Fall, ich täte es bei Ihnen, so müßte es diskret gemacht werden, das wäre die Hauptsache, und ohne Umstände und ohne ihr den Kopf erst warm zu machen. Ich tue es nicht gern anders; Weiber pflegen sich in solchen Fällen immer gern einzureden, sie müßten deshalb gleich sterben.«

»Ja, ja, so ist es«, rief Mr. Tigg und warf dem schönen Geschlecht zu Ehren eine Kußhand in die Luft. »Sie haben vollständig recht. – O diese süßen kleinen leichtsinnigen Geschöpfe!«

»Gut«, brummte Jonas, »also jetzt wissen Sie es; und da mir die andern Gesellschaften immer so viel Späne machen, hätte ich Lust, unter Umständen mit Ihrer Kompagnie abzuschließen. Aber ich muß mich erst überzeugen, was für Sicherheiten die Gesellschaft zu bieten vermag. Das ist die –«

»Doch nicht schon wieder die Wahrheit?« protestierte Mr. Tigg, seine mit Brillantringen übersäte Hand ausstreckend. »Bitte, gebrauchen Sie doch nicht diesen Ausdruck, der einen so an die Sonntagsschule erinnert.«

»Also kurz und gut –« sagte Jonas, »kurz und gut, was habe ich für Sicherheit?«

»Die eingezahlten Kapitalien, mein Herr«, rief Mr. Tigg und griff nach einigen Papieren auf dem Tisch, »belaufen sich im gegenwärtigen Augenblick –«

»Ach, ich weiß doch ganz gut, was das mit den eingezahlten Kapitalien für eine Bewandtnis hat«, fiel ihm Jonas ins Wort.

»So, wissen Sie das!« brummte Tigg kurz abbrechend.

»Will’s meinen!«

Mr. Tigg schob die Papiere wieder zurück, rückte Mr. Jonas näher und flüsterte ihm ins Ohr:

»Ich weiß doch, daß Sie die Sache durchschauen. Ich weiß es ganz genau. Sehen Sie mich mal an!«

Es lag nicht in der Art Mr. Chuzzlewits, irgend jemandem gerade ins Gesicht zu sehen, aber so aufgefordert, machte er den Versuch, die Mienen des Präsidenten mit einem Blick zu überfliegen, wobei sich dieser ein wenig zurücklehnte, um seinem Visavis die Sache leichter zu machen.

»Kennen Sie mich denn nicht?« fragte er, die Augenbrauen in die Höhe ziehend. »Sie müssen sich doch entsinnen, mich früher schon einmal gesehen zu haben?«

»Ihr Gesicht kam mir allerdings, schon als ich eintrat, bekannt vor«, gab Jonas zu, den Präsidenten mit noch größerer Aufmerksamkeit betrachend, »aber ich kann mich nicht erinnern, wo ich Sie gesehen habe. Nein, ich kann mich wirklich nicht erinnern. War es auf der Straße?«

»Erinnern Sie sich denn nicht mehr an Pecksniffs Besuchszimmer?« fragte Tigg.

»An Pecksniffs Besuchszimmer?« wiederholte Jonas überrascht. »Sie meinen damit doch nicht, daß –«

»Ja!« rief Mr. Tigg. »Es war damals, als jene entzückende kleine Familienberatung stattfand, an der auch Sie nebst Ihrem liebenswürdigen Vater teilnahmen.«

»Sprechen wir nicht von ihm. Er ist tot. – Wozu die alten Erinnerungen wieder aufwärmen!« fuhr Jonas auf.

»Also tot«, sagte Tigg. »Also der ehrwürdige alte Gentleman ist tot. Sie sind, wenn man Sie so betrachtet, wirklich ein getreues Konterfei von ihm.«

Jonas nahm dieses Kompliment nicht mit der besten Miene auf, wahrscheinlich infolge seiner Privatansichten über das persönliche Äußere seines dahingegangenen Erzeugers, vielleicht auch, weil es ihm nicht sehr angenehm war, in Mr. Montague den Mr. Tigg von damals wiederzufinden. Der Präsident bemerkte es sogleich, klopfte ihm vertraulich auf den Ärmel und winkte ihn zum Fenster. Von diesem Augenblick an ließ Mr. Montague seiner Heiterkeit in ganz merkwürdiger Weise freien Lauf.

»Finden Sie mich seit damals so ganz und gar verändert?« fragte er. Jonas faßte die Prunkweste und die Juwelen seines Gegenübers fest ins Auge und antwortete:

»Zum Teufel auch – das will ich meinen!«

»Hab ich damals so schäbig ausgesehen?« fragte Mr. Montague weiter.

»Ganz verteufelt!« meinte Jonas.

Mr. Montague zeigte hinunter auf die Straße, wo Bailey gerade auf dem Kabriolett hielt.

»Hübsch. Fein. Was? Wissen Sie, wem das gehört?«

»Nein!«

»Mir! – Und gefällt Ihnen dieses Zimmer?«

»Es muß einen Haufen Geld gekostet haben«, brummte Jonas.

»Da haben Sie recht. Es gehört ebenfalls mir. – Warum also –« flüsterte Tigg und stieß Mr. Chuzzlewit mit dem Ellbogen an, »– warum nehmen Sie nicht also lieber Prämien, statt sie zu bezahlen? Treten Sie doch in Kompagnie mit uns.«

Jonas starrte ihn verwundert an.

»Ist das eine belebte Straße?« fragte Mr. Montague weiter, Jonas‘ Aufmerksamkeit auf die Menge unten lenkend.

»Na, und ob«, sagte Jonas, einen flüchtigen Blick hinunterwerfend und sogleich wieder den Präsidenten ins Auge fassend.

»Es gibt gedruckte Statistiken«, fuhr Mr. Tigg fort, »aus denen Sie ziemlich genau ersehen können, wieviel Menschen hier von früh bis abends vorbeigehen. Sie haben aber schwerlich einen Begriff, wie viele davon zu uns heraufkommen, bloß weil sie dieses Bureau da sehen, und ohne mehr davon zu wissen als von den Pyramiden. Ha, ha, treten Sie in Kompagnie mit uns, Sie sollen billig dazu kommen.« Jonas blickte ihn immer gespannter und gespannter an.

»Ich kann Ihnen nur sagen«, flüsterte ihm Mr. Tigg ins Ohr, »Sie ahnen nicht, wie viele davon sich bei uns noch Jahresrenten kaufen, Versicherungspolicen nehmen und uns auf hunderterlei Art und Weise ihr Geld herbringen, es uns aufzwingen und anvertrauen werden, als wenn wir das Schatzamt selbst wären, ohne doch mehr von uns zu wissen als Sie von jenem Gassenkehrer an der Ecke. Ha, ha, ha!«

Jonas verzog allmählich sein Gesicht zu einem Lächeln.

»Ja, ja«, lachte Mr. Montague, ihm im Scherz einen leichten Schlag auf den Bauch gebend, »Sie sind zu pfiffig für uns, Mr. Chuzzlewit, sonst würde ich Ihnen das alles gar nicht gesagt haben. – Übrigens, speisen Sie morgen mit mir in Pall Mall.«

»Gemacht!« versetzte Jonas einschlagend.

»Recht so«, rief Mr. Montague. »Und jetzt warten Sie noch ein bißchen. Nehmen Sie sich mal diese Papiere hier mit, um sie durchzulesen. Sehen Sie«, erklärte er, eines der gedruckten Formulare von dem Tisch herüberlangend, »B. ist zum Beispiel ein kleiner Handelsmann, ein Schreiber, ein Pfarrer, ein Künstler, ein Autor – oder was immer für ein Kerl.«

»Gut«, entgegnete Jonas, ihm gierig über die Schultern blickend, »nun, und?«

»B. verlangt also ein Anlehen – meinetwegen fünfzig oder hundert Pfund, vielleicht mehr, aber das ist hier gleichgültig. B. schreibt einen Schuldschein und stellt zwei gute Bürgen. Er wird angenommen, versichert sein Leben für den doppelten Betrag und bringt uns auch ein paar Freunde, vielleicht nur, um unser Institut weiterzuempfehlen. Und so weiter. Ha, ha, ha, ist unser Geschäft nicht ein guter Gedanke?«

»Zum Teufel, ein Kapitalgedanke!« rief Jonas. »Aber geht’s denn auch wirklich so?«

»Ob’s so geht?« wiederholte der Präsident. »Tag für Tag geht’s so, mein lieber Freund. Machen Sie doch nur mal die Augen auf. Das Ganze war meine Idee!«

»Sie macht Ihnen alle Ehre! Hol mich dieser und jener, wenn’s nicht ein famoses Geschäft ist«, sagte Jonas. »Das will ich meinen«, versetzte der Präsident, »und es freut mich, daß Sie es auch einsehen. – Und weiter: B. zahlt die höchsten gesetzlichen Interessen –«

»Das wäre nicht viel«, unterbrach ihn Jonas.

»Richtig, sehr richtig«, gab Mr. Tigg zu, »und es ist hart vom Gesetz, daß es uns so verwünscht aufsässig ist, während der Staat doch selbst so erstaunlich hohe Interessen von allen seinen Klienten nimmt, aber die Mildtätigkeit fängt eben beim eigenen Leibe an und die Gerechtigkeit beim Nachbar. Nun, wenn das Gesetz so hart mit uns umspringt, brauchen wir zum Beispiel den B. nicht gerade mit Handschuhen anzugreifen. Abgesehen davon, daß B. regelmäßig die Interessen zahlt, beziehen wir B’s Prämien von seinen Freunden. Dann rechnen wir B. noch so allerlei für die Obligationen auf, und ob wir ihn nun annehmen oder nicht, jedenfalls bekommt er seine Rechnung für sogenannte Erkundigungen (wir halten einen Mann für ein Pfund wöchentlich, der sie einholt) und eine Kleinigkeit für den Sekretär und so weiter. Kurz, mein guter Freund, wir sieben B. ordentlich durch und machen eine verteufelt rentable Melkkuh aus ihm. Ha, ha, ha, in Wahrheit kutschiere ich den B.«, fügte Tigg hinzu und deutete auf das Kabriolett hinunter. »Und es ist ein Pferd von guter Zucht, ha, ha, ha!«

Jonas gefiel dieser Spaß ungemein. Es war so ganz seine eigene Art, Humor zu empfinden.

»Ferner«, fuhr Mr. Tigg Montague fort, »verkaufen wir Leibrenten unter den allerniedrigsten und vorteilhaftesten Bedingungen, die sich auf dem Geldmarkt nur finden lassen, und die alten Damen und Herren in der Provinz draußen sind gerne Käufer. Ha, ha, ha – und wir zahlen sie auch – vielleicht, ha, ha, ha!«

»Aber man hat dabei viel Verantwortlichkeit«, meint Jonas mit bedenklicher Miene.

»Die nehme ich ganz und gar auf mich«, rief Mr. Tigg Montague, »ich bin hier allein für alles verantwortlich – ich bin die einzig verantwortliche Person im ganzen Institut, haha. – Dann haben wir noch die Lebensversicherungen ohne Anleihen – die gewöhnlichen Policen. Sie sind ebenfalls sehr einträglich und angenehm. Es fließt da ein Strom von Geld herein, sage ich Ihnen, und das wächst mit jedem Jahr – kurz, ein Kapitalprofit!« »Aber wenn die Policen anfangen, fällig zu werden?« wendete Jonas ein. »Das alles ist soweit recht hübsch und gut, solange das Unternehmen noch jung ist; was aber, wenn die Versicherten anfangen zu sterben? Daran muß man auch denken.«

»Um Ihnen zu zeigen, wie richtig unsere Kalkulation ist«, entgegnete Montague, »will ich Ihnen bemerken, daß wir im Anfang ein paar unglückliche Todesfälle hatten, die uns so auf den Hund brachten, daß uns nichts mehr als ein großes Piano übrigblieb.«

»Ein großes Piano?«

»Ich gebe Ihnen mein heiliges Ehrenwort darauf, ich habe Geld erhoben auf jedes einzelne Stück Möbel, und schließlich blieb nur noch ein einziges großes Piano. Ich konnte nicht einmal darauf sitzen, denn es war ein großer Stehflügel. Aber, mein lieber Junge, wir haben durchgehalten. Wir haben eine Unmasse neuer Policen diese Woche ausgegeben – beiläufig gesagt, auch fette Provisionen für die Advokaten – und hatten, ehe man sich’s versah, die Krisis überstanden. Wenn es aber nun doch einmal so hageldicht über uns hereinbrechen sollte, wie Sie ganz richtig bemerkten, daß es früher oder später kommen könnte, so –« er beendigte den Satz in so leisem Flüsterton, daß nur ein paar unzusammenhängende Worte undeutlich zu hören waren, aber sie klangen ungefähr so wie »brennen wir durch!«

»Sie sind ja ein Mordskerl«, staunte Jonas mit dem Ausdruck höchster Verwunderung.

»Man kann leicht ein Mordskerl sein, mein lieber Junge, wenn man beständig bares Geld in die Tasche kriegt!« rief der Präsident und hielt sich vor Lachen den Bauch. »Sie dinieren also morgen mit mir?«

»Um wieviel Uhr?« fragte Jonas.

»Um sieben. Hier ist meine Adresse. Nehmen Sie auch die Dokumente da mit. Ich sehe schon, Sie treten sicher mit uns in Kompagnie.«

»Das weiß ich noch nicht«, sagte Jonas, »da gibt’s noch so mancherlei, was ich mir in der Nähe besehen muß.«

»Sie sollen, was Sie wollen, sehen und prüfen«, versprach Mr. Tigg und klopfte ihm auf den Rücken. »Aber Sie treten mit uns in Kompagnie, davon bin ich heute schon überzeugt. – Sie sind ganz der richtige Mann dazu. – – Bullamy!«

Gehorsam dem Ruf und der Klingel erschien die Weste, erhielt den Befehl, Jonas hinauszuführen, und ging ihm voran, wie gewöhnlich rufend: »Platz, wenn ich bitten darf, Platz, ein Herr aus dem Beratungszimmer, wenn ich bitten darf.«

Als Mr. Montague allein war, dachte er einige Minuten nach und rief dann mit erhobener Stimme: »Ist Nadgett im Bureau?«

»Hier ist er, Sir!«

Gleich darauf trat Mr. Nadgett ein, die Türe des Sitzungszimmers so sorgfältig hinter sich zuziehend, als ob ein Mordanschlag besprochen werden sollte.

Er war der erwähnte Mann, der für ein Pfund wöchentlich die Auskünfte einholte. Es war weder eine Tugend noch Verdienst von Mr. Nadgett, daß er seine ganzen Anglo-Bengalischen Geschäfte voller Heimlichkeit betrieb, denn er war für die Heimlichkeit sozusagen geboren. Er war ein kleiner vertrockneter alter Mann, und alles an ihm schien geheimnisvoll. Selbst die Sache mit seinem Blutkreislauf war nicht so ganz selbstverständlich, und niemand hätte ihm geglaubt, daß er sechs Unzen Blut in allen Organen zusammengenommen habe. Wie und wo er lebte, war ebenfalls ein Geheimnis, wo er wohnte, war ein Geheimnis, und selbst was er betrieb, war ein Geheimnis. In seiner schmutzigen alten Brieftasche bewahrte er verschiedene einander widersprechende Visitenkarten; auf einigen nannte er sich einen Kohlen-, auf andern einen Weinhändler, dann wieder einen Agenten, Rechnungsführer oder Kollekteur; rein als ob er selbst nicht wüßte, was er eigentlich sei. Immer hatte er eine Zusammenkunft mit irgend jemandem in der City; der Jemand kam aber nie. Stundenlang pflegte Nadgett vor der Börse zu sitzen und guckte jeden an, der aus und ein ging. Dasselbe pflegte er in Garraway’s und andern von Kaufleuten besuchten Kaffeehäusern zu tun, wo er sich zuweilen ein sehr nasses Taschentuch vor dem Feuer trocknete und sich stets nach dem Manne umsah, der niemals kommen wollte. Er trug beständig fadenscheinige, schäbige Kleider, die auf dem Rücken und auf den Knien weiß von Kalk waren. Seine Wäsche hielt er durch Rockzuknöpfen und Kragenaufschlagen so verborgen, daß man hätte glauben können, er trüge überhaupt keine. Vielleicht hatte er auch wirklich keine. Ferner trug er einen einzigen schmutzigen Biberhandschuh, den er beim Gehen wie beim Sitzen stets am Zeigefinger vor sich herbaumeln ließ. Der andere Handschuh war ein Geheimnis. Manche Leute sagten, Nadgett sei bankrotter Kaufmann, andere, er sei bereits als Säugling in einen alten Kanzleigerichtsprozeß hineingeraten, der noch immer schwebte, aber Genaues wußte niemand. In der Tasche trug er ein Stück Siegellack und ein altes mit Hieroglyphen verziertes kupfernes Petschaft, und oft schrieb er im geheimen in einem Winkel in dem erwähnten Kaffeehause lange Briefe. Aber sie schienen an niemanden gerichtet zu sein, wenigstens pflegte er sie in eine geheime Rocktasche zu stecken und einige Wochen später in ganz vergilbtem Zustande an sich selbst abzugeben, und wie es schien, jedesmal zu seiner eigenen größten Verwunderung. Kurz und gut, er war ein so seltsamer Kauz, daß, wenn er nach seinem Tode eine Million oder einen Dreier hinterlassen hätte, kein Mensch sich darüber gewundert haben würde, sondern alle nur gesagt hätten, es sei gerade so gekommen, wie sie’s erwartet hätten. Und doch war er insoweit kein Sonderling, als er zu einem der City eigentümlichen Schlag Leute gehörte, die für einander ein ebenso tiefes Geheimnis bedeuten wie für alle übrigen Menschen.

»Mr. Nadgett«, sagte Mr. Montague und schrieb von der Karte, die noch auf dem Tische lag, Jonas Chuzzlewits Adresse auf ein Stück Papier. »Jede Auskunft, die Sie mir über diesen Namen bringen können, soll mich freuen. Sei es, was es will. Was immer Sie erfahren können, berichten Sie mir, Mr. Nadgett.«

Mr. Nadgett setzte seine Augengläser auf und las den Namen mit großer Aufmerksamkeit, dann sah er über die Brille hinweg den Präsidenten an und verneigte sich. Dann nahm er die Brille ab und steckte sie ins Futteral. Dann steckte er das Futteral in die Tasche, sah noch einmal und ohne Brille das vor ihm liegende Papier an und zog zugleich seine Brieftasche von irgendwo am Rückgrat hervor. So groß sie war, so voll von Dokumenten steckte sie, aber dennoch fand er ein Plätzchen für den Zettel, und nachdem er sodann das Portefeuille sorgsam geschlossen, verstaute er es mit einer Art von feierlichem Taschenspielerkunstgriff wieder in derselben Gegend, aus der er es hervorgeholt hatte.

Ohne ein Wort zu sprechen, entfernte er sich schließlich mit einem abermaligen Bückling. Dabei öffnete er die Türe nicht weiter, als zum Hinauskommen unbedingt nötig war, und schloß sie so sorgfältig wie zuvor.

Den Rest des Morgens verbrachte der Präsident der Assekuranzgesellschaft damit, daß er unterschiedliche neue Anmeldungen zu Leibrenten, Käufen und Lebensversicherungen gnädigst mit seiner Unterschrift versah.

Die Gesellschaft hatte wahrhaftig Grund, den Kopf hoch zu tragen, denn es regnete nur so Policen über Policen.

28. Kapitel


28. Kapitel

Mr. Montague in seinem Heim und Mr. Jonas Chuzzlewit in dem seinigen

Es gab viele gewichtige Gründe, die Mr. Jonas Chuzzlewit lebhaft zugunsten des Planes einnahmen, den ihm der kühne Schöpfer desselben so keck und offen dargelegt hatte. Vor allem waren da drei besonders einleuchtende Punkte: Erstens konnte man Geld dabei machen, zweitens hatte das Geld einen eigentümlichen Zauber, da es schlauerweise auf anderer Leute Kosten gewonnen wurde, und drittens war mit dem ganzen Plan Auszeichnung und Anspruch auf ein gewisses Ansehen verbunden. Ein Direktorium ist an sich schon eine ehrfurchtgebietende Institution und ein Präsident ein gewaltiger Mann.

»So einen famosen Schnitt zu machen, einem Haufen Leute befehlen zu können und dabei gleichzeitig Gelegenheit zu haben, in gute Gesellschaft zu kommen – das ist keine so schlechte Sache«, dachte Jonas. Die beiden letzten Erwägungen spielten wohl angesichts seiner Habsucht nur eine untergeordnete Rolle, dessenungeachtet aber war er – um so mehr, als er wußte, daß ihm seine Persönlichkeit, sein Benehmen, sein Ruf und seine Gaben keinerlei Achtung erwerben konnten – äußerst begierig nach Macht und in seinem Herzen mindestens ein ebenso großer Tyrann, wie nur irgendein belorbeerter Eroberer, von dem die Geschichte weiß, es sein konnte.

Trotzdem nahm er sich vor, mit aller Schlauheit und der nötigen Vorsicht zu Werke zu gehen, namentlich aber den Grad der Vornehmheit in Mr. Montagues Privateinrichrung scharf ins Auge zu fassen. Bei seiner ganzen Hohlköpfigkeit fiel es ihm ebensowenig ein, daß dies gerade ausdrücklich in Montagues Wunsch liegen mußte, da er ihn doch sonst in so einem kritischen Moment nicht zu sich gebeten haben würde. Ebensowenig dachte er in seiner hohen Meinung von sich selbst an die Möglichkeit, das erwähnte Kraftgenie könne ihn in irgendeiner Weise zu überbieten imstande sein, hatte Tigg doch gleich anfangs selbst gesagt, er (Jonas) sei zu scharfsinnig für ihn, und Jonas glaubte dies augenblicklich, trotzdem er in anderer Hinsicht selbst einem Eide mißtraut hätte.

Mit zögernder Hand und doch mit dem schwachen Versuch, selbstbewußt aufzutreten, klopfte er an die Haustüre seines neuen Freundes in Pall Mall, als die bestimmte Stunde gekommen war. Mr. Bailey erschien sogleich und öffnete. Er war durchaus nicht stolz, sondern augenscheinlich sehr geneigt, von Jonas Notiz zu nehmen. Doch Jonas hatte ihn offenbar vergessen.

»Ist Mr. Montague zu Hause?«

»Dös glaub‘ i! Und’s Essen wartet a schon«, sagte Mr. Bailey mit der ganzen Nonchalance eines alten Bekannten. »Wollen S‘ Ihnern Hut mit naufnehmen oder ihn hier lassen?«

Mr. Jonas wollte ihn lieber unten lassen.

»Der alte Name, was?« fragte Bailey grinsend.

Mr. Jonas starrte ihn in stummer Empörung an.

»Sie erinnere Ihna woll nimmer an die alte Todgers«, fuhr Mr. Bailey fort und machte die Bewegung des Stiefelputzens. »Erinnern S‘ Ihna leicht nimmer, wie i Ihna angmeldt hab bei die jungen Damen? Es war halt doch a mordsmäßig alte Baracken, was? Und wie die Zeit vergeht, was? Aber sakrisch rausgmacht haben S‘ Ihna seitdem, was?« Ohne auf eine Anerkennung dieses Kompliments zu warten, führte er den Gast hinauf, meldete ihn und zog sich mit vertraulichem Blinzeln zurück.

Das untere Stockwerk des Hauses hatte ein wohlhabender Kaufmann inne. Mr. Montague bewohnte den oberen. Es war eine wahrhaft glänzende Wohnung! Das Zimmer, in dem Mr. Tigg Jonas empfing, war geräumig, elegant und mit ausgesuchter Eleganz möbliert. Gemälde, Kopien antiker Statuen aus Alabaster und Marmor, Porzellanvasen, hohe Spiegel, karmesinrote Vorhänge von schwerster Seide, vergoldetes Schnitzwerk, üppige Sofas, Schreibtische, mit kostbarem Holz eingelegt, und kostbare Nippesgegenstände jeder Art vervollständigten in luxuriösester Weise die Inneneinrichtung. Die einzigen Gäste außer Jonas waren der Doktor, der Sekretär und noch zwei andere Herren, die Montague jetzt in aller Form vorstellte.

»Mein teuerster Freund, ich bin ganz entzückt, Sie bei mir zu sehen. Jobling kennen Sie schon, glaube ich?«

»Das will ich meinen«, rief der Doktor scherzhaft und trat aus dem Kreise heraus, um dem neuen Gast die Hand zu drücken. »Ich schmeichle mir, diese Ehre zu haben. Ich hoffe, daß Sie mich noch nicht vergessen haben. Wie ich sehe, mein wertgeschätzter Herr, befinden Sie sich wohl, und das ist gut.«

»Mr. Wolf«, stellte Montague weiter vor, als ihn der Doktor zu Wort kommen ließ – »Mr. Chuzzlewit, – – Mr. Pip – Mr. Chuzzlewit.« Beide Herren fühlten sich ebenfalls außerordentlich glücklich, die Ehre zu haben, Mr. Chuzzlewits Bekanntschaft zu machen.

Der Doktor zog Jonas ein wenig beiseite und flüsterte ihm hinter der Hand zu:

»Männer von Welt, mein wertgeschätzter Herr – Männer von Welt! Hm, Mr. Wolf ist Literat – tun Sie, als ob Sie’s nicht wüßten – gibt ein famoses Wochenblatt heraus – bemerkenswert geschickter Bursche. Mr. Pip – vom Theater, ein ganz kapitaler Mensch – höchst kapitaler Mensch.«

»Nun«, sagte Mr. Wolf laut, verschränkte die Arme und nahm ein Gespräch wieder auf, das durch Jonas‘ Ankunft unterbrochen worden war, »nun, und was sagte Lord Nobley darauf?« »Verdammt nochmal«, entgegnete Pip, »er war einfach sprachlos. Aber Sie wissen doch, was für ein famoser Bursche Nobley ist.«

»Der famoseste Bursche unter der Sonne«, rief Wolf. »Vorige Woche noch sagte er zu mir: ›Zum Teufel, Wolf, ich hatte eine Pfründe zu vergeben, und wenn Sie nur auf der Universität gewesen wären – hol mich dieser und jener –, ich hätte einen Pfaffen aus Ihnen gemacht.‹«

»Sieht ihm ganz ähnlich!« jubelte Pip. »Und er hätt’s getan. Meiner Seel!«

»Ja, ja, so sicher wie nur was«, bekräftigte Wolf. »Aber Sie wollten uns doch erzählen –«

»Ja, ja«, rief Pip, »freilich. Also anfangs blieb er ganz stumm wie ein Fisch – wie ein Toter –, aber nach einer Minute sagte er zu dem Herzog: ›Fragen Sie Pip! Da ist Pip. Pip, unser gemeinsamer Freund. Fragen Sie Pip, er weiß es sicher.‹ ›Verdamm mich‹, sagte der Herzog. ›Na, gut, dann will ich mich an Pip wenden. Also raus mit der Sprache, hat sie krumme Beine oder nicht? Nur raus mit der Sprache!‹ ›Sie hat krumme Beine, Euer Durchlaucht, oder ich bin ganz blödsinnig.‹ – ›Bravo, Pip, gut gesprochen. – Pip, hol mich dieser und jener, wenn Sie nicht ein ganz famoser Kerl sind. Setzen Sie mich auf Ihre Besuchsliste, wenn ich in London bin, Pip‹ – und das hab ich getan, wahrhaftig ja.«

Der Schluß dieser Geschichte befriedigte ungemein, und die Ankündigung, daß das Dinner bereitstehe, nicht minder. Jonas begab sich mit seinem distinguierten Wirt in den Speisesaal und setzte sich zwischen ihn und seinen Freund, den Doktor. Die übrigen nahmen ihre Plätze ein wie Leute, die sich ganz zu Hause fühlen, und ließen dem Mahle volle Gerechtigkeit widerfahren.

Es war übrigens auch so vorzüglich, wie es sich nur für Geld oder auf Pump verschaffen ließ. Die Gerichte, der Wein und die Früchte konnten geradezu auserlesen genannt werden, und alles wurde auf das eleganteste serviert. Das Silberzeug war prachtvoll.

Mr. Jonas war eben im Geiste mit einem Überschlag begriffen, was es wohl gekostet haben möge, als er von seinem Wirte in seinen Grübeleien unterbrochen wurde. »Ein Glas Wein gefällig?«

»Oh«, murmelte Jonas, der sich bereits mehrere Gläser zu Gemüt gezogen, »selbstverständlich. Mit Vergnügen und soviel Sie wollen. Der Wein ist zu gut, als daß man auf eine solche Frage ›nein‹ sagen könnte.«

»Wohl gesprochen, Mr. Chuzzlewit«, rief Wolf.

»Tom Gag, der Possenreißer, ist nichts dagegen«, bekräftigte Pip.

»Allerdings. Wissen Sie, es ist, ha, ha, ha«, bemerkte der Doktor, legte einen Augenblick Gabel und Messer aus der Hand, um gleich darauf wieder emsig einzubauen, »– ein geradezu epigrammatischer Ausspruch.«

»Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei mir?« fragte Mr. Tigg halblaut Jonas.

»Na, deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. – Famos!« – knurrte Jonas kauend.

»Ich hielt es für das beste, keine Gesellschaft einzuladen«, erklärte Tigg. »Hatte ich nicht recht?«

»Na, und wie nennen Sie denn das hier?« fragte Jonas. »Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie täglich so dinieren, wie?«

»Lieber Freund«, sagte Mr. Montague achselzuckend, »jeden Tag esse ich so und nie anders, wenn ich überhaupt zu Hause speise. Das ist so mein gewöhnlicher Stil. Ich dachte mir, wozu Ihretwegen große Umstände machen und was Ungewöhnliches herrichten. Sie hätten es ja doch gleich gemerkt. – – ›Haben Sie Gesellschaft?‹ fragte mich Crimple. Nein, ich wünsche es nicht«, sagte ich, »er soll uns nehmen, wie wir sind.«

»Verdammt fein leben Sie hier«, staunte Jonas. »Muß übrigens ein nettes Stück Geld kosten.«

»Um Ihnen die Wahrheit zu gestehen, allerdings, das tut es«, gab Mr. Tigg zu, »aber ich liebe es so. Ich schmeiße ganz gern auf diese Art Geld raus.«

Jonas blies die Backen auf.

»Wenn Sie uns beitreten, glaube ich, werden Sie Ihren Nutzanteil wohl auf andere Weise anbringen, wie?«

»Ja. Allerdings«, gestand Jonas. »Und da werden Sie auch ganz recht haben«, sagte Mr. Tigg mit freundschaftlicher Offenherzigkeit. »Sie brauchen so was nicht. Es ist auch nicht nötig. Bei uns braucht es immer nur einer zu tun, um das Ansehen der Gesellschaft zu wahren. Und da ich ein Vergnügen daran finde, so habe ich mir’s eben zur Pflicht gemacht. Es ist lediglich mein Departement. – – Sie machen sich doch hoffentlich nichts daraus, auf anderer Leute Kosten fein zu speisen?«

»Nicht das geringste.«

»Nun, dann hoffe ich, werden Sie so freundlich sein und öfters mit mir dinieren.«

»Na, dagegen hätte ich gerade nichts. Im Gegenteil.«

»Ich werde mich hüten, beim Wein mit Ihnen von Geschäften zu sprechen, das schwöre ich Ihnen«, fuhr Mr. Tigg fort. »Sie zeigten sich heute morgen verflucht gerieben. Übrigens, das muß ich denen da mal erzählen. Es wird ihnen einen Mordsspaß machen. Hallo, hör mal, Pip, mein Junge, ich muß dir da einen famosen kleinen Spaß erzählen von meinem Freund, Mr. Chuzzlewit hier. Er ist der schlaueste Bursche, den ich kenne, ich gebe dir mein heiliges Ehrenwort darauf. Der schlaueste Bursche unter der Sonne.«

Mr. Pip beteuerte mit einem fürchterlichen Eide, er sei schon längst überzeugt davon gewesen, trotzdem wurde aber die Anekdote erzählt und als ein Beweis von Mr. Jonas‘ kaufmännischem Genie mit lautem Beifall aufgenommen. Sodann gab Mr. Chuzzlewit selbst einige Proben seiner Geriebenheit zum Besten, da er nicht zurückstehen wollte, und Mr. Wolf, der darin mit ihm wetteiferte, tischte einige Glanzpunkte aus einem oder zwei ungeheuer humoristischen Artikeln auf, an denen er soeben arbeitete. Seine Witze, die, wie er es nannte, heiß genossen werden mußten, ernteten großes Lob, und die ganze Gesellschaft erklärte sie einstimmig für außerordentlich geistreich.

»Lebemänner, mein werter Herr!« flüsterte Jobling Jonas zu. »Durch und durch Leute von Welt. Für einen mehr wissenschaftlichen Menschen wie mich ist es geradezu eine Wohltat – eine Erfrischung sozusagen –, einmal in solche Gesellschaft zu kommen. Nicht nur angenehm – und nichts kann angenehmer sein –, es ist auch philosophisch belehrend, es ist ein Charakterstudium, mein werter Herr, ein wirkliches Charakterstudium!«

Es ist so erfreulich, wahres Verdienst, wo immer es sich im Leben zeigen mag, nach Gebühr zu würdigen, daß die allgemein harmonische Stimmung der Gesellschaft ohne Zweifel nicht wenig erhöht wurde durch den Umstand, daß man wußte, in welch hohem Ansehen bei den oberen Klassen der Gesellschaft und bei den ritterlichen Verteidigern des Vaterlandes in der Armee sowohl wie in der Flotte – namentlich aber bei der ersteren – die beiden »Herren von Welt« standen. Die unbedeutendsten ihrer Anekdoten fingen mit einem Oberst an, die Lords waren darin so wohlfeil wie ihre Flüche, und selbst das königliche Blut floß durch den schlammigen Kanal ihrer persönlichen Erinnerungen.

»Ich fürchte, Mr. Chuzzlewit hat ihn nicht gekannt«, sagte Mr. Wolf mit Bezug auf eine Person von höchster Abkunft, die in seiner letzten Anekdote figuriert hatte.

»Nein«, erklärte Mr. Tigg, »aber wir müssen ihn mit derartigen Leuten in Berührung bringen.«

»Er hatte ein großes Faible für die Literatur«, bemerkte Mr. Wolf.

»So?« sagte Mr. Tigg.

»Ja, ja. Er hielt mein Blatt viele Jahre. Wissen Sie, daß er selbst zuweilen einen Witz einschickte, der gar nicht so übel war? So fragte er zum Beispiel einen Herzog, der ein Freund von mir ist (Pip kennt ihn): Wie heißt der Herausgeber? – Wolf? – Wolf, so? Verflucht scharfes Gebiß, dieser Wolf, wir dürfen ihn nicht nennen, sonst kommt er ›gerennt‹ wie’s im Sprichwort heißt. Das war doch famos, und da es obendrein ein Kompliment war, ließ ich’s natürlich drucken.«

»Teufelsbund – der Herzog ist ein famoser Bursche«, bestätigte Pip, der jeden neuen Satz mit einem ganz besonders erfundenen Fluche zu begleiten beliebte. »Der Herzog ist ein Mordskerl. Kam er da neulich in unsere Garderobe, um eine kleine Schauspielerin nach Hause zu begleiten – etwas angesäuselt, aber nicht viel –, und fragte: ›Wo ist Pip? Ich will zu Pip! Man schaffe den Pip her!‹ Machen Sie doch nicht so’n Radau, Mylord! sagte ich. ›Dieser Shakespeare ist doch ein ekliger Gehirnfatzke‹, meinte er. ›Was ist denn eigentlich Gutes an Shakespeare? Habe ihn übrigens nie gelesen. Was zum Teufel ist denn dran, Pip? ’ne Masse Füße haben seine Verse, na ja, aber in seinen Dramen kommen keine Beene vor, die der Rede wert wären. Was meinen Sie dazu, Pip? Julia, Desdemona, Lady Macbeth, und wie sie alle heißen, könnten geradesogut gar keine Beine haben; wenigstens kriegt das Publikum nichts davon zu sehen. Warum bringt er da nicht lieber gleich die Miss Biffins – die Dame ohne Unterleib – auf die Bühne? Ich will Ihnen sagen, was an dem ganzen Shakespeare dran ist. Was die Leute dramatische Poesie nennen, ist nichts als ne Sammlung von ekligen Predigten. – Geh ich vielleicht ins Theater, um mich erbauen zu lassen? Nö, Pip. Wenn ich das wollte, ginge ich in die Kirche. Was ist der eigentliche Zweck der Dramen, Pip? Menschennatur. Und was sind Beene? Ooch Menschennatur! Also jefälligst Beene her! Sie, Pip, Sie sin mein Mann!‹ – Und ich sag es mit Stolz«, fügte Mr. Pip hinzu, »daß er mir wirklich von jeher sehr gewogen war.«

Die Unterhaltung wurde bald allgemein, und Mr. Jonas, um seine Meinung über das Thema »Poesie« befragt, erklärte sich ganz und gar mit Mr. Pip einverstanden, der darüber höchlichst erfreut schien. Und wirklich hatten auch Mr. Pip sowohl wie Mr. Wolf so viel mit Mr. Jonas gemein, daß sie bald sehr vertraut miteinander wurden, was Jonas, zumal die Flasche immer schneller kreiste, nach und nach sehr redselig stimmte. Wie immer in solchen Fällen gewann er dadurch jedoch nicht an Liebenswürdigkeit. Da er kein anderes Mittel zu haben glaubte, um sich mit den andern auf gleich und gleich zu stellen, als jene Schlauheit und Verschlagenheit, derentwegen man ihm bereits so viele Komplimente gemacht, so ließ er diese Eigenschaften in ihrem blendendsten Lichte strahlen und tat so schlau und scharfsinnig, daß er sich selbst überlistete und sich mit seinen scharfen Werkzeugen selbst die Finger zerschnitt.

Es lag so ganz in seiner Art und Weise, sich auf Kosten seines Wirtes, der so viel verschwendete, ohne etwas davon zu haben – wie er glaubte –, darüber lustig zu machen, daß man ihm ein so kostbares Mahl vorgesetzt habe, daß sogar in einer so zweideutigen Gesellschaft dieses Experiment hätte Anstoß erregen können, aber Mr. Tigg und Mr. Crimple, die ihren Mann bis in seine tiefsten Tiefen zu erforschen vorhatten, schürten ihn ununterbrochen, denn je mehr er sich gehen ließ, desto schneller erreichten sie ihren Zweck. Während so der eitle Pinsel meinte, er habe sich nach Igelweise zusammengerollt und die schärfsten Stacheln nach außen gekehrt, verriet er ihrer unablässigen Wachsamkeit nur alle seine verwundbaren Stellen.

Ob nun die beiden Gentlemen, die soviel zur Bereicherung der philosophischen Erfahrungen des Doktors beitrugen (der Doktor, beiläufig gesagt, entfernte sich in aller Stille, nachdem er seine gewohnte Quantität Wein getrunken), die Anleitung zu dieser Taktik unmittelbar von ihrem Wirte hatten oder sich nach dem richteten, was sie hörten und sahen, jedenfalls spielten sie ihre Rollen ausgezeichnet. Sie ersuchten Jonas um die Ehre seiner nähern Bekanntschaft und hofften, sie würden das Vergnügen haben, ihn bald in jene höhern Kreise einzuführen, in denen zu glänzen er direkt geschaffen sei. Auf die liebenswürdigste Weise versicherten sie ihm, daß sie mit allem Einfluß, der ihnen zu Gebote stünde, ganz zu seiner Verfügung seien. Mit einem Wort, sie sagten: »Seien Sie doch einer von uns.« Und Jonas versicherte, er sei ihnen unendlich verbunden, wobei er natürlich innerlich hinzusetzte: »Solang ihr mich freihaltet, kann mir auf der Welt doch nichts angenehmer sein.«

Nach dem Kaffee, der im Salon genommen wurde, bekam die Unterhaltung, die zumeist von Mr. Wolf und Mr. Pip bestritten wurde, etwas sehr stark Gepfeffertes. Als sie endlich erlahmten, nahm Jonas den Faden auf und ließ das Licht seiner Gerissenheit leuchten, das heißt, er fragte, was das oder jenes Möbelstück gekostet habe, gab seine Meinung ab, wieviel es in Wirklichkeit wert sei, und so weiter. Bei alledem glaubte er Mr. Montague grausam herabzusetzen und die eigenen Vorzüge aufs glänzendste herauszustreichen. Ein paar Gläser Champagnerpunsch frischten dann abermals die Abendunterhaltung, wenn auch nur vorübergehend, wieder auf, und nachdem die Gespräche zu einigen etwas lärmenden und nicht ganz verständlichen Erörterungen geführt hatten, entfernten sich die beiden Lebemänner, und Mr. Jonas schlief auf einem der Sofas ein.

