14. Kapitel


14. Kapitel

Martin sagt seiner Geliebten Lebewohl und erweist dem unbedeutenden Individuum, dessen Glück er zu machen gedenkt, die Ehre, sie seinem Schutz zu empfehlen

Als der Brief, wie es sich gehört, unterzeichnet und versiegelt war, wurde er Mark Tapley zu möglichst schleuniger Beförderung ausgehändigt. Auch die Zustellung ging glücklich vonstatten, und Mark konnte noch am selben Abend unmittelbar vor Torschluß mit der angenehmen Nachricht zurückkehren, er habe das Schreiben der jungen Dame hinauf geschickt und einen kleinen eigenhändig geschriebenen Zettel beigelegt, damit es den Anschein habe, als handle es sich nur um einen Versuch von ihm, in Mr. Chuzzlewits Dienste einzutreten. Sie sei dann selber heruntergekommen und habe in großer Hast und Aufregung gesagt, sie wolle seinen Herrn im St.-James-Park treffen.

Martin und sein neuer Diener kamen daraufhin sofort überein, Mark solle zur festgesetzten Stunde in der Nähe des Hotels auf die junge Dame warten und sie nach dem Orte des Rendezvous begleiten. Nach dieser Vereinbarung trennten sie sich für die Nacht, aber Martin nahm, bevor er zu Bett ging, wieder die Feder zur Hand und schrieb einen zweiten Brief, dessen Inhalt wir bald kennenlernen werden.

Noch vor Tagesgrauen stand er auf und begab sich gegen Morgen in den Park, der das alleruneinladendste Kleid seiner gesamten dreihundertfünfundsechzig Jahrestage angelegt zu haben schien, denn es war ein selten rauhes, feuchtes und dunkles Wetter, die Wolken sahen so schmutzig aus wie der Boden, und die dunstige Perspektive jeder Allee oder Straße verschwand im Nebel wie hinter einem grauen Vorhang.

»Wahrhaftig ein prächtiges Wetter«, schimpfte Martin ärgerlich vor sich hin, »um wie ein Dieb hier auf und ab zu laufen. Schönes Wetter für eine Zusammenkunft zweier Liebender im Freien und auf einem öffentlichen Spazierweg. Es ist höchste Zeit, daß ich mich in ein anderes Land begebe, ehe es noch weiter mit mir bergab geht.«

Wäre er ein wenig konsequenter in seinen Betrachtungen gewesen, so hätte er einsehen müssen, daß ein solcher Tag für eine Dame doch nur noch ungeeigneter zu einem Rendezvous sei als für einen Herrn, aber seine Gedanken nahmen bald eine andere Richtung, da er seiner Geliebten in kurzer Entfernung ansichtig wurde und sich daher beeilte, ihr entgegenzugehen.

Ihr Begleiter, Mr. Tapley, hielt sich taktvoll im Hintergrunde und betrachtete den Nebel anscheinend mit gespanntestem Interesse.

»Mein geliebter Martin«, rief Mary.

»Meine liebe Mary«, sagte Martin. Liebende sind ein so sonderbarer Schlag Menschenkinder, daß diese paar Worte alles waren, was die beiden einander vorläufig zu sagen hatten, obgleich Martin Marys Arm und auch ihre Hand nahm und sie dann auf dem verborgensten Wege ungefähr ein halbes Dutzendmal auf und ab gingen.

»Wenn du dich seit unserer Trennung überhaupt geändert hast«, fing Martin endlich an und betrachtete Mary mit stolzem Entzücken, »so kann ich dir nur sagen, daß du noch viel schöner geworden bist.« Wäre Mary aus dem gewöhnlichen Holze liebeskranker junger Damen geschnitzt gewesen, so hätte sie diese Behauptung unbedingt in Abrede gestellt und erwidert, sie sei eine wahre Vogelscheuche geworden und Kummer und Tränen hätten sie ganz entstellt; langsam welke sie dem frühen Grabe entgegen, die Leiden ihrer Seele seien unaussprechlich – kurz, sie würde mit Worten oder Tränen, vielleicht auch mit einer Mischung von beidem etwas derartiges gesagt und ihn so elend wie möglich gemacht haben. So aber war sie in einer ernsteren Lebensschule aufgewachsen, als die ist, der die meisten jungen Mädchen ihre Sinnesart verdanken, und ihr ganzes Wesen war gekräftigt durch rauhen Zwang und Not. In allen Stunden der Prüfung hatte sie sich selbstlos und aufopfernd gezeigt und trotz ihrer Jugend etwas von jenen höhern Eigenschaften edler Herzen gewonnen, die sich so oft in den Leiden und Kämpfen der spätem Jahre entwickeln. Unverdorben und unverwöhnt in ihren Freuden und mit offener und inniger Zuneigung dem Gegenstande ihrer ersten Liebe zugetan, sah sie in Martin nur den Mann, der um ihretwillen aus einer glücklichen Heimat vertrieben worden, und es fiel ihr ebensowenig ein, diese ihre Liebe zu ihm in andern als freudig und erhebenden Worten voll froher Hoffnung und dankbaren Vertrauens kundzugeben, als daß sie daran gedacht hätte, sich in Phrasen irgendwelcher Art zu ergehen.

»Aber was ist denn mit dir vorgegangen, Martin?« fragte sie. »Das geht mich am allernächsten an. Du siehst ernster und kummervoller aus, als du sonst zu sein pflegtest?«

»Was das betrifft, meine Liebe«, sagte Martin und legte den Arm um Marys Taille, nachdem er sich zuvor umgesehen, ob kein Beobachter in der Nähe sei, und nur Mr. Tapley erblickt hatte, den der Nebel womöglich noch mehr als vorher zu interessieren schien. »Es würde mich auch wundern, wenn es sich anders verhielte, denn mein Leben ist – namentlich in der letzten Zeit – sehr hart gewesen.«

»Das glaube ich gern«, seufzte Mary. »Aber wann habe ich je vergessen, an dich und deine Leiden zu denken?«

»Hoffentlich nicht oft«, sagte Martin. »Und ich bin auch überzeugt, daß es nicht oft geschah, und habe auch ein gewisses Recht, es zu erwarten. Denn wahrhaftig, viel Verdruß und Entbehrung haben mich heimgesucht.«

»Und wie wenig kann ich dir dein Opfer vergelten«, rief Mary traurigem Lächeln. »Du hast einen hohen Preis für ein armseliges Herz bezahlt; aber es ist wenigstens dein und hängt mit Treue an dir.«

»Ich bin überzeugt davon«, sagte Martin, »sonst würde ich mich nicht in meine gegenwärtige Lage begeben haben. Aber sprich nicht von einem armseligen Herzen: Es ist ein reiches Herz. – – Aber jetzt will ich dir einen Plan mitteilen, Geliebte, über den du anfänglich erschrecken wirst, aber ich will ihn um deinetwillen zur Ausführung bringen. – – Ich gehe« – fügte er langsam hinzu und blickte tief in ihre erstaunten, leuchtenden dunkeln Augen – – »ich gehe ins Ausland.«

»Ins Ausland, Martin?«

»Nur nach Amerika. Erschüttert dich das so, daß du so zusammenzuckst?«

»Wenn es mich einen Augenblick erschüttert hat«, erwiderte Mary nach einer Pause, erhob ihr Haupt und sah ihm voll ins Gesicht, »war’s der kummervolle Gedanke, was du um meinetwillen alles zu ertragen dich entschließest. Ich getraue mich nicht, dir abzuraten, Martin – – aber Amerika ist so weit weg. Und die lange gefährliche Reise! Not und Krankheit ist überall schrecklich, aber in einem fremden Lande nur um so schrecklicher. Hast du dies alles überlegt?«

»Überlegt!« rief Martin ungestüm, fast heftig, trotzdem er Mary aufs zärtlichste liebte. »Warum fragst du mich nicht lieber, ob ich daran gedacht habe, in der Heimat Hungers zu sterben, oder ob mir nicht der Gedanke gekommen sei, mein Lebtag als Lastträger zu arbeiten oder auf den Straßen die Pferde zu halten, um Tag für Tag mein Stückchen Brot zu verdienen. – Aber beruhige dich«, setzte er in milderem Tone hinzu. »Du darfst das Köpfchen nicht hängen lassen, denn ich brauche Ermutigung, und die allein kann mir dein süßes Antlitz geben. Ja, so ist’s recht, jetzt bist du wieder lieb.«

»Ich will mir Mühe geben«, antwortete Mary durch Tränen lächelnd. »Wollen und Handeln ist bei dir immer dasselbe, ich weiß das doch von alters her«, rief Martin heiter. »So ist’s recht; jetzt kann ich dir alle meine Pläne mit so frohem Herzen mitteilen, als ob du bereits mein kleines Frauchen wärst, Mary.«

Sie schmiegte sich inniger an ihn, blickte ihm ins Gesicht und bat ihn fortzufahren.

»Du siehst«, sagte Martin und spielte mit der kleinen Hand, die auf seinem Arme ruhte, »daß alle meine Versuche, hier in meinem Vaterland in die Höhe zu kommen, vereitelt wurden und, sozusagen, in der Wiege starben. Ich will nicht sagen, wer daran schuld ist, denn das würde uns beiden Schmerz bereiten – genug, daß es so ist. – – Hast du übrigens nicht in der letzten Zeit von einem Verwandten von mir namens Pecksniff reden hören? Beantworte mir nur, was ich frage, bitte, und weiter nichts.«

»Ich habe zu meinem Erstaunen deinen Großvater sagen hören, Pecksniff sei ein besserer Mensch, als er geglaubt habe.«

»Dachte ich’s doch«, fiel ihr Martin ins Wort.

»Auch würden wir ihn, hieß es, wahrscheinlich näher kennenlernen, wenn wir ihn nicht sogar besuchen und bei ihm und, ich glaube, seinen Töchtern wohnen sollen. – – Er hat doch Töchter, nicht wahr?«

»Ja, ja, zwei«, antwortete Martin. »Ein famoses Pärchen; Edelsteine vom reinsten Wasser.«

»Du scherzt wohl?«

»Ja, ja, in gewissem Sinne, aber es ist mir sehr ernst. Es ist auch gleichzeitig sehr ärgerlich«, sagte Martin. »Ich kenne diesen Pecksniff, denn ich habe eine Zeitlang als Schüler bei ihm gewohnt und Kränkung und Unbill genug von ihm erfahren müssen. Was ich übrigens auch im Scherz gesagt haben mag, wenn du mit der Zeit in Verkehr mit seiner Familie treten solltest, so vergiß nie – auch nicht einen Augenblick, wenn der Schein auch noch so gegen mich sprechen sollte –, daß dieser Pecksniff ein Schurke durch und durch ist.«

»Wirklich?«

»In Gedanken, Worten und Taten – kurz, in allem ein Schurke vom Scheitel bis zur Sohle. Von seinen Töchtern kann ich nur soviel sagen, daß sie gehorsame junge Mädchen und ihres Vaters würdig sind. Es ist zwar eine Abschweifung vom Hauptthema, es führt mich aber doch auf das, was ich sagen wollte.« Dann hielt er inne, um Mary wieder in die Augen zu blicken, warf hastig einen Blick zurück, und da er bemerkte, daß niemand in der Nähe war und auch Mark sich noch immer gewaltig für den Nebel interessierte, so sah er jetzt nicht nur auf ihre Lippen, sondern küßte sie auch.

»Ich reise also in Bälde nach Amerika und habe die feste Aussicht, dort mein Glück zu machen und dann sofort wieder zurückzukehren. Ich hole dich vielleicht erst in ein paar Jahren ab, aber dann mache ich rücksichtslos meine Ansprüche auf dich geltend. Nach solchen langen Prüfungen darf ich es tun, ohne fürchten zu müssen, du hieltest es immer noch für deine Pflicht, dich an den anzuklammern, der mich – denn er ist es und niemand sonst – im Vaterland nicht in die Höhe kommen lassen will und es mit allen Mitteln zu verhindern sucht. Wie lange ich abwesend sein werde, ist natürlich noch ungewiß, aber jedenfalls kannst du dich darauf verlassen, daß es nicht allzulange dauern wird.«

»Und inzwischen – –?«

»Das ist es ja eben, auf das ich jetzt kommen will. Inzwischen sollst du immer ausführlich erfahren, wie es mir geht.«

Er hielt inne, nahm den Brief, den er abends zuvor geschrieben, aus der Tasche und fuhr fort:

»Im Dienste und im Hause dieses Kerls – – unter ›Kerl‹ verstehe ich natürlich Mr. Pecksniff – lebt ein gewisser Pinch; merke wohl auf: Er ist ein armer wunderlicher einfacher Mensch, aber durchaus ehrlich, aufrichtig, voll Diensteifer und mir herzlich zugetan – was ich ihm auch in Zukunft dadurch vergelten will, daß ich ihm irgendwie im Leben forthelfe.«

»Daraus erkenne ich wieder deine alte Hochherzigkeit, Martin.«

»Ach Gott«, versetzte Martin, »es ist nicht der Rede wert. Er ist sehr dankbar und wünscht mir zu dienen, und damit ist die Sache abgetan. – – Ich habe also diesem Pinch eines Abends meine ganze Geschichte kurz, alles von mir und dir – erzählt. Ich kann dir versichern, daß er sich nicht wenig dafür interessierte. Er kennt dich nämlich. Ja, ja, du brauchst nicht überrascht zu sein – du hast ihn nämlich einmal in der Kirche jenes Dorfes dort unten die Orgel spielen gehört, und er hat gesehen, wie du zugehört hast. Daher auch seine Begeisterung für dich.«

»Was! Er war der Orgelspieler!« rief Mary. »Da muß ich ihm ja von Herzen dankbar sein.«

»Ja, er war es. Und er treibt das Geschäft noch immer, obschon es ihm nichts einträgt. Es hat, ich versichere dir, noch nie einen so einfachen, schlichten Burschen gegeben; er ist fast ein Kind an Gutmütigkeit, sei versichert.«

»Ich bin überzeugt davon«, erwiderte Mary mit Wärme. »Er muß es sein.«

»Ja, daran ist kein Zweifel«, versetzte Martin in seiner gewöhnlichen leichtfertigen Weise, »er ist es. – Also, da ist mir eingefallen – aber halt! Wenn ich dir den Brief vorlese, den ich ihm heute abend per Post zusenden will, so wirst du alles daraus am besten ersehen. Also: ›Mein lieber Tom Pinch!‹ – das klingt vielleicht etwas kollegial«, setzte er schnell hinzu, da er sich plötzlich erinnerte, sich bei der letzten Begegnung Tom gegenüber ziemlich stolz benommen zu haben, »aber ich nenne ihn meinen lieben Tom Pinch, weil er es gern hat.«

»Das ist lieb von dir«, sagte Mary.

