36. Kapitel


36. Kapitel

Tom Pinch wagt sich nach London, um sein Glück zu machen. Was ihm gleich im Anfang begegnete

Wie verändert erschien Salisbury Tom Pinch, als das Traumbild »Pecksniff« für ihn zerronnen war. Er sah zwar noch immer dieselben wunderbaren Läden, fand den Ort noch ebenso geheimnisvoll und luxuriös, überschätzte seinen Reichtum und seine Bevölkerung ebenso wie früher, aber dennoch war es nicht mehr das alte Salisbury oder überhaupt etwas, das ihm nur entfernt ähnlich gesehen hätte. Während im Wirtshaus das Frühstück bereitet wurde, begab sich Tom auf den Markt. Es war derselbe wie früher, überfüllt von denselben Käufern und Verkäufern, die rührig ihre Geschäfte betrieben; es war dasselbe Zungengewirr und das Gackern der Hühner in den Käfigen, die gleiche schöne Schaustellung frischer Butter, die in Leinwand von blendendem Weiß auf den Brettern lag, dieselben Höklerbuden mit ihren kleinen Rasierspiegeln, Schnürbändern, Schnallen, Hosenstegen und sämtlicher Kurzware waren zu sehen, kurz, alles und jedes war dasselbe, aber dennoch erschien Tom alles so ganz anders als früher. Inmitten des Marktplatzes vermißte er das Götzenbild, das er im Geiste immer dorthin gestellt, und kahl und öde sah es jetzt aus, wo dieses Bildnis fehlte.

Dennoch wirkte die Veränderung der Dinge nicht allzu verbitternd auf ihn, war er doch nicht einsichtsvoll genug, zu wissen, daß es vernünftig und weise ist, wenn man sich einmal in einem Menschen getäuscht hat, sich an der Menschheit im allgemeinen zu rächen und fortan niemandem mehr zu trauen. Nicht nur, daß diese Lebensregel von gewissen tiefsinnigen Poeten und ehrenwerten Männern verfochten wird, so entspricht sie auch dem Gerechtigkeitsbegriff jenes guten Wesirs aus Tausendundeiner Nacht, der bekanntlich alle Lastträger von Bagdad umzubringen befahl, weil man vermutete, daß einer dieser unglücklichen Gilde sich gegen das Gesetz vergangen habe.

Tom war so lange gewohnt gewesen, mit dem Pecksniff seiner Einbildung sich den Tee zu versüßen, ihn, sozusagen, als Butter auf sein Brot zu streichen und ihn als höchste Würze seines Bieres mit einzuschlürfen, daß er jetzt am ersten Morgen nach seiner Entlassung ein recht schales Frühstück hielt. Auch wurde sein Appetit zum Mittagessen nicht sonderlich durch den Umstand geschärft, daß er ernstlich über seine eigenen Angelegenheiten nachdachte und mit seinem Freunde, dem Organisten, darüber Beratung pflog. Der Organistengehilfe gab seine Meinung dahin ab, Tom müsse unter allen Umständen nach London gehen, da es eine ähnliche Stadt auf der Welt nicht mehr gäbe. Dies mochte im allgemeinen richtig sein, wenn es auch an und für sich betrachtet keinen hinreichenden Grund für Tom abgab, sich dorthin zu wenden.

Tom selbst hatte schon früher an London gedacht und mit diesem Orte seine Schwester sowie auch seinen alten Freund John Westlock in Verbindung gebracht, dessen Rat er natürlich in dieser wichtigen Krisis seines Geschickes einzuholen gedachte. Er beschloß deshalb, sich unverzüglich auf den Weg zu machen, und begab sich auf der Stelle nach dem Postbureau, um sich einen Außenplatz zu sichern. Da die Diligence jedoch bereits überfüllt war, sah er sich genötigt, seine Abfahrt bis zum nächsten Tag zu verschieben. Aber auch dieser Umstand hatte nicht nur seine Schatten-, sondern auch seine Lichtseiten, denn wenn auch Toms Börse wieder mit einer unerwarteten Belastung bedroht war, so hatte er doch Gelegenheit, Mrs. Lupin zu schreiben und sie zu bitten, sie möge seinen Koffer an den bekannten alten Wegweiser bringen lassen, damit er seine Habseligkeiten gleich mit nach der Hauptstadt nehmen und sich auf diese Weise die Frachtkosten ersparen könne.

»So«, sagte er, legte die Feder aus der Hand und schöpfte wieder Hoffnung, »na, so weit wären wir glücklich.«

Er konnte sich nicht verhehlen, daß er, nachdem er einmal so weit mit sich ins reine gekommen war, ein ungewohntes Gefühl von Freiheit empfand und den unbestimmten Eindruck hatte, es sei Feiertag. Wohl kamen Momente des Bangens und der Niedergeschlagenheit immer wieder über ihn, aber dennoch fühlte er ein gewisses inneres Behagen bei dem Gedanken, er sei jetzt sein eigener Herr und könne auf eigene Faust Pläne schmieden. Freilich war seine Lage bei seinem mangelnden Selbstvertrauen höchst verwirrend für ihn, aber trotz aller seiner Sorgen gab der Gedanke den Speisen, die er im Wirtshause genoß, einen ganz eigenen Beigeschmack und breitete zwischen ihn und seine Aussichten einen Traumnebel, hinter dem die Zukunft wie in magischem Licht verheißungsvoll hervorwinkte.

So innerlich hin und her geworfen, legte sich Tom ein zweites Mal in den niedrigen Vierpfoster in der Nähe der beiden Ölbilder, die den ehemaligen Wirt und den fetten Ochsen darstellten, und in gleicher Stimmung verbrachte er auch den ganzen folgenden Tag. Als endlich die Postkutsche mit der goldenen Inschrift »London« hinten um die Ecke bog, machte ihr Anblick einen so tiefen Eindruck auf ihn, daß er fast geneigt war, davonzulaufen. Er tat es jedoch nicht, setzte sich vielmehr mutig auf den Bock und blickte auf die vier Grauschimmel herunter, ganz verwirrt von dem Glanz und der Neuheit seiner Lage.

Übrigens hätte auch ein weniger bescheidener Mensch, als Tom es war, verwirrt sein können, so dicht neben einem solchen Kutscher zu sitzen. Der Mann trug seine Handschuhe nicht wie ein anderer in der Hand, sondern, wie er da auf dem Straßenpflaster stand und noch nicht einmal seinen Posten eingenommen hatte, zog er sie an mit einer Miene, als ob die Lenkung von vier Grauschimmeln einfach eine Bagatelle wäre. Ähnlich verfuhr er auch mit seinem Hute. Er verrichtete damit Wunderdinge, zu deren Vollbringung ihn nur eine unbegrenzte Pferdekenntnis und schrankenlose Waghalsigkeit befähigen konnte. Kleine Wertpakete wurden ihm mit besonderen Weisungen ans Herz gelegt, er verstaute sie in diesem Hute und setzte ihn dann wieder auf, als ob die Gesetze der Schwere in diesem Fall keine Gültigkeit hätten. Und dann erst der Kondukteur! »Siebzig Meilen im Tag«, sagte schon sein Backenbart. Seine Manieren waren sozusagen ein kurzer Galopp und seine Unterhaltung ein regelmäßiger Trab. Er selbst glich der Eilkutsche, die einen Abhang hinunterfährt: ein unaufhaltsamer Galopp. Sogar ein Frachtwagen hätte Flügel bekommen müssen, wenn ein solcher Kondukteur mit seinem Horn daraufgesessen hätte.

»London wirft seine Schatten voraus«, dachte Tom, als er auf dem Bocke saß und um sich blickte. »Ein solcher Kutscher und ein derartiger Schaffner haben noch nie auf Erden existiert.«

Der Wagen selbst war kein langsamer Postwagen, sondern eine renommistische, liederliche und luxuriöse Londoner Stadtkarosse. Die ganze Nacht auf den Rädern und bei Tag im Schuppen – das reinste Luderleben –, nahm das leichtsinnige Ding nicht mehr Notiz von Salisbury, als ob es das nächste beste Dorf gewesen wäre, rasselte geräuschvoll durch die nobeln Straßen, verhöhnte die Kathedrale, nahm gerade die schlechtesten Ecken am schärfsten, jagte alles aus dem Wege und raste über die offene Landstraße hinunter mit lustig herausforderndem Hörnerklang als letztem fröhlichem Scheidegruß.

Es war ein bezaubernder Abend, mild und hell. Trotz der Last, mit der die Größe und Unermeßlichkeit Londons seine Seele beschwerte, konnte Tom doch nicht dem angenehmen Eindruck widerstehen, den die rasche Bewegung in der herrlichen Luft auf ihn hervorbrachte. Die vier Grauschimmel griffen wacker aus, und das Posthorn tönte lustig dazwischen. Zuweilen ließ auch der Kutscher seine Stimme dareinschallen, und die Räder surrten harmonisch dazu. Die Messingringe an den Geschirren tönten wie ein kleines Glockenspiel, und klingend, klimpernd und klirrend bildete das ganze Riemenzeug von den Schnallen der vordersten Koppelriemen an bis zu dem Handgriff des Hinterkorbes ein einziges großes musikalisches Instrument.

Hussa! Vorbei an Hecken, Toren und Bäumen, vorbei an Landhäusern und Scheunen und heimkehrenden Arbeitern, vorüber an Eselkarren, die die Fuhrleute seitwärts in den Graben zogen, und an leeren Leiterwagen mit sich aufbäumenden Rossen, bis die Eilkutsche die schmale Wendung der Straße passiert hatte, vorüber an einsamen Kirchen und Kirchlein in ihren stillen Winkeln mit ländlichen Friedhöfen ringsum, wo die Gräber grünten und die Maßliebchen auf den Herzen der Toten schliefen; vorüber an Bächen, in denen das Vieh seine Hufe kühlte und die Binsen wuchsen, an Wildgehegen, Meierhöfen und Schobern, die im schwindenden Abendlicht wie verwitterte altersbraune Giebeldächer aussahen, hinab den kiesbestreuten Abhang durch aufspritzende Wasserlachen und wieder im Galopp auf die ebene Straße hinauf.

»Ob der Koffer da sei«, als sie den alten Meilenzeiger erreichten?

Der Koffer? Mrs. Lupin war selbst mitgekommen. Großartig, wie es sich für eine Wirtin schickt, war sie in ihrer eigenen Kalesche gekommen und saß jetzt, die Liebliche, auf einem Mahagoniklappsitz, mit der entzückendsten Miene von der Welt ihr Drachenpferd lenkend. Und der Postwagen hielt neben ihrer Kutsche, deren Rad er fast streifte, und der Schaffner schmetterte, während ihr Knecht den Koffer hinaufpackte, die frohen Klänge seines Hornes in die Luft und fern hinab durch die Kaminessen Pecksniffs, als wolle die Post ihren Jubel ausdrücken, daß Tom Pinch endlich frei sei.

»Sie sind wirklich zu gütig«, sagte Tom und beugte sich von seinem Außensitz nieder, um Mrs. Lupin die Hand zu reichen. »Hätte ich das gewußt, würde ich Sie nicht bemüht haben.«

»Bemüht haben, Mr. Pinch!?« rief die Drachenwirtin.

»Freilich, ich weiß ja, es macht Ihnen Freude«, versetzte Tom und drückte ihr herzlich die Hand. »Was gibt es Neues?«

Die Wirtin schüttelte den Kopf.

»Sagen Sie, daß Sie mich gesehen haben«, fuhr Tom fort, »und sagen Sie, ich sei froh und heiter und nicht ein bißchen niedergeschlagen. Und bitte, seien Sie ein Gleiches, denn schließlich wird doch noch alles wieder gut werden. – Gott befohlen!«

»Aber Sie werden mir doch schreiben, wenn Sie sich irgendwo einen dauernden Aufenthalt gewählt haben, Mr. Pinch?« fragte Mrs. Lupin besorgt.

»Wenn ich mir einen dauernden Aufenthalt gewählt habe?« rief Tom, unwillkürlich die Augen aufreißend; »ja, ja, natürlich; dann werde ich sofort schreiben. Vielleicht wäre es übrigens besser, wenn ich es schon früher täte, denn es könnte immerhin einige Zeit dauern, bis ich einen bleibenden Wohnsitz gefunden habe. Meine Barschaft ist nicht allzu groß, und ich habe nur einen einzigen Freund. Übrigens will ich ihn von Ihnen grüßen. Sie haben ja immer gut mit Mr. Westlock gestanden. Also, leben Sie wohl.«

»Leben Sie wohl«, rief Mrs. Lupin und langte hastig aus ihrem Wagen einen Korb, aus dem der Hals einer langen Flasche hervorguckte. »Bitte, nehmen Sie das; und Gott befohlen.«

»Soll ich den Korb für Sie nach London mitnehmen?« fragte Tom.

Die Wirtin war bereits im Begriff, ihre Kalesche umzudrehen.

»Nein, nein«, rief sie, »es ist nur eine kleine Erfrischung auf den Weg. – Vorwärts, Jack! Alles in Ordnung! Gott befohlen!«

Sie war schon eine Viertelmeile weg, ehe Tom sich sammeln konnte. Dann blickte er sich um und winkte ihr mit der Hand zu, was sie herzlich erwiderte.

»Das ist also das letzte Lebewohl von dem alten Wegweiser«, dachte Tom, »wo ich so oft gestanden habe und dieselbe Postkutsche habe vorbeifahren sehen und von so vielen Kameraden Abschied genommen habe. Sonst kam mir der Postwagen immer wie ein großes Ungeheuer vor, das zu gewissen Zeiten erschien, um meine Freunde in die Welt hinaus zu entführen. Jetzt nimmt es auch mich mit sich, damit ich mein Glück in der Fremde suche. Weiß Gott, wo ich es finden werde.«

Und es wurde ihm weh ums Herz, wenn er dachte, wie er vor alters so oft die Gasse hinauf und nach Mr. Pecksniffs Wohnung zurückgegangen war. In seiner trübseligen Stimmung fiel sein Blick wieder auf den Korb auf seinen Knien, den er beinahe ganz vergessen hatte.

»Sie ist die freundlichste und rücksichtsvollste Frau von der Welt«, murmelte er. »Jetzt begreife ich erst, warum sie ihren Jack so schnell weggerufen hat. Bloß damit ich ihm kein Trinkgeld geben konnte. Die ganze Zeit über hatte ich das Geld für ihn bereit, aber er sah mich auch nicht ein einziges Mal an, während er mir doch sonst – ich kenne ihn doch so gut – freundlich zugegrinst hätte. Wirklich, die Güte der Leute rührt mich fast bis zu Tränen.« Sein Blick begegnete dem Auge des Kutschers. Der Mann blinzelte ihm verschmitzt zu.

»Merkwürdig hübsche Frau für ihr Alter, was?« fragte er.

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung; sie ist wirklich bildschön«, rief Tom.

»Schöner als so manche junge, was meinen Sie?«

»Als so manche junge«, pflichtete Tom bei.

»Ich für meinen Teil mach mir gar nix aus jungen Frauenzimmern«, behauptete der Kutscher kühn.

Das war nun allerdings Geschmackssache, und Tom fühlte sich nicht berufen, die Frage weiter zu erörtern.

»Die jungen verstehn zum Beispiel nix von Erfrischungen«, fing der Kutscher nach einer Weile wieder an. »Ein Frauenzimmer muß schon so ziemlich in die Jahre gekommen sein, ehe sie soviel Verstand hat, einem ein derartiges Körbchen mitzubringen.«

»Wollen Sie vielleicht wissen, was drin ist?« fragte Tom lächelnd.

Da der Kutscher bloß lachte und Tom selbst ebenfalls neugierig war, so packte er aus und legte die Delikatessen nacheinander auf das Wagenbrett. Ein kaltes gebratenes Huhn, ein paar Lagen Schinkenschnitten, ein Brotlaib mit schöner brauner Kruste, ein Stück Käse, eine Tüte mit Zwieback, ein halbes Dutzend Äpfel, ein Messer, eine Scheibe Butter, ein wenig Salz und eine Flasche alten Xeres. Es war auch ein Brief dabei, und Tom steckte ihn in die Tasche.

Der Kutscher schien es so ernst mit seinem Lobe von Mrs. Lupin zu meinen und gratulierte Tom so herzlich, daß dieser um des Rufes der guten Witwe willen es für nötig hielt, dem Manne auseinanderzusetzen, der Korb sei eine Erkenntlichkeit rein platonischer Natur und ihm lediglich aus Freundschaft überreicht worden. Nachdem er dies mit tiefem Ernste auseinandergesetzt – denn er hielt es für seine Pflicht, dem lockern Vogel reinen Wein einzuschenken, damit dieser nicht etwa auf schlechte Gedanken komme –, bedeutete er ihm, es werde ihn freuen, das Geschenk mit ihm zu teilen, und schlug ihm vor, sie wollten, sooft es der Kutscher bei seiner Erfahrung und Kenntnis des Weges für angebracht halte, den Korb als gute Freunde gemeinschaftlich plündern. Von da an plauderten sie so vertraut und freundlich miteinander, daß, obgleich Tom mehr von Einhörnern verstand als von Pferden, der Kutscher schließlich zu seinem Freunde, dem Schaffner sagte, er wünsche sich niemals einen besseren Reisegefährten auf dem Bock als den jetzigen – besonders was die Unterhaltung beträfe –, so kurios der Mann auch aussehe.

Und, hussa, weiter ging’s unter den dunkelnden Schatten dahin, die die Umrisse der Bäume verschlangen, und durch Licht und Düster vorüber am Dorfanger, wo noch die Cricketspieler weilten und das frische Gras seinen Duft in die Nacht ausströmte. Hussa! Vorwärts mit vier frischen Pferden vom »Falben Hirsch«, wo die Zecher, die Reisenden anstaunend, im Torweg standen und das ausgespannte Grauschimmelquartett mit hängenden Zügeln unter dem Jubel der Dorfjugend sich in die Schwemme trollte. Dann weiter mit klappernden, funkensprühenden Hufen über die alte steinerne Brücke wieder hinab den schattigen Weg bis ans offene Tor, und weit, weit weg in den Wald hinein.

Hussa, mit dem Mond um die Wette! Hussa, hussa! Kaum ist die Schönheit der Nacht so recht empfunden, da kommt auch schon der Tag herangehüpft. Hussa! Noch drei Stationen, und die Landwege sind zu einer fortlaufenden Straße geworden. Vorbei an Gemüsegärten, Häuserreihen, Villen, Terrassen und Plätzen – vorbei an Frachtwagen, Kutschen und Karren – vorbei an Frühaufstehern und Arbeitern, an verspäteten Nachtschwärmern, betrunkenen und nüchternen Lastträgern – vorbei an Ziegelhaufen und Steinmauern und hinein auf das rasselnde Pflaster, wo sich auf einer Postkutsche ein ruhiger Sitz auf die Dauer nicht so leicht behaupten läßt; hussa, hinunter die zahllosen Windungen und durch das endlose Labyrinth der Wege, bis das alte Gasthaustor erreicht ist. Betäubt und schwindelnd steigt Tom Pinch ab – er ist in London.

»Und noch obendrein fünf Minuten vor der Zeit«, erklärt der Kutscher, als ihm Tom die Fahrt bezahlt.

»Ach«, versetzt Mr. Pinch, »ich würde mir nicht soviel daraus gemacht haben, wenn es auch fünf Stunden nach der Zeit wäre; ich weiß wahrhaftig nicht, wohin ich so früh gehen oder was ich anfangen soll.«

»Man erwartet Sie also nicht?« fragte der Kutscher.

»Wer?«

»Nun, sie.« Im Kopf des Kutschers hat es sich nämlich so festgesetzt, Tom müsse nach London gekommen sein, um einen ausgebreiteten Kreis ängstlich besorgter Verwandter und Freunde zu besuchen, daß es ziemlich schwer gewesen sein würde, es dem Manne auszureden. Tom versuchte es auch nicht erst, vermied vielmehr jede weitere Erörterung des Themas und verfügte sich in das Wirtshaus, wo er vor dem Kaminfeuer, das in einer vom Hofe aus zugänglichen Gaststube brannte, bald in Schlummer verfiel. Als er erwachte, waren die Leute im Hause bereits sämtlich auf den Beinen. Er wusch sich, brachte seine Kleider in Ordnung, was er nach der Reise wirklich sehr nötig hatte, und machte sich, da es inzwischen acht Uhr geworden, sofort auf den Weg, um seinen alten Freund John aufzusuchen.

John Westlock wohnte in Furnivals Inn, High Holborn, das ungefähr eine Viertelstunde von dem Wirtshaus entfernt lag, von Tom aber nicht in so kurzer Zeit erreicht wurde, da er einen großen Umweg machte und die Richtung verfehlte. Als er endlich vor Johns Türe anlangte, blieb er, vom Kopf bis zu den Füßen zitternd, stehen und wagte kaum den Klopfer zu ergreifen, denn es war ihm durchaus nicht wohl zumute bei dem Gedanken, er müsse nun berichten, was zwischen ihm und Mr. Pecksniff vorgefallen war – hatte er doch die sichere Ahnung, daß John über die Enthüllung in einen geradezu schrecklichen Jubel ausbrechen werde.

»Und doch muß es geschehen«, sagte sich Tom, »ob nun früher oder später. Es ist besser, ich warte nicht länger.«

– Rat tat tat. –

»Ich fürchte, man klopft in London anders«, murmelte Tom, »es hat nicht besonders zuversichtlich geklungen. Wahrscheinlich öffnet man auch aus diesem Grunde die Türe nicht.«

Ob nun so oder so, eines war sicher: es kam niemand. Sicher war ferner, daß Tom dastand und den Klopfer ansah – verwundert, wo denn in der Nähe der Gentleman wohne, der da in einem fort aus Leibeskräften »herein« rief.

»Meiner Seel«, sagte er sich endlich. »Er wohnt vielleicht gar hier drinnen, und die Aufforderung gilt mir. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Vielleicht kann man die Türe von außen aufmachen. Wahrhaftig, ja.« Und, wirklich, es ging. Er drückte die Klinke herunter, und kaum hatte er dies getan, rief dieselbe Stimme, die er vorhin schon gehört, ungeduldig: »Warum kommen Sie denn nicht herein? Hören Sie denn nicht?! Wollen Sie noch lange draußen stehen bleiben?«

Tom trat aus dem kleinen Flur in das Zimmer, aus dem diese Worte herausgerufen wurden, und kaum war er eines Herrn im Schlafrock und Pantoffeln – die Stiefel standen daneben und zum Anziehen bereit – ansichtig geworden, der mit einer Zeitung in der Hand bei seinem Frühstück saß, als dieser auch schon, auf die Gefahr hin, seinen Teetisch umzuwerfen, auf ihn losstürzte und ihn in die Arme schloß.

»Tom, mein Junge, Tom!«

»Ich freue mich wirklich, Sie zu sehen, Mr. Westlock«, sagte Tom Pinch, drückte ihm beide Hände und zitterte ärger als je. »Wie freundlich Sie sind.«

»Mr. Westlock?« wiederholte John. »Was soll denn das heißen, Pinch? Du hast doch hoffentlich meinen Taufnamen nicht vergessen?«

»Nein, John, vergessen habe ich ihn nicht«, versetzte Tom Pinch. »O Gott, wie liebenswürdig du bist.«

»In meinem ganzen Leben habe ich noch keinen solchen Narren gesehen«, rief John. »Was soll das heißen, daß du mir das schon zum zweitenmal sagst? Ich möchte doch gern wissen, ob ich vielleicht anders sein sollte. Da, setz dich nieder, Tom, und sei ein vernünftiger Mensch. Wie geht’s dir, mein Junge? Es freut mich innig, dich zu sehen.«

»Und wie froh ich bin, dich zu sehen«, sagte Tom.

»Das Vergnügen ist natürlich gegenseitig«, rief John, »und wir halten’s selbstverständlich wie in frühern Zeiten. Hätte ich geahnt, daß du kommst, Tom, würde ich dir ein Frühstück vorbereitet haben. Mir ist freilich eine solche Überraschung lieber als das beste Frühstück von der Welt, aber bei dir ist’s etwas anderes, und ich zweifele nicht, daß du hungrig bist wie ein Wolf. So wie die Dinge liegen, mußt du dich eben behelfen, wie du kannst, Tom. Wir werden’s übrigens beim Dinner schon nachholen. Da, nimm ein wenig Zucker – übrigens, das erinnert mich an den Zucker bei Pecksniffs. Haha, was macht er denn, der Bursche? Wann kommt er nach London? – Nun, so greife doch endlich zu, Tom! Es sind zwar nur Überbleibsel, aber auch diese sind nicht ganz zu verachten. Gesulzter Wildschweinkopf! Versuche ihn mal, Tom! Mache nur den Anfang! Was du doch für ein seltsamer Kerl bist, und wie ich mich freue, dich wiederzusehen!«

Während John in freudiger Erregung dies alles nur so hervorstieß, lief er unaufhörlich zwischen dem Schrank und dem Tisch hin und her, brachte alle Arten von Dingen in Töpfen herbei, löffelte eine gewaltige Menge Tee aus der Büchse, ließ ein paar Semmeln in seine Stiefel fallen, goß heißes Wasser über die Butter und beging noch eine ganze Reihe ähnlicher Mißgriffe, ohne sich jedoch dadurch verstimmen zu lassen.

»So«, sagte er, sich zum fünfzigstenmal wieder niedersetzend, aber sofort wieder aufspringend, um eine weitere Bereicherung des Frühstücks herbeizuschaffen.

»Jetzt sind wir so gut mit allem versehen, daß wir es wohl bis zum Mittagessen aushalten können und jetzt zu deinen Neuigkeiten kommen. Also, vor allem – was macht Pecksniff?«

»Ich weiß nicht«, lautete Toms ernste Antwort.

John stellte die eben ergriffene Teekanne wieder nieder und blickte seinen Freund erstaunt an.

»Ich weiß nicht, was er macht«, wiederholte Tom Pinch, »und kümmere mich auch nicht darum. Aber selbstverständlich wünsche ich ihm nichts Böses. Ich habe ihn verlassen, John – für immer verlassen.«

»Freiwillig?«

»Nein, das nicht. Er hat mich entlassen. Ich habe jetzt eingesehen, daß ich mich in ihm getäuscht habe, und es wäre mir unter keinen Umständen länger möglich gewesen, bei ihm zu bleiben. Ich bedaure tief, gestehen zu müssen, daß du hinsichtlich Beurteilung seines Charakters recht hattest. Es ist vielleicht lächerlich und schwach von mir, John, aber ich kann dir nur versichern, daß es mich tief geschmerzt hat, als ich diese Entdeckung machte.«

Tom hatte durchaus nicht nötig, seinen Freund so bittend anzusehen, er möge nicht lachen, denn eher würde John daran gedacht haben, ihn zu Boden zu schlagen.

»Es war alles ein Traum; jetzt ist’s, Gott sei Dank, vorüber«, fuhr Tom fort. »Wie es zuging, will ich dir später einmal erzählen. Du mußt Nachsicht mit meiner Torheit haben, John, aber ich möchte jetzt weder daran denken noch davon sprechen.«

»Ich schwöre dir, Tom«, sagte Westlock nach einer kurzen Pause sehr ernsthaft, »wenn ich so sehe, wie tief es dich schmerzt, so weiß ich nicht, ob ich mich darüber freuen oder betrüben soll, daß du endlich diese Entdeckung gemacht hast. Ich mache mir sogar Vorwürfe bei dem Gedanken, wie oft ich dir gegenüber darüber scherzen konnte. Ich hätte dich besser kennen sollen.«

»Mein lieber, lieber Freund«, rief Tom und streckte John beide Hände entgegen, »es ist wirklich riesig hochherzig und brav von dir, daß du mich und meine Mitteilung so aufnimmst. Es macht mich erröten, daß ich nur einen Augenblick deswegen beunruhigt sein konnte. – Du glaubst gar nicht, welche Last du mir vom Herzen genommen hast«, setzte er hinzu und griff wieder zu Messer und Gabel. »Und jetzt werde ich dem Wildschweinkopf aber ganz fürchterlich zusetzen.«

John, auf diese Art an seine Wirtspflichten erinnert, machte sich unverzüglich daran, die einander widersprechendsten Speisen auf Toms Teller aufzuhäufen, und Mr. Pinch ließ sich das Frühstück vortrefflich schmecken und wurde bald wieder fröhlich und guter Laune.

»Alles recht hübsch und schön«, sagte John, den Verheerungen, die sein Gast unter den Speisen anrichtete, mit großem Vergnügen zusehend, »aber jetzt zu andern Plänen. Du mußt natürlich bei mir bleiben. Wo ist dein Koffer?«

»Im Wirtshaus«, sagte Tom. »Ich hatte nicht im Sinn –«

»Mir ganz egal, was du im Sinn gehabt hast oder nicht«, fiel ihm John Westlock ins Wort, »was du jetzt im Sinn hast, ist wichtiger. Du wolltest doch zu mir kommen und mich um meinen Rat fragen – ist es nicht so, Tom?«

»Allerdings.«

»Und du wirst ihn befolgen, wenn ich ihn dir gegeben habe?«

»Ja«, versetzte Tom lächelnd, »vorausgesetzt, daß er gut ist, was ich natürlich nicht bezweifle, wenn er aus deinem Munde kommt.«

»Bravo! – Also, dann sei nicht gleich im Anfang der alte verstockte Bursche, Tom, oder ich schweige und behalte meinen unschätzbaren Rat für mich. Du bist bei mir zu Besuch – und ich wollte nur, ich hätte eine Orgel für dich.«

»Dafür würden sich die übrigen Hausbewohner wohl sehr bedanken«, lautete Toms Antwort.

»Also, laß mal sehen. – Zuerst wirst du wohl heute früh deine Schwester besuchen wollen«, fing John wieder an, »und wirst natürlich lieber allein hingehen wollen. Ich begleite dich ein Stück Wegs und sehe mich dabei in der Stadt um, wo ich allerlei zu besorgen habe, und nachmittags treffen wir uns dann wieder hier. Da, steck das in die Tasche, Tom, es ist der Schlüssel zur Entreetür; wenn du zuerst nach Hause kommst, wirst du ihn nötig haben.«

»Wahrhaftig«, rief Tom, »sich auf diese Weise bei einem Freunde einzuquartieren –«

»Aber ich habe doch zwei Schlüssel«, unterbrach ihn John Westlock. »Ich kann doch nicht mit beiden zugleich öffnen; oder? Was du doch für ein lächerlicher Mensch bist, Tom –! Wünschest du vielleicht etwas Besonderes zu Mittag zu essen?«

»O Gott, nein«, rief Tom.

»Also gut, dann überlaß das mir. Willst du jetzt ein Glas Kirschgeist haben?«

»Nicht einen Tropfen! – Was das doch für merkwürdige Quartiere in London sind. Alles kann man da haben!«

»Ach, Gott behüte, Tom – nichts als ein paar Junggesellenbequemlichkeiten; eine Art ›Robinson-Crusoe-Wirtschaft‹, weiter nichts. Was meinst du, wollen wir jetzt einen Spaziergang machen?«

»Oh, sehr gerne«, rief Tom, »ich bin bereit, wann es dir paßt.«

Mr. Westlock fischte die Semmeln aus seinen Stiefeln, warf sich in seine Kleider und reichte Tom zur Unterhaltung die Zeitung hin. Als er gebürstet und gekämmt wieder zurückkehrte, fand er Mr. Pinch in düsterer Stimmung, das Zeitungsblatt in der Hand.

»Träumst du, Tom?«

»Nein«, sagte Mr. Pinch leise, »ich habe mir nur die Annoncen durchgelesen – im Glauben, es könnte möglicherweise etwas darunter sein, was für mich paßte. Aber wie mir schon so oft aufgefallen ist, scheint immer der sonderbare Fall einzutreffen, daß die Leute sich nicht zueinander finden wollen. Da gibt es alle Arten von Dienstherren, die alle Arten von Dienern haben wollen, alle Arten von Dienern, die alle Arten von Dienstherrn brauchen können, aber zu finden scheinen sie einander nie. Hier zum Beispiel sieht sich ein Gentleman in einer öffentlichen Stellung durch vorübergehende Verlegenheit veranlaßt, fünfhundert Pfund aufnehmen zu müssen, und in der nächsten Annonce meldet sich ein anderer Gentleman, der genau diese Summe ausborgen will. Aber die beiden werden sich gewiß nicht zusammenfinden. Und dann ist hier eine Dame in unabhängiger Stellung, die Kost und Logis bei einer ruhigen Familie sucht – und daneben eine Familie, die sich fast ganz mit denselben Worten eine Dame in unabhängiger Stellung wünscht. Aber die Dame wird nicht hingehen, John. Ebenso wenig werden diese ledigen Gentlemen hier, die ein freundliches Schlafzimmer mit gelegentlicher Benützung des Salons brauchen, sich je mit den Leuten hier ins Einvernehmen setzen, die in einem Haus mit Garten nur fünf Minuten von der Börse entfernt wohnen. Es scheint wirklich«, sagte Tom und legte das Blatt mit einem tiefen Seufzer aus der Hand, »daß die Menschen zufrieden sind, wenn sie ihre Anliegen nur drucken lassen können. Es scheint eine Art Trost für sie drin zu liegen, zu publizieren: ich brauche das und jenes und kann’s nicht bekommen und glaube auch nicht, es jemals bekommen zu können.«

John Westlock lachte über den komischen Einfall, und dann gingen sie zusammen fort. Viele Jahre waren vergangen, seit Tom das letztemal in London gewesen, und auch damals hatte er so wenig davon kennengelernt, daß ihn jetzt jede Kleinigkeit interessierte. Besonders begierig war er, unter andern Merkwürdigkeiten auch jenes Viertel zu sehen, wo, wie er gehört hatte, die Leute vom Lande ausgeraubt und ermordet zu werden pflegen. Ja, es schien ihm gar nicht recht zu passen, als er nach einer halben Stunde Wegs bemerkte, daß nicht einmal ein Taschendieb sich seiner Börse bemächtigt hatte. John Westlock erfand daher extra einen solchen für ihn und zeigte ihm einen höchst respektablen Fremden als hervorragendes Mitglied dieser Gilde. Dann erst war Mr. Pinch endlich zufrieden.