Da man ihm nicht mehr begreiflich machen konnte, wo er sich befand, so erhielt Mr. Bailey den Auftrag, einen Fiaker zu holen, um den Herrn nach Hause zu bringen. Es war beinah drei Uhr morgens.

»Hat er angebissen?« flüsterte Crimple seinem Associé zu, als Sie den Schlafenden aus einer Ecke des Zimmers heraus beobachteten.

»Fraglos«, versetzte Tigg ebenso leise, »und zwar, wie mir scheint, sehr gründlich. Ist Nadgett übrigens hier gewesen?«

»Ja. Ich ging zu ihm hinaus. Als er hörte, daß Sie Gesellschaft hätten, entfernte er sich wieder.«

»Warum denn?«

»Er sagte, er wolle gleich am Morgen, noch ehe Sie aufgestanden wären, wiederkommen.«

»Da muß ich Auftrag geben, daß er sogleich in der Frühe heraufgeschickt wird«, rief Mr. Tigg. »Heda! Da ist ja der Junge! Also Bailey, fahren Sie den Herrn nach Haus und sorgen Sie dafür, daß er gut zu Bett kommt. – Hallo! Mr. Chuzzlewit, wachen Sie doch auf!«

Mit Mühe brachten sie Jonas in eine aufrechte Stellung und halfen ihm die Treppe hinab, stülpten ihm dann den Hut auf den Kopf und hoben ihn in den Fiaker. Mr. Bailey schloß den Schlag, stieg auf den Bock neben den Kutscher und rauchte mit der Miene besondern Behagens eine Zigarre, denn die Aufgabe, die ihm zuteil geworden, hatte einen gewissen flotten und sportartigen Charakter, der seinem Geschmacke außerordentlich zusagte.

Als sie vor dem Haus in der City angekommen waren, sprang Mr. Bailey herunter und gab seinen lebhaften Empfindungen durch ein Klopfen Ausdruck, desgleichen in diesem Stadtviertel wahrscheinlich seit dem großen Brande in London nicht mehr gehört worden war. Dann trat er auf die Straße hinaus, um die Wirkung seiner Heldentat zu beobachten, und bemerkte, daß ein trübes Licht, das vorher am oberen Fenster sichtbar gewesen, bereits weggenommen war und offenbar die Treppe herunterwandelte. Um sich über die Person des Lichtträgers zum voraus Gewißheit zu verschaffen, eilte Mr. Bailey wieder zur Türe zurück und hielt sein Auge ans Schlüsselloch.

Sie selbst, die einst so Lustige, war es, die jetzt traurig und seltsam verändert herunterkam. So abgehärmt und niedergeschlagen, so unsicher und furchtsam, so gedemütigt und gebrochen sah sie aus, daß es wohl niemanden besonders überrascht hätte, sie ruhig im Sarge liegen zu sehen.

Sie stellte die Kerze im Vorhaus nieder und legte die Hand aufs Herz, dann drückte sie sie auf die Augen und an ihre fiebernde Stirn, sich dabei mit so unstetem hastigem Schritt der Türe nähernd, daß Mr. Bailey gänzlich seine Fassung verlor und immer noch in gebückter Stellung vor dem Schlüsselloch stand, als die Türe bereits aufging.

»Aha«, sagte er verlegen, »da sind Sie ja. Was gibt’s? Sie sind doch nicht krank?«

Trotz ihres Erstaunens über das Wiedersehen und über das veränderte Äußere des jungen Gentlemans schlich so viel von ihrem alten Lächeln wieder über ihr Gesicht, daß sich Baileys Miene aufheiterte. Aber schon im nächsten Augenblick war er wieder betrübt, denn er sah, daß Tränen in ihren Augen standen.

»Erschrecken Sie nicht«, sagte er, »es ist nix weiter passiert. Ich bring nur Mr. Chuzzlewit heim – er ist nicht krank – nur a bissel benebelt.«

Und dabei machte er eine taumelnde Bewegung, um Jonas‘ Zustand von Betrunkenheit mimisch auszudrücken.

»Kommt Ihr von Mrs. Todgers?« fragte Gratia zitternd.

»Von Mrs. Todgers?! Gott bewahr!« rief Mr. Bailey. »Mit der hab ich schon lang nix mehr zu schaffen. Die Bekanntschaft is jetzt aus. Er hat bei meinem Herrn im Westend diniert. Haben S‘ denn net gewußt, daß er bei uns is?«

»Nein«, versetzte Gratia mit matter Stimme.

»Na, bei uns geht’s hoch her, das kann ich Ihnen sagen. – Bleiben S‘ doch drin, damit S‘ Ihna net verkühlen, i wer ihn scho aufwecken.«

Mr. Bailey drückte in seinem ganzen Wesen eine so vollkommene Zuversicht aus, als sei er imstande, im Notfall den Schlafenden mit Leichtigkeit auf den Rücken zu nehmen, öffnete den Kutschenschlag, ließ den Tritt herunter, rüttelte Mr. Jonas auf und rief ihm ins Ohr:

»Wir sin jetzt z‘ Haus, wackeln S‘ gefälligst außer!«

Mr. Jonas Chuzzlewit war inzwischen so weit zu sich gekommen, um dieser Aufforderung entsprechen zu können, und plumpste zum Wagen heraus auf einen Kehrichthaufen, dabei die Persönlichkeit Mr. Baileys in nicht geringe Gefahr bringend. Als er sich auf das Pflaster gerettet, richtete ihn Mr. Bailey zuerst von vorn auf, schob dann gewandt von hinten nach und bugsierte ihn, nachdem er ihm auf solche Weise zu einer aufrechten Stellung verholfen, ins Haus.

»Gengan S‘ mit der Kerzen voraus«, bedeutete er Mrs. Jonas, »Sie brauchen net so zittern, er wird Ihna nix tun. I wenigstens, wann i a bissel z‘ vüll übern Durst trunken hab, bin die Gutmütigkeit selber.«

Gratia ging voran. Nach verschiedentlichem Hinundherstolpern und Herumtaumeln erreichten endlich ihr Gatte und Mr. Bailey das Wohnzimmer im ersten Stock, wo Jonas sich in einen Stuhl fallen ließ.

»So«, ächzte Mr. Bailey, »jetz is er scho wieder ganz beisamm. Lieber Gott, Sie brauchen doch net zu weinen. A Rausch is besser als a Fieber.«

Da saß jetzt der scheußliche Kerl mit zerknülltem Anzug, gedunsenem Gesicht und zerrauftem Haar, mit verglasten Augen um sich starrend, bis er allmählich zur Besinnung kam. Als er seine Gattin erkannte, schüttelte er die geballte Faust gegen sie.

»Oha!« rief Mr. Bailey in plötzlichem Grimm und legte sich zur Boxerstellung aus. »Was? Boshaft wollen S‘ a no sein? Da halten S‘ Ihna aber jetzt gfälligst zruck. Dös lassen S‘ lieber bleiben.«

»Ich bitte, gehen Sie fort«, flehte Gratia. »Bailey, mein lieber Junge, gehen Sie nach Hause! – Jonas«, flüsterte sie und beugte sich zu ihrem Gatten nieder, »Jonas!«

»Da schaue einer«, lallte Jonas und stieß sie mit ausgestrecktem Arm zurück, »da schaue einer! Seht sie nur an! Ein nette Bescherung, so was für einen Mann!«

»Lieber Jonas –« »Zum Teufel, ›lieber Jonas‹«, versetzte er mit heftiger Gebärde. »Eine hübsche Kette, um sie das ganze Leben mit sich zu schleppen! Du quieksende, weißgesichtige Katze, geh mir aus den Augen!«

»Ich weiß, du meinst es nicht im Ernst, Jonas! Du würdest nicht so sprechen, wenn du nüchtern wärst.«

Mit erkünstelter Heiterkeit reichte Gratia Bailey ein Trinkgeld und bat ihn abermals, sich zu entfernen. Ihre Aufforderung war so dringend, daß der junge Mann nicht den Mut hatte, länger zu bleiben. Im Flur unten machte er jedoch noch einmal halt und horchte.

»Ich würde nicht so reden, wenn ich nüchtern wäre?« rief Jonas. »Du mußt das natürlich besser wissen. Hab ich’s vielleicht im nüchternen Zustand nicht schon oft gesagt?«

»Leider sehr oft«, schluchzte Gratia unter Tränen.

»Hör mal«, gurgelte Jonas und stampfte mit dem Fuß auf den Boden, »ich habe lang genug im Brautstand deine Launen fühlen müssen, jetzt sollst du mal meine ertragen. Ich habe mir das schon damals vorgenommen. Deswegen hab ich dich geheiratet. Wegen nichts sonst. Ich will jetzt sehen, wer der Herr und wer der Sklave ist.«

»Der Himmel weiß, daß ich gehorsam bin«, jammerte die junge Frau. »Mehr als ich selbst glaubte, je sein zu können.«

Jonas lachte in trunkener Freude auf.

»Begreifst du’s endlich, was? Nur Geduld, du wirst’s schon lernen, mit der Zeit. Ja, ja, Kobolde haben auch Klauen, mein Schatz. Jede geringschätzige Behandlung, jeden Possen, den du mir gespielt, jede Unverschämtheit, die du dir gegen mich erlaubt hast, will ich dir hundertfach zurückzahlen. Wozu hätte ich dich denn sonst geheiratet? – – Jawohl dich!« schrie er mit roher Verachtung.

»Es besänftigt ihn vielleicht, wenn er mich das Bruchstück des kleinen Liedes singen hört«, dachte sie, »von dem er sonst zu sagen pflegte, daß es ihm gefiele.« Sie versuchte es mit gequältem Herzen, um ihn wieder für sich zu gewinnen.

»Oho!« fing er sogleich wieder an; »du bist also taub. Du hörst mich nicht, was? Um so besser für dich. – Ich hasse dich! – Ich hasse mich selbst, daß ich dumm genug war, mir eine solche Fessel ans Bein zu binden, nur um das Vergnügen zu haben, dich nach Belieben mit Füßen treten zu können. Ich habe jetzt von Möglichkeiten erfahren, die mich instand gesetzt hätten, überall nach Belieben anzukommen, aber ich würde dennoch ledig bleiben. Gerade jetzt täte es mir not, ledig zu sein wegen der Freunde, die ich seit heute kenne. Statt dessen bin ich hier an dich angeschmiedet wie an einen Block. – Pfui Teufel! Was zeigst du mir deine bleiche Fratze, wenn ich nach Hause komme? Natürlich bloß, damit ich immer wieder daran erinnert werden soll, was?«

»Wie spät es schon ist«, sagte Gratia mit krampfhafter Heiterkeit und öffnete nach einer Weile die Fensterladen. »Bereits heller Tag, Jonas.«

»Heller Tag oder dunkle Nacht, was geht das mich an«, lautete die zarte Antwort.

»Die Nacht ist mir ja schnell vergangen; ich bin gern aufgeblieben«, sagte Gratia demütig.

»Untersteh dich nur noch einmal, meinetwegen aufzubleiben«, murrte Jonas.

»Ich habe die ganze Nacht über gelesen«, entschuldigte sich Gratia, »ich fing an, als du ausgingst, und las noch, als du nach Hause kamst. Es war die seltsamste Geschichte, Jonas, die ich mir denken kann – und wahr ist sie, wie es in dem Buche heißt. Ich werde sie dir morgen erzählen.«

»So, so, eine wahre Geschichte!« höhnte Jonas.

»So steht’s wenigstens in dem Buch.«

»Steht vielleicht was drin von einem Mann, der fest entschlossen ist, sein Weib unterzukriegen? Ihren Dickschädel und ihre Launen zu brechen wie Nußschalen? Und sie, wenn’s darauf ankommt, auch unter die Erde zu bringen?«

»Nein, nicht ein Wort«, stammelte Gratia verwirrt.

»So? Nicht? Auch gut«, brummte Jonas, »und doch wird es in Bälde eine wahre Geschichte werden, wenn auch in keinem Buch etwas davon steht. Ich sehe schon wieder, es ist ein Lügenbuch – ein passendes Buch für eine lügnerische Person wie dich. Aber du bist ja taub, ich habe das ganz vergessen.« Abermals trat eine Pause ein, und Mr. Bailey wollte sich eben fortschleichen, machte aber noch einmal halt, als er Gratias Fußtritt auf dem Flur hörte. Sie ging, wie es schien, noch einmal zu ihrem Gatten hinauf und versprach ihm mit liebevollen Worten, sie wolle ihm nachgeben, seinen Wünschen Rechnung tragen und ihm gehorchen, sagte, daß sie bestimmt noch glücklich miteinander würden, wenn er nur nachsichtig gegen sie sein wolle. Er antwortete mit einem Fluch und –

Mit einem Schlag? Jawohl, mit einem Schlag.

Dennoch ertönte kein zorniger Ruf und kein Vorwurf; ihr Weinen und Schluchzen wurde dadurch erstickt, daß sie sich an ihn anklammerte. Sie sagte nur, es im Schmerze ihres Herzens immer und immer wiederholend: »Wie konntest – wie konntest – wie konntest du nur!«

Die übrigen Worte gingen in ihrem Schluchzen unter.

29. Kapitel


29. Kapitel

In dem sich manche Leute altklug benehmen, andere geschäftsmäßig, wieder andere geheimnisvoll, kurz, alle nach ihrer Weise

Vielleicht war es die unangenehme Erinnerung an alles, was er diese Nacht gehört und gesehen, vielleicht auch weiter nichts als die Entdeckung, daß er nichts zu tun hatte – genug, Mr. Bailey fühlte am folgenden Nachmittag ein sehnsüchtiges Verlangen nach angenehmer Gesellschaft und beschloß deshalb, seinem Freund Poll Sweedlepipe einen Besuch abzustatten.

Als die kleine Türglocke geräuschvoll die Ankunft eines Besuches meldete – denn Mr. Bailey kam mit einem ungestümen Ruck zur Türe herein, um ihr den lautesten Ton zu entlocken –, stand Mr. Poll Sweedlepipe sofort von der Betrachtung einer seiner Lieblingseulen ab und hieß seinen Freund herzlich willkommen.

»Nein, wie Sie bei Tag fein aussehen«, rief Poll, »viel feiner als beim Kerzenschein! Noch nie hab ich einen so gigerlhaften jungen Herrn gesehen.« »Na, macht sich, Polly. Wie geht’s übrigens unserer schönen Freundin?« – brummte Mr. Bailey.

»Oh, so ziemlich gut«, sagte Poll, »sie ist übrigens zu Hause.«

»Man sieht, daß sie mal ganz hübsch gwesen sein muß, die Sarah, Poll«, bemerkte Mr. Bailey mit vornehmer Gleichgültigkeit.

»Oh«, dachte Poll, »er ist alt. Er muß sehr alt sein.«

»Bissel ausm Leim gegangen, wissen S’«, fuhr Mr. Bailey fort, »bissel zu fett, Poll. Aber es gibt so manche, wo in ihrem Alter noch schlimmer ausschauen.«

»Sogar die Eule macht große Augen«, jubelte Poll. »Wundert mich übrigens nicht bei einem Vogel von solchem Verstand.«

Er hatte vorher gerade seine Rasiermesser abgezogen, und sie lagen jetzt offen in einer Reihe nebeneinander, während ein ungeheurer Streichriemen noch an der Wand hin und her baumelte. Als Bailey diese sachgemäßen Zurüstungen erblickte, strich er sich über das Kinn. Es schien ihm ein großer Gedanke gekommen zu sein. »Poll«, sagte er, »ich bin nicht so glatt ums Kinn rum, als ich gern wäre. Da ich grad hier bin, könnten S‘ mich eigentlich rasieren.«

Der Barbier machte große Augen, aber Mr. Bailey entledigte sich ohne weitere Umstände seiner Krawatte und setzte sich mit aller nur erdenklichen Würde und Zuversicht auf den Rasierstuhl. Sein Benehmen ließ keinen Widerspruch zu. Der Augenschein und das Zeugnis des Tastsinnes versagten, aber obgleich Mr. Baileys Kinn so glatt war wie ein frisch gelegtes Ei oder ein Edamerkäse, so würde Poll Sweedlepipe doch nicht gewagt haben, sogar vor Gericht in Abrede zu ziehen, daß Mr. Bailey einen Bart habe wie ein polnischer Rabbiner.

»Aber gefälligst nicht gegen den Strich, Poll«, ermahnte Mr. Bailey und legte sein Gesicht in würdevolle Falten. »Das bissel Backenbart können S‘ auch wegputzen, ich leg keinen großen Wert drauf.«

Der demütige kleine Haarkünstler starrte ihn an, blieb, Pinsel und Seifenbecken in der Hand, vor ihm stehen und rührte und rührte den Schaum um, in komischer Ungewißheit, als habe ihn ein satanisches Blendwerk behext. Endlich machte er mit dem Seifenpinsel einen Strich auf Mr. Baileys Wange, dann hielt er wieder inne, als ob die Fata Morgana des Bartes von seiner Berührung plötzlich wieder in nichts zerronnen sei. Da er jedoch von Mr. Bailey eine milde Ermutigung in Form eines beschwörenden: »Na, also was is denn?« zu hören bekam, seifte er endlich tüchtig darauf los. Selbstgefällig lächelte Mr. Bailey durch den Schaum.

»Nur nöt zu wild, Poll! Und über die Pickel müssen S‘ auf die Zehen weggehen.«

Poll Sweedlepipe nickte und schabte den Schaum mit auserlesener Sorgfalt wieder weg. Nach jedem Seifenklecks, der auf einer Serviette auf seiner linken Schulter deponiert wurde, schielte Mr. Bailey mit Späherblick, und wirklich schien er mit mikroskopisch vergrößerndem Auge darin einige Härchen zu entdecken; denn er murmelte mehr als einmal: »Verflucht fuchsig, Poll.«

Als die Operation glücklich vorüber war, trat Poll Sweedlepipe zurück und starrte Bailey wieder an, während dieser sich das Gesicht mit dem Handtuch abwischte und schwor, »daß es nach einer durchwachten Nacht für einen Mann keine größere Erfrischung gäbe, als sich rasieren zu lassen.«

Er war eben im Begriff, sich vor dem Spiegel in Hemdsärmeln seine Krawatte wieder umzubinden, und Poll hatte bereits sein Rasiermesser abgewischt, um es für den nächsten Kunden bereitzuhalten, als Mrs. Gamp die Treppe herunterkam und in den Raseurladen guckte, um Poll einen nachbarlichen schönen guten Morgen zu wünschen. Mr. Bailey hatte Mitleid mit ihr, annehmend, sie habe eine zärtliche Neigung zu ihm gefaßt, die er natürlich nicht erwidern konnte, und beeilte sich daher, ihr durch ein gütiges Wort ihr Schicksal zu erleichtern.

»Hallo«, sagte er, »Sarah! I brauch ja net fragen, wie’s Ihna die ganze Zeit über gangen is, denn i siech scho, Sie sin sakrisch aufm Damm. Ja ja, sie blüht und gedeiht, net wahr, Polly?«

»Da schau a mal aner die Keckheit von dem Buabn«, rief Mrs. Gamp, aber durchaus nicht mißvergnügt, »was dös für a klaner Spatz is. Net um fufzg Kronen möcht i die Mutter von ihm sein.«

Mr. Bailey erblickte darin ein zartes Zugeständnis ihrer Zuneigung und eine Andeutung, daß kein Geldgewinn sie für die Hoffnungslosigkeit ihrer Leidenschaft zu entschädigen vermöge. Er fühlte sich geschmeichelt; – eine – wenn auch unerwiderte – Zuneigung ist immer schmeichelhaft.

»O mein«, stöhnte Mrs. Gamp und ließ sich in den Rasierstuhl sinken, »der Patient im ›Ochsen‹, lieber Sweedlepipe, hat wirklich sein Bestes getan, mich aufzureiben. Von allen Quälgeistern in dem irdischen Jammertal kriegt der den ersten Preis.«

Es lag in der Taktik Mrs. Gamps und ihrer Kolleginnen, dergleichen von allen ihren Kunden zu behaupten, erstens einmal, weil es dazu diente, die Konkurrenz abzuschrecken, und zweitens, weil es bewies, daß die Krankenwärterinnen darauf angewiesen sind, sich gut verköstigen zu lassen.

»Und a Konstitution muß mer haben«, jammerte Mrs. Gamp, »wie a Ziegelstein, wenn mer’s aushalten soll. Die Harris hat erst neulich zu mir gsagt: ›Sarah Gamp‹, hat s‘ gsagt, ›wie is dös nur möglich?‹ Liebe Harris, hab i gsagt, mir verlassen uns halt net auf uns selbst, sondern auf die, was die Höchern sin. Un dös is jetzt unser religiöses G’fühl, und mir findn a jeds mal, daß mir net auf Sand baut ham. – ›Sarah‹, hat die Harris drauf gsagt, ›ja, ja, das ganze Lebn is a Heimsuchung und gleicherweis auch das End von alle Ding.‹«

Der Friseur murmelte leise etwas vor sich hin, was soviel bedeuten sollte, daß die Bemerkung der Mrs. Harris, wenn auch nicht ganz so verständlich, wie sich von einer derartigen Autorität erwarten lasse, so doch ihrem Kopf und ihrem Herzen gleiche Ehre mache.

»Und wie S‘ mich jetzt da sehn«, fuhr Mrs. Gamp fort, »so geh i jetzt zwanzg Meilen weit, so auf mir nix dir nix aufs ung’wisse naus, wie nur je eine a Reis gmacht hat. ›Sie mit Ihrem guten Herzen‹, hat noch die Harris zu mir gsagt, ›Sie wern natürli gehen, was? Sarah?‹ – Gott im Himmel, warum soll i denn net gehn, liebe Harris, hab i gsagt. Die Gill hat ihrer sechs Stück ghabt, und jedsmal hat s‘ den richtigen Zeitpunkt abpaßt. Is des jetzt wahrscheinli – i frag Ihna als a Mutter –, daß s‘ jetzt beim siebenten anfangt, schlampen zu werden? Mehr als einmal hab i ihm sagn hörn – hab i gsagt zu der Harris –, i mein nämlich ihren Gatten, mehr als einmal hab i ihm sagen hören, er will zwei Kronen wetten gegen an alten Kalender, daß er den Zeitpunkt bis auf den Tag und die Stund genau angeben kann. Is ’s da jetzt wahrscheinlich, liebe Harris, hab i gsagt, daß es grad dös ane Mal zu früh kommt? ›Na, dös is net anz’nehmen‹, hat s‘ gsagt ›aber‹, hat s‘ gsagt und die Tränen san ihr in die Augn g’stiegen, ›Sie wissen viel besser als i – bei Ihnerer Erfahrung, wie wenig nötig is, uns ausm Gleis und aus dem Lauf der Natur zu bringen. A Hanswurst‹, hat s‘ gsagt, ›a Schornsteinfeger, a großer Hund oder a B’soffener kommt zum Beispiel auf amal um die Ecken, und aus is. G’schehn is!‹ Und dös is wahr, Polly«, bekräftigte Mrs. Gamp, »da nutzt ka Leugnen net, und wenn mer a ganze Schachtel Weißzeug auch für die ganze Woch hält, so nehm i’s doch mit aner g’wissen Besorgnis mit, dös kann i Ihna versichern.«

»Weil Sie halt so eifrig in Ihrem Beruf sind«, sagte Poll, »Sie placken sich wirklich viel zu sehr ab.«

»Ja, jetzt dös is wahr«, rief Mrs. Gamp, erhob die Hände und schlug die Augen gen Himmel auf, »da sagn S‘ jetzt die Wahrheit – und wann S‘ es noch nie in Ihrem Lebn gsagt hätten. I fühl immer die Leiden von andre Leut mehr als meine eignen, wenn’s mir a kaner net glaubt. Die Familien, wo i scho ghabt hab, müßten a ganze Woch brauchen, wenn ma alles dös wüßt – und ehren tät, wem Ehre gebührt, um am St.-Pauls-Brunnen getauft zu werden.«

»Wohin wird Ihr Patient aus dem ›Ochsen‹ gehen?« fragte Mr. Sweedlepipe.

»Nach Har’forshire, wo er her is. Aber er mag hingehen, wohin er mag«, bemerkte Mrs. Gamp, »der kommt nimmer zu Kräften.«

»Steht es so schlimm?« fragte der Barbier neugierig. »Wirklich?«

Mrs. Gamp schüttelte geheimnisvoll den Kopf und warf die Lippen auf. »Wissen S‘, es gibt a geistigs und a körperliche Fieber«, erklärte sie. »Da kann eins Brausepulver nehmen, bis ’s in d‘ Luft geht, aber helfen tut dös nix mehr.«

»Oh!« rief der Barbier, riß die Augen auf und nahm eine Art Rabenphysiognomie an. »Lieber Himmel!«

»Ja, ja! So leicht kann mer sich machen wie a Luftballon«, beteuerte Mrs. Gamp, »aber, wenn’s oam net mehr recht im Kopf is und mer im Schlaf von gewisse Sachn spricht, so wird’s net mehr so leicht wieder besser.«

»Wovon spricht er denn?« fragte Poll und biß mit großem Interesse an seinen Nägeln. »Von Geistern?«

Mrs. Gamp, die sich durch des Raseurs anspornende Neugierde bereits weiter hatte verlocken lassen, als sie eigentlich anfangs wollte, schnüffelte bedeutsam und meinte, das gehöre nicht hierher.

»I fahr heunt nachmittag mit meim Patienten aufs Land«, fuhr sie fort, »zwoa oder drei Tag bleib i bei eam, bis er a Wärterin vom Land kriegt – hol der Teufel die Landwärterinnen; jede Gans versteht mehr vom G’schäft als wie a solchene –, und nacher komm i wieder. So, dös san jetzt meine Sorgen, Mr. Sweedlepipe. Aber i hoff, es wird alles recht und gut wern, solang i weg bin, und ang’nommen, wie die Harris sagt, die Gill trifft’s zur rechten Stund, so is mir jeder Tag oder jede Minutn in der Nacht ganz wurscht.«

Während aller dieser Bemerkungen, die Mrs. Gamp ausschließlich an den Barbier richtete, hatte Mr. Bailey seine Krawatte umgebunden, seinen Rock angezogen und schnitt nunmehr jetzt seinem Spiegelbild Fratzen. Da ihn Mrs. Gamp jetzt anredete, wandte er sich um und mischte sich in die Unterhaltung.

»Sie sin wohl net wieder in der innern Stadt gewesen«, fragte Mrs. Gamp, »seit mir uns zuletzt bei Mr. Chuzzlewit troffen habn?«

»O ja, Sarah, i bin erst heut nacht dort gewesen.«

»Heut nacht?« rief der Barbier.

»Jawohl, Poll. Sie könnten eigentlich grad so gut ›heut früh‹ sagen. Er hat nämlich bei uns dünürt.«

»Wen meint denn der Spatz mit seinem ›bei uns‹?« fragte Mrs. Gamp höchst ungeduldig.

»Mich und meinen Herrn, Sarah. Er hat in unserm Haus dünürt und war sehr lustig, Sarah – und zwar so, daß i ihn heut morgen in an Fiaker hab nach Haus bringen müssen.«

Mr. Bailey war eben im Begriff, noch mehr auszuplaudern, da erinnerte er sich plötzlich, wie leicht sein Herr Kunde von derartigen Indiskretionen erhalten könne und wie streng ihm Mr. Crimple eingeschärft, unter keinen Umständen über häusliche Angelegenheiten zu sprechen. Er hielt daher mit einem Ruck inne und fügte bloß hinzu: »Sie war noch auf und hat auf ihn gewartet.«

»Wenn mer die Sach bei Licht betracht’«, entgegnete Mrs. Gamp mit Schärfe, »so hätt s‘ scho was G’scheiters tun können. Sin die beiden freundlich mitanander g’west?«

»O ja«, antwortete Bailey, »so ziemlich.«

»Dös freut mi«, knurrte Mrs. Gamp mit einem zweiten bedeutsamen Schnüffeln.

»Sie sind noch nicht so lang miteinander verheiratet«, erklärte Poll, sich die Hände reibend, »um nicht noch eine Weile gut miteinander auszukommen.«

»Na ja«, brummte Mrs. Gamp mit einem dritten bedeutungsvollen Signal.

»Besonders«, fuhr der Barbier fort, »wenn der Herr einen so guten Charakter hat, wie Sie sagen.«

»I sag wie’s is, Mr. Sweedlepipe«, fiel Mrs. Gamp rasch ein. »Gott behüt, daß ’s anders wär, aber wissen können mir net, was in andere Leute ihnere Herzen vorgeht, und wenn wir Menschen Glasscheiben davor hätten, so müßt – dös kann i Ihna versichern – so manches von uns die Fensterladen vorlegen.«

»Aber Sie wollen damit doch nicht sagen – –?« begann Poll Sweedlepipe.

»Na, na«, erwiderte Mrs. Gamp schroff, »i sag gar nix. So was dürfen S‘ net von mir glaubn. Nöt amal am Scheiterhaufen möcht i so was tun. Alls, was i sag, is«, fügte die gute Frau hinzu, stand auf und warf sich ihren Schal um, »daß mer im ›Ochsen‹ auf mi wart und daß die Minuten lange Haxen ham.«

Bei seiner angeborenen Neugierde trug natürlich der kleine Barbier heftiges Verlangen, Mrs. Gamps Patienten zu sehen. Er machte daher Mr. Bailey den Vorschlag, die Dame mit ihm nach dem »Ochsen« zu begleiten, um die Abfahrt der Kutsche mit anzusehen. Der junge Herr war sofort einverstanden, und so gingen sie alle drei zusammen fort.

Als sie bei dem Gasthause angekommen waren, ließ Mrs. Gamp, die in vollem Reisestaat war – nämlich in ihrem letzten Traueranzug –, ihre Freunde im Hofe stehen und verfügte sich hinauf in das Krankenzimmer, wo ihre Kollegin, Mrs. Prig, den Patienten soeben ankleidete.

Der Kranke sah so abgezehrt aus, daß man seine Knochen klappern zu hören glaubte, wenn er sich bewegte. Seine Wangen waren tief eingefallen und seine Augen unnatürlich groß. Er lag im Armstuhl mehr wie ein Toter als wie ein Lebendiger und rollte seine tiefliegenden Augen, als Mrs. Gamp erschien, so qualvoll und schmerzlich nach der Türe, als sei selbst diese Anstrengung zu schwer für seine schwachen Kräfte.

»Na, und wie geht’s uns heut?« fragte Mrs. Gamp. »Wir sehn ja famos aus!«

»Da sehn mir famoser aus als mir sin«, entgegnete Mrs. Prig in etwas gereiztem Tone. »I glaub, mir sin mit dem linken Fuß ausm Bett aufg’standen. Nix is uns recht. I hab mei Lebtag noch kan solchen Kranken g’segn. Wär’s nach eahm gangn, so hätt er sich net amal waschen lassen.«

»Sie hat mir Seife in den Mund geschmiert«, klagte der unglückliche Patient mit schwacher Stimme.

»Warum habn S‘ ’s Maul net zug’halten?« schimpfte Mrs. Prig. »Für a halbe Krone im Tag soll mer leicht a no Obacht geben, was? Wann S‘ g’streichelt sein wolln wie a seidns Tuch, so müssen S‘ dafür zahlen.«

»O Gott, o Gott, o Gott«, stöhnte der Patient.

»Da hast du’s«, keifte Mrs. Prig. »So führt er sich auf, Sarah, seit i eahm ausm Bett außerzarrt hab. Ob dös a Mensch glauben soll?!«

»Anstatt dankbar zu sein«, stimmte Mrs. Gamp ein, »für alle unsre kleinen Mühen und Freundlichkeiten! Schämen S‘ Ihna!«

Sodann faßte Mrs. Prig den Patienten beim Kinn und begann seinen unglücklichen Kopf mit einer Haarbürste zu raspeln.

»I glaub, dös paßt Ihna a net, was?« fragte sie und pausierte, um ihn anzublicken.

Es war allerdings leicht möglich, daß die Sache dem Kranken nicht behagte, denn die Bürste war von der härtesten Art, die die moderne Kunst nur erzeugen kann, und seine Haut war schon ganz rot vom Reiben. Mrs. Prig, erfreut über die Richtigkeit ihrer Vermutung, sagte nur triumphierend, »sie kenne sich aus beim Wurstkessel«.

Als dem Patienten das Haar hübsch in die Augen heruntergekämmt war, banden ihm Mrs. Prig und Mrs. Gamp das Halstuch um und paßten ihm den Hemdkragen so geschickt an, daß ihm die gestärkten Enden beinahe die Augen ausstachen. Dann kamen Rock und Weste an die Reihe, deren Knöpfe regelmäßig in die falschen Knopflöcher gedrückt wurden; die Stiefel wurden gleichfalls verkehrt angezogen, kurz, der ganze Mann glich schließlich einer Vogelscheuche.

»Ich glaube nicht, daß es so recht ist«, stöhnte er verzweifelt, »mir ist, als stäke ich in den Kleidern eines andern. Alles hängt auf die eine Seite über, und Ihr habt mir das linke Hosenbein kürzer gemacht als das andere. Und da hab ich gar eine Flasche in der Tasche. Warum soll ich denn auf einer Flasche sitzen?«

»Da hol doch scho der Henker den Menschen!« rief Mrs. Gamp und zog ihm die Flasche aus dem Rock. »Ob er net mei Nachtflaschn da drin stecken hat! I hab sein Rock als Vorratsschrank benutzt, wie er hinter der Tür g’hängt hat. Wie aufn Tod hab i’s vergessen. Betsey, Sie werden a paar Zwiefeln, a Bröckerl Tee und Zucker in seiner andern Taschen finden, wann S‘ so gut sein wolln, meine Liebe, und neingreifen.«

Betsey Prig zog die genannten Gegenstände und noch andere Kramladenartikel aus der Tasche, und Mrs. Gamp schob sie in ihre eigene, die eine Art Nankinkorb darstellte. Dann wurden Erfrischungen in Gestalt von Koteletts und Doppelale für die Damen und ein Teller schwache Bouillon für den Patienten hereingebracht, und kaum waren alle drei mit ihrem Mahle zu Ende, als John Westlock auf der Bildfläche erschien.

»Bereits auf und angezogen?!« rief er und nahm neben dem Kranken Platz. »Das ist wacker! Nun, wie fühlen Sie sich?«

»Viel besser, aber nur noch sehr schwach.«

»Kein Wunder! Es hat sie auch ordentlich gepackt gehabt. Aber die Landluft und die Ortsveränderung werden einen neuen Menschen aus Ihnen machen«, sagte John. »Aber Mrs. Gamp«, setzte er lachend hinzu und suchte freundlich den Anzug des Kranken zu ordnen. »Sie haben kuriose Begriffe, wie ein Gentleman gekleidet geht.«

»Mr. Lewsome ist nicht so leicht in seine Kleider zu bringen«, entschuldigte sich Mrs. Gamp würdevoll, »dös können i und die Prig im Notfall vor dem Bürgermeister und dem ganzen Rat bezeugen.«

John stand ganz dicht vor dem Patienten und war eben im Begriff, ihn von der Qual der erwähnten Hemdkragenspitzen zu befreien, als dieser flüsternd sagte:

»Mr. Westlock, ich möchte nicht, daß man meine Worte hier hört, aber ich hätte Ihnen etwas höchst Seltsames mitzuteilen; etwas, das während dieser langen Krankheit mir schwer auf dem Herzen gelegen hat.«

Rasch wie immer, drehte sich John sogleich um und wollte den Weibern befehlen, das Zimmer zu verlassen, aber der Kranke hielt ihn am Ärmel zurück.

»Nicht jetzt! Ich habe nicht die Kraft dazu und auch nicht den Mut. Darf ich’s Ihnen sagen, wenn ich wieder dazu imstande bin? Darf ich’s niederschreiben, wenn ich wieder soweit kräftig bin?«

»Ob Sie dürfen, Lewsome!?« rief John. »Ja, was soll denn das heißen?«

»Fragen Sie mich jetzt nicht weiter. Es ist unnatürlich und schrecklich; es ist fürchterlich, daran zu denken, und furchtbar, es zu sagen, furchtbar, es zu wissen – furchtbar, dabei mitgeholfen zu haben. Lassen Sie mich Ihnen die Hand küssen für all das Gute, das Sie mir erwiesen haben. Seien Sie noch gütiger und fragen Sie mich jetzt nicht weiter.«

Anfangs starrte John den Kranken in großer Verwunderung an, dann jedoch dachte er daran, wie erschöpft der Mann sein müsse und daß sein Gehirn erst unlängst in Fieberflammen gestanden habe und daß er vielleicht an einem eingebildeten Schrecken oder einer verzweiflungserfüllten Phantasie leiden könne. Um sich näher über diesen Punkt zu unterrichten, nahm er Mrs. Gamp beiseite, während Betsey Prig den Patienten mit Mänteln und Schals einmummte, und fragte sie, ob Mr. Lewsome auch ganz bei Besinnung sei.

»Gott bewahr«, rief Mrs. Gamp, »er haßt seine Wärterinnen bis auf die jetzige Stund. So sin s‘ immer. Dös is a sichers Zeichen. Hätten S‘ nur g’hört, wie er mich und die Prig ausgescholten hat vor aner halben Stund noch! Sie möchten’s gar net glaubn, daß mir net scho längst im Grab liegen!«

Diese Worte bestätigten beinahe Johns Argwohn. Er nahm daher Lewsomes Ausspruch nicht weiter ernst, setzte sein gewohntes fröhliches Gesicht auf und führte mit Mrs. Gamps und Betsey Prigs Hilfe den Kranken die Treppe hinunter zum Wagen, der schon zur Abfahrt bereitstand.

Mr. Sweedlepipe lehnte an der Tür, die Arme verschränkt und die Augen weit aufgerissen, und sah mit ungeheurer Neugierde zu, wie der Kranke langsam in die Kutsche gehoben wurde. Die abgezehrten knochigen Hände und das hagere Gesicht machten auf ihn einen tiefen Eindruck, und flüsternd sagte er zu Mr. Bailey, er hätte den Anblick nicht für eine Guinee versäumen mögen. Mr. Bailey dachte anders und bemerkte, für fünf Schillinge wäre er mit Vergnügen weggeblieben.

Es war eine mühselige und schwierige Sache, Mrs. Gamps Gepäck zu ihrer Zufriedenheit im Wagen zu verstauen, denn jedes Stück mußte in eine besondere Abteilung des Kutschkastens kommen, damit nichts verwechselt werde, bei sonstiger Klage auf Schadenersatz gegen die Eigentümer des Fuhrwerks. Der Regenschirm mit dem kreisförmigen Flickstück war besonders schwer unterzubringen und streckte mehrmals zum Schrecken der übrigen Passagiere seine zerbeulte Metallspitze aus den ungehörigsten Spalten und Löchern hervor. In ihrer Angst, einen sichern Hafen für dieses unentbehrliche Möbelstück zu finden, hatte ihn Mrs. Gamp im Laufe von fünf Minuten so oft anders gelegt, daß man schließlich meinte, es mit mindestens fünfzig Stück zu tun zu haben. Endlich war er spurlos verschwunden, und nun folgte Mrs. Gamp fünf Minuten lang dem Kutscher auf Schritt und Tritt, sich hoch und teuer in fürchterlichen Schwüren ergehend, daß man ihr den Schaden ersetzen müsse, und wenn sie die Klage bis vor das Unterhaus bringen sollte. Endlich waren ihr Bündel, ihr Korb, ihre Überschuhe und alles andere glücklich verstaut. Freundlich nahm sie von Poll und Mr. Bailey Abschied, machte einen Knicks vor John Westlock und trennte sich von Mrs. Betsey Prig wie von einer teuern Schwester.