»Na ja, es schadet ja weiter nichts, freundlich zu sein, wo man kann. Wie ich bereits sagte, ist er wirklich ein vortrefflicher Mensch. Also. ›Mein lieber Tom Pinch – Sie erhalten gegenwärtiges Schreiben als Beilage zu einem Brief an Mrs. Lupin im Blauen Drachen, die ich in ein paar Zeilen gebeten habe, Ihnen mein Schreiben einzuhändigen, ohne gegen irgend jemanden davon Erwähnung zu tun. So wird sie es auch mit allen zukünftigen Briefen, die sie von mir empfangen dürfte, halten. Der Grund, weshalb ich so handle, wird Ihnen leicht begreiflich sein‹ – zwar weiß ich nicht, ob er’s wirklich begreifen wird –« setzte Martin, von dem Schreiben aufblickend, hinzu – »denn der arme Bursche ist von etwas langsamer Fassungskraft, aber mit der Zeit wird er’s schon herausfinden. – ›Mein Grund besteht einzig und allein darin, daß ich nicht wünsche, meine Briefe von andern Leuten gelesen zu wissen; namentlich nicht von jenem Schurken, den Sie für einen Engel halten.‹«

»Damit ist Mr. Pecksniff gemeint?« fragte Mary. »Jawohl«, antwortete Martin. – »›Sie werden das einsehen, lieber Mr. Pinch. Ich habe mittlerweile Anstalten getroffen, nach Amerika zu reisen, und Sie werden sich wahrscheinlich wundern, wenn Sie hören, daß Mark Tapley mich begleiten will. Seltsamerweise bin ich in London mit ihm zusammengetroffen, und er besteht drauf, sich unter meinen Schutz zu stellen‹ – Mark Tapley ist natürlich«, schaltete er ein, »unser Freund dort im Hintergrund.«

Mary freute sich sehr über diese Mitteilung und warf Mark einen freundlichen Blick zu, den dieser, für einen Moment sein Nebelstudium unterbrechend, voll Entzücken quittierte. Sie sagte auch so laut, daß er es hören mußte, er sei eine brave Seele und ein lustiger Bursche und werde, davon sei sie überzeugt, treu zu seinem Herrn halten – Lobsprüche, die Mr. Tapley auch wirklich verdienen zu wollen sich innerlich fest gelobte, und wenn er dafür in den Tod gehen müßte.

»›Und jetzt, mein lieber Pinch‹«, las Martin in seinem Brief weiter, »›will ich mein ganzes Vertrauen auf Sie setzen, da ich weiß, daß ich mich auf Ihre Ehre und Verschwiegenheit verlassen kann und überdies momentan auch niemanden habe, auf den ich bauen könnte.‹«

»Möchtest du nicht lieber diese Stelle weglassen, Martin?« fragte Mary schüchtern.

»Meinst du? Gut, dann will ich sie wegstreichen. – Aber es ist doch die buchstäbliche Wahrheit!«

»Es klingt aber doch vielleicht ein wenig unfreundlich.«

»Ach Gott, mir liegt schließlich nicht viel an Pinch«, sagte Martin. »Ich wüßte auch nicht, warum ich mit ihm gar so zeremoniell verfahren sollte. Da du es übrigens wünschest, so kann ich’s ja auslassen und die Stelle wegstreichen. – – Also weiter – ›ich werde nicht nur meine Briefe an die junge Dame, von der ich Ihnen erzählt habe, an Sie senden, damit Sie sie ihr zustellen können, sondern ich empfehle auch die Dame selbst Ihrem Schutze, im Falle Sie in meiner Abwesenheit mit ihr zusammentreffen sollten. Ich habe Grund anzunehmen, daß ihr einander bald und oft sehen werdet, und wenn Sie in Ihrer Lage auch nur wenig tun können, um die ihrige zu erleichtern, so baue ich doch nichtsdestoweniger auf Sie und setze voraus, daß Sie alles aufbieten werden, um das Vertrauen zu rechtfertigen, das ich in Sie gesetzt habe.‹« – – –

»Du siehst, meine liebe Mary«, schloß Martin, »du wirst da jemanden haben – gleichgültig, wie schlicht und einfach er auch sein mag –, mit dem du von mir sprechen kannst; und schon beim ersten Gespräch mit ihm wirst du fühlen, daß du ebensowenig verlegen ihm gegenüber zu sein brauchst, als wenn er ein altes Weib wäre.«

»Nun, wie man das auch auffassen mag«, meinte Mary lächelnd, »jedenfalls ist er dein Freund, und das genügt.«

»Ja, ja, er ist mein Freund«, sagte Martin, »gewiß. Ich habe ihm übrigens bereits mit nicht mißzuverstehenden Worten angedeutet, daß wir ihn immer im Auge behalten und unter unseren Schutz nehmen werden. Es ist ein guter Charakterzug von ihm, daß er dankbar, ja, sogar sehr dankbar ist, und ich weiß, mein Schatz, du wirst einen besonderen Gefallen an ihm finden. Allerdings hat er viel Komisches und Altfränkisches an sich, aber du kannst das ja gnädig übersehen. Und wenn du über ihn lachen mußt, macht es schließlich auch nichts; er freut sich sogar darüber.«

»Ich denke nicht, daß ich ihn auf diese Probe stellen werde, Martin.«

»Ich glaube es auch nicht. Ich meinte nur, wenn du das Lachen wirklich nicht mehr verbeißen könntest. Es wird dir immerhin ein bißchen schwer werden, deinen Ernst zu bewahren. – Kehren wir übrigens zu dem Briefe zurück. Er schließt also folgendermaßen: ›Ich weiß, daß ich nicht nötig habe, mich weiter über die Art und die Wichtigkeit dieses auf Sie gesetzten Vertrauens zu verbreiten, und ich will Ihnen daher jetzt Lebewohl sagen in der Hoffnung, bei unserem nächsten Wiedersehen, wenn es mir gut ergangen sein wird, für Ihr Glück und Fortkommen sorgen zu können, als ob es mein eigenes wäre. Darauf können Sie sich verlassen. Inzwischen verbleibe ich, lieber Tom Pinch, Ihr aufrichtiger Martin Chuzzlewit.

Nachschrift. – Ich schließe hier den Betrag bei, den Sie so freundlich waren, mir – – –‹« »Hm«, unterbrach sich Martin und faltete den Brief hastig zusammen, »das gehört nicht hierher.«

In diesem Augenblick trat Mark Tapley mit der Meldung heran, daß die Glocke auf der Horse-Guards-Kaserne soeben geschlagen habe.

»Ich würde mich nicht getrauen, die Sache zu erwähnen«, entschuldigte er sich, »wenn mich nicht das gnädige Fräulein ausdrücklich dazu aufgefordert hätte.«

»Ja«, sagte Mary, »so ist es, und ich danke Ihnen. Sie haben ganz recht. – Nur noch eine Minute; ich werde gleich bereit sein. – – Wir haben jetzt nur mehr für ein paar eilige Worte des Lebewohls Zeit, mein geliebter Martin, und obwohl mir noch gar viel auf dem Herzen läge, so muß ich es doch bis zu der glücklichen Zeit unserer nächsten Zusammenkunft ungesagt sein lassen. Gebe der Himmel, daß es bald sein wird und alles gut ausfällt. Doch davor ist mir nicht bange.«

»Bange!« rief Martin. »Warum auch? Was bedeuten ein paar Monate und was schließlich ein ganzes Jahr? Wenn ich glücklich wieder zurück bin und meinen Weg im Leben gemacht habe, dann mag der Rückblick auf diese Trennung vielleicht schmerzlich sein; aber jetzt?! Ich schwöre dir’s, ich möchte mir keine günstigeren Auspizien wünschen, selbst wenn ich könnte. Jetzt bin ich gezwungen, zu handeln; was ich sonst vielleicht nicht getan hätte.«

»Ja, ja, ich fühle auch, daß es gut so ist. – Also, wann gedenkst du abzureisen?«

»Wir brechen heute abend nach Liverpool auf. – Wie ich höre, geht alle drei Tage ein Schiff ab, und nach vier Wochen – oder vielleicht nicht einmal das – kommen wir drüben an. Was bedeutet übrigens auch ein Monat! Wie viele sind ihrer nicht schon verstrichen, seit wir uns zum letztenmal gesehen haben!«

»Ja, ja, es ist eine lange Zeit her«, entgegnete Mary, in seinen heiteren Ton einstimmend, »wenn es uns auch jetzt kaum wie Tage erscheint.«

»Kaum wie Tage«, bestätigte Martin. »Und dann werde ich andere Gegenden und andere Leute mit anderen Sitten und Gebräuchen sehen, andere Sorgen und andere Hoffnungen haben. Wie im Fluge wird mir die Zeit vergehen. Ich kann alles ertragen, nur Eintönigkeit nicht, Mary.«

»Ein Viertel!« mahnte Mr. Tapley.

»Gleich komme ich«, rief Mary. – »Nur noch eins, lieber Martin, laß mich dir sagen. Du hast mich vorhin gebeten, ich solle dir in betreff nur eines einzigen Punktes deine Frage beantworten, aber du mußt noch etwas wissen, sonst könnte ich nicht ruhig sein. Seit jener Trennung nämlich, an der ich unglücklicherweise die Schuld trage, hat dein Großvater auch nicht ein einziges Mal deinen Namen fallen lassen – weder in Liebe noch in Haß –, und nach wie vor ist er gleich freundlich zu mir.«

»Für letzteres bin ich ihm dankbar, für weiter aber auch nichts«, versetzte Martin. »Daß er meinen Namen je wieder erwähnt, erwarte ich weder, noch wünsche ich es. Vielleicht wird er meiner noch einmal mit Vorwürfen gedenken – in seinem Testamente vielleicht. Sei es darum, wenn es ihm Freude macht. Erhalte ich Kunde davon, wird er bereits längst in seinem Grabe liegen – eine Satire auf seinen eigenen Groll.«

»Ach, Martin«, rief Mary, »wenn du dich einmal in einer nachdenklichen Stunde, an einem einsamen Winterabend, oder wenn die Sommerlüfte wehen, oder bei einer einschmeichelnden Musik, bei Gedanken an Tod, Heimat oder Kindheit seiner oder irgendeines Menschen erinnerst, der dir je unrecht getan hat, so weiß ich, daß du ihm vergeben wirst.«

»Wenn ich das glauben sollte«, entgegnete Martin unmutig, »so müßte ich mir vornehmen, ihn zu solchen Zeiten ganz aus meinem Gedächtnis zu streichen, um mir die Schande einer derartigen Schwäche zu ersparen. Es liegt mir nicht, das Spielzeug oder die Puppe irgendeines Menschen, am wenigsten die seinige, zu sein. Habe ich nicht für das bißchen Annehmlichkeit, das ich bei ihm genossen, seiner Launenhaftigkeit beinahe meine ganze Jugend opfern müssen? Wir beiden sind jetzt quitt, oder zum mindesten überwiegen seine Verdienste die meinigen nicht so bedeutend, daß ich zum Ausgleich abgeschmackterweise auch noch vergeben und vergessen müßte. Ich weiß ganz gut, daß er dir verboten hat, meinen Namen zu erwähnen«, fügte er erregt hinzu, »sag, ist es nicht so?« »Das ist schon lange her«, entgegnete Mary, »und zwar gleich nach eurem Zwiste und bevor du noch sein Haus verlassen hattest. Seitdem hat er es nicht wieder getan.«

»Und zwar deswegen nicht, weil er keinen Anlaß dazu hatte«, sagte Martin; »doch das ist übrigens jetzt nicht weiter von Belang. Ich glaube, es wird jedenfalls das beste sein, Geliebte« – er drückte Mary hastig an sich, denn die Zeit des Abschieds war gekommen – »wir tun so, wenn wir einander schreiben, als ob er gestorben wäre. – Und jetzt behüt dich Gott! Es ist ein seltsamer Ort für ein solches Zusammentreffen und einen solchen Abschied, aber unser nächstes Wiedersehen soll an einem besseren und unser nächstes und letztes Scheiden an einem schlechteren stattfinden.«

»Noch eine Frage muß ich an dich richten, Martin«, rief Mary. »Bist du für deine Reise auch gehörig mit Geld versehen?«

»Ob ich damit versehen bin?« rief Martin, entweder aus Stolz oder wirklich in der Absicht, sie zu beruhigen, bemüht, ihr die Wahrheit zu verhehlen. »Ob ich mit Geld versehen bin? Nun, das wäre vielleicht eine Frage für die Frau eines Auswanderers. Wie könnte ich denn ohne Mittel zu Wasser oder zu Lande weiterkommen, Schatz?«

»Ich meine, ob du genug hast?«

»Genug? Mehr als genug. Die ganze Tasche voll. Mark und ich sind bei Licht betrachtet so reich, als ob wir Fortunats Säckel in unserem Gepäck hätten.«

»Es hat halb geschlagen«, mahnte Mr. Tapley.

»So leb wohl, Martin, viel tausendmal!« rief Mary mit bebender Stimme.

Ein »Lebewohl« ist ein bitterer Trost. Mark Tapley wußte das vollkommen; vielleicht war’s ihm vom Lesen her bekannt, vielleicht aus Erfahrung, vielleicht sagte es ihm sein eigenes Herz. Wie er zu diesem Wissen kam, kann man unmöglich erklären, aber instinktiv tat er das Klügste, was man in einem solchem Umstande tun konnte, er gab sich nämlich den Anschein, als sei er von einem heftigen Niesen befallen, und wandte das Gesicht ab, so daß die beiden Liebenden gewissermaßen unbeachtet und allein waren. Eine kurze Pause, dann eilte Mary hastig mit heruntergelassenem Schleier an Mark vorbei und winkte ihm, ihr zu folgen. Ehe sie um die Ecke bog, machte sie noch einmal halt, blickte zurück und winkte Martin mit der Hand. Er wollte zu ihr eilen und ihr noch ein paar Abschiedsworte sagen, aber sie wandte sich um und eilte schnellen Schrittes davon.

Als Mark in Martins Behausung zurückkehrte, fand er seinen Herrn verdrießlich vor dem verstaubten Kamin sitzen, beide Füße an die Gitterstange angestammt, die Ellenbogen auf den Knien und das Kinn auf die Handflächen aufgestützt.