Nachdem sie eine ziemlich weite Strecke zusammen zurückgelegt, machte John Tom kurz vor Camberwell so genau mit jeder Biegung der Straße zur Villa des reichen Gelb- und Rotgießers bekannt, daß Tom den Weg unmöglich verfehlen konnte, und ließ ihn dann allein seine Visite machen.

Mr. Pinch war vor dem großen Glockenzug angekommen und läutete; sehr bescheiden natürlich. Der Portier erschien.

»Bitte, wohnt hier Miss Pinch?« fragte Tom.

»Miss Pinch ist hier Gouvernante«, versetzte der Portier und musterte dabei Tom von oben bis unten, als wollte er sagen: na, du scheinst mir ja ein recht netter Kunde zu sein. Wo kommst du eigentlich her?

»Ganz recht, das ist die junge Dame«, sagte Tom. »Ist sie zu Hause?«

»Kann ich unmöglich wissen«, versetzte der Portier.

»Möchten Sie dann vielleicht die Güte haben, zu fragen«, ersuchte Tom. Er genierte sich fast, diese Bitte vorgebracht zu haben, denn die Möglichkeit eines solchen Schrittes schien dem Portier durchaus nicht einzuleuchten.

Seine Pflicht als Portier war, nach Ertönen der Haustürglocke, wie üblich, die innere Glocke zu ziehen – denn bei dem Gelb- und Rotgießer ging es genau wie bei einem Baron zu –, und das hatte er auch getan. Er wurde bezahlt, daß er das Haustor auf und zu mache, und nicht, um Fremden Auskunft zu geben. Er überließ also das Weitere dem livrierten Bedienten, der in diesem Augenblick erschien.

»Hallo, was wollen Sie hier? Hier herein gefälligst, junger Herr.«

»Oh«, sagte Tom und trat in den Garten, »ich habe nicht bemerkt, daß noch jemand da ist. – Bitte, ist Miss Pinch zu Hause?«

»Drin ist sie wohl«, versetzte der Lakai, als wolle er sagen: »zu Hause« ist nur die gnädige Frau.

»Ich möchte sie gerne sprechen«, sagte Tom.

Der Lakai, ein lebhafter junger Mann, bemerkte in diesem Augenblick zufällig eine davonfliegende Taube, und das interessierte ihn dermaßen, daß er nicht antworten konnte, bis der Vogel hinter dem Dach verschwand. Dann endlich lud er Tom ein, weiterzukommen, und führte ihn in eine Art Sprechzimmer.

»Der Name?« fragte er langsam, indem er an der Türe stehen blieb.

»Melden Sie gefälligst: ihr Bruder.«

»Mutter?« fragte der Lakai mit gedehnter Stimme.

»Bruder!« wiederholte Tom etwas lauter. »Sie würden mich übrigens sehr verbinden, wenn Sie zuvörderst sagen wollten, ein Herr sei da, und dann erst erklärten, ich sei Miss Pinchs Bruder, denn sie erwartet mich nicht und weiß gar nicht, daß ich in London bin. Ich möchte sie nicht gerne erschrecken.«

Das Interesse des Bedienten an Toms Bemerkungen hatte schon bei dessen zweitem oder drittem Wort aufgehört, er war aber doch so gütig, bis zum Schluß der Rede zu warten. Dann zog er die Türe hinter sich zu und entfernte sich.

»Mein Gott«, murmelte Tom, »ist das ein unehrerbietiges, unartiges Benehmen. Ich will nur hoffen, daß der Bediente hier noch neu ist und daß Ruth anders behandelt wird.«

Er wurde in seinen Betrachtungen durch das Geräusch von Stimmen aus dem anstoßenden Zimmer unterbrochen. Es schien, als ob sich jemand stritte, unwillig wäre oder schelte; und schließlich brach beinahe ein Sturm aus. Mitten durch diesen Lärm hindurch glaubte Tom die Stimme des Lakaien zu hören, der ihn anmeldete, und gleich darauf entstand plötzlich eine ganz unnatürliche Stille. Tom stand am Fenster und dachte bei sich, was das wohl für ein häuslicher Zwist sein könne, hoffte aber, Ruth würde nichts damit zu tun haben. Da ging plötzlich die Türe auf, und seine Schwester warf sich ihm an die Brust.

»Gott im Himmel«, rief Tom und blickte sie, nachdem sie sich gegenseitig zärtlich umarmt hatten, mit großem Stolze an, »wie du dich verändert hast, Ruth! Wirklich, wenn ich dich anderswo getroffen hätte, Schwesterchen, so würde ich dich kaum erkannt haben. Hast du dich aber herausgemacht!« setzte er mit verhaltenem Entzücken hinzu, »du bist so groß, so – weißt du – so hübsch geworden!«

»Wenn du es sagst, Tom –«

»Nein, nein, das muß jeder sagen«, beteuerte Tom und streichelte Ruth sanft die Locken. »Das ist eine Tatsache und nicht nur eine Ansicht von mir. Was gibt’s denn aber?« fuhr er fort und blickte sie genauer an, »du bist so aufgeregt, du hast geweint.«

»Ich? Gott behüte, Tom.«

»Dummes Zeug,« sagte Tom fest, »rede dich nicht heraus. Ich sehe es doch. Sage mir offen und aufrichtig, was es gegeben hat. Ich bin jetzt nicht mehr bei Mr. Pecksniff und will mir in London eine Stelle suchen. Wenn du dich also hier im Hause nicht glücklich fühlst – und ich fürchte sehr, daß es so ist, und fange an zu glauben, du hast mich aus Liebe und Rücksicht bisher davon nicht verständigt –, so darfst du auch nicht länger bleiben.«

Sein Blut war in Wallung. Möglich, daß der genossene Schweinskopf daran schuld war, jedenfalls aber der Lakai und, vor allem: der Anblick seiner hübschen Schwester. Was ihn selbst anging, konnte Tom viel vertragen, aber auf Ruth war er stolz und in diesem Punkte daher sehr empfindlich.

Es schwante ihm plötzlich, daß es vielleicht noch mehr als einen Pecksniff auf der Welt geben könne, und die Haut fing ihm an zu prickeln.

»Wir wollen das später einmal besprechen, Tom«, wich Ruth aus und beschwichtigte ihren Bruder mit einem Kuß. »Ich fürchte allerdings, ich werde nicht mehr lang hier bleiben können.«

»Du kannst nicht?« versetzte Tom. »Nun gut, dann darfst du es auch nicht, meine Liebe. Auf das Mitleid der Leute hier sollst du nicht angewiesen sein, mein Wort drauf.«

In diesem Augenblick unterbrach sie der Lakai und meldete im Auftrag seines Herrn, man wünsche Mr. Thomas Pinch zu sprechen, ehe er ginge, zugleich aber auch Miss Pinch.

»Gehen Sie voraus. Zeigen Sie mir den Weg«, sagte Tom. »Ich will sogleich meine Aufwartung machen.«

Sie traten in das anstoßende Zimmer, aus dem vorhin der Lärm gekommen war, und fanden dort einen Herrn in mittleren Jahren mit wichtiger Miene und protzenhaftem Auftreten und desgleichen eine Dame in mittleren Jahren mit einer Art Accisbeamtengesicht, wenigstens schienen Essig und Pfeffer darin die hervorragendsten Elemente. Ferner war dieselbe Schülerin von Miss Pinch zugegen, die bei einer früheren Gelegenheit von Mrs. Todgers den Namen »Sirup« bekommen hatte, und weinte und schluchzte; – offenbar aus reiner Bosheit.

»Mein Bruder«, stellte Ruth Pinch Tom schüchtern vor.

»Oh«, rief der Gentleman und musterte Tom von oben bis unten. »Sie sind also Miss Pinchs Bruder. – Entschuldigen Sie eine Frage: wie kommt es, daß Sie ihr so gar nicht ähnlich sehen?«

»Miss Pinch hat de facto einen Bruder«, bemerkte die Dame.

»Ja, ja. Miss Pinch erzählt immer von ihrem Bruder, statt sich mit meiner Erziehung zu beschäftigen«, schluchzte der Zögling.

»Sophie, du hast zu schweigen«, rief der Gentleman. – »Setzen Sie sich gefälligst«, lud er Tom ein.

Mr. Pinch setzte sich und blickte in stummem Erstaunen von einem Gesicht zum andern.

»Bleiben Sie gefälligst, Miss Pinch«, fuhr der Gentleman fort und warf Ruth einen geringschätzigen Seitenblick zu.

Sofort stand Tom auf, um für seine Schwester einen Stuhl zu holen und nahm dann wieder Platz.

»Es freut mich sehr, Sir, daß Sie zufällig heute gerade Ihre Schwester besuchen«, begann der Gelb- und Rotgießer wieder; »denn, wenn ich es auch grundsätzlich nicht billige, daß eine junge Person, die in meiner Familie als Gouvernante in Diensten steht, Besuche annimmt, so kommt mir der Ihrige doch im gegenwärtigen Falle sehr apropos und gelegen. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß wir mit Ihrer Schwester durchaus nicht zufrieden sind.«

»Wir sind sogar sehr unzufrieden mit ihr«, warf die Dame hin.

»Ich will Miss Pinch keine Aufgaben mehr hersagen, und wenn man mich dafür zu Tode prügelt«, schluchzte der Seraph.

»Sophie!« rief der Vater, »du hast zu schweigen.«

»Würden Sie mir die Frage erlauben, worin der Grund Ihrer Unzufriedenheit besteht?« fragte Tom.

»Ja«, entgegnete der Gentleman, »das will ich. Nicht, daß ich annehme, Sie hätten ein Recht zu fragen, aber ich will es. Ihre Schwester hat nicht die mindeste angeborene Fähigkeit, sich Achtung zu verschaffen, und dies bildet eine unablässige Quelle von Mißhelligkeiten zwischen uns. Trotzdem sie schon seit einiger Zeit in unserer Mitte weilt und die hier gegenwärtige junge Dame sozusagen fast unter ihren Augen aufgewachsen ist, so hat dennoch diese junge Dame hier keine Achtung vor ihr. Miss Pinch ist vollständig unfähig gewesen, sich die Achtung meiner Tochter und ihr Vertrauen zu gewinnen. Ich behaupte«, setzte der Gentleman hinzu und ließ seine Hand gravitätisch auf den Tisch niederfallen, »ich behaupte nun, daß hierin ein radikaler Fehler liegt. Sie, als ihr Bruder, sind vielleicht geneigt, es in Abrede zu ziehen –«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, unterbrach Tom, »ich bin durchaus nicht geneigt, es in Abrede zu ziehen, sondern bin sogar überzeugt, daß ein radikaler Fehler hier obwalten muß – ein geradezu unausrottbarer Fehler.«

»Gott im Himmel«, rief der Gentleman und sah sich würdevoll im Zimmer um, »was muß ich alles täglich mit ansehen! Was für Resultate entspringen aus dieser Charakterschwäche Miss Pinchs? Was müssen als Vater meine Gefühle sein, wenn ich entdecken muß, daß meine Tochter – während ich doch Miss Pinch wiederholt ausdrücklich ermahnt habe, sie solle ihre Schülerin anhalten, in allen Ausdrücken gewählt und in ihrer Haltung gentil zu sein, wie es sich für meiner Tochter Stellung im Leben gebührt, und höflich und reserviert gegen untergebene Personen zu sein –, ich sage, wenn ich finden muß, daß diesen Morgen erst noch meine Tochter Miss Pinch eine Bettlerin nannte –«

»Ein bettelhaftes Ding«, verbesserte die Dame des Hauses.

»Das ist noch viel schlimmer!« rief der Gentleman triumphierend, »noch viel schlimmer! Ein bettelhaftes Ding! Welch gemeiner, roher, verächtlicher Ausdruck.«

»Höchst verächtlich«, rief Tom. »Es freut mich, daß man sich hier so außerordentlich klar darüber ist.«

»So klar, Sir«, bestätigte der Gentleman und dämpfte seine Stimme zu größter Eindringlichkeit, »so klar, daß ich Miss Pinch erst vor ein paar Minuten noch mein Ehrenwort gab, ich würde die Beziehungen zwischen uns augenblicklich gelöst haben, wenn ich nicht wüßte, daß sie eine schutzlose junge Person – eine freundlose Waise ist.«

»O Sir«, rief Tom und erhob sich von seinem Sessel, denn er war nicht länger imstande, sich zurückzuhalten, »bitte lassen Sie sich durch solche Rücksichten durchaus nicht bestimmen. Das wäre nichts weniger als angebracht, Sir. Ruth ist keineswegs schutzlos und wird sofort Ihr Haus verlassen. – Liebe Ruth, bitte setze deinen Hut auf.«

»Na, das ist ja eine recht hübsche Familie«, rief die Frau des Hauses spitzig. »Er ist zweifellos ihr Bruder. Das ist jetzt wohl keine Frage mehr.«

»Ebensowenig kann ein Zweifel obwalten«, versetzte Tom, »daß die junge Dame dort das Resultat Ihrer Erziehung und nicht derjenigen meiner Schwester ist. – Liebe Ruth, bitte setze deinen Hut auf.«

»Junger Mann«, fuhr der Gelbgießer hochmütig auf, »wenn Sie mit dieser Impertinenz, die Ihnen übrigens angeboren zu sein scheint und auf die zu reagieren ich mich weiter nicht herablasse, sagen wollen, daß das Fräulein hier – meine älteste Tochter – von jemand anderem als von Miss Pinch erzogen worden sei, so – brauche ich nichts weiter hinzuzufügen. Ich verstehe Sie nicht. Ich – äh –«

»Sir«, rief Tom und faßte den Gelbgießer fest ins Auge, »wenn Sie nicht verstehen, was ich meine, so will ich es Ihnen erklären. Wenn Sie aber den Sinn meiner Worte begreifen, so muß ich Sie bitten, bei Ihren Antworten nicht diese Ausdrucksweise beizubehalten. Meine Meinung ist, daß kein Mensch erwarten kann, sein Kind werde das achten, was der eigene Vater herabsetzt.«

»Hahaha«, brach der Gentleman los. »Albernes Geschwätz. Das gewöhnliche lächerliche Geschwätz.«

»Nein, eine gewöhnliche Wahrheit, Sir!« entgegnete Tom. »Eine Wahrheit, die der gewöhnlichste Verstand einzusehen imstande ist. Ihre Gouvernante kann sich das Vertrauen und die Achtung Ihrer Kinder einfach nicht gewinnen. Jawohl. Zeigen Sie ihr lieber selbst erst Achtung, und dann sehen Sie sich die Resultate an.«

»Miss Pinch setzt doch ihren Hut auf, liebe Frau, nicht wahr?« fragte der Gelbgießer.

»Seien Sie unbesorgt, Sir«, rief Tom. »Sie brauchen nicht im geringsten daran zu zweifeln. – Übrigens wende ich mich an Sie, Sir! Sie haben mir Ihre Meinung gesagt, Sir, und mich extra deswegen in Ihr Zimmer kommen lassen; ich habe daher das Recht, auch meine Meinung zu sagen. – Ich bin weder aufbrausend noch grob«, setzte er hinzu, »was ich von der Art und Weise, wie Sie mit mir reden, nicht behaupten kann. Hinsichtlich meiner Schwester hier möchte ich die einfache Wahrheit auseinandersetzen.«

»Sie können auseinandersetzen, was Sie wollen, junger Mann«, erwiderte der Gentleman mit affektiertem Gähnen. »Liebe Frau, zahle Miss Pinch ihren Lohn aus.«

»Wenn Sie behaupten«, fuhr Tom fort, der trotz seiner scheinbaren äußerlichen Ruhe doch innerlich kochte, »daß meine Schwester nicht die Fähigkeit besitzt, sich die Achtung Ihrer Kinder zu verschaffen, so muß ich Ihnen erwidern, daß das durchaus nicht der Fall ist. Sie ist so gut erzogen, so gebildet und von Natur aus so geeignet, sich Achtung zu verschaffen, wie nur irgendeine junge Dame, die sich zu dem Sklavendienst einer Gouvernante erniedrigt. Wie können Sie nun, wenn Sie nur mit gewöhnlichem Durchschnittsverstand begabt sind, erwarten, daß Ihre Tochter meine Schwester mit Achtung behandelt, wo Sie ihr nicht einmal die Achtung der Dienstboten des Hauses zu sichern wissen.«

»Unerhört, wirklich unerhört«, rief der Gentleman, »das ist ja recht nett.«

»Nein, es ist sehr schlimm, Sir«, sagte Tom. »Es ist sehr schlimm, es ist gemein, niedrig und grausam. – Achtung!? Ich dächte denn doch, daß Kinder im allgemeinen hell genug von Verstand sind, um sich zu merken und nachzuahmen, was sie an ihren Eltern sehen. Wieso oder warum soll denn ein Kind einen Menschen achten, vor dem niemand sonst Respekt hat und den jeder über die Achsel ansieht! Wie soll ein Kind Lust zu seinen Studien bekommen, wenn es sieht, wie sehr die eigene Gouvernante trotz ihrer Bildung mißhandelt wird. Achtung!? – Stellen Sie das Allerachtenswerteste Ihren Töchtern in dem Lichte dar, in dem Sie ihnen meine Schwester zu zeigen beliebten – gleichviel, was es sein mag, es wird in den Staub getreten werden.«

»Sie führen eine sehr unverschämte Sprache, junger Mann«, fuhr der Gentleman auf.

»Nein, ich rede leidenschaftslos, aber mit größter Entrüstung und voller Verachtung vor einem solchen Vorgehen wie dem Ihrigen oder dem jedes Menschen, der sich dergleichen erlaubt. Wie können Sie als Mann von Ehre darüber erstaunt oder mißvergnügt sein, daß Ihre Tochter meine Schwester ein bettelhaftes Ding nennt, wenn Sie selbst ihr ganz dasselbe auf ebenso deutliche Art, wenn auch nicht in Worten sagen? Wenn sogar Ihr Portier und Ihr Lakai sich erlauben dürfen, jedem Fremden gegenüber Miss Pinch als ein bettelhaftes Ding hinzustellen? Und was Ihr Mißtrauen gegen sie betrifft, so dürften Sie sie in diesem Falle nicht zur Erzieherin Ihrer Kinder machen und haben vor allem kein Recht, sie so zu behandeln.«

»Kein Recht?« rief der Gelb- und Rotgießer.

»Nein, kein Recht«, wiederholte Tom. »Und wenn Sie glauben, sich durch eine gewisse jährliche Summe ein derartiges Recht zu sichern, so überschätzen Sie den Wert Ihres Geldes unendlich, denn das Gehalt ist wohl in jeder Hinsicht der nebensächlichste Punkt in Ihrem gegenseitigen Vertrage. Und wenn Sie Ihre Bezahlungen auch auf die Minute einhalten, so können Sie trotzdem ein Bankrottier sein. – So, jetzt habe ich weiter nichts mehr zu sagen«, schloß Tom, der jetzt, wo die Sache vorbei war, immer aufgeregter wurde. »Ich bitte Sie nur um Erlaubnis, in Ihrem Garten warten zu dürfen, bis meine Schwester fertig ist.«

Er ließ es nicht mehr zu einer Antwort kommen, sondern ging sogleich aus dem Zimmer.

Er hatte sich noch nicht halbwegs beruhigt, als seine Schwester ihm nachkam. Sie weinte. Tom konnte den Gedanken nicht ertragen, daß es vielleicht jemand vom Hause aus sehen könnte, und verwies es ihr.

»Sie werden glauben, daß du ungern fortgehst«, redete er ihr zu. »Du gehst doch nicht etwa wirklich ungern?«

»O nein, Tom, nein! Ich habe mich schon seit langer Zeit danach gesehnt.«

»Also gut, dann weine nicht«, sagte Tom.

»Es tut mir nur leid um dich, lieber Bruder«, schluchzte Ruth.

»Um mich? Da solltest du dich doch eher freuen. Ich werde mich doppelt so glücklich fühlen, wenn wir beisammen sind. Nur Mut gefaßt und Kopf hoch! So, jetzt gehen wir zusammen fort, wie es unser würdig ist. Nicht in Wut oder Winseln, sondern fest und voller Selbstvertrauen.«

Der Einfall, daß Tom und seine Schwester hätten winseln können, wäre wohl unter allen Umständen eine Abgeschmacktheit gewesen, aber Tom fand in seiner Aufregung kein besseres Wort. Er trat durch das Gartenhaus – so viel Entschlossenheit in seinem Gesicht, daß ihn der Portier kaum wiedererkannte.

Sie waren eine Strecke weit nebeneinander hergegangen, und Tom, der inzwischen ruhiger und gefaßter geworden, hatte sich wieder ganz erholt, als ihn seine Schwester mit ihrem hübschen Stimmchen fragte:

»Wohin gehen wir eigentlich, Tom?«

»Lieber Himmel«, rief Tom und blieb stehen. »Ich weiß es wirklich nicht.«

»Du weißt es nicht? Hast du denn nicht irgendwo eine Wohnung?« fragte Ruth und blickte fragend zu ihm auf.

»Nein, vorderhand noch nicht. Ich bin erst heute morgen angekommen. Wir müssen uns vor allem ein Quartier suchen.«

Tom verschwieg ihr, daß er eigentlich bei seinem Freunde John hatte wohnen wollen, konnte aber andererseits natürlich nicht daran denken, bei ihm gleich zwei Personen einzuquartieren, von denen noch dazu eine ein Mädchen war. Überdies wußte er, daß das Ruth nur beunruhigt und in Verlegenheit gebracht hätte. Andererseits aber wollte er sie auch nicht, während er zu John ging, irgendwo zurücklassen, denn er hätte John ja alles erzählen müssen, und das hätte den Verdacht erwecken können, als spekuliere er auf seine Gastfreundschaft. Er sagte daher nochmals, sie müßten sich gleich jetzt eine Wohnung mieten, und zwar so selbstverständlich, als habe er den Wegweiser zu allen vermietbaren Quartieren von London in der Tasche.

»Wo wollen wir uns also ein Quartier suchen?« fragte er. »Was meinst du?«

Ruth wußte über diesen Punkt ebensowenig Bescheid wie er. Sie steckte ihm nur ihre kleine Börse in die Rocktasche, faltete ihre beiden kleinen Händchen über seinem Arm und schwieg.

»Es müßte in einer wohlfeilen Gegend sein«, sagte Tom, »aber nicht allzu weit von London. – Laß mal sehen. Meinst du nicht, daß Islington das richtige wäre?«

»Ich denke, es wäre sogar vortrefflich, Tom.«

»Man nannte es früher das lustige Islington«, sagte Tom. »Vielleicht verdient es noch immer den Namen. Um so besser dann, was?«

»Wenn’s nicht zu teuer ist«, meinte Ruth.

»Natürlich, wenn’s nicht zu teuer ist. Also wo liegt Islington? Ich glaube, wir könnten nichts Besseres tun, als uns unverzüglich dorthin begeben. Komm.«

Ruth würde ihm wahrscheinlich überallhin gefolgt sein, und so gingen sie denn Arm in Arm seelenruhig und vergnügt weiter. Bald machten sie die Entdeckung, daß Islington nicht in dieser Richtung lag, und Tom sah sich daher nach einem direkt gehenden Omnibus um, den er denn auch bald entdeckte.

Die Fahrt verging ihnen sehr angenehm, denn Tom berichtete dabei, wie es ihm ergangen war. Und Ruth erzählte ihm ihre eigene Geschichte, und beide bemerkten, daß sie sich viel mehr zu sagen hatten, als Zeit dazu war, da sie bereits am Ziele ihrer Reise anlangten, kaum nachdem sie mit ihrem Plaudern angefangen zu haben glaubten.

»Jetzt«, sagte Tom, »müssen wir uns erst einmal nach einer bescheidenen Straße umsehen und dann schauen, wo Vermietzettel in den Fenstern hängen.«

So gingen sie denn friedlich nebeneinander her, als kämen sie eben aus einem eigenen behaglichen Heim und suchten für irgendeinen Dritten ein Logis. Tom war noch immer so unbekümmert sorglos wie je, aber jetzt, wo sich seine Schwester auf ihn verließ, fühlte er ein größeres Selbstvertrauen und kam sich geradezu wie ein sieghafter Wagehals vor.

So wanderten sie wohl ein paar Stunden hin und her und besichtigten ein paar Dutzend Wohnungen, was sie schließlich sehr ermüdete, besonders, da sie keine passende finden konnten. Endlich entdeckten sie in einem altmodischen kleinen Haus in einer Sackgasse zwei kleine Schlafzimmer und ein dreieckiges Wohnzimmer, die ihnen passend erschienen. Es erregte einigermaßen Argwohn, daß sie sogleich einzuziehen wünschten, aber auch diese Schwierigkeit war rasch beseitigt, als sie die erste Woche vorausbezahlten und sich auf John Westlock, Esquire, Furnivals Inn, Holborn, beriefen.

Es war wirklich ein köstlicher Anblick, wie Tom und seine Schwester nach Erledigung dieses höchst wichtigen Geschäftes mit einer Art furchtsamen Entzückens beim Bäcker, Fleischer und Krämer umherliefen, sich miteinander über allerhand Bestellungen berieten und beim geringsten Dreinreden von Seiten der Verkäufer in höchste Verwirrung gerieten. Als sie nach dem dreieckigen Wohnstübchen zurückkehrten und Ruth, mit tausend Kleinigkeiten beschäftigt, fröhlich umhertrippelte, zuweilen stehenblieb, um »ihrem alten Tom« einen Kuß zu geben oder ihm zuzulächeln – da rieb sich Mr. Pinch so vergnügt die Hände, als ob ganz Islington ihm gehöre.

Es war bereits spät am Nachmittag und für Tom hohe Zeit, sein Rendezvous einzuhalten. Nachdem er sich mit seiner Schwester besprochen, daß sie heute zur Feier des Tages Hammelkoteletten zu Abend essen wollten, um sich für das versäumte Dinner zu entschädigen, machte er sich auf den Weg, um seine wunderbaren Erlebnisse seinem Freunde John mitzuteilen.

»So habe ich jetzt mit einem Male ein Hauswesen«, dachte er. »Wie behaglich könnten Ruth und ich zusammenleben, wenn ich nur eine Beschäftigung bekäme. Ach Gott, ach Gott, dieses ewige ›Wenn‹. Aber es nützt nichts, den Mut zu verlieren – dazu ist immer noch Zeit, wenn ich alles vergeblich versucht habe. Und auch dann würde mir damit wenig geholfen sein. Mein Wort«, murmelte er und beschleunigte seine Schritte, »ich weiß wahrhaftig nicht, was John sich denken wird. Er wird wahrscheinlich der Meinung sein, ich hätte mich in eine jener Straßen verirrt, wo man die Leute vom Lande umbringt, und denkt vielleicht, man habe mich schon längst zu einer Pastete oder dergleichen verarbeitet.«

37. Kapitel


37. Kapitel

Tom Pinch verirrt sich und findet, daß es jemand anderem ebenso gegangen ist. Er häuft glühende Kohlen auf das Haupt eines gedemütigten Feindes

Das Fatum führte ihn nicht in eine von jenen kannibalischen Pastetenküchen, die nach der Darstellung so vieler Sagen vom Lande in der Hauptstadt einen lebhaften Kleinhandel mit Menschenfleisch betreiben, und ebensowenig wurde er die Beute von Uhren- und Beutelschneidern, von Taschendieben und anderen unblutigen Spitzbuben, von der die Polizei alles ganz genau weiß, und ebensowenig verstrickte er sich in eine der zahlreichen Menschenfallen, die, ohne daß man es ahnt, an den öffentlichen Plätzen der Hauptstadt stets aufgestellt sind. Aber seinen Weg verlor er, und zwar gleich anfangs, und bei dem Versuch, ihn wieder aufzufinden, verirrte er sich immer mehr und mehr.

Nun hielt er es bei seinem kindlichen Mißtrauen gegenüber London für die erste Regel, ja niemanden um den Weg nach Furnivals Inn zu befragen, wenn er es irgend vermeiden könne, außer wenn er zufällig in die Nähe des Münzamtes oder der englischen Bank käme. In diesem Falle wollte er natürlich hineingehen und im Vertrauen auf die vollkommene Solidität des Institutes ein paar höfliche Fragen riskieren. So schritt er also weiter seines Weges, las die Namen aller Straßen und durchschnitt sie zur Hälfte, und so kam er aus der Goswell Street nach Alderman Bury, verirrte sich in Barbican und geriet, da er beharrlich auf der unrechten Seite des Londoner Walls blieb, in die Themse Street. Mit einem Instinkt, der hätte wunderbar genannt werden können, wenn dieser Ort das beabsichtigte Ziel seiner Reise gewesen wäre, langte er schließlich beim Monumente an.

Der Mann im Mond konnte für Tom kein geheimnisvolleres Wesen sein als der Mann, der im Monument wohnte. Sofort kam ihm der Gedanke, der Mann, der hier als Einsiedler so abgeschieden von der ganzen Menschheit wohne, müsse der richtige sein, den er nach dem Wege fragen könne.

Tom schritt auf das Denkmal zu und atmete erleichtert auf, als er sah, daß der Mann im Monument noch gewisse Überreste irdischer Eigenschaften hatte. Trotz des kunstreichen Gesteins seiner Wohnung schien er doch noch an gewissen ländlichen Erinnerungen zu hängen: er liebte Pflanzen, hielt Vögel in Käfigen und junge Bäume in Zubern. Er selbst saß vor der Monumenttüre – vor seiner eigenen Türe – wahrhaftig ein großartiger Gedanke! – und gähnte so ungeniert, als ob gar kein Denkmal da sei, in dessen Anwesenheit sich so etwas nicht schicke.

Tom näherte sich dem merkwürdigen Wesen, um wegen des Weges nach Furnivals Inn Erkundigungen einzuziehen, da kamen zwei Fremde dem Denkmal zugeschritten, um es zu besichtigen. Es waren ein Herr und eine Dame; und der Herr fragte:

»Kostet?«

Der Mann im Monument brummte: »Einen Stutz pro Kopf.«

Das schien ein höchst ordinärer Ausdruck angesichts des erhabenen Denkmals.

Der Herr zückte einen Schilling, und der Mann im Monument öffnete eine kleine dunkle Tür. Als der Herr und die Dame im Finstern verschwunden waren, warf er sie wieder ins Schloß und kehrte langsam zu seinem Stuhl zurück.

Dann setzte er sich nieder und grinste.

»Die haben auch keine Ahnung, wieviel Stufen da nauf führen«, sagte er, »nicht ums Doppelte möcht ich da naufkrallen.«

Der Mann im Monument war also offenbar ein Zyniker – ein ganz weltlich gesinnter Mensch! Ihn konnte Tom unmöglich um den Weg fragen, und er war daher fest entschlossen, sich anderswo Rats zu erholen.

»Gott im Himmel«, rief in diesem Augenblick eine wohlbekannte Stimme, »wahrhaftig, er ist es!«

Mr. Pinch fühlte sich gleichzeitig im Rücken mit einem Sonnenschirm spitzig berührt. Als er sich umwandte, um zu sehen, wer ihn in dieser Weise begrüße, erkannte er sogleich die älteste Tochter seines ehemaligen Chefs.

»Miss Pecksniff!« rief er erstaunt aus.

»Gott im Himmel, Mr. Pinch«, rief Cherry, »ja. Was treiben denn Sie hier?«

»Ich habe mich ein wenig verirrt«, stotterte Tom, »ich –«

»Ich habe gehört, Sie hätten Ihre sieben Zwetschgen zusammengepackt und seien auf und davon gegangen?« fragte Charitas. »Das wäre nur sehr in Ordnung, wo sich Papa so weit vergißt.«

»Ja, ich habe ihn verlassen«, bestätigte Tom. »Aber es geschah im besten beiderseitigen Einvernehmen –«

»Ist er schon verheiratet?« fragte Cherry mit einem nervösen Zucken um ihre Mundwinkel.

»Nein, noch nicht«, antwortete Tom errötend. »Offen gestanden glaube ich auch nicht, daß es je der Fall sein wird, wenn Miss Graham der Gegenstand seiner Neigung sein sollte.«

»Lächerlich, Mr. Pinch!« rief Charitas erregt; »Sie sind viel zu leichtgläubig und haben überhaupt keine Ahnung, welcher Tricks solche Naturen fähig sind. – Wir leben in einer gottlosen Welt, glauben Sie mir.«

»Nun, und Sie?« deutete Tom an, um dem Thema rasch eine andere Wendung zu geben. »Gedenken Sie nicht zu heiraten, Miss Pecksniff?«

»O Gott, nein«, zierte sich Cherry und zeichnete mit der Spitze ihres Sonnenschirms krumme Linien auf einen Pflasterstein des Monumenthofes. »Ich – aber wahrhaftig – ich – kann Ihnen das hier nicht erklären. Wollen Sie nicht mit hineinkommen?«

»Sie wohnen hier?« fragte Tom.

»Ja«, antwortete Miss Pecksniff und deutete mit ihrem Schirm auf Todgers‘ Etablissement. »Ich wohne dort bei dieser Dame – vorderhand –.« Der große Nachdruck, den sie auf dieses Wort legte, ließ Tom erraten, daß sie von ihm erwarte, er werde etwas darüber sagen.