»I wünsch Ihna a Masse Krankheiten, liebe Freundin«, bemerkte sie, »und gute Plätz. Hoffentlich wird’s nimmer lang dauern, bis mir wieder amal gemeinschaftlich mitanander arbeiten, Betsey, und wann mir Glück ham, treffen mir uns in aner großen Familie, wo alls wia am Schnürl hergeht und a geschäftsmäßigs Aussehen hat.«

»I mach mir net viel draus, ob’s scho bald is oder ob’s noch a paar Wochen dauert«, sagte Mrs. Prig.

Mit einer ähnlich geistvollen Erwiderung näherte sich Mrs. Gamp sodann der Kutsche, stieß aber dabei mit einer Dame und einem Herrn zusammen, die gerade über den Fußsteig gingen.

»Achtung da! Vorgesehen!« rief der Gentleman. »Heda! Sie da! Aber herrje, das ist ja die Mrs. Gamp!«

»Jessas, der Herr Mould!« rief die Wärterin. »Und die Mrs. Mould! Na, wer hätt jetzt dös denkt, daß mir hier z’sammtreffen!«

»Sie wollen die Stadt verlassen, Mrs. Gamp?« rief Mr. Mould. »Das ist ja etwas höchst Ungewöhnliches!«

»Freilich is was Ungewöhnliches«, versetzte Mrs. Gamp, »aber nur auf ein paar Tag. Der Herr da«, flüsterte sie, »von dem i neulich gesprochen hab.«

»Wie? Der im Wagen?« fragte Mr. Mould. »Derselbe, den Sie uns zu rekommandieren gedachten? Sehr sonderbar! Meine Liebe, das wird dich interessieren. Der Gentleman, von dem Mrs. Gamp sagte, er werde uns wahrscheinlich einen zusagenden Bescheid geben, befindet sich hier im Wagen, meine Liebe.«

Mrs. Mould interessierte sich sehr dafür.

»Komm hierher, mein Schatz, da kannst du auf die Türschwelle treten und ihn ansehen. Dort, das ist er! Wo ist mein Augenglas? Ja, ja, ganz recht, das ist er. Siehst du ihn, meine Liebe?«

»Sehr gut!« entgegnete Mrs. Mould.

»Meiner Seel, das ist ein höchst auffallender Umstand«, wiederholte Mould höchlichst entzückt. »Das ist etwas, meine Liebe, das ich um keinen Preis hätte versäumen mögen. Interessant! Es kommt mir fast vor wie ein kleines Schauspiel. Ja, da sitzt er; – wahrhaftig! Er sieht sehr elend aus, liebe Frau – meinst du nicht?«

Mrs. Mould war ganz dieser Ansicht.

»Vielleicht kommt es doch noch zu einem Geschäft«, sagte Mould, »wer weiß! Ich glaube wahrhaftig, ich sollte ihm irgendeine kleine Aufmerksamkeit erweisen. Er kommt mir gar nicht wie ein Fremder vor. Ich möchte fast den Hut vor ihm lüften, meine Liebe!«

»Er sieht soeben zu uns herüber«, berichtete Mrs. Mould.

»Dann will ich’s riskieren«, rief Mould. »Wie steht das werte Befinden, mein Herr? Guten Tag, mein Herr! – Aha, er verbeugt sich – sehr feiner Herr das – Mrs. Gamp hat die Geschäftskarte in ihrer Tasche – wirklich sehr seltsames Zusammentreffen, meine Liebe – wirklich sehr angenehm. Ich bin nicht abergläubisch, aber es hat wahrhaftig den Anschein, als ob wir bestimmt seien, ihm die gewissen kleinen melancholischen Dienste zu erweisen, die zu unserm Geschäftszweige gehören. Ich sehe nicht ein, was dich übrigens hindern könnte, ihm eine Kußhand zuzuwerfen, meine Liebste!«

Mrs. Mould tat es.

»Ha, ha«, rief Mould, »er hat sich sichtlich darüber gefreut. Der arme Bursche, ich freue mich wirklich, daß du’s getan hast. – Adieu, adieu, Mrs. Gamp«, rief er der Wärterin, mit der Hand winkend, zu. »Da fährt er!«

Und so war es. Die Kutsche rollte bei diesen Worten davon. Mr. und Mrs. Mould nahmen in rosigster Laune ihren Weg wieder auf. Mr. Bailey zerrte an Poll Sweedlepipes Ärmel, allein es dauerte eine geraume Weile, ehe er seinen Freund vom Fleck zu bringen vermochte, solchen Eindruck hatte Mrs. Prigs auf den Barbier gemacht. Ihren Backenbart anstaunend, erklärte er sie für ein außerordentlich reizvolles Weib.

Als das bißchen Lärm vorüber war, das sich um den Wagen gesammelt hatte, sah man Nadgett mit gespannter Miene in der dunkelsten Ecke des Kaffeezimmers des »Ochsen« sitzen; wahrscheinlich hatte sich sein Freund, der bekanntlich niemals kam, schon wieder verspätet.

3. Kapitel


3. Kapitel

Es treten noch andere Personen auf

Mehr als einmal wurde bereits des »Drachen« gedacht, der gar so kläglich vor der Türe des Dorfwirtshauses hin und her pendelte und knarrte. Es war ein verblichener alter Drache, und so mancher Wintersturm voll Schnee, Regen, Graupeln und Hagel hatte seine hellblaue Farbe in ein mattes glanzloses Grau umgewandelt. Da hing er, in einem Zustande ungeheurer Schwäche sich auf den Hinterbeinen aufrichtend und mit jedem Monate undeutlicher und formloser werdend, so daß man glauben mußte, wenn man ihn auf der einen Seite des Aushängeschildes ansah, er müsse allmählich durchschmelzen und auf der Rückseite zum Vorschein kommen.

Trotz alledem war er ein höflicher und rücksichtsvoller Drache und war es auch in den Tagen seiner größeren Deutlichkeit gewesen, denn, seiner Hinfälligkeit nicht achtend, hielt er auch jetzt noch eine seiner Vordertatzen an die Nase, als wollte er sagen: »Fürchte dich nicht vor mir – ich mache doch nur Spaß«, während er die andere zu herzlichem Willkommen dem Wanderer entgegenstreckte.

Es läßt sich nicht leugnen, daß das ganze Drachengezücht unserer Tage bedeutende Fortschritte in Bildung und Zivilisation gemacht hat. Es verlangt nicht länger mehr alle Morgen mit derselben Regelmäßigkeit, wie etwa ein zahmer lediger Herr seinen frischen Milchwecken erwartet, eine schöne Jungfrau zum Frühstück, sondern gibt sich mit dem Zuspruch müßiger Junggesellen und Strohwitwer zufrieden. Im Gegenteil zeichnen sich die Drachen unserer Tage eher dadurch aus, daß sie – namentlich an Samstagabenden – das schöne Geschlecht von einem Besuche fernzuhalten trachten, statt, wie in alten Zeiten, roh auf Damengesellschaft zu bestehen.

Schon viele Jahre hatte der erwähnte liebenswürdige Drache vor den Fenstern des besten Schlafzimmers in dem Gasthause, das seinen Namen trug, hin und her gependelt, geknarrt und geklappert, aber bei allem seinem Pendeln und Knarren wohl noch nie eine solche Aufregung im Hause gesehen wie an dem Abend nach dem Tage, an dem sich die im letzten Kapitel erzählten Begebnisse zugetragen. Da eilten so viele hurtige Füße treppauf, treppab, so viele Lichter flimmerten, so viele Stimmen flüsterten, ein solches Rauchen und Spritzen von feuchtem Holz im Kamin gab’s, so viel Bettzeug wurde gelüftet und so viel heißer Dampf entströmte den geheizten Wärmflaschen, kurz, solche bienenhafte Emsigkeit herrschte im Haus, daß wohl noch nie ein Drache, ein Greif, ein Einhorn oder ein anderes derartiges Geschöpf ähnliches mit angesehen, seit diese Tiergattungen sich zum ersten Male für Haushaltungsangelegenheiten zu interessieren begannen.

Ein alter Herr und eine junge Dame, die ohne Gefolge in einem rostigen alten Wagen mit Postpferden weiß Gott wohin reisten und weiß Gott woher kamen, waren von der Landstraße abgebogen und ganz unerwartet vor dem Blauen Drachen vorgefahren. Und da war nun der alte Herr, der sich zu diesem Schritt, veranlaßt durch einen plötzlichen Krankheitsanfall, entschlossen hatte, und litt an den schrecklichsten Krämpfen. Dabei schwur er mitten in seinen Schmerzen, unter keinen Umständen einen Doktor haben oder andere Arzneimittel nehmen zu wollen als die, die ihm die junge Dame aus einer kleinen Reiseapotheke reichte. Mit einem Wort, er wollte nichts als die Wirtin aus ihren fünf Sinnen hinausschrecken und hartnäckig alles zurückweisen, was man ihm anriet.

Von all den fünfhundert wohlgemeinten Vorschlägen, die die gute Frau ihm in weniger als einer halben Stunde machte, befolgte er nur einen einzigen – nämlich den, zu Bett zu gehen. Und das Herrichten der Betten sowie auch die Vorbereitungen der Zimmer waren eben der Anlaß des wilden Getümmels in den Räumen des Blauen Drachen.

Der fremde Herr war ohne Frage sehr krank und litt erstaunlich – vielleicht um so mehr, als er anscheinend ein starker und kräftiger alter Mann mit einem eisernen Willen und einer ehernen Stimme war. Aber weder die Besorgnis um sein Leben, die er von Zeit zu Zeit laut werden ließ, noch die Schmerzen, unter denen er litt, vermochten auf seinen einmal geäußerten Entschluß auch nur den mindesten umstimmenden Einfluß zu üben, und man durfte unter keinen Umständen nach einem Arzt schicken. Je schlimmer es ihm ging, desto starrer und unbeugsamer wurde auch seine Entschlossenheit. Wenn man jemanden zur Pflege holen würde, sei es Mann, Weib oder Kind, so wollte er, wie er sagte, auf der Stelle das Haus verlassen, und sollte es zu Fuß geschehen und er auf der Türschwelle sterben müssen.

Da es im Dorfe zwar keinen eigentlichen Arzt, wohl aber einen armen Apotheker gab, der zugleich einen Gewürz- und Kramladen hielt, schickte die Wirtin in der ersten Aufregung, und um die eigne Verantwortung los zu sein, zu diesem. Eine natürliche Folge des Umstandes, daß man ihn einmal wirklich brauchte, war der, daß er sich nicht zu Hause befand. Er war einige Meilen über Land gegangen und wurde erst spät zurückerwartet. Die Wirtin, die sich inzwischen ein wenig gesammelt, sandte daher denselben Boten in aller Eile zu Mr. Pecksniff, als einem gelehrten Mann, der einen Teil der Verantwortlichkeit auf sich nehmen konnte, und einem moralischen Mann, der wohl imstande war, ein beunruhigtes Gemüt zu trösten. Daß der Gast namentlich in letzterer Hinsicht wirksame Dienste benötigte, erhellte zur Genüge aus seinen unruhigen Reden, die mehr noch eine geistige als eine physische Angst verrieten.

Auch hier kam der Bote mit keiner bessern Kunde zurück. Auch Mr. Pecksniff war nicht zu Hause. Man brachte indessen auch ohne ihn den Patienten zu Bett, und im Lauf zweier Stunden erholte sich dieser allmählich so weit, daß in den Krämpfen längere Pausen eintraten, als es anfangs der Fall gewesen. Nach und nach hörten sie sogar ganz und gar auf, obgleich die darauffolgende Erschöpfung so groß war, daß sie kaum weniger Besorgnis erregte als der vorausgegangene Anfall selbst.

In einer der Ruhepausen seiner Anfälle geschah es, daß der Fremde, vorsichtig umherschauend, sich unruhig in seinen Kissen aufrichtete und, während gerade die junge Dame und die Wirtin des Blauen Drachen nebeneinander vor dem Kamine saßen, mit einer sonderbaren Miene von Geheimniskrämerei und Mißtrauen von den Schreibmaterialien Gebrauch zu machen suchte, die er neben sich auf den Tisch hatte legen lassen.

Die Wirtin des Blauen Drachen war ihrem Äußern nach ganz die Gastwirtin, wie sie sein soll – wohlbeleibt, gut gebaut, behäbig und mit einem hübschen Gesicht wie Milch und Blut, das an sich schon Zeugnis ablegte, wie gut und kräftig alle die feinen Sachen in Küche und Keller sein müßten. Sie war Witwe, hatte aber seit Jahren schon die Trauergewänder abgelegt und sich wieder mit Blumen herausgeputzt, und so blühend, wie sie von jeher gewesen. Rosen prunkten auf dem weiten Saum ihres Kleides, Rosen auf ihrem Leibchen, Rosen in ihrer Haube, Rosen auf ihren Wangen – ja, und auch Rosen, besonders des Pflückens wert, auf ihren Lippen. Noch immer hatte sie funkelnde dunkle Augen und rabenschwarzes Haar, war hübsch, mit Grübchen in den Wangen, wohlgenährt und drall wie eine Stachelbeere, trotzdem man sie im gewöhnlichen Sinne des Wortes nicht mehr gerade jung nennen konnte.

Während nun diese hübsche Matrone beim Kamin saß, blickte sie hin und wieder mit dem ganzen Stolze der wohlhabenden Wirtin im Zimmer umher. Es war ein großes Gemach, wie man es in Landgasthäusern öfters trifft, mit einer niedrigen Decke und einem etwas eingesunkenen Fußboden, der nach der Tür zu ein wenig bergab ging und dort zu zwei so ausgesucht unerwarteten Treppenstufen führte, daß ein Fremder, trotz der größten Vorsicht, gewöhnlich mit dem Kopf voran hereinstürzte, wie jemand, der in ein Bad springt. Es war keines von jenen frivolen, einfältig hellen Schlafzimmern, wo niemand mit nur einigermaßen Verständnis oder Empfänglichkeit für Ideen-Assoziation ein Auge schließen kann, sondern ein braver, einlullender, bleischwerer, träumerischer Raum, wo jedes Möbel daran erinnerte, daß man hier sei, um zu schlafen. Hier gab es keinen lebhaften Widerschein von Kaminfeuer wie in den gewissen modernen Zimmern, wo man sich selbst in den dunkelsten Nächten der französischen Politur bewußt bleibt, und nur hin und wieder blinzelte der alte spanische Mahagoni nach der Glut hin wie ein schlummernder Hund oder eine träumende Katze. Sogar der Umfang, die Form und die hoffnungslose Unverrückbarkeit der Bettstatt, des Kleiderschrankes und in geringerem Grade sogar der Stühle und Tische forderten zum Schlaf auf. Auch sie waren augenscheinlich apoplektisch und zum Schnarchen geneigt. Da gab es keine glotzenden Porträts, die einem seine Trägheit vorwarfen, keine wach- und rundäugigen Vögel auf den Vorhängen, die unausstehlich umherspionierten. Die dicken neutralen Vorhänge, die dunkeln Jalousien und die schweren Decken waren samt und sonders darauf berechnet, einen im Schlaf zu erhalten und als Nichtleiter für Tag und Aufstehenwollen zu dienen. Selbst der alte ausgestopfte Fuchs auf dem Kleiderschranke hatte keinen Funken von Wachsamkeit in sich, denn sein Glasauge war ausgefallen, und er schlummerte im Stehen.

Die aufmerksamen Blicke der Wirtin zum Blauen Drachen wanderten wohl zwei- oder dreimal über diese Gegenstände hin, aber stets nur für einen Augenblick; dann streiften sie eine Sekunde lang das Bett mit seiner seltsamen Last und wandten sich immer wieder dem jungen Wesen unmittelbar vor ihr zu, das, die Augen auf das Feuer geheftet, in stummem Nachdenken dasaß.

Die Fremde war sehr jung, augenscheinlich nicht über siebzehn, und sehr scheu und schüchtern in ihrem Benehmen; dabei zeigte sie aber doch eine weit größere Fassung und Selbstbeherrschung, als man sonst bei Frauen selbst von vorgerückterem Alter zu finden gewöhnt ist. Die Pflege des kranken Herrn gab ihr hinlänglich Anlaß, diese Eigenschaften zu entfalten. Sie war klein von Statur und zart gebaut, ganz ihrem Alter angemessen, dabei aber mit allen Reizen der Jugend und Jungfräulichkeit geschmückt, die sich namentlich um ihre feine Stirn herum ausdrückten. Ihr Gesicht sah sehr blaß aus – ohne Zweifel zum Teil eine Folge der kürzlich überstandenen Aufregung. Ihr aus demselben Grunde etwas verwirrtes, dunkelbraunes Haar war nachlässig aus seinen Schleifen gefallen und hing über den Nacken herunter, aber sicherlich hätte es kein männlicher Beobachter wegen dieses Eigensinns getadelt.

Ihre Kleidung verriet eine Dame von Stand, war aber äußerst einfach, und in ihrem Benehmen, wie sie so dasaß, lag ein gewisses unbeschreibliches Etwas, das mit ihrer ausgesucht anspruchslosen Toilette im Einklang zu stehen schien. Anfangs hatte sie ängstlich nach dem Bett hingesehen, dann aber, als sie bemerkte, daß der Patient ruhiger wurde und sich mit Schreiben beschäftigte, ihren Stuhl leise an den Kamin gerückt, zum Teil, wie es schien, weil ihr Feingefühl ihr sagte, daß er nicht beobachtet zu werden wünsche, teils, um von ihm unbemerkt sich ihren Empfindungen, die sie bisher unterdrückt hatte, freier überlassen zu können.

All dies und noch weit mehr beobachtete die rosige Wirtin zum Blauen Drachen so genau und scharf, wie es eben nur eine Frau der andern gegenüber imstande ist. Endlich begann sie mit so leiser Stimme, daß ihre Worte, wie sie wußte, unmöglich das Bett erreichen konnten:

»Haben Sie den Herrn schon früher so gesehen, Miss? Hat er öfters solche Anfälle?«

»Ich habe ihn schon sehr krank gesehen, aber noch nie so wie diesen Abend.«

»Welches Glück«, bemerkte die Wirtin zum Blauen Drachen, »daß Sie die Arzneien bei sich hatten, Miss.«

»Wir sind für solche Fälle immer damit versehen und reisen nie ohne unsre Apotheke.«

»Oh!« dachte die Wirtin. »Dann pflegen wir also viel und gemeinschaftlich zu reisen.« Sie fühlte, daß sich etwas von diesen Gedanken in ihrem Gesicht verraten mußte, und da sie eine sehr ehrliche Wirtin war, geriet sie ein wenig in Verwirrung, als unmittelbar darauf die Augen der jungen Dame den ihrigen begegneten.

»Da der Herr – Ihr Herr Großvater«, fing sie nach einer kurzen Pause wieder an, »so gar nichts von ärztlichem Beistand wissen will, müssen derartige Anfälle doch etwas Schreckliches für Sie sein, Miss?«

»Ich bin allerdings diesen Abend sehr erschrocken. Doch – der Herr ist nicht mein Großvater.«

»Ich habe eigentlich Vater sagen wollen«, verbesserte sich die Wirtin in ihrer Besorgnis, einen Verstoß begangen zu haben.

»Er ist auch nicht mein Vater«, erwiderte die junge Dame. »Nein«, fuhr sie mit einem leichten Lächeln fort, als sie bemerkte, was die Wirtin beifügen wollte, »auch nicht mein Onkel. Wir sind nicht verwandt.«

»Ach, du mein Himmel!« entgegnete die Wirtin noch verlegener als zuvor; »wie konnte ich auch so gar im Irrtum sein, während ich doch, wie jeder vernünftige Mensch, hätte wissen sollen, daß ein Gentleman, wenn er krank ist, viel älter aussieht als er wirklich ist! Daß ich Sie noch obendrein ›Miss‹ nennen mußte, Madam!«

Als sie jedoch so weit gekommen war, blickte sie unwillkürlich nach dem Goldfinger an der linken Hand der jungen Dame und stockte wieder, denn sie bemerkte keinen Ring daran.

»Als ich Ihnen sagte, daß wir nicht verwandt seien«, versetzte die junge Fremde freundlich, aber ebenfalls nicht ohne Verwirrung, »so verstand ich darunter: in keiner Beziehung verwandt. Auch nicht durch Heirat. – Hast du mich gerufen, Martin?«

»Gerufen?« wiederholte der alte Mann, sah hastig auf und versteckte das Papier, auf das er soeben geschrieben, unter der Decke. »Nein.«

Die junge Dame hatte ein paar Schritte zum Bette gemacht, hielt aber jetzt inne und ging nicht weiter.

»Nein«, wiederholte der Herr mit ärgerlichem Nachdruck. »Warum fragst du mich? Wenn ich gerufen hätte, wozu dann die Frage?« »Ich denke, das Schild draußen hat geknarrt, Sir«, bemerkte die Wirtin – eine Erklärung, die, wie sie unmittelbar darauf fühlte, nicht allzu schmeichelhaft für die Stimme des alten Herrn war.

»Gleichviel, was es gewesen sein mag, Madam«, versetzte der Kranke; »ich war es nicht. Aber, was bleibst du da stehen, Mary, als ob ich die Pest hätte. Aber, natürlich, alles fürchtet sich vor mir«, fügte er hinzu und ließ sich kraftlos wieder in die Kissen zurückfallen, »sogar du! Es liegt ein Fluch auf mir. Ich habe ja nichts anderes zu erwarten!«

»O Gott, nein. Oh, gewiß nicht«, rief die gutmütige Wirtin, stand auf und ging zu ihm. »Fassen Sie nur wieder Mut, Sir. Es sind nur krankhafte Grillen.«

»Was sind nur krankhafte Grillen?« fuhr der alte Mann auf. »Was wissen Sie von Grillen? Wer hat Ihnen etwas von Grillen gesagt? Die alte Geschichte! – Grillen!«

»Da sehe einer, wie er’s gleich aufnimmt!« versetzte die Wirtin zum ›Blauen Drachen‹ mit unverminderter guter Laune. »Du mein Himmel, ein Wort macht ja nichts, Sir, wenn es auch dumm klingt. Sogar ganz gesunde Leute haben jeden Tag ihre Grillen, und oft recht sonderbare.«

So harmlos augenscheinlich auch diese Worte waren, so wirkten sie doch auf das Mißtrauen des Fremden wie Öl auf das Feuer. Er richtete den Kopf im Bett auf und blickte die Wirtin mit seinen schwarzen Augen forschend an, deren Glanz durch die Blässe seiner hohlen Wangen und seine spärlichen langen grauen Locken unter dem schwarzen, knapp am Kopf anliegenden Käppchen nur noch erhöht wurde.

»Nun, die fängt ja bald an«, sagte er in so leisem Tone, daß es mehr ein Selbstgespräch als eine Anrede zu sein schien. »Aber sie will natürlich keine Zeit verlieren. Sie richtet ihren Auftrag aus und brennt schon auf ihre Belohnung. Wer mag sich wohl hinter sie gesteckt haben?«

Die Wirtin schaute erstaunt die junge Dame, die er »Mary« genannt hatte, an, und da sie in deren gesenkten Augen keine Erklärung lesen konnte, blickte sie wieder nach ihm zurück. Anfangs war sie unwillkürlich zurückgewichen, da sie ihn für einen Geisteskranken hielt; aber die Gelassenheit seines Wesens und die Entschiedenheit, die sich in seinem scharfgeschnittenen Gesicht, namentlich aber um seine zusammengepreßten Lippen herum aussprach, beruhigten sie wieder.

»Nun?« sagte er. »Heraus damit! Wer ist’s? Da ich hier bin, ist’s ja nicht schwer zu erraten.«

»Martin«, fiel ihm die junge Dame ins Wort und legte ihre Hand auf seinen Arm; »bedenke doch, wie kurze Zeit wir erst in diesem Hause sind, und daß dich hier niemand kennt.«

»Außer –«, entgegnete er, »daß du –«

Er fühlte sich offenbar versucht, den Verdacht auszusprechen, als sei sie der Wirtin gegenüber indiskret gewesen, hielt aber wieder inne, sei es, daß er ihrer zärtlichen Pflege gedachte, oder weil ihn der Ausdruck ihres Gesichtes rührte, und änderte seine Lage und schwieg.

»So!« sagte Mrs. Lupin, die Wirtin des ›Blauen Drachen‹. »Jetzt wird Ihnen bald besser sein, Sir. Sie haben für einen Augenblick vergessen, daß Sie hier nur Freunde um sich haben.«

»Ach Gott!« stöhnte der alte Mann ungeduldig und schlug mit seinem ruhelosen Arm heftig auf die Bettdecke. »Was reden Sie da von Freunden! Könnten Sie – oder kann sonst jemand mich lehren, wie ich meine Freunde von meinen Feinden zu unterscheiden habe?«

»Wenigstens«, meinte Mrs. Lupin sanft, »bin ich überzeugt, daß diese junge Dame Ihnen freundlich gesinnt ist.«

»Sie hat eben keinen Grund zum Gegenteil«, rief der alte Mann in dem Tone eines Menschen, der weder Hoffnung noch Vertrauen mehr zur Welt hat. »Von ihr glaube ich’s noch. Der Himmel weiß es. Aber jetzt will ich versuchen, ob ich nicht einschlafen kann. Laßt nur die Kerzen stehen.«

Kaum waren die beiden Frauen vom Bett zurückgetreten, zog er sein Schriftstück wieder hervor, hielt es an die Flamme der Kerze und verbrannte es zu Asche. Dann löschte er das Licht aus, wandte mit einem schweren Seufzer das Gesicht auf die Seite, zog die Bettdecke über den Kopf und blieb ruhig liegen.

Diese Vernichtung des Papiers, die so seltsam gegen die Mühe, die er darauf verwendet, abstach und den ›Drachen‹ in große Gefahr brachte, ein Raub der Flammen zu werden, versetzte Mrs. Lupin in nicht geringe Bestürzung. Die junge Dame jedoch, die weder Überraschung noch Neugierde oder Unruhe deswegen zeigte, flüsterte ihr unter vielem Dank für ihre Mühewaltung und die geleistete Gesellschaft zu, sie wolle noch ein wenig dableiben, könne aber recht gut allein wachen, da sie an dergleichen gewöhnt sei und sich außerdem die Zeit mit Lesen vertreiben wolle.

Mrs. Lupin erfreute sich ihres vollen Anteils samt Zinsen an dem in ihrem Geschlecht erblichen Kapital – der Neugierde –, und zu jeder andern Zeit würde es schwer gewesen sein, ihr so schnell begreiflich zu machen, sie möge gehen. Aber jetzt entfernte sie sich unverzüglich in hellem Staunen über diese Geheimnisse und begab sich geradenwegs in ihre eigene kleine Wohnstube im unteren Stock, wo sie sich mit übernatürlicher Fassung in ihren Lehnstuhl setzte. In diesem kritischen Augenblick hörte sie Tritte auf dem Flur, und gleich darauf schaute Mr. Pecksniff mit süßlicher Miene über den Kredenzverschlag hinweg in das trauliche Stübchen hinein und begrüßte sie mit einem »guten Abend, Mrs. Lupin«.

»Ach, du mein Gott, Sie sind’s!« rief sie. »Wie froh bin ich, daß Sie gekommen sind.«

»Und ich freue mich stets«, entgegnete Mr. Pecksniff, »wenn ich Ihnen irgendeinen Dienst leisten kann. Es freut mich in der Tat recht, recht sehr, gekommen zu sein. Was gibt es, Mrs. Lupin?«

»Ein Herr ist unterwegs krank geworden und hat droben so gar schlimme Zustände gehabt, Sir« erklärte die Wirtin unter Tränen.

»Ein Herr also ist unterwegs krank geworden und hat droben so gar schlimme Zustände gehabt?« wiederholte Mr. Pecksniff. »Nun, nun!« In dieser Bemerkung lag wohl nichts, was entschieden originell zu nennen gewesen wäre; auch läßt sich nicht gerade sagen, daß sie irgendeine der Menschheit bisher noch unbekannte Lehre enthalten oder allenfalls eine verborgene Quelle des Trostes geöffnet hätte, aber Mr. Pecksniffs Benehmen war so mild, und er nickte so beruhigend mit dem Kopfe, auch zeigte er in allem eine so beredte Überzeugung von seiner eigenen Vortrefflichkeit, daß nicht nur Mrs. Lupin, sondern jedermann schon durch die bloße Stimme und Anwesenheit eines so trefflichen Mannes beruhigt worden wäre. Ja, hätte er auch nur gesagt: ein Zeitwort muß mit seinem Subjekt in Zahl und Person übereinstimmen, mein guter Freund; oder: acht mal acht ist vierundsechzig, mein Würdigster – so hätte man sich ihm tief verpflichtet fühlen müssen für seine Menschenfreundlichkeit und allumfassende Weisheit.

»Und wie«, fragte Mr. Pecksniff, zog seine Handschuhe aus und wärmte seine Hände so wohlwollend über dem Feuer, als gehörten sie gar nicht ihm, sondern jemand anderem: »Und wie geht es ihm jetzt?«

»Er befindet sich besser und ist ganz ruhig.«

»Er befindet sich besser und ist ganz ruhig«, wiederholte Mr. Pecksniff. »Sehr gut! Se-ehr gut!«

Diese Worte rührten nun gleichfalls von Mrs. Lupin und nicht von Mr. Pecksniff her; dessenungeachtet aber machte sie Mr. Pecksniff wieder zu den seinigen und tröstete die Witwe damit. In Mrs. Lupins Munde fehlte ihnen die tiefere Bedeutung; aber sie bildeten ein ganzes Buch, wie sie so von Mr. Pecksniffs Lippen strömten. Er schien zu sagen: »Ich bemerke, und zwar kraft meines inneren Anschauungsvermögens, das sich in allen seinen Äußerungen die strengste Moral zum Grundsatz macht, daß er sich besser befindet und ganz ruhig ist.«

»Immerhin müssen ihm gewichtige Dinge auf dem Herzen liegen«, fuhr die Wirtin kopfschüttelnd fort, »denn er redet das sonderbarste Zeug, das man nur hören kann. Innerlich ist er höchst unruhig und bedarf offenbar des Rates und Zuspruchs von Leuten, denen ihre Herzensgüte ein solches Geschäft zum Beruf macht.«

»Dann«, versetzte Mr. Pecksniff, »ist er der richtige Mann für mich.«

Aber obgleich er das auf das allerdeutlichste aussprach, so vernahm man doch kein Wort von seinen Lippen: er schüttelte im Gegenteil bloß seinen Kopf, als setze er durchaus kein Vertrauen in seine eigene Befähigung.

»Ich fürchte, Sir«, fuhr die Wirtin fort, nachdem sie sich zuerst umgesehen, ob auch niemand in Hörweite sei, »ich fürchte gar sehr, daß ihn sein Gewissen drückt, weil er nicht verwandt – oder – nicht einmal verheiratet ist mit – einer gewissen jungen Dame –«

»Mrs. Lupin!« rief Mr. Pecksniff und hob dabei seine Hand in einer Weise auf, die fast an Strenge grenzte, wenn man sich bei einem so milden Herrn eines derartigen Ausdrucks überhaupt bedienen kann. »Person! einer jungen Person!«

»Mit einer sehr jungen Person«, verbesserte sich Mrs. Lupin und knickste errötend, »ich bitte um Verzeihung, Sir, aber ich bin diesen Abend so verwirrt, daß ich nicht mehr weiß, was ich sage – die jetzt bei ihm – ist.«

»Die jetzt bei ihm ist«, wiederkäute Mr. Pecksniff, wie zuvor seine Hände, so jetzt seinen Rücken fürsorglich wärmend, als wäre es der Rücken einer Witwe, einer Waise, eines Feindes, oder was immer für eines Menschen, den ein weniger trefflicher Mann natürlich ohne Erbarmen der Kälte preisgegeben haben würde. »O du mein Himmel, o du mein Himmel!«

»Gleichwohl muß ich sagen, und zwar von ganzem Herzen«, bemerkte die ehrliche Wirtin angelegentlich, »daß ihr Aussehen und ihr Benehmen jeden Verdacht beinah entwaffnet.«

»Ihr Verdacht, Mrs. Lupin«, entgegnete Mr. Pecksniff feierlich, »ist sehr natürlich. Ihr Argwohn, Mrs. Lupin«, wiederholte er, »ist sehr natürlich und, wie ich nicht zweifle, auch begründet. Ich will diesem Reisenden einen Besuch machen.«

Damit nahm er seinen Überrock ab, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, steckte die eine Hand zierlich in den Brustschlitz seiner Weste und bedeutete der Wirtin in aller Demut, sie möge vorangehen.

»Soll ich anklopfen?« fragte Mrs. Lupin, als sie die Türe des Krankenzimmers erreicht hatten.

»Nein«, riet Mr. Pecksniff; »gehen Sie nur direkt hinein.«

So traten sie denn auf den Zehen ein – oder vielmehr, die Wirtin allein beobachtete diese Vorsicht, denn Mr. Pecksniff trat sowieso immer sehr leise auf. Der alte Herr schlief noch, und seine junge Begleiterin saß lesend beim Feuer.

»Ich fürchte«, flüsterte Mr. Pecksniff, an der Türe halt machend und den Kopf melancholisch wiegend, »ich fürchte, die Situation hat etwas Berechnetes. Verstehen Sie mich wohl, Mrs. Lupin: ich fürchte, die Situation hat etwas Berechnetes!«

Sodann ging er der Wirtin voran. Zu gleicher Zeit hatte sich die junge Dame, die die Schritte gehört, erhoben. Mr. Pecksniff warf einen schnellen Blick auf das Buch, das sie in der Hand hielt, und flüsterte Mrs. Lupin abermals, und zwar womöglich mit noch größerer Gewissenspein, zu:

»Ja, Madam, es ist ein gutes Buch. Ich fürchtete das schon vorhin. Wahrhaftig, die Komödie scheint tief angelegt zu sein!«

»Wer ist dieser Herr?« fragte der Gegenstand der geäußerten tugendhaften Zweifel.

»Pst! Bemühen Sie sich nicht, Madam!« fiel Mr. Pecksniff der Wirtin ins Wort, als sie eben antworten wollte. »Diese junge« – unwillkürlich stockte er, als ihm das Wort ›Person‹ auf die Lippen trat, faßte sich aber und sagte: »Fremde – diese junge Fremde, Mrs. Lupin, wird mich entschuldigen, wenn ich ihr kurz erwidere, daß ich hier im Dorfe wohne und einigen, wenn auch unverdienten Einfluß besitze; ferner, daß Sie mich rufen ließen. Ich bin jetzt hier, wie immer geleitet von meiner Teilnahme für die Kranken und Bekümmerten.«

Mit diesen eindrucksvollen Worten ging Mr. Pecksniff auf das Lager zu, klopfte ein paarmal höchst feierlich auf die Bettdecke, als wolle er sich dadurch eine klare Einsicht in die Krankheit des Patienten verschaffen, nahm dann in einem großen Armstuhl Platz und wartete in gemächlicher, gedankenvoller Haltung auf dessen Erwachen.

Was auch die junge Dame Mrs. Lupin gegenüber für Einwendungen erhob, sie blieben fruchtlos, denn Mr. Pecksniff schien nichts hören zu wollen.

Eine volle halbe Stunde verging, ehe sich der alte Mann rührte; aber schließlich änderte er seine Lage, und wenn er auch noch nicht wach war, so verrieten doch gewisse Anzeichen, daß es mit seinem Schlaf nicht mehr lange währen könnte. Allmählich schob er die Decke von seinem Kopf weg und wandte sich immer mehr der Seite zu, wo Mr. Pecksniff saß. Schließlich schlug er die Augen auf, lag, wie es öfter der Fall ist, wenn man gerade aufwacht, eine kleine Weile teilnahmslos und ohne deutliches Bewußtsein der Gegenwart da und starrte seinen Besuch geistesabwesend an.

Es lag nichts Merkwürdiges in diesem Verhalten, die Wirkung ausgenommen, die es auf Mr. Pecksniff übte und die kaum durch das Wunderbarste aller Naturereignisse hätte übertroffen werden können. Mr. Pecksniffs Hände umklammerten nämlich allmählich immer fester die Armlehnen des Stuhles, seine weit aufgerissenen Augen verrieten die größte Überraschung, sein Mund öffnete sich, und sein Haar sträubte sich noch borstiger auf, als es sowieso schon war. Als sich der alte Mann in seinem Bette aufrichtete und auch seinerseits beim Anblick seines Gastes das höchste Erstaunen an den Tag legte, sah Mr. Pecksniff seinen letzten Zweifel schwinden und rief laut aus:

»Sie sind Martin Chuzzlewit!«

Seine Überraschung über diese Entdeckung war so echt und ungekünstelt, daß sogar der alte Mann bei seinem ausgeprägten Mißtrauen sofort sah, daß das Zusammentreffen zufällig und durchaus nicht vorbereitet war.

»Ja, ich bin Martin Chuzzlewit«, sagte er bitter; »und Martin Chuzzlewit wünscht, man hätte Sie gehenkt, bevor Sie hierher gekommen sind, um ihn in seinem Schlaf zu stören. Wahrhaftig, ich habe von diesem Kerl geträumt«, murmelte er, legte sich wieder nieder und wandte das Gesicht ab, »und jetzt sitzt er wirklich da.«

»Mein guter Vetter –« begann Mr. Pecksniff.

»Da haben wir’s! Das sind seine ersten Worte!« rief der alte Mann, wälzte seinen grauen Kopf in den Kissen unruhig hin und her und erhob abwehrend die Hände. »Das erste, was er tut, ist, daß er sich auf seine Verwandtschaft beruft! Ich wußte es doch – alle machen es so! Nah oder weitläufig verwandt, Blut oder Wasser, alles eins. Uff, welches Register von Betrug, Lügen und falschem Zeugnis öffnet nicht jede Andeutung auf Verwandtschaft vor meiner Seele!«

»Bitte, urteilen Sie nicht vorschnell, Mr. Chuzzlewit«, versetzte Mr. Pecksniff in einem Tone, der mit einem Male im höchsten Grade mitleidig und unbefangen war, denn er hatte sich inzwischen von seinem Staunen erholt und war wieder im Vollbesitz seines tugendhaften Selbsts. »Es würde Ihnen später nur leid tun. Ich weiß es.«

»Er weiß es«, brummte Martin Chuzzlewit verächtlich.

»Ja«, erwiderte Mr. Pecksniff. »Zuverlässig, Mr. Chuzzlewit. Und glauben Sie ja nicht, ich hätte im Sinne, um Ihre Gunst zu buhlen oder Ihnen zu schmeicheln. Nichts liegt mir ferner. Auch brauchen Sie nicht im mindesten zu befürchten, Sir, ich würde das Wort wiederholen, das Ihnen so viel Ärger zu bereiten scheint. Warum sollte ich auch? Was könnte ich von Ihnen wollen oder erwarten? Meines Wissens besitzen Sie nichts, was Ihnen so viel Seligkeit bringt, Mr. Chuzzlewit, daß man Sie deswegen beneiden könnte.«

»Das ist leider nur zu wahr«, murmelte der alte Mann.

»Und abgesehen davon« – fuhr Pecksniff, dem der Eindruck seiner Worte nicht entgangen war, fort – »muß es Ihnen doch jetzt vollkommen klar sein, daß, wenn ich mich bei Ihnen hätte einschmeicheln wollen, ich mich vor allem sorgfältig gehütet haben würde, Sie als Verwandten anzureden. Wo ich Ihre Abneigung kenne, mußte ich doch schon vorher vollkommen überzeugt sein, daß dies der allerschlechteste Empfehlungsbrief für mich wäre.«

Martin gab zwar keine Antwort, aber die Art, wie er seine Beine unter der Bettdecke bewegte, verriet deutlicher als die ausdrucksvollsten Worte, daß für ihn in dem Gesagten viel Vernünftiges liege.

»Nein«, beteuerte Mr. Pecksniff, die Hand im Westenschlitz, als sei er bereit, jeden Augenblick sein Herz herauszuziehen und es Mr. Martin Chuzzlewit zur genauen Prüfung hinzuhalten, »nein, ich kam lediglich her, um meine Dienste einem kranken Fremden anzubieten. Bei Ihnen unterlasse ich das freilich, weil ich weiß, daß Sie mir doch nicht trauen würden. Wie Sie aber so auf ihrem Bette daliegen, Sir, sind Sie für mich ein Fremder, und ich empfinde ebensoviel Teilnahme für Sie, wie – wie ich zuversichtlich hoffe und glaube – ich gegenüber jedem Fremden in Ihrer Lage fühlen würde. Abgesehen davon sind Sie mir ebenso gleichgültig, wie ich es Ihnen bin.«

Nach diesen Worten warf sich Mr. Pecksniff in den Lehnstuhl zurück, so strahlend vor Edelmut, daß sich Mrs. Lupin fast wunderte, nicht einen farbigen Glasglorienschein, wie ihn die Heiligen in den Kirchen tragen, über seinem Haupte erscheinen zu sehen. Es folgte eine lange Pause, während der der alte Mann mit steigender Unruhe mehrmals seine Lage änderte. Mrs. Lupin und die junge Dame blickten stumm auf die Bettdecke. – Mr. Pecksniff spielte gedankenvoll mit seiner Lorgnette und hatte die Augen zugedrückt, um besser überlegen zu können.