»Nun, Mark?«

»Nun, Sir?« sagte Mark und atmete tief auf. »Das gnädige Fräulein ist jetzt wohlbehalten wieder zu Hause, und ich bin froh darüber. Sie läßt Ihnen noch alles mögliche Gute und Schöne ausrichten, Sir, und sendet Ihnen dies hier«, damit händigte er Martin einen Ring ein, »als Andenken.«

»Diamanten!« rief Martin, bedeckte den Ring mit Küssen, nicht etwa seines Wertes wegen, zu seiner Ehre sei es gesagt, sondern, weil er von Mary kam, und steckte ihn an seinen kleinen Finger. »Prachtvolle Diamanten. Mein Großvater ist wahrhaftig ein wunderlicher Kauz, Mark; er muß ihr den Ring offenbar geschenkt haben.«

Mark Tapley war sofort davon überzeugt, daß sie ihn gekauft hatte, um ihrem nichtsahnenden Geliebten für den Fall der Not einen Wertgegenstand an die Hand zu geben, so fest, wie er wußte, daß es Tag und nicht Nacht war, aber er sagte kein Wort. Allerdings hatte er weiter keine Kenntnis hinsichtlich der Herkunft des Geschmeides, das jetzt an Martins ausgestrecktem Finger glänzte, aber dennoch war er so durchdrungen davon, daß sie dafür ihre sämtlichen Ersparnisse ausgegeben hatte, als wäre er dabeigewesen, wie das Geld Guinee für Guinee auf den Tisch des Juweliers hingezählt worden! Martins befremdende Kurzsichtigkeit in dieser Beziehung ließ ihm plötzlich einen tiefen Blick in das Innerste seines Charakters tun, und der Grundzug seines Wesens war ihm mit einem Male kein Geheimnis mehr.

»Sie ist des Opfers wert, das ich für sie gebracht habe«, sagte Martin, verschränkte die Arme und blickte nachdenklich in die glimmende Asche im Kamin. »Ja, sie ist dessen wert! Keine Schätze der Welt« – dabei streichelte er sich gedankenverloren das Kinn – »hätten mich für den Verlust eines solchen Herzens schadlos halten können; – ganz abgesehen davon, daß ich, als ich um ihre Liebe warb, nur dem Drange meines eigenen Herzens folgte und allerdings zugleich die selbstsüchtigen Absichten anderer durchkreuzte, die kein Anrecht auf sie hatten. – – Ja, ja, sie verdient das ihr gebrachte Opfer vollständig, daran ist kein Zweifel.«

Diese leise gemurmelten Worte schienen Mr. Tapleys Ohr erreicht zu haben, wenigstens blieb er mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdruck unbeweglich stehen, bis Martin aus seinem Grübeln erwachte und sich nach ihm umsah. Da wandte er sich ab, als fiele ihm plötzlich die Notwendigkeit gewisser Reisevorbereitungen ein, lächelte gezwungen und schien sich, nach den Bewegungen seiner Lippen zu schließen, zu denken:

»Na, das kommt ja recht nett.«

15. Kapitel


15. Kapitel

Sei mir gegrüßt, Columbia!

Eine dunkle und traurige Nacht! Die Menschen schmiegten sich in ihre Betten oder sammelten sich um das späte Kaminfeuer. Die Not fröstelte an den Straßenecken, und die Kirchentürme summten noch unter den schwachen Vibrationen ihrer eigenen Zungen, die soeben erst mit gespenstischem Ruf die erste Stunde nach Mitternacht verkündet hatten. Die Erde lag unter einem schwarzen Leichentuch, als sei sie das Grab des gestrigen Tages. Gruppen dunkler Bäume nickten trauervoll mit ihren riesigen Leichenfederbüschen. Alles war still und lautlos oder lag in tiefem Schlummer, ausgenommen die unruhigen Wolken, die über den Mond dahinhuschten, und der unstete Wind, der bald auf dem Boden dahinkroch, wie um zu horchen, und dann rauschend weiterzog, bald wieder haltmachte, um gleich darauf seine Fährte wieder aufzunehmen wie der Wilde auf der Spur eines Feindes. Wie schuldbeladene Gespenster schienen Wind und Wolken nach einem gemeinsamen finsteren Versammlungsort zu ziehen; befreit aus der drückenden Fessel, die da Erde heißt, jagten sie über die endlose Fläche der Gewässer. Dort heulten sie, tobten und brüllten und wüteten die ganze Nacht hindurch. Tönende Stimmen hallten aus den Höhlen an der Küste jener sagenhaften Insel wider, die Tausende von Meilen inmitten zürnender Wellen schläft. Dort begegneten einander die brausenden Stürme, in unbekannten Einöden der Welt erzeugt, und rangen und stritten mit der ganzen Wut ungezügelter Freiheit miteinander, bis die See, bis zur Raserei aufgepeitscht, in ein noch weit gewaltigeres Toben ausbrach und der ganze Schauplatz sich in wirbelnden Wahnsinn verwandelte.

Weiter, weiter und immer weiter, bis ins Unabsehbare rollten die hoch sich aufbäumenden Wogen. Berge und Höhlen entstanden, doch schon im nächsten Augenblick wurde der Berg wieder zum Tal und das Tal zum Berg – und das Meer schien ein einziger kochender Strudel. Verfolgung, wilde Flucht, tolle Rückkehr, Welle auf Welle und ein wütender Kampf ringsum und dann aufsprudelnder Schaum, der als weißer Schein durch die schwarze Nacht leuchtete; ein unablässiger Wechsel von Ort, Gestalt und Farbe; in nichts Beständigkeit als im ewigen Kampfe. Fort, fort und fort rollten die Wogen dahin, dunkler wurde die Nacht und lauter heulten die Winde und ungestümer wurden die Millionen Stimmen des Meeres, wie der Sturm den wilden Ruf weitertrug: »Ein Schiff!«

Vorwärts arbeitet sich ein Schiff, mutvoll mit den Elementen ringend; die hohen Masten zittern, die Spieren knarren unter dem gewaltigen Druck. Dahin geht es, jetzt hoch auf den sich bäumenden Wogen, jetzt tief unten in den dunklen Wasserschluchten, wie um sich zu verbergen, und lauter und lauter scheinen die Stimmen der Stürme zu rufen: »Ein Schiff!«

Doch weiter kämpft sich das wackere Fahrzeug und, über seine Kühnheit und die vorauseilende Kunde seines Nahens erstaunt, erheben sich die zornigen Wellen, wie um sich einander über die weißen Häupter hinweg sehen zu können, drängen sich um seinen Bord und rauschen heran von ferne in schrecklicher Neugier. Hoch über ihm brechen sie sich, rund umher brausend in wildem Getümmel, um dann stöhnend zurückzuweichen, jede die Schwester in grimmigem Zorne zertrümmernd. Furchtlos bahnt sich das Schiff seinen Weg vorwärts, mit düsterbrennenden Lichtern und schlafenden Menschen an Bord. Trotz der unaufhörlich über Deck rauschenden Sturzwellen, deren Treiben auch der Tag noch kein Ende machen zu wollen scheint. Durch jede Spalte und Ritze späht das todbringende Element, voll Haß bemüht, die dünne Planke zu zerbersten, die den Seemann von seinem Grab in der bodenlosen Tiefe trennt.

Unter den schlafenden Reisenden an Bord befanden sich auch Martin und Mark Tapley, beide durch die ungewohnte schlingernde Bewegung des Schiffes in ohnmachtsähnlichen Schlummer versetzt und sich der dumpfigen Luft der Kojen so wenig bewußt wie des Aufruhrs draußen.

Das Tageslicht schien bereits hell durch die Luken, als Mark mit dem unbestimmten Gefühl erwachte, er habe sich in eine Bettstelle niedergelegt, in der im Laufe der Nacht das Unterste zuoberst gekehrt worden sei. Das erste, dessen er ansichtig wurde, und zwar senkrecht über seinem Kopf, waren seine eigenen Fersen.

»Ha«, sagte er, nachdem er es nach langem Kampfe mit dem Auf- und Niederrollen des Schiffes endlich zu einer sitzenden Stellung gebracht, »na, das ist, dächte ich, das erstemal in meinem Leben, daß ich die ganze Nacht über auf dem Kopf gestanden habe.«

»Dann müssen Sie sich eben nicht mit dem Kopf leewärts legen«, brummte ein Mann in einer der Schlafstellen.

»Wohin soll ich mich mit meinem Kopf nicht legen?« fragte Mark.

Der Mann wiederholte seinen guten Rat.

»Na, dann werd ich’s das nächstemal bleiben lassen«, sagte Mark, »wenn ich nur erst mal weiß, in welcher Gegend das Land, das Sie soeben genannt haben, liegt. – Übrigens kann ich Ihnen auch einen Rat geben: gehen Sie lieber auf festem Lande als auf einem Schiff schlafen.«

Der Mann knurrte mißvergnügt etwas durch die Zähne, drehte sich auf die andere Seite und zog sich das Bettuch über die Ohren.

»Denn«, sagte Mark Tapley und verfolgte den Gedanken im Selbstgespräch leise weiter, »die See ist das Unvernünftigste überhaupt. Nie weiß sie, was sie eigentlich will. Sie hat eben keine geistige Beschäftigung; daher ihre Zerfahrenheit. Wie die Polarbären in der Menagerie wackelt sie auch immer mit dem Kopf von einer Seite zur anderen. Nicht einen Augenblick kann sie ruhig sein. Das kommt natürlich von ihrer entsetzlichen Borniertheit.«

»Sind Sie’s, Mark?« fragte eine müde Stimme aus einer Koje nebenan. »Jawohl, Sir. Oder besser gesagt: der schäbige Rest, der noch von mir übrig ist nach dieser vierzehntägigen greulichen Mißhandlung«, versetzte Mark Tapley. »Wenn ich bedenke, was ich seit unserer Ankunft an Bord für ’ne Art Lauseleben geführt habe, kann nicht gut mehr viel von mir übrig sein; darauf möchte ich schwören, Sir. Ganz besonders, wenn ich mich erinnere, was ich an genossenen Leckerbissen wieder von mir gegeben habe. – Wie geht es Ihnen übrigens heut morgen, Sir?«

»Hundsmiserabel«, stöhnte Martin. »Das ist ja furchtbar!«

»Da kann man wenigstens noch Ehre einlegen«, murmelte Mark, drückte die Hand auf seine schmerzende Stirn und blickte mit kläglichem Grinsen umher. »Und das ist ein großer Trost. Man kann sich’s wahrhaftig hoch anrechnen, wenn man hier nicht den Mut verliert. Ja ja, das Gute belohnt sich selbst. Daher auch die Fröhlichkeit.«

Mark hatte insofern recht, als tatsächlich jeder, der als Zwischendeckpassagier des schönen und schnellsegelnden Paketschiffes »Die Schraube« sich seine gute Laune bewahren wollte, auf seine eigenen Hilfsquellen angewiesen war und sich seinen guten Humor ebensogut wie seinen Mundvorrat, da zu beiden der Herr des Schiffes nichts beisteuerte, selbst mitgebracht haben mußte.

Ein dunkler, niedriger, erstickender Kajütenraum, bis zum Platzen mit Männern, Weibern und Kindern in den verschiedensten Stadien der Seekrankheit und des Elends angefüllt, ist niemals ein besonders angenehmer Unterhaltungsort. Wenn er aber so vollgestopft ist wie in diesem Falle, wo Matratzen und Betten auf dem Boden aufgehäuft lagen und auch nicht das kleinste Fleckchen mehr rein und sauber war, – dann wird nicht nur jede heitere Stimmung im Keime erstickt, sondern es entsteht geradezu Mißmut in seiner schlimmsten Form. Mark bemerkte das, sooft er sich umsah, und demgemäß stieg auch seine gute Laune. An Bord befanden sich Engländer, Irländer, Welshmen und Schotten, sämtlich mit ihrem kleinen Vorrat an halbverdorbenen Speisen und in schäbigen Kleidern. Fast alle hatten ihre Familien bei sich; ihre Weiber und Sprößlinge. Kinder jeglichen Alters, vom Säugling angefangen bis zur schlampigen halbwüchsigen Dirne, waren in dem engen Raum zusammengepfercht und litten gemeinsam an all den Qualen, die in Armut, Krankheit, Heimatlosigkeit, Sorgen und langer Seereise bei rauhem Wetter ihren Grund haben, und doch gab es in dieser ungesunden Arche Noah vielleicht weniger Bemänglung oder Zank als anderswo unter sogenannten geordneten Verhältnissen oder Hauswesen.

Mit pfiffiger Miene blickte Mark umher, und seine Mienen heiterten sich auf. Hier beugte sich eine alte Großmutter über ein krankes Kind, wiegte es in ihren Armen, die fast ebenso schwach waren wie die jungen Gliedmaßen des Kleinen; dort flickte ein armes Weib, ein Kind im Schoße, die Kleider eines andern kleinen Geschöpfes und beschwichtigte ein drittes, das von der dürftigen Bettstelle zu ihr hinkroch. Alte Männer verrichteten unbehilflich ihre kleinen Hausarbeiten, und gebräunte Gesellen – Riesen an Gestalt – erwiesen ihrer Umgebung allerlei zarte kleine Liebesdienste, wie man sie nur von den weichherzigsten, sanftesten Zwergen hätte erwarten können. Selbst der Blödsinnige drüben in der Ecke, der sonst den ganzen Tag über brütend dasaß, fühlte sich davon angesteckt und schnappte mit den Fingern, um ein weinendes Kindchen zu trösten.

»Na«, sagte Mark, nickte einer Frau zu, die ihre drei Kinder dicht neben ihm ankleidete, und lachte dabei von einem Ohr bis zum andern, »geben Sie mir mal eins von den Kleinen herüber.«

»Ich dächte, es wäre besser, Sie besorgten das Frühstück, Mark, statt daß Sie sich mit Leuten abgeben, die Sie nichts angehen«, bemerkte Martin ärgerlich. »Ganz recht«, meinte Mark, »das könnte aber vielleicht sie besorgen. Das wäre dann eine famose Arbeitsteilung, Sir. Ich wasche ihr die Buben, und sie macht uns den Tee. – Ich habe mich nie aufs Teekochen verstanden, aber ein Kind kann jeder Mensch waschen.«

Die Frau, die sehr zart und krank war, empfand seine Freundlichkeit um so tiefer, als er ihr überdies Nacht für Nacht seinen Mantel lieh und sich selbst auf den nackten Brettern mit einem Teppich begnügte – nur Martin, der selten aufstand oder für sonst etwas Augen hatte, war bitterböse über Marks Torheit und gab sein Mißvergnügen durch ein unwilliges Gebrumm zu erkennen.

»Ja, ja, es ist wahrhaftig so«, sagte Mark und bürstete das Haar des Kindes so geschickt wie ein ausgelernter Friseurgehilfe.

»Wovon sprechen Sie jetzt schon wieder?« fragte Martin.

»Von dem, was Sie gesagt haben«, versetzte Mark, »oder vielmehr, was Sie sagen wollten, als Sie vorhin Ihren Gefühlen in so trübseliger Weise Luft machten. – Ich bin ganz Ihrer Ansicht; es ist gewiß sehr hart für sie.«

»Was ist hart?«

»Die Reise allein machen zu müssen mit diesen kleinen Bälgern da. Zu dieser Jahreszeit sich einer solchen Reise zu unterziehen, um zu ihrem Gatten zu gelangen. – – – Wenn Sie nicht wollen, daß Ihnen die Seife ins Auge kommt, junger Herr«, sagte er zu dem zweiten Knirps, den er sich eben am Waschbecken vornahm, »werden Sie guttun, Ihre Gucklöcher zuzumachen.«

»Wo hofft sie denn ihren Mann zu treffen?« fragte Martin gähnend.