»Nur vorderhand? Sie gedenken also wahrscheinlich, bald wieder nach Hause zu reisen?«

»Nein, Mr. Pinch«, lachte Miss Charitas, »nein, dafür bedanke ich mich bestens. Eine Stiefmutter, die jünger ist – ich wollte sagen: die fast gleichalterig ist mit der ältesten Tochter, würde mir wahrhaftig nicht passen. – Nö«, setzte sie hämisch und schaudernd hinzu.

»Ich dachte nur, weil Sie von ›vorderhand‹ sprachen –« bemerkte Tom.

»Ach, ich hätte mir nicht im entferntesten gedacht, daß Sie wegen dieses Ausdrucks so scharf mit mir ins Gericht gehen würden, Mr. Pinch«, flötete Charitas errötend, »sonst hätt ich ihn nicht gebraucht. Aber wollen Sie jetzt nicht mit hineinkommen?«

Tom suchte nach einer Entschuldigung und wies darauf hin, daß er ein Rendezvous in Furnivals Inn habe, sich von Islington aus verirrt habe und statt dessen zum Monument geraten sei. Miss Pecksniff zierte sich zuerst außerordentlich auf seine Frage, ob sie nicht vielleicht den Weg nach Furnivals Inn wisse, rückte aber schließlich mit einem Vorschlag heraus:

»Ein Gentleman – ein guter Bekannter von mir – ich will nicht gerade sagen, ein Freund, aber – doch – eine Art Bekanntschaft – wirklich, ich weiß kaum, wie ich mich ausdrücken soll, Mr. Pinch, aber Sie dürfen nicht glauben, daß irgendwelche Beziehungen zwischen uns bestehen und, wenn dies auch der Fall wäre, so ist die Sache doch bis heute noch nicht so weit gediehen – aber wie dem auch sei, – – also dieser Gentleman geht, glaube ich, da er dort Geschäfte hat, ebenfalls nach Furnivals Inn, und ich bin fest überzeugt, er wird sich sehr freuen, Sie zu begleiten, damit Sie sich nicht wieder verirren können. Aber kommen Sie jetzt mit. Sie finden wahrscheinlich meine Schwester Gratia bei Todgers’«, setzte sie mit einem verhaltenen spöttischen Lächeln hinzu.

»Dann will ich doch lieber versuchen, mich allein zurechtzufinden«, rief Tom hastig. »Ich muß annehmen, daß es ihr nichts weniger als angenehm sein wird, mich zu sehen. Der unglückliche Vorfall damals mit ihrem jetzigen Gatten und mir kann sie unmöglich freundlich von mir denken lassen, trotzdem mich wahrhaftig keine Schuld trifft.«

»Verlassen Sie sich darauf, sie hat kein Wort davon gehört«, beruhigte ihn Cherry und verbiß ein spöttisches Lachen, »und im übrigen glaube ich auch nicht, daß sie Ihnen deshalb besonders böse wäre.«

»Wie? Was sagen Sie da?« rief Tom höchst erstaunt.

»Ach Gott, ich sage gar nichts«, wich Charitas aus. »Wenn ich nicht schon von Kindheit an gewußt hätte, wie sich Hinterlist und Betrug an dem Täter rächen, Mr. Pinch, so müßte ich es jetzt sehen, wo die Sachen eine so eigentümliche Wendung genommen haben.« Dabei lächelte sie wieder geheimnisvoll wie zuvor. »Aber ich will nichts gesagt haben – ich verwahre mich dagegen. – – Aber jetzt kommen Sie doch endlich mit!«

Tom fühlte, hier lag ein Geheimnis vor, und eine leise Angst um Gratia bemächtigte sich seiner. Wie er jetzt in seiner Unschlüssigkeit Charitas genauer anblickte, bemerkte er deutlich, daß in ihrem Gesicht etwas wie Triumph aufleuchtete, trotzdem sie hastig ihre Augen abwandte.

Eine dunkle Vorahnung beschlich ihn, aber dennoch konnte er sich Miss Pecksniffs Benehmen nicht deuten. Natürlich konnte er nicht wissen, daß sie entzückt nach jeder Gelegenheit griff, ihrer Schwester ein Leid zu bereiten. Er stellte sich Gratia noch immer als das leichtsinnige junge Mädchen vor, das sie einst gewesen, immer voller Geringschätzung gegen ihn und nichts weniger als bemüht, ihre Gefühle ihm gegenüber zu verbergen –, mit einem Wort, er hatte nur eine unklare Vorstellung, daß Miss Pecksniff nicht so ganz schwesterlich oder wohlgesinnt handle, wenn sie ihn jetzt einlud, und er entsprach daher ihrem Wunsche, sie zu begleiten.

Die Haustüre wurde geöffnet, und Charitas stieg ihm voran zum Besuchszimmer hinauf.

»Ach, Gratia«, rief sie und steckte den Kopf zur Türe hinein; »ich fürchtete schon, du seiest nach Hause gegangen. Rate einmal, wen ich hier auf der Straße getroffen und hergebracht habe! Mr. Pinch! Das überrascht dich, nicht wahr?«

Aber Gratia war durchaus nicht so überrascht wie Tom, als er sie jetzt zu Gesicht bekam; – nicht halb so sehr.

»Mr. Pinch hat Papa verlassen, liebe Gratia«, fuhr Charitas fort, »und seiner Zukunft steht jetzt nichts mehr im Wege. Ich habe ihm versprochen, Augustus, der dieselbe Richtung geht, werde ihm nach Furnivals Inn den Weg zeigen. – Augustus, lieber Freund, wo stecken Sie denn?«

Diese Worte waren eine Beschwörungsformel, die Mr. Augustus Moddle galten. Gleich darauf verließ Miss Pecksniff das Zimmer, und Tom Pinch und Gratia waren allein.

Wenn Gratia von jeher Toms beste Freundin gewesen wäre, statt ihn so behandelt zu haben, wie sie es getan, so hätte sein ehrliches Herz nicht von tieferem Mitleid für sie ergriffen sein können, als es jetzt der Fall war.

»O Gott«, begann Gratia, »wirklich, Sie sind der allerletzte, den ich zu sehen gehofft hätte.«

Es schmerzte Tom, sie so in ihrer alten Weise sprechen zu hören, denn er hatte das nicht von ihr erwartet. Trotzdem empfand er das tiefste Mitleid für sie, denn sie sah traurig verändert aus gegen früher, wenn ihre Redeweise auch immer noch hochmütig klang.

»Es nimmt mich wunder, daß Sie Gefallen daran finden können, mich zu besuchen, Mr. Pinch. Ich kann mir gar nicht erklären, wie Ihnen ein solcher Einfall kommen konnte. Ich habe mir, wie Sie wissen, nie viel aus Ihnen gemacht und dächte, Liebe hätten wir gerade nicht aneinander verschwendet, Mr. Pinch«, sagte sie und machte sich nervös mit den Bändern ihres Hutes zu schaffen, der neben ihr auf dem Sofa lag – sichtlich im Geiste ganz woanders.

»Wir haben doch niemals einen Streit miteinander gehabt!« wendete Tom milde ein. – Er hatte darin vollkommen recht, denn zu einem Zwist gehören bekanntlich zwei. – »Ich hatte gehofft, Sie würden sich freuen, einem alten Bekannten die Hand zu drücken. Schauen Sie, lassen Sie uns doch nicht vergangene Dinge wieder aufrühren«, setzte er hinzu, »und wenn ich Sie jemals gekränkt habe, so vergeben Sie mir.«

Gratia sah ihn einen Augenblick an, ließ dann den Hut aus den Händen fallen, bedeckte ihr Gesicht und brach in Tränen aus.

»Ach, Mr. Pinch«, jammerte sie, »ich habe Sie ja wahrhaftig niemals gut behandelt, aber doch hätte ich nicht gedacht, daß Sie so unversöhnlich wären. Ich habe nicht geglaubt, daß Sie so grausam sein könnten.«

Sie sprach jetzt so ganz anders als sonst, daß es Tom tief ergriff; sie machte ihm offenbar einen Vorwurf, und er verstand sie nicht.

»Ich weiß ja, ich habe mir’s niemals anmerken lassen, aber doch glaubte ich an Sie so fest, daß ich zuverlässig Ihren Namen genannt haben würde, wenn man mich nach einem Menschen gefragt hätte, dem ich am wenigsten zutraue, daß er sich zu rächen imstande sei.«

»Sie würden meinen Namen genannt haben –«, wiederholte Tom mechanisch.

»Ja«, versetzte Gratia mit Nachdruck. »Ich habe oft daran gedacht.«

Eine Weile sann Tom nach, dann setzte er sich neben sie auf einen Stuhl.

»Glauben Sie wirklich«, sagte er, »oder können Sie nur einen Augenblick dem Gedanken Raum geben, daß ich je meine Worte anders meinen könnte, als wie ich sie buchstäblich sage? Wenn ich Sie jemals beleidigt habe, so bitte ich Sie um Entschuldigung – denn es ist ja möglich, daß ich es oft und vielmals getan habe. Aber Sie haben mich nie gekränkt. Weshalb sollte ich mich also an Ihnen rächen wollen, selbst wenn ich schlecht genug wäre, an etwas Derartiges zu denken!?«

Eine Weile schwieg Gratia, dann dankte sie ihm unter Tränen und schluchzte, seit sie die Heimat verlassen, habe sie sich nie so schmerzlich berührt und doch wieder innerlich so getröstet gefühlt. Dennoch weinte sie bitterlich fort, und es schnitt Tom tief ins Herz, ihre Tränen mit anzusehen, um so mehr, als er deutlich begriff, wie sehr sie seiner Teilnahme bedurfte.

»Beruhigen Sie sich, nehmen Sie’s nicht so schwer!« redete er ihr zu, »Sie waren doch sonst immer so heiter und fröhlich den ganzen lieben Tag lang.«

»Ach ja, früher«, rief sie in einem Tone, der ihm tief zu Herzen ging.

»Es wird schon wieder alles gut werden«, versuchte er sie zu trösten.

»Nein, nie, nie mehr. Oh, nie mehr! – Wenn Sie jemals Gelegenheit haben sollten, mit dem alten Mr. Chuzzlewit zu sprechen«, setzte sie hastig hinzu und blickte Tom fest ins Gesicht – »es kam mir bisweilen vor, als habe er Sie gern, wolle sich’s aber nicht anmerken lassen – nicht wahr, dann sagen Sie ihm, daß Sie mich hier gesehen haben und daß ich Ihnen mitgeteilt habe: was er damals auf dem Kirchhof mit mir gesprochen, sei unauslöschlich in mein Gedächtnis eingegraben.«

Tom versprach es ihr.

»Oft und oft habe ich mir seitdem seine Worte ins Gedächtnis zurückgerufen und gewünscht, dort begraben zu liegen. Es läge mir sehr, sehr viel daran, wenn er erführe, wie wahr er gesprochen hat; wenn ich es auch seitdem niemandem gesagt habe und dieses Eingeständnis auch niemals mehr über meine Lippen kommen wird.«

Tom versprach ihr, Mr. Chuzzlewit alles mitzuteilen, fügte jedoch hinzu, es komme ihm sehr unwahrscheinlich vor, daß er jemals mit dem alten Herrn wieder zusammentreffen werde. »Aber es könnte ja sein«, fügte er hinzu, denn er wollte Gratia nicht noch mehr betrüben.

»Wenn er das alles je durch Sie erfährt, lieber Mr. Pinch«, fuhr Gratia fort, »so sagen Sie ihm auch, daß ich es ihm nicht um meinetwillen mitteilen lasse, sondern bloß, damit er nachsichtiger und geduldiger und vertrauensvoller gegen andere sein möge, wenn sich ein ähnlicher Fall wieder ereignen sollte. Sagen Sie ihm, er ahne nicht, wie wenig damals dazu gefehlt hat, und ich hätte mich anders entschieden, als ich es getan.«

– »Ja, ja«, versprach Tom. »Ich will es ausrichten.« –

»Als ich ihm seiner Hilfe am unwürdigsten schien, war ich vielleicht am meisten geneigt, seinen Worten nachzugeben – ja, ja, ich weiß, es ist so: ich habe seitdem oft und oft darüber nachgedacht. Wenn er mir nur noch ein wenig mehr zugeredet hätte – nur noch eine Viertelstunde länger geblieben wäre –, ich glaube ganz gewiß, ich wäre gerettet gewesen. Sagen Sie ihm, daß ich ihm deshalb keinen Vorwurf mache, sondern ihm dankbar bin, daß er es überhaupt versucht hat. Bitten Sie ihn zugleich um Christi Liebe willen, der Jugend gegenüber barmherzig zu sein und des Kampfes mit Milde zu gedenken, den ein schlecht beratenes und leichtsinniges Geschöpf gekämpft, um die Kraft zu verbergen, die ihn Schwäche dünkte. Bitten Sie ihn, dies nie zu vergessen, wenn ihm je wieder ein ähnlicher Fall unterkommen sollte.«

Wenn auch Tom den Sinn von Gratias Worten nicht vollständig begriff, so konnte er ihn doch so ziemlich erraten. Bis ins Innerste erschüttert, ergriff er ihre Hand und sagte ihr – oder wollte es wenigstens – einige Worte des Trostes. Sie fühlte und verstand sie, so unartikuliert sie auch klangen. Er war so fassungslos, daß er kaum wußte, was vorging; erst später glaubte er sich zu erinnern, sie habe sich ihm zu Füßen werfen und ihn segnen wollen. Als sie sich entfernt hatte, bemerkte er plötzlich, daß er nicht allein im Zimmer war. Mrs. Todgers war eingetreten und schüttelte betrübt das Haupt. Er sah die Dame jetzt zum erstenmal, erriet jedoch, sie müsse die Frau des Hauses sein, und da er so große Teilnahme in ihren Blicken las, hatte sie im Handumdrehen sein Herz gewonnen.

»Ach, Sir, Sie sind gewiß ein alter Freund, wie ich sehe?« fragte sie.

»Ja, so ist’s«, antwortete Tom.

»Aber gewiß –« fuhr Mrs. Todgers fort und schloß leise die Türe, »hat sie Ihnen nicht gesagt, worin ihre Leiden bestehen?«

Tom war höchlichst betroffen über diese Worte, denn sie enthielten tatsächlich die Wahrheit.

»Wirklich«, gab er zu, »sie hat mir nichts darüber gesagt.«

»Und sie wird Ihnen auch nichts Näheres darüber sagen, selbst wenn Sie täglich mit ihr zusammenkämen. Nie läßt sie eine Silbe der Erklärung oder der Klage darüber laut werden. Aber dennoch«, setzte Mrs. Todgers hinzu und seufzte, »dennoch weiß ich, wie schwer ihr ums Herz ist.«

Tom nickte bekümmert und seufzte:

»Ich auch.«

»Ich bin fest überzeugt«, schluchzte Mrs. Todgers und zog ihr Taschentuch aus der flachen Retiküle, »daß niemand auch nur annähernd weiß, was das arme junge Geschöpf durchzumachen hat. Aber, trotzdem sie fast täglich herkommt, um ihr armes gequältes Herz zu erleichtern und weinend in der Ecke sitzt, bis der Anfall vorüber ist, und dabei immer jammert: ›Ach, Mrs. Todgers, ich bin heute so traurig, wollte Gott, ich läge schon im Grabe‹, so weiß ich doch nichts weiter von ihr. Und trotz alledem«, setzte Mrs. Todgers hinzu und steckte ihr Tuch wieder ein, »weiß ich, daß sie mich für eine gute Freundin hält.«

Mrs. Todgers hätte berechtigterweise sagen können: »für ihre beste Freundin«. Die Herren vom Handelsstande und die Sorgen um die tägliche Fleischbrühe hatten zwar Mrs. Todgers‘ Herz ein wenig verhärtet, und sie dachte fast an nichts anderes als an Erwerb – der übrigens in ihrem Falle so unbedeutend war, daß man es ihr nachsehen mußte, wenn sie die Augen offen hielt und an allen Ecken und Enden sparte, aber in irgendeinem Winkel ihres Herzens und vor einem ganz verborgenen Schubfach war eine geheime Tür, und auf der stand das Wort »Weib« geschrieben. Und wenn Gratia die Feder berührte, so flog sie weit auf, um ihr ein Asyl zu bieten.

In diesem Augenblick trat Charitas mit ihrem Verehrer ein.

»Mr. Thomas Pinch«, stellte sie Tom, sich in die Brust werfend, vor: »– Mr. Moddle –. Wo ist übrigens meine Schwester?«

»Fortgegangen, Miss Pecksniff«, antwortete Mrs. Todgers. »Es war höchste Zeit.«

»Ach«, seufzte Charitas mit einem lauernden Blick auf Tom, »– ach, du lieber Himmel.«

»Sie hat sich sehr, sehr verändert, seit sie mit einem andern – – seit sie verheiratet ist, Mrs. Todgers«, bemerkte Mr. Moddle.

»Mein lieber Augustus!« sagte Miss Pecksniff spitz. »Ich glaube wirklich, dies wohl schon fünfzigtausendmal von Ihnen gehört zu haben. Gott, sind Sie ein langweiliger Mensch.«

Es folgte ein etwas lahmes Liebesgeplänkel, das lediglich von Miss Pecksniff ausging, denn Mr. Moddle benahm sich wesentlich zurückhaltender, als es gewöhnlich bei jungen Liebhabern der Fall sein soll, und stellte überhaupt eine geradezu stupende Geistesträgheit zur Schau.

Er wurde übrigens auch nicht lebendiger, als Tom mit ihm die Straße hinaufging, und seufzte so unheimlich, daß es wahrhaft erschrecklich anzuhören war. Um ihn aufzuheitern, wünschte ihm Tom viel Glück für die Zukunft.

»Glück?!« rief Moddle, »haha.«

»Ist das aber ein seltsamer junger Mensch«, dachte Tom.

»Der Weltschmerz hat wohl noch nicht sein Siegel auf Sie gedrückt? Sie kümmern sich wahrscheinlich noch darum, was noch einmal aus ihnen werden wird?« fragte Mr. Moddle.

Tom gab zu, daß er diesbezüglich allerdings noch so manches Interesse fühle.

»Bei mir ist das nicht der Fall«, versetzte Mr. Moddle. »Die Erde kann mich zurückhaben, sobald sie will. – Ich bin bereit.«

Tom schloß aus diesen und ähnlichen Ausdrücken, der junge Mann müsse wahrscheinlich eifersüchtig sein, und überließ ihn daher sich selbst und seinen Gedanken, die übrigens so düster zu sein schienen, daß er förmlich aufatmete, als sie sich vor dem Tore von Furnivals Inn trennten.

Die Essenszeit war schon ein paar Stunden vorüber, und John Westlock ging, ängstlich besorgt um Tom, unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Der Tisch war gedeckt, der Wein sorgsam in Karaffen gegossen, und würziger Speisenduft erfüllte die Luft.

»Na, hör mal, Tom, alter Junge, wo in aller Welt hast du denn so lange gesteckt?« rief John. »Dein Koffer ist übrigens angekommen. Aber jetzt zieh deine Stiefel aus und setz dich gefälligst nieder.«

»Es tut mir wirklich leid, sagen zu müssen, daß ich unmöglich bleiben kann«, entschuldigte sich Tom Pinch, atemlos von der Hast, mit der er die Treppe heraufgeeilt war.

»Nicht bleiben?«

»Bitte, fange jetzt nur an zu essen«, keuchte Tom, »ich will dir inzwischen meine Gründe dafür angeben. Ich kann dir dabei nicht Gesellschaft leisten, denn ich darf mir den Appetit für die Hammelrippchen nicht verderben und –«

»Es sind doch gar keine Hammelrippen da, lieber Freund«, unterbrach ihn John.

»Nein, aber in Islington.«

John Westlock riß die Augen auf und schwur hoch und teuer, er werde keinen Bissen anrühren, ehe sich Tom nicht deutlicher erklärt habe.

Mr. Pinch setzte sich daher nieder und erzählte ihm seine ganze Geschichte.

John Westlock kannte seinen Freund zu gut und achtete sein Feingefühl zu sehr, als daß er ihn gefragt hätte, wozu er alle diese Maßregeln getroffen, ohne sich vorher mit ihm besprochen zu haben. Tom müsse, sagte er, sofort zu seiner Schwester zurückkehren, da der Ort, wo er sie gelassen, ihr zu wenig bekannt sei. – Er werde sogleich einen Fiaker nehmen, und bei dieser Gelegenheit könnten sie gleich den Koffer mitnehmen.

»Und jetzt, Tom«, sagte er, als sie eingestiegen waren, »habe ich eine Frage an dich, die du mir offen und ehrlich beantworten mußt: Brauchst du Geld? – Aber natürlich, du mußt ja welches brauchen.«

»Nein, nein, gewiß nicht!« beteuerte Tom. »Ich danke dir wirklich herzlich, aber sowohl meine Schwester wie ich sind vorläufig noch versorgt. Und dann habe ich noch eine Fünfpfundnote, die mir Mrs. Lupin in einem Brief am Kreuzweg aufdrängte.«

An der Haustür von Toms Wohnung trennten sie sich. John Westlock blieb im Wagen sitzen, als er aber eines entzückenden süßen kleinen Geschöpfchens ansichtig wurde, das aus dem Haus stürzte, Tom um den Hals fiel und ihm den Koffer in den Flur tragen half, da hätte er nicht das mindeste dagegen einzuwenden gehabt, mit seinem Freund zu tauschen.

38. Kapitel


38. Kapitel

Allerlei Heimlichkeiten

Als Tom mit seinem neuen sentimentalen Bekannten von der City aufgebrochen war, hatte er, ohne es zu wissen und ohne ihn zu kennen, Mr. Nadgett von der »Anglo-Bengalischen« gestreift und ihm ins Gesicht geblickt.

Es war ein merkwürdiger Zufall, daß beide – Tom und Mr. Nadgett – die sich doch gar nicht kannten, gerade an ein und denselben Menschen unter den unzähligen Einwohnern der Riesenstadt London dachten – nämlich an Jonas Chuzzlewit.

Warum sich Tom mit Jonas innerlich beschäftigte, liegt auf der Hand. Bei Mr. Nadgett lag die Sache nicht so klar.

Jedenfalls, das war sicher, war der vortreffliche verwaiste junge Mann der Mittelpunkt von Mr. Nadgetts Heimlichtuerei geworden. Mr. Nadgett hatte ein beständiges hochgespanntes Interesse an Jonas‘ geringstem Tun und Lassen. Er bewachte ihn auf Schritt und Tritt, in und außerhalb der Assekuranz-Gesellschaft, in der Mr. Chuzzlewit jetzt als Direktor angestellt war, blieb stehen und lauschte, wenn Jonas sprach, schrieb sich im Kaffeehaus seinen Namen wohl hundertmal in sein großes Notizbuch, verfaßte fortwährend Briefe über Jonas an sich selbst, und wenn er sie dann in seinen Taschen fand, warf er sie ins Feuer – aber selbstverständlich ängstlich besorgt, daß auch die Asche genügend verglomm.

Aber natürlich geschah auch alles dies in tiefster Heimlichkeit.

So eifrig Jonas übrigens von Mr. Nadgett beobachtet wurde, so hatte er doch so wenig eine Ahnung davon, daß die Augen dieses Menschen beständig auf ihm hafteten, als wäre er unter der täglichen Aufsicht des gesamten Jesuitenordens gestanden. Wenn auch Mr. Nadgetts Augen selten auf etwas anderes gerichtet waren als auf den Boden, auf die Bureauuhr oder auf das Kaminfeuer, so sah er dennoch soviel, als sei jeder Knopf seines Rockes ein argwöhnisches Auge.

Die gedrückte scheue Art des Mannes erstickte jedes Mißtrauen im Keim, sah er doch viel eher aus wie jemand, der sich fürchtet, beobachtet zu werden, als wie einer, der selbst beobachtet. Er ging so schüchtern herum und war so zugeknöpft, als ob der ganze Zweck seines Lebens darauf hinausliefe, niemals auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Jonas begegnete ihm bisweilen auf der Straße oder in den Bureaus der Anstalt, wo er vermutlich auf den Mann wartete, der niemals kam, und jedesmal sah er ihn mit seinem steinernen Gesicht und den Kopf gesenkt davonschleichen, immerwährend seinen Biberhandschuh vor sich her tragend, und nichts wäre ihm ferner gelegen als der Gedanke, dieser Mensch könne ihn beobachten. Ebensogut hätte er geargwöhnt, das Kreuz auf der St.-Pauls-Kathedrale könne ihn belauern oder ein Fangnetz bereithalten, um es ihm über den Kopf zu werfen.

Um diese Zeit nun ging in Mr. Nadgetts geheimnisvollem Leben eine höchst seltsame Veränderung vor sich. Bisher hatte man ihn immer frühmorgens von Cornhill herunterkommen sehen, und zwar so pünktlich Tag für Tag, daß bald die Sage ging, er schlafe überhaupt nicht und ziehe auch niemals seine Kleider aus. Jetzt aber, da man ihn ebenso pünktlich in Holborn aus der Kingsgate Street herauskommen sah, machte man bald die Entdeckung, daß er jeden Morgen in dieser Straße einen gewissen Barbierladen besuchte, um sich rasieren zu lassen, und daß der Inhaber dieses Ladens ein gewisser Sweedlepipe war. Mr. Nadgett schien mit dem Mann, der nie kam, ein Rendezvous dort zu haben und im Laden mit ihm zusammentreffen zu wollen, denn er wartete dort oft entsetzlich lange, ließ sich Feder und Tinte geben, zog sein Taschentuch heraus und war stundenlang aufs eifrigste damit beschäftigt, sich Notizen zu machen. Mrs. Gamp und Mr. Sweedlepipe besprachen sich des öftern angelegentlichst über diesen geheimnisvollen Kunden, aber meist kamen sie zu dem Schlusse, er spekuliere wahrscheinlich an der Börse oder gehe seinen Gläubigern aus dem Wege.

Später mußte Mr. Nadgett dem Manne, der nie sein Wort hielt, wahrscheinlich ein anderes Stelldichein angegeben haben, denn eines Tages sah man ihn zum ersten Male mitten in der City in der Schenkstube des »Trauerpferdes« – wo die Leichenbesorger und Pompes-Funèbres-Männer einzukehren pflegten. Er zeichnete dort mit dem Ende seiner Tabakspfeife Figuren in das Sägemehl eines unbenützten Spucknapfes, weigerte sich aber aufs entschiedenste, irgend etwas zu bestellen, da er, wie er sagte, jeden Augenblick einen Gentleman erwarte. Da auch diesmal der Herr nicht Ehre genug im Leibe hatte, sein Wort zu halten, so kam Mr. Nadgett am nächsten Tag wieder und hantierte mit einem so dicken Portefeuille herum, daß ihn die Leute in der Schenke für einen sehr vermögenden Mann hielten. Von da an wiederholte er täglich seinen Besuch und erledigte soviel Schreibereien, daß es ihm unter anderm eine Kleinigkeit war, ein großes bleiernes Tintenfaß in zwei Sitzungen bis auf den Grund zu leeren. Obgleich er niemals viel sprach, so machte er doch schließlich durch seine bloße Anwesenheit die nähere Bekanntschaft der Stammgäste, und im Verlauf der Zeit wurde er mit Mr. Tacker und sogar mit Mr. Mould ganz intim. Mr. Mould sagte ihm offen heraus, er sei ein ganz durchtriebener, mit allen Wassern gewaschener Schlaufuchs, und beehrte ihn noch mit einer ganzen Reihe ähnlich schmeichelhafter Epitheta.

Gleichzeitig teilte Mr. Nadgett auch den Leuten in der Versicherungsanstalt in der ihm eigentümlichen geheimnisvollen Weise mit, er fürchte, es sei etwas nicht richtig mit seiner Leber, und es werde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben, als den Assekuranzarzt zu konsultieren. Daraufhin wurde er Mr. Jobling überliefert, aber trotzdem dieser nichts finden konnte, was auf eine Lebererkrankung hätte schließen lassen, blieb Mr. Nadgett doch bei seiner Behauptung und ließ sich nicht so mir nichts dir nichts abspeisen. Er wurde also Mr. Joblings täglicher Patient, zählte ihm seine Symptome in seiner leisen geheimnisvollen Weise wohl ein dutzendmal an den Fingern her und ging in den Zimmern des Arztes ein und aus. Da er alles dies gleichzeitig betrieb, und zwar höchst verstohlen und geheimnisvoll, und dabei nie in seiner Wachsamkeit hinsichtlich des Tuns und Lassens Mr. Jonas Chuzzlewits nachließ, so war es nicht sehr unwahrscheinlich, daß alle diese Manöver zusammenhängende Teile eines großen geheimnisvollen Planes bildeten, den er schmiedete.

Am Morgen desselben Tages, an dem Mr. Pinch soviel erlebt hatte, erschien Mr. Nadgett plötzlich vor Mr. Montagues Hause in Pall Mall – auch diesmal, wie er es stets zu tun pflegte, in dem Augenblick, als es vom Kirchturm neun Uhr schlug. Er zog die Klingel – so heimlich, als ob er im Begriffe stehe, einen Hochverrat zu begehen – und schlüpfte rasch durch die Türe, kaum daß sie genügend offen war, um seinen Körper durchzulassen. Dann schloß er sie sofort wieder mit eigener Hand.

Mr. Bailey meldete ihn unverzüglich und kehrte gleich darauf mit der Aufforderung zurück, Mr. Nadgett möge ihm zu seinem Herrn folgen.

Der Präsident des Anglo-Bengalischen uneigennützigen Anlehens- und Lebensversicherungs-Unternehmens kleidete sich soeben an und empfing ihn ganz wie einen Geschäftsmann, den man täglich zu sehen gewohnt ist.

»Nun, Mr. Nadgett, was gibt’s?«

Mr. Nadgett stellte seinen Hut auf den Boden und hustete. Nachdem Mr. Bailey sich wieder entfernt und die Türe geschlossen hatte, stand er leise wieder auf, untersuchte, ob der Schnapper ins Schloß gefallen sei, und näherte sich dann wieder bis auf ein paar Schritte dem Stuhl, auf dem Mr. Montague saß.

»Also, was gibt’s Neues, Mr. Nadgett?«

»Ich glaube, wir haben jetzt endlich etwas.«

»Freut mich zu hören; ich fing schon an zu fürchten, Sie hätten die Witterung verloren, Nadgett –«

»O nein, Sir! Freilich verliert man hin und wieder einmal die Spur, aber das geht nun einmal nicht anders.«

»Sie sind die Wahrheit selbst, Mr. Nadgett! Haben Sie einen großen Erfolg zu berichten?«

»Das muß ich ganz und gar Ihrer Beurteilung überlassen, Sir«, lautete die Antwort. – Damit setzte Mr. Nadgett seine Brille auf.

»Und was halten Sie selbst davon? Freuen Sie sich darüber?«

Mr. Nadgett rieb sich langsam die Hände, strich sich über das Kinn, blickte im Zimmer umher und brummte:

»Hm, ja; ich glaube, es ist ein ganz hübscher Fall; ich neige wenigstens zu der Ansicht, daß es ein recht hübscher Fall ist. Soll ich Ihnen die Sache vortragen?«

»Nur zu!«

Mr. Nadgett suchte sich einen bestimmten Stuhl unter den übrigen heraus und stellte ihn an eine besondere Stelle, als wolle er darüber hinwegvoltigieren, rückte dann einen andern gegenüber und ließ zwischen beiden nur Raum für seine eigenen Beine. Dann nahm er auf dem Stuhle »Numero zwei« Platz, legte höchst bedächtig auf »Numero eins« sein Taschenbuch, löste die Schnur, mit der es zusammengebunden war, und warf sie über die Lehne. Dann rückte er mit beiden Stühlen ein wenig näher zu Mr. Montague, öffnete das Taschenbuch und breitete seinen Inhalt aus. Schließlich suchte er unter den verschiedenen Dokumenten eine Art von Memorandum hervor und breitete es vor seinem Chef aus, der während dieser ganzen feierlichen Präliminarien seine Ungeduld kaum zu zügeln vermochte.

»Ich wollte, Sie wären kein so ausgesprochener Freund von Schreibereien, mein Lieber, brummte Mr. Tigg Montague mit sauerem Lächeln. »Ich wollte, Sie statteten mir Ihren Bericht immer lieber mündlich ab.«

»Ich verabscheue die mündlichen Mitteilungen«, sagte Mr. Nadgett tiefernst. »Man kann nie wissen, ob nicht jemand zuhört.«

Mr. Montague wollte etwas erwidern, aber Nadgett drängte ihm das Papier auf und sagte im Tone verhaltenen Triumphes: »Wir wollen chronologisch vorgehen. – Lesen Sie gefälligst dies hier, Sir.«

Der Präsident warf achtlos einen Blick auf das Papier, und ein Lächeln überflog sein Gesicht, das keine große Anerkennung der pedantischen Gewohnheiten des Spions ausdrückte. Kaum aber hatte er ein halbes Dutzend Zeilen überflogen, als der Ausdruck seines Gesichtes sich zu ändern begann und, noch ehe er das Memorandum zu Ende gelesen, die gespannteste Aufmerksamkeit verriet.

»Numero zwei«, sagte Mr. Nadgett und händigte ihm ein anderes Blatt ein, wobei er das erste wieder zurücknahm. »Lesen Sie jetzt Numero zwei, Sir! Sie werden die Sache um so interessanter finden, je weiter Sie kommen.«

Mr. Montague lehnte sich in seinen Sessel zurück und warf seinem Emissär einen so merkwürdigen, zugleich verwunderten und erschrockenen Blick zu, daß Mr. Nadgett seine Aufforderung dreimal wiederholen mußte. Endlich besann er sich und las »Numero zwei« durch, Numero drei, dann Nummer vier, Nummer fünf usw.