»Wie?« fragte er endlich, indem er sie plötzlich wieder öffnete und nach dem Kranken hinüberblickte. »Ich bitte um Verzeihung, aber ich glaubte, Sie hätten etwas gesagt. – Mrs. Lupin«, fuhr er fort und stand langsam auf, »ich glaube nicht, daß ich Ihnen hier irgendwie von Nutzen sein kann. Der Herr befindet sich bereits wieder besser, und Sie sind eine so gute Pflegerin, wie er es sich nur wünschen kann. – Wie, bitte?« Diese letzte Frage wurde durch eine Veränderung, die der Alte in seiner Lage vornahm und wodurch er sein Gesicht wieder Mr. Pecksniff zuwandte, veranlaßt.

»Wenn Sie noch etwas mit mir zu sprechen wünschen, ehe ich gehe, Sir, so können Sie unbesorgt über meine Zeit verfügen. Nur muß ich, um gegen mich selbst gerecht zu sein, ausdrücklich zur Bedingung machen, daß Sie mich lediglich als Fremden – und nur als solchen betrachten.«

Wenn Mr. Pecksniff wirklich erraten hatte, Martin Chuzzlewit wolle mit ihm reden, so konnte dies nur eine Folge der gewissen geheimnisvollen Gedankenübertragung sein, wie sie in den Melodramen so ausgeprägt vorkommt, in denen der ältliche Pächter und sein komischer Sohn immer sofort wissen, was das stumme Mädchen sagen will, wenn es sich in seinen Garten flüchtet und ihre komplizierten Memoiren in unverständlicher Pantomime enthüllt. Ohne sich jedoch weiter auf solche metaphysischen Spekulationen einzulassen, gab Martin Chuzzlewit seiner jungen Begleiterin durch ein Zeichen kurz zu verstehen, sie möge sich entfernen, was sie auch sofort gemeinschaftlich mit der Wirtin tat.

Eine Weile sahen die beiden Vettern einander schweigend an, oder vielmehr der alte Mann sah Mr. Pecksniff an, während dieser seine Augen abermals für die Dinge der Außenwelt schloß und eine geistliche Beschau seines Innern vornahm. Daß ihm diese Mühe reichlich Lohn trug durch ein offenbar bezauberndes Panorama, ging aus dem Ausdruck seines Antlitzes klar hervor.

»Sie wünschen also, daß ich mit Ihnen wie mit einem ganz Wildfremden spreche?« begann der alte Mann.

Mr. Pecksniff antwortete durch ein Achselzucken und ein merkbares Rollen seiner Augen unter den geschlossenen Lidern, daß er sich noch immer genötigt sehe, diesen Wunsch hegen zu müssen.

»So will ich Ihnen den Gefallen tun,« fuhr Martin Chuzzlewit fort. »Ich bin ein reicher Mann, Sir. – Nicht so reich zwar, wie vielleicht mancher glaubt, aber doch bemittelt. Ich bin kein Geizhals, Sir, – obgleich mir, wie ich hörte, dieser Vorwurf schon gemacht und auch häufig geglaubt wurde. Ich habe keine Freude daran, Geld zusammenzuscharren. Ich finde auch kein Vergnügen am Besitze des Goldes. Der Teufel, den wir Mammon nennen, kann mir doch nichts als Unglück geben.«

»Mr. Pecksniff zerschmolz bei diesen Worten« wäre keine passende Bezeichnung für sein mildes Wesen gewesen. Nichts wäre leichter gewesen, als eine beliebige Quantität Butter aus ihm zu gewinnen. Man hätte bloß die Milch seiner frommen Denkungsart zu diesem Zweck aufzufangen und zu quirlen brauchen.

»Aus demselben Grunde, aus dem ich nicht habsüchtig bin«, fuhr der alte Mann fort, »bin ich auch kein Verschwender. Manche finden eine Lust darin, Geld in ihren Kasten zu sperren, andre, es auszugeben; aber ich habe an nichts eine Freude, was damit zusammenhängt. Kummer und Bitterkeit sind die einzigen Güter, die Geld mir je verschaffen konnte. Ich hasse es. Es ist ein Gespenst, das vor mir her durch die Welt zieht und mir jedes Vergnügen in Greuel verwandelt.«

In Mr. Pecksniffs Seele stieg ein Gedanke auf, der sich wohl sehr deutlich in Mienen verraten mußte, sonst würde Martin Chuzzlewit kaum so rasch und strenge fortgefahren haben:

»Sie raten mir natürlich um meines Seelenfriedens willen, die Ursache dieses Elends loszuwerden, indem ich sie auf jemand abwälze, der die Bürde besser zu tragen imstande ist. Sie selbst wären gewiß gerne bereit, mir sie abzunehmen. Aber, wohlwollender Fremdling«, sagte der alte Mann höhnisch und mit immer düsterer werdender Miene, »guter, christlicher Fremdling, das ist eben mein Hauptkummer. Ich habe gesehen, wie das Geld im Besitze andrer zu einer gefährlichen Macht wurde, ich war Zeuge, wie es in andern Händen triumphierte und sich mit Recht rühmen konnte, ein Hauptschlüssel zu sein für die ehernen Tore, die die Pfade zu Glück und Freude verschließen. Welchem Manne oder Weibe – welchem wirklich würdigen, ehrlichen und unverrückbar innerlich und äußerlich guten Wesen soll ich jetzt oder nach meinem Tode einen solchen Talisman anvertrauen? Kennen Sie eine solche Person? Ihre eigenen Tugenden sind freilich unschätzbar, aber können Sie mir irgendein anderes lebendes Geschöpf nennen, das die Feuerprobe einer Berührung mit mir aushalten würde?«

»Einer Berührung mit Ihnen, Sir?« echote Mr. Pecksniff.

»Ja. Die Feuerprobe einer Berührung mit mir – mit mir. Sie haben von jenem König gehört, dessen Unglück darin bestand, daß alles, was er anrührte, zu Gold wurde. Der Fluch meines Daseins und die Folge meines früheren verkehrten wahnsinnigen Strebens ist, daß ich jetzt durch den goldenen Probierstein, den ich bei mir trage, dazu verurteilt bin, das Metall aller andern Menschen zu prüfen und es falsch und hohl klingend zu finden.«

Mr. Pecksniff schüttelte den Kopf und seufzte:

»Das ist eben so Ihre Meinung.«

»Ja, ja«, rief der alte Mann, »das ist so meine Meinung, und während Sie das sagen, erkenne ich den wahrhaft unweltlichen Klang Ihres Metalls. Ich sage Ihnen«, fügte er mit steigender Bitterkeit bei, »daß ich als reicher Mann unter Menschen jeder Gattung und Art gelebt habe – unter Verwandten, Freunden und Fremden – unter Leuten, zu denen ich, als ich arm war, Vertrauen, und zwar mit Recht Vertrauen hatte, denn damals betrogen sie mich nie oder fügten einander um meinetwillen Unrecht zu. Aber ich habe nie ein Wesen – nein, nicht ein einziges – gefunden, in dem ich nicht, sobald ich reich und allein war, eine geheime Verderbtheit hätte entdecken müssen, die nur darauf wartete, an Leuten wie mir offenbar zu werden. Verrat, Betrug und niedrige Hinterlist, Haß unter den wirklichen und eingebildeten Bewerbern um meine Gunst, Niedrigkeit, Feigheit, Schlechtigkeit und Kriecherei, oder« – und hier faßte Martin Chuzzlewit seinen Vetter scharf ins Auge – »oder erkünstelte Biederkeit – wohl das Schlimmste von allem. – Das war die innere Schönheit, die mein Reichtum ans Licht förderte. Bruder gegen Bruder, Kind gegen Eltern, Freunde gegen Freunde – so stellte sich die menschliche Gesellschaft zueinander, wenn sie mir in den Weg kam. Man hat sich wahre oder erlogene Geschichten von reichen Leuten erzählt, die im Gewande der Armut Tugend aufgefunden und sie belohnt haben. Dummköpfe und Narren, die sie waren; sie hätten suchen sollen, ohne sich zu maskieren. Sie hätten sich als Menschen zeigen sollen, die es sich lohnt, zu berauben, auszubeuten und zu umgarnen; als solche, die Schurken umschmeicheln, die ihnen am liebsten auf den Sarg spucken möchten. Dann hätte das mühevolle Suchen bald ein Ende gehabt, wie das meinige, und Sie wären geworden, was ich bin.

Unterbrechen Sie mich nicht! – Lassen Sie mich zu Ende reden; beurteilen Sie daraus, welchen Nutzen Sie möglicherweise aus einer Wiederholung Ihres Besuches ziehen können, und dann verlassen Sie mich. Ich habe den Charakter aller derjenigen, die je mit mir in Berührung kamen, durch unabsichtliche Verlockung zu habsüchtigen Komplotten und durch Erweckung von Hoffnungen dermaßen verderbt und umgewandelt – ich habe, während ich bei Angehörigen meiner eigenen Familie weilte, so viel häusliche Zwietracht und Uneinigkeit erzeugt, ich bin an friedlichen Herden zur Brandfackel geworden und habe all die bösen Dünste ihrer Atmosphäre, die ohne mich bis zu Ende harmlos geblieben wären, dermaßen entzündet, daß ich zuletzt vor allen floh, die mich kannten, und mich versteckte wie ein gehetztes Wild. Das junge Mädchen, das Sie soeben gesehen haben – – was! Ihr Auge blitzt, wenn ich nur von ihr spreche? Sie hassen sie also jetzt schon?«

»Auf mein Wort, Sir! – –« beteuerte Mr. Pecksniff, legte die Hand auf die Brust und schlug die Augen nieder.

»Aber ich vergaß«, rief der alte Mann und blickte seinen Vetter so scharf an, daß dieser es zu fühlen schien, trotzdem er die Lider geschlossen hielt. »Ich bitte um Verzeihung. Ich vergaß, daß Sie ja ein Fremder sind. Sie erinnerten mich nur für einen Augenblick an einen gewissen Pecksniff, einen Vetter von mir. – Also, ich wollte sagen: – das junge Mädchen, das Sie eben gesehen haben, ist eine Waise, die ich in einer gewissen Absicht erzog, oder, wenn Sie lieber wollen, adoptierte. Seit einem Jahr oder länger ist sie meine beständige und einzige Begleiterin gewesen. Sie weiß, daß ich einen feierlichen Eid geschworen habe, ihr nach meinem Tode keinen Penny zu hinterlassen; solange ich jedoch lebe, bezieht sie von mir ein Jahresgehalt, das zwar nicht übermäßig, aber auch nicht kärglich ist. Es besteht eine Abmachung zwischen uns, daß kein zärtliches Wort je zwischen uns fallen darf, aber jedes hat das andere nur bei seinem Taufnamen zu nennen. Solange ich lebe, ist sie durch die Bande ihres Vorteils an mich geknüpft, und da sie im voraus weiß, daß sie bei meinem Tode nichts zu hoffen hat, so wird sie vielleicht echt trauern, wenn ich sterbe, obgleich mich das wenig kümmert. Dies ist die einzige Art von Freundschaft, die ich habe oder haben will. Schließen Sie aus alldem selbst, wie unprofitabel die Stunde für Sie war, die Sie bei mir verbracht haben, und verlassen Sie mich jetzt gefälligst für immer.«

Nach diesen Worten sank der alte Mann langsam in seine Kissen zurück. Mr. Pecksniff erhob sich und begann nach einem einleitenden Räuspern:

»Mr. Chuzzlewit!«

»Na. So gehen Sie doch!« unterbrach ihn der Kranke ungeduldig. »Genug davon. Ich bin Ihrer Gesellschaft überdrüssig.«

»Das tut mir leid, Sir«, versetzte Mr. Pecksniff, »aber ich habe mich noch einer Pflicht zu entledigen, von der ich mich, verlassen Sie sich darauf, nicht zurückschrecken lassen werde. Nein, Sir, ich werde mich nicht zurückschrecken lassen.«

Es ist eine höchst beklagenswerte Tatsache, daß der alte Herr, als Mr. Pecksniff aufrecht und in der ganzen Würde eines durch und durch rechtschaffenen Mannes neben seinem Bette stand und ihn so anredete, einen zornigen Blick nach dem Leuchter warf, als hätte er große Lust, ihn seinem Vetter an den Kopf zu werfen. Er zügelte sich wohl rechtzeitig, wies aber mit dem Finger nach der Türe.

»Ich danke Ihnen«, sagte Mr. Pecksniff; »ich verstehe und werde gehen. Aber bevor ich mich entferne, verlange ich, daß Sie auch mich reden lassen, und noch mehr als das, Mr. Chuzzlewit, Sie müssen und werden – ja wahrhaftig, ich wiederhole es – Sie müssen und werden mich anhören. Was Sie mir soeben mitgeteilt haben, Sir, setzt mich durchaus nicht in Erstaunen. Es ist natürlich, sehr natürlich, und war mir größtenteils schon vorher bekannt. Ich will nicht sagen«, fuhr Mr. Pecksniff fort, holte sein Taschentuch hervor und kämpfte sichtlich mit den Tränen, »ich will nicht sagen, daß Sie sich in mir getäuscht haben. Solange Sie in Ihrer gegenwärtigen Stimmung sind, möchte ich nicht um die Welt etwas derartiges von mir behaupten. Fast wünschte ich, meine Natur wäre anders – wenn auch nur, um die Fähigkeit zu besitzen, kleine Merkmale meiner Schwäche, die ich vor Ihnen nicht zu verbergen vermag, unterdrücken zu können. Gut, soll es demütigend für mich sein, aber Sie werden die Güte haben, es zu übersehen. Wir wollen meinetwegen sagen«, fügte Mr. Pecksniff mit großer Feinfühligkeit hinzu, »daß es von einem Schnupfen herrühre oder daß mir ein Stäubchen Tabak, der Geruch von Salmiakgeist, Zwiebeln oder sonst irgend etwas in die Nase gekommen ist.«

Hier hielt Mr. Pecksniff einen Augenblick inne und verbarg das Gesicht hinter seinem Taschentuch. Dann fuhr er mit einem matten Lächeln fort, während er die Bettgardine mit seiner Hand faßte:

»Aber, Mr. Chuzzlewit, wenn ich auch keine Rücksicht auf mich selbst nehme, so bin ich es doch mir und meinem Charakter schuldig – ja, Sir, meinem Charakter, der mir sehr teuer und das beste Erbteil meiner beiden Töchter ist –, Ihnen zu sagen, daß Ihre Handlungsweise ungerecht, unnatürlich, unverantwortlich und abscheulich ist. Auch kann ich Ihnen nicht verhehlen, Sir«, rief Mr. Pecksniff und stellte sich zwischen den Bettgardinen auf die Zehen, als erhebe er sich im buchstäblichen Sinne des Wortes über alle weltlichen Rücksichten und müsse sich an irgend etwas festhalten, um nicht wie Elias gen Himmel zu fahren, »ich kann Ihnen nicht verhehlen – gleichviel ob es Ihnen gefällt oder nicht –, daß es ein schweres Unrecht von Ihnen ist, Ihres Enkels, des jungen Martin, der die ersten und natürlichsten Ansprüche an Sie hat, zu vergessen. Das darf nicht sein, Sir«, wiederholte Mr. Pecksniff, den Kopf schüttelnd. »Sie können es sich vielleicht einreden, aber trotzdem darf es nicht sein. Es ist Ihre Pflicht, für diesen jungen Mann zu sorgen; Sie müssen für ihn sorgen und werden für ihn sorgen. Übrigens glaube ich«, fügte Mr. Pecksniff mit einem Blick auf die Schreibutensilien hinzu, »daß Sie es insgeheim bereits getan haben. Gott segne Sie dafür. Er segne Sie für diese edle Tat. Er segne Sie auch für den Haß, den Sie gegen mich hegen. – Und nun gute Nacht!«

Dabei schwenkte Mr. Pecksniff mit großer Feierlichkeit seine rechte Hand, steckte sie wieder in seinen Westenschlitz und entfernte sich. Wohl sprach sich in seinem ganzen Wesen große Aufregung aus, aber sein Schritt war fest. Mr. Pecksniff war zwar menschlichen Schwächen unterworfen, aber sein fleckenreines Gewissen hielt ihn aufrecht.

Martin Chuzzlewit lag eine Weile mit einem Ausdruck stummer Verwunderung, die mit Zorn gemischt war, da und sann nach. Dann flüsterte er vor sich hin:

»Was soll das heißen? Sollte der falschherzige junge Mensch sich diesen Kerl zum Werkzeug gewählt haben? Warum nicht? Er hat gegen mich konspiriert wie die übrigen; sie sind alle Vögel von demselben Gefieder. Ein neues Komplott; ein neues Komplott! O Selbstsucht, Selbstsucht, Selbstsucht! Bei jedem Schritte nichts als Selbstsucht!«

Dann fing er an, mit der Asche des verbrannten Papiers auf der Leuchtertasse zu spielen. Anfangs völlig geistesabwesend, aber sehr bald wurde der Zunder Gegenstand seines Grübelns.

»Wieder ein Testament gemacht und verbrannt«, murmelte er; »nichts beschlossen und nichts getan! Und doch hätte ich heute nacht sterben können! – Ich sehe es deutlich vor mir, was für schlimmen Zwecken all dies Geld zuletzt noch dienen wird«, rief er und krümmte sich vor Qual in seinem Bette. »Nachdem es mir mein ganzes Leben Sorgen und Elend gebracht, wird es nach meinem Tode noch fortfahren, Uneinigkeit und böse Leidenschaften zu verbreiten. So geht es immer. Welche Prozesse sprossen nicht täglich aus den Gräbern der Reichen auf – Saaten von Meineid, Haß und Lüge unter Blutsverwandten, wo nichts als Liebe herrschen sollte! Gott steh uns bei, wir haben viel zu verantworten! O Selbstsucht, Selbstsucht, Selbstsucht! Jeder denkt an sich und niemand an mich!«

25. Kapitel


25. Kapitel

Handelt zum Teil von Berufsangelegenheiten und gibt dem Publikum manchen wertvollen Wink, wie man Kranke pflegt

Umringt von seinen Penaten, genoß Mr. Mould in stiller Wonne das beseeligende Glück häuslicher Ruhe. Da der Tag schwül und das Fenster offen war, hatte Mr. Mould seine Beine auf das Fensterbrett gelegt und lehnte sich mit dem Rücken an den offenen Laden; über seine schimmernde Glatze hatte er der Fliegen wegen ein Schnupftuch gebreitet. Im Zimmer duftete es würzig nach Punsch, und ein großes, mit diesem lieblichen Getränk gefülltes Gefäß stand im Handbereich auf einem runden Tischchen. So trefflich war der Trank gemischt, daß, wenn Mr. Moulds Auge in das kühle, durchscheinende Naß blickte, ein zweites Auge hinter der Zitronenschale hervor ihm hell wie ein Stern entgegenfunkelte.

Mr. Moulds Etablissement lag weit drin in der City im Cheapviertel. Sein Harem, oder besser gesagt, das Wohnzimmer von Mrs. Mould und Familie lag nach rückwärts hinaus über dem kleinen Comptoir hinter dem Laden mit der Aussicht auf einen kleinen schattigen Friedhof. In diesem traulichen Stäbchen nun saß Mr. Mould und blickte als zufriedener und friedlicher Mann auf seinen Punsch und sein häusliches Besitztum. Wenn sein Auge für eine Sekunde nach weiterer Aussicht umherspähte, um dann mit erneutem Eifer zu den Ergötzlichkeiten des Gemaches zurückzukehren, wanderte sein feuchter Blick wie ein Sonnenstrahl durch ländlich schlichtes Gitterwerk von Feuerkresse, die an gespannten Bindfäden vor dem Fenster in die Höhe rankte, hinaus, und mit der Miene eines Künstlers schaute er auf die Gräber nieder.

In seiner Gesellschaft befanden sich sein Ehegespons und seine beiden Zwillingstöchter. Jede der Misses Mould war fett wie ein Rebhuhn, und Mrs. Mould fetter als beide zusammengenommen. Ihre stattlichen Proportionen waren so voll und rund wie die Leiber zu den Engelsgesichtern unten im Laden. Nur ausgewachsener. Selbst ihre Pfirsichwangen waren aufgeblasen, als seien sie von Rechts wegen bestimmt, in himmlische Posaunen zu stoßen.

Zärtlich blickte jetzt Mr. Mould auf seine dicht neben ihm sitzende Gattin, die ihm bei seinem Punsch wie in allen andern irdischen Dingen treu zur Seite stand. Die seraphinischen Töchter erfreuten sich gleichfalls ihres Anteils seiner Zuneigung und lächelten ihm von Zeit zu Zeit freundlich zu. So gesegnet war Mr. Moulds Besitzstand, so groß die Menge der zu seinem Beruf gehörigen Handelsartikel, daß selbst hier, mitten im Allerheiligsten seiner Häuslichkeit, ein Wandschrank aus Mahagoni stand, der mit Leichentüchern, Totenhemden und anderer Grabwäsche bis zum Rande angefüllt war. Trotzdem die Misses Mould gleichsam unter den Augen dieses bedeutungsvollen Möbels aufgewachsen waren, so hatte es doch keinen Schatten auf ihre Kinderjahre oder die fröhliche Zeit ihrer blühenden Mädchenschaft zu werfen vermocht. Von der Wiege auf gewöhnt, Einsegnungs- und Begräbnisszenen zu spielen, waren die Misses Mould gegen dergleichen abgehärtet. Trauerflore bedeuteten für sie nur soundso viele Ellen Seide oder Krepp und die Totenhemden nur ein Stück Leinwand. Von dem Schauspielerrock, dem Kleide einer Hofdame oder einer Parlamentarierrobe konnten sich die Misses Mould allenfalls noch romantische Ideen machen, aber Bahrtücher waren für sie etwas ganz Banales; fertigten sie sie doch zuweilen selber. Mr. Moulds Wohnung war gegen das Getöse in den Hauptstraßen fast ganz und gar abgeschlossen. Sie lag in einem stillen Winkel, wo der Lärm der City zu einem schläfrigen Summen herabsank, das dann und wann anstieg, dann wieder leise wurde und manchmal ganz verstummte, so daß man glauben konnte, in dem geräuschvollen Verkehr von Cheapside sei plötzlich eine Stockung eingetreten. Funkelnd und blinzelnd fiel das Tageslicht durch das Spalier von Feuerkresse herein, als ob der Friedhof draußen Mr. Mould vertraulich zuwinkte und sagte: »Wir verstehen einander, was?« Und aus einem entfernt liegenden Gewölbe tönte das liebliche Klopfen des Sargtischlergehilfen mit seinen melodischen Hammerschlägen, rat, tat, tat, tat, und wirkte ebenso förderlich auf den Schlummer wie auf die Verdauung.

»Ganz wie das Gesumme sommerlicher Insekten«, murmelte Mr. Mould und schloß wollüstig die Augen. »Es gemahnt einen an die Laute der belebten Natur draußen in den ackerbautreibenden Distrikten; es ist wie das Klopfen des Baumspechts.«

»Am Ulmenbaum klopfet der Specht«, trällerte Mrs. Mould, den Text des Volksliedes durch das Wort Ulme bereichernd, aus welchem Holz bekanntlich die Särge angefertigt werden.

»Ha ha ha«, lachte Mr. Mould, »famoser Witz, meine Liebe. Wirklich sehr gut, ich habe schon viel schlechtere in den Sonntagsblättern gelesen.«

Höchst aufgeräumt ob dieses Lobspruchs nahm Mrs. Mould einen herzhaften Schluck Punsch und reichte dann das Glas ihren Töchtern hin, die ehrerbietig ihrem Beispiel folgten.

»Ulmenbaum«, wiederholte Mr. Mould und zappelte aus Freude über den hübschen Spaß ein wenig mit den Beinen. »Im Liede ist’s, glaube ich, eine Buche, was? Ja ja, natürlich, ha ha ha, wirklich einer der besten Witze, die ich je gehört habe.«

Die Variante mit der Ulme schien ihm so ungemein zu gefallen, daß er sie gar nicht vergessen konnte und vielleicht zwanzigmal hintereinander vor sich hin murmelte: »Ulme, ha ha, natürlich, haha! Meiner Seel, das sollte man einem Witzblatt einschicken! Der beste Scherz, den ich je gehört habe. Ulme! Ja ja, natürlich, ha ha ha!«

Da klopfte es plötzlich an die Stubentüre.

»Das ist Tacker«, rief Mrs. Mould, »ich erkenne ihn an seinem Schnaufen. Wenn man ihn so hört, sollte man glauben, daß er immer genug Wind hat, um allein die Trauerfederbüsche zum Wehen zu bringen – kommen Sie nur herein, Tacker!«

»Bitt um Entschuldigung«, murmelte Tacker und spähte zur Tür herein. »Ich hab gemeint, der Herr wäre hier.«

»Na ja, ich bin ja auch hier«, meldete sich Mr. Mould.

»Meiner Seel, ich hab Sie gar nicht gesehen«, sagte Tacker und steckte den Kopf ein wenig weiter zur Türe herein. »Ich denk, es wird Ihnen wahrscheinlich nicht passen, einen Auftrag für ein ordinäres Begräbnis anzunehmen. Gemeines Fichtenholz und eine Blechplatte.«

»Nein, nein«, entgegnete Mr. Mould, »viel zu ordinär. Ausgeschlossen.« »Ich hab auch gleich gesagt, es sei zu schofel«, bemerkte Mr. Tacker.

»Sagen Sie nur den Leuten, sie sollten sich zu jemand anderem bemühen. Ich nehme keine solchen Aufträge an«, grollte Mr. Mould, »eine Unverschämtheit, mir mit so was zu kommen. Wer ist’s denn übrigens?«

»Hm«, meinte Tacker stockend, »sehen Sie, das ist’s ja eben; es ist der Schwiegersohn vom Kirchspieldiener.«

»Ach so, der Schwiegersohn vom Kirchspieldiener«, sagte Mould, »na gut, dann will ich’s ausnahmsweise übernehmen, vorausgesetzt, daß der Kirchspieldiener selbst in seinem dreieckigen Hut mitgeht, sonst aber nicht. Dann hat’s wenigstens einen dienstlichen Anstrich, und man kann die Sache vor sich selber rechtfertigen; aber wohlverstanden: der dreieckige Hut muß mit.«

»Ich werd’s ausrichten, Sir«, erwiderte Tacker. »Ja, und dann ist auch noch Mrs. Gamp unten und wünscht mit Ihnen zu sprechen.«

»Sie soll heraufkommen«, sagte Mould. »Ah, da sind Sie ja, Mrs. Gamp! Nun, Mrs. Gamp, was bringen Sie uns Neues?«

Die würdige Dame war inzwischen eingetreten und machte Mrs. Mould ihren Knicks. Im Augenblick erfüllte ein eigentümlich würziger Duft das Zimmer, als sei eine Fee, die lang in einem Weinkeller eingesperrt gewesen, vorbeigeflogen und habe das Aufstoßen gekriegt.

Mrs. Gamp antwortete nicht auf Mr. Moulds Frage, sondern machte abermals einen Knicks, hob die Hände in die Höhe und blickte gen Himmel, wie in einem Dankgebet, daß sie Mrs. Mould so wohl aussehend finde. Sie war sauber, wenn auch nicht festtäglich gekleidet und trug den Trauerrock, in dem schon Mr. Pecksniff das Vergnügen gehabt hatte, sie kennenzulernen.

»Es gibt halt scho so glückliche Leut«, bemerkte Mrs. Gamp, »wo mit der Zeit immer jünger werden, und da ghörn Sie auch dazu, Mrs. Mould. So jemandem kann halt die Zeit nix anhaben. Solche Leut bleiben halt immer jung. Noch vor kurzem hab i zu der Harris gsagt«, fuhr Mrs. Gamp fort, »grad am letzten Montagabend vor vierzehn Täg hab i zu der Harris gsagt, grad als sie zu mir gsagt hat, die Jahre und unsre Leiden, Frau Gamp, hat s‘ gsagt, gehen niemals nicht spurlos an uns vorüber. Reden S‘ net so, liebe Harris, hab i gsagt, wann mir gute Freund bleiben solln, denn dös kann net a jeds von sich behaupten. Schauen S‘, die Frau von Mould, hab i gsagt, und i bin so frei, den Namen zu wiederholen« – wieder machte sie einen Knicks – »is eine von denen, wo schnurstracks ein Beweis für das Gegenteil sin, und niemals, liebe Harris, hab i gsagt, so lang i noch an Atemzug machen kann, kann i Ihna deswegen recht geben. – ›Na ja, dös is was anders‹, hat die Harris gesagt, ›da geb i Oma gern nach, und übrigens, wenn je a Frauensperson glebt hat, wo sich für ihre Mitmenschen die Füß ablaufen möcht, so heißt diese Frauensperson Sarah Gamp.‹«

Hier mußte die würdige Dame einen Augenblick innehalten, um Atem zu holen, und wir wollen diese Pause benützen, um zu bemerken, daß ein undurchdringliches Geheimnis die sagenhafte Mrs. Harris umgab. Niemand aus den Kreisen von Mrs. Gamps Bekanntschaft hatte sie jemals gesehen, noch wußte ein menschliches Wesen, wo sie wohnte, obgleich Mrs. Gamp beständig mit ihr in Verbindung zu stehen schien. Die widerstreitendsten Gerüchte waren diesbezüglich im Umlauf, doch herrschte die Ansicht vor, Mrs. Harris sei ein Phantom und Mrs. Gamps Gehirn entsprungen, ähnlich wie das Daimonion des Sokrates, und ausdrücklich zu dem Zwecke geschaffen, mit Mrs. Gamp visionäre Zwiegespräche zu halten und jedesmal mit einem Kompliment auf ihre Vortrefflichkeit zu schließen.

»Und jetzt gar die Freud«, fing Mrs. Gamp wieder an und wandte ihren tränenumflorten Blick den beiden Misses Mould zu, »die zwei jungen Damen zu sehen, wo i scho kennt hab, wo s‘ noch kan Zahn net im Mund ghabt ham. I weiß noch wie heut, wie s‘ in der Werkstatt drunten Begrabn gspielt haben und das lange Bestellbuch in der eisernen Kisten zur ewigen Ruh bestattet ham. O mein, wo sin die Zeiten, Mr. Mould! Net wahr, Mr. Mould?«

»Veränderung ist der Lauf der Zeit, Mrs. Gamp«, versetzte der Leichenbestatter.

»Es werden noch viel mehr Veränderungen kommen, eh’s mit der Veränderung a End hat«, scherzte Mrs. Gamp mit schalkhaftem Nicken. »So junge Damen mit so hübsche Gesichter denken auch an was anders als ans Begrabn, meinen S‘ net auch, Mr. Mould?«

»Da kann ich Ihnen wirklich keine Auskunft geben, Mrs. Gamp«, kicherte Mould, »nicht schlecht von Mrs. Gamp, was meine Liebe?«

»Ach ja, Sie wissen’s ja ganz gut«, sagte Mrs. Gamp, »und Mrs. Mould, Ihre hübsche Ehehälfte, weiß es auch, und i selbst weiß es ebenfalls, wann mir auch der Segen, a Töchterl zu haben, versagt geblieben is. Na ja, i bitt Ihna, und wann mir auch a Töchterl kriegt hätten, der Gamp hätt ihm gewiß die klanen Schuh von die Füß weg versoffen, wie er’s nachher mit unserm lieben Buam tan hat. I denk’s noch wie heut. Da hat er den Buam fortgeschickt, er soll eam seinen Stelzfuß verkaufen und Schnaps dafür holen. Und der Bub hat’s tan, und merkwürdig gscheit für seine Jahre hat er’s gmacht, aber nachher hat er’s beim Anmäuerln verlurn und is nach Haus kemman und hat gflennt und hat gsagt, er wollt ins Wasser gehen, wann wir nur wieder gut wären – o mein; Sie wissen ja, Mr. Mould.«

Mrs. Gamp wischte sich mit ihrem Schal eine Träne aus dem Auge. »Es steht noch so manchs andre in die Zeitungen, wie Geburten und Begräbnisse. Net wahr, Mr. Mould?«

Mr. Mould blinzelte seiner Gattin, die sich ihm inzwischen auf den Schoß gesetzt, zu und sagte: »Ohne Zweifel. Noch viele andere Dinge, Mrs. Gamp. – Wie spaßhaft Mrs. Gamp heute aufgelegt ist, was, meine Liebe?«

»Heiraten, zum Beispiel«, scherzte Mrs. Gamp und zwinkerte den beiden Töchtern zu. »Gott gebe ihnen Glück und Segen. Sie wissen’s ganz gut – Sie haben auch verstanden, was dös heißt, und Mrs. Mould auch, wie Sie beide noch in dem Alter waren. Aber o mein, Sie sin halt beide noch jung, und was Sie und Mrs. Mould betrifft – wenn Sie amal a paar Enkerln –«

»Aber, aber, Mrs. Gamp, Unsinn!« wehrte der Leichenbestatter ab. »Wie spaßhaft sie heute ist!« rief er leise – »meine Liebe –« setzte er laut hinzu, »Mrs. Gamp möchte vielleicht ein Gläschen Rum! Nehmen Sie doch Platz, Mrs. Gamp.«

Mrs. Gamp setzte sich auf den Stuhl dicht neben der Türe, blickte zur Decke empor und tat äußerst zerstreut, bis ihr eine der jungen Damen ein Gläschen Rum überreichte. Dann schien sie aufs äußerste überrascht.

»Na, wirklich«, sagte sie zu Mrs. Mould, »so was kommt selten bei mir vor. Außer, wann i net wol bin und mi meine Quart Bier im Magen druckt. Die Harris sagt immer – ›Gamp‹, hat’s neulich gsagt, ›na wirklich, i verstehe Ihna nöt.‹ Liebe Harris, sag i nacher immer, wieso denn nöt? Nur raus mit der Sprach. ›Offen gestanden, liebe Gamp‹, sagt nacher die Harris, ›auf Ehr und Seligkeit, i kann net verstehn, wie a Frau, wie Sie, als Kranken- und Kindbettwärterin mit so wenig Trinken auskommen kann.‹ Ja mein, liebe Harris, sag ich nacher, keins von uns weiß, was es aushalten kann, bevor’s es net ausprobiert hat. Wie mein Mann selig noch glebt hat, hab i a immer so daher gredt, aber jetzt komm i mit am Quart Bier ganz gut aus. Nur frisch vom Faß muß kemman. Aber ob i jetzt Kranke pfleg oder Wöchnerinnen, liebe Harris, i tu immer mei Pflicht. I bin a arms Weib und muß mei Brot schwer verdiena und drum muß i drauf bestehn, daß mein Quart Bier immer regelmäßig vom Faß kemmt. Dös gesteh i zu.«

Der logische Zusammenhang zwischen diesen Bemerkungen und dem Glase Rum war nicht sehr einleuchtend. Mrs. Gamp ließ sich auch nicht weiter darüber aus, sondern beschränkte sich nur auf die Worte: »Auf Ihner Wol, meine Herrschaften«, und stürzte dann den Tropfen kunstgerecht hinunter.

»Und was bringen Sie uns für Neuigkeiten?« fragte Mr. Mould, während Mrs. Gamp sich die Lippen mit dem Halstuch abwischte und ein Stückchen Zwieback benagte, das sie als Gegengift gegen aufgedrungene Schnäpse in der Tasche zu führen schien, »wie geht’s zum Beispiel Mr. Chuffey?«

»Dem Chuffey«, erklärte Mrs. Gamp, »geht’s wie immer; net schlechter und net besser. Aber schön is doch von dem jungen Herrn, daß er Ihna gschrieben hat: ›Lassen S‘ ’n pflegn von der Gamp, bis i wieder komm.‹ Er is halt immer gut und hat a weichs Herz, ’s gibt net viel solchene. Na ja, sonst wären ja auch die Kirchen überflüssig.«

»Und worüber wollten Sie eigentlich mit mir sprechen, Mrs. Gamp?« fragte Mr. Mould, zur Sache kommend. »Von nix anders als von dem«, entgegnete Mrs. Gamp. »I dank der Nachfrag. Es is a Herr im Ochsen zu Holborn krank wordn und liegt jetzt fest im Bett. Ma hat a Tagwärterin holen lassen vom Bartholomäspital. I bin mit ihr bekannt, Mr. Mould, und sie heißt Prig und is a kreuzbrave Haut. Aber für die Nacht ist sie anderswo vergeben jetzt, und drum brauchen s‘ jetzt drüben jemand anders zum Nachtwachen. Mir sin jetzt scho zwanzg Jahr gute Freundinnen, und deshalb hat s‘ gsagt: die nüchternste Person weit und breit, gradezu a Segen für a Krankenzimmer, is die Gamp. Schicken S‘ an Laufbubn nach Kingsgate, hat s‘ gsagt, und schaun S‘ zu, daß Sie die Gamp um jeden Preis kriegen. Die is net mit Gold aufzuwiegn. Na, und der Wirt hat mir’s gsagt und hat gmeint, es wär a angenehmer Platz, und da ziemlich was dabei rausschaugt, sollet i’s annehmen. Net um alles in der Welt, hab i gsagt, net ohne daß der Mr. Mould was davon weiß. Früher is net dran zu denken. Aber i will zu eahm gehn, hab i gsagt, und eahm fragen, was er meint« – dabei warf sie einen Blick nach dem Leichenbestatter und hielt lauschend inne.

»Nachtwachen, so?« brummte Mould und rieb sich das Kinn.

»Von acht Uhr abends bis acht Uhr früh, net damit Sie glauben, i sag Ihna die Unwahrheit«, erklärte Mrs. Gamp.

»Und dann wären Sie frei?« fragte Mould.

»Ganz frei, und i kann dann ruhig wieder zu Mr. Chuffey gehn. Er is a ganz ruhiger Mensch – geht zeitig zu Bett und schlaft fast die ganze Nacht durch. I will’s net leugnen«, setzte Mrs. Gamp mit weicher Stimme hinzu, »ich bin nur a arms Weib, und das bisserl Geld fallt bei mir ins Gewicht, aber darauf dürfen S‘ ka Rücksicht net nehmen, Mr. Mould. Die Reichen reiten gern auf Kamelen, aber so leicht is net, durch a Nadelöhr durchschlupfen, sag i immer, und dös is mei Trost.«

»Nun, Mrs. Gamp«, meinte Mould, »ich sehe nicht ein, warum Sie nicht unter solchen Umständen auf ehrliche Weise ein paar Groschen verdienen sollten. Mich gehts ja schließlich weiter nichts an, Mrs. Gamp; ich würde es vor Mr. Chuzzlewit auch nicht weiter erwähnen, außer er würde mich direkt danach fragen.«

»Sehen S‘, dös mein i a«, versetzte Mrs. Gamp, »und nehmen mir amal an, der Herr möcht sterben, so hoff i, darf i mir doch die Freiheit nehmen zu sagen, es sei mir ein gwisser Leichenbestatter bekannt – net wahr, Sie nehmen dös doch net für übel, Mr. Mould?«

»Durchaus nicht, Mrs. Gamp«, versicherte Mr. Mould herablassend, »Sie können in solchen Fällen immer bemerken, daß wir dergleichen in jedem beliebigen Stile ausführen, und zwar auf eine für die Überlebenden so tröstliche Weise wie nur möglich. Aber ja nicht zu aufdringlich, verstehen Sie? Ja nicht zu aufdringlich. Nur so nebenhin. – Meine Liebe, du bist vielleicht so gut, Mrs. Gamp ein paar von unsern Geschäftskarten mitzugeben.«

Mrs. Gamp nahm die Karten und stand auf, um sich zu verabschieden, da die Rumflasche bereits eingeschlossen war und demnach nichts mehr für sie herausschaute.