»Ich fürchte sehr«, meinte Mr. Tapley mit leiser Stimme, »daß sie es selbst nicht recht weiß. Hoffentlich werden sie sich nicht verfehlen. Sie schickte ihm ihren letzten Brief durch irgendeinen Auswanderer; aber auch sonst scheint keine sonderlich klare Verständigung zwischen ihnen stattgefunden zu haben. Wenn er daher nicht am Ufer steht und sein Schnupftuch schwenkt, wie es auf den Bildern im Gesangbuch abgebildet ist, so bin ich der Meinung, daß die Sache verdammt faul ausgehen wird.« »Aber in Teufels Namen, wie kommt das Weib dazu, sich an Bord eines Schiffes zu begeben, wenn das Ganze nur so ein Wagnis aufs Geratewohl ist?« rief Martin.

Mark sah einen Augenblick auf und erwiderte dann sehr ruhig:

»Hm. Das läßt sich leicht fragen. Ich kann mir’s auch nicht recht zusammenreimen. Vor zwei Jahren ist er ausgewandert. Sie war sehr arm und nicht sonderlich angesehen in ihrer Heimat. Natürlich wollte sie da zu ihm. Sehr sonderbar, daß sie hier ist; höchst erstaunlich, und ein bißchen verrückt vielleicht. Anders läßt sich’s nicht erklären.«

Martin fühlte sich zu seekrank, um auf diese Worte irgendeine Antwort zu geben oder auch nur auf sie zu achten. Inzwischen war der Gegenstand ihrer Unterhaltung mit etwas heißem Tee zurückgekommen und unterbrach auf diese Weise wirksam eine Wiederaufnahme des Themas von seiten Mr. Tapleys, der, sobald er sein Frühstück eingenommen und Martins Bett zurechtgemacht hatte, sich aufs Oberdeck verfügte, um das Service, das aus zwei zinnernen Näpfen und einer Rasierbüchse aus demselben Metalle bestand, auszuspülen.

Auch ihn hatte die Seekrankheit bei dem Schlingern des Schiffes sehr mitgenommen. Da er sich jedoch fest vorgenommen, auch unter den widrigsten Verhältnissen »Ehre einzulegen«, wie er es nannte, so bildete er sozusagen die Seele des Zwischendecks. Er machte sich auch nicht viel daraus, sogar mitten in einem launigen Gespräch aus Übligkeit beiseite gehen zu müssen; und jedesmal kehrte er nachher in der allerbesten und heitersten Laune zurück, um es wieder fortzusetzen, als ob ein bißchen Erbrechen die allergewöhnlichste Sache von der Welt wäre.

Auch als bei Besserung seines Befindens sich seine natürliche gute Laune von selbst wieder hob, merkte man das kaum, so fröhlich hatte er schon vorher geschienen. Nur sein Pflichteifer steigerte sich womöglich, und unverdrossen ließ er sich’s gefallen, daß man zu allen Tagesstunden seine Dienste in Anspruch nahm.

Wenn sich ein Sonnenstrahl an dem dunkeln Himmel zeigte, eilte er sofort in die Kajüte hinunter und kam gleich darauf mit irgendeinem Frauenzimmer am Arm, einem halben Dutzend Kindern, einem kranken Mann, einem Bett, einer Pfanne, einem Korb oder sonst irgendeinem Objekt, gleichviel ob belebt oder unbelebt, wieder zum Vorschein. Wenn gegen Mittag für ein paar Stunden schönes Wetter einsetzte und die armen Teufel, die zu andern Zeiten selten oder nie auf Deck kamen, heraufkrochen, sich auf die Deckplanken niederlegten und zu essen versuchten, so konnte man wetten, daß Mr. Tapley mitten unter dem Häuflein stand, Pökelfleisch und Zwieback verteilend, Grog einschenkend, den Kindern mit seinem Taschenmesser Brot abschneidend oder zur allgemeinen Zerstreuung aus einer uralten Zeitung vorlesend. Zuweilen sang er auch irgendein Lied, schrieb für Leute, die es selbst nicht verstanden, Briefe an ihre Freunde in der Heimat, machte Witze mit den Matrosen, wurde auch gelegentlich in die Nässe geschleudert und tauchte dann triefend aus einem Schauer von Sprühe auf, oder ging da und dort hilfreich an die Hand. Kurz, immer zeigte er sich tätig und fleißig. Wenn abends auf dem Verdeck Feuer angezündet wurde und die unter dem Takel- oder Segelwerk umherfliegenden Funken das Schiff mit sicherer Vernichtung durch Brand zu bedrohen schienen, im Falle es den wäßrigen und luftigen Elementen nicht gelingen sollte, die Zerstörung zu bewerkstelligen, so war es wieder Mr. Tapley, der, den Rock abgelegt und die Hemdsärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt, bei allen Küchenverrichtungen mithalf, den Koch machte und die seltsamsten Gerichte auf den Tisch trug oder bereiten half, bis ihn schließlich jeder als eine Art Autorität anerkannte; mit einem Wort, niemals gab es wohl eine beliebtere Person an Bord des edeln und schnell segelnden Paketschiffes »Die Schraube« als Mark Tapley; und schließlich erntete er eine so allgemeine Bewunderung, daß er innerlich schon wieder ernstlich zu zweifeln begann, ob es noch eine Kunst genannt werden könne, unter so günstigen Bedingungen fidel zu sein.

»Wenn das so weitergeht«, sagte er vor sich hin, »so sehe ich keinen großen Unterschied zwischen der Schraube und dem Drachen. Ich glaube, es ist mir wirklich beschieden, nie und nirgends Ehre einzulegen, und ich fange wahrhaftig an zu fürchten, daß das Schicksal sich verschworen hat, mir die Welt leicht zu machen.« »Was glauben Sie, Mark«, rief Martin aus seiner Koje, in deren Nähe Mr. Tapley diese Worte vor sich hingesprochen hatte; »wann wird das alles endlich einmal ein Ende nehmen?«

»Wie ich höre«, berichtete Mark, »werden wir in einer Woche oder so irgendeinen Hafen anlaufen. Das Schiff beeilt sich jetzt, wie sich ein Schiff überhaupt nur beeilen kann. Aber das ist weiter nichts Anerkennenswertes; es ist seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.«

»Dieser Meinung bin ich auch«, brummte Martin.

»Sie würden sich, glaube ich, wohler befinden, wenn Sie mal aus ihrer Koje rauskröchen«, bemerkte Mark.

»Ja, natürlich; damit die Damen und Herren vom Hinterdeck sehen«, grollte Martin verdrossen, »wie ich mich unter dem elenden Bettlervolk herumtreiben muß, mit dem dieses elende Loch vollgepfropft ist. Und da sollte ich mich dann besser fühlen!«

»Gott sei Dank, daß ich nicht aus eigener Erfahrung weiß, wie ein Gentleman innerlich fühlt«, sagte Mark. »Aber ich sollte meinen, daß es auch einem Gentleman hier unten viel unbehaglicher zumute sein müßte als oben in der frischen Luft; besonders, wo die Damen und Herren von der Hinterkajüte gerade so wenig von ihm wissen wie er von ihnen.«

»Davon verstehen Sie offenbar nichts«, brummte Martin verdrossen.

»Sehr leicht möglich, Sir; das kommt bei mir öfters vor«, versetzte Mark in seiner unerschütterlichen Heiterkeit.

»Glauben Sie vielleicht, daß es mir Vergnügen macht, hier zu liegen?« fragte Martin, richtete sich auf den Ellbogen auf und warf einen ärgerlichen Blick auf ihn.

»Sämtliche Narrenhäuser der Welt zusammengenommen haben nicht einen einzigen Verrückten aufzuweisen, der so etwas glauben würde.«

»Warum reden Sie mir also dann zu, daß ich aufstehen soll?« fragte Martin. »Ich bleibe hier liegen, um nicht später einmal, wenn ich in bessern Verhältnissen sein werde, von irgendeinem Geldprotzen als der Mensch erkannt zu werden, der zugleich mit ihm als Zwischendeckpassagier nach Amerika gefahren ist. Ich bleibe hier liegen, um mich versteckt zu halten und weil ich nicht in der Neuen Welt mit dem Stempel tiefster Armut gebrandmarkt ankommen will. Hätte ich einen Platz auf dem Hinterdeck bezahlen können, so würde ich mich öffentlich zeigen wie die andern. Da das leider nicht der Fall ist, muß ich mich eben verbergen.«

»Das tut mir sehr leid, Sir«, bedauerte Mark. »Ich habe nicht wissen können, daß Sie sich’s so zu Herzen nehmen.«

»Natürlich, wie können Sie’s denn auch wissen, wenn ich’s Ihnen nicht sage. – – Sie machen sich selbstverständlich nichts daraus, sich unter die Leute hier zu mischen. Sie sind’s wahrscheinlich gewöhnt. Bei mir ist aber das Gegenteil der Fall. Glauben Sie mir, es ist kein Mann an Bord, der so viel leidet wie ich. Wie?« Er richtete sich auf und sah Mark mit einer Mischung von Ernsthaftigkeit und Neugierde an.

Mark schnitt ein Gesicht und schien es offenbar für sehr schwer zu halten, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Schließlich erlöste ihn Martin selbst aus seiner Verlegenheit, indem er sich wieder zurücklehnte, nach seinem Buche griff, in dem er vorhin gelesen, und sagte:

»Aber was stelle ich Ihnen auch solche Fragen, wo Sie doch die wahre Bedeutung meiner Worte gar nicht verstehen können. Machen Sie mir, bitte, ein wenig Branntwein mit Wasser zurecht; kalt und sehr schwach; – und dann geben Sie mir einen Zwieback und sagen Sie Ihrer wertgeschätzten Freundin, sie solle darauf achten, daß ihre Kinder heute nacht sich ein wenig ruhiger verhalten. Vergessen Sie aber nicht, ihr es auszurichten; wir könnten sonst leicht aneinandergeraten.«

Mit großer Bereitwilligkeit kam Mr. Tapley diesem Befehl nach, und dabei schien seine gute Laune wieder aufzuleben; wenigstens brummte er vor sich hin, daß die »Schraube«, was die Möglichkeit beträfe, aus dem Fidelsein eine Kunst zu machen, doch so mancherlei vor dem »Drachen« voraus habe.

Kurze Zeit darauf entstand eine große Aufregung an Bord, und allerhand Prophezeiungen kursierten hinsichtlich des Tages, ja sogar der Stunde, in der man New York bestimmt erreichen werde. So viel Gedränge und Neugierige, die alle nach Land ausspähten, hatte es bis jetzt noch nicht auf dem Verdeck gegeben. Wie eine Krankheit überfiel alle die Sucht, morgens einzupacken, was abends wieder ausgepackt werden mußte, und wer Briefe zu besorgen, Freunde zu treffen oder irgendeinen bestimmten Lebensplan für Amerika hatte, besprach wohl hundertmal am Tag, was ihm am meisten am Herzen lag. Und da die Zahl solcher Passagiere sehr klein, die der andern aber sehr groß war, so gab es wenig Sprecher und sehr viel Zuhörer. Leute, die auf der ganzen Fahrt unwohl gewesen waren, wurden jetzt plötzlich gesund, und den stets Gesunden wurde noch wohler. Ein amerikanischer Gentleman vom Hinterdeck, der auf der ganzen Fahrt im Pelz und Wachsleinwandanzug eingemummt dagesessen, tauchte jetzt mit einem Male mit einem sehr glänzenden, sehr hohen und sehr schwarzen Hute auf und hantierte beständig mit einem kleinen Felleisen aus Naturleder herum, das seine sämtlichen Kleider nebst Wäsche, Bürsten, Rasierzeug, Büchern, Juwelen und andern unentbehrlichen Dingen enthielt. Die Hände tief in die Taschen vergraben, wanderte er auf dem Verdeck auf und ab mit aufgeblasenen Nüstern, als atme er schon die Luft der Freiheit ein, die bekanntlich allen Tyrannen den Tod bringt und niemals – vereinzelte Fälle vielleicht ausgenommen – von Sklavennaturen eingeatmet werden kann. Ein englischer Gentleman, der stark im Verdachte stand, ein flüchtiger Bankkassierer zu sein und mancherlei mitgenommen zu haben, was von Rechts wegen in die Kassen gehörte, wurde sehr beredt hinsichtlich des Themas »Menschenrechte« und summte ohne Unterlaß die Marseillaise. Kurz, überall herrschte die größte Aufregung an Bord. Immer mehr näherte sich das Schiff der Küste, und endlich, in einer sternenhellen Nacht, wurde ein Lotse an Bord genommen, ein paar Stunden später bis zum Morgen beigelegt und die Ankunft des Dampfers erwartet, in dem die Passagiere an Land gebracht werden sollten.

Die Barkasse langte bald nach Tagesgrauen an und blieb eine Stunde oder so Bord an Bord neben der »Schraube« liegen, ein Ereignis, das sogar die stummen Heizer sichtlich mit Interesse erfüllte. Dann wurde die gesamte lebende Fracht auf die Barkasse geschafft, darunter Mark, der noch immer seine arme Freundin und ihre drei Kinder bemutterte, und Martin, der wieder in seinen gewöhnlichen Anzug gekleidet war, darüber aber einen schmutzigen alten Mantel trug, um nicht aufzufallen.

Der Dampfer, der mit seiner Überdeckmaschine wie ein ungeheures Insekt oder antediluvianisches Ungeheuer aussah, schoß rasch eine schöne Bucht hinauf, und gleich darauf wurden einige Anhöhen, Inseln und eine große weitläufig angelegte Stadt sichtbar.

»Also dies«, sagte Mr. Tapley und ließ seinen Blick über das Panorama hinschweifen, »also das ist das Land der Freiheit. Gut. Freut mich. Mir ist jedes Land recht – nach so viel Wasser. Sei mir gegrüßt, Columbia!«

1. Kapitel


1. Kapitel

Einleitung. Der Stammbaum der Familie Chuzzlewit

Da sich begreiflicherweise niemand, weder Herr noch Dame, der einigermaßen auf guten Ruf hält, für die Familie Chuzzlewit interessieren kann, ohne nicht zuvor über deren Alter und Stammbaum Erkundigungen eingezogen zu haben, so sei hier versichert, daß die Chuzzlewits zweifellos in gerader Linie von Adam und Eva abstammten und schon in den frühesten Zeiten zur Klasse der Grundbesitzer gehörten. Sollten daher Neidlinge einwenden, ein oder der andere Chuzzlewit habe jemals gar zu viel Familienstolz an den Tag gelegt, so wird man gewiß eine solche Schwäche nicht nur verzeihlich, sondern sogar löblich finden, wenn man bedenkt, wie hoch dieses Haus in Anbetracht seiner langen Ahnenreihe über allen andern steht.