Sämtliche Dokumente waren von Mr. Nadgetts Hand geschrieben und bildeten eine Reihe von Memoranden, die offenbar von Fall zu Fall in größter Eile auf alte Briefkuverts oder irgendeinen Fetzen Papier hingeworfen worden waren. Es war ein loses nachlässiges Gekritzel von sehr uneinladendem Äußern, aber dennoch voll wichtigsten Inhaltes, wie sich aus dem Gesicht des Präsidenten erkennen ließ.

Je aufgeregter Mr. Tigg wurde, desto größer wurde auch die heimliche Freude Mr. Nadgetts. Anfangs saß er mit der Brille tief unten auf der Nasenspitze da und blickte über die Linsen hinweg seinen Prinzipal an, sich besorgt die Hände reibend; nach einer kleinen Weile jedoch schon setzte er sich etwas bequemer in seinem Stuhl zurecht, überlas in Gemütsruhe das nächste Blatt, bevor er es Mr. Montague überreichte, und schließlich stand er sogar auf und schaute mit triumphierender Miene zum Fenster hinaus, an dem er gerade stand, als Mr. Tigg Montague mit dem Lesen fertig war.

»Und das ist das letzte, Mr. Nadgett?« fragte Mr. Montague tief aufatmend.

»Ja, das ist das letzte, Sir.«

»Sie sind ein wunderbarer Mensch, Mr. Nadgett!«

»Ja, ich denke, es ist ein recht hübscher Fall«, gab Mr. Nadgett zu und ordnete seine Papiere, »es hat ziemlich viel Mühe gekostet.«

»Aber Sie sollen auch gut entlohnt werden, Mr. Nadgett.«

Mr. Nadgett verbeugte sich.

»Hinter allen diesen Geschichten steckt ein Pferdefuß! Die Sache geht tiefer, als ich erwartete, Mr. Nadgett. Ich kann mir wirklich Glück wünschen, daß Sie sich so gut auf derlei geheime Nachforschungen verstehen.«

»Ich interessiere mich für nichts, was nicht Geheimnis ist«, erwiderte Mr. Nadgett, band seine Brieftasche zu und steckte sie wieder ein. »Sogar der Umstand, daß ich Ihnen davon Mitteilung machen mußte, benimmt mir beinahe schon die Freude an der ganzen Sache.«

»Sie haben wirklich eine ganz unschätzbare Gemütsbeschaffenheit«, versetzte Mr. Tigg, »und das ist eine große Gabe für einen Mann Ihres Berufs, Mr. Nadgett. Das ist womöglich noch besser als Klugheit, obgleich Sie auch diese Eigenschaft in hohem Maße besitzen. – – Hallo! Hat da nicht jemand soeben unten geklopft? Wollen Sie nicht einen Augenblick zum Fenster hinausschauen und mir sagen, ob jemand am Haustor steht?«

Mr. Nadgett zog leise das Schiebefenster auf und spähte so verstohlen auf die Straße hinunter, als erwarte er jeden Augenblick eine feindliche Musketensalve. Dann zog er ebenso vorsichtig den Kopf wieder zurück und meldete, ohne eine Miene zu verziehen:

»Mr. Jonas Chuzzlewit.«

»Hab ich mir gleich gedacht«, brummte Mr. Tigg.

»Soll ich gehen, Sir?«

»Es wird wohl das beste sein. – – Halt! Bleiben Sie doch lieber hier, Mr. Nadgett.«

Merkwürdig, wie blaß und verstört Mr. Montague plötzlich geworden war. Es schien ganz unerklärlich. Sein Auge war auf sein Rasiermesser auf dem Toilettentisch gefallen; aber welchen Zusammenhang konnte das damit haben?!

In diesem Augenblick wurde Mr. Chuzzlewit angemeldet.

»Führen Sie ihn sogleich zu mir, Nadgett, aber lassen Sie uns nicht allein. Hören Sie! – – – Gott im Himmel«, flüsterte Mr. Tigg vor sich hin, »man kann nie wissen, was passiert.«

Dabei ergriff er hastig ein paar Haarbürsten und begann sie an seinem Kopf zu probieren, als sei er gerade bei seiner Toilette begriffen gewesen. Mr. Nadgett zog sich zum Kamin zurück, in dem ein kleines Feuer zum Zweck der Erwärmung des Lockeneisens brannte, und da ihm die Gelegenheit günstig schien, sein Taschentuch zu trocknen, so zog er es unverzüglich heraus. In dieser Stellung blieb er während des ganzen jetzt folgenden Gespräches stehen, das Tuch vor sich auf den Kaminstangen ausgebreitet, und zuweilen, wenn auch nicht oft, über die Schulter einen Blick zurückwerfend.

»O mein lieber Mr. Chuzzlewit«, rief Mr. Montague, als Jonas eintrat. »Sie stehen ja mit den Lerchen auf. Jemand, der mit den Nachtigallen schlafen zu gehen pflegt wie Sie, pflegt das sonst nicht zu tun. – Sie haben ja eine übermenschliche Energie, mein lieber Mr. Chuzzlewit.«

»Zum Teufel noch mal«, knurrte Jonas mit verdrießlicher Miene und warf sich in einen Stuhl. »Ich möchte auch lieber nicht mit der Lerche aufstehen, wenn es anders ginge. Aber ich habe einen schlechten Schlaf; da ist es besser, aufzustehen, als sich im Bett herumzuwälzen und die Schläge der schauerlichen alten Turmuhren zu zählen.«

»Einen schlechten Schlaf?« rief Mr. Tigg. »Hm, das ist etwas, das ich überhaupt nicht kenne. Ich habe diesen Ausdruck wohl oft gehört, kann mir aber gar nicht vorstellen, wie so etwas eigentlich ist.«

»Hallo«, unterbrach ihn Jonas, »wer ist das? Dort! Ah, der alte – wie heißt er doch nur? – Was drückt er sich da so herum, als ob er in den Schornstein hinaufkriechen wollte?«

»Haha«, lachte Mr. Tigg, »meiner Seel, es sieht wahrhaftig so aus.«

»Er ist hier ziemlich überflüssig, dächte ich. Er soll lieber fortgehen. Was meinen Sie?« fragte Jonas.

»Ach Gott, lassen Sie ihn nur hier; lassen Sie ihn ruhig hier«, sagte Mr. Tigg. »Es ist ein altes Faktotum – sozusagen ein Stück Möbel –, er hat mir soeben seinen Bericht erstattet und wartet jetzt auf weitere Orders. Ich lasse ihn«, fügte Mr. Tigg hinzu und erhob seine Stimme, »gewisse Erkundigungen einziehen und uns dann Auskünfte erteilen. Es gibt immer was zu tun. Übrigens versteht er sein Geschäft.«

»Hat’s auch nötig«, brummte Jonas. »Scheint ein verdammt ungeschickter Schafskopf zu sein. Mir scheint gar, er fürchtet sich vor mir!«

»Das glaub ich«, lachte Tigg. »Er hat auch allen Grund dazu. Übrigens, Nadgett, reichen Sie mir mal das Handtuch dort her.«

Nadgett reichte es, blieb einen Augenblick stehen und zog sich dann wieder auf seinen alten Posten am Kamin zurück.

»Sie sehen, mein lieber Freund«, begann Mr. Tigg. »Sie sehen heute – aber was ist denn das? Ihre Lippen sind ja ganz weiß!«

»Vielleicht vom Essig«, versetzte Jonas. »Ich habe soeben Austern gefrühstückt. – Wieso sind sie denn weiß?« setzte er mit einem Fluch hinzu und rieb sie sich mit einem Taschentuch. »Mir ganz unerklärlich.«

»So, jetzt bekommen sie schon wieder Farbe«, sagte Mr. Tigg, »jetzt sind sie schon wieder rot.«

»Sagen Sie mir lieber, was Sie mir zu sagen haben«, rief Jonas ärgerlich, »und kümmern Sie sich nicht darum, wie ich aussehe. Wenn ich nur die Zähne zeigen kann – und das kann ich, wenn’s not tut – die Farbe meiner Lippen ist wirklich gleichgültig.«

»Da haben Sie recht«, gab Mr. Tigg fröhlich zu. »Ich wollte nur sagen, daß Sie zu scharf für Mr. Nadgett sind; er ist zu schüchtern, um sich nicht vor einem Manne wie Ihnen zu fürchten. Aber sonst ist er immerhin ganz brauchbar. Also, wieso haben Sie einen schlechten Schlaf!« »Zum Teufel mit Ihrem schlechten Schlaf!« rief Jonas ärgerlich.

»Nun, nun«, besänftigte Mr. Tigg, »ich hab’s doch nicht so bös gemeint.«

»Ein schlechter Schlaf ist eben kein guter«, versetzte Jonas in seiner verdrießlichen Weise. »Wer schlecht schläft, schläft eben nicht gut und schläft nicht fest.«

»Und dann träumt man, wie?« rief Mr. Tigg mit einem Anflug von Hohn. »Und redet wüste Sachen im Traum, und wenn die Kerze des Nachts heruntergebrannt ist, steht man Todesängste aus, und der kalte Schweiß steht einem auf der Stirne. Nicht wahr, so ist es?«

Sie schwiegen eine Weile, dann nahm Jonas wieder seine Rede auf:

»Na, sind Sie jetzt mit Ihrem Altweibergeplapper fertig? Wenn ja, dann möchte ich ein paar Worte mit Ihnen reden. Ich hätte so allerlei mit Ihnen zu besprechen, bevor wir uns heute im Bureau treffen. Ich bin nicht sonderlich zufrieden mit den Geschäften.«

»Nicht zufrieden?« rief Mr. Tigg. »Aber wir haben doch brillante Einnahmen!«

»Ja, das wohl«, gab Jonas zu, »aber mir sind die Hände zu sehr gebunden. Das paßt mir nicht. Da haben wir einen Paragraphen und dort wieder einen Paragraphen, und Sie haben eine Stimme in dieser Eigenschaft und dann wieder eine in jener, und dann haben Sie wieder Rechte als Präsident und wieder Rechte als bloßes Mitglied, und über die Rechte der andern Mitglieder haben Sie auch zu verfügen – kurz und gut, jeder hat Rechte, nur ich nicht. Was zum Teufel nützt es mir, daß ich eine Stimme habe, wenn ich immer überstimmt werde? Mir paßt das nicht! Ich mache da nicht mehr länger mit, wissen Sie.«

»So? Nicht?« sagte Mr. Tigg spöttisch.

»Nein. Ich habe keine Lust mehr dazu. Es wird noch so weit kommen, daß ihr froh sein müßt, mich mit einer runden Summe abzufinden, wenn ihr mir weiter so auf dem Kopf herumtanzt.«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort –« begann Mr. Montague.

»Hol Sie der Henker mit Ihrem Ehrenwort«, unterbrach ihn Jonas, immer rüder und streitsüchtiger werdend, was übrigens Mr. Montague ganz gut zu passen schien. »Ich will ein bißchen mehr Kontrolle über das Geld haben. Die Ehre überlasse ich Ihnen gern. Die können Sie für sich in Anspruch nehmen, wenn Sie wollen. Aber so, wie die Sachen stehen, mache ich nicht mehr mit. Was zum Beispiel, wenn Sie sich in den Kopf setzen, eines Tags mit der Kasse durchzubrennen? Könnte ich das verhindern? Nein. Und das geht nicht mehr länger so. Ich habe hier ein paarmal recht gut gegessen, aber um den Preis ist es mir zu teuer, Sir. Deshalb sage ich, ich tue nicht mehr mit.«

»Und mir tut es wirklich sehr leid, daß Sie so schlecht aufgelegt sind«, sagte Mr. Tigg mit einem spöttischen Lächeln. »Ich wollte Ihnen nämlich gerade heute vorschlagen – zu Ihrem eigenen Besten, lediglich zu Ihrem eigenen Besten! –, noch ein bißchen mehr Geld in die Sache hineinzustecken.«

»So, waren Sie im Begriffe, mir das vorzuschlagen! Wirklich ausgezeichnet!« rief Jonas und lachte schrill auf.

»Jawohl, und Ihnen anzudeuten«, fuhr Mr. Montague fort, »daß Sie doch Freunde haben – und ich weiß, Sie haben Freunde, die ausgezeichnet für unsere Zwecke passen würden und die wir mit Vergnügen in die Kompagnie aufnehmen würden.«

»Wirklich sehr gütig von Ihnen. Sie würden sie also mit Vergnügen aufnehmen, was?« höhnte Jonas.

»Mein Ehrenwort darauf, ich wäre ganz entzückt. Natürlich bloß, weil es Ihre Freunde sind.«

»Selbstverständlich«, spöttelte Jonas. »Selbstverständlich, weil sie meine Freunde sind! Ich zweifle durchaus nicht, daß Sie sehr entzückt wären, wenn Sie sie drankriegen könnten. Und das alles soll zu meinem Vorteil geschehen, was?«

»Unbedingt zu Ihrem Vorteil«, antwortete Mr. Montague und wägte in jeder Hand eine Bürste, dabei seinen Gast fest ins Auge fassend. »Ich versichere ihnen, es würde nur zu Ihrem Vorteil sein.«

»Und können Sie mir vielleicht sagen, wieso?« fragte Jonas. »Sind Sie dazu imstande?«

»Soll ich es Ihnen sagen?« rief Mr. Montague.

»Es wird wohl das beste sein. Es sind schon ganz kuriose Dinge in Versicherungsanstalten geschehen. Man muß da verdammt scharf aufpassen.«

»Mr. Chuzzlewit«, begann Mr. Montague ernst, lehnte sich, die Ellbogen auf beide Knie gestützt, ein wenig vor und blickte Jonas starr in die Augen, »allerdings sind schon sehr kuriose Sachen passiert, und noch täglich passieren welche. Aber nicht bloß bei uns, sondern da, wo man es am wenigsten erwartet. Und vielleicht noch kurioser ist, daß wir so manchmal hinter dergleichen Dinge – – kommen.«

Er winkte Jonas, seinen Stuhl näherzurücken, warf einen Blick zum Kamin, als wolle er ihn an Nadgetts Gegenwart erinnern, und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Jonas fuhr zurück, wurde totenblaß, dann blutrot, dann gelb, dann blau, und der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirne. Eine so furchtbare Veränderung brachten die wenigen Worte, die ihm Mr. Tigg ins Ohr geflüstert hatte, hervor. Als er ihm schließlich die Hand auf den Mund legte, Todesangst im Blick, daß nur ja keine Silbe an das Ohr Mr. Nadgetts schlüge, war sie so blutlos und eiskalt wie die Hand einer Leiche.

Dann rückte er seinen Stuhl weg und saß da, ein Bild des Entsetzens, der Todesangst und hilfloser Wut. Er konnte weder sprechen noch aufsehen oder sich bewegen. Mr. Tigg nahm mit Muße seine Toilette wieder auf und beendigte sie, nur manchmal mühsam ein Lächeln unterdrückend.

»Also, ich denke, Sie haben gewiß nichts dagegen, mein lieber Freund Chuzzlewit, noch ein bißchen mehr Kapital anzulegen. Wie?« brach er endlich das Schweigen.

Mit blassen Lippen stammelte Jonas ein schwaches »Nein«.

»Vorzüglich! Bravo! So, jetzt sind Sie ja wieder der alte. Und jetzt hören Sie mal. Ich habe mir gestern gedacht, Ihr Schwiegervater wird gewiß Ihren Rat in Geldangelegenheiten sehr zu schätzen wissen, und ich zweifle auch nicht, daß er sich bei uns beteiligen wird, wenn man ihm die Sache in entsprechender Weise darstellt. Er hat doch Geld?«

»Ja, er hat Geld.«

»Soll ich also die Sache mit Mr. Pecksniff Ihnen überlassen? Wollen Sie sie auf sich nehmen?«

»Ich will es versuchen – will wenigstens mein Bestes tun.«

»Tausend Dank«, rief Mr. Tigg und klopfte Jonas herablassend auf die Schulter. »Wollen wir jetzt gehen? – Mr. Nadgett, folgen Sie uns gefälligst.«

Sie gingen. Was Jonas Chuzzlewits Gedanken über Mr. Montague sein mochten, wie rettungslos gefangen, in ein Netz verstrickt und ins tiefste Verderben gestürzt er sich sah, was immer für Ahnungen, Hoffnungen und Gedanken der Verzweiflung ihn bestürmen mochten, welche letzte schreckliche Aussicht auf Rettung wie ein einziger blutroter Schimmer an dem völlig verdüsterten Horizont seiner Seele auftauchen mochte – er dachte ebensowenig daran, daß die gebeugte Gestalt, die einige Stufen hinter ihnen herunterkroch, das ihn verfolgende Fatum sei, wie er wohl die andere Gestalt neben ihm für seinen guten Engel hielt.

39. Kapitel


39. Kapitel

Einige Einzelheiten über das Hauswesen der Geschwister Pinch sowie seltsame Neuigkeiten aus London, die Tom sehr nahe betreffen

Noch nie hat sich wohl ein kleines Mädchen über ihre Puppenstube so gefreut wie die kleine Ruth in ihrer glorreichen Herrschaft über den dreieckigen Salon und die beiden kleinen Schlafzimmer.

Toms Haushälterin zu sein – welche Würde!

Ein Haushalt an und für sich schon zieht das Bewußtsein der verschiedensten Verantwortlichkeiten nach sich, aber ein Haushalt für Tom war wohl die großartigste Aufgabe, die es geben konnte. Schnell nahm sie die Schlüssel aus dem kleinen Schränkchen, in dem sie den Tee und den Zucker aufhob, oder aus den zwei kleinen dumpfigen Speiseschränkchen in der Nähe des Kamins, wo selbst die Küchenschaben schimmlig wurden und infolge des neidischen Mehltaus den Glanz ihrer Flügel einbüßten – und klingelte damit vor Tom, wenn er zum Frühstück herunterkam. Und dann steckte sie sie wieder fröhlich lachend mit frohem Stolz in ihre kleine Tasche.

Es war für sie etwas so Neues, Gebieterin über irgend etwas zu sein, daß man es ihr auch hätte verzeihen müssen, wenn sie plötzlich die rücksichtsloseste und despotischste aller kleinen Haushälterinnen geworden wäre.

Davon konnte aber bei ihr natürlich keine Rede sein, denn sogar in der Art, wie sie den Tee aufgoß, lag eine gewisse Schüchternheit, so daß Tom jedesmal vor Freude außer sich geriet. Und wenn sie ihn fragte, was er zum Mittagessen zu haben wünsche, und stotternd meinte, Hammelrippchen wären vielleicht das beste, da sie am Abend vorher so gut gelungen seien, wurde Tom geradezu witzig und fing an, sie schrecklich zu necken.

»Ich weiß ja nicht, Tom«, sagte Ruth errötend, »und ich bin auch nicht ganz überzeugt, ob es mir gelingt, aber ich denke, ich könnte vielleicht einen Beefsteakpudding versuchen?«

»Im ganzen Kochbuch steht nichts, was mir so zusagen würde wie ein Beefsteakpudding«, rief Tom und schlug sich zur Bekräftigung auf den Schenkel.

»Oh, das ist ja ganz vortrefflich! – Aber – – wenn es mir nun doch das erstemal nicht recht gelingen sollte«, stotterte Ruth, »und wenn es nicht gerade ein Pudding, sondern vielleicht gedämpftes Fleisch oder eine Suppe oder sonst etwas würde, so würdest du mir doch nicht böse sein, Tom, nicht wahr?«

Sie sah ihn dabei so ernsthaft an, und er erwiderte ihren Blick so nachdenklich, daß sie schließlich beide plötzlich in ein Lachen ausbrachen.

»Aber das ist ja nur um so besser!« rief Tom. »Das macht uns das Mittagessen zu einer höchst interessanten Überraschung. Wir setzen gleichsam in eine Beefsteaklotterie, und wer weiß, was wir dabei alles gewinnen. Vielleicht machen wir sogar eine wunderbare Entdeckung und erfinden, ohne es zu wollen, eine neue unbekannte Speise?«

»Sollte mich gar nicht wundern, wenn das wirklich geschieht, Tom«, rief Ruth, noch immer lachend. »Vielleicht wird es auch ein Gericht, das wir nicht gern noch einmal bereiten würden. Eines aber weiß ich: das Fleisch muß zuletzt aus der Pfanne kommen, und das ist ein Trost. Das können wir schließlich immer noch retten. Wenn du also glaubst, daß ich es wagen soll, so will ich’s probieren.«

»Ich hege nicht den mindesten Zweifel«, rief Tom, »daß es ein ganz vortrefflicher Pudding werden oder mir doch jedenfalls so vorkommen wird. Du bist von Natur aus so geschickt, liebe Ruth, daß, wenn du jetzt sogar behauptetest, du könntest eine tadellose Schildkrötensuppe bereiten, ich dir aufs Wort glauben würde.«

Und Tom hatte recht. Sie war wirklich so. Sie war eine jener Naturen, denen man nichts abschlagen kann und denen auch alles gelingt. Aber das beste daran war, daß sie es selbst nicht zu wissen schien.

Sie wusch jetzt die Frühstückstassen aus und plauderte dabei in einem fort, erzählte Tom hunderterlei kleine Episoden von ihrem früheren Prinzipal, stellte dann alles wieder an Ort und Stelle und machte das Zimmer so sauber und nett, wie sie selbst war. Dann bürstete sie an Toms altem Hut so lange herum, bis er so glatt war wie der Mr. Pecksniffs. Und als sie entdeckte, daß Toms Kragen am Ende ein wenig eingerissen war, flog sie im Nu die Treppe hinauf, holte Nadel und Zwirn, kam zurück mit dem Fingerhut auf dem Finger und flickte den Schaden mit wunderbarer Geschicklichkeit, ohne Tom auch nur ein einziges Mal ins Kinn zu stechen, trotzdem sie während des ganzen Geschäftes seine Lieblingsarie summte und mit den Fingern ihrer linken Hand auf seinem Halstuch den Takt trommelte. Als dies geschehen, eilte sie abermals davon und war im Nu wie eine emsige geschäftige Biene wieder da, unter ihrem runden kleinen Kinn die Bänder ihres reizenden kleinen Hutes zuknüpfend, um ohne Zeitverlust zum Fleischer zu eilen. Sie lud Tom ein, sie zu begleiten, damit er mit eigenen Augen sähe, wie das Beefsteak abgeschnitten werde. Was Tom betraf, so war er natürlich bereit, überall hinzugehen, wo sie wollte, und sie trabten deshalb Arm in Arm über die ruhige Straße und schwärmten dabei von ihrer billigen Wohnung und deren luftiger Lage.

Und wie dann der Fleischer die Portion auf den Block legte und sein Messer wetzte, bekamen sie einen solchen Appetit, daß sie gleich am liebsten noch einmal gefrühstückt hätten. Und es war wirklich eine Lust, zuzusehen, wie er das Fleisch so glatt und kunstgerecht abschnitt. Es lag nichts Metzgerhaftes in der ganzen Handlung, obgleich das Messer groß und scharf war. Es war eher wie ein Kunstwerk, sozusagen ein Triumph des Geistes über die Materie.

Das schönste grünste Kohlblatt, das je in einem Garten gewachsen, wickelte der Fleischer dann um seine Ware, ehe er sie Tom überreichte. Aber der Mann betrieb sein Geschäft auch mit einem gewissen Kunstsinn und wußte es zu veredeln. Als er sah, wie Tom das Blatt etwas ungeschickt in seine Tasche zwängen wollte, bat er um die Erlaubnis, ihm helfen zu dürfen, denn »Fleisch«, meinte er nicht ohne Erregung, müsse zart behandelt und nicht so mir nichts, dir nichts in die Tasche gekeilt werden.

Nachdem sie noch einige Eier, Mehl und noch andere Zutaten eingekauft, begaben sie sich in ihre Wohnung zurück. Tom setzte sich würdevoll an das eine Ende des Tisches, um zu schreiben, während Ruth sich an dem andern anschickte, den Pudding herzurichten, denn es war niemand im Hause als eine alte Frau, die ihr Hauswesen selbst besorgte und sich nur für die gröbsten Arbeiten eine Zugeherin hielt, während der Hausbesitzer selbst, eine höchst geheimnisvolle Art von Mensch, jeden Morgen in aller Frühe ausging und sich dann den Tag über kaum wieder blicken ließ.

»Was schreibst du da, Tom?« fragte Ruth und legte ihrem Bruder die Hand auf die Schulter.

»Sieh mal, meine Liebe«, versetzte Tom, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte ihr dabei ins Gesicht, »ich möchte natürlich gerne irgendeine passende Beschäftigung finden, und ich glaube, es wird daher gut sein, daß ich, ehe Westlock diesen Nachmittag kommt, eine kleine Schilderung meiner Persönlichkeit und meiner Befähigungen zu Papier bringe, damit er sie irgendeinem seiner Bekannten oder Freunde vorlegen kann.«

»Du solltest das gleiche auch für mich tun, Tom«, sagte Ruth und schlug die Augen nieder. »Ich möchte dir wirklich von Herzen gern haushalten und stets um dich sein und für dich sorgen, aber dazu sind wir leider nicht reich genug.«

»Freilich sind wir nicht reich«, erwiderte Tom, »und möglicherweise können wir sogar noch viel ärmer werden. Wir wollen uns aber trotzdem vornehmen, Ruth, mitsammen das Leben durchzukämpfen, falls es mir etwa nicht gleich von Anfang so schlechtgehen sollte, daß ich die sichere Überzeugung gewinnen würde, du habest es besser, wenn wir nicht zusammenwohnen. Bestimmt würden wir aber glücklicher sein, wenn wir uns mitsammen durchs Leben zu schlagen imstande wären; glaubst du nicht auch?«

»Ob ich’s glaube, Tom?«

»Aber, aber!« rief Tom innig, »du mußt doch nicht gleich weinen!«

»Nein, nein, ich will mich zusammennehmen, Tom. – Aber du wirst das alles nicht erschwingen können, lieber Bruder; wirklich, du wirst dazu nicht imstande sein.«

»Weißt du das so gewiß?« fragte Tom. »Wie können wir jetzt darüber reden, ehe wir es noch versucht haben? Gott im Himmel!« Seine Energie wurde jetzt geradezu grenzenlos. »Wie können wir denn wissen, was alles geschehen kann, wenn wir’s nicht mit Eifer angehen? Ich bin überzeugt, wir sind imstande, mit sehr wenig durchzukommen, nicht wahr?«

»Ja, das glaube ich auch, Tom.«

»Nun also«, sagte Tom; »probieren geht über studieren. Mein Freund, John Westlock, ist ein ganz kapitaler Bursche, außerordentlich gescheit und lebensgewandt, und ich will ihn um Rat fragen. Wir können ja beide mit ihm die Sache besprechen. Ich bin übrigens überzeugt, du wirst John sehr lieb gewinnen, wenn du ihn einmal näher kennengelernt hast. Aber so weine doch nicht! Ich habe gedacht, du wolltest einen Beefsteakpudding machen«, setzte er hinzu und stieß sie zärtlich mit dem Ellenbogen an. »Wirklich ein großartiges Unterfangen.«

»Du wirst es natürlich einen Pudding nennen, Tom, aber ob es wirklich einer wird, kann ich nicht garantieren.«

»Ich werde es so lange einen Pudding nennen, bis ich sehe, daß es was anderes ist«, versprach Tom. »Du gehst also allen Ernstes ans Werk?«

Freilich ging Ruth mit Ernst ans Werk. Und zwar so ernst, daß Toms Blicke unaufhörlich von seinem Briefe abschweiften. Zuerst trippelte sie die Treppe hinunter in die Küche, um Mehl zu holen, dann brachte sie das Nudelbrett, die Eier, die Butter, einen Krug Wasser, das Teigholz, dann die Puddingform, dann den Pfeffer und das Salz, und um jedes Ding machte sie einen Extraweg und lachte fröhlich dabei. Als endlich alles beisammen war, bemerkte sie mit Schrecken, daß sie keine Schürze umhatte, und lief zur Abwechslung wieder einmal hinauf, um die Schürze zu holen. Sie band sie aber oben nicht um, sondern kam damit heruntergetänzelt, und da sie zu jenen kleinen Geschöpfchen gehörte, für die eine Schürze ein außerordentlich kleidsamer kleiner Putz ist, so dauerte es eine Ewigkeit, bevor sie damit zustande kam. Erst mußte sie sie sorgfältig glattstreichen, und dann wieder dauerte es eine geraume Zeit, bis die Falten gehörig herauskamen, bevor sie sie umbinden, wieder aufbinden und endlich wieder umbinden konnte und bis endlich die kleinen Taschen richtig saßen. Als sie damit endlich fertig war, mußte sie wieder die Ärmel aufschürzen, um sich nicht das Kleid mit Mehl zu beschmutzen, dann hieß es einen kleinen Ring vom Finger ziehen, und der wollte natürlich eine ganze Weile nicht herunter, und während aller dieser Vorbereitungen und Zurüstungen lugte sie jeden Augenblick unter ihren langen Wimpern nach Tom, als ob dies alles zum Pudding gehöre.

Tom konnte, und wenn es sein Leben gegolten hätte, mit seiner Schreiberei nicht vorwärtskommen, und immer wieder blieb es bei den Worten: Ein anständiger junger Mann von fünfunddreißig Jahren – –, obgleich Ruth ganz übernatürlich still tat und auf den Zehen hin und her ging, um ihn nicht zu stören, was ihn nur noch um so mehr ablenkte.

»Tom«, rief sie endlich ganz entzückt, »Tom!«

»Was gibt’s denn?« fragte Tom und wiederholte innerlich: »Von fünfunddreißig Jahren.«

»Bitte, möchtest du nicht einen Augenblick herschauen?«

Als ob er nicht die ganze Zeit sie angesehen hätte!

»Also, jetzt fange ich an, Tom! Wunderst du dich denn gar nicht, warum ich die Form inwendig mit Butter ausstreiche?«

»Ich glaube, ich wundere mich wohl ebensowenig wie du«, versetzte Tom lachend, »denn ich glaube, daß du es selbst nicht weißt.«

»Du bist doch wirklich ein rechter Heide. Wie ginge denn der Pudding wieder aus der Form, wenn man sie innen nicht mit Butter bestriche? Du willst ein Ingenieur sein und weißt das nicht? Ach du lieber Himmel, Tom!«

Von Schreiben war natürlich jetzt keine Rede mehr. Tom strich sein »Ein anständiger junger Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren« wieder aus und sah ihr mit dem zärtlichsten Lächeln, das man sich nur denken konnte, zu.

Wie wichtig sie tat! So voller Ernst und Hausfrauenwürde und dabei so angestrengt bemüht, nicht laut hinauszulachen, und bestrebt, ihre Unsicherheit zu verbergen. Es war eine Lust, ihr zuzusehen, wie sie ihre Stirne in ernste Falten legte, die hübschen Lippen aufwarf und drauflos knetete, dann wieder den Teig auswalzte, in Streifen schnitt, damit die Form ausfütterte und hübsch sorgsam den Rand abdrückte; wie sie das Fleisch in kleine Stücke hackte und Pfeffer und Salz darauf streute, es dann in die Schüssel warf und frisches Wasser darübergoß. Dabei wagte sie auch nicht einen einzigen verstohlenen Blick auf Tom zu werfen, um nicht den Ernst der Situation zu stören. Als endlich die Form bis zum Rand voll war und nur noch die Teigrinde fehlte, schlug sie ihre mit Mehl und Teig bedeckten Händchen zusammen und brach in ein so herzliches, bezauberndes Triumphgelächter aus, daß der Pudding wohl weiter keiner Würze bedurft hätte, um jedem vernünftigen Menschen zu schmecken.

»Also, wo ist der Pudding?« fragte Tom verschmitzt.

»Wo?« rief Ruth und hob ihn mit beiden Händen in die Höhe. »Da schau mal her!«

»Das soll ein Pudding sein?« lachte Tom.

»Er wird natürlich erst einer werden, du großes Kind, wenn er zugedeckt ist«, schmollte Ruth.

Da Tom noch immer ein ungläubiges Gesicht machte, gab sie ihm mit dem Rollholz einen Klaps auf den Kopf und kehrte herzlich lachend zum Entwurf der Deckelrinde zurück, als sie plötzlich tief errötend zusammenfuhr. Tom stutzte gleichfalls, und als er der Richtung ihres Blickes folgte, sah er, daß John Westlock im Zimmer stand.

»Ach Gott im Himmel, John, wie bist du denn da hereingekommen?«

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte John. – »Vor allem natürlich deine Schwester – aber ich traf an der Haustüre eine alte Dame, die mich eintreten hieß. Und da ihr mich nicht klopfen hörtet und die Türe offenstand, nahm ich mir die Freiheit. Ich weiß zwar kaum«, setzte er lächelnd hinzu, »warum jemand von uns darüber betroffen sein sollte, daß ich mich so zufällig in eine so reizende häusliche Beschäftigung eingedrängt habe, aber offen gestanden bin ich doch ein wenig betreten. Möchtest du nicht so gut sein, Tom, und mich deiner Schwester vorstellen?«

»Mr. John Westlock«, sagte Tom – »meine Schwester.«

»Ich hoffe«, rief John lachend, »Sie werden als die Schwester eines so alten Freundes von mir mich gewiß nicht nach dem ersten Eindruck beurteilen, den ich durch mein ungelegenes Erscheinen wahrscheinlich gemacht habe.«

»Meine Schwester ist vielleicht nicht abgeneigt, dich um dasselbe zu bitten«, rief Tom dazwischen.