»Also nochmals, Glück und Segen der ganzen Familie!« sagte sie. »Schönen guten Nachmittag, Mrs. Mould. Sehen S‘, wann i der Herr Mould wär, i wär eifersüchtig auf Ihna, und wann i an Ihrer Stell war, würd i wiederum auf den Herrn Gemahl eifersüchtig sein.«

»Aber Mrs. Gamp, reden Sie nicht so!« rief der Leichenbestatter vergnügt.

»Und was die jungen Damen betrifft«, fuhr Mrs. Gamp mit einem Knicks fort, »Gott bewahre ihna ihre Schönheit. – Wann i nur wüßt, wie sie’s mit ihrem Gewissen verantworten können, bei so jungen Eltern schon so erwachsen zu sein. – Na, mi geht’s a nix weiter an.«

»Dummes Zeug! Unsinn! So hören Sie doch auf, Mrs. Gamp!« rief Mr. Mould, konnte es sich aber nicht versagen, vor Freude seine Gattin heimlich in den Arm zu kneifen.

»Ich will dir was sagen, meine Liebe«, bemerkte er, nachdem Mrs. Gamp sich entfernt und die Türe hinter sich zugemacht hatte; »diese Frau ist eine durch und durch gescheite Person und hat einen Verstand, der weit über ihren Beruf hinausgeht. Sie hat eine ganz ungewöhnliche Beobachtungsgabe und einen so gesunden Menschenverstand. – Wahrhaftig, es ist eine Person«, fügte er hinzu, zog sich sein seidenes Schnupftuch wieder über die Glatze und schickte sich zu einem Schläfchen an, »bei der man fast geneigt wäre, sie umsonst zu begraben und noch obendrein erster Klasse.«

Mrs. Mould nebst Töchtern schien damit vollständig einverstanden zu sein.

Mrs. Gamp hatte inzwischen die Straße erreicht, aber die frische Luft schien sie so anzugreifen, daß sie noch eine Weile unter dem Torbogen stehenbleiben mußte, um sich zu erholen. Aber selbst nach dieser Vorsichtsmaßregel war ihr Gang noch so schwankend, daß sie die mitleidigen Blicke einiger gutmütiger Straßenjungen auf sich zog, die für ihren Zustand das lebhafteste Interesse an den Tag legten und ihr in ihrer ungekünstelten Ausdrucksweise zuriefen, sie solle sich nichts draus machen, das ginge vorüber; sie habe nur ein bißchen viel »geladen«.

Wie dem übrigens auch sei oder welchen Namen das medizinische Wörterbuch Mrs. Gamps bresthaftem Zustande beigelegt haben würde, so fand sie sich doch bald und ohne weitere Fährlichkeiten nach ihrem Bestimmungsorte zurecht, langte glücklich in dem Hause »Anthony Chuzzlewits Sohn« an, begab sich zur Ruhe und schlief bis sieben Uhr abends. Dann überredete sie den armen alten Chuffey, zu Bett zu gehen, und machte sich auf, ihren neuen Dienst anzutreten. Zuerst verfügte sie sich in ihre eigene Wohnung in Kingsgate Street, um sich ein Bündel Kleider und Umschlagtüchter für die Nacht zu holen, und dann nach dem »Ochsen« in Holborn. Als sie dort ankam, schlug es gerade acht.

Im Hofe blieb Mrs. Gamp neugierig stehen, denn der Wirt, die Wirtin und das erste Stubenmädchen unterhielten sich auf der Zimmerschwelle angelegentlich mit einem jungen Herrn, der soeben erst angekommen zu sein schien und augenscheinlich die Absicht hatte, sich wieder zu entfernen. Die ersten Worte, die ihr Ohr trafen, bezogen sich fraglos auf den Patienten, und da es für sie als Wärterin nur förderlich sein konnte, soviel wie möglich von dem Falle zu wissen, dessentwegen man sie hatte holen lassen, so hielt sie es geradezu für ihre Pflicht, zu lauschen.

»Nicht besser also?« bemerkte der junge Mann.

»Schlimmer«, versetzte der Wirt.

»Viel schlimmer«, fügte die Wirtin hinzu. »Oh, viel, viel schlimmer!« rief das Stubenmädchen aus dem Hintergrunde, riß die Augen auf und schüttelte das Haupt.

»Der arme Mensch!« seufzte der junge Mann. »Es tut mir sehr leid, das zu hören; und das Schlimmste dabei ist, daß ich mir durchaus nicht denken kann, wer wohl seine Freunde und Verwandten sein mögen oder wo sie wohnen. Sicher ist nur eins, daß man sie nicht in London zu suchen hat.«

Der Wirt sah die Wirtin an, die Wirtin den Wirt, und das Stubenmädchen bemerkte, von allen vagen Vermutungen, und deren gäbe es in einem Gasthaus nicht wenige, sei dies die allervageste.

»Wie ich Ihnen gestern schon sagte«, fuhr der junge Mann fort, »als Sie zu mir schickten, weiß ich so viel wie gar nichts von ihm. Wir waren früher Schulkameraden, aber seitdem habe ich ihn nur zweimal wiedergesehen. Beide Male kam ich auf Ferien nach London aus Wiltshire – auf eine Woche ungefähr –, und dann verlor ich ihn wieder aus den Augen. Der Brief mit meinem Namen und meiner Adresse, den Sie auf seinem Tische fanden und der Sie veranlaßte, zu mir zu schicken, ist eine Antwort – wie Sie bemerken werden – auf einen Brief, den er mir an demselben Tage, wo er krank wurde, von hier aus schrieb und worin er mir ein Rendezvous vorschlug. – Hier ist sein Brief, wenn Sie ihn einsehen wollen.«

Der Wirt las das Schreiben, und die Wirtin guckte ihm über die Schulter. Das Stubenmädchen im Hintergrunde fing gleichfalls so viel davon ab, als ihr irgend möglich war, ergänzte den Rest für sich und betrachtete das Ganze fortan als ein positives Beweisstück.

»Er hat sehr wenig Gepäck, sagen Sie«, bemerkte der junge Mann, der niemand anders war als John Westlock.

»Nichts als ein Felleisen«, versetzte der Wirt, »und wenig genug ist drin.«

»Aber Sie sprachen doch von einigen Guineen in seiner Börse?«

»Ja; ich habe das Geld eingesiegelt und in meine Kasse gelegt. Die Summe hab ich aufgeschrieben, wenn Sie’s sehen wollen.« »Gut«, sagte John. »Der Arzt ist der Ansicht, bevor das Fieber nicht nachließe, könne man nichts anderes tun, als ihm regelmäßig seine Medizin zu reichen und ihm die sorgfältigste Pflege angedeihen zu lassen. Auch ich kann weiter nichts hinzufügen, bis er in der Lage ist, selbe Auskunft erteilen zu können. – Hätten Sie sonst noch etwas zu sagen?«

»N-nein«, versetzte der Wirt, »ausgenommen –«

»Wer für ihn bezahlen soll, nicht wahr?« fragte John.

»Freilich«, meinte der Wirt stockend, »möchte ich das gerne wissen.«

»Ja, ja, natürlich«, sagte die Wirtin.

»Auch wegen des Trinkgelds wär’s gut«, brummte das Stubenmädchen.

»Das ist nur recht und billig«, entgegnete John Westlock, »aber jedenfalls haben Sie für den Augenblick sein Geld als Sicherheit, und was den Doktor und die Krankenpflege betrifft, erkläre ich mich gern bereit, dafür aufzukommen.«

»Oh«, rief Mrs. Gamp, »das nenne ich mir an feinen Herrn!«

Sie hatte diesen Stoßseufzer so hörbar vorgebracht, daß sich alle nach ihr umdrehten. Sie fühlte daher die Notwendigkeit, mit ihrem Bündel in der Hand näher zu treten, um sich vorzustellen.

»I bin die Wärterin aus Kingsgate«, sagte sie, »und die Mrs. Prig, die Wärterin für den Tag, is meine beste Freundin. Sie is wirklich a kreuzbrave Haut. Na, und wie geht’s denn dem armen lieben Herrn heut abend? Wenn’s noch net besser is, muß mer halt abwarten. Es is net das erstemal, Madame« – dabei machte sie der Wirtin einen Knicks – »daß die Prig und i zusamm als Krankenwärterinnen die Tag- und Nachtwach versehn habn. Mir kennen uns und helfen oft noch, wo nix mehr zu helfen is. Mir machen’s billig« – sie wandte sich zu John – »wenn ma die Natur unsrer schmerzlichen Pflichten ins Aug faßt. O mein, wenn’s nur nach uns ging, möchten wir am liebsten gar nix verlangen.«

Als sie sich dieser Einführungsrede glücklich entledigt, knickste sie noch einmal in die Runde und gab den Wunsch zu erkennen, jetzt nach dem Schauplatz ihrer amtlichen Tätigkeit geführt zu werden. Das Stubenmädchen geleitete sie daraufhin durch ein Labyrinth von Gängen nach dem Obergeschoß des Hauses und zeigte dort auf eine einsame Türe am Ende einer Galerie, bedeutete ihr, daß dahinter der Patient liege, und eilte mit größter Geschwindigkeit wieder von dannen.

Mrs. Gamp ging, von der Last ihres umfangreichen Bündels erhitzt, bis zu der Türe und klopfte an. Sofort öffnete Mrs. Prig, die bereits Hut und Schal umgenommen hatte und sichtlich darauf brannte, fortzukommen. Mrs. Prig war so ziemlich von Mrs. Gamps Statur, nur nicht so fett; ihre Stimme klang tiefer und fast männlich. Auch zierte sie ein stattlicher Bart.

»Hab scho gmeint, Sie kommen gar nimmer«, bemerkte sie etwas mißvergnügt. »Morgen abend hol mer’s scho wieder nach«, tröstete Mrs. Gamp, »i hab zuvor noch nach Haus müssen und meine Sachen holen.« Sie ging sodann zur Zeichensprache über, um sich über den Zustand des Patienten zu unterrichten und zu fragen, ob er sie vielleicht hören könne – es stand nämlich eine spanische Wand vor der Tür –, aber Mrs. Prig zerstreute rasch ihr Bedenken.

»Er is ganz ruhig«, sagte sie laut, »aber net bei Besinnung, Sie brauche Ihna net schenieren.« »Sonst hätten S‘ mir nix zu sagen, bevor S‘ gehen, liebe Prig?« fragte Mrs. Gamp, zerrte ihr Bündel in die Stube und sah ihre Kollegin zärtlich an.

»Der marinierte Lachs«, erwiderte Mrs. Prig, »is ausgezeichnet, i kann ihn Ihna bsonders empfehlen. Des kalte Fleisch schmeckt nach Stall, aber die Getränke sin alle gut.«

Mrs. Gamp erklärte sich höchlichst zufriedengestellt.

»Was die Medizinen und die andern Gschichten sin, so stehen s‘ aufm Kamin und aufm Kasten«, warf Mrs. Prig hin, »das letztemal hat er um sieben Uhr eingnommen. Der Lehnstuhl is damisch hart, i rat Ihna, nehmen S‘ sein Kopfpolster.« Mrs. Gamp dankte ihr für diese Winke, wünschte ihr freundlich gute Nacht und hielt die Türe offen, bis sie am anderen Ende der Galerie verschwunden war. Nachdem sie so die Pflicht der Gastfreundschaft erfüllt und ihre Kollegin glücklich verabschiedet hatte, riegelte sie von innen zu, nahm ihr Bündel und ging um die spanische Wand herum, um ihr Geschäft als Wärterin zu beginnen.

»Sakrisch fad, aber es könnt ja a noch schlimmer sein«, brummte sie vor sich hin. »Wann a Feuer auskimmt, so bin i froh, daß a Glander da is und viele Dächer mit Rauchfäng, da kann ma wenigstens gut aussakrallen.«

Aus diesen Bemerkungen ist leicht zu ersehen, daß Mrs. Gamp zum Fenster hinausschaute. Nachdem sie die Aussicht genügend genossen, versuchte sie den Lehnstuhl und erklärte unwillig, er sei härter als ein Ziegelstein. Dann dehnte sie ihre Untersuchung auf die Arzneiflaschen, Gläser, Töpfe und Teetassen aus. Nachdem sie auch hier ihre Neugierde vollständig befriedigt, knöpfte sie ihre Haubenbänder los und trat ans Bett, um sich den Patienten zu betrachten.

Er war ein junger Mann von dunkler Gesichtsfarbe und recht angenehmen Zügen. Seine langen schwarzen Haare nahmen sich auf der weißen Leinwand noch viel dunkler aus, als sie vielleicht in Wirklichkeit waren. Seine Augen hatte er halb geschlossen, und trotzdem sein Körper still dalag, wälzte er ohne Unterlaß den Kopf von einer Seite des Kissens zur andern. Er sprach nicht, ließ aber zuweilen einen Ausruf der Ungeduld oder Überraschung laut werden, dabei beständig den Kopf, wie schon seit Stunden, hin und her bewegend.

Mrs. Gamp labte sich mit einer Prise Schnupftabak und sah ihn eine Weile mit seitwärts geneigtem Haupte an, wie etwa ein Kenner ein etwas zweifelhaftes Kunstwerk betrachten würde. Allmählich bemächtigte sich ihrer eine schreckliche Erinnerung an einen andern Zweig ihres Berufs. Sie beugte sich nieder und drückte ihm die unsteten Arme an die Seite, um zu sehen, wie er sich – als Leiche ausnehmen würde. So gräßlich es auch klingen mag, tatsächlich juckten ihr die Finger vor Verlangen, ihn in die letzte Stellung der Todesstarre zurechtzulegen.

»Herrschaft«, knurrte sie dabei und trat ein paar Schritte zurück, »dös wär a wunderschöne Leich!«

Dann fuhr sie fort, ihr Bündel auszupacken, zündete mit Hilfe eines auf der Kommode stehenden Feuerzeugs ein Licht an, füllte einen kleinen Kessel als Vorbereitung für ein Täßchen Tee für die Nacht, machte zu demselben philanthropischen Zweck »a bisserl a Feuer« an, wie sie es nannte, und zog einen Teetisch herbei, um den traulichen Eindruck zu erhöhen. Diese Vorbereitungen nahmen so lange Zeit in Anspruch, daß es nach ihrer Beendigung höchste Zeit war, ans Abendbrot zu denken. Mrs. Gamp klingelte daher, um es zu bestellen.

»I glaub, Jungfer«, sagte sie in einem Tone, der ihre Angegriffenheit entsprechend illustrieren sollte, zu dem zweiten Stubenmädchen, »a bisserl a geräucherten Lachs mit etwas Fenchel und aner Prisen weißen Pfeffer dabei möcht mir gut tun, ebenso a krachets Weißbrot mit frischer Butter und a Stückerl Käs. Wann S‘ so was wie a Gurken im Haus hätten, so sin S‘ leicht so gut und bringen S‘ mir’s auffi. Es is mei Leibspeis und tut in aner Krankenstubn oft Wunder. Und wann S‘ grad a Doppelbier anzapfen, bringen S‘ mir leicht a a Maß. Die Doktoren sagen immer, es halt wach. Und nachher, Jungfer, vergessen S‘ net für an Schilling Wacholderschnaps und warms Wasser, damit i’s hab, wann i nochamal läut. Des is mei Ration, und i trink kein Tropfen drüber.«

Nachdem sie diese außerordentlich maßvollen Anforderungen gestellt hatte, bemerkte sie, sie wolle an der Türe stehen bleiben und warten, damit der Patient nicht durch wiederholtes Öffnen gestört würde. Sie werde sich aus demselben Grunde dem Stubenmädchen sehr zu Dank verpflichtet fühlen, wenn es sich beeile.

Das Teebrett kam, und alles, sogar die Gurke, befand sich darauf. Mrs. Gamp setzte sich sogleich hin und aß und trank nach Herzenslust. Der Hochgenuß und die Unersättlichkeit, mit der sie dem Gurkenessig zusprach und dann sogar noch die Klinge des Messers ableckte, läßt sich kaum beschreiben.

»O mein«, seufzte sie, als sie bei ihrer Schillingsdosis warmen Grogs hielt, »was für a Glück is es doch, wann der Mensch in dem irdischen Jammertal hienieden sich seine Zufriedenheit bewahrt. Was für a Segen, kranke Leut in ihre Betten glücklich zu machen und sich selbst dabei zu vergessen, solang ma noch Dienste leisten kann. I glaub, in mein ganzen Leben hab i noch kei schönere Gurken gsehn.« In der gleichen seligen Stimmung fortmoralisierend, bis ihr Glas leer war, erinnerte sie sich schließlich, daß sie dem Patienten seine Arzenei zu reichen habe. Sie drückte ihm die Kehle zusammen, um ihn zu veranlassen, den Mund zu öffnen, und schüttete ihm dann den Trank in die Gurgel.

»Meiner Seel, jetzt hätt i fast des Kopfkissen vergessen«, murmelte sie und holte sofort das Versäumte nach. »Jetzt hat er’s so bequem, wie’s der Mensch nur haben kann; jetzt muß i schaun, daß i mir’s auch bequem mach.«

In dieser Absicht zog sie sich einen zweiten Lehnstuhl für die Füße herbei und improvisierte sich eine Lagerstätte. Sodann entnahm sie ihrem Bündel eine gigantische, hinsichtlich Aussehen von einem Kohlkopf nur schwer zu unterscheidende gelbe Schlafmütze und band sie sich auf, nachdem sie vorher eine Reihe alter Locken abgelegt hatte, die den Ausdruck »falsch« eigentlich nicht verdienten, denn von einer Vortäuschung körperlicher Reize konnte hier nicht die Rede sein. Dann zog sie sich eine Nachtjacke an und endlich eine Art Nachtwächterrock, dessen Ärmel sie sich um den Hals band, so daß sie von rückwärts aussah wie eine Vogelscheuche, die von einem Flurwächter umarmt wird.

Nachdem sie alle diese Anstalten sorgfältig erledigt, zündete sie ein Nachtlicht an, krümmte sich auf ihrem Lager zusammen und schickte sich zu einem Schlummer an.

Die Stube war jetzt schaurig dunkel und voll düsterer lauernder Schatten. Nach und nach verstummten die fernen Töne in den Straßen, und das Haus wurde so ruhig wie ein Grab.

Oh, die öden, öden Stunden! Durch das Dunkel der Vergangenheit unfähig, sich vom Elend der Gegenwart loszumachen, schleppte die arme Seele des Kranken ihre schwere Sorgenkette durch eingebildete Festesfreuden, durch Träume voll schauerlicher Pracht, irrte suchend dahin über die längst vergessenen Spielplätze der Kindheit und fand in den Zufluchtsorten von gestern und heute nur Angst und Grausen. Ach, die öden, bleiernen Stunden! Was waren die Irrfahrten Kains gegen diese Wanderungen!

Immer noch wälzte der Kranke, ohne einen Augenblick Ruhe zu finden, sein brennendes Haupt hin und her. Von Zeit zu Zeit wurden seine Mattigkeit, seine Ungeduld und Pein auf diesem Folterbette durch laute Ausrufe kund, wenn seine Lippen auch keine Worte bilden konnten. Endlich gegen Mitternacht fing er an zu reden, wartete zuweilen angstvoll auf Antwort, als ob unsichtbare Gestalten sein Bett umgäben und er ihnen Rede und Antwort stünde.

Mrs. Gamp erwachte und setzte sich in ihrem Bett auf. Ihr Schatten an der Wand sah aus wie die Silhouette eines gespenstischen Nachtwächters, gegen den sich ein Gefangener wehren will.

»Na, werdn S‘ net endlich ’s Maul halten«, rief sie in verweisendem Tone. »Hier wird ka Lärm gemacht, verstanden?«

Nicht die geringste Veränderung im Gesichte des Patienten verriet, daß er sie verstand. Irr phantasierte er weiter.

»Na ja, natürlich«, schimpfte Mrs. Camp und stand räuspernd und unwillig auf, »i hab halt zu gut geschlafen, als daß einem so was lang vergunnt wär. Mir scheint, der Teufel is los, daß ’s heut nacht so kalt is.«

»Trink nicht so viel«, phantasierte der Kranke. »Du wirst uns noch alle zugrunde richten. Siehst du denn nicht, wie die Quelle versiegt und wie es jetzt dunkel wird, wo eben noch das Wasser funkelte?«

»Jawohl, Wasser funkeln«, knurrte Mrs. Garnp, »i will lieber a funkelnde Tassn Tee zu mir nehmen. Wann er nur scho endlich mit dem blöden Gred aufhörn möcht.«

Der Patient brach jetzt in ein Gelächter aus, das gar nicht enden zu wollen schien und schließlich in ein unheimliches Gewinsel überging. Dann hielt er inne und begann rasch hintereinander zu zählen:

»Eins – zwei – drei – vier – fünf – sechs.«

»Eins, zwei, koch mir den Brei«, murmelte Mrs. Gamp, auf den Knien liegend und bemüht, das Ofenfeuer anzuzünden. »Drei, vier, halt zu die Tür – gscheiter wär’s, du hieltest den Mund – fünf, sechs, bucklete Hex! – Ja, wann i hexen könnt, nacher sollt mir der Kessel scho bälder sieden.«

Damit setzte sie sich so dicht an die Kaminstange, daß ihre Nase darauf zu ruhen kam, und unterhielt sich eine Weile damit, diesen Vorsprung ihres Gesichts an dem Metall hin und her zu reiben, soweit dies ohne wesentliche Änderung ihrer Stellung anging. Dabei kommentierte sie fortwährend die irren Reden des Mannes im Bett.

»Zusammen fünfhundertundeinundzwanzig Leute, alle gleich gekleidet und alle gleich das Gesicht verzerrt, so sind sie zum Fenster herein- und zur Tür herausgegangen«, rief er angstvoll. »Schau da, fünfhundertzweiundzwanzig – dreiundzwanzig – vierundzwanzig, siehst du sie?«

»Na ja, natürlich seh ich sie«, brummte Mrs. Gamp. »Die ganze Bande numeriert wie die Droschken. – Oder leicht net?«

»Rühr mich nicht an, ich muß mich überzeugen.«

»I werd dir scho die Arznei einschütten, wann der Kessel siedet«, entgegnete Mrs. Gamp ruhevoll. »Und nacher wirst scho angrührt werden. Und fest a no.«

»Fünfhundertachtundzwanzig – fünfhundertneunundzwanzig – fünfhundertdreißig – schau da!«

»Was gibt’s denn scho wieder?« fragte Mrs. Gamp.

»Jetzt kommen sie zu viert nebeneinander, jeder hat seinen Arm in den des andern eingehängt und die Hand auf dessen Schulter. Was haben sie auf ihren Armen und auf dem Banner?«

»Wahrscheinlich Spinnaweben«, brummte Mrs. Gamp.

»Flor, schwarzer Flor! Gott im Himmel, warum tragen sie ihn außen?«

»Na ja, innawendig könnens ’n doch net tragen», höhnte Mrs. Gamp. »Aber still jetzt, dös Maul ghalten.«

Mittlerweile hatte das Feuer angefangen, eine angenehme Wärme zu verbreiten, und Mrs. Gamp wurde stumm. Langsamer und immer langsamer rieb sie ihre Nase an der Kaminstange, und endlich verfiel sie in einen schweren Schlaf. Sie erwachte plötzlich, denn durch das Zimmer, deuchte ihr, hallte ein Name, den sie gut kannte.

»Chuzzlewit!«

Der Ton war so bestimmt, so wirklich und glich so ganz einem flehentlichen Ruf, daß Mrs. Gamp erschrocken aufsprang und zur Türe eilte. Sie erwartete halb und halb, den Gang mit Leuten angefüllt zu finden, die gekommen wären, ihr zu sagen, das Haus in der City stünde in Flammen. Aber die Galerie war leer. Keine Seele da! Sie öffnete das Fenster und blickte hinaus. Nichts als dunkle, rauchige, öde Dachgiebel. Als sie in die Stube zurückkehrte, warf sie einen Blick auf den Kranken. Ganz wie früher lag er auf seinem Bett, nur seine Lippen schwiegen jetzt. Mrs. Gamp war es so warm geworden, daß sie ihren Nachtwächtermantel abwarf und sich Kühlung zufächelte.

»So laut war’s, daß fast die Flaschen gscheppert habn«, brummte sie. »Von was i nur träumt hab? Wahrscheinlich von dem zwidern Chuffey.«

Diese Vermutung hatte viel für sich. Für alle Fälle kräftigte sich Mrs. Gamp mit einer Prise Schnupftabak, und das Singen des dampfenden Teekessels beruhigte gar bald ihre ohnehin nicht besonders schwachen Nerven. Dann schenkte sie sich ihren Tee ein, röstete sich eine Butterschnitte und nahm, das Gesicht dem Feuer zugekehrt, vor dem Tischchen Platz.

Da klangen mit einem Mal in noch gräßlicherem Tone als vorher die Worte in ihr Ohr:

»Chuzzlewit! Jonas! Nein!«

Erschreckt setzte sie die Tasse, die sie eben an ihre Lippen hatte führen wollen, nieder und wandte sich so rasch um, daß das kleine Tischchen beinah umgefallen wäre. Der Schrei war offenbar von dem Bette hergekommen.

Als sie das nächste Mal wieder zum Fenster hinausschaute, war es bereits heller Morgen, und die Sonne ging heiter auf. Der Himmel wurde Lichter und Lichter, der Lärm auf den Straßen wuchs immer mehr an, und hoch in die Sommerluft empor stieg der Rauch frisch angezündeter Feuer, bis es völlig Tag war.

Pünktlich, wie es sich gehört, kam Mrs. Prig, die bei ihrem Patienten ebenfalls eine gute Nacht verbracht hatte, zur Ablösung. Mr. Westlock fand sich um die gleiche Zeit ein, wurde aber nicht vorgelassen, da die Krankheit möglicherweise ansteckend sein könnte. Auch der Doktor erschien und schüttelte den Kopf – alles, was ein Arzt in solchen Umständen tun kann –, und zwar recht gründlich. »Was hat er für eine Nacht gehabt, Wärterin?«

»A schlechte«, antwortete Mrs. Gamp.

»Viel phantasiert?«

»Na, macht sich«, sagte Mrs. Gamp. »Konnte man nichts aus seinen Reden entnehmen?«

»I Gott bewahr, lauter ungereimtes Zeug war’s.«

»Nun«, meinte der Doktor, »da müssen wir ihn vorläufig noch in Ruhe lassen. Halten Sie das Zimmer kühl, reichen Sie ihm regelmäßig seine Arznei und geben Sie überhaupt sorgfältig auf ihn acht. Weiter läßt sich nichts tun.«

»Habens ka Sorg net; solang die Prig und i bei eahm san, is ka Gfahr net«, versicherte Mrs. Gamp.

»Was? Gibt’s wirklich nix Neues, Mrs. Gamp?« fragte Mrs. Prig, als sie beide den Arzt hinauskomplimentiert hatten.

»Na, wirkli nix«, sagte Mrs. Gamp. »Er red lauter dumms Zeug daher und nennt a Masse Namen. Mer braucht si net dran kehren.«

»Na ja, des a no! Fallet mir grad ein«, entgegnete Mrs. Prig, »i hab an gscheitere Sachen zu denken.«

»Heut abend bring i meine Schuld von gestern wieder ein und komm etwas zeitlicher, liebe Prig«, versprach Mrs. Gamp, »aber eins möcht i Ihna noch raten«, fügte sie enthusiastisch hinzu, »probiern S‘ amal die Gurken. – Bhüat Ihna Gott.«

20. Kapitel


20. Kapitel

Die Liebe

»Pecksniff«, sagte Jonas, nahm seinen Hut ab, um nachzusehen, ob sein Trauerflor in Ordnung sei, und setzte ihn, nachdem er sich davon überzeugt, wieder befriedigt auf: »Wieviel gedenken Sie Ihren Töchtern mitzugeben, wenn sie heiraten?«

»Mein lieber Mr. Jonas«, rief der treffliche Vater mit sinnigem Lächeln, »welch sonderbare Frage!«

»Ob jetzt sonderbar oder nicht«, brummte Jonas und warf Mr. Pecksniff einen nicht besonders gnädigen Blick zu, »entweder antworten Sie mir, oder Sie antworten mir nicht; ganz wie Sie wollen.«

»Hm, so was läßt sich nicht so leicht abtun, mein lieber Freund«, entgegnete Pecksniff und legte seine Hand zärtlich auf das Knie seines Verwandten, »das kommt doch ganz auf die Umstände an. Was sollte ich ihnen geben, wie?«

»Was Sie ihnen geben sollten?« fragte Jonas.

»Es hängt das«, erklärte Mr. Pecksniff, »natürlich zum größten Teil von der Art der Männer ab, die sie sich wählen, mein lieber junger Freund.«

Mr. Jonas war augenscheinlich sehr verblüfft und wußte nicht recht, wie fortfahren. Es war eine gute Antwort gewesen und auch eine schlaue, wie es schien, aber Schlichtheit ist eben Weisheit.

»Ich mache punkto Schwiegersohn große Ansprüche«, begann Mr. Pecksniff wieder nach kurzer Pause. »Verzeihen Sie, mein lieber Mr. Jonas«, fügte er bewegt hinzu, »wenn ich sage, daß Sie mich verwöhnt, nein, geradezu wählerisch gemacht haben, und daß daher das Bild, das ich mir von einem Schwiegersohn entworfen habe, ein kapriziöses, phantastisches, ein, wenn ich es so nennen darf, prismatisch gefärbtes sein muß.« »Was soll das heißen?« brummte Jonas mit einem mißtrauischen Blick.

»Sie haben gewiß ein Recht, mein lieber Freund«, flötete Mr. Pecksniff, »mich danach zu fragen. Das Herz ist nicht immer ein königliches Münzamt mit Patentprägemaschinen, daß es sein Metall gleich in Kurant umsetzen könnte. Zuweilen wirft es seine Schätze in gar seltsamen Formen aus, die vielleicht nicht so leicht als Münze erkannt werden, aber echtes Gold sind sie doch. Sie, nämlich meine Töchter, sie haben unzweifelhaft dieses Verdienst und sind echtes, gediegenes Gold.«

»Wirklich?« murmelte Jonas mit bedenklichem Kopfschütteln.

»Ja«, bestätigte Mr. Pecksniff und wurde sichtlich wärmer, »es ist so. Und um offen gegen Sie zu sein, Mr. Jonas, wenn ich zwei solche Schwiegersöhne finden könnte, wie Sie einen abgeben würden, und zwar einem verdienstvollen Schwiegervater gegenüber, der imstande ist, einen Charakter wie den Ihrigen zu würdigen, so würde ich, ohne die geringste Rücksicht auf mich selbst zu nehmen, meinen Töchtern eine Mitgift auswerfen, so weit – es meine Mittel nur irgend erlauben.«

Das war gewiß herzhaft gesprochen, aber bei einem Manne wie Mr. Pecksniff, der Jonas von Grund aus kannte, nicht weiter wunderbar. Um so weniger, als seine Lippen auch im gewöhnlichen Leben von Beredsamkeit überflössen.

Mr. Jonas blieb stumm und betrachtete gedankenvoll die Aussicht, die sich von der Kutsche aus, in der sie saßen, seinem Auge entrollte. Er begleitete nämlich Mr. Pecksniff nach dessen Heimat, um sich von seinen Kümmernissen für ein paar Tage durch Ortswechsel und Luftveränderung zu erholen.

»Na«, sagte er endlich mit liebenswürdiger Derbheit, »angenommen, Sie bekämen einen Schwiegersohn wie mich, was dann?«

Mr. Pecksniff betrachtete ihn anfangs eine Zeitlang mit ununterdrückbarer Überraschung, dann brach er allmählich in eine Art demütiger Lebhaftigkeit aus und rief: »Dann wüßte ich wohl, wessen Gatte er sein würde.«

»Na also wessen?«

»Meiner Ältesten, Mr. Jonas«, versetzte Pecksniff mit einer Träne im Auge. »Meiner teuern Cherry, meines Stabes und meiner Stütze. Meines Schatzes, Mr. Jonas! Es wäre ein harter Kampf für mich, aber es läge in der Natur der Dinge. Einmal muß ich sie ja doch einem Fremden abtreten. Ich weiß es, mein teurer Freund, und bin darauf vorbereitet.«

»Sapperment, hübsch lange müssen Sie da schon darauf vorbereitet sein, sollte ich meinen«, brummte Jonas.

»Viele haben um sie angehalten«, klagte Mr. Pecksniff, »aber allen hat sie einen Korb gegeben. – ›Ich will lieber ledig bleiben›, das waren ihre Worte, ›als eine Vernunftehe schließen.‹ Sie ist übrigens in der letzten Zeit nicht ganz so fröhlich gewesen wie sonst; ich kann mir nicht erklären, warum.«

Abermals blickte Mr. Jonas auf die Gegend, dann auf den Kutscher, nach dem Gepäck auf dem Dach und schließlich auf Mr. Pecksniff.

»Ich denke, Sie werden sich wohl bald von der ›anderen‹ trennen müssen«, bemerkte er mit einem lauernden Blick.

»Oh, wahrscheinlich«, rief Mr. Pecksniff. »Die Zeit wird die Wildheit meines lustigen Vögleins schon zähmen. Und dann wird es in einen Käfig müssen. – Aber Cherry, Mr. Jonas, Cherry –«

»Na, die Zeit«, unterbrach ihn Jonas, »die Zeit hat sie nachgerade schon genug gebändigt, daran ist wohl kein Zweifel. Aber Sie antworten nicht auf meine Frage. Übrigens, wenn Sie nicht wollen, so lassen Sie’s bleiben. Sie müssen am besten wissen, was Sie zu tun haben.«

Die Verdrossenheit, die in diesen Worten lag, erinnerte Mr. Pecksniff daran, daß mit seinem »lieben Freunde« nicht zu spaßen war und er ihm entweder offen antworten oder geradeheraus zu verstehen geben müsse, er wolle ihn über das fragliche Thema nicht näher unterrichten. Gleichzeitig erinnerte er sich in diesem Dilemma an die Warnung, die ihm der alte Anthony sozusagen mit seinem letzten Atemzuge gegeben, und er entschloß sich daher zu sprechen. Er erklärte also Mr. Jonas, indem er zugleich diese Mitteilung als einen Beweis seiner großen Anhänglichkeit und seines Vertrauens hinstellte, daß in dem Falle, daß ein Mann wie Mr. Chuzzlewit junior um die Hand einer seiner Töchter anhielte, er dieser eine Mitgift von viertausend Pfund auswerfen wolle. »Ich würde mir damit ungemein ins Fleisch schneiden und mich sehr einschränken müssen, um soviel aufzubringen«, bemerkte er offenherzig, »aber ich hielte es für meine Pflicht, und mein innerer Lohn wäre das Bewußtsein, richtig gehandelt zu haben. Mein Gewissen ist meine Bank. Ich habe eine Kleinigkeit darin angelegt – eine bloße Kleinigkeit, Mr. Jonas –, aber für mich ist es ein Schatz, das kann ich Ihnen versichern.«

Die Feinde des wackern Mannes hätten hier wahrscheinlich zweierlei Meinungen geäußert. Die einen würden ohne Bedenken behauptet haben, wenn Mr. Pecksniffs Gewissen seine Bank sei, so müsse das Debet in seinem Konto das Haben unermeßlich übersteigen. Die anderen hätten vermutlich gesagt, seine Behauptung sei eine bloße poetische Phrase, unter der man ein vollkommen leeres Buch zu verstehen habe, in dem die Eintragungen mit sympathetischer, also erst unter gewissen Umständen und in unbestimmter Zeit lesbarer Tinte gemacht würden.

»Es käme mir höchst sauer an, mein lieber Freund«, wiederholte Mr. Pecksniff, »aber die Vorsehung – ich darf vielleicht sagen, eine ganz besondere Vorsehung – hat mein Streben gesegnet, und ich könnte es vielleicht sogar vor mir selbst verantworten, ein derartiges Opfer zu bringen.«

Auch hier hätten die Widersacher des trefflichen Mannes gewiß wieder so mancherlei bemängelt und seltsame Ansichten aufgestellt, aber Mr. Jonas, der nicht gewohnt war, seinen Geist mit Theorien zu belasten, behielt seine Meinung für sich. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper dazu und verharrte mindestens eine Viertelstunde in seiner Schweigsamkeit, wie es schien, emsig beschäftigt, im Geiste allerhand Zahlen zu addieren, miteinander zu multiplizieren und anderen mathematischen Operationen zu unterwerfen. Das Ergebnis mußte schließlich ganz günstig ausgefallen sein, für ihn wenigstens, denn als er das Schweigen brach, geschah es mit der Miene eines Mannes, der zu einem festen Resultat gelangt ist und sich aus einem Zustand bedrückender Ungewißheit herausgearbeitet hat.

»Na, alter Pecksniff«, fragte er aufgeräumt am Ende der Station und klopfte dem würdigen Architekten burschikos auf den Rücken, »wollen wir jetzt was zu uns nehmen?« »Von Herzen gern«, rief Mr. Pecksniff.

»Auch der Kutscher sollte sich was geben lassen.«

»Wenn Sie überzeugt sind, es schadet dem Manne nichts oder könne ihn unzufrieden mit seiner Stellung machen – gewiß«, stotterte Mr. Pecksniff.

Jonas lachte nur, stieg von dem Kutschendach herunter und vollführte auf der Straße eine Art grotesken Bocksprung. Sodann verfügte er sich in das Wirtshaus und bestellte so viele geistige Getränke, daß Mr. Pecksniff schon ein Bedenken anwandelte, ob er auch wirklich bei Sinnen sei. Erst als der Kutscher wieder zum Aufbruch mahnte, ging ihm ein Licht auf, denn Jonas sagte:

»Ich habe Sie eine ganze Woche und noch länger regulieren müssen, und Sie haben mit den feinsten Leckerbissen, die die Jahreszeit bietet, gerade nicht gespart. Ich dächte, diesmal könnten Sie zahlen, Pecksniff.«

Und das war auch durchaus kein Scherz, wie Mr. Pecksniff einen Augenblick lang gewähnt hatte, denn Jonas stieg ohne weitere Umstände wieder aufs Dach der Kutsche und überließ es seinem Schwiegervater in spe, die Zeche zu bezahlen.

Doch Mr. Pecksniff war ein sanfter Dulder und Jonas doch sein Freund. Überdies stützte sich seine Zuneigung zu ihm auf die felsenfeste Überzeugung von der Vortrefflichkeit seines Charakters. Mit lächelndem Gesicht kam er daher aus dem Wirtshause nach und ging sogar so weit, eine gleiche Freigebigkeit in allerdings weniger kostspieligem Maßstab bei dem nächsten Bierhause in Aussicht zu stellen. Es lag jetzt eine gewisse, ihm sonst ganz und gar nicht eigentümliche Wildheit in Mr. Jonas‘ Betragen, und er benahm sich während der Weiterreise so übermütig, so ausgelassen, man kann fast sagen, so unbändig, daß der würdige Architekt große Mühe hatte, ihm gegenüber sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren.

Am Ziel ihrer Reise wurden sie nicht erwartet, wie man vielleicht hätte glauben dürfen. Mr. Pecksniff hatte nämlich in London den Vorschlag gemacht, den Mädchen eine Überraschung zu bereiten, und daher kein Wort nach Hause geschrieben. Er und Mr. Jonas konnten sie also unversehens überraschen und Zeugen ihres herzigen Treibens sein, wenn sie plötzlich ins Zimmer träten. Infolge dieses findigen Kunstgriffes kam ihnen natürlich niemand an den Wegweiser entgegen, aber das hatte hinsichtlich Bequemlichkeit auch weiter nichts zu sagen, denn Mr. Pecksniff hatte nur einen Mantelsack bei sich, während das Gepäck Mr. Jonas‘ lediglich aus einem kleinen Lederkoffer bestand. Sie trugen die geringe Last zu zweit und gingen ohne Zögern den Feldweg hinauf – Mr. Pecksniff bereits auf den Zehen, als ob ohne diese Vorsichtsmaßregel seine beiden lieben Töchterlein ein kindliches Vorgefühl von seiner Annäherung anwandeln könnte.