Es ist höchst bemerkenswert, daß sogar schon die älteste Familie, von der wir wissen, einen Mörder und Landstreicher aufzuweisen hatte; und ebenso stoßen wir auch stets in den Annalen jeder alten Familie auf unzählige Wiederholungsfälle desselben Charakterzuges. Man kann es vielleicht als Grundsatz aufstellen, daß, je länger die Ahnenreihe, um so größer auch die Summe von Gewalttat und unstetem Lebenswandel ist. Waren doch in alten Zeiten diese beiden nobeln Passionen als Mittel zur Wiederherstellung zerrütteter Vermögensverhältnisse sowohl wie als gesunde Leibesübung bei den Vornehmen gleich beliebt.

Welche Quelle inniger Herzensfreude muß es daher sein, wenn man erfährt, daß die Chuzzlewits zu den verschiedensten Zeitepochen bei Verschwörungen, Mord und Totschlag mit beteiligt waren. Man sagt ihnen sogar nach, daß sie des öfteren, vom Scheitel bis zur Zehe in schuß- und hiebfesten Stahl gehüllt, ihre in Lederwämser gekleideten Söldner mit nimmerwankendem Mut in den Tod geführt hätten und sodann wohlbehalten zu den Ihrigen zurückgekehrt seien.

Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß wenigstens ein Chuzzlewit mit Wilhelm dem Eroberer nach England herüberkam und von Britannien Besitz ergriff. Es hat allerdings nicht den Anschein, als ob dieser erlauchte Ahne sich beim Besitzergreifen besonders ausgezeichnet hätte; – wenigstens fiel die Familie zu keiner Zeit besonders durch großen Grundbesitz auf. Und daß der große Normanne bei derartigen Eigentumsverleihungen an seine Günstlinge die Tugend der Freigebigkeit und Dankbarkeit ebenso frei entfaltete, wenn es galt, fremdes Gut zu verschenken, wie andere Große, ist doch allgemein bekannt.

Es unterliegt ferner keinem Zweifel, daß ein Chuzzlewit bei der Pulververschwörung beteiligt war, wenn nicht gar der Erzverräter Fawkes selbst zu diesem merkwürdigen Geschlechte gehörte, was recht wohl möglich wäre, da der Sage nach einst ein gewisser Chuzzlewit nach Hispanien auswanderte und daselbst eine Spanierin ehelichte, mit der er einen olivenfarbigen Sprößling zeugte. Diese Annahme gewinnt noch an Wahrscheinlichkeit, wenn man erfährt, daß in späteren Zeiten viele Chuzzlewits, nachdem sie bei anderen Unternehmungen gescheitert, sich – offenbar erblich belastet – ohne die mindeste vernünftige Hoffnung, dadurch reich zu werden, oder aus sonst einem erdenklichen Grund als Kohlenhändler etabliert und Monat um Monat ohne Unterlaß düster bei einem kleinen Brennvorrat Wache gehalten haben, ohne daß sie auch nur ein einziges Mal mit einem Käufer ein Geschäft gemacht hätten. Die auffallende Ähnlichkeit zwischen diesem Verfahren und dem, das ihr großer Ahnherr in den unterirdischen Gewölben des Parlamentshauses von Westminster beobachtete, ist zu augenscheinlich und interessant, als daß es noch eines Kommentars bedürfte.

Nicht minder klar ist durch mündliche Tradition erwiesen, daß zu irgendeiner nicht bestimmt angegebenen Epoche eine würdige Matrone lebte, die so vertraut mit dem Anschüren von Feuer aller Art – besonders von Liebesflammen – war, daß man sie nur die »Amorsfackel« nannte, unter welchem Spitznamen sie bis auf den heutigen Tag in der Familienchronik weiterlebt. Wer könnte da noch zweifeln, daß sie die Spanierin war – die Mutter von Chuzzlewit Fawkes!

Es gibt indes auch noch einen anderen Beleg für die unmittelbare Beziehung dieser Familie zu jenem denkwürdigen Ereignis – der Pulververschwörung –, der jeden Zweifler, wenn es überhaupt nach den vorausgeschickten schlagenden Beweisen einen solchen noch geben kann, vollständig überzeugen muß.

Noch vor wenigen Jahren befand sich nämlich im Besitz eines wohlhabenden und dabei höchst achtbaren und in jeder Hinsicht glaubwürdigen und makellosen Mitgliedes der Chuzzlewits eine Blendlaterne von unzweifelhaftem Alter. Und, was noch interessanter ist, sie sah genau so aus wie die, die noch heutzutage allgemein in Gebrauch sind. Der genannte Gentleman ist zwar jetzt tot, war aber jeden Augenblick bereit, einen Eid darauf abzulegen, und beteuerte wiederholt aufs feierlichste, er habe zu verschiedenen Malen seine Großmutter, wenn diese die ehrwürdige Reliquie betrachtet, sagen hören: »Ei ja! Diese Laterne hat mein vierter Sohn am fünften November als Guy Fawkes getragen.« Diese merkwürdigen Worte mußten natürlich einen tiefen Eindruck auf ihn machen, weshalb er es auch liebte, den Ausspruch häufig zum besten zu geben. Die richtige Auslegung liegt auf der Hand. Die alte Dame, zwar von Natur aus sehr stark an Geist, war immerhin gebrechlich und hinfällig und litt auch bekanntermaßen an jener Verwirrung der Ideen oder doch wenigstens der Sprache, die so oft eine Folge des Greisentums und der Geschwätzigkeit ist. Offenbar wollte sie sagen: »Ei ja! Diese Laterne wurde getragen von meinem Ahnherrn« – nicht vierten Sohn, was ein Anachronismus wäre – »am fünften November. Und dieser war Guy Fawkes.« Hier haben wir mit einem Mal eine bestimmte, klare und natürliche Erklärung, die im vollkommensten Einklange mit dem Charakter der Sprecherin steht. So offenkundig läßt die Anekdote nur diese und keine andere Deutung zu, daß es kaum verlohnt hätte, sie in ihrer ursprünglichen Fassung vorzutragen, wenn sie nicht einen Beweis abgäbe, was sich alles nicht nur in historischer Prosa, sondern auch in Versen bei nur ein bißchen Aufwand von Fleiß von seiten eines Kommentators bewerkstelligen läßt.

Wohl verlautet, daß in neuerer Zeit kein Chuzzlewit auf vertrautem Fuß mit der feinen Gesellschaft gestanden hätte, aber auch hier müssen die schmähsüchtigen Verleumder, deren boshaftes Gehirn solche armseligen Erdichtungen schmiedete, vor den Tatsachen verstummen. Mehrere Mitglieder der Familie sind im Besitz von Dokumenten, aus denen aufs bestimmteste und in klaren Worten hervorgeht, daß ein gewisser Diggory Chuzzlewit sehr häufig beim Herzog Schmalhans zu Gaste war. Er war ein so stereotyper Gast an der Tafel dieses allgemein bekannten Edelmannes, und die Gastfreundschaft und Gesellschaft Seiner Gnaden wurde ihm so unablässig gewissermaßen aufgezwungen, daß er dieser Ehre nur mit Widerstreben entsprach und gelegentlich an seine Freunde schrieb: wenn sie sich nicht soundso dem Überbringer gegenüber verhielten, so bliebe ihm keine andere Wahl, als wieder bei dem Herzog Schmalhans zu Mittag zu essen.

Das nur als Beispiel!

Es wäre nutzlos, die hohe und stolze Stellung wie auch die ungemeine Bedeutsamkeit der Chuzzlewits zu verschiedenen Zeitepochen weiterhin zu erörtern. Sollte es in den Bereich vernünftiger Wahrscheinlichkeitsberechnung fallen, daß weitere Belege gefordert würden, so könnten sie zu wahren Bergen aufgeschichtet werden, deren Gewicht auch den verwegensten Skeptizismus zermalmen müßte. Wir haben über der Familiengruft bereits einen stattlichen Tumulus angehäuft und wollen es für dies Kapitel damit bewenden lassen. Nur als letzten Spaten Erde wollen wir hinzufügen, daß viele Chuzzlewits, sowohl männliche wie weibliche, nach dem höchst glaubwürdigen brieflichen Zeugnis ihrer Mütter fein geschnittene Nasen, ausgeprägte Kinne, Formen, die einem Bildhauer als Modell hätten dienen können, wunderschöne Gliedmaßen und so transparente glatte Stirnen hatten, daß die blauen verzweigten Adern darauf wie die Wege auf einer Himmelskarte durchschimmerten. Schon diese Tatsache allein würde jede Streitfrage hinsichtlich Herkunft mit einem Male erledigen, da bekanntlich alle diese Kennzeichen charakteristische Merkmale vornehmer Persönlichkeiten sind.

Da nun ausreichend bewiesen ist, daß es den Chuzzlewits durchaus nicht an Herkunft fehlt und sie zu der einen oder andern Zeit sich einer Bedeutsamkeit erfreuten, die nicht ermangeln kann, sie für alle Wohlgesinnten zu einer sehr schätzenswerten Bekanntschaft zu machen, so mag ihre Geschichte jetzt ihren Verlauf nehmen. Da ferner aus dem Alter der Familie zu folgern ist, daß sie zur Begründung und Vermehrung des Menschengeschlechts einen hübschen Beitrag geliefert hat, so wird es eines Tages Zeit sein, darzulegen, daß diejenigen Familienglieder, die in diesem Buche aufgeführt werden, noch viele Ur- und Gegenbilder in der uns umgebenden großen Welt haben. Vorderhand mag es genügen, im allgemeinen zu bemerken, erstens: daß man recht wohl behaupten darf – ohne gerade die Theorie zu Hilfe zu nehmen, die den wahrscheinlichen Ursprung unseres Geschlechts auf die Affen zurückleitet –, daß so manche Menschen recht kuriose Stücklein spielen; und zweitens: daß es – unbeschadet der Blumenbachschen Lehre, die den Adamsabkömmlingen weit mehr charakteristische Ähnlichkeiten mit den Schweinen als irgend andern lebenden Wesen in der Schöpfung zumutet – wieder andere gibt, die auf eine ganz merkwürdig geschickte Weise für ihre eigne Haut zu sorgen wissen.

10. Kapitel


10. Kapitel

Seltsame Dinge, von deren gutem oder schlimmem Einfluß viele Ereignisse dieser Geschichte abhängen

Aber Mr. Pecksniff kam ja geschäftehalber nach London! Hatte er denn das ganz vergessen? Konnte er auf die Dauer an Todgers‘ frischfröhlicher Gesellschaft Vergnügen finden, ohne der ernsten Obliegenheiten zu gedenken, die seine ruhige Überlegung in Anspruch nahmen? Keineswegs.

Zeit und Flut warten auf niemanden, sagt das Sprichwort. Der Mensch hat auf Zeit und Flut zu warten. Die Flut, die Mr. Pecksniff zum Glück führen sollte, stand in den Sternen geschrieben und hatte bereits eingesetzt. Pecksniff war kein Müßiggänger, der untätig auf trockenem Lande dem Wechsel der Strömung zusah; – nein, er stand bis über die Schuhe im Wasser, bereit, im tiefsten Schlamme fortzuwaten, wenn dieser Weg ihn seinem erhofften Ziele zuzuführen versprechen sollte. Das Vertrauen, das ihm seine beiden Töchter in jeder Hinsicht entgegenbrachten, hatte etwas Erhebendes. Sie hegten jene feste Zuversicht auf den Charakter ihres Erzeugers, die ihnen die Überzeugung verlieh, daß er in allem, was er tue, sein Ziel voll und unverrückbar im Auge behalten werde und daß das edle Ziel seines Strebens nichts anderes sein könne als seine eigene Wohlfahrt und demnach auch – die ihrige.

Ihr kindliches Vertrauen mußte um so rührender erscheinen, als sie im gegenwärtigen Falle durchaus keine Kenntnis von den wirklichen Absichten ihres Vaters hatten. Sie wußten von seinem Tun nicht mehr, als daß er jeden Morgen nach dem zeitig eingenommenen Frühstück auf das Postbureau eilte und nach eingelaufenen Briefen fragte. Nach Beendigung dieses Geschäftes war sein Tagewerk vorüber, und er konnte sich der Ruhe hingeben, bis die aufgehende Sonne des nächsten Morgens abermals die Ankunft einer neuen Post verkündete.

So entschwanden vier oder fünf Tage. Endlich kehrte eines Morgens Mr. Pecksniff atemlos und in einer Hast zurück, die von seiner gewohnten Ruhe seltsam genug abstach, und schloß sich unverzüglich auf ein paar Stunden mit seinen Töchtern zu geheimer Beratung ein. Von allem, was dabei vorging, sind uns nur folgende Äußerungen Mr. Pecksniffs zu Ohren gekommen:

»Wir brauchen uns nicht mit Grübeleien darüber aufzuhalten, wieso es kam, daß eine so gewaltige Wandlung mit ihm vorging, vorausgesetzt, daß eine solche, wie ich hoffe, wirklich stattgefunden hat, meine Lieben. Ich habe zwar so meine besondern Gedanken darüber, meine Kinder, will sie aber vorderhand noch für mich behalten. Uns genügt das Bewußtsein, daß wir weder stolz noch nachtragend oder unversöhnlich sind. Bedarf er unserer Freundschaft, so sei sie ihm gewährt. Wir kennen unsere Pflicht.«

Noch am selben Nachmittag stieg ein alter Herr aus einer Droschke vor der Post ab und fragte, nachdem er seinen Namen genannt, nach für ihn etwa eingelaufenen »Restante«-Briefen. Tatsächlich fand sich auch ein solcher, das Kuvert von Mr. Pecksniffs Hand geschrieben und mit seinem Petschaft gesiegelt.

Der Inhalt war sehr kurz und enthielt nichts weiter als eine Adresse »mit Mr. Pecksniffs respektvoller und – trotz allem Vorgefallenen – aufrichtiger Hochachtungsbezeugung.« Der alte Herr riß die Angabe von Stadtteil und Hausnummer ab und händigte sie, nachdem er das übrige in Fetzen dem Winde preisgegeben, dem Kutscher mit der Weisung ein, auf dem kürzesten Wege nach dem auf dem Streifen verzeichneten Orte zu fahren. Diesem Auftrag gemäß machte der Wagen bald darauf bei dem Monumente halt, der alte Herr stieg aus, entließ die Droschke und ging auf Todgers‘ Etablissement zu.