John Westlock versicherte natürlich, dies sei von ihrer Seite ganz unnötig, denn er sei ohnedies schon in stummer Bewunderung zu ihr erfüllt, und dann reichte er Ruth die Hand, die sie aber nicht nehmen wollte, da die ihrige noch voll Teig und Mehl sei. Dies wirkte so komisch, daß sie sich alle drei des Lachens nicht erwehren konnten, und bald herrschte wieder die behaglichste, ungenierteste Stimmung.

»Ich freue mich wirklich unendlich, dich hier zu sehen«, sagte Tom. »Bitte, nimm doch Platz.«

»Das kann ich nur unter einer Bedingung tun«, entgegnete John, »und die ist, daß deine Schwester ihren Pudding weiter zurichtet, ganz, als ob ich gar nicht dabei wäre.«

»Das wird sie bestimmt tun«, versprach Tom. »Aber ebenfalls nur unter einer Bedingung, nämlich daß du hierbleibst und ihn mit essen hilfst.«

Die arme kleine Ruth befiel ein Herzklopfen, als Tom diese entsetzliche Unbesonnenheit beging. Ihr war zumute, als könne sie nie wieder vor John Westlock die Augen aufschlagen, wenn der Pudding nicht geraten sollte. Ohne die geringste Ahnung von ihrem Gemütszustand nahm John die Einladung mit größter Bereitwilligkeit an, und nach einigen weiteren Scherzen über den Pudding, der natürlich über die Maßen gut ausfallen mußte, setzte sich Ruth errötend nieder, um ihr Geschäft wieder aufzunehmen.

»Ich bin viel früher gekommen, als ich vorhatte, Tom, aber ich will dir jetzt erzählen, was mich hergeführt hat, und ich glaube, du wirst dich außerordentlich freuen, wenn du es hörst. – – Ist das vielleicht etwas, was du mir zeigen willst?« fragte John.

»O Gott, nein«, rief Tom, der ganz vergessen hatte, daß er den beklecksten Papierbogen noch immer in der Hand hielt, und erst durch diese Frage daran erinnert wurde. »›Ein anständiger junger Mann von fünfunddreißig Jahren‹ – – das ist der Anfang einer Offerte, die ich dir übergeben wollte. Weiter bin ich nicht gekommen.«

»Ich glaube auch nicht, daß du nötig hast, deinen Lebenslauf bis zum Schlusse niederzuschreiben«, sagte John Westlock. »Aber sag mal, wie kommt es, daß du mir nie mitgeteilt hast, daß du Freunde in London besitzest?«

Tom sah seine Schwester mit großen Augen an, und sie erwiderte seinen Blick nicht minder erstaunt.

»Freunde in London?«

»Nun ja«, versetzte John Westlock, »freilich.«

»Hast du vielleicht Freunde in London, liebe Ruth?« fragte Tom.

»Nein.«

»Nun also!« sagte Mr. Pinch. »Aber jedenfalls freut es mich, wenn es auch das erstemal in meinem Leben ist, daß ich etwas davon gehört habe. Ich meinerseits hatte keine Ahnung davon. Die Londoner müssen wirklich Kapitalsburschen sein, daß sie ihre Geheimnisse so streng hüten.«

»Darüber magst du denken, wie du willst«, versetzte John Westlock, »aber, Tom, die Sache muß sich so und nicht anders verhalten. Als ich diesen Morgen gerade beim Frühstück saß, hörte ich an meine Türe klopfen – –«

»Und du schriest darauf sehr laut: ›Herein!‹« ergänzte Tom.

»Stimmt. Und die Person, die klopfte, folgte meiner Einladung und blieb nicht – wie ein gewisser ›anständiger junger Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren‹ seinerzeit – mit offenem Mund im Vorzimmer stehen. Nun gut. Und als sie hereinkam, fand ich, daß sie ein Fremder war, und zwar ein ernster, geschäftsmäßig aussehender Fremder. ›Habe ich das Vergnügen mit Mr. Westlock?‹ fragte der Herr. – ›Ja, das ist mein Name‹, sagte ich. ›Kann ich die Ehre haben, ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen?‹ – ›Bitte nur Platz zu nehmen, Sir.‹«

John Westlock machte eine Pause, um nach dem Tisch hinüberzuschielen, wo Toms Schwester, aufmerksam zuhorchend, noch immer mit dem Pudding beschäftigt war, der jetzt bereits ziemlich fertig aussah.

Dann fing er wieder an.

»Als der Mann einen Pudding genommen hatte, – Tom –«

»Wie?« rief Tom.

»Sich niedergesetzt hatte –«

»Aber du sprachst ja von einem Pudding!«

»Nein, nein, ich doch nicht«, leugnete John und wurde ein wenig rot, »ich habe von einem Stuhl gesprochen. Was fällt dir denn ein! – Wie sollte ein Fremder um halb neun Uhr morgens in mein Zimmer kommen und einen Pudding nehmen?! Also, nachdem er einen Stuhl genommen hatte, Tom – also wirklich, einen Stuhl –, setzte er mich nicht wenig in Erstaunen, indem er die Unterhaltung mit den Worten eröffnete: ›Ich glaube, Sir, Sie sind mit einem gewissen Mr. Thomas Pinch bekannt‹«

»Was du da sagst!« rief Tom.

»Ich versichere dir, das waren seine eigenen Worte. Ich antwortete natürlich mit ›ja‹. – Ob ich wisse, wo er gegenwärtig wohne? – Ja. – In London? – Ja. – Der Fremde sagte dann, er habe gehört, daß du deine Stellung bei Mr. Pecksniff aufgegeben habest. Ob dies wirklich der Fall sei? – Ja. – Ob du eine andere Stelle suchest? – Ja.«

»Allerdings suche ich eine«, bestätigte Tom und nickte eifrig.

»Dasselbe sagte ich ihm auch. Du kannst übrigens versichert sein, daß ich mich diesbezüglich so klar aussprach, daß wirklich kein Mißverständnis mehr obwalten konnte. Also gut. – ›In diesem Falle‹, sagte der Herr, ›glaube ich, Mr. Pinch unterbringen zu können.‹«

– Ruth hielt in ihrer Arbeit inne. –

»Gott im Himmel«, rief Tom, »liebe Ruth, denke dir nur, er glaubt mich unterbringen zu können!«

»Natürlich –« fuhr John Westlock fort und blickte wieder verstohlen nach Ruth hin, »war ich nicht weniger gespannt als Ihr Bruder jetzt. Natürlich bat ich ihn fortzufahren und bemerkte, ich wolle dich so bald wie möglich davon in Kenntnis setzen. Er erwiderte, er habe nur sehr wenig mehr zu sagen und mache überhaupt nicht gern viele Worte. Er komme lieber gleich zur Sache. Und das tat er denn auch. Und klipp und klar teilte er mir mit, daß einer seiner Freunde jemanden brauche, der das Amt eines Sekretärs und Bibliothekars versehen könne. Das Gehalt sei zwar gering, da es jährlich nur hundert Pfund betrage und weder Kost noch Wohnung darin inbegriffen seien, aber andererseits sei es kein schwerer Dienst und du könntest jeden Augenblick den Posten antreten.«

»Gott im Himmel«, rief Tom, »hundert Pfund jährlich! Mein lieber, lieber John! Meine liebe Ruth! Denkt euch nur: hundert Pfund im Jahr!«

»Aber das Seltsamste an der Geschichte ist«, nahm John Westlock seine Rede wieder auf und legte seine Hand auf Toms Arm, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln und seinen Enthusiasmus für den Augenblick ein wenig im Zaume zu halten – »das Sonderbarste an der Geschichte, Miss Pinch, ist, daß ich den Herrn durchaus nicht kenne und er Tom ebensowenig kennt.«

»Er kann mich auch gar nicht kennen«, sagte Tom ganz verwirrt; »ich kenne doch nicht einen einzigen Menschen in London.« »Und als ich bemerkte«, erzählte John weiter und hielt Toms Hand dabei immer noch fest, »er dürfe mir die Frage nicht verübeln, wer ihn denn an mich gewiesen und wieso er wisse, daß eine Veränderung in der Lage meines Freundes stattgefunden habe, und wer ihm mitgeteilt, daß sich mein Freund für eine derartige Stelle auch ganz besonders eigne, erklärte er trocken, er bedaure, darüber keine weiteren Auskünfte geben zu können.«

»Er glaube, darüber keine weiteren Erklärungen geben zu können?« wiederholte Tom, atemlos vor Erstaunen.

»›Übrigens ist es ja auch kein Geheimnis‹, sagte der Fremde«, setzte John hinzu, »›daß jeder, der einmal in Mr. Pecksniffs Nähe gewesen ist, Mr. Thomas Pinch und seine Talente so genau kennt wie den Kirchturm dieses Dorfes oder den Blauen Drachen.‹«

»Den Blauen Drachen?« wiederholte Tom, abwechselnd seinen Freund und seine Schwester anstarrend.

»Ja, den Blauen Drachen. Und ich gebe dir mein Wort, das Wirtshaus schien ihm so bekannt zu sein, als ob er Mark Tapley in eigener Person gewesen wäre. Ich sagte dir schon, daß ich große Augen machte, aber dennoch konnte ich mich nicht erinnern, den Mann je zuvor gesehen zu haben, obgleich er mit einem Lächeln fragte: ›Sie kennen den Blauen Drachen, Mr. Westlock? Aber was frage ich, ich weiß doch ganz genau, daß Sie ihn kennen.‹«

Tom geriet in immer größere Verwirrung und erklärte immer und immer wieder, das sei das außerordentlichste und verblüffendste Geheimnis, von dem er je in seinem Leben gehört habe.

»Ja, das ist es«, bestätigte John Westlock. »Ich fürchtete mich beinah vor dem Fremden; wahrhaftig ja – obschon es heller Tag und Sonnenschein war. Ich vermutete beinahe, einen übernatürlichen Gast bei mir zu haben, bis er schließlich ein ganz gewöhnliches sterbliches Taschenbuch hervorzog und mir diese Karte hier einhändigte.«

»Mr. Fips«, las Tom ab. »Austin Friars – Austin Friars klingt gespenstig, John!«

»Aber ›Fips‹ dafür um so weniger, sollt ich meinen«, sagte John. »Also dort wohnt er, Tom und erwartet heute morgen unsern Besuch. So, jetzt weißt du soviel von diesem seltsamen Vorfall wie ich selbst.«

Toms Gesicht, das bald vor Jubel über die hundert Pfund jährlich aufstrahlte, bald wieder voller Verwunderung war über den unerklärlichen Zusammenhang dieser Geschichte, konnte nur mit dem seiner Schwester verglichen werden, in deren Miene Erregung und Erstaunen miteinander abwechselten. Was aus dem Beefsteakpudding geworden wäre, wenn er nicht schon beendet gewesen, hätte höchstens ein Astrolog herausbekommen können.

»Tom«, sagte Ruth zögernd nach einer Pause, »ich fürchte, Mr. Westlock weiß vielleicht in seiner Freundschaft für dich mehr von der Sache, als er sagen will.«

»O durchaus nicht!« beteuerte John hastig. »Ich versichere Ihnen, wirklich, Sie irren sich, obschon mir das Gegenteil lieb wäre. Wahrhaftig, ich kann keine derartige Ehre für mich in Anspruch nehmen, Miss Pinch, und habe alles, was ich weiß, erzählt.«

»Sie würden aber gewiß mehr haben erfahren können, wenn es Ihnen gepaßt hätte«, versetzte Ruth und schickte sich an, das Nudelbrett abzukratzen.

»Nein«, schwur John, »wahrhaftig nicht. Es ist aber, finde ich, wirklich nicht sehr edelmütig von Ihnen, mich so unerbittlich zu beargwöhnen, wo ich so unbedingten Glauben in Sie setze! – Ich habe, wie Sie sehen, ein grenzenloses Vertrauen zu dem Pudding, Miss Pinch.«

Ruth lachte, aber gleich darauf wurden sie wieder ernst und besprachen das Thema angelegentlichst. So dunkel auch die ganze Geschichte war, eines stand fest: Tom wurde ein Jahresgehalt von hundert Pfund angeboten, und das war unter allen Umständen die Hauptsache.

Mr. Pinch wollte in seiner Aufregung auf der Stelle nach Austin Friars aufbrechen, aber auf Johns Rat wurde noch eine Stunde gewartet. Tom putzte sich inzwischen so sauber wie möglich heraus, wobei ihm sein braves Schwesterchen emsig an die Hand ging, ihm den Rockkragen ausbürstete, die zerrissenen Nähte an seinen Handschuhen mit ein paar Stichen flickte und bald da, bald dort in ihrer flinken und munteren Weise etwas an ihm ausbesserte. Wie John Westlock dies durch die halboffene Tür mit ansah, erinnerte es ihn an die Phantasieporträts von ihr, die die früheren Zöglinge an die Wand von Pecksniffs Atelier gezeichnet hatten und er kam entrüstet zu dem Schluß, daß sie grobe Karikaturen seien, trotzdem sie, wie bereits erwähnt, sämtlich darin wetteiferten, Miss Pinch als überirdische Schönheit darzustellen, und er selbst mindestens zwanzigmal ebensolche Bilder von ihr entworfen hatte.

»Tom«, sagte er, als sie mitsammen durch die Straßen wanderten, »ich fange wirklich an zu glauben, daß du der Sohn von irgend jemandem bist.«

»Das denke ich allerdings auch«, antwortete Tom gemütlich.

»Aber ich verstehe unter dem ›Jemand‹ einen Mann von Bedeutung!«

»Ach Gott«, sagte Tom, »mein armer Vater war ebensowenig eine bedeutende Persönlichkeit wie meine Mutter.«

»Du erinnerst dich ihrer also noch vollkommen?«

»Ob ich mich ihrer erinnere? O Gott, gewiß. Meine Mutter war der überlebende Teil meines Elternpaares. Sie starb, als Ruth noch ganz klein war, und dann fielen wir beide der guten alten Großmutter zur Last, von der ich dir schon einmal erzählt habe. Du erinnerst dich doch noch? Ach Gott, es ist wirklich nicht viel Romantisches in unserer Geschichte, John.«

»Nun, dann«, meinte John anscheinend sehr desperat, »weiß ich mir wahrhaftig die Geschichte mit dem Gast von heute morgen nicht zu erklären. Aber denken wir jetzt nicht mehr weiter darüber nach, Tom!«

Sie ließen es aber dennoch nicht dabei bewenden, sondern besprachen die Angelegenheit noch weiter, bis sie Austin Friars erreichten, wo sie in einem sehr dunklen Flur des ersten Stockes eine kleine blinde Glastür fanden, auf der in Buchstaben, die transparent sein sollten, der Name »Mr. Fips« aufgemalt war. Dicht daneben verbarg sich in der Dunkelheit ein tückischer alter Seitentisch, der es boshafterweise auf die Rippen der Besucher abgesehen zu haben schien, und eine alte zerfaserte Matte, die, als solche bereits invalid geworden, sich seit vielen Jahren darauf verlegt hatte, den Vorübergehenden ein Bein zu stellen.

Mr. Fips vernahm einen heftigen Anprall eines Hutes an seiner Bureautür und entnahm daraus wie gewöhnlich, daß ihn jemand zu besuchen gedenke. Er machte daher die Türe auf und sagte aufs Geratewohl, es sei »etwas dunkel«.

»Das will ich meinen«, flüsterte John seinem Freunde ins Ohr. »Kein übler Platz, um ›die Leute vom Lande abzukrageln‹, nicht wahr?«

Mr. Pinch hatte gleichfalls bereits an diese Möglichkeit gedacht, und es schwante ihm, sie könnten am Ende in diese Gegend gelockt worden sein, um ohne weiteres zu einer Hackpastete verarbeitet zu werden, aber der Anblick Mr. Fips‘, der ein kleiner schmächtiger, freundlich aussehender Mann war und schwarze Kniehosen und gepudertes Haar trug, beruhigte ihn sofort.

»Bitte nur einzutreten«, lud Mr. Fips die beiden Herren ein.

Was das für ein seltsames gelbsüchtiges kleines Bureauzimmer war!

In einer Ecke auf dem Fußboden prangte ein großer schwarzer Fleck, als ob sich hier vor Jahren ein alter Schreiber den Hals abgeschnitten und statt des Blutes Tinte vergossen hätte.

»Ich habe meinen Freund, Mr. Pinch, mitgebracht, Sir –« begann John Westlock.

»Haben Sie die Güte, Platz zu nehmen«, versetzte Mr. Fips.

Sie setzten sich, und Mr. Fips nahm auf einem Kontorstuhle Platz, zog aus seiner Polsterung ein ungeheuer langes Roßhaar hervor und steckte es augenscheinlich mit großem Wohlbehagen in den Mund.

Trotzdem er Tom Pinch sehr neugierig betrachtete, so verrieten seine Mienen doch nichts, das vernünftigerweise als ungewöhnliche Entfaltung von Interesse hätte gedeutet werden können. Nach einem kurzen Schweigen, während dessen er so wenig Befangenheit zeigte, daß es eigentlich ziemlich auffallend war, fragte er Mr. Westlock, ob sein Freund bereits alles Nähere wegen des Antrages sowie die Bedingungen wisse.

John bejahte.

»Sie wären also geneigt, darauf einzugehen, Sir?« fragte Mr. Fips.

»Ich betrachte es sogar als einen sehr großen Glücksfall für mich«, antwortete Tom. »Ich bin Ihnen wirklich außerordentlich für Ihr Anerbieten dankbar.«

»Bitte, nicht mir«, wehrte Mr. Fips ab. »Ich handle nur im Auftrage eines anderen.«

»Also, dann Ihrem Freunde, Sir. Dem Gentleman, bei dem ich in Dienst treten soll und dessen Vertrauen zu gewinnen ich mich nach Kräften bemühen werde. Wenn er mich erst besser kennengelernt hat, Sir, so hoffe ich, seine gute Meinung von mir nicht zu verlieren. Ich verspreche, daß er mich immer pünktlich, gewissenhaft und fleißig finden soll. Dafür kann ich einstehen. Und vielleicht wird auch Mr. Westlock« – er blickte dabei nach John hin – »für mich einstehen.«

»Selbstverständlich«, rief Mr. Westlock.

Mr. Fips schien es ein wenig schwer zu werden, die Unterhaltung weiterzuführen. Um über die Verlegenheitspausen hinwegzukommen, ergriff er seine Stampilie und stempelte große »F’s« auf seine Hosenbeine.

»Eigentlich«, fing er nach einer Weile stockend wieder an, »ist mein Freund augenblicklich nicht in London.«

Tom machte ein langes Gesicht, denn er fürchtete schon, es solle das soviel heißen, wie, Mr. Fips habe keinen Gefallen an ihm gefunden und wolle sich nach jemand anderem umsehen.

»Wann glauben Sie, daß er nach London kommt, Sir?« fragte er beklommen.

»Ich weiß es wirklich nicht; ich kann Ihnen das unmöglich sagen. Aber«, fuhr Mr. Fips fort und drückte sich mit dem Stempel auf die Wade seines linken Beines ein besonders deutliches F, dabei Tom fest anblickend, »ich glaube nicht, daß das viel zu sagen hat.«

Der arme Mr. Pinch neigte demütig sein Haupt, schien aber doch anderer Meinung zu sein.

»Ich wiederhole«, sagte Mr. Fips, »ich wüßte nicht, was das weiter zu bedeuten hätte. Die Sache wird ja lediglich zwischen uns beiden abgemacht, Mr. Pinch. Sie können Ihre Stelle sofort antreten, und ich zahle Ihnen Ihr Gehalt wöchentlich aus. Hem – ja – wöchentlich. – Hier in diesem Bureau«, setzte er hinzu, legte verlegen das Siegel aus der Hand und blickte abwechselnd seine beiden Besucher an. »Hem, ja. – Wöchentlich, wenn es Ihnen paßt. Jedesmal zwischen vier und fünf Uhr nachmittags.« Dann schwieg er wieder und spitzte den Mund, als ob er pfeifen wolle, tat es aber nicht.

»Sie sind wirklich sehr gütig«, rief Tom mit vor Freude strahlendem Gesicht. »Das ist ja alles vortrefflich. – Und wann soll ich kommen?«

»Nun, so etwa zwischen halb zehn und vier Uhr, dächte ich«, sagte Mr. Fips. »So ungefähr.«

»Ich meinte eigentlich nicht die Dienststunden«, unterbrach ihn Tom, »ich wollte vielmehr fragen, wo ich mich einzufinden habe.«

»Ach so, der Ort! – Der Ort ist im ›Tempel‹.«

Tom war entzückt.

»Vielleicht wünschen Sie sich das Haus anzusehen?« fragte Mr. Fips.

»O Gott, nein«, rief Tom. »Das werde ich schon finden. Ich bin nur so froh, jetzt wirklich angestellt zu sein, daß ich gar nicht recht weiß, was ich sage.«

»Sie können sich darauf verlassen, Sie sind fest angestellt«, versicherte ihm Mr. Fips. »Paßt es Ihnen vielleicht, daß wir uns in einer Stunde am Tempeltor in Fleet Street treffen?«

»Selbstverständlich«, rief Tom.

»Also gut«, sagte Mr. Fips und stand auf, »dann will ich Ihnen das Lokal zeigen, und Sie können gleich morgen früh anfangen. – Also in einer Stunde. – Sie sehe ich doch auch, Mr. Westlock, nicht wahr? – Sehr gut. – Bitte, nehmen Sie sich in acht – es ist etwas dunkel hier.«

Mit dieser ziemlich deplazierten Bemerkung schloß er hinter ihnen die Türe, und John und Tom blieb nichts weiter zu tun, als sich ihren Weg wieder auf die Straße hinab zu tasten. Die Besprechung hatte so wenig beigetragen, das geheimnisvolle Dunkel zu lichten, in das die ganze Angelegenheit gehüllt war, daß beide sich eines Lächelns über ihre verdutzten Gesichter nicht erwehren konnten. Sie trösteten sich damit, daß sich bei Antritt des neuen Amtes und durch näheren Verkehr mit den Kollegen, die Tom dort vorfinden dürfte, gewiß einiges Licht in die Sache bringen lassen werde. Sie verschoben daher alle weiteren Erörterungen auf das anberaumte Zusammentreffen mit Mr. Fips. Sie gingen dann abermals in Johns Wohnung, widmeten dem Schweinskopf einige Minuten und machten sich wieder auf den Weg. Die anberaumte Stunde hatte zwar noch nicht geschlagen, aber Mr. Fips stand bereits am Tor des Tempels, freute sich ungemein über ihre Pünktlichkeit und ging ihnen durch verschiedene Höfe und Gassen voran, bis er in eine Straße einbog, die noch ruhiger und düsterer war als die andern. Hier führte er seine beiden Begleiter in ein Haus, stieg die Treppe empor und zog einen Bund rostiger Schlüssel aus der Tasche. Vor einer Türe im obersten Stock, an der sich dort, wo sonst der Name der Bewohner zu stehen pflegt, nur ein gelber Farbenfleck befand, machte er halt und begann sehr bedächtig aus einem der Schlüssel den Staub herauszuklopfen, sich zu diesem Zwecke des großen breiten Treppengeländers bedienend.

»Sie werden gut tun, später einen kleinen Pfropfen hineinzustecken«, sagte er mit einem Blick auf Tom, nachdem er durch Blasen in das Schlüsselrohr diesem einen schrillen Pfiff entlockt hatte. »Es ist das einzige Mittel, zu verhindern, daß es sich immerwährend verstopft. Auch dürfte wohl das Schloß besser funktionieren, wenn Sie es ein bißchen ölten.«

Tom dankte ihm für den Rat, war aber zu sehr mit seinen Gedanken und dem Studium von John Westlocks Mienen beschäftigt, um besonders redselig zu sein. Mittlerweile hatte Mr. Fips die Türe geöffnet, die jetzt nur mühsam und schauerlich kreischend dem Drucke seiner Hand nachgab. Dann zog er den Schlüssel aus dem Schloß und händigte ihn Tom ein.

»Saperment, Saperment«, sagte er eintretend, »liegt hier aber der Staub dick.«

Das stimmte. Mr. Fips hätte sagen können »schauderhaft dick«, denn der Staub hatte sich überall angehäuft, bedeckte alle Gegenstände in hohen Schichten, und wo das Sonnenlicht durch eine Ritze in den Fensterläden schien und auf die Wand gegenüber fiel, sah man ihn in der Luft kreisen und wirbeln wie ein Rad in einem großen Eichhörnchenkäfig.

Im ganzen Zimmer war er das einzige, das noch Leben zu haben schien. Als Mr. Fips das schwere Schiebefenster aufmachte, um dem Licht freieren Zutritt zu gestatten und die warme Sommerluft einströmen zu lassen, konnte man die verschimmelten, vermoderten Möbel, das verblichene Wandgetäfel, die schmutzige Decke, den rostbedeckten Ofen und den Herd voller Asche erkennen; überall Zeichen ärgster Vernachlässigung. Dicht neben der Tür stand ein Leuchter mit aufgesetztem Löschhorn, als ob der Bewohner, der zuletzt den Raum verlassen, noch einen Abschiedsblick auf die verödete Stube habe werfen wollen.

In demselben Stockwerk lagen noch zwei Zimmer, und von dem ersten oder äußeren führte eine schmale Treppe zu zwei andern einen Stock höher empor, die wie Schlafgemächer ausgestattet waren. In allen diesen Räumen fehlte es durchaus nicht an bequemen Möbeln, freilich sämtlich altmodisch, aber die abgesperrte Luft und der Mangel an Benutzung schienen sie zu allen Zwecken untauglich gemacht zu haben, und ihr Aussehen hatte etwas spukhaft Unheimliches an sich. Allerlei Gerümpel lag unordentlich auf dem Boden umhergestreut, und dazwischen standen Schachteln, Körbe und Kisten. Überall waren große Stöße von Büchern aufgeschichtet, die sich auf viele Tausende belaufen mußten; die einen noch in Ballen, andere in Papier eingewickelt – so, wie man sie gekauft hatte; wieder andere einzeln oder in Haufen umherliegend, keines aber auf den Simsen, die die Wände entlangliefen.

Mr. Fips machte Tom auf dieses Chaos aufmerksam. »Ehe wohl etwas Weiteres geschehen kann, müssen die Bücher vorerst geordnet, auf den Brettern aufgestellt und in Kataloge eingetragen sein, Mr. Pinch. Das wäre wohl so der Anfang, dächte ich.«

Tom rieb sich vor Freude die Hände, denn das war eine Beschäftigung, die ihm ungemein zusagte.

»Außerordentlich interessant, außerordentlich interessant, ich versichere Ihnen«, rief er immer wieder. »Ich werde vielleicht damit zu tun haben, bis Mr. –«

»Bis Mr. –« Wiederholte Mr. Fips in fragendem Tone.

»Ja, richtig. Sie haben mir ja noch gar nicht den Namen des Herrn genannt«, sagte Tom.

»Hem – ja. Jawohl«, rief Mr. Fips und zog sich seine Handschuhe an. »Habe ich das unterlassen? Hem, allerdings, ja. Nun, ich denke wohl, daß er bald hier sein wird. Ich bin überzeugt, Sie werden ganz gut mit ihm auskommen. – Also, ich wünsche Ihnen den besten Erfolg. Nicht wahr, und sie vergessen doch nicht, die Tür zu schließen. Sie fällt von selbst ins Schloß, wenn Sie sie zuschlagen. Also halb zehn, nicht wahr? Von halb zehn bis vier oder fünf Uhr, oder vielleicht auch etwas darüber; den einen Tag vielleicht ein bißchen früher, den andern ein wenig später, je nachdem Sie Lust dazu haben und mit Ihrer Arbeit vorwärtskommen. Meine Adresse ist: Fips, Austin Friars, ich bitte Sie, sich das zu merken. Und nicht wahr, Sie werden nicht vergessen, gefälligst die Türe zuzuschlagen?«

Mr. Fips sagte dies alles so freundlich und gelassen, daß Tom sich nur die Hände reiben, mit dem Kopf nicken und zustimmend lächeln konnte. Er lächelte und nickte noch immer, während Mr. Fips bereits gelassen zur Tür hinausschritt.

»Da haben wir’s, jetzt ist er fort!« rief er, plötzlich gewahr werdend, daß der Advokat bereits draußen war.

»Und was noch mehr ist, Tom«, rief John Westlock, setzte sich auf einen Stoß Bücher und blickte seinen erstaunten Freund lächelnd an, »er gedenkt offenbar nicht wiederzukommen. Du bist also sozusagen und in aller Form hier alleine und zu Hause. Freilich unter etwas sonderbaren Umständen ist das vor sich gegangen.«

Es war in der Tat eine recht seltsame Geschichte, und Tom, der mit dem Hut in der einen und dem Schlüssel in der andern Hand mitten in dem Bücherchaos stand, machte ein so verlegenes Gesicht, daß sein Freund sich nicht enthalten konnte, herzlich laut aufzulachen. Das wirkte so ansteckend auf ihn, daß auch er in ein herzliches Gelächter ausbrach.

Nachdem sie sich gehörig ausgelacht hatten – was nicht so schnell ging, denn John war von Natur ein so lustiger Bursche, daß man ihm nur den kleinen Finger zu reichen brauchte, und schon griff er in solchen Fällen nach der ganzen Hand –, sahen sie sich genauer in den Zimmern um und suchten unter dem verstreuten Gerümpel, ob sich nicht etwas fände, das das Rätsel in irgendeiner Weise aufklären könnte. Aber da war kein Fetzen Papier und nicht eine Zeile, die irgendeinen Aufschluß gegeben hätte. Die Bücher waren mit einer Menge der verschiedenartigsten Namen gezeichnet und offenbar in einer Auktion angekauft worden. Ob aber einer von ihnen der Name von Toms Prinzipal war, darüber konnten sie sich natürlich keine Gewißheit verschaffen. John hatte den Einfall, sich beim Hausmeister zu erkundigen, wem die Wohnung gehöre oder von wem sie gemietet sei, aber gleich darauf kam er mit der Antwort zurück: Mr. Fips von Austin Friars.

»Und das, Tom,« sagte er, »scheint mir, wird wohl das ganze Geheimnis sein. Fips ist offenbar ein exzentrischer Bursche, kennt Pecksniff, verachtet ihn natürlich, hat entsprechend viel von dir gehört oder gesehen und hat dich daher auf seine allerdings etwas närrische Weise angestellt.«

»Aber warum mag er es wohl so kurios angestellt haben?« fragte Tom.

»Ach Gott, er ist eben ein närrischer Kauz. Da könnte man geradesogut fragen: warum trägt er schwarze Kniehosen und pudert sich die Haare, während seine Nebenmenschen Stiefel und Perücke tragen.«

Tom war so fröhlich gestimmt, daß er sich diese Erklärung ohne weiteres gefallen ließ; war sie doch immerhin ziemlich plausibel – und er gab daher zu, daß sich die Sache wohl so verhalten werde.

Dann ließ er den Fensterschieber wieder herunter, schloß die Läden und entfernte sich mit seinem Freunde. Der Aufforderung Mr. Fips‘ eingedenk, schlug er die Tür nach Kräften zu, probierte, ob sie auch fest geschlossen sei, und steckte dann den Schlüssel in die Tasche.

Da sie nichts zu versäumen hatten, machten sie einen ziemlich weiten Umweg nach Islington, und Tom konnte sich an den vielen neuen Dingen, die sich seinen Blicken darboten, gar nicht satt sehen. Es war gut, daß er John Westlock zum Begleiter hatte, denn jeder andere wäre wohl seines unablässigen Stehenbleibens an den Ladenfenstern und seines lebensgefährlichen Hinaustretens auf die Fahrstraße, um die Kirchtürme und öffentlichen Gebäude besser ins Auge fassen zu können, recht bald satt geworden. Aber John war ganz entzückt darüber, und das Herz lachte ihm im Leibe, sooft er Tom mit freudestrahlendem Gesicht immer wieder zwischen den Karren und Mietswagen auftauchen sah.

Als Ruth sie in dem dreieckigen Salon empfing, war wohl kein Teig oder Mehl mehr auf ihren Händen, aber ein freundliches Lächeln auf ihren Mienen, und ein herzliches Willkommen strahlte aus jedem Grübchen in ihren Wangen und leuchtete in ihren Augen. Der Tisch war bereits für das Mittagessen gedeckt, und wenn auch keine feinen Gedecke und kostbaren Gläser darauf lagen oder standen, sondern nur Messer mit grünen Heften und wahre Marterzeuge von zweizinkigen Gabeln, so vermißte man doch weder Silber noch Gold, weder Damast noch Porzellan.

Ruths erstes Kochexperiment war so vortrefflich gelungen, daß John Westlock und Tom behaupteten, sie müsse bestimmt eine Zeitlang heimlich Kochkunst studiert haben, und ihr zuredeten, nur ruhig die Wahrheit einzugestehen.

Es ist wirklich erstaunlich, was drei junge Leute nicht alles zusammenzuplaudern wissen. Keinen Augenblick trat eine Pause ein. Aber nicht immer blieb ihre Unterhaltung so scherzhaft wie anfangs, denn es kam zu einer sehr ernsten Stimmung, als Tom berichtete, wie er vor kurzem Mr. Pecksniffs Töchter gesehen habe und welche Veränderung mit der jüngeren vorgegangen sei.

Das Thema schien John Westlock überhaupt außerordentlich zu interessieren. Ausführlich erkundigte er sich nach allen Einzelheiten bei Gratias Verheiratung, fragte, ob der Gentleman ihr Gatte sei, der Tom nach Salisbury begleitet habe, in welchem Grade der Verwandtschaft die verschiedenen Personen zueinander stünden und so weiter.