Es war ein lieblicher Frühjahrsabend, und die sanfte Stille des Zwielichts verbreitete eine tiefe Ruhe über die ganze Natur. Der Tag hatte schön und warm eingesetzt, aber mit dem Eintreten der Nacht wurde die Luft kühl. In der Ferne erhoben sich leichte Rauchwolken aus den Schornsteinen der Häuser, der Duft jungen Laubes und frischer Knospen erfüllte die Luft, der Kuckuck, der den ganzen Tag über gerufen, war bereits verstummt, und der Geruch frisch geackerter Erdschollen fächelte erfrischend das Land im Abendwind. Es war die Stunde, wo die meisten Menschen gute Entschlüsse fassen und sich um eine vergeudete Vergangenheit grämen – wo sie, die wachsenden Schatten betrachtend, an den Abend denken, der kommen muß, und an jenes Morgenrot, das das letzte sein wird.

»Verflucht langweilige Gegend«, knurrte Jonas und sah sich um. »Tiefsinnig könnte einer dabei werden.«

»Wir werden bald Licht und ein warmes Kaminfeuer haben«, tröstete Mr. Pecksniff.

»Werden’s auch sehr nötig haben, wenn wir ankommen. Warum, zum Teufel, sprechen Sie denn kein Wort? Woran denken Sie eigentlich?«

»Die Wahrheit zu gestehen, Mr. Jonas«, sagte Pecksniff feierlich, »mein Geist weilte in diesem Augenblick bei unserm lieben, unvergeßlichen Verwandten, Ihrem hingeschiedenen Vater.«

Erschreckt ließ Jonas seinen Koffer fallen und rief, die Hand drohend erhoben:

»Lassen Sie das, Pecksniff!« Mr. Pecksniff, der nicht verstand, ob die Worte sich auf den Mantelsack oder etwas anderes bezogen, starrte seinen Begleiter mit ungeheucheltem Erstaunen an.

»Lassen Sie das, sag ich«, rief Jonas wild. »Hören Sie! Lassen Sie das jetzt! Jetzt und für immer! Es ist besser, ich sage Ihnen gleich jetzt, daß ich es nicht haben will.«

»Es geschah aus Unüberlegtheit«, entschuldigte sich Pecksniff betroffen, »ich gebe zu, es war töricht, ich hätte wissen müssen, daß ich damit eine zarte Saite in Ihnen berühre.«

»Faseln Sie nicht von zarten Saiten«, schrie Jonas und wischte sich die Stirne mit dem Rockärmel ab. »Ich bin nicht der Mann dazu, sich von Ihnen verhöhnen zu lassen, bloß weil mir die Gesellschaft des Toten nicht paßt.«

Mr. Pecksniff hatte kaum betroffen die Worte nachgestammelt: »Verhöhnen, Mr. Jonas!«, als ihm der junge Mann mit finsterer Miene wieder ins Wort fiel:

»Merken Sie sich das! Ich verbitte es mir. Ich rate Ihnen, das Thema nicht wieder zur Sprache zu bringen. Weder mir gegenüber noch sonstwo. Merken Sie sich das gefälligst! Aber jetzt genug davon. Kommen Sie!«

Mit diesen Worten faßte er wieder den Koffergriff und eilte so schnell vorwärts, daß Mr. Pecksniff am anderen Ende des Gepäcks in höchst unziemlicher Weise nachgeschleppt wurde, zum größten Schaden seiner Schienbeine, die ununterbrochen und unbarmherzig mit dem harten Leder und den eisernen Schnallen in Berührung kamen. Nach einigen Minuten mäßigte Jonas glücklicherweise seine Eile und ließ ihn gleichen Schritt halten.

Es lag auf der Hand, daß er seine Heftigkeit bereute und auch hinsichtlich deren Wirkung auf Mr. Pecksniff sich nicht ganz sicher fühlte, denn sooft dieser nach ihm hinblickte, kam er sichtlich in Verlegenheit. Gleich darauf jedoch begann er zu pfeifen. Mr. Pecksniff stimmte summend in die fröhliche Melodie ein.

»Haben wir noch weit?« fragte Jonas, nachdem sie sich eine Weile in dieser Weise erbaut hatten.

»Wir sind ganz in der Nähe, mein teurer Freund«, antwortete Mr. Pecksniff.

»Was machen Ihrer Meinung nach die Mädels wohl jetzt?« »Das kann ich unmöglich sagen«, versetzte Mr. Pecksniff. »Sie sind doch immer auf den Beinen. Sind vielleicht gar nicht zu Haus. Ich wollte, hi, hi, hi, ich wollte eben den Vorschlag machen, durch die Hintertüre ins Haus zu gehen, um sie zu überraschen, Jonas.«

Der Vorschlag fand Beifall, und so stahlen sie sich in den Hühnerhof und gingen sachte auf das Küchenfenster zu, durch das der Schein von Kaminfeuer und Kerzenlicht in die dunkle Nacht hinausleuchtete.

Wiederum zeigte sich, wie gesegnet Mr. Pecksniff an seinen Kindern war, jedenfalls an einem derselben. Die kluge Cherry, der Stab, die Stütze und der Schatz ihres sie anbetenden Vaters, saß nämlich an einem kleinen Tisch so weiß wie neugefallener Schnee vor dem Küchenfeuer und schrieb Rechnungen aus. Es war ein entzückender Anblick, wie die liebliche Jungfrau, die Feder in der Hand, den berechnenden Blick zur Decke emporgeschlagen und einen Schlüsselbund in einem kleinen Körbchen neben sich, mit dem Haushaltungsbuch zu Rate ging. Von dem blitzenden Bügeleisen, den Schüsseldeckeln und der Wärmflasche, vom Kochtopf, dem Dreifuß und dem metallenen Kessel glitzerte und glühte der Widerschein des Lichtes beifällige Blicke auf sie herab, und sogar die Zwiebeln, von dem Deckenbalken herniederhängend, glänzten wie Cherubswangen. Irgend etwas von dem Einfluß dieser Vegetabilien schien sich in Mr. Pecksniffs Wesen zu senken, denn: er weinte!

Aber nur für einen Augenblick. Dann verbarg er sorgfältig sein Gefühl vor der Beobachtung seines Freundes in seinem Innern und machte einen etwas gezierten Gebrauch von seinem Taschentuche.

»Das Herz geht einem auf bei diesem Anblick«, murmelte er. »Oh, mein geliebtes Mädchen! Sollen wir ihr verraten, Mr. Jonas, daß wir hier sind?«

»Es wird wohl nichts anderes übrigbleiben«, entgegnete dieser, »außer Sie wollen den Abend im Stall oder in der Kutschenremise zubringen.«

»Nein, nein, für eine solche Art Gastfreundschaft sind Sie mir denn doch zu kostbar, mein Freund«, rief Mr. Pecksniff. Dann holte er tief Atem, klopfte an das Fenster und rief mit Stentorstimme:

»Buh!«

Cherry ließ die Feder fallen und schrie laut auf. Aber ein unschuldiges Herz ist immer kühn oder sollte es wenigstens sein. Mutig öffnete sie die Tür und rief mit fester Stimme und der Geistesgegenwart, die sie sogar in kritischen Augenblicken nie verließ: »Wer da! Wer da! Was wollen Sie! Sprechen Sie, oder ich rufe meinen Pa –«

Mr. Pecksniff breitete die Arme aus; im Augenblick erkannte ihn Cherry und warf sich an seine Brust.

»Es war unüberlegt von uns, Mr. Jonas! Sogar sehr unüberlegt«, sagte Mr. Pecksniff und streichelte seiner Tochter liebevoll das Haar. »Mein Liebling, du siehst, daß ich nicht allein bin.«

Nein, sie hatte es bis jetzt noch nicht gesehen – hatte nur ihren Vater gesehen. Doch jetzt erblickte sie auch Mr. Jonas. Errötend senkte sie das Köpfchen und hieß ihn willkommen.

»Aber wo ist Gratia?«

Mr. Pecksniff fragte nicht im Tone des Vorwurfs nach ihr, sondern nur mit Milde und einem leichten Anflug von Kummer. Sie lag droben auf dem Kanapee des Wohnzimmers und las. Ach! Für sie hatten häusliche Angelegenheiten keinen Reiz.

»Rufe sie herunter«, sagte Mr. Pecksniff sanft und ergeben. »Rufe sie herunter, mein Kind.«

Gratia wurde gerufen und kam verwirrt und mit zerknitterten Kleidern, da sie auf dem Sofa gelegen, sah aber deshalb nicht weniger vorteilhaft aus. Durchaus nicht, vielleicht sogar noch berückender.

»Ach, du lieber Gott!« rief das schalkhafte Kind, küßte ihren Vater auf beide Wangen und wendete sich dann zu ihrem Vetter. »Sie auch hier, Sie Ekel? Gott sei Dank, daß Sie wenigstens nicht meinetwegen gekommen sind!«

»Aha, immer noch so lebhaft wie sonst«, krächzte Jonas. »Ach, Sie Bosnickel!«

»Nichts da! Fort!« rief Gratia und drängte ihn zurück. »Zum Glück werde ich Sie nicht viel zu sehen kriegen. Aber jetzt marsch, um Himmels willen!« Da Mr. Pecksniff mit der Bitte dazwischen trat, Mr. Jonas möge gleich mit hinaufkommen, gehorchte der junge Mann dem Wunsch des Mädchens so weit, daß er ging. Trotzdem er dabei die schöne Cherry am Arme führte, konnte er doch nicht umhin, nach ihrer Schwester zu schielen und mit ihr, während sie die Treppe hinaufgingen, seine Schäkereien fortzusetzen. Im Zimmer oben angekommen, setzten sich alle vier nieder, und da die Mädchen sich glücklicherweise gerade heute etwas verspätet hatten, wurde in diesem Augenblick »zufällig« der Tee aufgetragen.

Mr. Pinch war nicht zu Hause, und so konnten sie ungestört beisammen sein und traulich miteinander plaudern. Jonas saß zwischen den beiden Schwestern und entwickelte seine Galanterie in der ihm eigentümlichen bestrickenden Weise. Es sei eine schwere Zumutung, sagte Mr. Pecksniff, als der Tee abgetragen wurde, eine so angenehme kleine Gesellschaft zu verlassen, da er aber auf seinem Zimmer einige wichtige Dokumente durchzusehen habe, so müsse er sich für eine halbe Stunde entschuldigen. Damit entfernte er sich und trällerte im Gehen ein Liedchen vor sich hin. Er war noch keine fünf Minuten fort, als Gratia, die abseits von ihrer Schwester am Fenster gesessen hatte, in ein halb unterdrücktes Lachen ausbrach und zur Türe eilte.

»Hallo!« rief Jonas. »Sie dürfen nicht weggehen!«

»Warum denn nicht?« fragte Gratia, stehenbleibend. »Liegt Ihnen denn so viel daran, Sie Ekel, daß ich hier bleibe?«

»Allerdings«, sagte Jonas, »ich gebe Ihnen sogar mein Wort darauf. – Ich muß mit Ihnen sprechen.«

Da sie trotzdem das Zimmer verließ, eilte er ihr nach und brachte sie nach einem kurzen Kampf, worüber sich Miss Cherry gewaltig ärgerte, wieder zurück.

»Wahrhaftig, Gratia«, verwies Charitas streng, »ich kann mich nicht genug über dich wundern. Auch die Abgeschmacktheit hat ihre Grenzen, meine Liebe.«

»Ich danke dir, mein Herzchen«, flötete Gratia süß und warf ihre Rosenlippen auf, »ich bin dir ungemein verbunden für deinen liebenswürdigen Rat. – Aber lassen Sie mich jetzt gehen, Sie Scheusal.« Diese neuerliche sanfte Bitte wurde ihr durch ein abermaliges zärtliches Manöver von Mr. Jonas abgerungen, der sie, atemlos, wie sie war, neben sich auf das Sofa zwang, so daß er jetzt zwischen die beiden Schwestern zu sitzen kam.

»Nun«, sagte er und faßte jede der beiden um die Taille, »jetzt habe ich beide Arme voll, was?«

»Einer davon wird morgen braun und blau sein, wenn Sie mich nicht loslassen«, warnte Gratia.

»Oho! Aus Ihrem Zwicken mache ich mir gar nichts«, spöttelte Jonas.

»Zwick ihn für mich, bitte!« rief Gratia. »Ich habe noch nie jemanden so gehaßt wie dieses Scheusal hier. Wirklich nicht.«

»Nein, nein, sagen Sie das nicht«, bat Jonas, »und lassen Sie jetzt beide das Zwicken. Ich habe im Ernst mit euch zu sprechen. Ich sage – Cousine Cherry –«

»Nun, was denn?« fragte Charitas spitzig.

»Ich muß ernsthaft mit Euch reden«, erklärte Jonas. »Es darf hier kein Mißverständnis herrschen. Ich wünsche, daß alles in Ordnung vor sich geht. Das ist doch wünschenswert für alle Teile, was?«

Die beiden jungen Damen hielten den Atem an. Mr. Jonas schwieg eine Weile und räusperte sich dann beklommen.

»Sie wird nicht glauben wollen, was ich sage; was, Cousine?« begann er wieder und drückte Cherry schüchtern an sich.

»Aber Mr. Jonas, wie kann ich denn das wissen, bevor ich gehört habe, um was es sich handelt. Das ist doch ganz unmöglich«, sagte Miss Charitas.

»Nun, sehen Sie«, sagte Jonas stockend. »Ihre Art ist, sich immer über die Leute lustig zu machen. Ich weiß, sie wird auch jetzt gleich wieder loslachen oder wenigstens so tun. Ich weiß das im voraus. Aber Sie können ihr doch sagen, daß ich’s im Ernst meine, Cousine. Was? Sie müssen zugeben, daß es so ist. Nicht? – Wenn Sie ehrlich sind«, setzte er überredend hinzu.

Keine Antwort!

Seine Kehle schien immer trockener zu werden und seine Zunge ihren Dienst zu versagen.

»Sehen Sie, Cousine Charitas«, fing er wieder an, »niemand als Sie kann bezeugen, was ich mir für Mühe gegeben habe, mit ihr beisammen zu sein, damals, als Sie beide in der Pension in London waren. Bei Todgers‘. Sie müssen mir bestätigen, wie angelegen ich es mir sein ließ, mit Ihnen näher bekannt zu werden, um auch sie kennenzulernen, ohne daß es den Anschein gewann, als sei dies meine Absicht. Ich habe Sie immer nach ihr gefragt und wohin sie gegangen sei, wann sie komme, warum sie so lebhaft sei, und alles das. Ist’s nicht so, Cousine? Ich weiß, Sie werden’s ihr sagen – wenn Sie es nicht schon getan haben – und – und – ich wette, Sie haben’s schon getan; denn ich weiß, wie ehrlich Sie sind, was?«

Immer noch kein Wort.

Der rechte Arm von Mr. Jonas – die ältere Schwester saß zu seiner Rechten – hätte ein gewisses ungestümes Pochen empfinden können, das von ihrem Pulse herrührte, aber sonst verriet Charitas nicht, daß seine Rede auch nur die mindeste Wirkung auf sie ausgeübt hätte.

»Aber wenn Sie’s auch für sich behalten und ihr nichts davon gesagt haben«, nahm Jonas seine Rede wieder auf, »so liegt nichts daran, weil Sie mir’s ja jetzt ehrlich bestätigen können. Was? – Wir sind von Anfang an die besten Freunde gewesen, oder nicht? Und wir werden’s natürlich auch in Zukunft bleiben, und deshalb spreche ich auch ganz frei von der Leber weg. – Cousine Gratia, Sie haben gehört, was ich sagte. Sie wird es bestätigen, jedes Wort – also: Wollen Sie mich zum Mann oder nicht?«

Als Jonas bei diesen Worten Charitas losließ, um seine Frage mit besserm Nachdruck anbringen zu können, sprang diese auf und eilte nach ihrem Zimmer, dabei so leidenschaftliche und unzusammenhängende Töne hervorstoßend, wie sie nur einem verschmähten Weibe im Zorne möglich sind.

»Lassen Sie mich los – ich muß ihr nach –« rief Gratia, stieß Jonas zurück und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

»Nicht, bis Sie ›ja‹ sagen – Sie haben mir noch nicht geantwortet. Wollen Sie mich zum Manne haben?«

»Nein. Ich will nicht. Nicht sehen kann ich Sie, das habe ich Ihnen schon hundertmal gesagt. Sie sind eine abscheuliche Vogelscheuche, und außerdem habe ich immer gedacht, Sie hätten’s auf meine Schwester abgesehen. Wir alle waren dieser Meinung.« »Das ist doch nicht meine Schuld«, stotterte Jonas.

»Freilich ist’s Ihre Schuld, wessen denn?«

»In der Liebe sind alle Kunstgriffe erlaubt«, versetzte Jonas. »Es ist ja möglich, daß sie geglaubt hat, ich hätte es auf sie abgesehen, aber Sie wußten doch, daß es nicht so ist.«

»Nein!«

»Ja, Sie haben es gewußt! Sie können doch nicht geglaubt haben, daß sie mir gefiele!«

»Über Geschmack läßt sich nicht streiten«, wich Gratia geschickt aus. »jedenfalls will ich nichts darüber sagen. Übrigens weiß ich nicht, was ich weiter hier sollte. Lassen Sie mich, ich muß zu ihr!«

»Sagen Sie ›ja‹, und ich lasse Sie sofort los!«

»Wenn ich das je über mich gewinnen könnte, so geschähe es bloß, um Sie mein ganzes Leben über hassen und plagen zu können.«

»Das ist so gut wie ein Jawort! Also die Sache ist abgemacht, Cousine! Wenn’s je ein Paar gegeben hat, das zusammenpaßt, so sind wir’s.« Auf diese galante Rede folgte wieder ein wirres Getöse von Küssen und Ohrfeigengeklatsch, und dann riß sich die schöne, aber jetzt ziemlich zerzauste Gratia los und eilte ihrer Schwester nach.

Daß ein Ehrenmann wie Mr. Pecksniff an der Türe gehorcht haben könnte, ist ausgeschlossen, und so läßt sich daher vermuten, daß er, von einem Scharfsinn wie eben nur dem seinigen geleitet, durch eine Art seelischer Inspiration erriet, wie die Sache stand, möglich aber auch, daß ihn der pure Zufall gerade zur richtigen Zeit an den Ort hinführte – was bei der besondern Obhut der Vorsehung, unter der er stand, recht gut denkbar war –, jedenfalls erschien er in demselben Augenblick an der Türe, als die beiden Schwestern zusammentrafen.

Es war ein wunderbarer Gegensatz. Die Mädchen so erhitzt, lärmend und ungestüm, und er so ruhig, so kühl, so besonnen, so voller Friede, daß sich nicht ein Härchen auf seinem Kopfe rührte.

»Kinder«, sagte er, schloß vorsichtig die Türe, stellte sich mit dem Rücken dagegen und schlug dann verwundert die Hände zusammen. »Mädchen, liebe Kinder, was soll das?« »Der Elende! Der Treulose! Der falsche gemeine abscheuliche Schuft! Vor meinen Augen hat er Gratia um ihre Hand gebeten!« lautete die Antwort der ältern Tochter.

»Wer hat Gratia um ihre Hand gebeten?« fragte Mr. Pecksniff außer sich vor Erstaunen.

»Er! Dieses Scheusal! Dieser Jonas unten!«

»Jonas hat Gratia einen Antrag gemacht?« fragte Mr. Pecksniff. »Ja, was hör ich!«

»Sonst hast du nichts zu sagen?« schrie Charitas. »Soll ich vielleicht verrückt werden, Papa? Gratia, nicht mir hat er einen Antrag gemacht!«

»O pfui, pfui, schäme dich!« rief Mr. Pecksniff würdevoll. »Pfui, schäme dich! Kann der Triumph deiner Schwester dich zu so einem schrecklichen Ausbruch reizen, mein Kind? Oh, traurig! traurig! Es betrübt mich, es befremdet und verletzt mich, dich in solcher Stimmung zu sehen! – Gratia, mein Kind, Gottes Segen auf dein Haupt! Sieh nach ihr! Oh, oh, welch böse, böse Herzenseigenschaft!«

Und tief aufseufzend verließ er die Stube, abermals sorgsam die Türe hinter sich zumachend, und eilte schnell ins Wohnzimmer. Dort fand er seinen zukünftigen Schwiegersohn und streckte ihm beide Hände entgegen.

»Jonas!« rief er. »Jonas, der teuerste Wunsch meines Herzens ist erfüllt!«

»Na ja, schon gut. Freut mich zu hören«, versetzte Jonas. »Schon recht. – Aber wie wär’s, wo Sie schon die ›andere‹ nicht so besonders mögen, daß Sie da noch mit einem fünften Tausender herausrückten? Sie müssen ungrad grad sein lassen. Bedenken Sie, Sie können ja Ihren Augapfel jetzt zu Hause behalten! Sie kommen billig dabei weg und brauchen kein Opfer zu bringen.«

Das Grinsen, mit dem der liebenswürdige junge Mann diese Worte begleitete, ließ ihn zusammen mit seinen übrigen Reizen und Eigentümlichkeiten in so vorteilhaftem Licht erscheinen, daß sogar Mr. Pecksniff für den Augenblick ganz seine Geistesgegenwart verlor und ihn wie versteinert vor Erstaunen anstarrte. Bald jedoch gewann er seine Fassung wieder und war eben im Begriff, eine ausweichende Antwort zu geben, als sich draußen laute Fußtritte vernehmen ließen und Tom Pinch in großer Aufregung ins Zimmer stürzte, dann, als er bemerkte, daß Mr. Pecksniff mit einem Fremden in einem Privatgespräch begriffen sei, plötzlich sehr verwirrt dreinsah, aber immer noch mit einem Gesicht, als habe er etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.

»Mr. Pinch!« rief Pecksniff erregt. »Ihr Benehmen ist schwerlich anständig zu nennen. Sie müssen entschuldigen, daß ich Ihnen das so geradeheraus sage, aber ich denke wirklich, ein solches Benehmen ist kaum anständig zu nennen.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir, daß ich nicht angeklopft habe«, stotterte Tom.

»Bitten Sie lieber diesen Herrn um Verzeihung, Mr. Pinch«, rief Pecksniff. »Ich kenne Sie ja, aber bei ihm ist das nicht der Fall. – Erlauben Sie, Mr. Jonas, daß ich Ihnen meinen jungen Famulus, Mr. Pinch, vorstelle!«

Der Schwiegersohn in spe nickte leicht mit dem Kopf, wenn auch nicht gerade geringschätzig oder verächtlich, wie sonst in solchen Fällen, denn er war in ziemlich guter Stimmung.

»Erlauben Sie, könnte ich nicht ein Wort mit Ihnen sprechen, Sir?« fragte Tom atemlos. »Es handelt sich um etwas sehr Dringendes.«

»Nur etwas sehr Dringendes kann auch Ihr sonderbares Vorgehen rechtfertigen, Mr. Pinch«, sagte Mr. Pecksniff. »Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick, mein teurer Freund. – Nun, Sir, was ist der Grund dieses ungeschlachten Benehmens?«

»Wirklich, es tut mir sehr leid«, stammelte Tom, als er, die Mütze in der Hand, im Hausflur seinem Herrn und Gebieter gegenüberstand, »und ich weiß, es muß sehr ungeschlacht ausgesehen haben.«

»Allerdings hat es das, Mr. Pinch.«

»Ja, ja, ich fühle das, Sir. Aber, offen gestanden, war ich so überrascht, Sie zu sehen – und ich wußte, daß Sie es auch sein würden, Mr. Pecksniff –, daß ich, so schnell ich konnte, nach Hause eilte. Ich wußte kaum mehr, wo mir der Kopf stand und was ich tat. Ich war eben in der Kirche, Sir, und spielte zu meinem Vergnügen die Orgel, als ich mich zufällig umsah und bemerkte, daß ein Herr und eine Dame im Mittelgang standen und zuhorchten. Soviel ich in der Dunkelheit unterscheiden konnte, schienen es Fremde zu sein, und ich dachte schon, ich kennte sie nicht. Ich hörte daher auf und fragte sie, ob sie nicht nach der Orgelgalerie hinaufspazieren oder einen Sitz einnehmen möchten. Sie lehnten das ab, dankten mir aber für die Musik, die sie gehört hatten. Sie – sie –« bemerkte Tom errötend – »sie nannten es sogar eine köstliche Musik, wenigstens sie tat es. Und wirklich, das war eine größere Ehre und Freude für mich als alle Komplimente, die man mir hätte machen können. Ich – ich – ich bitte um Verzeihung, Sir –« er bebte dabei am ganzen Körper und ließ schon zum zweitenmal seinen Hut fallen. »Aber ich – bin etwas verwirrt und fürchte, daß ich vom Thema abgekommen bin.«

»Wenn Sie darauf zurückkommen wollen«, entgegnete Mr. Pecksniff eisig, »so werden Sie mich damit sehr verbinden.«

»Ja, Sir, gewiß, Sir«, stotterte Tom. »Sie hatten einen Wagen am Portal stehen, Sir, und hatten nur haltgemacht, um das Orgelspiel zu hören, wie sie sagten. Und dann sagten sie – ich meine sie sagte: ›Ich glaube, Sie wohnen bei Mr. Pecksniff?‹ Ich erwiderte, ich hätte diese Ehre, und nahm mir dann die Freiheit, Sir«, fügte er hinzu und erhob die Augen schüchtern zu dem Antlitz seines Wohltäters, »hervorzuheben, daß ich – was ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis immer hervorheben werde und muß – daß ich große Verpflichtungen gegen Sie habe und meinen Dank dafür nie genügend werde ausdrücken können.«

»Das«, versetzte Pecksniff streng, »war sehr sehr unrecht. Sie hätten sich dazu einen bessern Zeitpunkt wählen müssen, Mr. Pinch.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, hauchte Tom, »und dann fragten Sie mich – nämlich sie fragte mich –, ob es nicht einen Seitenweg zu Mr. Pecksniffs Hause gebe.«

Mr. Pecksniff horchte plötzlich auf.

»Einen Nebenweg, so daß man nicht an dem Drachen vorbei müßte. Ich bejahte und sagte, ich würde mich glücklich schätzen, ihnen denselben zeigen zu können. Sie schickten nun den Wagen auf der Straße weiter und kamen mit mir über die Wiesen her. Hierher. Ich verließ sie beim Wegweiser, um vorauszueilen und Ihnen mitzuteilen, daß sie kämen und gleich hier sein würden. – – In weniger als einer Minute«, fügte Tom tief aufatmend hinzu.

»Hm«, brummte Mr. Pecksniff nachsinnend. »Wer können wohl die Leute sein?«

»Gott steh uns bei, Sir!« rief Tom. »Ich dachte, ich hätte Ihnen dies gleich anfangs gesagt. Ich habe sie erkannt – ich meine die Dame –, und zwar sofort. Der Gentleman, Sir, ist derselbe, der im letzten Winter im Drachen krank lag, und die junge Dame ist seine Begleiterin.«

Tom klapperten die Zähne; vor Entsetzen wäre er beinah in die Erde gesunken, als er die außerordentliche Wirkung bemerkte, die diese Worte plötzlich auf Mr. Pecksniff ausübten.

Die Furcht, die Gunst des alten Mr. Chuzzlewit fast ebenso schnell, als er sie gewonnen, bloß durch den Umstand zu verlieren, daß er Jonas im Hause hatte – dann die Unmöglichkeit, seinen Schwiegersohn in spe fortschicken, ihn einsperren oder an Händen und Füßen gebunden in einen Kohlenkeller stecken zu können, ohne ihn für alle Zeit unheilbar zu verletzen und zu kränken – ferner die schreckliche Uneinigkeit, die im Hause herrschte, und die Unmöglichkeit, zwischen der in Krämpfen liegenden Charitas, der aufs äußerste verwirrten Gratia und dem im Besuchszimmer sitzenden Jonas ein halbwegs anständiges Einvernehmen herstellen zu können – die völlige Hoffnungslosigkeit, diesen Zustand häuslicher Verwirrung bemänteln oder plausibel erklären zu können, kurz, das plötzliche Zusammentreffen aller dieser nur erdenklichen unangenehmen Verwicklungen, deren Entwirrung nur mit der Zeit möglich war, wie er glaubte, alles dies erfüllte den fassungslosen Architekten mit einem solchen Entsetzen, daß er und Tom sich gegenseitig nicht hätten mit wildern Blicken ansehen können, als wenn auf seinen Schultern ein Gorgonenhaupt gesessen hätte.

»Ach Gott! Ach Gott!« jammerte Tom. »Was habe ich getan! Ich hoffte, es würde eine angenehme Überraschung für Sie sein, Sir, und meinte, Sie würden sich über diese Nachricht freuen.«

In diesem Augenblick ertönte ein lautes Klopfen an der Hallentüre.

21. Kapitel


21. Kapitel

Einige weitere Erfahrungen in Amerika. Martin nimmt sich einen Associé und entschließt sich zu einem Landkauf. Eden, wie es auf dem Papier aussieht. Auch etwas vom britischen Löwen

Das Klopfen an Mr. Pecksniffs Türe war zwar laut genug gewesen, hielt aber doch keinen Vergleich mit dem Geräusch eines amerikanischen Eisenbahnzuges in voller Eile aus. Es wird angebracht sein, das gegenwärtige Kapitel mit diesem freimütigen Zugeständnis zu eröffnen, damit sich der Leser nicht etwa denke, die Töne, die jetzt unsere Geschichte übertäuben werden, hingen auch nur entfernt mit dem Klopfen an Mr. Pecksniffs Türe zusammen oder mit der großen Erregung, in die sein kräftiger Schall sowohl diesen Ehrenmann wie auch Mr. Pinch versetzt hatte.

Mr. Pecksniffs Haus liegt jetzt mehr als tausend Meilen weit von uns entfernt, und unsere Erzählung atmet wieder die heilige Luft der amerikanischen Unabhängigkeit.

Die Räder rasseln und dröhnen und die Schienen schüttern, wie der Zug über sie hinwegbraust. Aufschreit die Maschine, als würde sie gepeitscht und gequält wie ein lebender Arbeiter und winde sich in Todesqualen. Leere Einbildung! Stahl und Eisen gelten unendlich viel mehr in dieser Republik als Fleisch und Blut. Wenn man dem sinnreichen Werk der Menschenhand mehr zumutet, als es ertragen kann, so trägt es die Nemesis in sich, während das unselige Geschöpf Gottes nicht so leicht gefährlich wird und sich mißbrauchen, biegen und brechen läßt, ganz nach seiner Unterdrücker Belieben. Wie hoch steht die Maschine dagegen! Es würde jemand mehr Dollars Strafe kosten, wenn er aus Übermut diese gefühllose Metallmasse ruinierte, als wenn er zwanzig Menschenleben aufs Spiel setzte oder ausbeutete. Gleichgültig blinzeln in solchen Fällen die Sterne aus dem Banner Amerikas hernieder, und die Freiheit zieht ihre Mütze über die Augen und begrüßt die Unterdrückung in ihrer scheußlichsten Gestalt als ihre leibliche Schwester.

Der Maschinist, der den Eisenbahnzug führte, quälte sich vermutlich nicht mit derartigen Betrachtungen ab, wie es überhaupt nicht wahrscheinlich war, daß er seinen Geist mit Betrachtungen irgendwelcher Art zermarterte, wenigstens lehnte er mit verschränkten Armen, überschlagenen Beinen und eine Pfeife im Munde an der Seitenwand des Waggons und sah so steinern, ruhig und gleichgültig vor sich hin, als sei seine Lokomotive weiter nichts als ein Spanferkel. Nur hin und wieder drückte er durch ein Grunzen, so kurz wie seine Pfeife, seinen Beifall über irgendein besonders geschickt getroffenes Ziel von seiten seines Kollegen, des Maschinenheizers, aus, der sich damit die Zeit vertrieb, Holzklötze aus dem Vorratswagen zu nehmen und sie nach dem neben dem Bahnkörper weidenden Vieh zu schleudern. Aber trotz der großen seelischen Ruhe und des innern Friedens dieses Beamten ging der Zug doch mit leidlicher Schnelligkeit vorwärts. Holpernd und polternd zwar, aber das mußte sein, denn die Schienen waren nur lose und schlampig gelegt. Die Lokomotive zog drei große Wagen: einen für die Damen, den zweiten für die Herren, den dritten für die Neger. Der letztere war schwarz angestrichen. Wahrscheinlich aus Hochachtung für seine Passagiere. Martin und Mark Tapley saßen in dem vordersten, weil er der bequemste war und keine Damen mitreisten. Sie saßen beide Seite an Seite und waren eifrig in ein Gespräch vertieft.

»Sie sind also froh, Mark«, sagte Martin und sah seinen Begleiter ängstlich und forschend an, »daß wir New York im Rücken haben?«

»Ja, Sir, das bin ich. Und zwar sehr froh.«

»Es hat Ihnen also dort nicht gefallen?«

»Ganz im Gegenteil, Sir; die vergnügteste Woche, die ich je in meinem Leben verbrachte, war die in Pawkins‘ Speisehaus.«

»Und was halten Sie von unserer Zukunft?« fragte Martin mit einer Miene, die deutlich verriet, daß er dieser Frage eine Zeitlang ausgewichen war.

»Ich denke sie mir ungemein glänzend, Sir«, entgegnete Mark. »Einen bessern Namen als Eden kann ein Ort auf Erden doch nicht mehr haben. Kann es etwas Gescheiteres geben, als sich in Eden anzusiedeln? Und dann hab ich mir sagen lassen«, setzte er nach einer Pause hinzu, »daß es dort massenhaft Schlangen gibt. Da kann man wenigstens Ehre einlegen.« Er war weit entfernt davon, bei der Erinnerung an diese Information auch nur das mindeste Grauen zu äußern, seine Mienen heiterten sich vielmehr auf, und zwar in einem Grade, daß der Laie hätte glauben können, er habe sich ein ganzes Leben über nach der Gesellschaft von Schlangen gesehnt und begrüße nun entzückt die nahe bevorstehende Erfüllung seiner heißesten Wünsche.

»Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte Martin finster.

»Ein Offizier.«

»Gott, was sind Sie doch für ein alberner Mensch«, rief Martin und brach unwillkürlich in ein herzliches Lachen aus. »Ein Offizier? Die wachsen doch hier wie Pilze aus dem Boden.«

»Ja, ja, so wie die Vogelscheuchen in England, Sir«, fiel ihm Mark ins Wort. – »Die übrigens selbst eine Art von Militär sind. Ganz Rock und Weste und nur ein Stecken inwendig. Ja, ja. – Verzeihen Sie, Sir, ich kann manchmal nicht anders, ich muß fidel sein. – Also, es war einer von den Helden bei Pawkins‘, der mir das gesagt hat. Hab ich recht gehört, sagte er – nicht gerade durch die Nase, aber doch so, als hätte er einen Stöpsel darin – so wollen Sie nach Eden gehen? – Ja, ja, ich hab so was läuten hören, antwortete ich ihm. – Oh, sagte er, wenn Sie dort je zu Bett gehen sollten – Sie wissen, sagte er, man kann’s im Lauf der Zeit mit der fortschreitenden Zivilisation so weit bringen – so vergessen Sie nicht, ein Beil mitzunehmen. – Ich sah ihn ziemlich scharf an. Flöhe? fragte ich.«

»Ja, ja, und auch sonst noch was.«

»Vampire?« fragte ich.

»Ja, ja, und auch sonst noch was«, sagte er. »Moskitos vielleicht?«

»Ja, ja, und auch sonst noch was.«

»Und das wäre?« fragte ich.

»Schlangen«, sagte er, »Klapperschlangen. Und dann ist noch eine gewisse kleinere Sorte da, die verdammt auf Menschenfleisch geht. Aber das macht weiter nichts, sie gehören zur guten Gesellschaft. Nur die Schlangen«, sagte er, »werden Ihnen auf die Nerven gehen, und wenn Sie mal aufwachen und sehen eine auf Ihrem Bett«, sagte er, »aufrecht wie die Spirale von einem Pfropfenzieher, wenn er auf dem Handgriff aufsitzt, so schlagen Sie sie tot, denn dann geht’s um die Wurst.«

»Warum haben Sie mir denn das nicht früher gesagt?« rief Martin mit einer Miene, die von Marks Fröhlichkeit sehr bedeutend abstach.

»Habe nicht daran gedacht, Sir«, entschuldigte sich Mark. »So was geht einem zu einem Ohr hinein und zum andern wieder hinaus. Und dann, ach Gott, vielleicht war’s einer von einer andern Landaktien-Gesellschaft, der die Geschichte bloß aufgebracht hat, damit wir nach seinem Eden statt nach dem andern gehen möchten.«

»Allerdings immerhin ziemlich wahrscheinlich«, bemerkte Martin, »aufrichtig gesagt, ich hoffe es von ganzem Herzen.«

»Daran zweifle ich nicht, Sir«, entgegnete Mark, der, voll von dem beseligenden Eindruck der Anekdote auf sich selbst, einen Augenblick lang die wahrscheinliche Wirkung seiner Worte auf seinen Herrn nicht bedacht hatte. »Sei’s jetzt wie’s will, leben müssen wir.«

»Leben?« rief Martin. »Ja, ja, das ist leicht gesagt. Wenn wir nun aber einmal nicht aufwachen sollten, während die Klapperschlange auf unserm Bett Pfropfenzieher spielt, dann ist’s nicht so leicht getan.«

»Die Geschichte is’n Faktum«, sagte eine Stimme ihm so dicht ins Ohr, daß ihn der Hauch kitzelte; »ganz scheußlich wahr.«

Martin blickte zurück und bemerkte, daß ein Gentleman auf dem rückwärtigen Sitz seinen Kopf zwischen ihn und Mark gesteckt hatte und sein Kinn auf die Hinterlehne ihrer kleinen Bank aufstützte, um ihrem Gespräche zuzuhören. Seine Gesichtszüge waren so schlaff und leblos wie die der meisten Amerikaner, die sie bis jetzt gesehen, und seine Wangen so hohl, als ob er sie fortwährend einsaugte. Die Sonne hatte ihn – nicht gesund rot oder braun – sondern schmutzig gelb gebrannt. Seine kohlschwarzen Augen blinzelten halbgeschlossen unter den Lidern hervor, und selbst das mit einem Blick, der zu sagen schien: na, ihr werdet mich nicht überlisten, dazu müßtet ihr früher aufstehen. In der Linken hielt der Gentleman ein Stück Kautabak, das aussah wie ein Knochen oder wie ein Stück Käse, wie ihn die englischen Bauern lieben, und in der Rechten ein Federmesser. So ungeniert mischte er sich in den Dialog, als hätte man ihn eigens dazu aufgefordert, und so wenig schien er an die Möglichkeit zu denken, die Ehre seiner Bekanntschaft oder Einmengung in Privatgespräche könne unerwünscht kommen, wie ein Bär oder ein Büffel, wenn er ein paar Menschen überfällt.

»Ja, ja«, sagte er und nickte Martin als einem Barbaren aus der Fremde herablassend zu,»das ist scheußlich wahr. Ganz verdammtes Gezücht dort oben.«

Martin warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und schien nicht übel Lust zu haben, ihm eine schroffe Antwort zu geben, aber rasch genug erinnerte er sich, daß es klüger sei, mit den Wölfen zu heulen, wenn man schon einmal unter sie geraten ist, und lächelte mit der freundlichsten Miene, die er in der Eile aufsetzen konnte.

Der Gentleman sagte vorläufig kein Wort weiter, da er gerade damit beschäftigt war, sich ein Priemchen von seinem Tabakkuchen abzuschneiden, wobei er sich leise eins pfiff. Als er das Priemchen gehörig zugeschnitten, nahm er das alte aus dem Mund, legte es auf den Sitz zwischen Mark und Martin nieder und steckte sich dann das neue in die hohle Backe, wo es sich wie eine große welsche Nuß oder ein kleiner Borsdorfer Apfel ausnahm. Als er es zu seiner Zufriedenheit fand, steckte er die Spitze seines Messers in das alte Priemchen, hielt es den beiden unter die Augen und bemerkte, wie jemand, der sagen will, er kenne sich im Leben aus, es sei »verdammt ausgelutscht«. Dann schnellte er es fort, steckte sein Messer wieder in die Tasche und den Tabak in die andere, legte sich wie früher mit dem Kinn auf die Lehne, lobte das Muster von Martins Westenstoff und steckte die Pfote aus, um das Gewebe genauer zu befühlen.

»Wie heißt das?« fragte er.