Obgleich dem Gesicht, der Gestalt und dem Gang nach ein Greis, verriet doch die Art, wie er den starken Stock, auf den er sich stützte, umfaßte, eine nicht leicht zu erschütternde Entschlossenheit und Festigkeit. Trotzdem schien der alte Herr noch zu zaudern; – wenigstens vermied er das Haus, das er suchte, noch eine Weile und benutzte einen kurzen Sonnenblick, der auf den kleinen Kirchhof in der Nähe herniederglänzte, um ein wenig auf und ab zu schlendern. In dem Anblick der alten Gräber mitten im geschäftigsten Gewühle des Lebens mochte für ihn etwas liegen, das seine Unschlüssigkeit eher steigerte, denn er wandelte, mit jedem Schritt das Echo weckend, auf und nieder, bis der Glockenton der Kirchturmuhr, die seit seiner Anwesenheit bereits zweimal je eine Viertelstunde geschlagen, ihn aus seinen Grübeleien aufrüttelte. – Da wich mit einem Male seine Unentschlossenheit, und hastig ging er auf das Haus zu und klopfte an die Türe.

Mr. Pecksniff saß in dem kleinen Stübchen der Mrs. Todgers und wurde von dem Besuche – rein zufällig natürlich – in der Lektüre eines vortrefflichen theologischen Werkes überrascht. Auf einem kleinen Tischchen neben ihm stand Kuchen und Wein – gleichfalls nur ganz zufällig, wie er ausdrücklich zu bemerken für nötig erachtete –, da er die Hoffnung, seinen erwarteten Gast bei sich zu sehen, bereits gänzlich aufgegeben und deshalb diese einfache Erfrischung für sich und seine Kinder bestellt hätte.

»Sind Ihre Töchter wohl?« fragte der alte Martin und legte Hut und Stock ab.

Mr. Pecksniff bejahte schlicht und bemühte sich nach Kräften, die Innigkeit seiner väterlichen Gefühle zu verbergen. Sie seien gute Mädchen, sagte er – sehr, sehr gute Mädchen. Er wage nicht, Mr. Chuzzlewit zu bitten, sich im Lehnstuhl niederzulassen, um der Zugluft der Türe auszuweichen, aus Furcht, seine Bitte als berechnende Höflichkeit mißdeutet zu sehen; – er wolle sich daher nur mit dem Hinweis begnügen, daß ein bequemer Stuhl im Zimmer stehe und die Türe nichts weniger als luftdicht sei – letzteres eine Unvollkommenheit, die, wie er vielleicht beizufügen so frei sein dürfe, in alten Häusern keineswegs selten vorkomme.

Der alte Mann setzte sich in den Lehnstuhl und begann nach einer kurzen Pause:

»Zuvörderst muß ich Ihnen danken, daß Sie auf meine fast gar nicht motivierte Bitte so bereitwillig nach London kamen – ich brauche wohl kaum zu bemerken: natürlich auf meine Kosten.«

»Auf Ihre Kosten, mein werter Herr?!« rief Mr. Pecksniff im Tone größter Überraschung.

»Ich bin nicht gewohnt,« versetzte Martin, ungeduldig mit der Hand abwinkend, »meine – nun ja, meine Verwandten – in Unkosten zu stürzen, wenn es sich um Befriedigung meiner Grillen handelt.«

»Grillen, mein werter Herr?!« rief Mr. Pecksniff.

»Im gegenwärtigen Falle habe ich allerdings kaum das passende Wort gewählt«, gab der alte Herr zu. »Nein, Sie haben recht.«

Mr. Pecksniff fühlte sich durch diese Worte, ohne eigentlich zu wissen, warum, innerlich sehr beruhigt.

»Sie haben recht«, wiederholte Martin. »Es ist keine Grille. Ich habe mir vorher alles reichlich und kaltblütig überlegt, und daher kann man es nicht ›Grille‹ nennen. Und außerdem neige ich überhaupt ganz und gar nicht zu Grillen.«

»Gewiß nicht«, versicherte Mr. Pecksniff.

»Wie können Sie das wissen?!« fuhr der alte Herr auf. »Sie werden es erst in Zukunft erfahren und mir künftighin bezeugen können. Sie und die Ihrigen sollen erst sehen, daß ich beharrlich sein kann und mir mein Ziel nicht verrücken lasse. – Verstehen Sie?«

»Vollkommen«, antwortete Mr. Pecksniff.

»Ich bedaure lebhaft«, nahm Martin in langsamem und gemessenem Tone seine Rede wieder auf und faßte dabei Mr. Pecksniff fest ins Auge, »ich bedaure lebhaft, daß bei unserm letzten Beisammensein eine so wenig erfreuliche Besprechung zwischen uns stattfand, das heißt, daß ich Ihnen so unverhohlen enthüllte, was ich damals von Ihnen dachte. Meine jetzige Gesinnung ist wesentlich anders, und ich nehme zu Ihnen meine Zuflucht, nachdem ich von allen, denen ich jemals über den Weg getraut, verlassen, und von denen, die mir Hilfe und Beistand leisten sollten, getäuscht und ausgebeutet wurde. Ich zähle auf Sie als auf einen Verbündeten, den ich durch die Bande seines eigenen Vorteils an mich zu knüpfen wünsche.« – Er legte einen großen Nachdruck auf diese Worte, obgleich ihn Mr. Pecksniff aufs angelegentlichste bat, dessen doch ja nicht zu erwähnen. – »Sie sollen mir helfen, die verdienten Strafen für Gemeinheit, Verstellung und Spitzbüberei, die man in schlimmster Weise an mir übte, über die Schuldigen zu verhängen.«

»Sie edler, hochherziger Mensch!« rief Mr. Pecksniff und ergriff voll Wärme die dargebotene Hand Mr. Chuzzlewits. »Und Sie bedauern, ungerechte Gedanken gegen mich gehegt zu haben – Sie mit Ihren grauen Haaren!?«

»Reue ist das natürliche Los grauer Haare«, entgegnete Martin, »und, wie wohl allen Menschen, ist der gebührende Anteil an dieser Erbschaft auch mir beschieden. – Doch genug davon. Es tut mir leid, so lange von Ihnen getrennt gewesen zu sein. Hätte ich Sie früher gekannt und so behandelt, wie Sie es verdienen, so wäre ich vielleicht ein glücklicher Mensch.«

Mr. Pecksniff sah zur Decke empor und faltete in stummer Begeisterung die Hände.

»Ich kenne Ihre Töchter noch nicht«, fing Martin nach einem kurzen Schweigen wieder an. »Gleichen sie Ihnen?«

»Die älteste hinsichtlich der Nase und die jüngere, was das Kinn betrifft, Mr. Chuzzlewit«, entgegnete der Witwer. »Ihre selige Mutter lebt in ihnen wieder auf.«

»Ich meine nicht äußerlich«, sagte der alte Mann, »moralisch – moralisch!«

»Darüber darf ich mir wohl kein Urteil anmaßen«, säuselte Mr. Pecksniff mit bescheidenem Lächeln, »ich kann nur sagen, ich habe mein Bestes getan, Sir.« »Ich möchte sie gerne sehen«, sagte Martin. »Sind sie in der Nähe?«

Allerdings waren sie in der Nähe, und zwar sehr in der Nähe; nämlich hinter dem Schlüsselloch! Nachdem Mr. Pecksniff sich die Zeichen seiner Ergriffenheit aus den Wimpern gewischt und den jungen Damen soviel Zeit gelassen hatte, um die Treppe hinauf zu huschen, öffnete er die Türe und rief mit sanfter Stimme in den Flur hinaus:

»Meine Herzblättchen, wo steckt ihr?«

»Hier, lieber Papa!« ließ sich aus der Ferne die Stimme von Miss Charitas vernehmen. »Komm doch mal ins Hinterzimmer herunter, meine Liebe«, flötete Mr. Pecksniff, »und bring auch deine Schwester mit!«

»Ja, lieber Papa«, antwortete Gratia und kam gleich darauf gehorsam und trällernd mit Charitas heruntergehüpft.

War das eine Bestürzung, als sie bei ihrem teuern Papa einen Fremden sitzen fanden! Und erst die stumme Überraschung, als er ihnen Mr. Chuzzlewit vorstellte und erklärte, er und Mr. Chuzzlewit seien jetzt Freunde und Mr. Chuzzlewit habe ihm soviel Liebes und Freundliches gesagt, daß es ihn im innersten Herzen ergriffen hätte. »Dem Himmel sei Dank dafür!« riefen sie wie aus einem Munde und fielen dem alten Herrn um den Hals. Mit unbeschreiblicher Glut und Zärtlichkeit hingen sie an seinem Nacken, gruppierten sich dann um seinen Stuhl und beugten sich über ihn, als gebe es fürderhin keine größere Erdenfreude mehr für sie, als ihm alle seine Wünsche an den Augen abzulesen und für den Rest seines Daseins alle die Liebe auf sein Haupt zu häufen, die er so lange – der liebe Trotzkopf! – von sich gewiesen.

Der alte Mann sah einigemal von der einen zur andern.

»Wie heißen sie?« fragte er, als Mr. Pecksniffs Auge – der bisher fromm zum Himmel aufgesehen wie ein verendender Schwan – dem seinen begegnete, »wie heißen sie?«

Mr. Pecksniff vertraute es ihm an und setzte – seine Verleumder würden natürlich wieder behauptet haben: mit Rücksicht auf testamentarische Gedanken, die dem alten Martin durch den Kopf gehen mochten – etwas hastig hinzu:

»Vielleicht, meine Kinder, würdet ihr gut tun, eure Namen auf ein Blatt Papier aufzuschreiben. Eure bescheidenen Autogramme sind zwar an sich bedeutungslos, aber die Liebe sieht nicht auf äußern Wert.«

»Die Liebe«, fiel der alte Mann ein, »wird sich an die lebenden Originale halten. Bemüht euch nicht, meine Kinder. Ich werde euch nicht so leicht vergessen, Charitas und Gratia, als daß es solcher Erinnerungszeichen bei mir bedürfte, Vetter!«

»Sir?« rief Mr. Pecksniff dienstfertig.

»Setzen Sie sich denn nie?«

»O ja – hin und wieder wohl, Sir«, antwortete Mr. Pecksniff, der die ganze Zeit über gestanden hatte.

»Haben Sie jetzt keine Lust dazu?«

»Wie mögen Sie nur fragen?« antwortete Mr. Pecksniff und ließ sich rasch auf einen Stuhl nieder. »Wo ich doch sehe, daß Sie es wünschen.«

»So sprechen Sie jetzt und meinen es auch gut«, sagte Martin; »aber ich fürchte, Sie wissen nicht, was es bedeutet, den Launen eines alten Mannes Rechnung zu tragen, seinen Liebhabereien oder Abneigungen Verständnis entgegenzubringen, sich seinen Vorurteilen zu fügen, allen seinen Wünschen zu willfahren, an seinem Argwohn und seiner Eifersucht Nachsicht zu üben und doch in seinem Dienste nicht zu erlahmen! Wenn ich bedenke, welche zahllosen Fehler ich besitze und wie hart ich noch vor kurzem über Sie geurteilt habe, so wage ich es kaum, auf Ihre Freundschaft Anspruch zu machen.«

»Mein lieber, wertgeschätzter Herr«, rief Mr. Pecksniff, »wie können Sie sich nur in einer für uns so schmerzlichen Weise äußern? – Was ist natürlicher, als daß Sie einen so verzeihlichen kleinen Mißgriff begehen mußten, wo Sie in jeder Hinsicht leider so triftigen Grund hatten, von Ihrer ganzen Umgebung stets das Schlechteste zu denken!?«

»Wahr«, seufzte Martin. »Sie verfahren sehr gelinde mit mir.«

»Wir haben immer gesagt – nämlich meine Mädchen und ich«, beteuerte Mr. Pecksniff mit steigender Zutraulichkeit, »daß wir uns nicht wundern dürften, mit feilen Seelen in einen Topf geworfen zu werden, wie beklagenswert es auch sei. Ihr erinnert euch doch, meine Lieben?« Oh, versteht sich, und wie genau! Wohl tausendmal war davon die Rede gewesen.

»Jedoch kein Wort der Klage kam über unsere Lippen. Nur hin und wieder sagten wir uns, daß am Ende doch die Wahrheit ans Licht kommt und die Tugend den Sieg davonträgt – wenn auch nicht immer. Ihr entsinnt euch doch noch, meine Kinder?«

Entsinnen? Wie konnte er nur zweifeln? »Liebster Papa, welch seltsame, unnötige Frage!«

»Und als ich«, hob Mr. Pecksniff mit noch größerer Anschmiegsamkeit wieder an, »als ich Sie in dem kleinen, anspruchslosen Dörfchen sah, wo wir so frei sind zu wohnen, sagte ich Ihnen bloß, mein teurer Herr, Sie seien hinsichtlich meiner Person im Irrtum; das war, glaube ich, alles.«

»Nein – nicht alles«, versetzte Martin, der eine lange Zeit dagesessen, die Stirn auf die Hand gestützt, und erst jetzt wieder aufsah. »Sie sagten noch viel mehr. Und das hat mir nebst andern Umständen, die mir zu Ohren kamen, die Augen geöffnet. Sie sprachen in sehr uneigennütziger Weise über – doch wozu seinen Namen nennen; Sie wissen schon, wen ich meine.«

Unruhe malte sich in Mr. Pecksniffs Zügen, während er seine fiebernden Hände zusammenpreßte und voll Unterwürfigkeit beteuerte:

»Ganz ohne selbstsüchtiges Motiv, Sir, ich kann Ihnen versichern.«

»Ich weiß es«, fiel ihm der alte Martin in seiner ruhigen Weise ins Wort, »ich bin überzeugt davon. Und ebenso uneigennützig war es von Ihnen, jene Schar von Harpyien von mir abzulenken und sich ihnen selbst zum Opfer hinzuwerfen. Die meisten anderen Menschen hätten ihnen sogar Vorschub geleistet, um sie sich in ihrer ganzen Raubgier entfalten zu lassen und mir den Kontrast mit dem eigenen Benehmen so recht vor Augen zu führen. Aber Sie fühlten für mich und zogen die Rotte von mir ab. Ich danke Ihnen dafür. Sie sehen, obgleich ich den Ort verlassen habe, so weiß ich doch, was hinter meinem Rücken vorging.«

»Sie setzen mich in Erstaunen, Sir!« rief Mr. Pecksniff – diesmal echt verblüfft. »Das, was mir von Ihrem Tun und Lassen zu Ohren kam, beschränkt sich jedoch nicht auf diese Punkte allein. Sie haben einen neuen Gast in Ihrem Hause –«

»Allerdings, Sir«, gab der Architekt zu; »es ist so.«

»Er muß es verlassen.«

»Um – um wieder zu Ihnen zu ziehen?« fragte Mr. Pecksniff mild mit tremolierendem Ton.