Tom schilderte ausführlich die Verhältnisse und erzählte, wie Martin sich außer Landes begeben, aber schon seit längerer Zeit nichts mehr von sich habe hören lassen und wie Mark aus dem »Drachen« mit ihm gewandert, wie Mr. Pecksniff den armen altersschwachen Großvater in seine Gewalt bekommen und wie er niederträchtigerweise um Mary Grahams Hand geworben. Doch kein Wort ließ er verlauten von dem, was tief in seinem Herzen verborgen lag. Nicht eine Silbe.

4. Kapitel


4. Kapitel

Woraus erhellen wird, daß, wenn Einigkeit stark macht, die Chuzzlewits die mächtigste Familie auf Erden sein müßten

Nachdem der würdige Mr. Pecksniff mit den erwähnten feierlichen Worten von seinem Vetter Abschied genommen hatte, kehrte er in seine Wohnung zurück und blieb dort drei volle Tage, ohne auch nur den Fuß zu einem Spaziergang über die Grenzen seines Gartens hinauszusetzen. Erwartete er doch, jeden Augenblick an das Krankenlager seines, wie er insgeheim hoffte, reuigen und von Gewissensbissen zerfleischten Verwandten, dem er in seinem alles umfassenden Wohlwollen in heißester Nächstenliebe zu vergeben sich fest vorgenommen hatte, gerufen zu werden. Der finstere alte Mann war jedoch so verstockt und so erbost, daß keine reuige Einladung kam und Mr. Pecksniff sich am vierten Tage augenscheinlich viel weiter von seinem christlichen Ziele entfernt sah als am ersten.

Während dieser ganzen Zwischenzeit umspukte er den »Drachen« zu allen Stunden des Tages und der Nacht und legte, Böses mit Gutem vergeltend, für den Zustand des hartnäckigen Kranken die angelegentlichste Teilnahme an den Tag, so daß Mrs. Lupin ob seiner uneigennützigen Besorgnis (denn er unterließ es nicht, ihr des öftern zu erklären, daß er ein Gleiches für jeden Fremden oder Armen in einer ähnlichen Lage tun würde) vor Ergriffenheit fast zerschmolz und Tränenströme der Bewunderung und Freude vergoß.

Indessen hatte sich der alte Mr. Martin Chuzzlewit in seinem Zimmer eingeschlossen und ließ niemanden mehr vor als seine junge Begleiterin – nur die Wirtin zum »Blauen Drachen« ausgenommen, die zu gewissen Zeiten ebenfalls Zutritt erhielt. Sooft sie jedoch in das Zimmer kam, stellte sich der alte Herr schlafend. Nur wenn er mit der jungen Dame allein war, gab er zuweilen auf gestellte Fragen einsilbige Antworten.

Am vierten Abend nun begab es sich, daß Mr. Pecksniff wie gewöhnlich in die Bar des »Blauen Drachen« kam und, als er Mrs. Lupin dort nicht fand, geradenwegs die Treppe hinaufging, entschlossen, in der Überfülle seines liebevollen Eifers das Ohr wieder einmal an das Schlüsselloch zu legen und zur Beruhigung seines gequälten Herzens sich zu überzeugen, daß mit dem versteckten Patienten alles gut stehe. Dabei traf sich’s, daß Mr. Pecksniff, als er leise in dem dunkeln Gang dahinschlich, durch den gewöhnlich ein dünner heller Strahl aus demselbigen Schlüsselloch fiel, zu seinem Erstaunen diese Lichtquelle vermißte und sich daher, kaum daß er seinen Weg bis zur Türe getastet, sich hastig niederbeugte, um sich durch persönlichen Augenschein Gewißheit zu verschaffen, ob nicht am Ende der alte Mann aus Mißtrauen das Schlüsselloch von innen verstopft habe. Dabei brachte er seinen Kopf in eine so heftige Berührung mit einem andern, daß er sich nicht enthalten konnte, in seinem Schrecken mit hörbarer Stimme ein kurzes scharf markiertes »Oh!« auszustoßen.

Gleich darauf fühlte sich Mr. Pecksniff von einem Gespenst am Kragen gepackt, das einen intensiven Geruch von feuchten Schirmen, Bier, kaltem Grog und einer kleinen Wirtsstube voll alten Tabakrauchs ausströmte. Dann wurde er unverzüglich in das Schenkzimmer, das er soeben verlassen, hinabgeschleppt, wo er die Bemerkung machte, daß er sich unter der Faust eines wildfremden Gentleman von seltsamem Aussehen befand, der sich mit seiner freien Hand emsig den Kopf rieb und ein sehr böses Gesicht machte.

Die »Fassade« dieses Gentlemans hatte etwas an sich, das man gewöhnlich mit dem Titel »schäbigelegant« bezeichnet, obschon sich dieser Charakterzug bei seiner Toilette kaum bis »in die Fingerspitzen« verfolgen ließ, da seine Nägel weit aus den Handschuhen hervorschauten und die Schuhsohlen in ungebührlicher Entfernung vom Oberleder seiner Stiefel abstanden. Seine Beinkleider waren bläulichgrau und früher offenbar von sehr schreiender Farbe gewesen, aber jetzt durch Alter und Schmutz hinlänglich abgetönt und auch infolge übermäßiger Anspannung der Hosenträger und Stegriemen so gedehnt, daß sie jeden Augenblick an den Knien auseinanderzuplatzen drohten. Sein blauer Rock von militärischem Schnitt war mit Schnüren benäht und bis ans Kinn zugeknöpft. Seine Halsbinde glich an Farbe und Fasson dem Oberteile der gewissen Mäntel, in die die Haarkräusler ihre Klienten während der Mysterien des Frisierens einzuhüllen pflegen. Mit seinem Hute war es so weit bergab gegangen, daß man nur schwer zu sagen vermochte, ob er ursprünglich weiß oder schwarz gewesen. Auch trug der Gentleman einen Schnurrbart – und noch dazu einen zottigen – keinen von den bescheidenen und gezähmten, sondern einen ganz wilden, bösartigen: ein echt satanisches Bartexemplar – und überdies eine wüste Masse ungebürsteten Haupthaares. Sehr schmutzig und doch sehr fexig, sehr prahlerisch und doch sehr mitgenommen, glich der Gentleman einem Menschen, der wohl etwas Besseres hätte sein können, aber ohne Frage noch etwas Schlechteres zu sein verdiente.

»Du hast an der Türe gehorcht, du Vagabund!« rief dieser Herr.

Mr. Pecksniff schüttelte ihn ab, wie etwa Sankt Georg den Drachen, als dieser in den letzten Zügen lag, abgeschüttelt haben mochte, und entgegnete:

»Wo nur Mrs. Lupin stecken mag? Ob wohl die gute Frau weiß, daß jemand hier ist, der – –«

»Halt!« rief der Gentleman. »Ein bißchen Geduld. Sie weiß es. Was weiter?«

»Was weiter, Sir?« rief Mr. Pecksniff. »Was weiter? Wissen Sie, Sir, daß ich ein Freund und Verwandter jenes kranken Herrn bin? Daß ich sein Beschützer, sein Behüter, sein –«

»Der Gatte seiner Nichte sind Sie nicht, darauf kann ich einen Eid ablegen«, fiel der Fremde ihm ins Wort; »der war vor Ihnen da.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Mr. Pecksniff mit unwilligem Erstaunen. »Was meinen Sie damit, Sir?«

»Ein bißchen Geduld!« entgegnete der Gentleman. »Vielleicht sind Sie ein Vetter? – Der Vetter, der hier im Orte wohnt?«

»Ja, ich bin der Vetter, der hier im Orte wohnt.« »Sie heißen Pecksniff?«

»Ja.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, und zugleich bitte ich um Verzeihung«, rief der wilde Gentleman, griff an seinen Hut und dann hinter die Krawatte, um seinen Hemdkragen hervorzuziehen, was ihm jedoch gänzlich mißlang. »Sie sehen in mir jemanden, Sir, der gleichfalls an dem Gentleman oben lebhaftes Interesse nimmt. Ein bißchen Geduld.«

Dabei tupfte der Herr auf seine rote Nasenspitze, um damit anzudeuten, er gedenke Mr. Pecksniff in ein tiefes Geheimnis einzuweihen. Dann zog er seinen Hut ab und begann in der Höhlung desselben unter einer Masse von zerknüllten Dokumenten und zerblätterten Zigarrenresten herumzuwühlen, bis er endlich das Kuvert eines alten Briefes fand, das sehr stark beschmutzt war und lebhaft nach Tabak duftete.

»Lesen Sie dies«, rief er und reichte das Dokument Mr. Pecksniff hin.

»Der Adresse nach an Hochwohlgeboren Mr. Chevy Slyme gerichtet«, konstatierte Mr. Pecksniff.

»Sie kennen vermutlich Hochwohlgeboren Mr. Chevy Slyme?« fragte der Fremde.

Mr. Pecksniff zuckte die Achseln, als wollte er sagen: »Ich weiß leider, daß es einen solchen Kerl gibt.«

»Sehr gut«, bemerkte der Gentleman. »Das ist der springende Punkt, und deswegen bin ich hier.«

Abermals fischte er nach seinem Hemdkragen, und diesmal gelang es ihm, wenigstens ein Band zu erwischen.

»Ich bedaure unendlich, mein Freund«, sagte Mr. Pecksniff und schüttelte ruhevoll lächelnd den Kopf, »ich bedaure recht sehr – aber Sie sind nicht die Person, für die Sie sich ausgeben. Ich kenne Mr. Slyme, mein Freund. Sie haben sich daneben gesetzt. – Ehrlichkeit ist die beste Politik. – Sie täten in Hinkunft gut, derlei Behauptungen zu unterlassen.«

»Halt!« rief der Gentleman und streckte beschwörend seinen rechten Arm aus, der so eng in den fadenscheinigen Ärmel hineingezwängt war, daß er wie eine Tuchwurst aussah. »Ein bißchen Geduld!« Dann hielt er inne, um sich mit dem Rücken gegen den Kamin zu lehnen, nahm die Schöße seines Rockes unter den linken Arm, strich sich mit Daumen und Zeigefinger seinen Schnurrbart und hob an:

»Ich sehe, daß Sie mich mißverstehen, aber ich bin nicht verletzt deshalb. Weil es ein Kompliment für mich ist. Sie glauben, ich wolle mich für Chevy Slyme ausgeben? Sir, wenn es einen Mann auf Erden gibt, mit dem verwechselt zu werden ein Gentleman sich zum Stolz und zur Ehre anrechnen darf, so ist es Mr. Slyme. Er ist, ohne Einschränkung, der hochherzigste und freisinnigste, der originellste und geistreichste, klassischste und talentvollste Mann – durchaus shakespearisch, wo nicht miltonisch. Trotzdem er aufs jämmerlichste verkannt wird. Jedem andren in der ganzen weiten Welt schätze ich mich ebenbürtig, aber Slyme steht, wie ich offen bekenne, weit über mir. Sie haben daher unrecht.«

»Ich schloß aus dieser Adresse – – –« stotterte Mr. Pecksniff und hielt das Kuvert hin.

»Ohne Zweifel«, entgegnete der Gentleman. »Aber, Mr. Pecksniff, auch das beweist wieder nur einen genialen Zug Mr. Slymes. Jeder Mensch von wahrem Genie hat seine Eigentümlichkeiten, Sir. Und die Eigentümlichkeit meines Freundes Slyme ist, daß er immer hinter dem Berge hält. Er hält stets hinter dem Berge, Sir. Er ist sogar in diesem Augenblick hinter dem ›Berge‹. Ja,« fuhr der Gentleman fort, schlug sich mit dem Zeigefinger auf die Nase, spreizte weit die Beine und blickte Mr. Pecksniff aufmerksam ins Gesicht, »das ist ein äußerst merkwürdiger und interessanter Zug in Slymes Charakter. Und wenn einmal Slymes Lebensgeschichte veröffentlicht wird, so muß dieser Zug unbedingt von seinem Biographen hervorgehoben werden, da die menschliche Gesellschaft sonst zu kurz käme. Wohlgemerkt, die Gesellschaft käme zu kurz.«

Mr. Pecksniff hustete.

»Slymes Biograph, Sir, wer er auch sein mag«, nahm der Gentleman seine Rede wieder auf, »wird sich an mich wenden müssen; oder wenn ich bereits zu dem gewissen ›Dingsda‹ gegangen sein sollte, aus dessen Reich noch keiner, wie er auch heißen mag, wiedergekehrt ist, so muß er sich an meine Testamentsvollstrecker um die Erlaubnis wenden, unter meinen Papieren nachsuchen zu dürfen. Ich habe mir in meiner anspruchslosen Weise von dem Leben dieses Mannes – meines Adoptivbruders, Sir – einige Notizen gesammelt, die Sie in Erstaunen versetzen würden. Erst am fünfzehnten vergangenen Monats, Sir, als er einen kleinen Wechsel nicht einlösen konnte, den der Gläubiger nicht prolongieren wollte, bediente er sich eines Ausdruckes, der sogar Napoleon Bonaparte in einer Anrede an die französische Armee Ehre gemacht haben würde.«

»Und bitte«, fragte Mr. Pecksniff, der sich augenscheinlich nicht besonders behaglich fühlte, »was mag Mr. Slyme hierhergeführt haben, wenn mir die Frage gestattet ist, trotzdem ich von vornherein aus Rücksicht für meine Stellung jedes Interesse an allen seinen Schritten negieren muß?«

»Zuvörderst«, erklärte der Gentleman, »werden Sie mir die Äußerung erlauben, daß ich gegen diese Bemerkung Einwendung erhebe und lebhaft und mit Unwillen im Namen meines Freundes Slyme dagegen protestiere. Dann muß ich bitten, mir zu gestatten, daß ich mich Ihnen vorstelle. Mein Name ist Tigg, Sir. Der Name Montague Tigg wird Ihnen wohl von den denkwürdigen Ereignissen des Krieges auf der spanischen Halbinsel her geläufig sein?«

Mr. Pecksniff verneinte mit einem leichten Kopfschütteln.

»Gleichviel. – Montague Tigg war mein Vater, und ich trage seinen Namen. Ich habe daher alle Ursache, stolz zu sein – stolz wie Luzifer. Entschuldigen Sie einen Augenblick – ich möchte, daß mein Freund Slyme von jetzt an unserer Unterhaltung beiwohnt.«

Ohne eine Genehmigung abzuwarten, eilte Mr. Tigg zum Haustor des Blauen Drachen und kehrte fast unmittelbar darauf mit seinem Gefährten zurück, der, etwas kleiner als er selbst, in einen alten blauen Kamelottmantel mit verschossenem Scharlachfutter gehüllt war. Sein scharf geschnittenes Gesicht sah von dem langen Warten in Wind und Kälte ganz erstarrt und verkniffen aus, und da sein breiter, roter Ohrenbart und sein verfilztes Haar aus derselben Ursache ungemein zerzaust waren, machte er viel eher einen jämmerlichen und herabgekommenen als einen shakespearschen und miltonischen Eindruck.

»Nun«, sagte Mr. Tigg, klopfte mit der einen Hand seinem liebenswürdigen Freund auf die Schulter und lenkte mit der andren Mr. Pecksniffs Aufmerksamkeit auf ihn, »die Herren sind miteinander verwandt, und Verwandte haben nie miteinander harmoniert, noch werden sie je miteinander harmonieren, was eine sehr weise Einrichtung und eine unvermeidliche Notwendigkeit ist, da es sonst nichts als Familienfreundschaft auf der Welt gäbe und jedermann seinen Nebenmenschen zu Tode langweilen würde. Stünden Sie auf gutem Fuße miteinander, so würde ich Sie als ein ganz verteufelt ungleiches Gespann betrachten; so aber erscheinen Sie mir als ein paar diabolisch schlaue Kerle, mit denen man ein vernünftiges Wort reden kann –«

Hier stieß Mr. Chevy Slyme, dessen geistige Fähigkeiten hauptsächlich duckmäuserischer und schmeichlerischer Tendenz zu sein schienen, seinen Freund verstohlen mit dem Ellbogen an und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Chiv«, erklärte Mr. Tigg laut in dem hohen Tone eines Mannes, der Heimlichkeiten abhold ist, »ich werde sogleich darauf zu sprechen kommen. Ich handle auf eigne Verantwortung oder gar nicht. Ein so unbedeutendes Anlehen wie eine Krone ziemt sich nicht für einen Mann von deinen Talenten. Einer solchen Summe kannst du von vornherein bei Mr. Pecksniff sicher sein.«

Da jedoch Mr. Pecksniff, seinen Mienen nach zu schließen, diese Gewißheit keineswegs als so unumstößlich bekundete, so legte er wieder den Finger an die Nase, um dadurch anzudeuten, daß das Kontrahieren kleiner Anlehen lediglich eine weitere geniale Eigentümlichkeit seines Freundes Slyme sei und daß er nur des großen metaphysischen Interesses wegen die Sache zur Sprache gebracht habe.

»O Chiv! Chiv!« seufzte er und sah seinen Adoptivbruder mit tief kontemplativer Miene an. »Bei meiner Seele, du bist ein seltsamer Beleg von den kleinen Schwächen, die großen Geistern anhaften. Selbst wenn es nie ein Teleskop auf der Welt gegeben hätte, so müßte ich zuverlässig aus meinen Beobachtungen an dir folgern, daß auch die Sonne Flecken habe! Ich will des Todes sein, wenn wir Menschen nicht allesamt in einer wunderlichen Haut stecken, ohne zu wissen, warum oder weswegen, Mr. Pecksniff! Aber gleichviel! Mögen wir moralisieren, soviel wir wollen, die Welt geht ihren gewöhnlichen Gang fort. Herkules kann zwar, wie Hamlet sagt, mit seiner Keule um sich schlagen, wie er will, er kann doch nicht hindern, daß die Katzen ihr Gejaule auf den Dächern vollführen oder die Hunde erschossen werden, wenn sie ohne Maulkörbe durch die Straßen laufen. Das Leben ist ein Rätsel, das sich höllisch schwer lösen läßt, Mr. Pecksniff! Auf Ehre und Seligkeit, es ist jedenfalls eine sonderbare Sache – aber es nützt nichts, darüber zu philosophieren. Ha, ha! – – – Aber jetzt zu dem, was ich sagen wollte, Mr. Pecksniff:

Ich bin von Natur ein ganz unsinnig weichherziger Bursche und kann nicht mit ansehen, wie ihr beiden aufeinander losschlagt, ohne daß dabei etwas herausschaut. Mr. Pecksniff, Sie sind der Vetter des Testators da oben, und wir sind der Neffe. – Wenn ich sage ›wir‹, so verstehe ich darunter Chiv. Sie sind vielleicht näher mit ihm verwandt als wir. Gut, sei es drum. Aber Sie können ebensowenig an ihn herankommen wie wir. Ich gebe Ihnen mein großes Ehrenwort, Sir, daß ich nur mit kurzen Zwischenpausen, um ein wenig auszuruhen, seit heute morgen neun Uhr durch das Schlüsselloch gesehen und auf Antwort auf das billigste und ehrenhafteste Verlangen, das der menschliche Geist nur zu erdenken imstande ist, gewartet habe – auf ein Gesuch um eine kleine jeweilige Unterstützung von nur fünfzehn Pfund, für die ich mich überdies verbürgen wollte. Es war vergebens. Mr. Chuzzlewit hielt sich beständig mit der fremden Person eingeschlossen, deren Herz er sein ganzes Vertrauen ausschüttet. Wie die Dinge stehen, erkläre ich daher aufs entschiedenste, daß es so nicht geht, nichts taugt, nicht sein kann und unmöglich so fortgehen darf.«

»Jedermann«, versetzte Mr. Pecksniff abweisend, »hat ein unbestreitbares Recht – wenigstens ich möchte es um alle Güter der Erde niemandem absprechen –, seine Handlungen nach seinem eignen Gutdünken einzurichten. Vorausgesetzt, daß er nicht unmoralisch oder irreligiös ist. Ich fühle tief innerlich, daß Mr. Chuzzlewit zum Beispiel mich nicht gerade mit jener christlichen Liebe behandelt, die zwischen uns bestehen sollte. Ich kann mich dadurch verletzt und gekränkt fühlen, möchte aber doch deshalb nicht gleich den übereilten Schluß ziehen, daß seine Kälte in keiner Weise zu rechtfertigen wäre. – Da sei Gott vor! – Überdies, Mr. Tigg«, fuhr Mr. Pecksniff eindringlich fort, »wie könnte man Mr. Chuzzlewit bewegen, von jenen eigentümlichen und ganz unerhörten Vertraulichkeiten, von denen Sie sprachen und die ich leider zugeben muß und um seinetwillen nur tief beklagen kann, abzulassen? Bedenken Sie, mein werter Herr, wie unüberlegt und in den Tag hinein Sie reden.«

»Hm«, meinte Mr. Tigg, »das ist freilich eine schwer zu lösende Frage.«

»Allerdings eine schwer zu lösende Frage«, wiederholte Mr. Pecksniff und trat, sich mit einem Male der weiten moralischen Kluft, die ihn von seinem Gegenüber trennte, bewußt werdend, einen Schritt zurück. »Ohne Zweifel eine sehr schwierige Frage das. Wenn es überhaupt eine Frage ist, die jemand zu erörtern das Recht hat. – Guten Abend.«

»Sie wissen vermutlich noch gar nicht, daß die Spottletoes hier sind?« warf Mr. Tigg noch schnell hin.

»Was sagen Sie da, Sir? Was für Spottletoes?« fuhr Mr. Pecksniff auf und hielt plötzlich auf seinem Weg zur Tür inne.

»Mr. und Mrs. Spottletoe«, erklärte Chevy Slyme, der bisher kein Wort gesprochen und nur mit den Füßen gescharrt hatte, in sehr verdrießlichem Tone, »Spottletoe hat doch meines Onkels Tochter geheiratet, und Mrs. Spottletoe ist Chuzzlewits Nichte. Sie war einmal sein Liebling. Wie mögen Sie da noch fragen: was für Spottletoes?«

»Mein heiliges Ehrenwort!« rief Mr. Pecksniff mit einem verzweifelten Blick gen Himmel. »Das ist ja schrecklich. Die Habgier dieser Leute ist wahrhaft fürchterlich.«

»Das ist übrigens noch nicht alles, Tigg«, wendete sich Slyme an seinen Freund, münzte aber dabei seine Worte auf Mr. Pecksniff. »Anthony Chuzzlewit und sein Sohn haben ebenfalls Wind gekriegt und sind diesen Nachmittag hergefahren. Ich habe sie vor kaum fünf Minuten vorbeikommen sehen, als ich an der Ecke wartete.« »Oh, Mammon, Mammon!« rief Mr. Pecksniff und schlug sich an die Stirn.

»Und ein Bruder und ein Neffe von ihm sind auch schon da«, sagte Slyme, ohne auf die Unterbrechung zu achten.

»Da haben Sie die Geschichte, Sir«, brummte Mr. Tigg; »das ist der springende Punkt, auf den ich hinauswollte und den mein Freund Slyme hier mit wenigen Worten aussprach. Mr. Pecksniff! Jetzt, wo Ihr Vetter – Chivs Onkel – wieder aufgetaucht ist, müssen Schritte getan werden, um sein Wiederverschwinden zu verhindern und womöglich dem Einfluß entgegenzuarbeiten, der von dieser hinterlistigen Favoritin auf ihn geübt wird. Jeder, der Anteil an der Sache nimmt, muß das fühlen. Die ganze Familie hat sich vollzählig hier versammelt. Die Zeit ist da, wo persönliche Eifersucht und egoistische Interessen für eine Weile in den Hintergrund treten müssen, um ein gemeinsames Vorgehen gegen diese Erbschleicherin zu ermöglichen, Sir! Ist der Feind einmal beseitigt, so können Sie wieder ganz für sich selbst handeln. Das bleibt dann jedem Beteiligten unbenommen, und niemand wird schlimmer daran sein als vorher. Bedenken Sie das! Nützen Sie jetzt Ihre Chance. Sie werden uns jederzeit in dem Wirtshaus »Zum Halbmond und den sieben Sternen« antreffen und zu einem vernünftigen Vorschlag bereit finden. Hm! Chiv, lieber Freund, was meinst du, wenn du jetzt hinausgingst und sähest, was für Wetter ist?«

Mr. Slyme zögerte nicht, zu verduften, und ging aller Wahrscheinlichkeit nach wieder an seine Straßenecke.

Mr. Tigg spreizte seine Beine so weit, daß man hätte glauben sollen, sie müßten aus den Scharnieren gehen, versank eine Weile in tiefes Nachdenken und nickte dann lächelnd Mr. Pecksniff zu.

»Wir dürfen die kleinen Exzentritäten unsres Freundes Slyme nicht zu hart beurteilen. Sie bemerkten wohl, daß er mir etwas zuflüsterte?«

Mr. Pecksniff hatte es bemerkt.

»Vermutlich haben Sie auch meine Antwort gehört?«

Mr. Pecksniff hatte sie gehört.

»Fünf Schilling, wie?« fuhr Mr. Tigg gedankenvoll fort. »Hm! Wirklich, ein höchst origineller Mensch! – Und dabei so anspruchslos!« Mr. Pecksniff gab keine Antwort.

»Fünf Schilling!« sprach Mr. Tigg sinnend. »Und nächste Woche pünktlich wieder zurückzahlbar; das ist das beste daran. Sie haben es doch gehört?«

Mr. Pecksniff hatte es nicht gehört.

»Nicht? Ah, da staun ich!« rief Mr. Tigg. »Das ist doch der springende Punkt, Sir. Ich habe noch nicht ein einziges Mal erlebt, daß Chevy Slyme verabsäumt hätte, ein Versprechen einzuhalten. Brauchen Sie vielleicht Kleingeld?«

»Nein«, versetzte Mr. Pecksniff, »danke Ihnen, danke Ihnen. Durchaus nicht.«

»Sonst«, meinte Mr. Tigg, »sonst hätte ich für Sie wechseln lassen.« Nach einer kleinen Pause, die er mit Pfeifen ausfüllte, fragte er plötzlich direkt heraus:

»Wollen Sie Slyme die fünf Schillinge leihen?«

»Nein, keineswegs«, erwiderte Mr. Pecksniff.

»Bei Licht betrachtet«, rief Mr. Tigg und nickte bedächtig, als sei ihm plötzlich ein triftiger Grund eingefallen, den man als Einwurf geltend machen könnte, »haben Sie vielleicht recht. Würden Sie aber dasselbe Bedenken tragen, mir fünf Schillinge zu borgen?«

»Freilich, freilich«, meinte Mr. Pecksniff.

»Aber doch vielleicht eine halbe Krone?«

»Auch keine halbe Krone.«

»Also dann kämen wir ja«, sagte Mr. Tigg lächelnd, »dann kämen wir ja auf die lächerliche kleine Summe von achtzehn Pence herunter: Ha, ha!«

»Muß in gleicher Weise verworfen werden.«

Sofort drückte Mr. Tigg daraufhin Mr. Pecksniff beide Hände und beteuerte voller Feuer, noch nie im Leben einen so charakterfesten und originellen Menschen wie ihn kennengelernt zu haben, und er wünsche nichts sehnlicher als die Ehre seiner näheren Bekanntschaft. Sein Freund Chevy Slyme habe manche kleine Eigenheit an sich, die er als Mann von ausgeprägtem Ehrgefühl keineswegs billigen könne, allein er sähe darüber um so lieber hinweg, als Slyme es doch gewesen, dem er heute das große Vergnügen einer freundschaftlichen Unterhaltung mit Mr. Pecksniff verdanke. Sodann bat Mr. Tigg um die Erlaubnis, Mr. Pecksniff einen recht guten Abend wünschen zu dürfen, und entfernte sich, nicht im geringsten beschämt, sich einen Refus geholt zu haben.

Die Betrachtungen, die Mr. Pecksniff an diesem Abend im Schenkzimmer des ›Drachen‹ und die Nacht über zu Hause anstellte, waren sehr ernster Natur – um so mehr, als sich die Nachrichten, die er hinsichtlich der Ankunft andrer Familienglieder von den Herren Tigg und Slyme erhalten hatte, bei näherer Nachforschung bewahrheiteten. Die Spottletoes hatten sich geradenwegs in den ›Drachen‹ begeben, dort einquartiert und lagen auf Wache. Außerdem hatten sich Anthony Chuzzlewit und sein Sohn Jonas aus Sparsamkeitsrücksichten in einem obskuren Bierhaus – dem ›Halbmond und den sieben Sternen‹ – eingemietet, und schon die nächste Postkutsche brachte noch weitere liebevoll besorgte Verwandte.

Kurz, es kam so weit, daß fast die ganze Familie sich im ›Blauen Drachen‹ niederließ und Martin Chuzzlewit in einen wahren Belagerungszustand versetzte. Der alte Herr jedoch leistete mannhaften Widerstand, wies alle Briefe, Botschaften und Pakete zurück, lehnte es hartnäckig ab, mit jemandem zu unterhandeln, und stellte auch nicht die mindeste Hoffnung auf Kapitulation in Aussicht. Inzwischen begegneten einander die verschiedenen Familienstreitkräfte unablässig in den Straßen, und da sich seit Menschengedenken kein Zweig des Baumes Chuzzlewit mit dem andern vertragen hatte, so setzte es manches Scharmützel, manche Wortgefechte und angedrohte Totschläge. Ein solches Keifen, Schelten, Nasenrümpfen und Stirnrunzeln, eine so förmliche Beerdigung jeder friedlichen Gesinnung und eine so gewaltsame Auferstehung alter Leidenschaften war an der Tagesordnung, daß seit dem Entstehen des Dorfes noch nie etwas Ähnliches in dieser Gegend von sterblichen Ohren vernommen worden war.

Endlich, als die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit den Höhepunkt erreicht hatte, begannen die gegenseitigen Beschimpfungen in mildern Ausdrücken zu erfolgen, man wandte sich mit ziemlichem Anstande an Mr. Pecksniff, dessen ehrenwerter Charakter und einflußreiche Stellung unwillkürlich Achtung geboten, und kam schließlich überein, eines Nachmittags bei ihm eine allgemeine Versammlung und Beratung abzuhalten, wie Martin Chuzzlewits Hartnäckigkeit zu brechen sei, wozu sich sämtliche anwesende Familienmitglieder einfinden sollten.

Wenn je Mr. Pecksniff einen apostolischen Ausdruck zur Schau trug, so war es an jenem denkwürdigen Tage der Fall. Wenn je ein Mann mit ruhevollem Lächeln die Worte verkündete: »Ich bin ein Bote des Friedens!«, so war es bei dieser Versammlung. Wenn je ein Mensch alle die milden Eigenschaften des Lammes mit einem beträchtlichen Anflug von Friedenstaube und ohne Spur von einem Krokodil oder auch nur die leiseste Andeutung etwa gar eines Schlangencharakters in sich vereinigte, so war es Mr. Pecksniff. Und dann die beiden Misses Pecksniff! Der stillergebene Ausdruck auf dem Antlitze der holden Charitas, der zu sagen schien: ich weiß, daß meine ganze Sippe mich aufs unheilbarste gekränkt hat, aber ich vergebe ihnen samt und sonders, denn es ist meine Pflicht, es zu tun – und dann Gratias frohsinnige Einfalt, so bezaubernd, so unschuldig, so kindlich, daß, wenn es etwas früher in der Jahreszeit gewesen und sie allein ausgegangen wäre, die Rotkehlchen sie mit Laub bedeckt und für eines der süßen Feenkinder des Waldes gehalten haben würden, das wieder einmal herausgekommen wäre, um Brombeeren zu suchen! Welche Worte könnten imstande sein, die Pecksniffs in jener hehren Stunde zu schildern!

Und als dann die Gesellschaft anlangte! Wie Pecksniff, links und rechts eine Tochter, von seinem Patriarchensitz oben am Tische aufstand, in seinem besten Zimmer die Gäste empfing und ihnen mit überströmenden Augen und einem von huldreichem Schweiße feuchten Antlitz Plätze anbot! Und dann die Gesellschaft! Der Kontrast! Die eifersüchtigen, steinherzigen, argwöhnischen Familienmitglieder, die niemandem und nichts glaubten, nicht einmal sich selbst – geschweige denn den Pecksniffs. Borstig und widerhaarig wie Igel oder Stachelschweine.

Da waren vor allem Mr. Spottletoe, der so kahl war und einen so dichten Backenbart hatte, daß es schien, als sei sein Haupthaar ihm plötzlich durch ein Zaubermittel ins Gesicht gerutscht – dann Mrs. Spottletoe, eine Dame von poetischer Konstitution und viel zu schmächtig für ihr Alter, die ihren Busenfreundinnen bei jeder Gelegenheit mitzuteilen pflegte, genannter Herr im Backenbart sei »der Leitstern« ihres Lebens, und jetzt infolge ihrer heißen Liebe zu ihrem Onkel Chuzzlewit und des Herzeleides, man könne sie möglicherweise wegen Erbschleicherei im Verdacht haben, leise stöhnte. Ferner Mr. Anthony Chuzzlewit, das Gesicht durch die Schlauheit und Behutsamkeit, die er sein ganzes Leben lang geübt, so messerscharf, daß es förmlich die Luft zu schneiden schien, wie er sich hinter den Stühlen die Wand entlang schlich. Sein Sohn Jonas, an Wesen und Art sein getreues Ebenbild, flüsterte auf ihn ein, und dann blieben beide mit ihren entzündeten Augen blinzelnd Seite an Seite in der Ecke stehen. Außerdem war noch die Witwe eines verstorbenen Bruders von Mr. Martin Chuzzlewit zugegen, die wegen ihres fast übernatürlich zuwidern Wesens, ihrer knöchernen Gestalt und männlichen Stimme als sogenannte »entschlossene« Frau galt und, wenn es auf sie angekommen wäre, am liebsten ihren Schwager in ein Tollhaus gesteckt und darin gehalten hätte, bis er seine völlige Geistesgesundheit durch ein Testament zu ihren Gunsten erwiesen haben würde. Neben ihr saßen ihre jungfräulichen Töchter, drei an der Zahl und von so edler Haltung, daß man wohl mit Recht annehmen konnte, ihre engen Schnürleiber trügen das meiste dazu bei. Auch ein junger Gentleman, ein sehr schwarzer und behaarter Großneffe Mr. Martin Chuzzlewits, und ein unverheiratetes Bäschen, das nur wegen ihrer großen Taubheit und ihrer Alt-Jüngferlichkeit auffiel und beständig an Zahnweh litt, hatten sich eingefunden. – Mr. George Chuzzlewit, ein lebensfroher, unverheirateter Vetter, der noch immer jung erscheinen wollte, sehr zu Korpulenz neigte und sich derart vollzufressen pflegte, daß seine Augen mit der Zeit aus ihren Höhlen gequollen waren und sich hervordrängten, wie in unablässigem Staunen begriffen, war so augenfällig zu Finnen disponiert, daß die hellen Tupfen an seiner Halsbinde, das reiche Dessin seiner Weste und sogar seine schimmernden Pretiosen wie eine Hautkrankheit an ihm erschienen. Mr. Chevy Slyme und sein Freund Mr. Tigg schlossen die Reihe. So war der liebenswürdige kleine Familienzirkel beschaffen, der sich jetzt in Mr. Pecksniffs »guter Stube« versammelt hatte und nur darauf lauerte, über den liebenswürdigen Hausherrn oder wen immer sonst herzufallen.