»Wahrhaftig, ich habe keine Ahnung«, sagte Martin, »wie es heißt.«

»Wird wohl ’n Dollar die Elle kosten, was?«

»Wahrhaftig, ich weiß auch das nicht.«

»Wir hierzulande«, sagte der Gentleman verächtlich, »wissen ganz genau, was unsere Produkte kosten.« Da Martin auf diese Frage nicht näher eingehen zu wollen schien, trat eine Pause ein.

»Nun«, fing der Gentleman wieder an, nachdem er die beiden jungen Männer eine Weile lang impertinent angeglotzt hatte, »was macht die alte Schachtel?«

Tapley, der sofort erriet, daß das eine impertinente Anspielung auf die Königin Viktoria sein sollte, hatte schon eine scharfe Antwort auf der Zunge, aber Martin verhinderte ihn noch rechtzeitig daran, sie auszusprechen, indem er schnell einfiel:

»Sie meinen das Mutterland?«

»Natürlich«, war die Antwort. »Wie geht’s ihr? Macht sie wie gewöhnlich Fortschritte nach rückwärts, was? Na – also wie geht’s der Königin Viktoria?«

»Sehr gut, wie ich glaube«, sagte Martin.

»Sie schwankt also nicht in ihren königlichen Schuhen, wenn sie an morgen denkt«, bemerkte der Fremde, »was?«

»Ich wüßte nicht, warum.«

»Es wird ihr also nicht kalt über den Rücken laufen, wenn sie erfährt, was in diesem Erdteil vorgeht?«

»Nein«, sagte Martin. »Ich könnte einen Eid drauf leisten, glaube ich.«

Der Gentleman sah ihn an, als bemitleide er ihn wegen seiner Unwissenheit und seiner Vorurteile, und sagte:

»Na, Sir, ich kann Ihnen nur versichern, es gibt keine Dampfmaschine in den ganzen Vereinigten Staaten, die nach einer Kesselexplosion so hergenommen aussehen würde wie dieses jugendliche Geschöpf in ihrem Federdaunen-Boudoir im Tower von London, wenn sie die nächste Nummer von der Watertoast-Gazette zu Gesicht bekommt.«

Inzwischen hatten mehrere andere Gentlemen ihre Sitze verlassen und waren näher gerückt. Sie schienen höchlichst entzückt über diese Rede zu sein. Ein besonders hagerer Herr mit loser, zerdrückter Halsbinde, einer langen weißen Weste und einem schwarzen Überrock, der in der Gesellschaft eine Art Autorität zu sein schien, fühlte sich jetzt berufen, eine Erwiderung darauf zu geben:

»Mr. Lafayette Kettle!« sagte er und nahm seinen Hut ab. Es entstand ein Gemurmel.

»Mr. Lafayette Kettle, Sir!«

Mr. Kettle verbeugte sich.

»Im Namen dieser Gesellschaft, Sir, und im Namen unseres gemeinsamen Vaterlandes, im Namen der Sympathie für die gerechte Sache, die wir alle mitfühlen, danke ich Ihnen. Ich danke Ihnen, Sir, im Namen der Watertoast-Sympathizers, – ich danke Ihnen, Sir, im Namen der Watertoast-Gazette, und ich danke Ihnen, Sir, im Namen des gesternten Banners der großen Vereinigten Staaten für Ihre beredte, kategorische Auseinandersetzung. Und wenn ich, Sir«, fuhr er fort und stieß Martin mit dem Handgriff seines Regenschirmes an, um ihn zur Aufmerksamkeit zu ermahnen, da er gerade auf etwas horchte, was ihm Mark ins Ohr flüsterte; »wenn ich, Sir, an einem solchen Orte und zu solcher Gelegenheit mich unterfangen darf, mit meiner eigenen Ansicht das vorliegende Thema zu beleuchten, so möchte ich sagen, Sir, dem britischen Löwen müßten durch den edeln Schnabel des amerikanischen Adlers die Krallen ausgerissen werden. Er müßte auf der irischen Harfe und der schottischen Fiedel das Liedchen spielen lernen, das jede leere Muschel singt, die an den Gestaden des grünen Columbia liegt.«

Dann setzte sich der hagere Gentleman unter großem Beifall wieder nieder und schnitt ein höchst feierliches Gesicht.

»General Choke«, rief Mr. Lafayette Kettle, »Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen! Wahrhaftig ja. Aber der britische Löwe hat ein paar Repräsentanten hier, und ich möchte ganz gern eine Antwort von ihnen auf diese Bemerkung hören.«

»Sehr liebenswürdig«, spöttelte Martin, »daß Sie mir die Ehre erweisen, mich als einen Repräsentanten Englands anzusehen, aber ich kann Ihnen nur erwidern, ich habe nie gehört, daß die Königin Viktoria Ihre Watertoast-Gazette läse, und halte es auch nicht für sehr wahrscheinlich, daß es je der Fall sein wird.«

General Choke lächelte den übrigen zu und erklärte wohlwollend:

»Sie erhält die Gazette zugeschickt, Sir. – Sie wird ihr gratis zugeschickt.« »Aber wenn die Adresse auf den Tower von London lautet, wie ich Sie vorhin bemerken hörte, so dürfte die Königin die Zeitung schwerlich in die Hand bekommen«, entgegnete Martin, »denn sie residiert nicht im Tower.«

»Die Königin von England, Gentlemen«, bemerkte Mr. Tapley mit ausgesuchter Höflichkeit und zuckte dabei nicht mit einer Wimper, »wohnt für gewöhnlich im Münzamt, um auf das Geld achtzugeben. Sie hat ein Quartier von Amts wegen bei dem Lord-Mayor im Mansion House, aber sie logiert selten dort, weil im Wohnzimmer der Kamin raucht.«

»Mark«, verwies Martin, »ich muß Sie wirklich bitten, keine so verkehrten Angaben zu machen, wenn sie Ihnen auch noch so spaßhaft vorkommen mögen. Ich wollte bloß bemerken – wenn auch die Sache von sehr geringer Wichtigkeit ist –, daß die Königin von England zufällig nicht im Tower von London residiert.«

»General!« rief Mr. Lafayette Kettle. »Hören Sie?«

»General!« schrien mehrere andere. »General!«

»Ich bitte einen Augenblick um Ruhe!« rief General Choke und erhob mit faszinierender Liebenswürdigkeit die Hand. »Ich habe stets bemerkt, und es ist ein sehr seltsamer Umstand, den ich der Natur der britischen Staatseinrichtungen und ihrer Tendenz zuschreibe, allüberall die Aufklärung zu unterdrücken, und eine Tatsache, von der man selbst in den pfadlosen Wäldern dieses ungeheuern westlichen Festlandes genau weiß – nämlich, daß die Briten selbst über derlei Sachen unvergleichlich schlechter unterrichtet sind als unsere intelligenten und fortschrittsgewaltigen Bürger. Der vorliegende Fall ist äußerst interessant und bestätigt meine Beobachtung. Wenn Sie sagen, Sir«, fuhr er zu Martin gewendet fort, »daß ihre Königin nicht im Tower von London residiert, so teilen Sie einen Irrtum, der unter Ihren Landsleuten nicht ungewöhnlich ist; selbst unter solchen, deren geistige und moralische Fähigkeiten das Durchschnittsmaß übersteigen. Aber, Sir, Sie sind im Unrecht. In Wirklichkeit wohnt sie dort –«

»Wenn sie sich nämlich am Hofe von St. James aufhält«, unterbrach ihn Kettle.

»Natürlich. Wenn sie sich am Hofe von St. James aufhält«, bekräftigte der General in seiner wohlwollenden Weise, »denn, wenn sie im Windsor-Pavillon ihre ›Location‹ hat, kann sie nicht zu gleicher Zeit in London sein. – – Aber der Tower von London, Sir«, fuhr der General, durchdrungen von seiner hohen geistigen Überlegenheit fort, »ist naturgemäß ihre königliche Residenz. Da er in unmittelbarer Nähe der Parks, der Triumphbogen, des Opernhauses und der königlichen Almacks gelegen ist, so ergibt sich’s von selbst, daß er der geeignetste Ort für eine schwelgerische und gedankenlose Hofhaltung ist. Folglich«, schloß der General, »folglich wird dort Hof gehalten.«

»Sind Sie jemals in England gewesen?« fragte Martin.

»Ich kenne es nur aus Zeitschriften, Sir. Wir sind hier ein sehr belesenes Volk, Sir. Sie werden uns so unterrichtet finden, daß es Sie in Erstaunen versetzen wird.«

»Ich zweifle nicht im mindesten daran«, gab Martin doppelsinnig zu.

Er wollte noch irgend etwas hinzusetzen, aber Mr. Lafayette Kettle unterbrach ihn flüsternd:

»Sie kennen doch General Choke?«

»Nein«, versetzte Martin ebenso leise.

»Aber Sie wissen, wofür er allgemein gilt?«

»Für einen der ersten Köpfe des Landes«, sagte Martin aufs Geratewohl.

»Richtig! Das ist ein ›Fakt‹«, nickte Mr. Kettle. »Ich war von vornherein überzeugt, daß Sie von ihm gehört haben müßten.«

»Ich glaube übrigens«, wendete sich Martin wieder an den General, »in der angenehmen Lage zu sein, ein Empfehlungsschreiben an Sie zu besitzen – von Mr. Bevan aus Massachusetts«, setzte er hinzu und zog einen Brief hervor.

Der General nahm ihn entgegen, las ihn aufmerksam durch und hielt nur zuweilen inne, um sich die beiden Fremden genauer zu betrachten. Als er zu Ende gekommen war, rückte er zu Martin hinüber, setzte sich neben ihn und reichte ihm die Hand.

»So«, sagte er, »Sie gedenken also, sich in Eden niederzulassen?«

»Das hängt von Ihrer Meinung und dem Rate des Agenten ab«, versetzte Martin. »Man sagte mir, in den alten Städten sei nichts zu machen.« »Ich kann Sie bei dem Agenten einführen, Sir«, sagte der General. »Ich kenne ihn persönlich. Überdies bin ich selbst Mitglied der Landkorporation von Eden.«

Dies war für Martin eine betrübende Neuigkeit, denn Mr. Bevan hatte einen großen Nachdruck darauf gelegt, daß der General seines Wissens in keiner Beziehung zu irgendeiner Landkompagnie stehe und ihm daher wahrscheinlich einen sehr uneigennützigen Rat würde erteilen können. Wie sich jetzt herausstellte, war der General aber der Gesellschaft erst vor einigen Wochen beigetreten, und Mr. Bevan hatte inzwischen weder persönlich noch schriftlich mit ihm verkehrt.

»Wir haben nur sehr wenig zu riskieren«, beeilte sich Martin zu erklären. – »Nur einige wenige Pfunde. – Aber es ist unser ganzes Vermögen. Glauben Sie also, daß ein Mann von meinem Fach dort einigermaßen Hoffnung oder Aussicht hat?«

»Ha«, entgegnete der General ernst, »wenn keine Hoffnung oder Aussicht in der Spekulation läge, so würde ich, sollte man annehmen, meine Dollars nicht dabei angelegt haben.«

»Ich meine nicht für die Verkäufer«, betonte Martin, »ich meine für die Käufer.«

»Für die Käufer, Sir!« versetzte der General mit großem Nachdruck. »Nun ja, Sie kommen aus einem alten Lande – aus einem Lande, Sir, das die goldnen Kälber zur Höhe des Turms zu Babel aufgehäuft hat und sie seit Jahrtausenden anbetet. Wir sind ein neues Land, Sir. Der Mensch lebt hier mehr in seinem primitiven Zustande, Sir. Wir haben hier nicht die Entschuldigung, daß wir im Laufe der Zeit in Entartung versunken sind. Wir haben auch keine falschen Götter. Der Mensch, Sir, ist hier Mensch in seiner ganzen Würde. Dafür, und für sonst nichts, haben wir gefochten. Hier stehe ich, Sir«, rief der General und spannte seinen Regenschirm auf, um besser zu repräsentieren, »hier stehe ich mit grauen Haaren, Sir, von Moralgefühl durchdrungen vom Scheitel bis zur Sohle. Würde ich bei meinen Grundsätzen mein Kapital in dies Unternehmen gesteckt haben, wenn ich es nicht für hoffnungsvoll und segensreich für meinen Nächsten und Bruder hielte?« – Martin konnte nur mit großer Mühe ein überzeugtes Gesicht machen, denn er mußte fortwährend an New York denken. »Wozu wären die großen Vereinigten Staaten da, Sir«, fuhr der General fort, »wenn nicht für die Wiedergeburt des Menschen? Doch es ist ganz natürlich, daß Sie eine solche Frage stellen, denn Sie kommen aus England und kennen unser Vaterland nicht.«

»Sie glauben also«, fragte Martin weiter, »daß sich, abgesehen von den Mühseligkeiten, auf die wir natürlich gefaßt sind, ein leidlicher Platz – weiß Gott, wir machen keine großen Ansprüche – für uns dort finden läßt?«

»Ein leidlicher Platz in Eden, Sir!? Aber ich sehe schon, Sie müssen mit dem Agenten sprechen. Sehen Sie sich die Landkarten an – die Pläne, Sir, und dann mögen Sie selbst urteilen und aus der Art und Weise der Ansiedlung schließen, ob Sie gehen oder bleiben wollen. – Eden hat noch nicht nötig, Sir, betteln zu gehen«, bemerkte der General stolz.

»Es ist ein ungeheuer anmutiger Ort, gewiß, und schrecklich gesund obendrein«, mischte sich Mr. Kettle ins Gespräch.

Martin fühlte, daß es höchst ungentlemanlike und unschicklich wäre, die Wahrheit eines solchen Zeugnisses zu bestreiten, bloß weil er sich eines gewissen Argwohns nicht enthalten konnte. Er dankte daher dem General für sein Versprechen, ihn mit dem Agenten persönlich bekannt zu machen, und beschloß, diesen Beamten schon am nächsten Morgen aufzusuchen. Dann fragte er, wer die Watertoast-Sympathizers wären, von denen er vorhin gehört, und in welcher Beziehung diese Gesellschaft eigentlich ihre »Sympathie« an den Tag lege. Darauf machte der General ein sehr ernstes Gesicht und entgegnete, Martin könne sich hinsichtlich dieses Punktes vollkommen Aufklärung verschaffen, wenn er morgen einem großen Meeting der Korporation beiwohnen wolle, das in der Stadt, nach der sie führen, stattfinden werde, »und bei dem ich, Sir«, sagte er, »zu präsidieren von meinen Mitbürgern berufen worden bin.«

Spät abends langten sie an dem Ziel ihrer Reise an. Dicht am Bahnkörper stand ein ungeheures weißes Gebäude, wie ein häßliches Lazarett aussehend, mit der Aufschrift: National Hotel. An der Fassade lief eine hölzerne Galerie oder Veranda entlang, auf der man merkwürdigerweise, als der Zug anhielt, eine Menge von Stiefeln und Schuhen und den Rauch von sehr viel Zigarren, aber sonst keine Spur und kein Zeichen von der Gegenwart von Menschen gewahrte. Allmählich jedoch tauchten einige Köpfe und Schultern empor, die mit den Stiefeln und Schuhen in Verbindung standen und entdecken ließen, daß einige Hotelbewohner den Einfall gehabt hatten, ihre Fersen dorthin zu legen, wo die Gentlemen anderer Länder gewöhnlich ihre Köpfe hintun, um auf diese Weise die Abendkühle zu genießen.

Das Hotel hatte eine große Schenkstube und ein großes Gastzimmer, in dem soeben der Tisch für sämtliche Gäste zum Souper gedeckt wurde. Da gab es endlose geweißte Treppen, lange geweißte Galerien, zu ebener Erde eine Masse kleiner geweißter Schlafzimmer und eine Veranda zu jedem Stock im Hause, das im ganzen aus einem großen Ziegelbau bestand, und ferner einen unwirtlichen Hofraum in der Mitte, wo gerade Wäsche zum Trocknen aufgehängt war. Hie und da lungerten einige Gentlemen, gähnend und die Hände in den Taschen, herum. Aber wo immer, in oder außer dem Hause, ein halbes Dutzend Menschen beisammen stand, wiederholten sich hinsichtlich Aussehen, Tracht, Sitten, Manieren, Gewohnheiten und Reden die Jefferson Bricks, die Oberst Divers, die Major Pawkins‘, die General Chokes und die Herren Lafayette Kettle bis zum Überdruß. Sie benahmen sich ganz so wie diese, sprachen dasselbe, beurteilten alles nach demselben Maßstab und reduzierten alles auf denselben Wert. Da Martin jetzt vollauf Gelegenheit hatte zu beobachten, wie sie lebten und wie entzückt sie stets voneinander waren, begann schließlich sogar auch er zu begreifen, daß sie wirklich die geselligen, gemütlichen und gewinnenden Leute sein müßten, als die man sie zu schildern pflegte.

Bei dem wüsten Klange eines mißtönenden Gongs strömte die liebenswürdige Gesellschaft aus allen Teilen des Hauses nach dem Speisesaal, und auch aus den benachbarten Magazinen kamen Gäste in Haufen hervor, denn die halbe Stadt, sowohl die verheiratete wie auch die unverheiratete, wohnte im National Hotel. Tee, Kaffee, getrocknetes Fleisch, Zunge, Schinken, Mixed Pickles, Kuchen, geröstete Brotscheiben, Eingemachtes und Brot mit Butter wurden mit rasender Hast verschlungen, und dann gingen die Gäste, wie gewöhnlich, paarweise ab oder schlenderten zum Schreibpult im Kontor oder nach der Schenkstube. Die Damen hatten eine eigene kleinere Table d’hôte, zu der ihre Gatten und Brüder, wenn sie gerade wollten, zugelassen wurden; sonst aber unterhielten sie sich genau wie bei Pawkins‘.

»Nun, Mark, mein guter Junge«, sagte Martin, als er die Türe seines kleinen Zimmers zumachte, »wir müssen uns jetzt ernstlich beraten. Morgen früh soll sich unser Schicksal entscheiden. Sind Sie also entschlossen, Ihre Ersparnisse bei dem gemeinsamen Ankaufe anzulegen?«

»Wenn ich nicht willens wäre, ein solches Wagnis zu unternehmen, Sir«, antwortete Mr. Tapley, »so wäre ich nicht mitgekommen.«

»Wieviel sagten Sie, daß Sie besäßen?« fragte Martin und wog einen kleinen Beutel in der Hand.

»Siebenunddreißig Pfund, zehn Schillinge und sechs Pence. Wenigstens sagte man mir das auf der Sparbank – ich habe es natürlich nie nachgezählt. Die dort müssen’s doch am besten wissen« sagte Mark kopfschüttelnd und legte damit seine unbegrenzte Zuversicht zu der Weisheit und Rechenkunst derartiger Einrichtungen an den Tag.

»Das Geld, das wir mitgebracht haben«, erklärte Martin, »ist auf einige Schillinge weniger als acht Pfund zusammengeschmolzen.«

Mr. Tapley lächelte und blickte nach allen möglichen Richtungen, damit Martin nicht glauben möge, er lege diesem Umstand irgendwelchen Wert bei.

»Auf den Ring – ihren Ring –«, fuhr Mr. Chuzzlewit fort und warf einen kläglichen Blick auf seine eigenen ungeschmückten Finger.

»Ach«, seufzte Mr. Tapley. – »Sie entschuldigen schon, Sir, daß ich seufze.« »– borgten wir uns in englischem Gelde vierzehn Pfund aus. Sie ersehen daraus, daß Ihr Anteil noch bei weitem der größere ist. Nun, Mark«, setzte Martin in seiner alten leichtfertigen Weise hinzu, etwa so wie er mit Tom Pinch gesprochen haben würde, »ich habe über Mittel nachgedacht, wie wir dies ausgleichen – hoffentlich sogar mehr als ausgleichen – und Ihre Aussichten im Leben wesentlich heben könnten.«

»Ich bitte, sprechen Sie nicht davon«, rief Mark, »Sie wissen doch, es ist mir um eine solche Hebung nicht zu tun. Ich bin mit allem zufrieden.«

»Nein, nein, hören Sie mich bis zu Ende«, sagte Martin, »denn es ist für Sie sehr wichtig und für mich eine große Beruhigung. Also, Mark, Sie sollen mein Associé im Geschäft sein, und zwar mit mir zu gleichen Teilen. Als weiteres Kapital werfe ich meine Fähigkeiten und technischen Kenntnisse in die Waagschale. Solange es dann geht, soll die Hälfte des ehrlichen Gewinns Ihnen gehören.« Der arme Martin, der wie immer Luftschlösser baute und sogar in seiner Selbstsucht alles vergaß, bloß seine Hoffnungen und sanguinischen Pläne nicht, schwelgte einen Augenblick in dem hohen Bewußtsein, durch seinen Schutz Mark aufs großartigste belohnt zu haben.

»Ich weiß nicht, Sir«, versetzte Mark mit trüberer Miene, als sonst seine Gewohnheit war – wenn auch nicht aus dem Grunde, wie Martin vermutete – »was ich darauf sagen soll, um Ihnen meinen Dank auszudrücken. Ich kann Ihnen eben nur nach besten Kräften dienen, Sir. Das ist alles.«

»Wir verstehen uns vollkommen, guter Freund«, sagte Martin mit immer wachsender Selbstzufriedenheit und Herablassung. »Wir sind jetzt nicht mehr länger Herr und Diener, sondern Freunde und Associés, und das muß uns beiden nur zustatten kommen. Entscheiden wir uns für Eden, so soll das Geschäft sofort gegründet werden, sobald wir dort ankommen. Und zwar unter der Firma: Chuzzlewit & Tapley.«

»Nein, nein«, rief Mark, »ich verstehe mich nicht auf solche Sachen, Sir, und deshalb muß ich ›Co‹ bleiben. Ich habe mir oft gewünscht«, setzte er mit leiser Stimme hinzu, »gern einmal einen Kompagnon kennenzulernen, habe mir aber nie träumen lassen, daß ich es erleben sollte, jemals selbst einer zu sein.«

»Ganz, wie Sie wollen, Mark.«

»Ich danke Ihnen, Sir. Ja, wenn dortherum irgendein Herr vom Lande oder vom Wirtshausfach oder so etwas Ähnlichem eine Kegelbahn würde errichten wollen, diesen Teil des Geschäftes könnte ich allenfalls übernehmen.«

»Und darin jeden Architekten in den Vereinigten Staaten ausstechen«, lachte Martin. »Holen Sie ein paar Gläser Sherry-Cobbler, damit wir auf das Gedeihen der Firma trinken können.«

Offenbar hatte er, wie es auch später noch oft geschah, bereits vergessen, daß nicht länger das Verhältnis zwischen Herr und Diener bestand, oder er betrachtete diese Art von Obliegenheiten als eine dem Kompagnon zukommende Funktion. Mark gehorchte jedoch mit seiner gewohnten Bereitwilligkeit, und noch ehe sie zu Bette gingen, wurde zwischen ihnen beschlossen, daß sie am nächsten Morgen zusammen zum Agenten gehen wollten. Natürlich sollte es dabei dem Urteile Martins überlassen bleiben, über die Frage hinsichtlich des Ankaufs von Land in Eden zu entscheiden, und Mark rechnete sich dieses Zugeständnis nicht einmal in seiner Heiterkeit als Verdienst an, da er wohl wußte, es müsse am Ende doch so oder so darauf hinauslaufen.

Am nächsten Morgen erschien der General gleichfalls unter der Gesellschaft im Speisesaal und machte gleich nach dem Frühstück den Vorschlag, unverzüglich den Agenten aufzusuchen. Da dies auch der sehnlichste Wunsch der beiden jungen Leute war, machten sie sich alle drei sofort auf den Weg zu dem Bureau, das nur einen Büchsenschuß vom National-Hotel entfernt lag.

Es war eine kleine Wohnung und sah ungefähr wie ein Zollwächterhäuschen aus. Aber schließlich: wieviel geht nicht oft in einen Würfelbecher. Warum sollte man nicht auch über ein ganzes Gebiet in einem Schuppen handelseinig werden können?! Überdies war es ja auch nur ein Interimsbureau, da das Unternehmen für seinen Geschäftsbetrieb ein prächtiges Etablissement plante, für das bereits der Grund abgesteckt war; was in Amerika bekanntlich schon viel heißen will. Die Türe des Kontors stand weit offen, und der Agent saß in einem Schaukelstuhl auf der Schwelle. Er mußte ein ungeheuer tüchtiger Geschäftsmann sein und mit Rapidität zu arbeiten verstehen, denn ersichtlich hatte er momentan nichts weiter zu tun, als sich behaglich hin und her zu schaukeln, das eine Bein an den Türpfosten gestemmt und auf dem andern sitzend, als ob er seine eigene Fußsohle ausbrüten wolle. Er war ein hagerer Mann mit einem ungeheuern Strohhut auf dem Kopf und in einen Rock aus grünem Stoff gekleidet. Wegen des heißen Wetters war er mit keiner Halsbinde geschmückt, und sein Hemd stand am Kragen weit offen, so daß man, wenn er sprach, immerwährend auf seiner Brust die Pulse zucken sah, wie die kleinen Hämmer in einem Piano, wenn die Noten angeschlagen werden. Vielleicht war es eine schwache Bemühung der Wahrheit, sich ihren Weg zu seinen Lippen zu bahnen. In diesem Falle erreichte sie leider freilich nie ihren Zweck.

Zwei graue Augen lauerten tief in dem Kopfe des Agenten, aber eines davon hatte die Sehkraft verloren und verhielt sich völlig teilnahmslos. Das verstärkte noch den Eindruck, als ob die eine Hälfte seines Gesichts auf das horchte, was die andere tat, und wenn die bewegliche Seite seines Gesichts in höchster Tätigkeit war, so blieb die starre im kältesten Zustand der Wachsamkeit. Es war, als hätte man das Inwendige des Menschen nach außen gekehrt, wenn man von diesem Standpunkte aus seine Physiognomie in ihrer lebhaftesten Erregung betrachtete.

Seine langen schwarzen Haare hingen in Strähnen gerade und straff herunter wie Peitschenschnüre, seine Brauen waren borstig und gesträubt, und die tiefen Krähenfüße um seine Augenwinkel gaben ihm ein gewisses raubvogelartiges Aussehen.

Das war der Mann, dem sie sich jetzt näherten und den der General mit dem Namen Mr. Scadder anredete.

»Schon recht, General«, brummte der Agent, »wie geht’s Ihnen?«

»Immer tätig und munter, Sir, im Dienste meines Vaterlandes und der guten Sache. – Zwei Gentlemen in Geschäften, Mr. Scadder.«

Der Agent schüttelte Martin und Mark die Hand, denn ohne das geht es bekanntlich nicht in Amerika, und fuhr dann fort, sich zu schaukeln.

»Nicht schwer zu erraten, in was für Geschäften Sie mir die Fremden herbringen, General.« »Ja, ja, Sir, das kann ich mir denken.«

»Sie sind ein Schwätzer, General. Sie reden zu viel, das ist ein ›Fakt‹,« sagte Scadder. »Sie sprechen erschrecklich gut in der Öffentlichkeit, aber in Privatsachen sollten Sie nicht immer gleich ein Renntempo vorlegen. – Nun?«

»Es handelt sich um –« fing der General an.

»Sie wissen doch, wir geben unsere Grundstücke nicht jedem Landstreicher, der darauf ein Angebot macht«, unterbrach Mr. Scadder abermals, »sondern geben sie nur an feine Leute ab. – Was?«

»Da wären die Herren hier die richtigen«, rief der General mit Wärme.

»Wenn’s so steht«, entgegnete der Agent in vorwurfsvollem Ton, »wozu da weiter reden, schade um die vielen Worte, General.«

General Choke flüsterte Martin zu, Mr. Scadder sei der biederste Mensch von der Welt. Nicht um zehntausend Dollars würde er ihn mit Absicht beleidigen wollen.

»Ich tue meine Pflicht und achte die Fürsprache meiner Mitmenschen, weil ich ihnen gerne eine Gefälligkeit tue«, fing Scadder wieder mit gedämpfter Stimme an, sah die Straße hinunter und schaukelte sich in seinem Lehnstuhl. »Aber man wirtschaftet übel, wenn man gegen meine Vorschläge, nicht so wohlfeil loszuschlagen, Einsprache erhebt. Doch das ist nun einmal Menschennatur. Sei es drum.«

»Mr. Scadder!« rief der General und warf sich in die Brust. »Sir, hier meine Hand und damit mein Herz. Ich achte Sie, Sir. Ich bitte um Entschuldigung, diese Gentlemen sind nun aber Freunde von mir, sonst würde ich sie nicht hergebracht haben. Ich weiß wohl, Sir, daß die Liegenschaften augenblicklich viel zu billig losgeschlagen werden, aber es sind Freunde, Sir – und zwar sehr gute Freunde von mir.«

Mr. Scadder war mit dieser Erklärung so zufrieden, daß er dem General mit Wärme die Hand drückte und sich zu diesem Zweck ein wenig aus seinem Schaukelstuhl erhob. Dann lud er den General samt dessen »besonders guten Freunden« ein, ihn in das Innere seines Bureaus zu begleiten. Der General bemerkte jedoch in seiner gewohnten wohlwollenden Weise, daß er als Teilhaber der Gesellschaft sich um keinen Preis in die Unterhandlung mischen dürfe, bemächtigte sich daher des Schaukelstuhls und sah hinaus auf die Straße wie ein wohltätiger Samariter, der auf einen Wanderer wartet, um ihn zu »ölen«.

»Hallo!« rief Martin erstaunt, als sein Blick auf einen großen Plan fiel, der die ganze Längswand des Zimmers bedeckte. – Sonst war nicht viel in dem Bureau zu sehen, höchstens noch einige geognostische und botanische Proben, ein oder zwei abgegriffene Kontorbücher, ein großes Schreibpult und ein Sessel. – »Hallo! Was ist denn das?«

»Das ist Eden«, erklärte Scadder und stocherte sich die Zähne mit einem kleinen Bajonett, das bei der Berührung einer Feder seines Messers hervorsprang.

»Ich hatte ja gar keine Ahnung davon, daß es eine Stadt sei.«

»Natürlich ist es eine Stadt.«

Ja, sogar eine blühende Stadt schien es zu sein, eine Stadt mit reichster Architektur. Da gab es Banken, Kirchen, Dome, Marktplätze, Fabriken, Hotels, Magazine, Rathäuser, Kais, eine Börse, ein Theater, kurz öffentliche Gebäude jeder Art bis auf die Expedition einer Tageszeitung herab. Alles getreulich abgebildet.

»Himmel, das ist ja ein höchst bedeutender Ort!« rief Martin und drehte sich erstaunt um.

»Ja, ja, höchst bedeutend«, bemerkte der Agent.

»Aber ich fürchte«, meinte Martin und warf wieder einen Blick auf die öffentlichen Gebäude, »daß mir hier nicht mehr viel zu tun übrig bleibt.«

»Na, es ist ja schließlich noch nicht alles ausgebaut«, brummte der Agent.

Das war ein großer Trost.

»Zum Beispiel der Marktplatz?« fragte Martin, »ist der schon ausgebaut?«

»Der?« wiederholte der Agent und steckte seinen Zahnstocher in ein anderes Spielzeug, das einen Wetterhahn auf einem Dachgiebel darstellte. »Lassen Sie mal sehen. – Nein, der ist nicht ausgebaut.«

»Das wäre ein gutes Geschäft für den Anfang, was, Mark?« flüsterte Martin seinem Begleiter ins Ohr und stieß ihn mit dem Ellbogen an.

Mark, der mit sehr dummem Gesicht abwechselnd den Plan und den Agenten betrachtet hatte, antwortete bloß: »Ungemein.«

Eine Totenstille folgte.

Mr. Scadder pfiff während der kurzen Ruhepausen seines Zahnstochers ein paar Strophen des Yankee Doodle und blies den Staub von dem »Dache des Theaters« ab.

»Ich nehme an«, sagte Martin und tat so, als denke er tief nach, verriet jedoch durch das Beben seiner Stimme, wieviel für ihn von der Antwort abhing, »ich nehme an, es sind wahrscheinlich viele Baumeister dort?«

»Nicht ein einziger«, versicherte Scadder.

»Mark«, flüsterte Martin und zupfte seinen Associé am Ärmel, »hören Sie? – Aber wessen Werk ist denn das alles, was wir hier vor uns sehen?« fragte er laut.

»Da der Boden so fruchtbar ist, so schießen die öffentlichen Gebäude vielleicht von selbst auf«, sagte Mark.

Er stand auf der »dunklen« Seite des Agenten, als er die Worte sprach, aber Mr. Scadder wechselte augenblicklich seinen Platz und wandte ihm seine belebte Profilseite zu.

»Befühlen Sie meine Hände, junger Mann«, sagte er.

»Wozu?« fragte Mark ablehnend.

»Sind sie schmutzig oder sind sie rein?« fragte Scadder und streckte die Finger aus.

Vom physischen Gesichtspunkte aus waren sie entschieden schmutzig, es fiel jedoch in die Augen, daß Mr. Scadder seine Worte in figürlichem Sinne meinte, quasi als Sinnbild seines moralischen Charakters, und Martin beeilte sich natürlich zu erklären, daß sie rein seien wie frisch gefallener Schnee.

»Mark«, sagte er dann etwas gereizt, »ich muß Sie bitten, Bemerkungen dieser Art, wenn sie auch an sich noch so harmlos und wohlgemeint sind, ein für allemal zu lassen. Sie sind hier nicht am Platz und können einem Fremden nicht angenehm sein. Ich muß sagen, mich überrascht Ihr Benehmen.«

»Aha, die Kompagnie wird schon lästig«, dachte Mark. »Aha, drum sagt man: Stiller Kompagnon!« Mr. Scadder schwieg, wandte dem Plan den Rücken und stieß seinen Zahnstocher einige dutzendmal wütend in sein Schreibpult, dabei Mark immer ansehend, als erstäche er ihn in effigie.

»Sie haben mir noch immer nicht geantwortet, wer diese Häuser eigentlich gebaut hat«, wagte Martin endlich mit sanftem versöhnlichem Tone zu fragen.

»Na, es kann Ihnen ja gleich sein, wessen Arbeit es ist. Oder nicht?« sagte der Agent mürrisch. »Möchte wissen, was Sie das kümmern sollte. Vielleicht hat sich der frühere Architekt auf und davon gemacht mit einem hübschen Häufchen Dollars in der Tasche. Vielleicht war’s auch ein Vagabund, ein Galgenstrick, vielleicht auch ein Tausendsappermentskerl – was weiß ich!«

»Daran sind Sie schuld, Mark«, flüsterte Martin vorwurfsvoll.

»Vielleicht«, fuhr der Agent fort, »sind das da keine Pflanzen, die in Eden gewachsen sind. Und vielleicht sind das Schreibpult und der Stuhl hier auch nicht aus Edener Bauholz. Vielleicht ist überhaupt gar keine Ansiedlung dort. Vielleicht ist es überhaupt gar kein Regierungsland oder es gibt gar keinen solchen Ort auf dem Gebiet der großen Vereinigten Staaten!«

»Na, hoffentlich sind Sie jetzt zufrieden mit den Wirkungen Ihrer Späße, Mark!« zürnte Martin

Zum Glück legte sich jetzt der General im richtigen Augenblick ins Mittel und rief von der Türe aus Scadder zu, er möge doch seinen Freunden etwas Näheres mitteilen über die Einzelheiten des gewissen kleinen, samt Haus nur fünfzig Acres betragenden Gutes, das vordem der Kompagnie gehört habe und ihr erst seit kurzem wieder zugefallen sei.

»Sie sind ein bißchen zu freigebig, General«, war die Antwort, »das Grundstück müßte jetzt viel teurer verkauft werden. – Jawohl!«

Trotzdem öffnete Mr. Scadder, wenn auch brummend, ein Buch, wandte aber diesmal stets seine belebte Gesichtsseite Mark zu, so unbequem es auch für ihn war, und legte dann Martin ein Blatt vor, worauf dieser, nachdem er es gierig betrachtet, schnell fragte:

»Wo auf dem Plane mag dieser Platz liegen?« »Auf dem Plane?«

»Ja.«

Der Agent trat vor die Landkarte an der Wand, dachte eine Weile lang nach, als ob er immer noch ärgerlich sei und entschlossen, bis aufs i-Tüpfelchen korrekt zu verfahren. Endlich, nachdem er seinen Zahnstocher mehreremal langsam in der Luft im Kreise herumgeschwenkt hatte, schoß er plötzlich damit wie eine eben losgelassene Brieftaube auf die Zeichnung los und stieß in den Mittelpunkt des großen Kais.

»Da«, sagte er und ließ das zitternde Messer in der Wand stecken, »da ist’s.«

Martin sah mit funkelnden Augen seinen Kompagnon an, und dieser begriff sofort, daß die Sache so gut wie abgemacht sei.

Trotzdem war der Handel nicht so leicht geschlossen, wie man hätte denken sollen, denn Mr. Scadder war kaustisch und übelgelaunt und machte alle möglichen Schwierigkeiten. Einmal ersuchte er die Herren, sich die Sache genau zu überlegen und nach einer Woche oder vierzehn Tagen wieder vorzusprechen; ein anderes Mal sagte er Martin voraus, es werde ihnen nicht gefallen – dann wieder wollte er überhaupt sein Anerbieten zurücknehmen und sich nicht mehr weiter in Verhandlungen einlassen; dabei verwünschte er murmelnd den törichten General mit den kräftigsten Ausdrücken. Schließlich wurde aber doch die erstaunlich kleine Kaufsumme – sie betrug nur hundertfünfzig Dollars oder etwas über dreißig Pfund von dem Kapitale, das die »Kompanie« in das Geschäft eingezahlt hatte – auf den Tisch gelegt, und Martin trug im Bewußtsein, ein Gutsbesitzer in der blühenden Stadt Eden geworden zu sein, sofort seinen Kopf so hoch, daß er fast damit an die Stubendecke des kleinen hölzernen Bureaus stieß.

»Wenn es Ihnen vielleicht nicht gefallen sollte«, sagte Mr. Scadder, als er Martin die Quittung für das erhaltene Geld einhändigte, »so dürfen Sie mir natürlich keinen Vorwurf machen.«

»Nein, nein, gewiß nicht«, versicherte Martin fröhlich. »Wir werden Ihnen gewiß keinen Vorwurf machen! – General, wollen wir jetzt gehen?«

Ich stehe zu Diensten, Sir. Ich wünsche Ihnen«, sagte der General und reichte Martin ernst und voller Herzlichkeit die Hand, »viel Freude an Ihrer Besitzung. Sie sind jetzt ein Bürger, Sir, des mächtigsten, zivilisiertesten Landes, das jemals die Sonne beschienen hat. Eines Staates, Sir, in dem das Band der Liebe und Treue den Menschen mit dem Menschen verknüpft. Mögen Sie sich Ihres Adoptiv-Vaterlandes würdig erweisen.«

Martin dankte ihm und verabschiedete sich von Mr. Scadder, der unmittelbar nach dem Aufstehen des Generals seinen Posten im Schaukelstuhl wieder eingenommen hatte und sich hin und her schaukelte, als ob er nie in seiner Ruhe gestört worden wäre. Mark blickte auf dem Wege nach dem National Hotel einige Male zurück, aber jetzt war ihm die Nachtseite des Agenten zugekehrt, auf der nichts als Aufmerksamkeit und Gedankenfülle zu lesen war. Wie sonderbar sich dieses Profil doch von dem andern unterschied! Mr. Scadder war kein Mann, der oft oder viel zu lachen pflegte, aber jetzt verzog sich jeder Zug in der Schrift der Krähenfüße um seine Augen und jede dünne kleine Ader, die sich über diese Hälfte seines Gesichtes schlängelte, zu einem seltsamen Grinsen. Das Bild »des Todes und der Dame« in der alten Ballade hatte keine so scharfen und so gräßlichen Gegensätze wie die beiden Gesichtshälften Mr. Zephania Scadders.

Der General eilte in Sturmschritt vorwärts, denn die Glocke schlug gerade zwölf, und genau um diese Stunde sollte das Meeting der Watertoast-Sympathizers in dem Speisesaal des National Hotels abgehalten werden. Da Martin ebenfalls dabei zu sein wünschte, um zu erfahren, was es damit für eine Bewandtnis habe, hielt er gleichen Schritt mit ihm und schloß sich – besonders beim Eintritt in die Halle – eng an ihn an. Dadurch gelangte er auf eine kleine Estrade von Tischen am obern Ende, wo ein Lehnstuhl für den General bereitstand und Mr. Lafayette Kettle als Sekretär mit wichtiger Miene einige Dokumente, offenbar Anträge oder Bittschreiben, entfaltete.