»Er soll sich ein Obdach suchen, wo er mag«, entgegnete der alte Mann. »Er hat Sie hintergangen.«

»Ich will nicht hoffen«, sagte Mr. Pecksniff hastig. »Nein, nein, ich kann das nicht glauben. Ich bin dem jungen Manne außerordentlich zugetan gewesen, und unmöglich kann sich’s jetzt herausstellen, daß er allen Anspruch auf meinen Schutz verwirkt hat. Hintergangen?! – Freilich, wenn er mich hintergangen hätte, mein teurer Mr. Chuzzlewit, so – so würde das allerdings entscheidend sein. Ich müßte es dann für meine Pflicht halten, mich auf der Stelle von ihm loszusagen.«

Der alte Mann blickte auf seine beiden schönen Karyatiden, namentlich aber auf Miss Gratia, der er sogar voll ins Gesicht sah, und mit weit größerem Interesse, als sich bisher in seinen Zügen ausgedrückt hatte. Dann begegnete er wieder Mr. Pecksniffs Auge und bemerkte ruhig:

»Sie wissen natürlich, daß er sich bereits seine künftige Gattin gewählt hat?«

»Gott im Himmel!« rief Mr. Pecksniff und strich sich mit einem entsetzten Blick auf seine Töchter das Haar möglichst steif in die Höhe.

»Das fängt ja furchtbar an!«

»Sie wissen also gar nichts davon?« forschte Martin.

»Aber er tat es doch hoffentlich nicht ohne Zustimmung seines Großvaters, mein teurer Herr? Ich beschwöre Sie bei der Ehre der menschlichen Natur, sagen Sie nein!«

»Dachte ich’s doch, daß er’s verschwiegen hat!« murmelte der alte Mann.

Der edle Unwille, der Mr. Pecksniff bei dieser schrecklichen Enthüllung ergriff, war nur mit dem auflodernden Zorne seiner Töchter zu vergleichen. Wie! So hatten sie also eine verkappte Schlange am heimischen Herde geborgen – ein Krokodil, das hinterlistigerweise bereits über seine Hand verfügt – einen Betrüger der menschlichen Gesellschaft – einen bankerotten Junggesellen, der unter falschen Vorspiegelungen mit der jungfräulichen Welt sein Spiel trieb? Und ach! Denken zu müssen, daß er in störrischem Ungehorsam den lieben, den ehrwürdigen alten Herrn gekränkt hatte, dessen Namen er trug – diesen freundlichen und zärtlichen Vormund, der ihm – von Mutter gar nicht zu sprechen – mehr als ein Vater gewesen war! Schrecklich, schrecklich! – Ihn mit Schmach und Schande aus dem Hause zu jagen, wäre noch eine viel zu sanfte Behandlung für ihn! Ließ sich ihm denn nicht noch etwas anderes antun? Hatte er nicht noch etwas verbrochen, das irgend Anlaß geben könnte, ihn den Gerichten zu überliefern? Wär‘ es denn möglich, daß die Gesetze des Landes an so wesentlichen Mängeln litten, um nicht einmal für solche Vergehungen eine Strafe bereit zu haben? Das Ungeheuer! Wie schändlich hatte es sie getäuscht!

»Es freut mich zu sehen, daß Sie so warm mit mir fühlen«, sagte der alte Mann und hob die Hand empor, um dem Strom ihres Grimmes Einhalt zu gebieten. »Ich will zwar nicht in Abrede stellen, daß mir Ihr Eifer Freude macht, aber betrachten wir die Sache jetzt für abgetan.«

»Nein, mein teurer Herr«, rief Mr. Pecksniff, »nicht für abgetan, bis ich nicht mein Haus von diesem Schandfleck gesäubert habe.«

»Das wird schon von selbst kommen«, beruhigte ihn der alte Mann. »Ich nehme an, es sei bereits geschehen.«

»Sie sind sehr gütig, Sir«, bedankte sich Mr. Pecksniff und schüttelte seinem Vetter die Hand. »Ihr Vertrauen ehrt mich. Wirklich, ich versichere Ihnen, Sie können die Sache als erledigt ansehen.«

»Ich muß jetzt noch einen anderen Punkt zur Sprache bringen«, nahm Martin seinen Faden wieder auf, »in dem Sie mir hoffentlich auch Ihre Unterstützung nicht versagen werden. Erinnern Sie sich an Mary, Vetter?«

»Die junge Dame, meine Kinder, von der ich euch sagte, sie interessiere mich so außerordentlich«, erklärte Mr. Pecksniff. »Entschuldigen Sie, daß ich unterbrochen habe, Sir.« »Ich habe Ihnen, wie Sie sich erinnern werden, ihre Geschichte erzählt.«

»Ihr entsinnt euch, meine Lieben, daß ich zu euch gleichfalls davon gesprochen habe«, rief Mr. Pecksniff. »Törichte Mädchen, Mr. Chuzzlewit, ganz gerührt waren sie davon.«

»Ei, da sehe einer«, sagte Martin, augenscheinlich sehr vergnügt. »Und ich fürchtete schon, mit ihr lästig zu fallen und Sie bitten zu müssen, ihr um meinetwillen gewogen zu sein. Nun finde ich, daß Sie durchaus nichts gegen sie haben! Gut! Ihr braucht auch nicht eifersüchtig auf sie zu sein. Sie weiß, meine Lieben, daß sie von mir nichts zu erwarten hat.«

Die beiden Misses Pecksniff bezeugten murmelnd ihren Beifall über diese weise Maßregel und gaben ihrer herzlichen Teilnahme für den interessanten Gegenstand derselben Ausdruck.

»Wenn ich hätte voraussehen können, wie wir vier noch einmal miteinander stehen würden –« klagte der alte Mann gedankenvoll. »Doch das ist zu spät jetzt. Ihr würdet sie also liebreich aufnehmen und freundlich behandeln, ihr lieben Mädchen?«

Wo war die Waise, die die beiden Misses Pecksniff nicht zärtlich an ihren schwesterlichen Busen gedrückt hätten? Wenn aber nun gar diese Waise von einem Manne ihrer Obhut empfohlen wurde, über den sich jetzt ihre seit vielen Jahren aufgespeicherte Zärtlichkeit in Strömen ergoß, welch unerschöpflichen Vorrat reiner Zuneigung hatte sie da nicht von solchen freundschaftschmachtenden Herzen zu erwarten.

Es folgte eine längere Pause, während der Mr. Chuzzlewit stumm und in seltsamer Geistesabwesenheit den Boden anstarrte. Da er augenscheinlich in seinen Betrachtungen nicht unterbrochen zu werden wünschte, so verhielten sich Mr. Pecksniff und seine Töchter gleichfalls mäuschenstill. Im Laufe des ganzen vorhergegangenen Dialogs hatte er mit kalter, leidenschaftsloser Geläufigkeit gesprochen, als sage er eine schon hundertmal und sorgfältig einstudierte Rolle herunter; selbst wenn er die wärmsten Worte gebraucht hatte. Jetzt aber leuchtete sein Auge heller auf, und seine Stimme wurde ausdrucksvoller, als er, aus seinem gedankenvollen Brüten erwachend, fortfuhr: »Sie wissen aber doch, was man davon halten wird? Haben Sie sich das auch überlegt?«

»Von was halten wird, mein teurer Herr?« fragte Mr. Pecksniff.

»Von diesem plötzlichen Einvernehmen zwischen uns.«

Mr. Pecksniff nahm eine wohlwollend scharfsinnige Miene an, in der sich zu gleicher Zeit die Erhabenheit über alle irdische Mißdeutung aussprach, und gab nickend zu, daß ohne Zweifel unsäglich viel darüber gesprochen werden würde.

»Allerdings unsäglich viel«, wiederholte der alte Mann. »Man wird sagen, daß ich in meinem hohen Alter zu faseln anfange, daß mich meine Krankheit mürbe gemacht habe, daß alle Kraft des Geistes von mir gewichen und ich kindisch geworden sei. Werden Sie das ertragen können?«

Mr. Pecksniff gestand, es sei freilich eine schrecklich schwere Aufgabe, aber doch glaube er dazu fähig zu sein, wenn er seine ganze Kraft zusammennähme.

»Wieder andere werden sagen – ich spreche natürlich nur von dem Heer der Enttäuschten –, Sie hätten durch Lügen, Schmeicheleien und sonstige nichtswürdige Mittel sich meine Gunst erschlichen, hätten die heillosesten Zugeständnisse gemacht und ließen sich eine so herabwürdigende und entehrende Behandlung gefallen, daß nicht einmal die Schätze unseres halben Erdballes eine genügende Entschädigung dafür bieten könnten. Fällt Ihnen auch das nicht zu schwer?«

Mr. Pecksniff erwiderte, daß solche Nachreden freilich gleichfalls sehr hart zu ertragen wären, da sie gewissermaßen Mr. Chuzzlewits gesundes Urteil in Abrede stellten; er habe jedoch die bescheidene Selbstzuversicht, sich angesichts seines guten Gewissens und der Freundschaft des alten Herrn sogar über derartige Schmähungen hinwegsetzen zu können.

»Der große Haufe der Lästerzungen und Verleumder«, fuhr der alte Martin fort und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, »wird, wie ich klar voraussehe, die Sache so auffassen: ich hätte, um dem erbärmlichen Gesindel meine Verachtung recht augenfällig kund zu tun, aus seiner Mitte den Allerelendesten ausersehen, ihn zu meinem willfährigen Sklaven gemacht und ihn auf Kosten aller übrigen Verwandten bereichert. Nachdem ich mich lange nach Züchtigungsmitteln umgesehen, die die Herzen dieser Aasgeier am tiefsten verwundeten, hätte ich diesen Plan in einem Zeitpunkt entworfen, als das letzte Kettenglied, das mich noch an mein Geschlecht gefesselt, mit roher Hand zerrissen wurde, mit roher Hand, sage ich – denn ich hing an Martin –, mit roher Hand, denn ich hatte immer auf seine Anhänglichkeit gebaut, mit roher Hand, da er das Band zerriß, als ich – so wahr mir Gott helfe – am zärtlichsten für ihn sorgen wollte, und mich gefühllos von sich stieß, während ich noch mit ganzer Seele an ihm hing! Nun«, setzte der alte Mann hinzu, den leidenschaftlichen Ausbruch seiner Gefühle ebenso schnell unterdrückend, als er sich ihm hingegeben, »sind Sie entschlossen, auch dies über sich ergehen zu lassen? Machen Sie sich darauf gefaßt, daß Sie es zu ertragen haben werden, und bauen Sie nicht darauf, daß ich mich Ihrer annehme.«

»Mein lieber Mr. Chuzzlewit«, rief Mr. Pecksniff, von Begeisterung überwältigt, »für einen Mann, wie Sie sich heute gezeigt haben – für einen Mann, der so tief gekränkt und doch so voll Menschenliebe ist – für einen, ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll – für einen zu gleicher Zeit so außerordentlichen Mann – ja, ich hoffe, es ist keine Anmaßung, wenn ich sage – und ich bin überzeugt, meine Kinder sind ganz meiner Ansicht (nicht wahr, meine Lieben, wir stimmen hierin vollkommen überein?) – für – für einen Mann, wie er mir immer als Ideal vorgeschwebt, könnte ich alles ertragen!«

»Gut«, sagte Martin. »Mir dürfen Sie also wegen der Folgen keine Vorwürfe machen! – – Wann kehren Sie nach Hause zurück?«

»Sobald es Ihnen beliebt, mein wertgeschätzter Herr. Heute abend noch, wenn Sie es verlangen.«

»Ich verlange nichts«, erwiderte der Alte. »Eine solche Forderung wäre unbillig. Paßt es Ihnen Ende dieser Woche?«

– Zu dieser Zeit gerade am allerbesten, würde Mr. Pecksniff versichert haben, wenn ihm nicht seine Töchter mit dem Ausruf zuvorgekommen wären: »Wir wollen also Samstag aufbrechen, liebster Papa.« – »Und Ihre Auslagen, Vetter«, sagte Martin und zog einen zusammengelegten Papierstreifen aus seiner Brieftasche, »übersteigen vielleicht diese Summe. Wenn dem so ist, so lassen Sie mich, was ich Ihnen noch schulde, bei unserer nächsten Zusammenkunft wissen. Es wäre zwecklos, wenn ich Ihnen meinen gegenwärtigen Aufenthalt angeben wollte, da ich mich nirgends lange aufhalte. Sollte es doch nächstens einmal der Fall sein, so werde ich es Sie wissen lassen. Sie und Ihre Töchter werden mich in Bälde zu sehen bekommen; auch brauche ich Ihnen wohl kaum zu sagen, daß hinsichtlich des Vorgefallenen strengste Verschwiegenheit herrschen muß. Was Sie zu tun haben, wenn Sie nach Hause kommen, ist bereits zwischen uns abgemacht. Sie brauchen mir darüber nicht zu berichten, auch später die Sache unter keinen Umständen weiter zu erwähnen. Ich muß mir diese Gunst von Ihnen erbitten. Ich bin kein Freund von vielen Worten, Vetter, und alles Nötige ist, glaube ich, bereits besprochen.«

»Nehmen Sie doch ein Glas Wein – einen Bissen von diesem hausgebackenen Kuchen!« rief Mr. Pecksniff, bemüht, den alten Herrn nach Kräften zurückzuhalten. »Meine Lieben – –«

– Die Schwestern flogen nur so, um ihn zu bedienen. –

»Die armen Mädchen!« klagte Mr. Pecksniff. »Sie müssen ihre Aufregung entschuldigen, mein werter Herr, denn sie sind durch und durch Empfindung. Eine schlimme Mitgift, um damit durch die Welt zu kommen, Mr. Chuzzlewit! Meine jüngste Tochter ist fast schon so sehr Weib wie die ältere – finden Sie nicht auch, Sir?«

»Welche ist die jüngere?« fragte der alte Mann.

»Gratia – um fünf Jahre. Wir wagen bisweilen, sie ziemlich hübsch gewachsen zu finden, Sir. Als Künstler zu sprechen, ist mir vielleicht zu bemerken erlaubt, daß ihre Umrisse anmutig und korrekt sind. Natürlich«, setzte Mr. Pecksniff hinzu, trocknete sich den Angstschweiß mit seinem Taschentuch von den Händen und sah fast bei jedem Worte seinem Vetter aufmerksam besorgt ins Gesicht – »natürlich bin ich stolz darauf – wenn ich mich dieses Ausdruckes bedienen darf –, eine Tochter zu besitzen, die nach den besten Modellen konstruiert ist.«

»Sie scheint ein lebhaftes Temperament zu haben«, warf Martin hin. »Bei Gott!« rief Mr. Pecksniff, »Wie außerordentlich merkwürdig! Sie haben ihren Charakter getroffen, mein werter Herr, als ob Sie sie von ihrer Geburt an gekannt hätten. – Freilich hat sie ein lebhaftes Temperament. Ich versichere Ihnen, mein werter Herr, in unserer anspruchslosen Heimat ist ihr Frohsinn fast sprichwörtlich.«

»Ich zweifle nicht im mindesten daran«, entgegnete der alte Mann.