»Dieser Anblick erquickt mein Herz«, begann Mr. Pecksniff, stand auf und sah sich mit gefalteten Händen im Kreise um. »Er erquickt nicht minder die Herzen meiner Töchter. Es ist eine erfreuliche Auszeichnung, die Sie uns haben zuteil werden lassen, und glauben Sie mir« – von seinem Lächeln an dieser Stelle seiner Rede kann sich niemand auch nur annähernd einen Begriff machen – »wir werden es nimmermehr vergessen.«

»Ich bedaure, Sie unterbrechen zu müssen, Pecksniff«, fiel Mr. Spottletoe, der Herr mit dem gewaltigen Backenbart, ein, »aber Sie sind sehr im Irrtum, Sir. Meinen Sie wirklich, es fiele irgend jemandem bei, Ihnen eine Auszeichnung zuteil werden zu lassen, Sir?«

Ein allgemeines Gemurmel schien zu bestätigen, daß tatsächlich niemand diese Absicht hege.

»Wenn Sie so fortzufahren gedenken, wie Sie angefangen haben«, rief Mr. Spottletoe hitzig und schlug mit der Faust auf den Tisch, »so wäre es besser, wenn Sie lieber gleich davon abstünden und die Versammlung sich auflöste. Ihr alberner Wunsch, hier als Oberhaupt der Familie zu fungieren, ist für mich nichts Neues, aber ich kann Ihnen sagen, Sir –«

»Ja natürlich! Er will etwas sagen. Er! Wie? Ist etwa er das Oberhaupt?« Und im Nu fielen, von der »entschlossenen« Dame abwärts, alle einmütig über Mr. Spottletoe her, bis dieser nach vergeblichen Bemühungen, sich Gehör zu verschaffen, sich wieder niedersetzte, stumm die Arme verschränkte, zornig den Kopf schüttelte und seiner Gattin durch Gebärden zu verstehen gab, der Spitzbube Pecksniff solle vorderhand nur fortmachen. Er wolle ihm im richtigen Augenblick schon zu Leibe gehen und ihn vernichten.

»Es tut mir durchaus nicht leid«, nahm Mr. Pecksniff seine Rede wieder auf, »«es tut mir in der Tat durchaus nicht leid, daß sich dieser kleine Zwischenfall ereignet hat. Weiß man doch wenigstens, daß sich niemand hier einer Maske bedient und wir ohne Rückhalt und ehrlich und offen in unsern wahren Charakteren voreinander erscheinen können.«

Sofort erhob sich bei diesen Worten die älteste Tochter der »entschlossenen« Dame ein wenig von ihrem Sitze und drückte, wie es schien, mehr aus unterdrückter Leidenschaft als Befangenheit, von Kopf bis zu Fuß zitternd, im allgemeinen die Hoffnung aus, daß vor allem »gewisse« Leute in ihren eigenen Charakteren erscheinen sollten – wäre es auch nur, weil ein solches Benehmen den löblichen Reiz der Neuheit hätte, und daß vorgenannte »gewisse« Leute, wenn sie von ihren Verwandten sprächen, sorgfältig darauf achten möchten, wer alles zugegen sei, sonst könnte ihnen etwas zu Ohren kommen, was sie vermutlich sehr verstimmen dürfte. Und was rote Nasen beträfe, so habe sie bisher noch nicht gewußt, daß eine rote Nase eine »Maske« sei oder jemandem zum Schimpf gereiche, sofern die Leute ihre Nasen weder selber machten noch färbten, sondern diesen Gesichtsanhang eben erhielten, ohne daß man sie vorher um Erlaubnis frage, und übrigens sei noch sehr zweifelhaft, ob »gewisse« Nasen nicht röter wären als andere. Da diese Bemerkungen von den beiden Schwestern der Sprecherin mit einem schrillen Gelächter begrüßt wurden, sah sich Miss Charitas Pecksniff genötigt, mit großer Höflichkeit um Auskunft zu bitten, ob eine dieser höchst gemeinen Anspielungen vielleicht auf sie gemünzt sei. Und als sie keine weitere Erklärung als das Sprichwort »Wen’s juckt, der kratze sich« erhielt, schritt sie ihrerseits zu einer ziemlich scharfen und persönlichen Entgegnung – angestachelt von ihrer Schwester Gratia, die die ganze Zeit über mit großer Herzlichkeit und womöglich noch natürlicher als sonst laut gelacht hatte. Da erfahrungsgemäß eine Meinungsverschiedenheit unter Damen nicht erörtert werden kann, ohne daß nicht alle Angehörigen gleichen Geschlechts, die sich in Hörweite befinden, dabei Partei ergreifen, so mischten sich alsbald die »entschlossene« Dame, ihre beiden Töchter, Mrs. Spottletoe und das taube Bäschen, das sich durch den Umstand, daß es nicht wußte, um was es sich handelte, keineswegs abhalten ließ, samt und sonders lebhaft ein.

Da die beiden Misses Pecksniff den drei Misses Chuzzlewit so ziemlich gewachsen waren, so würde sich die Schlacht zweifellos sehr in die Länge gezogen haben ohne die hohe Tapferkeit und Bravour der »entschlossenen« Dame, die kraft ihrer sarkastischen Zunge Mrs. Spottletoe dermaßen mit höhnenden Worten bearbeitete, daß diese, ehe noch das Scharmützel zwei Minuten gewährt hatte, zu Tränen ihre Zuflucht nehmen mußte. Das hatte irgendwie zur Folge, daß Mr. Spottletoe Mr. Pecksniff die geballte Faust dicht vors Auge hielt wie eine Naturmerkwürdigkeit, aus deren näherer Betrachtung sich große Erbauung und Belehrung erholen ließe. Nachdem er sich sodann ohne erforschlichen Grund erbötig gemacht hatte, Mr. George Chuzzlewit mit Fußtritten zu regulieren, wenn man ihm sechs Pence dafür zahle, reichte er seiner Gattin den Arm und stolzierte indigniert hinaus. Das lenkte die Aufmerksamkeit der Streitkräfte einigermaßen ab und machte dem Kampfe wenigstens soweit ein Ende, daß nur noch hie und da unbedeutende Wutblitze aufzuckten.

Schließlich erhob sich Mr. Pecksniff abermals von seinem Sitze. Die beiden Misses Pecksniff nahmen dabei eine Miene an, als ob es nicht nur im Bereiche des Zimmers, sondern auf der ganzen Welt gar keine Misses Chuzzlewit gäbe, und die drei Misses Chuzzlewit ihrerseits taten desgleichen.

»Es ist sehr zu beklagen«, begann Mr. Pecksniff in demutsvoller Rückerinnerung an Mr. Spottletoes geballte Faust, »daß sich unser Freund so hastig entfernt hat. Andererseits haben wir Grund, uns gegenseitig dazu Glück zu wünschen. Können wir jetzt wenigstens sicher sein, solange er abwesend ist, in dem, was wir sprechen oder tun, nicht durch seinen Argwohn gestört zu werden. Ist das nicht ein sehr beruhigender Gedanke?«

»Pecksniff«, rief Anthony, der die ganze Gesellschaft von Anfang an mit atemlos lauerndem Blick beobachtet hatte, »heucheln Sie nicht so!« »Was soll ich nicht, mein werter Herr?« fragte Mr. Pecksniff.

»Nicht so heucheln!«

»Charitas, mein liebes Kind«, wendete sich Mr. Pecksniff an seine Tochter, »erinnere mich heute abend vor dem Schlafengehen, daß ich noch angelegentlicher als sonst für Mr. Anthony Chuzzlewit bete, da er mir unrecht getan hat.« Er sprach diese Worte mit höchst milder Stimme und beiseite, als gälten sie lediglich seiner Tochter. Mit dem freudigen Bewußtsein eines guten Gewissens nahm er dann seine Rede wieder auf:

»Alle unsre Gedanken weilen bei unserm vielgeliebten, aber unfreundlichen Verwandten, und da er gewissermaßen unserm Bereich entrückt ist, so haben wir uns heute recht eigentlich wie zu einem Leichenbegängnis versammelt – wenn sich auch glücklicherweise nicht wirklich ein Toter im Hause befindet.«

Die »entschlossene« Dame war nun aber nicht überzeugt, daß man hier das Wort »glücklicherweise« gebrauchen dürfe. Eher das Gegenteil.

»Gut, meine teure Madame!« gab Mr. Pecksniff zu. »Sei dem, wie es wolle – wir sind nun einmal da; und weil wir da sind, so wollen wir in Erwägung ziehen, ob es nicht möglich sei, durch was immer für erlaubte Mittel –«

»Ach was, Sie wissen so gut wie ich«, unterbrach die »entschlossene« Dame, »daß in einem solchen Falle alle Mittel erlaubt sind – oder vielleicht nicht?«

»Sehr gut, meine teure Madame, sehr gut! – Also ob es nicht möglich ist, durch was immer für Mittel – wir wollen sagen, durch jedes Mittel – unserm teuern Verwandten seine gegenwärtige Verblendung zu Gemüte zu führen. Ob es nicht möglich ist, ihm durch was immer für Mittel hinsichtlich des wahren Charakters und der Absichten der gewissen jungen Frauensperson die Augen zu öffnen, deren seltsame – deren höchst seltsame Stellung bei ihm« – hier dämpfte Mr. Pecksniff seine Stimme zu einem eindringlichen Flüstern – »tatsächlich einen Schandfleck auf unsere Familie wirft, und die bekanntermaßen« – hier erhob er seine Stimme wieder – »wozu wäre sie sonst bei ihm! – die hinterlistigsten Absichten auf sein Vermögen hegt.«

Wie wenig sonst die Anwesenden miteinander harmonieren mochten, so waren sie doch hinsichtlich dieses Punktes aufs entschiedenste gleicher Ansicht. »Gütiger Himmel, wirklich Absichten hegt sie auf Martin Chuzzlewits Vermögen?!« Die entschlossene Dame war für Gift, ihre drei Töchter für Einsperrung in Bridewell bei Brot und Wasser, das Bäschen mit dem Zahnweh redete Botanybai das Wort, und die beiden Misses Pecksniff verfielen auf Auspeitschenlassen. Mr. Tigg ausgenommen, der unbeschadet seiner außerordentlichen Schäbigkeit, kraft seiner schnurrbartverbrämten Oberlippe und seiner Brustschnüre gewissermaßen als galanter Ritter galt, zweifelte niemand an der Erlaubtheit solcher Maßregeln. Und auch er durfte seine Bedenken nur ungestraft aussprechen, weil er dabei die Damen voll Bewunderung beliebäugelte.

»Nun«, sagte Mr. Pecksniff und kreuzte seine beiden Zeigefinger in einer Weise, die etwas ungemein Versöhnliches und Beweisendes hatte, »auf der einen Seite will ich nicht gerade so weit gehen, zu behaupten, daß die ›Person‹ alle die Züchtigungen verdiente, die hier empfohlen worden sind; und auf der andren Seite möchte ich wieder meinen gesunden Menschenverstand um keinen Preis so weit kompromittieren, um zu behaupten, daß sie sie wieder nicht verdiene. Ich wollte eigentlich nur bemerken, daß es geraten sein dürfte, einige praktische Maßregeln zu ersinnen, um unseren wertgeschätzten – soll ich sagen, unsern hochverehrten –?« »Nein!« fiel ihm die entschlossene Dame mit lauter Stimme ins Wort. »Nun, so will ich es unterlassen – Sie haben ganz recht, meine teure Madame; ich schätze Sie und danke Ihnen für Ihren umsichtigen Einwurf – also unsern nicht hochverehrten Verwandten zu veranlassen, auf die Stimme der Natur zu hören und nicht auf die – auf die – auf die – –«

»Nur weiter, Pa!« rief Gratia.

»Ich muß gestehen«, entschuldigte sich Mr. Pecksniff, die versammelte Verwandtschaft mit einem Lächeln beehrend, »die Wahrheit ist, daß ich um ein passendes Wort verlegen bin. Der Name der gewissen Fabeltiere aus dem blinden Heidentume, die in den Fluten zu singen pflegten, ist mir entfallen.«

»Schwäne?« riet Mr. George Chuzzlewit.

»Nein, nein. Nicht Schwäne – obgleich den Schwänen sehr ähnlich. Ich danke Ihnen.«

Der behaarte Neffe öffnete ein einziges und letztes Mal den Mund und meinte: »Austern?«

»Nein«, versetzte Mr. Pecksniff mit der ihm angebotenen Höflichkeit; »auch nicht Austern. Aber doch keineswegs den Austern unähnlich – eine ganz exzellente Idee übrigens: ich danke Ihnen, werter Herr; danke recht sehr. Halt, ich hab’s: Sirenen! Du mein Himmel! Natürlich: Sirenen. – – Ich glaube, gesagt zu haben, daß man auf Maßregeln sinnen sollte, unsern wertgeschätzten Verwandten zu veranlassen, daß er auf die Stimme der Natur höre und nicht auf die Sirenenklänge der Arglist. Nun dürfen wir aber auch nicht die Tatsache aus dem Gesicht verlieren, daß unser geschätzter Verwandter einen Enkel hat, dem er noch bis vor kurzem sehr zugetan war und den ich heute sehr gerne ebenfalls hier gesehen hätte, zumal ich eine wahre und tiefe Hochachtung für ihn empfinde. Ein hübscher junger Mann – ein äußerst hübscher junger Mann! – – Ich wollte Ihnen nun den Vorschlag machen, ob wir Mr. Chuzzlewits Mißtrauen nicht von uns abwenden und unsre Uneigennützigkeit dadurch an den Tag legen könnten, wenn wir –«

»Wenn Mr. George Chuzzlewit mir etwas zu sagen hat«, unterbrach die entschlossene Dame streng die schöne Rede, »so soll er gefälligst frei herausreden wie ein Mann und nicht mich und meine Tochter anstieren, als ob er uns fressen wollte.«

»Was das Anstieren betrifft, Mrs. Ned«, erwiderte Mr. George ärgerlich, »so habe ich mir sagen lassen, daß auch die Katze den Kaiser anschauen darf. Und ich als angestammtes und – hüm – nicht angeheiratetes Mitglied der Familie kann um so mehr anschauen, wen ich will. Na, und hinsichtlich des Fressens erlaube ich mir die Bemerkung, daß ich darin nicht so begierig bin, Madam.«

»Davon bin ich noch nicht so überzeugt«, meinte die entschlossene Dame spitz.

»Und wenn es auch der Fall wäre«, rief Mr. George Chuzzlewit, durch diese Erwiderung sehr gereizt, »so würde mir jedenfalls beizeiten einfallen, daß eine Frau, die drei Männer überlebt und unter diesen Verlusten so wenig gelitten hat wie Sie, bedenklich – zäh sein muß.«

Die entschlossene Dame sprang auf.

»Auch muß ich ferner noch bemerken«, sprach Mr. George erregt weiter und nickte bei jedem Wort heftig mit dem Kopf, »ohne Namen zu nennen und anzüglich werden zu wollen, daß ich der Ansicht bin, es würde weit anständiger und passender sein, wenn gewisse Leute, die sich durch Heirat listigerweise in die Verwandtschaft eingeschlichen und später ihre Gatten unter die Erde gekeift haben, es unterlassen würden, auch noch über lebende wirkliche Familienangehörige wie die Aasgeier herzufallen. Auch glaube ich, wäre es höchst angebracht, wenn solche Individuen hübsch zu Hause blieben und mit dem zufrieden wären, was sie bereits ergattert haben, statt hier herumzulungern und ihre Finger in eine Familienpastete zu stecken, die schon nach ihnen riecht, wenn sie noch fünfzig Meilen davon entfernt sind.«

»Darauf hätte ich gefaßt sein können!« rief die entschlossene Dame, blickte mit geringschätzigem Lächeln umher und rauschte sodann mit ihren drei Töchtern zur Türe. »Übrigens war ich von Anfang an vollkommen darauf gefaßt. Was könnte man auch Besseres von einer solchen – Atmosphäre erwarten!«

»Richten Sie gefälligst Ihren Halbsoldoffiziersblick nicht auf mich, Madam, wenn ich bitten darf«, fiel ihr Miss Charitas ins Wort, »Sie sind mir widerwärtig.«

Dies war eine beißende Anspielung auf eine Witwenpension, die die entschlossene Dame nach ihrem zweiten Gatten und vor ihrer letzten Ehe bezogen hatte. Der Hieb saß tief, denn Mrs. Chuzzlewit fuhr auf und schrie:

»Ich mußte verzichten auf die Gedächtnisstiftung eines teuren Vaterlandes, eben weil ich in diese Familie trat, du höchst erbärmliche Hexe! – – – Und ich fühle jetzt – wenn ich es auch damals nicht fühlte –, daß mir ganz recht geschah, als ich durch eine solche Selbsterniedrigung meiner Ansprüche an das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland verlustig ging. – – – Nun, meine lieben Töchter, wenn ihr bereit seid und euch hinlänglich durch Beherzigung des edlen Beispiels dieser beiden jungen Damen erbaut habt, so könnten wir, dächte ich, gehen. Und Ihnen, Mr. Pecksniff, sind wir wirklich ungemein verbunden. Wir kamen, um uns zu amüsieren, und in dieser Hinsicht haben Sie unsere Erwartungen sogar noch bei weitem übertroffen. Ich danke Ihnen. – Adieu!«

Mit diesen Abschiedsworten fegte die entschlossene Frau aus dem Zimmer und aus dem Hause, von ihren Töchtern gefolgt, die einmütig ihre drei spitzigen Nasen rümpften und ein verächtliches Kichern anstimmten. Einen Augenblick später gingen sie ostentativ und mit dem Ausdruck nicht zu bändigenden Entzückens außen am Fenster vorüber. Mit diesem Schlußcoup, der die drinnen gewaltig entmutigen sollte, verschwanden sie.

Ehe noch Mr. Pecksniff oder irgend einer der noch anwesenden Gäste den Mund zu einer Bemerkung öffnen konnte, kam aus der entgegengesetzten Richtung her eine andere Gestalt in großer Eile am Fenster vorbei, und unmittelbar darauf stürzte Mr. Spottletoe ins Zimmer. Im Vergleich zu seiner jetzigen Aufregung war er der reinste Eiszapfen gewesen, als er sich vor einer Stunde entfernte. Von seinem kahlen Haupte troff so viel Öl hernieder, daß sein Backenbart geradezu gesalbt erschien; sein Gesicht glühte, und er zitterte an allen Gliedern und schnappte nach Luft.

»Mein werter Herr!« rief Mr. Pecksniff.

»O ja!« keuchte Mr. Spottletoe. »O ja, freilich! Oh, selbstverständlich! Oh, natürlich! Ihr hört, was er sagt! Hört ihr alle, was er sagt?«

»Was gibt’s denn?« riefen mehrere Stimmen.

»Oh, nichts!« rief Mr. Spottletoe, noch immer nach Luft schnappend. »Ganz und gar nichts! – Vollkommen bedeutungslos. Fragt doch ihn! Er kann’s euch am besten sagen!«

»Ich verstehe nicht, was unser Freund meint«, sagte Mr. Pecksniff und sah sich voller Erstaunen im Kreise um. »Ich versichre Ihnen, daß mir sein Benehmen geradezu rätselhaft erscheint.«

»Rätselhaft!« schrie Mr. Spottletoe. »Rätselhaft! Wollen Sie uns vielleicht weismachen, Sir, Sie wüßten nicht, was vorgefallen ist? – Haben Sie uns vielleicht nicht hierher gelockt und ein Komplott gegen uns geschmiedet?! Erdreisten Sie sich vielleicht gar, zu sagen, Sie wüßten nicht, daß Martin Chuzzlewit fort ist, auf und davon? Ist es Ihnen vielleicht sogar unbekannt, wohin er sich gewendet hat, Sir?!«

»Fort?« riefen alle wild durcheinander.

»Fort!« echote Mr. Spottletoe. »Fort, während wir hier konferierten! Fort; und niemand will wissen, wohin. Oh, natürlich nicht! Die Wirtin dachte bis zum letzten Augenblick, er mache bloß eine Spazierfahrt. Sie hatte doch keine Ahnung. Natürlich nicht! Wie sollte sie wohl! Sie ist auch nicht die Kreatur dieses Kerls. Oh, Gott bewahre!«

Diesen Ausrufen ließ der aufgeregte Gentleman eine Art ironischen Geheuls folgen, dann schwieg er plötzlich, sah die Gesellschaft eine kurze Weile stumm an und stürzte mit furchtbarer Eile wieder hinaus.

Vergeblich beteuerte Mr. Pecksniff, daß diese neuerliche und so gut gelungene Flucht Martin Chuzzlewits für ihn mindestens ebenso unerwartet und überraschend komme wie für sonst jemanden. Von allen Beschimpfungen und Verwünschungen, die jemals auf ein unglückliches Haupt gehäuft worden, kann wohl keine aufrichtiger gemeint und kräftiger gewesen sein als die, mit denen sich jeder einzelne der noch zurückgebliebenen Verwandten von dem unglücklichen Mr. Pecksniff verabschiedete.

Fürchterlich war die moralische Höhe, auf die sich Mr. Tigg ihm gegenüber stellte, und das taube Bäschen, dem das doppelt harte Los zuteil geworden, die Vorgänge mit ansehen zu müssen und nichts als die Katastrophe hören zu können, kratzte sich die Füße vor der Tür ab und verteilte die Eindrücke davon über die ganze obere Treppe, zum Zeichen, daß sie den Staub von ihren Schuhen schüttele, ehe sie dieses Haus der Arglist und Treulosigkeit verlasse.

Kurz, Mr. Pecksniff blieb nur ein einziger Trost, nämlich das Bewußtsein, daß alle diese Verwandten und Freunde ihn zuvor schon aufs äußerste gehaßt und er seinerseits nicht mehr Liebe an sie verschwendet hatte, als er bei seinem ungeheuern Reichtum an diesem Artikel leicht verschmerzen konnte. Die Betrachtungen, die er von diesem Gesichtspunkte aus anstellte, bereiteten ihm ungemein viel Trost – eine Tatsache, die um so mehr Beachtung verdient, als sie zeigt, wie leicht ein wahrhaft guter Mensch sich über Enttäuschungen aller Art hinwegzusetzen vermag.

40. Kapitel


40. Kapitel

Die Geschwister Pinch machen eine neue Bekanntschaft und kommen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus

Die unbewohnten Zimmer im Tempel hatten etwas Geisterhaftes, was auf Tom einen seltsamen Reiz ausübte. Jeden Morgen, wenn er die Haustüre in Islington zuklinkte und sich der Rauchatmosphäre Londons zuwandte, fing auch schon die rätselhafte Verzauberung an und zog ihn von Minute zu Minute tiefer in ihre geheimnisvollen Netze, bis er endlich wieder nach Hause ging und den Spuk wie eine regungslose Wolke am Himmel seines Gemütes hinter sich zurückließ.

Jeden Morgen war ihm zumute, als träte er in einen gespenstigen Nebel hinein, der ihn nach und nach ganz einhüllte. Der Übergang von dem Getümmel und Lärm der Straßen in die ruhigen Höfe des Tempels war der erste Schritt dazu. Jeder Widerhall seiner Fußtritte tönte ihm in die Ohren wie ein Schall von den alten Mauern und dem Pflaster, der nur der Sprache bedurfte, um die Geschichte der düstern, unheimlichen Zimmer zu erzählen – ihm zuzuraunen, wie viele für verloren gehaltene Dokumente in den vergessenen Winkeln jener verschlossenen Halle moderten, aus deren Gitteröffnungen so seltsame Seufzer heraufzutönen schienen, wenn er vorbeiging, oder ihm in dumpfem Tone düstere Sagen zuzumurmeln von den Rittern mit den auf der Brust gefalteten Händen, deren Marmorbilder in der Kirche Wache hielten. Der erste Schritt auf der Treppe, die zu seinem staubigen Arbeitsraum führte, steigerte noch diese geheimnisvolle Stimmung, bis er schließlich unmerklich von dem Einfluß ganz umstrickt war.

Jeder Tag brachte ihm immer neue Träumereien. Der geheimnisvolle Fremde, für den er arbeitete, konnte vielleicht heute schon kommen. Was mochte er wohl für ein Mensch sein? Mit Mr. Fips konnte das Geheimnis nicht gut zu Ende sein, hatte dieser doch selbst gesagt, er handle im Auftrag eines andern. Wer war aber nun dieser andere? Diese Frage war die Wunderblume in dem Garten von Toms Phantasie. Immer neue Blätter und Knospen setzte sie an.

Einmal fiel ihm ein, Mr. Pecksniff habe vielleicht aus Reue über seine Falschheit irgendeine dritte Person benutzt, um ihm auf diese Weise Beschäftigung zu geben, aber dieser Gedanke war so unvereinbar mit alldem, was zwischen dem vortrefflichen Ehrenmann und ihm selbst vorgefallen, daß er ihn sich bald aus dem Kopfe schlug, um so mehr, als John Westlock sich vor Lachen gar nicht halten konnte, als er ihm diese Vermutung mitteilte.

Inzwischen kam er täglich seiner Pflicht mit großem Eifer nach und machte bedeutende Fortschritte im Ordnen der Bücher. Auch der Katalog, mit schöner klarer Schrift geschrieben, wuchs von Tag zu Tag.

Während seiner Arbeitsstunden beschäftigte sich Tom auch oft mit dem Lesen, was zuweilen für seine Aufgabe unbedingt notwendig war, und manchmal beging er sogar die Kühnheit, sich abends einen jener verhexten Bände mit nach Hause zu nehmen und zu überfliegen. Selbstverständlich brachte er ihn dann stets am andern Morgen wieder zurück, für den Fall, daß sein seltsamer Prinzipal plötzlich auf der Bildfläche erscheinen und danach fragen sollte. So führte er ein stilles, glückliches, fleißiges Leben, das ganz nach dem Wunsche seines Herzens war.

Aber so interessant die Bücher auch manchmal für ihn sein mochten, niemals war er darein so vertieft, daß er nicht augenblicklich auch den leisesten Ton draußen gehört hätte. Der Klang jedes Fußtrittes auf den Pflastersteinen unten machte ihn aufhorchen, und wenn sie gar zum Hause zu kamen und – trapp, trapp, trapp – die Treppe heraufschallten, dachte er jedesmal mit klopfendem Herzen: »Jetzt endlich werde ich ihn von Angesicht zu Angesicht sehen.« Aber niemals überschritt ein anderer Fuß die Schwelle seiner Zimmer als sein eigener.

Diese Einsamkeit und geheimnisvolle Abgeschiedenheit erweckten in ihm allerlei phantastische Träume, deren Torheit er bei klarem Verstand allerdings einsah, die er aber nicht immer gänzlich zu unterdrücken vermochte. Es ging ihm dabei wie vor alters der französischen Polizei, die sehr hurtig im Aufspüren war, aber um so laxer, wenn es galt, etwas zu verhüten. Wohl hundertmal des Tages überkamen ihn dunkle, unerklärliche, törichte Ahnungen; bald glaubte er, es sei jemand in der Stube nebenan versteckt oder schleiche darin herum, gucke durch die Türritzen herein – kurz, treibe allerhand seltsame Dinge, so daß er oft den Fensterschieber aufzog, um sich wenigstens ein bißchen mit den Sperlingen zu unterhalten, die am Dach oder in der Regenrinne hockten und den ganzen Tag lang um die Fenster herum zwitscherten.

Die äußere Tür ließ er stets offen stehen, um jeden Schritt hören zu können, der sich dem Hause näherte, sich dann aber jedesmal in den Zimmern der untern Stockwerke verlor. Auch über die Passanten auf der Straße machte er sich allerlei wunderliche Gedanken, und wenn er irgendeines Menschen ansichtig wurde, der etwas Ungewöhnliches in seiner Kleidung oder in seinem Äußern hatte, so sagte er sich jedesmal: »Es sollte mich gar nicht wundern, wenn das mein Chef wäre.« Aber er war es nie. Und wenn auch Tom mehr als einmal auf der Straße umkehrte, um einem dieser verdächtigen Individuen nachzugehen – in der Einbildung, es könne vielleicht in den Tempel einbiegen, so stellte sich doch jedesmal heraus, daß er sich getäuscht hatte.

Mr. Fips von Austin Friars trug nur noch dazu bei, ihn hinsichtlich der Lage der Dinge noch mehr zu verwirren, als aufzuklären. Denn als Tom ihm zum erstenmal seine Aufwartung machte, um sein Wochengehalt in Empfang zu nehmen, sagte er:

»Übrigens, Mr. Pinch, um was ich Sie ersuchen wollte: bitte, erwähnen Sie von der Sache niemandem gegenüber etwas.«

Tom dachte, Mr. Fips sei gerade im Begriff, ihm ein Geheimnis anzuvertrauen, und versicherte daher aufs feierlichste, er werde unbedingt reinen Mund halten und verschwiegen wie ein Grab sein – aber Mr. Fips sagte bloß, »sehr schön, sehr gut«, und weiter nichts. Und als Tom abermals beteuerte: »Sie können auf meine Verschwiegenheit rechnen«, sagte Mr. Fips nur wiederum: »Sehr schön, sehr schön.«

Wohl fing Tom dann noch einmal an: »Sie wollten eben sagen –«; Aber Mr. Fips rief nur: »Ach, gar nichts; nicht das mindeste.« Als er dann Mr. Pinchs Verwirrung bemerkte, setzte er hinzu: »Ich meinte nur, Sie sollten niemandem sagen, daß Sie behufs Ordnung der Bibliothek angestellt sind. Es ist besser, Sie schweigen darüber.«

»Ich habe noch immer nicht das Vergnügen gehabt, mich meinem Prinzipal vorzustellen«, gab Tom zu bedenken, seinen Wochenlohn in die Tasche steckend.

»So, haben Sie noch keine Gelegenheit gehabt?« warf Mr. Fips gleichgültig hin. »Ja, das mag wohl sein.«

»Und ich möchte ihm so gerne danken und von ihm hören, ob meine bisherige Tätigkeit seinen Wünschen entsprochen hat.«

»Ganz recht, ich verstehe«, sagte Mr. Fips gähnend. »Es macht Ihnen große Ehre, sehr ehrenwert von Ihnen.«

Pause.

»Ich werde bald mit der Ordnung der Bücher zu Ende sein«, fing Tom wieder an. »Ich hoffe, daß damit nicht auch meine Dienste zu Ende sind. – Wird man mich dann noch brauchen, Sir?« »Ach Gott, selbstverständlich!« rief Mr. Fips. »Massenhaft Arbeit noch, massenhaft Arbeit. – Hm. Ja. – Es ist etwas dunkel draußen.«

Mehr konnte Tom aus Mr. Fips nicht herausbekommen. Daß es dunkel war, stimmte; aber nicht nur draußen, sondern auch drinnen, und Mr. Fips hatte eigentlich recht, sich so doppelsinnig auszudrücken.

Bald jedoch ereignete sich etwas, das dazu beitrug, Toms Grübeleien von diesem Rätsel abzulenken und sie in einen neuen Kanal zu leiten, der nicht weniger geheimnisvoll war als etwa die Quellen des Nils.

Das ging folgendermaßen zu.

Tom pflegte von jeher sehr früh aufzustehen, und da er jetzt keine Orgel zur Verfügung hatte, um sich die Morgenstunden mit Musik zu vertreiben, machte er in der Regel, ehe er nach dem Tempel ging, einen längern Spaziergang. Er besichtigte dann in der Regel jene Teile der Stadt, wo es besonders lebhaft herging, und namentlich die Marktplätze, Brücken, Kais und Dampfbootwerften, denn die Leute, die sich da umhertummelten, boten einen gar zu erfrischenden und lebhaften Anblick, und immer erquickte ihn dieser Gegensatz zu dem eintönigen Stadtleben. Auf den meisten seiner Morgenausflüge begleitete ihn Ruth ein Stück weit.