»Nun, Sir«, sagte Mr. Kettle und drückte Martin die Hand, »sie werden jetzt ein Schauspiel zu sehen bekommen, daß der britische Löwe den Schwanz zwischen die Beine nehmen und vor Angst laut aufheulen wird, denke ich.«

Martin hielt es allerdings für möglich, daß der britische Leu in dieser Arche Noah nicht recht in seinem Element wäre, aber er behielt seine Gedanken für sich. Sodann wurde der General auf Antrag eines bleichen Jünglings à la Jefferson Brick zum Präsidenten ernannt, und eine stark akzentuierte Rede, in der viel von Herz, von Heimat und Brechen von Tyrannenketten die Rede war, eröffnete die Sitzung.

Zweifellos hätte jetzt der britische Löwe seinen Schweif zwischen die Beine geklemmt, denn die Entrüstung des fanatischen jungen Columbiers kannte keine Grenzen. Wäre er nur einer seiner Vorfahren gewesen, sagte er, wie hätte er diesen Löwen gefesselt und ihm wie ein Tierbändiger mit der Drahtpeitsche Lehren eingebleut, die er nicht so leicht wieder vergessen haben würde. »Der Löwe!« schrie der junge Columbier, »wo ist er? Wer ist er? Was ist er? Man zeige mir ihn! Er soll herkommen! Hierher!« – der junge Columbier nahm eine Boxerstellung an – »hierher, auf diesen heiligen Altar«, fuhr er fort, den Speisetisch anredend, »der über der Asche unserer Vorfahren zusammengekittet ist mit dem glorreichen Blut, das wie Wasser vergossen worden auf den heiligen Ebenen von Chickabiddy Lik. Man bringe ihn hierher, den Löwen«, rief er, »ich trotze ihm – ich, ein einzelner Mann –, ich verhöhne diesen Löwen. Ich sage diesem Löwen, wenn sich einmal die Hand der Freiheit in seine Mähne klammert, so rollt er auf den Boden und liegt da wie eine Leiche, und der Adler der großen Republik lacht: ha, ha, ha!«

Wie zu erwarten, kam der Löwe nicht, sondern blieb hübsch weg. Der junge Columbier stand daher, die Arme verschränkt, einsam in seiner Glorie da, und mutmaßlicherweise lachten auch die Adler wild auf ihren Bergesspitzen. Aber dann brach ein solcher Jubelruf los, daß es hätte die Zeiger auf der Uhr der Horse-Guard-Kaserne erschüttern und den Hauptzeitmesser von Englands Metropole zu irrigen Angaben verleiten können.

»Wer ist das?« fragte Martin Mr. Lafayette Kettle durch Zeichen und Gebärden.

Der Sekretär nahm ein Stück Papier, schrieb mit ernstem Gesicht etwas darauf, wickelte es zusammen und ließ es ihm von Hand zu Hand zugehen. Es war wieder eine Variation des alten Themas: »Einer der hervorragendsten Köpfe unseres Landes.« Dem jungen Columbier folgte ein anderer Herr, der ebenso beredt war und durch seinen Schwung ganze Stürme von Beifall entfesselte. Da echte Poesie bekanntlich nie bei Details verweilen kann, vergaßen auch die beiden merkwürdigen Jünglinge in ihrer großen Erregung zu sagen, mit wem oder für was die Watertoasters sympathisierten, und Martin blieb daher geraume Zeit so völlig im dunkeln wie bisher, bis ihm endlich ein Licht aufging, als der Schriftführer des Klubs sein Buch aufschlug und die Einzelheiten der letzten Sitzungen verlas. Er erfuhr jetzt, daß die Watertoastassociation mit einem gewissen Volksführer Irlands sympathisierte, der hinsichtlich gewisser politischer Rechte mit England im Kampfe lag. Doch geschah das keineswegs deshalb, weil man Irland besonders geliebt hätte, sondern bloß aus Haß gegen England. Überhaupt waren die Leute schrecklich eifersüchtig und mißtrauisch gegen die Engländer und duldeten sie nur deshalb, weil sie schwer arbeiteten und sich dadurch nützlich erwiesen. Das machte Martin natürlich sehr neugierig zu erfahren, welche Gründe die Watertoastassociation für ihre Sympathien vorzubringen habe. Er blieb nicht lange in Ungewißheit, denn gleich darauf erhob sich der General, um einen Brief an den Volksführer vorzulesen, den er eigenhändig geschrieben hatte.

»Meine Freunde und Mitbürger!« hub er an, »der Brief lautet folgendermaßen:

Sir, Ich wende mich an Sie im Namen der Watertoastassociation und der vereinigten Sympathizers. Der Klub, Sir, wurde in der großen Republik Amerika gegründet und hält jetzt den Atem an, daß ihm fast die Adern an der Stirne springen, denn wir verfolgen mit fieberhafter Spannung und begeisterter Sympathie Ihre edeln Bemühungen für die Sache der Freiheit.«

Bei dem Worte »Freiheit« und bei jeder Wiederholung desselben brachen sämtliche »Sympathizers« in ein lautes Gebrüll aus und brachten neunmal neun und noch einmal neun Jubelrufe aus.

»Im Namen der Freiheit, Sir – im Namen der heiligen Freiheit – ergeht diese Adresse an Sie. Im Namen der Freiheit übersende ich Ihnen hiermit einen Beitrag zu Ihren Parteifonds. Im Namen der Freiheit, Sir, blicke ich mit Unwillen und Abscheu auf das verfluchte Tier mit der blutbefleckten Schnauze, dessen Bestialität und unersättliche Gier von jeher für die Welt eine Geißel und Folter bedeutete. Die nackten Wilden auf Robinson Crusoes Insel, Sir, die verfolgten Weiber des Peter Wilkins, die beerenbeschmierten Kinder des wilden Busches, ja sogar der hochgewachsene Menschenschlag, der von alters her die Minendistrikte von Cornwallis bewohnt, sie alle können gleiches Zeugnis ablegen von seiner Barbarennatur. Wo, Sir, sind die Cormorans, die Blunderbores, die großen Feesofums – die Häuptlinge Irlands und Schottlands–, deren Name die Geschichte mit Begeisterung nennt? Alle, alle sind sie ausgetilgt durch seine alles verheerenden Krallen. – Ich meine damit den britischen Löwen. –

Ergeben, Sir, mit Leib und Seele, Herz und Geist der Freiheit – der Freiheit, dem höchsten Gut selbst der Schnecke an der Kellertüre, der Auster in ihrem Perlenbett, der stillen Milbe in ihrem heimatlichen Käse, ja selbst der Miesmuschel Ihres Vaterlandes in ihrer Schale – im fleckenlosen Namen der Freiheit entbieten wir Ihnen unsere Sympathien. Jawohl, Sir, in unserm geliebten glücklichen Vaterlande brennt ihr Feuer rein und klar und ohne Rauch. Ist es einmal in dem Ihrigen entbrannt, so wird man den Löwen braten mit Haut und Haar.

Ich verbleibe, Sir, im Namen der Freiheit Ihr Ihnen herzlich ergebener Freund und getreuer Sympathizer

Cyrus Choke General U. S. A.«

Gerade, als der General diesen Brief zu lesen begonnen, war der Eisenbahnzug angekommen und mit ihm die neueste englische Post, die dem Sekretär in Form eines Paketes sogleich überreicht wurde. Der Inhalt mußte höchst betrübender Natur sein, denn kaum hatte sich der Redner wieder niedergesetzt, als der Sekretär zu ihm eilte und ihm einen Brief nebst mehreren gedruckten Auszügen aus Zeitungen einhändigte, wobei er ihn auf deren Inhalt mit außerordentlicher Erregung aufmerksam machte. Der General, an und für sich schon ziemlich apoplektisch, war in diesem Augenblick infolge seiner Rede außerordentlich erhitzt und aufgeregt, aber kaum hatte er die Papiere überflogen, als seine Mienen den Ausdruck von so unerhörter Wut und Leidenschaft annahmen, daß das Gelärme um ihn herum im Nu verstummte und alle ihn erwartungsvoll ansahen.

»Meine Freunde«, rief der General und stand auf. »Meine Freunde und Mitbürger! Wir haben uns in diesem Manne entsetzlich geirrt.«

»In welchem Manne?« rief alles wild durcheinander.

»In diesem«, schnaubte der General und hielt den Brief in die Höhe, den er soeben gelesen hatte. »Wie ich jetzt erfahre, war er – und ist es noch immer – ein beharrlicher Verfechter der Negeremanzipation!«

Wenn irgend etwas unter der Sonne außer Zweifel steht, so ist es das, daß die versammelten Söhne der Freiheit den so denunzierten Mann rücksichtslos und mit feigen Händen erschossen, erdolcht oder in irgendeiner Weise aus dem Weg geräumt hätten, wenn er damals zugegen gewesen wäre. Auch der verwegenste Amerikaner würde keinen Düngerhaufen für sein Leben gegeben oder darauf gewettet haben. Man zerriß den Brief, warf die Fetzen in die Luft, trat sie mit Füßen und bellte, grunzte und zischte, bis man fast heiser war.

»Ich stelle den Antrag«, rief der General, als er sich endlich Gehör verschaffen konnte, »daß die Watertoastassociation der vereinigten Sympathizers auf der Stelle aufgelöst werde!«

»Fort mit ihr! Weg mit ihr! Wir wollen nichts mehr davon hören. Man verbrenne die Papiere! Reißet das Zimmer nieder! Tilgt es aus dem Gedächtnis der Menschheit aus!« gellte es wild durcheinander.

»Aber meine Freunde und Mitbürger«, rief der General.

»Die Beiträge! Wir haben doch Gelder! Was soll mit den Fonds geschehen?«

In aller Eile wurde beschlossen, einem gewissen allgemein geschätzten Richter, der noch vor kurzem öffentlich den edlen Grundsatz aufgestellt hatte, es sei einem weißen Pöbelhaufen erlaubt, einen schwarzen Mann zu ermorden, einen silbernen Becher als Ehrengeschenk zu stiften. Ein ähnliches von gleichem Wert sollte ein anderer Patriot erhalten, der – ebenfalls öffentlich – erklärt hatte, er und seine Freunde würden ausnahmslos und ohne Urteil jeden Abolitionisten hängen, der sich auf ihrem Grund und Boden blicken lasse, und der Rest der Gelder sollte dazu dienen, die Freiheit und Gleichheit aller derjenigen Gesetze bekräftigen zu helfen, die ein unendlich größeres und gefährlicheres Verbrechen darin fänden, einen Neger lesen und schreiben zu lehren, als ihn auf öffentlichem Marktplatze lebendig zu verbrennen. Als man sich hinsichtlich dieser Beschlüsse einig war, brach das Meeting in großer Unordnung auf; die »Watertoastsympathie« hatte ihr Ende erreicht.

Als Martin nach seiner Schlafkammer hinaufging, fiel sein Auge auf das republikanische Banner, das zu Ehren des feierlichen Anlasses auf dem Dache gehißt worden war und jetzt vor einem Fenster, an dem er vorbeiging, lustig im Winde flatterte.

»Wahrhaftig«, sagte er sich, »von weitem gesehen bist du eine ganz hübsche Fahne, kommt man dir aber zu nahe und sieht auch deine andere Seite und lernt dich ganz kennen, so bist du nur ein ganz elender Zwillichfetzen.«

22. Kapitel


22. Kapitel

Wieso und warum Martin selbst ein Löwe wurde

Kaum war die Tatsache, Mr. Chuzzlewit, der junge Engländer, habe sich im Tale Eden angekauft und sei willens, sich mit dem nächsten Dampfboot in dieses irdische Paradies zu begeben, im National Hotel allgemein ruchbar geworden, da war er auch schon mit einem Mal sozusagen ein populärer Charakter. Warum dies geschah oder wie es zuging, wußte er ebensowenig, wie sich Mrs. Gamp von Kingsgate Street, High Holborn, ihren Ruf zu erklären vermochte. Tatsache aber blieb, daß er plötzlich durch Volkswahl der Löwe der Watertoastgemeinde war und daß man seine Gesellschaft in einer für ihn wenig angenehmen Weise suchte. Die erste Mitteilung, die er von diesem Wechsel in seiner Stellung erhielt, bestand in folgender Epistel, die, mit dünner geläufiger Hand geschrieben und hie und da mit fetten Buchstaben durchsetzt, um den Allgemeineindruck zu heben, fast einen ganzen blau linierten Briefbogen ausfüllte:

»National Hotel, Montagmorgen.

Sehr geehrter Herr!

Als ich vorgestern das Glück hatte, Ihr Reisegefährte auf der Eisenbahn zu sein, ließen Sie einige Bemerkungen über den Tower von London fallen, die ich gerne vor einer öffentlichen Versammlung wiederholt hören möchte.

Als Schriftführer der Jüngling-Watertoast-Association in dieser Stadt bin ich aufgefordert, Ihnen mitzuteilen, daß die Gesellschaft es sich zur Ehre anrechnen würde, eine Vorlesung von Ihnen über den Londoner Tower in dem Saale der Gesellschaft morgen abend um sieben Uhr anhören zu dürfen.

Da sich ein großer Absatz von Vierteldollarbilletts erwarten läßt, so werden Sie durch Ihre freundliche Zusage an den Überbringer verbinden, sehr geehrter Herr, Ihren aufrichtig ergebenen Lafayette Kettle.

An seine Hochwohlgeboren Mr. Chuzzlewit.

P.S. Die Gesellschaft möchte durchaus nicht, daß Sie sich auf eine Schilderung des Londoner Towers beschränken. Gestatten Sie mir daher die Andeutung, daß auch einige Bemerkungen über die Elemente der Geologie, oder, wenn es Ihnen gelegener wäre, über die Schriften Ihres talentvollen und witzigen Landsmannes, des allgemein verehrten Mr. Miller, sehr willkommen sein würden.«

Höchlichst erschrocken über diese Einladung schrieb Martin sogleich eine höfliche Absage, allein kaum war er damit fertig, da erhielt er einen zweiten Brief.

Nr. 47, Bunker Hill Street, Montag früh. (Privat)

Sir,

Ich bin in den endlosen Steppen, durch die unser mächtiger Mississippi, ›der Vater der Gewässer‹, seine stürmischen Fluten dahinwälzt, geboren.

Ich bin noch jung und begeisterungsfähig und voll der Poesie, die die Wildnis gebiert, wo jeder Alligator, der im Schlamme liegend sich sonnt, sich selbst ein Epos ist. Ich strebe nach Ruhm. Das ist mein Durst und mein Schmachten.

Kennen Sie vielleicht, Sir, irgendein Mitglied des Kongresses in England, der es auf sich nehmen würde, für sechs Monate die Kosten eines dortigen Aufenthaltes für mich zu bestreiten?

Ein inneres Gefühl sagt mir, daß eine so hochherzige Gönnerschaft mir gegenüber die besten Früchte tragen würde. In Literatur oder Kunst, vor den Gerichtsschranken, auf der Kanzel oder auf der Bühne – in einem oder dem andern, wo nicht in allem –, weiß ich, müßte mir zuverlässig ein großer Wurf gelingen.

Wenn Sie selbst zu sehr beschäftigt sein sollten, um sich an einen derartigen Mäzen zu wenden, so bitte ich Sie, mir die Adressen von drei oder vier geeigneten Leuten mitzuteilen, die am wahrscheinlichsten darauf eingehen würden, damit ich mich brieflich an sie wenden kann. Auch wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich mit ein paar Zeilen wissen ließen, wie Sie über das Werk ›Kain‹, ein Mysterium, von seiner Hochgeboren Lord Byron, denken.

Ich verbleibe, Sir, Ihr (verzeihen Sie, wenn ich hinzusetze: hochstrebender)

Putnam Smif.

P.S. Adressieren Sie, bitte, Ihre Antwort an Chiffre: Amerika junior, Messrs. Hancock and Floby. Schnittwarengeschäft, wie oben.«

Diese beiden Briefe, zugleich mit Martins Antwort darauf, wurden später einem löblichen Brauche der Stadt gemäß, der sehr danach angetan war, das Gefühl des Anstandes und gegenseitigen gesellschaftlichen Vertrauens zu fördern, in einer Nummer der Watertoast-Gazette veröffentlicht.

Martin hatte übrigens kaum seine Korrespondenz beendigt, als Kapitän Kedgick, der Wirt, mit äußerst liebenswürdiger Miene heraufkam, um nachzusehen, wie Martin sich befinde. Ohne lange Umstände setzte er sich auf die Bettleiste, und da er diese etwas hart fand, schließlich auf das Kopfkissen.

»Nun, Sir«, begann er, nachdem er sich’s genügend bequem gemacht und seinen Hut ein wenig mehr aufs Ohr gerückt hatte, offenbar, weil er ihm zu eng war, »Sie sind, schätze ich, bereits ein Mann der Öffentlichkeit.«

»So scheint es«, versetzte Martin ermüdet und abgespannt. »Unsere Mitbürger, Sir«, fuhr der Kapitän fort, »haben im Sinne, Ihnen ihre Hochachtung zu bezeugen. Sie werden eine Art von ›Leweh‹ zu halten haben, Sir, solange Sie noch hier sind.«

»Gott im Himmel!« rief Martin. »Aber das ist mir doch ganz unmöglich, lieber Herr.«

»Sie werden müssen, es wird nicht anders gehen«, meinte der Kapitän.

»›Müssen‹ ist kein angenehmes Wort, Kapitän«, entgegnete Martin.

»Nun, ich habe unsere Muttersprache nicht erfunden und kann sie daher nicht ändern«, sagte der Kapitän ruhig, »sonst würde ich sie wohl etwas angenehmer gestaltet haben. Sie müssen die Besuche empfangen, weiter kann ich nichts sagen.«

»Aber warum soll ich Leute empfangen, denen ich ebenso gleichgültig bin wie sie mir?« fragte Martin.

»Nun, weil ich in der Bar unten ein Muniment angeheftet habe«, entgegnete der Kapitän.

»Was haben Sie angeheftet?« fragte Martin.

»Ein Muniment.«

Martin warf einen verzweifelten Blick auf Mark, der ihm daraufhin mitteilte, der Kapitän meine ein geschriebenes Plakat, worauf angekündigt sei, daß Mr. Chuzzlewit heute um zwei Uhr vor den Herren der Watertoast-Association Cercle halten werde. Es hinge in der Schenkstube unten, wie er kraft eigener Inaugenscheinnahme bezeugen könne.

»Ich weiß, Sie werden sich nicht gerne unpopulär machen«, fing der Kapitän wieder an und schnitt sich kaltblütig die Nägel. »Unsre Bürger lassen nicht mit sich spaßen, das kann ich Ihnen versichern, und unsre Gazette wäre imstande, Ihnen die Haut abzuziehen wie einer wilden Katze.«

Martin wollte eben zornig losbrechen, besann sich jedoch eines Besseren und entgegnete:

»Also lassen Sie sie in Gottes Namen kommen.«

»Oh, sie werden schon von selbst kommen«, erwiderte der Kapitän. »Ich habe zu diesem Behufe bereits das große Zimmer unten reserviert.«

»Aber möchten Sie nicht vielleicht die Güte haben«, bat Martin, als er bemerkte, daß der Kapitän sich entfernen wollte, »mir wenigstens zu sagen, warum man mich eigentlich sehen will? Was habe ich denn getan, und wie kommt es, daß man ein so plötzliches Interesse an mir nimmt?«

Kapitän Kedgick lüftete ein wenig seinen Hut, setzte ihn dann sorgfältig wieder auf, fuhr sich mit der einen Hand von der Stirne bis zum Kinn über das ganze Gesicht herunter, sah Martin und dann Mark und dann wieder Martin an, blinzelte und ging hinaus.

»Meiner Seel«, rief Martin und ließ die Faust schwer auf den Tisch niederfallen, »so ein vollkommen unerklärlicher Kerl wie dieser ist mir noch nicht vorgekommen.«

»Nun, Sir«, versetzte sein Associé, »meine Meinung ist, daß Sie ganz einfach ›einer der hervorragendsten Köpfe des Landes‹ geworden sind.«

Pünktlich um zwei Uhr mit dem Glockenschlag kehrte Kapitän Kedgick zurück, um Martin nach dem Staatszimmer zu geleiten, und als er ihn dort wohlbehalten abgegeben, rief er seinen Mitbürgern die Treppe hinunter zu, Mr. Chuzzlewit sei nunmehr »zum Empfang bereit«.

Daraufhin füllte sich die Stube bis zum letzten Platz, und durch die offene Türe eröffnete sich eine geradezu schauerliche Perspektive auf eine Menge Menschen auf der Treppe, die alle noch hereinwollten. Einer nach dem andern, zu Dutzenden und Dutzenden, ja schockweise und mehr und mehr drängten sie sich heran, um Martin die Hand zu drücken. Alle möglichen Abarten von Händen gab es da; dicke, dünne, kurze, lange, fette, magere, grobe, zarte, heiße, kalte, trockene, feuchte und schlaffe; und jede drückte anders: die eine fest, die andere locker, und immer kamen noch mehr und mehr und mehr Leute herauf; und immer hörte man die Stimme des Kapitäns aus dem Gedränge: »Es sind noch mehr unten, es sind noch mehr unten. – Nun meine Herren, Sie sind jetzt bei Mr. Chuzzlewit gewesen; bitte, wollen Sie den Neuankommenden gefälligst Platz machen.«

Doch ohne im geringsten auf den Ruf des Kapitäns zu achten, räumten die Leute das Zimmer nicht nur nicht, sondern blieben stehen, bolzgerade und die Augen weit aufgerissen.

Zwei bei der Watertoast Gazette angestellte Gentlemen waren ausdrücklich gekommen, um Material zu einem Artikel über Martin zu sammeln, und hatten sich verabredet, sich in die Arbeit zu teilen, und so war dem einen der obere Teil, dem andern der Teil des Redners von der Weste abwärts zugefallen. Beide standen ganz vorn, den Kopf ein wenig auf die Seite geneigt und aufmerksam auf alles achtend, was in ihr Departement fiel. Wenn Martin den einen Stiefel vor den andern setzte, so notierte es der Gentleman für die untere Abteilung, rieb Martin sich die Nase, so wurde es von dem Gentleman für die obere Abteilung gebucht. Öffnete er den Mund, so ließ sich derselbe Gentleman auf ein Knie vor ihm nieder und studierte mit dem prüfenden Blicke eines Zahnarztes sein Gebiß. Dilettanten der physiognomischen und phrenologischen Wissenschaften umschwärmten ihn mit achtsamen Augen und gierigen Fingern und hin und wieder wagte einer oder der andere der Keckeren einen Griff nach Martins Hinterkopf und verschwand wieder im Gedränge. Alle möglichen Ansichten über ihn, über sein En-Face, sein Profil, sein Dreiviertelprofil und seine Schädelbildung wurden laut. Die weniger wissenschaftlich Gebildeten sprachen hörbar ihre Meinungen über sein Äußeres aus. Seine Nase, hieß es, böte ganz verschiedene neue Gesichtspunkte; über sein Haar kamen die widersprechendsten Gerüchte in Umlauf, und noch immer hörte man die Stimme des Kapitäns erstickt aus dem Gewühl wie unter einem Federbett hervor: »Meine Herrn, Sie sind jetzt Mr. Chuzzlewit vorgestellt, bitte, wollen Sie doch gefälligst Platz machen.«

Aber selbst als die Phrenologen Platz zu machen anfingen, wurde es nicht besser, denn nun wogte ein Strom von Herren herein, jeder mit einer Dame am Arm, genau so, wie der Chor im National Hochgesang, wenn die Majestät im Prachteinband die Bühne betritt. Jede Gruppe frischer an Kraft als die vorhergehende und fest entschlossen, bis zum letzten Augenblick zu bleiben. Wurde Martin angeredet, was nicht oft geschah, so waren es stets dieselben Fragen und alle in demselben Ton und mit nicht mehr Rücksicht oder Zartgefühl vorgebracht, als wäre er eine Steinfigur gewesen, gekauft, bezahlt und zur allgemeinen Belustigung hier aufgestellt. Und als dann die Pärchen schließlich entschwebten, war es so schlimm wie vorher, wo nicht schlimmer; denn jetzt wurden die halbwüchsigen Jungen frech, kamen in Trupps herein und benahmen sich genau so, wie sie es vorher von den Erwachsenen gesehen hatten. Auch höchst seltsame Nachzügler tauchten auf, Gentlemen, die wie auferstandene Tote aussahen und, wenn sie einmal da waren, nicht wußten, wie sie wieder fort kommen sollten; vor allem ein stummer Herr mit verglasten Fischaugen und nur einem einzigen, aber sehr großen und gewaltig glänzenden Metallknopf an seiner Weste war besonders hartnäckig und blieb unbeweglich an der Wand stehen wie eine Standuhr, als die anderen längst fort waren.

Vor Ermüdung, Abspannung und Ärger im höchsten Grade mitgenommen, glaubte Martin sich auf den Boden werfen und liegen bleiben zu müssen, aber auch dazu ließ man ihm keine Zeit. Briefe und Botschaften mit der Drohung, ihn öffentlich an den Pranger zu stellen, wenn man die Absender nicht vorließe, strömten wie ein Hagelsturm herein, und da auch, während er einsam Kaffee trank, noch immer Besuche kamen und Mark trotz aller Wachsamkeit nicht imstande war, sie an der Türe abzuhalten, so entschloß sich Martin, zu Bett zu gehen. Nicht, daß er dort hinreichenden Schutz zu finden glaubte, sondern nur, um auch dies letzte verzweifelte Mittel nicht unversucht zu lassen. Er hatte seinen Plan Mark mitgeteilt und wollte gerade entwischen, als die Türe abermals mit großem Ungestüm aufgerissen wurde und ein ältlicher Gentleman eintrat, eine lange hagere Dame am Arm, die nichts weniger als jung oder gar hübsch genannt werden konnte. Letzeres war allerdings Geschmackssache. Sie trug sich sehr gerade und war sowohl hinsichtlich Antlitz wie Gestalt ungefähr das Gegenteil von Beweglichkeit. Auf dem Kopfe trug sie einen großen Strohhut mit dito Blumen, in dem sie aussah, als habe ein ungeschickter Arbeiter einem Turm ein Dach aufgesetzt, und in der Hand hielt sie einen Fächer von beispiellosen Dimensionen.

»Mr. Chuzzlewit, wie ich vermute?« begann der Gentleman.

»Ja, das ist mein Name.«

»Ich muß bemerken, Sir«, sagte der Gentleman, »daß meine Zeit sehr gemessen ist.«

»Gott sei Dank«, dachte Martin.

»Ich reise in meine Heimat zurück«, fuhr der Gentleman fort, »und zwar per Bahn. Der Zug kann jeden Augenblick abgehen. ›Abgehen‹ ist kein Wort, das bei Ihnen zu Hause üblich wäre, nicht wahr, Sir?«

»O doch«, versicherte Martin.

»Sie befinden sich im Irrtum, Sir«, entgegnete der Gentleman mit großer Entschiedenheit. »Aber lassen wir das Thema fallen. Ich liebe es nicht, Widerspruch zu erwecken. – Gestatten Sie, Sir: Mrs. Hominy.«

Martin verbeugte sich.

»Mrs. Hominy, Sir, ist die Gattin des Majors Hominy, eines unserer ersten Köpfe, und gehört einer der aristokratischsten Familien an. – Sie kennen vielleicht Mrs. Hominys Schrift.«

Martin mußte leider verneinen.

»Nun, da haben Sie noch viel zu lernen, und es stehen Ihnen noch große Genüsse bevor, Sir«, sagte der Gentleman. »Mrs. Hominy wird bis Ende des Jahres bei ihrer verheirateten Tochter in der Ansiedelung Neu-Thermopylae – drei Tagereisen vor Eden – wohnen bleiben. Jede Aufmerksamkeit, Sir, die Sie Mrs. Hominy auf der Reise erweisen, wird Ihnen den Major und unsere Mitbürger zu größtem Dank verpflichten. – Mrs. Hominy, ich wünsche Ihnen eine geruhsame Nacht und viel Vergnügen für die Reise, Madame.«

Martin wollte es anfangs kaum glauben, aber Tatsache: da saß Mrs. Hominy und trank die Milch von seinem Kaffee.

»Ich bin wahrhaftig ganz und gar kaputt«, bemerkte sie. »Die Wagen stoßen, als ob der Schienenweg voller Knorren und Höcker läge.«

»Voller Knorren und Höcker?« stotterte Martin geistesabwesend.

»Nun ja, verstehen Sie denn nicht?« fuhr Mrs. Hominy auf. »Oder setzen Sie vielleicht Zweifel in meine Worte?«

Dann band sie sich kaltblütig ihre Hutbänder auf und sagte, sie wolle draußen in der Garderobe ablegen, werde aber gleich wiederkommen.

»Mark«, flüsterte Martin, »bitte, zwicke mich mal in den Arm. Sei so gut. Bin ich überhaupt wach?«

»Ja, ja, die Hominy ist schon echt«, entgegnete Mark, »’s is eins von den Weibsbildern, die, ob man sie nun bei Tag oder bei Nacht überrascht, immer die Augen offen haben und im Geiste für das Wohl ihres Vaterlandes arbeiten.«

Weiter kam er nicht, denn Mrs. Hominy stelzte wieder herein, sehr aufrecht – zum Beweise ihrer aristokratischen Abstammung –, und hielt in ihren gefalteten Händen ein rotes baumwollenes Taschentuch, wahrscheinlich ein Abschiedsgeschenk des Geistesheroen – des Majors. Sie hatte ihren Hut draußen gelassen und erschien jetzt in einer hocharistokratischen und klassischen Haube, die, unter dem Kinne zusammengebunden, eine Art Kopfputz bildete, der bewunderungswürdig zu ihrem Gesichte paßte. Martin bot ihr einen Stuhl an. Ehe er jedoch zu seinem eigenen Sitze zurückkehren konnte, hielt sie ihn mit den Worten zurück:

»Bitte, Sir, wo sind Sie gebucht?«

»Ich fürchte, meine Auffassungskraft ist nicht mehr die beste«, stotterte Martin; »ich bin wirklich außerordentlich müde. Auf mein Wort, ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

Mrs. Hominy schüttelte mit einem melancholischen Lächeln den Kopf, als wollte sie damit sagen: »Sogar die Sprache verleiden sie einem im alten Lande drüben.« Dann aber ließ sie sich zu der gnädigen Erklärung herab:

»Wo sind Sie her?«

»Ach so«, sagte Martin. »Ich stamme aus Kent.«

»Und wie gefällt Ihnen unser Land, Sir?«

»Wahrhaftig – hm – wirklich sehr gut«, stammelte Martin halb im Schlaf, »wenigstens – das heißt ziemlich, Madame.«

»Die meisten Fremden – namentlich die Engländer – sind sehr überrascht über das, was sie in den Vereinigten Staaten zu sehen bekommen.«

»Sie haben auch wahrhaftig allen Grund dazu, Madame«, versetzte Martin. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so überrascht.«

»Unsere Institutionen gehen ins Aschgraue, nicht wahr, Sir?«

»Der kurzsichtigste Mensch kann das auf den ersten Blick mit bloßem Auge sehen«, versicherte Martin.

Mrs. Hominy war Philosophin und Schriftstellerin und daher gewiß sehr abgehärtet, aber diese undezente und unziemliche Redensart war denn doch zu viel für sie. Ein Gentleman – allein mit einer Dame – und die Türe offen – und spricht von einem bloßen Auge!

Eine ziemliche Weile verging, ehe sie – obgleich sie eine Dame von männlichem, hochstrebendem Geiste war – so viel Mut aufbringen konnte, um das Gespräch wieder anzuknüpfen. Aber es gelang ihr, denn sie war eine vielgereiste Frau und schrieb Revuen und analytische Untersuchungen. Ihre Briefe aus dem Ausland, die sämtlich mit »Mein heiß geliebter Anonymus« begannen und mit »die Mutter der modernen Gracchen« unterzeichnet waren – unter den Gracchen verstand sie ihre verheiratete Tochter nebst Gatten –, erschienen regelmäßig in öffentlichen Journalen, die Ausbrüche ihrer Entrüstung mit fetter und die Sarkasmen mit gesperrter Schrift gedruckt. Mrs. Hominy hatte fremde Länder mit dem Auge einer vollkommenen Republikanerin – noch frisch aus dem Backofen – betrachtet und konnte folglich stundenlang von ihren Erlebnissen sprechen – oder schreiben. Sie setzte daher Martin tüchtig zu. Da er fest eingeschlafen war, hatte sie um so freieres Spiel und zermalmte ihn denn auch nach Herzenslust mit Gründen und Räsonnements.

Es ist ziemlich gleichgültig, was Mrs. Hominy sagte, genug, was sie sagte, hatte sie aus dem Geschwätz einer großen Klasse ihrer Mitbürger gelernt, die mit jedem Worte bekennen, daß sie für die hohen Prinzipien, aus denen Amerika als Nation ins Leben sprang, fühllos und unempfindlich sind. Allmählich wurde Martin soweit wach, daß er sich des Gefühls eines schrecklichen Alpdrucks bewußt wurde – eines halbfertigen Traumes, daß er einen lieben Freund ermordet habe und seine Leiche nicht los werden könne. Als er die Augen öffnete, stierte ihm das Phantom ins Gesicht und wandelte sich langsam in die schreckliche Mrs. Hominy, die immer noch tiefsinnige Wahrheiten in einem melodischen Schnüffelton heruntersprach und in ihrer Größe schwelgte, so daß des Majors bitterster Feind, wenn er sie gehört hätte, ihm aus dem Grunde seines Herzens vergeben haben würde. Martin wollte eben irgendeinen verzweifelten Schritt tun, aber in diesem Augenblick ertönte die Glocke zum Abendessen und erlöste ihn aus seiner Qual. Als er Mrs. Hominy am obern Ende der Tafel glücklich verstaut hatte, nahm er selbst seine Zuflucht zum untersten und stahl sich nach einem hastigen Mahl aus dem Speisesaal, während die Dame noch mit geräuchertem Ochsenfleisch und einem ganzen Teller von eingesalzenen Fixings beschäftigt war.

Es würde schwerhalten, sich einen richtigen Begriff von Mrs. Hominys Frische am nächsten Morgen oder von der Gier, mit der sie sich beim Frühstück kopfüber in »moralische« Themen stürzte, zu machen. Eine gewisse essigsaure Schärfe war wohl an ihr zu bemerken, aber das kam wahrscheinlich von den Mixed Pickles und den Fixings am Abend vorher. Den ganzen Tag über klammerte sie sich an Martin an; sie saß an seiner Seite, während er Leute empfing – denn immer noch nahmen die Besuche kein Ende –, entwickelte allerlei Theorien und beantwortete imaginäre Einwürfe mit einer Beharrlichkeit, daß Martin schließlich zu glauben begann, er träume und spreche für zwei. Sie zitierte endlose Stellen aus gewissen von ihr selbst geschriebenen Aufsätzen über Staatskunst – gebrauchte das Taschentuch des Majors, als ob das Schneuzen eine temporäre Krankheit sei, die sie um jeden Preis loswerden müsse –, kurz, sie war eine in jeder Hinsicht so merkwürdige Reisegefährtin, daß Martin innerlich zu dem Schlusse kam, das beste sei, solche Personen in jeder neuen Ansiedlung um des allgemeinen Friedens willen auf der Stelle mit einer Hacke totzuschlagen.

Unterdessen war Mark von morgens früh bis abends spät in die Nacht hinein beschäftigt, Vorräte jeder Art, Werkzeuge und andere Utensilien an Bord des Dampfbootes zu schaffen, die man ihnen, als in der Kolonie unentbehrlich, mitzunehmen angeraten hatte. Der Ankauf aller dieser Sachen und die Bezahlung ihres Logis im National-Hotel führte eine solche Ebbe in ihrer gemeinsamen Kasse herbei, daß, wenn der Kapitän mit der Abfahrt noch länger gezögert hätte, sie wahrscheinlich in derselben Klemme gewesen wären wie die mittellosen Auswanderer, die, durch die aufdringliche schreiende Annonce an Bord angelockt, wochenlang im Zwischendeck zugebracht und ihren armseligen Mundvorrat aufgezehrt hatten, ehe die Fahrt noch begonnen. Und solcher Auswanderer gab es viele auf dem Schiff. In Gruppen lagerten sie um die Maschine oder das Heizfeuer herum – Bauern, die noch nie einen Pflug geführt, Holzfäller, die noch nie eine Axt in der Hand gehabt, Baumeister, die keinen Koffer zusammenzimmern konnten, und alle ausgestoßen aus ihrer Heimat, ohne eine mitfühlende Seele zurückzulassen – Neulinge in einer neuen Welt, Kinder an Hilflosigkeit, Männer an Bedürfnis, mit kleinen Kindern auf den Armen –, um zu leben oder unterzugehen, wie es der Zufall eben fügen mochte.

Der Morgen kam, und gegen Mittag sollte die Reise losgehen. Aber der Mittag kam, und die Abreise wurde auf den Abend verschoben. Doch nichts dauert ewig in dieser Welt, nicht einmal die Saumseligkeit eines amerikanischen Bootskapitäns; und so war in der Nacht alles zur Abfahrt bereit.

Im höchsten Grade ermattet und entmutigt, aber mehr »Löwe« als je (er hatte den ganzen Nachmittag nichts anderes getan, als Briefe von Fremden zu beantworten, die sämtlich entweder leeres Stroh droschen oder Geld borgen wollten, aber sämtlich auf augenblickliche Antwort drängten), quetschte sich Martin durch ein Gedränge von Menschen, Mrs. Hominy am Arm, zum Kai durch und begab sich an Bord. Mark hingegen hatte sich in den Kopf gesetzt, das Rätsel der »Löwenschaft«, koste es, was es wolle, zu lösen, und lief daher, auf die Gefahr hin, das Schiff zu versäumen, noch einmal nach dem Hotel zurück.

Kapitän Kedgick saß in der Kolonnade, ein Eisgetränk auf den Knien und eine Zigarre im Mund, und rief, als er Marks ansichtig wurde:

»Was, um Gottes willen, führt Sie wieder hierher?«

»Aufrichtig gesagt, Kapitän«, keuchte Mark, »ich möchte Ihnen eine Frage stellen.«

»Fragen kann niemand verwehren«, entgegnete Kedgick, damit andeutend, daß man andererseits nicht verpflichtet sei, gestellte Fragen auch zu beantworten.

»Weshalb haben Sie so viel Wesens mit ihm gemacht?« fragte Mark schlau. »Na, sagen Sie’s mal ganz offen!«

»Unsere Bevölkerung liebt die Aufregung«, antwortete Kedgick, an seiner Zigarre saugend.

»Aber warum war sie denn aufgeregt?« forschte Mark.

Der Kapitän sah ihn mit einem Gesicht an, als habe er einen Riesenspaß auf der Zunge, wolle aber nicht recht mit der Sprache heraus.

»Sie wollten doch abreisen?«

»Wollten?« rief Mark. »Jede Sekunde ist kostbar für mich.«

»Na, dann hören Sie. Also, Mr. Chuzzlewit ist nicht wie die Emigranten im allgemeinen und hat die Leute seit seinem Hiersein ununterbrochen in Spannung erhalten –« der Kapitän blinzelte und brach in ein ersticktes Lachen aus »– jawohl, seit seinem Hiersein. – Scadder ist ein famoser Bursche und – und – niemand, der nach Eden geht, kommt lebendig wieder zurück.«

Der Dampferhalteplatz war ganz in der Nähe, und in diesem Augenblick hörte Mark seinen Associé rufen, er solle sich beeilen oder der Dampfer fahre ab. Es war daher zu spät, ein böses Gesicht zu machen oder die Sache noch zu ändern zu versuchen. Er gab daher dem Kapitän seinen Segen zum Abschied und raste davon wie ein Besessener. »Mark, Mark!« rief Martin.

»Da bin ich, Sir«, schrie Mark vom Rande des Kais herab und sprang mit einem Satz an Bord. »In meinem Leben war ich noch nicht halb so vergnügt wie gerade vorhin. Alles in Ordnung. Los!«

Dann sprühten die Funken aus den zwei Rauchfängen, als wäre das Fahrzeug ein eben erst angezündetes Feuerwerk, und dahin brausten sie auf dem dunkeln Gewässer.