»Andererseits zeichnet sich Charitas durch hellen Verstand und Gemütstiefe aus, wenn eine solche Beurteilung aus dem Munde eines Vaters nicht parteiisch klingt. Es herrscht eine wunderbare Harmonie unter ihnen, mein teurer Herr! Erlauben Sie mir, auf Ihre Gesundheit zu trinken. Gottes Segen über Sie!«

»Ich hätte mir’s vor einem Monat nicht träumen lassen«, murmelte Martin, »daß ich noch einmal mit Ihnen Brot und Wein genießen würde. – Auf Ihr Wohl!«

Nicht weiter durch die ungewöhnliche Schroffheit, mit der die letzten Worte gesprochen wurden, betroffen, drückte Mr. Pecksniff Martin seinen tiefstgefühlten Dank aus.

»Jetzt lassen Sie mich aber gehen«, sagte der Alte und stellte das Weinglas wieder nieder, das er kaum mit den Lippen berührt hatte. »Meine Lieben, guten Morgen!«

Dieses kühle Lebewohl war nicht zärtlich genug für die sehnsuchtsvollen Herzen der jungen Damen, und immer wieder und wieder umarmten sie den alten Herrn mit großer Innigkeit. Weit gutmütiger, als man von ihm hätte erwarten können, fügte dieser sich in ihre Liebkosungen, trotzdem er kaum einen Augenblick früher ihren Vater so wenig gefühlvoll abgefertigt hatte.

Nach glücklicher Beendigung der Zeremonie nahm Mr. Chuzzlewit hastig Abschied und entfernte sich, während ihn Vater und Töchter zur Haustüre begleiteten, dort stehen blieben und ihm, von Liebe überströmend, Kußhändchen nachwarfen, bis er außer Sicht war, trotzdem er sich befremdlicherweise kein einziges Mal umdrehte.

Als sie alle wieder in Mrs. Todgers‘ Zimmer versammelt waren, entwickelten die beiden jungen Damen eine ungewöhnliche Heiterkeit, klatschten in die Hände und lachten mit schelmischen Mienen und neckischen Gebärden ihren teuern Papa an. Dieses Benehmen war so unerklärlich, daß Mr. Pecksniff, der stets sehr ernster Natur war, nicht umhin konnte, ihnen wegen ihres leichtfertigen Sichgehenlassens in seiner milden Weise die entsprechenden Vorwürfe zu machen.

»Wenn ich mir nur den entferntesten Grund für solche Lustigkeit denken könnte«, sagte er, »so würde ich euch nicht tadeln. So aber, wo nicht der geringste Anlaß dazu ist – – nein, wahrhaftig – wahrhaftig – –!«

Diese Ermahnung machte leider so wenig Eindruck auf Gratia, daß sie sich in ihrem Sessel zurückwerfen und das Taschentuch vor ihre rosigen Lippen halten mußte, um nicht vor Lachen loszubrechen. Ein solcher Mangel an kindlicher Achtung mußte Mr. Pecksniff naturgemäß kränken, und eben wollte er eine angemessene Standrede halten und den väterlichen Rat hinzufügen, sie möge sich durch Selbstbetrachtung in der Einsamkeit zu bessern suchen, als ihn der Lärm streitender Stimmen aus dem Nebenzimmer unterbrach.

»Mir ganz wurst, Mrs. Todgers«, hörte man den jungen Herrn sagen, der am Tage des Banketts der jüngste unter den Gentlemen gewesen war. »Kümmert mich auch nicht so viel« – er schnappte dabei mit den Fingern – »der – der Jinkins, Madam! Glauben Sie mir das!«

»Ich bin vollkommen davon überzeugt, Sir«, versetzte Mrs. Todgers. »Ich weiß, Sie haben einen zu unabhängigen Charakter, um irgend jemandem nachzugeben. Und zwar mit Recht. Es ist kein Grund vorhanden, warum Sie irgendeinem Gentleman nachstehen sollten – das muß jedermann einsehen.«

»Ich würde mir so wenig daraus machen, das Tageslicht dem Kerl durch den Leib scheinen zu lassen«, rief der »jüngste Gentleman« außer sich vor Empörung, »wie einem Bullenbeißer.«

Mrs. Todgers hielt sich nicht lange mit der Erörterung der Frage auf, warum gerade ein Bullenbeißer den Gipfel der Wurstigkeit bei einem solchen Prozeß darstelle, sondern rang nur stöhnend die Hände.

»Er soll sich in acht nehmen«, zischte der jüngste Gentleman. »Ich warne ihn. Niemand soll es wagen, sich zwischen mich und den Strom meiner Rache zu werfen! Ich kenne einen – ›Kerl‹ –« versprach er sich in seiner Aufregung, verbesserte sich aber rasch, »einen vermögenden Gentleman, will ich sagen, der ein paar Pistolen besitzt. Wenn man mich so weit treibt, mir sie von ihm auszuborgen und Jinkins einen ›unangenehmen Herrn‹ zu schicken, so kriegen die Zeitungen ein Trauerspiel zu berichten. Weiter sage ich nichts.«

Mrs. Todgers stöhnte abermals.

»Ich hab‘ lange genug zugesehen«, fuhr der jüngste Gentleman fort, »aber jetzt empört sich alles in mir dagegen, und ich halte es nicht länger aus. Ich habe meinem Vaterhaus den Rücken gekehrt, weil sich etwas in mir dagegen auflehnte, mich von meiner Schwester herumkommandieren zu lassen, und glauben Sie vielleicht, ich werde mir hier von diesem Kerl auf den Kopf spucken lassen? O nein.«

»Es ist sehr unrecht von Mr. Jinkins – ich gebe zu, es ist geradezu unentschuldbar von Mr. Jinkins, wenn er wirklich so etwas beabsichtigt – –« wollte Mrs. Todgers zu besänftigen anfangen.

»Wenn er so etwas beabsichtigt?« rief der jüngste Gentleman. »Unterbricht er mich und widerspricht er mir vielleicht nicht bei jeder Gelegenheit? Versäumt er je, zwischen mich und die Gegenstände oder Personen zu treten, von denen er sieht, daß ich mein Auge auf sie geworfen habe? Tut er nicht immer, als habe er mich nur vergessen, wenn er das Bier verteilt? Renommiert er vielleicht nicht immer mit seinem Rasiermesser und läßt er nicht kränkende Bemerkungen über Leute fallen, bei denen es angeblich ein Radiergummi täte? Er soll nur zusehen, daß er sich nicht eines schönen Tages glatter rasiert findet, als ihm lieb ist. Das sage ich ihm ins Gesicht!«

Hinsichtlich des Schlußsatzes war nun allerdings der junge Gentleman ein wenig im Irrtum, sintemalen er nie etwas zu Mr. Jinkins persönlich sagte, sondern es immer nur hintenherum durch Mrs. Todgers sagen ließ.

»Indes«, fuhr er fort, »sind das keine geeigneten Themen für Frauenohren. Ich habe Ihnen jetzt weiter nichts mehr zu sagen, Mrs. Todgers, als daß ich für Samstag über acht Tage Kost und Quartier gekündigt sehen will. Ich kann nicht länger dieselbe Luft mit diesem Elenden atmen. Wenn’s in der Zwischenzeit ohne Blutvergießen abläuft, so können Sie sich glücklich schätzen; ich glaube es aber kaum.«

»Ach Gott, ach Gott«, jammerte Mrs. Todgers, »was gäb ich drum, wenn ich’s hätte verhindern können! In Ihnen verliert das Haus seine rechte Hand. Sie sind so beliebt bei den Herren! Alles hat Sie gern und richtet sich nach Ihnen! Ich hoffe, Sie besinnen sich noch eines Besseren, und wenn’s schon nicht der andern wegen ist, so tun Sie’s doch um meinetwillen!«

»Sie haben ja den Jinkins«, schmollte der jüngste Gentleman. »Ihren Liebling. Er wird Sie und die Herren für den Verlust von zwanzig solchen Kostgängern, wie ich bin, zu trösten wissen. – Man versteht mich in diesem Hause nicht – hat mich nie verstanden.«

»Scheiden Sie nicht in dieser Meinung von mir, Sir«, rief Mrs. Todgers mit edlem Unwillen. »Sie dürfen meiner Anstalt so etwas nicht nachsagen! So schlimm ist’s noch nicht, Sir. Gegen die Herren oder mich können Sie äußern, was Sie wollen, nur sagen Sie nicht, daß man Sie in diesem Hause nicht verstanden hat!«

»Wenigstens hat man mich nicht danach behandelt«, lenkte der jüngste Gentleman ein.

»Da sind Sie gewaltig im Irrtum«, protestierte Mrs. Todgers eifrig. »Ich und viele von den Herren haben oft gesagt, Sie sind zu sensüdiv; da sitzt der Haken. Sie haben eine zu empfindsame Natur, sind zu seelenvoll.«

Der »jüngste Gentleman« hustete.

»Und was – was Mr. Jinkins betrifft, wenn es denn wirklich bei der Aufkündigung bleiben soll, so mögen Sie wissen, daß ich ihm durchaus keine Brücke nicht trete. Keine Spur von einer Idee! Es wär mir sogar recht lieb, wenn Mr. Jinkins in diesem Edablissemang einen weniger hohen Ton annehmen möchte und nicht immer Anlaß zu Mißhelligkeiten zwischen mir und den Herren geben, die ich weit lieber an meinem Tisch hab als ihn. – Mr. Jinkins ist kein Kostgänger nicht danach, Sir«, fügte sie hinzu, »daß man alle Rücksichten des Gefühls und der Achtung seinetwegen beiseite lassen könnt – ganz im Gegenteil, das sag ich Ihnen.«

Der junge Gentleman wurde durch diese und ähnliche Vorstellungen schließlich so butterweich, daß am Ende Mrs. Todgers die Gekränkte war und er der Schuldige; – letzteres allerdings nicht im bösen Sinne, denn die wackere Frau hielt seine Grausamkeit seinem exaltierten Naturell zugute. Er nahm daher zuletzt seine Aufkündigung wieder zurück, versicherte Mrs. Todgers seiner unwandelbaren Hochachtung und ging wieder an seine Geschäfte.

»Ach, du mein Gott, Misses Pecksniff!« sagte Mrs. Todgers, als sie in das Hinterstübchen trat, sich erschöpft niedersetzte und dabei ihren Korb auf die Knie stellte und die Hände darüber faltete, »was für eine Geduld dazu gehört, solch ein Haus zu halten! Sie müssen doch gehört haben, was sich da wieder getan hat. – Ist so was schon dagewesen?!«

»Nie!« versicherten die beiden Misses Pecksniff.

»Von all den lächerlichen jungen Leuten, mit denen ich schon zu tun gehabt hab, ist das der allerlächerlichste und unvernünftigste. Mr. Jinkins ist manchmal ein bißchen von oben herunter mit ihm, aber noch lang nicht so von oben herunter, wie er es verdient. Einen Gentleman wie Mr. Jinkins nur in einem Atem mit ihm zu nennen – wissen Sie, das ist zuviel! Und doch ist er immer so eifersüchtig auf ihn, als ob er seinesgleichen wär – Gott im Himmel!«

Die jungen Damen waren von Mrs. Todgers‘ Bericht höchlichst ergötzt und nicht minder von gewissen Anekdoten, mit denen sie den Charakter des »jüngsten Gentlemans« näher zu beleuchten fortfuhr. Nur Mr. Pecksniff machte eine sehr ernste und indignierte Miene, und als sie fertig war, sagte er mit feierlicher Stimme:

»Bitte, Mrs. Todgers, wenn ich fragen darf – wieviel steuert dieser junge Gentleman zur Unterhaltung der Anstalt bei?«

»Je nun, Sir, für das, was er braucht, zahlt er ungefähr achtzehn Schilling wöchentlich.«

»Achtzehn Schillinge wöchentlich?« wiederholte Mr. Pecksniff. – »Eins zum andern gerechnet, wird’s so ziemlich auf das hinauslaufen«, meinte Mrs. Todgers.

Mr. Pecksniff stand von seinem Stuhle auf, verschränkte die Arme, sah die Pensionsinhaberin vorwurfsvoll an und schüttelte das Haupt.

»Und ist das wirklich Ihr Ernst, Madam – ist’s möglich, Mrs. Todgers, daß eine Frau von ihrem Verstand sich wegen der erbärmlichen Rücksicht auf wöchentlich achtzehn Schillinge auch nur einen Augenblick so weit erniedrigen kann, sich der Achselträgerei hinzugeben?«

»Ich muß halt mein Zeug nach Kräften in Ordnung halten, Sir«, stotterte Mrs. Todgers. »Ich muß für den Frieden Sorge tragen und es mir womöglich mit meinen Konnexionen nicht verschütten, Mr. Pecksniff. Der Profit ist sehr gering.«

»Der Profit?« rief der Treffliche, einen großen Nachdruck auf dieses Wort legend. »Der Profit, Mrs. Todgers? Sie setzen mich in Erstaunen!« Er machte dabei ein so strenges Gesicht, daß Mrs. Todgers die Tränen in die Augen traten.

»Der Profit!« wiederholte Mr. Pecksniff. »Ein Profit durch Heuchelei erkauft! Das goldene Kalb des Baal anzubeten um achtzehn Schillinge wöchentlich!«

»Beurteilen Sie mich im Bewußtsein Ihrer eignen Tugendhaftigkeit nicht zu hart, Mr. Pecksniff«, rief Mrs. Todgers und zog ihr Taschentuch heraus.

»O Kalb, Kalb!« seufzte Mr. Pecksniff wehmütig. »O Baal, Baal! O meine Freundin Todgers! Die Selbstachtung, dieses köstliche Juwel, wegzuwerfen und vor einem sterblichen Wesen im Staube zu kriechen für achtzehn Schillinge wöchentlich!«

Diese Reflexion wirkte so niederschmetternd auf ihn, daß er unverzüglich im Flur draußen seinen Hut vom Haken herunternahm und einen Spaziergang machte, um sein Gemüt zu beruhigen. Und wer ihm auf der Straße begegnete, mußte auf den ersten Blick den Gerechten in ihm erkennen, so sehr hob sich seine Brust im Bewußtsein der Sittenpredigt, die er soeben Mrs. Todgers gehalten.

Achtzehn Schillinge wöchentlich! Gerecht, höchst gerecht, edler Pecksniff, war dein Tadel! Hätte es sich allenfalls um einen Orden gehandelt, um das anerkennende Lächeln eines großen Mannes, um einen Sitz im Parlament, um den Schlag eines adelnden Schwertes auf die Schulter, um eine hohe Stelle, eine gute Partie, allenfalls um achtzehntausend oder auch nur um achtzehnhundert Pfund; – ja dann! – Aber das goldene Kalb für achtzehn Schillinge wöchentlich anzubeten! O Jammer, Jammer!