Manchen schönen reizvollen Spaziergang machten sie so zusammen. Zum Beispiel nach dem Covent Garden Market, und voller Genuß atmeten sie dann den Duft der Blumen und den Geruch des frischen Obstes ein. Vergnügt wie die Kinder wunderten sie sich über die herrlichen Ananasse und Melonen. Da saßen ganze Reihen alter Weiber auf umgekehrten Körben und schoteten Erbsen aus. Und wie unaussprechlich verlockend die fetten Spargelbündel aussahen, die die Schaufenster der Delikatessenläden zierten. Sogar vor den Geschäften der Kräuterhändler blieben sie stehen und erfreuten sich an dem Duftgemisch von spanischem Pfeffer, Packpapier und Samenkörnern aller Art. Nicht einmal der Anblick der Schnecken und hübschen jungen Blutegel hatte für sie etwas Schreckliches. Und dann der Geflügelmarkt, wo Enten und Hühner mit unnatürlich langen Hälsen paarweise nebeneinander lagen und gesprenkelte Eier in Körben von Moos den Tag anlachten und des Schauens und Staunens kein Ende war! Weiße Würste vom Lande, die hier vor den Anklagen von Katzen und Hunden, Pferden und Eseln sicher waren, frische Käse von ungeheuern Dimensionen, lebende Vögel in Käfigen und Körben, zahllose Kaninchen, tot und lebendig.

Nicht minder hübsch waren die Spaziergänge zwischen den kühlen, frischen Fischerständen hindurch, über deren Ware es wie silberner Mondschein hinblitzte, mit Hummern als roten Farbflecken dazwischen. Dann spazierten sie zwischen den großen Wagen voll duftenden Heues umher, unter denen Hunde und müde Fuhrleute in festem Schlummer lagen. Aber am hübschesten war es wohl, wenn sie einen hübschen Morgen benutzten und zu den Dampfbooten hinuntergingen.

Da lagen sie – Seite an Seite –, die Boote, scheinbar friedlich fest aneinandergedrückt, aber doch arglistig jedes nach einem Durchlaß spähend und niemals müde, ganze Scharen von Passagieren und Haufen von Gepäck, die hastig an Bord gebracht wurden, aufzunehmen. Unaufhörlich schossen kleine Dampfbarkassen auf und ab. Ganze Reihen von Schiffen, Hunderte von Masten, Labyrinthe von Takelwerk, schläfrige Segel, plätschernd hin und her gleitende Barken, versunkene Pfähle mit garstigen Heimstätten für die Wasserratten in ihren schlammigen Nischen, Kirchtürme in der Ferne, Magazine, Häuserdächer, Brückenbogen, Männer, Weiber, Kinder, Fässer, Kräne, Kisten, Pferde, Kutscher, Tagediebe und fleißige Arbeiter – alles das bildete einen bunten Knäuel vor Toms Augen an jedem Sommermorgen.

Und inmitten all dieses Getümmels tobte es unablässig aus dem Rauchfang eines jeden ankommenden Paketbootes und verlieh der ganzen Szene etwas Erregtes. Die Schiffe schienen zu atmen und wie die Menschen miteinander zu plaudern. In ihrer kuriosen heisern Weise schnaubten sie ohne Unterlaß ärgerlich einander an: »Aber so eilt euch doch, damit man durchkommt.« Und selbst, wenn eines sich Platz gemacht hatte und wohlbehalten mit der Strömung trieb, konnte es der kleinste Anlaß wieder erregen. Das Geringste, was ihm im Strom in die Nähe kam, veranlaßte es, aufs neue zu dampfen und zu keuchen: »Schon wieder ein Hindernis! Was gibt’s denn schon wieder? Ich habe doch Eile.«

In einem derartigen, an nervöse Verzweiflung grenzenden Zustand sah man dann Schiff für Schiff langsam durch den Nebel in das jenseits liegende rotgefärbte Sommerlicht hinausgleiten.

Toms Schiff nun, das Paketboot, für das er und seine Schwester sich eines Tages besonders interessierten, hatte sich noch nicht so weit zurechtgefunden, sondern befand sich sichtlich in äußerster Verwirrung. Die Passagiere an Bord drängten durcheinander, und an Backbord wie an Steuerbord hatten Dampfbarkassen angelegt. Die Stege waren überfüllt, verrückte Frauenzimmer, die offenbar nach Gravesend wollten, ließen sich durchaus nicht überzeugen, daß das Schiff nach Antwerpen ginge, und bestanden darauf, ihre Körbe mit Erfrischungen hinter Wasserfässern oder Verschlägen zu verstecken, kurz, es herrschte die größte Verwirrung. Und das alles war so unterhaltend und amüsant, daß Tom, seine Schwester am Arm, unverwandt von der Werft herunterblickte und so wenig, wie es nur für Fleisch und Blut möglich ist, auf eine ältliche Dame hinter sich achtete, die einen großen Regenschirm bei sich trug, der ihr ununterbrochen arg im Wege war. Das furchtbare Werkzeug hatte einen gekrümmten Handgriff, und Tom wurde sich dessen Nähe erst infolge eines schmerzlichen Drucks auf seine Luftröhre bewußt, als sich der Haken um seine Kehle gelegt hatte. Kaum war es ihm gelungen, sich friedfertig davon loszumachen, fühlte er schon wieder die eisenbeschlagene Spitze des Marterwerkzeugs in seinem Rücken und gleich darauf den Haken an seinen Knöcheln, dann wieder flatterte ihm der Schirmstoff um den Hut und schlug daran wie ein großer Vogel mit seinen Fittichen, und schließlich erhielt er einen so derben Stoß zwischen die Rippen, daß er endlich die Geduld verlor und sich umdrehte, um sich in seiner milden Weise eine solche Behandlung zu verbitten.

Die Eigentümerin des Instrumentes stand jetzt auf den Zehen dicht hinter ihm und quälte sich sichtlich ab, einen Blick auf die Dampfboote unten zu erhaschen. Da er in der Reihe vor ihr stand und sie daran hinderte, hatte sie ihn als ihren natürlichen Feind attackiert.

»Sind sie aber eine boshafte Person!« sagte er vorwurfsvoll.

Sofort rief die Frau wütend nach der Polizei und schimpfte: »Den ganzen Tag stehen diese Kerls hier herum. Wahrhaftig, man sollte sie alle arretieren lassen.«

Die Ärmste war ohne Zweifel fürchterlich herumgestoßen worden, denn ihre Kopfbedeckung hatte die Form eines dreieckigen Admiralshutes angenommen, und korpulent wie sie war, konnte sie vor Erschöpfung und Hitze kaum mehr atmen. Ohne auf den gereizten Ton einzugehen, fragte Tom sie höflich, an welchem Schiff sie wohl an Bord zu gehen wünsche.

»Sie meinen wohl gar, wenn mer a Schiff anschaut, so muß mer schon einsteigen. Sie Tepp, Sie!«

»Nun, so sagen Sie doch, welches Sie sich anschauen wollen?« sagte Tom. »Wir machen ja gern Platz für Sie, wenn wir können. Sie brauchen doch nicht gleich so gereizt zu sein.«

»Sowas hat mir noch ka lebendiger Mensch vorgworfen, mit dem i zsamm kommen bin«, lenkte die Dame ein wenig besänftigt ein. »I hab scho viele Leut kennen glernt, und noch nie hat mir eins den Vorwurf gmacht, daß i greizt bin. ›Machen S‘ Ihna nix draus, widersprechen S‘ mir nur, Madame, wann’s Ihna damit a Erleichterung verschaffen‹, sag i immer, wann a Kundschaft von mir aufbegehrt. Die Sarah kann was vertragn und gibt ka Beleidigung net zruck. – Na ja, i geb ja gern zu, daß s‘ mir heunt damisch zugsetzt haben und daß i mich gärgert hab, und net ohne Grund.«

Inzwischen hatte sich Mrs. Gamp, denn die Dame war natürlich niemand anders als diese erfahrene Praktikerin, unter Toms Beistand durchgezwängt und in einem kleinen Winkel zwischen Ruth und dem Geländer verankert, wo es ihr endlich unter heftigem Gekeuch und Ausführung der seltsamsten und gefährlichsten Evolutionen mit ihrem Schirm gelang, es sich bequem zu machen.

»I möcht nur gern wissen, das welchene von diese rauchenden Ungeheuer das Antwortschiff ist«, rief sie.

»Was für ein Schiff meinen Sie?« fragte Ruth.

»Das Antwortschiff! I sag’s, wie’s is; i red nie die Unwahrheit nicht.«

»Das dort in der Mitte ist das Antwerpener Paketboot«, sagte Ruth, der ein Licht aufging, was die Dame meinte.

»I wollt, es steckte in dem Propheten Jonas sein Bauch, sag i«, rief Mrs Gamp, offenbar den Propheten mit dem Walfisch verwechselnd.

Ruth schwieg. Da aber Mrs. Gamp ihr Kinn auf das kalte Eisengeländer legte und, jeweils kurz aufstöhnend, unverwandt auf das Boot hinabblickte, fragte sie endlich mitleidig, ob vielleicht eines ihrer Kinder oder ihr Gatte darin eine Reise antrete.

»Da sieht ma’s wieder«, ächzte Mrs. Gamp mit einem Blick gen Himmel, »wie wenig Sie noch in unserm irdischen Jammertal rumgekommen sin. A gute Freundin von mir – die Harris – sagt immer: ›Sarah, Sarah‹, sagt s‘, ›wir wissen niemals nicht, was vor uns liegt.‹ – ›Liebe Harris‹, sag i nacher a jed’smal, ›viel wissen mir net, dös is wahr, aber vielleicht doch mehr, als Sie glauben. Unsre Berechnungen, sag i, wieviel Kinder a Famülie kriegen wird, treffen meistens ganz genau ein.‹ – ›Liebe Sarah‹, sagt die Harris nacher gwehnlich sehr feierlich, ›also sagn S‘, wieviel krieg i?‹ – ›Na, liebe Harris‹, sag i, ›da müssen S‘ schon entschuldigen, jetzt, was meine eigenen Kinder san‹, sag i, ›hab i kan Trost net dran ghabt. Eins is gstorben, und wie’s auf dem Totenbett glegen is, hat’s noch glächelt. Liebe Harris‹, sag i, ›da segn S‘ wieder, mer derf net vorgreifen, man muß es nemmen, wie’s kommt und muß die Kinder nemmen, wie s‘ kommen und wie s‘ gehn.‹ – Und jetzt segn S‘, liabs Fräuln«, sagte Mrs. Gamp, »i hab jetzt gar keine mehr, und was mein Mann angeht, so san seine hölzernen Haxen beim Deifel. Des ist davon kommen, daß er allaweil in die Weinstubn gangen is und nie anders als mit Gwalt sich hat wieder rausbringen lassen. Ja, ja, der Geist is willig, aber das Fleisch is schwach.«

Nachdem sich Mrs. Gamp dieser Rede entledigt, lehnte sie abermals ihr Kinn auf das kalte Eisengeländer, schaute wiederum unverwandt auf das Antwerpener Schiff hinunter, schüttelte den Kopf und stöhnte.

»Na, i möcht ka Mann sein«, fing sie wieder an, »und sowas aufm Gwissen haben. Aber nur a Mannsbild is halt zu sowas fähig.«

Tom und seine Schwester sahen einander an, und nach einigem Zaudern fragte Ruth Mrs. Gamp, was sie denn so sehr bedrücke.

»Liabs Fräuln«, entgegnete die Hebamme mit gedämpfter Stimme, »Sie sin ledig, net wahr?«

Ruth lachte und bejahte errötend.

»Um so schlimmer für beide Teile. Aber andre sin verheirat, und zwar im ehelichen Stande; und segn S‘, da is a liabs jungs Frauerl, wo heut früh auf demselbigen Paketschiff abdampft und nöt im geringsten für das Leben aufm Wasser paßt.«

Einen Augenblick hielt Mrs. Gamp inne, um das Deck des Schiffes nochmals genau mit ihren Blicken zu durchforschen, und als sie sich genügend überzeugt zu haben schien, daß der Gegenstand ihres Bedauerns noch nicht angekommen war, erhob sie ihre Augen allmählich bis zur Höhe des Sicherheitsventils und redete das Schiff folgendermaßen unwillig an:

»Himmelherrgottsakrament« – dabei schüttelte sie den Regenschirm wütend – »Mistviech, dreckigs! Was hat dös jetzt wieder für an Sinn, daß sich so a zarts jungs Gschöpf als Passaschür mit dir aufs Wasser nauswagen soll? Zu was jetzt dös blöde Hämmern und Pfeifen und Zischen! – – Mistviech, blöds«, setzte sie wütend hinzu und schüttelte wieder ihren Schirm. »Die dummen Maschinen und bsonders die Eisenbahnen, was jetzt die schon für a Unglück über d‘ Welt bracht haben! Wann mer die Frühgeburten, wo sie verursacht haben, zsamm zählen möcht, da kämet a schöne Zahl raus. Da hab i a mal von an jungen Mann ghört, wo bei uns zhaus Kondukteur is auf einer Eisenbahn, die erst seit drei Jahren besteht – die Harris kennt ihm, er is mit ihr verwandt, da ihre Schwester mit an Brettschneidermeister verheirat is –, der Gvatter gstanden is bei sechsundzwanzg klane Würmer, Gott verzeih mir die Sünd, die alle viel z‘ früa auf d‘ Welt kommen san, und a jeds heißt jetzt nach der Dampfmaschin, wo die Schuld dran ghabt hat. – Pfui Deifel«, rief Mrs. Gamp und fing wieder an, das Dampfschiff zu apostrophieren. »Da sieht man wieder, daß d‘ von an Mannsbild erfunden worden bist, weils d‘ gar a so rücksichtslos gegen die weibliche Nadur bist, du Mistviech.«

Aus Mrs. Gamps Ärger über die Dampfmaschinen hätte man vermuten können, sie sei irgendwie mit dem Post- oder Landkutschengeschäft assoziiert. Sie fand übrigens keine Gelegenheit, die Wirkung ihrer Schlußbemerkung auf Miss Ruth zu beurteilen, denn gerade in diesem Augenblick ging die von ihr Gesuchte über den Dampfersteg.

»Schaugn S‘, dort is sie«, rief Mrs. Gamp, »da geht dös liabe junge Gschöpf wie a Opferlamm zur Schlachtbank. Wann s‘ jetztn krank wird aufm Wasser«, setzte sie prophetisch hinzu, »so ist dös a Mord, und i werd Zeugenschaft vor Gricht ablegen.« Es war ihr offenbar so ernst mit ihrem Mitleid, daß Ruth, die ebenso menschenfreundlich wie ihr Bruder war, sich nicht enthalten konnte, ein paar Worte zu sagen.

»Bitte, wer ist die Dame«, fragte sie, »an der Sie solchen Anteil nehmen?«

»Segn S’«, stöhnte Mrs. Gamp, »da geht s‘ wieder. Grad kommt s‘ jetzt über die kleine hölzerne Bruckn, und jetzt rutscht s‘ auf an Stückerl von aner Pommeranzenschalen aus« – Mrs. Gamp umfaßte krampfhaft ihren Regenschirm – »no, dös kann a gute Gschicht werdn.«

»Meinen Sie die Dame neben dem Herrn, der von Kopf bis zu Fuß so in einen großen Mantel eingehüllt ist, daß man beinahe sein Gesicht nicht mehr sehen kann?«

»Er soll nur sein Gsicht verstecken!« schimpfte Mrs. Gamp. »Bis in d‘ Erd nei soll er sich schämen. Habn S‘ net gsegn, wie er s‘ an der Hand rumgrissen hat?«

»Er scheint es wohl sehr eilig zu haben«, meinte Ruth.

»Und jetzt – in die dunkle Kajüten eini«, fuhr Mrs. Gamp ungeduldig fort. »Was der Mensch nur vorhat? Mir scheint, der Deifel is ihm in Kopf neigfahren. Warum laßt er s‘ denn net in der frischen Luft heroben?«

Welchen Beweggrund nun auch der Betreffende haben mochte, jedenfalls führte er seine Gattin rasch die Kajütentreppe hinunter und verschwand dort, ohne seinen Mantel aufzuknöpfen oder seinen Hut zu lüften.

Tom hatte von dem Zwiegespräch nichts vernommen, denn seine Aufmerksamkeit war auf ganz unerwartete Weise in Anspruch genommen worden. Mrs. Gamp war nämlich kaum mit ihrer Ansprache an die Dampfmaschinen zu Ende, da hatte sich eine Hand auf seinen Arm gelegt, und wie er sich umsah, entdeckte er rechts neben sich – Ruth stand zu seiner Linken – zu seiner größten Überraschung seinen Hauswirt.

Es war nicht so sehr die Anwesenheit dieses Mannes, die ihn überraschte, als vielmehr der Umstand, daß noch eine halbe Minute vorher jemand anders – wie er genau wußte – dort gestanden und er in der Zwischenzeit auch nicht das geringste Gedränge hinter sich verspürt hatte, wo die Leute doch wie die Heringe zusammengepfercht waren. Sowohl er wie Ruth hatten oft Gelegenheit gehabt zu bemerken, mit welcher Geräuschlosigkeit ihr Mietherr in seinem eigenen Hause ein und aus ging, kam und verschwand, aber dennoch war Tom jetzt nicht wenig erstaunt, den Mann so plötzlich neben sich auftauchen zu sehen.

»Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Pinch«, flüsterte ihm der Mann ins Ohr, »aber ich bin ganz außer Atem und erschöpft; auch sehe ich nicht mehr sehr gut. Man wird alt, Sir; man wird eben alt. Bitte, sagen Sie, können Sie nicht dort unten einen Herrn in einem großen Mantel mit einer Dame am Arm unterscheiden? Sie trägt einen Schleier und einen schwarzen Schal.«

Wenn der Mann, wie er sagte, das Paar nicht sehen konnte, so war es nur um so merkwürdiger, daß er seine Blicke unverwandt gerade auf den Punkt, wo sie standen, gerichtet hielt. Schnell richtete er jetzt seine Blicke auf Toms Gesicht.

»Ein Herr in einem großen Mantel«, wiederholte Mr. Pinch, »und eine Frau mit einem schwarzen Schal? Ich will mal sehen.«

»Ja, ja, bitte«, drängte der andere ungeduldig. »Der Herr ist von Kopf bis zu Fuß eingehüllt – höchst sonderbar übrigens bei einem Sommermorgen wie dem heutigen –, ganz wie ein Kranker und hält jetzt die Hand vor das Gesicht. – Nein, nein, nicht dort«, setzte er hinzu, Toms Blick folgend, »weiter rechts, dort unten.«

Und wieder deutete er nach der Stelle, wo die beiden gingen, aber diesmal in seiner Eile mit ausgestrecktem Finger.

Die auf den Dampfer zudrängenden Personen wurden jetzt durch das dichte Menschengewühl ein wenig aufgehalten.

»Es sind da soviel Leute, soviel Kisten und Koffer, und alles wimmelt so durcheinander«, entschuldigte sich Tom, »daß man kaum etwas genau unterscheiden kann. – Wahrhaftig, ich kann keinen Herrn in einem großen Mantel und keine Dame in einem schwarzen Schal unterscheiden. – Aber dort drüben ist eine Dame in einem roten Schal.«

»Nein, die ist’s nicht«, rief der Hauswirt ungeduldig; »mehr in dieser Richtung. Dort! Fassen Sie die Kajütentreppe ins Auge. Etwas mehr links. Die beiden müssen jetzt in der Nähe der Kajütentreppe sein. – Sehen Sie die Kajütentreppe? – Jetzt läutet schon die Glocke! – Sehen Sie denn die Treppen nicht?«

»Halt«, rief Tom, »Sie haben recht. Ja, dort gehen die beiden. Und das ist der Gentleman, den Sie meinen, wie ich glaube. Er steigt in diesem Augenblick gerade in die Kajüte hinunter. Die Falten seines großen Mantels schleppen hinter ihm nach.«

»Ganz richtig«, rief der Hauswirt, nicht mehr auf das Schiff hinunter, sondern starr in Toms Gesicht blickend. »Würden Sie mir einen Gefallen – einen großen Gefallen erweisen? Möchten Sie dem Herrn vielleicht diesen Brief eigenhändig übergeben? Nur übergeben, weiter nichts. Er wartet darauf. Ich bin beauftragt, ihn ihm einzuhändigen, aber ich fürchte, ich käme zu spät; ich bin nicht mehr sehr jung und könnte mich nicht so geschwind bis an Bord und über das Verdeck vordrängen. Nicht wahr, Sie verzeihen mir meine Aufdringlichkeit und erweisen mir diesen großen Gefallen.«

Seine Hände bebten, und sein Gesicht verriet die größte Aufregung, als er Tom den Brief in die Hand drückte und noch einmal mit dem Finger auf das Schiff deutete wie Satanas auf irgendeinem alten Schnitzwerk.

Wenn es galt, jemandem einen Dienst zu leisten, pflegte Tom niemals zu zögern. Er nahm den Brief, flüsterte Ruth zu, sie möge warten – er werde gleich wieder da sein – und lief so schnell er konnte den Kai hinab. Es war aber ein so großes Gewühl von Menschen, und so viel ungeheuere Warenballen wurden hin und her getragen – und dazu das fortwährende Läuten, das Zischen der Dampfventile und das Geschrei der Menge –, daß er die größte Mühe hatte, sich seinen Weg durch das Gewühl zu bahnen und dabei das Schiff, dem er zustrebte, im Auge zu behalten. Aber trotzdem langte er noch rechtzeitig an. Sofort eilte er die Kajütentreppe hinunter und entdeckte auch richtig den Gesuchten in einer Ecke des Salons, wo dieser, ihm den Rücken zuwendend, ein Plakat las, das an der Wand hing. Als Tom näher trat, um den Brief zu übergeben, fuhr der Fremde bei dem Geräusch der Fußtritte zusammen und drehte sich hastig um.

Und wie erstaunte Tom, als er in ihm den Mann erkannte, mit dem er einst beim Schlagbaum bei Mr. Pecksniff zusammengeraten war, den Gatten der armen Gratia, Mr. Jonas Chuzzlewit.

Jonas murmelte etwas, was so klang wie: was zum Teufel man denn von ihm wolle, aber mehr verstand Tom nicht, da die Worte zu undeutlich waren.

»Ich wünsche nichts weiter von Ihnen«, sagte Tom, »als Ihnen diesen Brief hier zu übergeben. Man hat mich soeben darum gebeten und Sie mir von weitem gezeigt, und ich habe Sie in Ihrem seltsamen Aufzug nicht erkannt. Hier, nehmen Sie den Brief.«

Jonas tat es, erbrach das Kuvert und überflog den Inhalt. Offenbar war dieser sehr kurz und betrug vielleicht nicht mehr als eine einzige Zeile. Aber er traf ihn wie ein Stein aus einer Schleuder. Er wankte zurück. Noch nie hatte Tom einen Menschen so entsetzt gesehen, und er selbst war so betroffen darüber, daß er unwillkürlich stehenblieb. In diesem Augenblick der Unentschlossenheit von beiden Seiten hörte die Glocke auf zu läuten, und eine heisere Stimme rief in die Kajüte herunter, ob noch jemand an Land zurückzugehen gedenke.

»Ja«, rief Jonas, »ich – ich komme schon. Nur einen Augenblick. Meine Frau, wo ist meine Frau? Komm schnell zurück.«

Dabei riß er eine Tür auf und führte oder schleppte vielmehr Gratia heraus. Sie war blaß, erschrocken und nicht wenig erstaunt, Tom hier zu sehen. Es blieb ihr jedoch keine Zeit zum Sprechen, denn oben war ein großer Tumult, und Jonas zog sie ohne Umstände rasch die Kajütentreppe hinauf.

»Wohin gehen wir denn, was gibt es – –?« jammerte sie.

»Wir müssen zurück«, rief Jonas wild. »Ich habe mir’s anders überlegt. Frag jetzt nicht, oder es könnte dich oder sonst jemanden das Leben kosten. Halt, halt, wir steigen aus! – Hören Sie denn nicht, Maat? Wir wollen an Land!«

In wahnsinniger Hast wandte er sich dann noch einmal um, warf Tom einen finstern Blick zu und drohte ihm mit der geballten Faust. – – Es gibt wohl nicht viele menschliche Gesichter, die eines Ausdrucks fähig gewesen wären, gleich dem, mit welchem er diese Gebärde begleitete.

Dann schleppte er Gratia hinauf, und Tom folgte ihnen. Über das Verdeck, über das schwankende Brett und den Kai hinauf zerrte er sie, ohne sie eines Blickes zu würdigen und fortwährend unter den Gesichtern oben nach jemandem, den er offenbar suchte, umherspähend. Dann wandte er sich plötzlich nach Tom um und rief ihm mit einem fürchterlichen Fluch zu:

»– – – Wo ist er denn?«

Ehe Tom in seiner Entrüstung und seinem Erstaunen noch eine Silbe als Antwort auf die Frage, die er so wenig verstand, hervorbringen konnte, drängte sich ein Herr heran und begrüßte Jonas Chuzzlewit. Es war ein Gentleman von etwas ausländischem Aussehen, mit schwarzem Schnurr- und Backenbart, und er sprach mit so höflicher Ruhe und Gelassenheit, daß der Unterschied gegen Mr. Chuzzlewits verstörtes und verzweifeltes Benehmen seltsam abstach.

»Mein lieber Mr. Chuzzlewit«, sagte der Herr und lüftete vor Gratia den Hut, »ich bitte zwanzigtausendmal um Verzeihung. Ich bedauere wirklich unendlich, Sie von einem so hübschen Ausflug abgehalten zu haben – ich kann mir ja vorstellen, wie charmant es für Sie gewesen wäre, mit Ihrer Frau eine Spazierfahrt zu machen – äh – wenn ich auch selbst nicht das Glück der Häuslichkeit aus eigener Erfahrung kenne – äh – aber der Bienenstock, mein lieber Freund, der Bienenstock – bitte, wollen Sie mich nicht vorstellen.«

»Mr. Montague«, stellte Jonas vor, und es schienen ihm die Worte im Munde zu quellen, – »meine Frau.«

»Der unglücklichste und reuevollste unter allen Menschen, Mrs. Chuzzlewit«, fuhr der fremde Gentleman fort, »da ich die Ursache sein mußte, Ihren Ausflug so schnöde zu vereiteln. Aber wie gesagt, mein lieber Freund, der Bienenstock – der Bienenstock. Sie haben gewiß vorgehabt, einen kleinen Abstecher nach dem Festland zu machen?«

Jonas schwieg verdrossen.

»Wahrhaftig, so wahr ich hier stehe«, rief Mr. Montague, »es tut mir unendlich – wahrhaft unendlich leid. Sie ahnen nicht, wie tief es mir geht. Aber dieser verwünschte Bienenstock in der City geht leider allen andern Rücksichten vor. Und wenn es Honig zu bereiten gilt, so muß jede Rücksicht schweigen. Das ist meine einzige Entschuldigung. – Was ist das übrigens nur für ein sonderbares Weibsbild hier rechts, das beständig Verbeugungen macht«, setzte er hinzu und blickte Mrs. Gamp an. »Ich kenne sie nicht. Kennen Sie sie vielleicht?«

»Aber natürlich kenna mi die Herrschaften«, rief Mrs. Gamp. »Und alles Gute und Schöne, und i wünschet nur, daß a jeds noch so lustig sein wird, wie’s a gwisses kleins Frauerl noch sein wird; ja ja, dös hat mir mein kleiner Finger gsagt – – – na, aber Gnädigste« – Mrs. Gamp wurde plötzlich sehr ernst – »was is Ihna denn auf a mal? Sin Sie aber blaß!«

»So – sind Sie auch da?« brummte Jonas. »Mir scheint, Sie kann man auch nie los werden.« »Ja, da bin i, daran is ka Zweifel«, rief Mrs. Gamp mit einem unwilligen Knicks. »Und da wir, die Harris und i, noch ka Bein brochen habn, so ham mir uns erlaubt, hier auf dem öffentlichen Käh a bisserl herumzuspazieren. Da kann keins was dawider haben. Das sin die Worte, wo sie noch das letzte Mal zu mir gsagt hat: ›Sara‹, hat s’gsagt, ›is dös a öffentlicher Käh?‹ – ›Liebe Harris‹, hab i gsagt, ›daran is doch ka Zweifel not. Sie kennen mi jetzt scho achtadreißg Jahr, und habn S‘ leicht jemals ghört, daß i wohin ganga war, wo mer mi net gern sicht?‹ – ›Na, liebe Sarah‹, hat die Harris gsagt, ›ganz o konträhr im Gegenteil.‹ – Und die muß es wahrhaftig wissen. – I bin ja nur a arms Weib, aber doch vergeht fast ka Stund nöt, wo man net nach mir fragt. Scho zu allen Stunden der Nacht hat mer mi ausm Bett gholt, und scho so manche Wohnungen sin mir kündigt wordn, weil die Mieter den Spektakel für an Feuerlärm ghalten ham. – I geb a zu, i geh aus, um mir mei Brot zu verdiena, aber i bin a freie Person, da gibt’s nix, und wer’s bleibn, bis i stirb. Und i fühl als a Weib und bin a schon Mutter gwesen. Aber es soll nur eins amal mei Tipferl anrührn, was mir ghört, oder a Wort sagn über dös, was i iß und trink, und wann’s noch so beliebt is bei der Herrschaft. – Marsch du, Schlampen von a Dienstmadel, sag i nacher. Entweder geht sie oder geh i. Wenn i a ka großes Verdienst hab, nehmen laß i mir nix, was mir ghört. – – – Gott behüte das Kind und rette die Mutter – sag i immer –, aber i bin a so frei, noch dazuzufügen: unterstengan S‘ Ihna, die Hebam zu betrügn, nacher werden S‘ was derlebn«, schloß sie, zog sich mit beiden Händen ihren Schal dichter über die Brust und rief wie gewöhnlich zur Bekräftigung aller Einzelheiten Mrs. Harris zum Zeugen an.

»Da Sie nun schon mal hier sind«, fiel ihr Jonas ins Wort, »täten Sie besser, sich um meine Frau ein bißchen zu kümmern und sie nach Hause zu bringen. Ich bin jetzt anderweitig beschäftigt.« Dann schwieg er plötzlich und warf Mr. Montague einen Blick zu, um ihm zu verstehen zu geben, daß er bereit sei, ihn zu begleiten.

»Tut mir unendlich leid, Sie Ihrer Gattin entführen zu müssen – – –« begann Mr. Montague. Jonas warf ihm einen finstern Blick zu, so voll des Hasses, daß Tom noch lange, lange später daran denken mußte.

»Wahrhaftig, es tut mir wirklich leid«, wiederholte Mr. Montague. »Aber weshalb haben Sie mich dazu gezwungen?«

Mit demselben finstern Blick erwiderte Jonas nach einer kurzen Pause, »Sie selbst waren schuld daran, nicht ich.«

Selbst diese wenigen Worte stieß er hervor wie jemand, der sich an Händen und Füßen gefesselt sieht und voll innerer Wut dagegen ankämpft. Selbst sein Gang, als sie gleich darauf aufbrachen, war wie der eines Gefesselten, und haßerfüllt ballte er die Fäuste und biß die Lippen zusammen. Dann bestiegen sie die vornehme Equipage, die auf sie wartete, und fuhren davon.

Die ganze seltsame Szene war so rasch vor sich gegangen und hatte auf das Gewühl ringsum so wenig Eindruck gemacht, daß es Tom, obgleich er eine Hauptrolle dabei gespielt, fast wie ein Traum vorkam. Niemand hatte, nachdem sie das Dampfboot verlassen, auf ihn geachtet. Er stand hinter Jonas, und zwar so nahe, daß er notwendigerweise jeden Satz mit anhören mußte, und in der Hoffnung, eine Gelegenheit zu finden, die Rolle, die er bei diesem so seltsamen Begebnis gespielt, aufzuklären, war er, seine Schwester am Arm, stehengeblieben, aber Jonas Chuzzlewit hatte ihn keines Blickes weiter gewürdigt, und ehe er selbst die Initiative ergreifen konnte, waren bereits alle fort.

Er spähte nach seinem Hauswirt umher, aber alles Suchen war vergebens. Aufmerksam umherblickend, bemerkte er plötzlich eine Hand, die ihm aus dem Fenster einer Droschke heraus zuwinkte. Er eilte hin und erkannte Gratia. Sie redete ihn hastig an, beugte sich aber dabei aus dem Fenster hinaus, um von ihrer Begleiterin, Mrs. Gamp, nicht gehört zu werden.

»Was hat das alles zu bedeuten?« rief sie erregt. »Gott im Himmel, was ist vorgefallen? Warum sagte er mir gestern abend, ich solle mich zu einer langen Reise vorbereiten, und man bringt uns jetzt wie Verbrecher zurück. – Ach, lieber Mr. Pinch«, rief sie und rang verzweifelt die Hände, »haben Sie doch Erbarmen! Worin auch das schreckliche Geheimnis bestehen mag – haben Sie Erbarmen, und Gott wird es Ihnen lohnen.« »Wenn es in meiner Macht stünde«, rief Tom, »glauben Sie mir, Sie würden mich nicht einen Augenblick umsonst darum bitten. Aber ich verstehe von der Sache noch weit weniger als Sie.«

Gratia zog sich wieder in die Kutsche zurück, und er sah, wie sie ihm noch einen Augenblick mit der Hand winkte; ob zum Zeichen des Vorwurfs oder der Ungläubigkeit, ob aus Schmerz oder als Lebewohl, das konnte er in der Eile und Aufregung nicht unterscheiden. Einen Augenblick später war sie fort, und Ruth und er blieben betroffen stehen und nahmen dann, tief in Gedanken verloren, ihren Spaziergang wieder auf.

Hatte Mr. Nadgett vielleicht den Mann, der nie kam, für heute morgen auf die Londoner Brücke bestellt? Eines war gewiß: nämlich, daß er in diesem Augenblick auf der Brücke stand und über die Brustwehr herab auf den Kai spähte, an dem die Dampfboote lagen. Aus Vergnügen geschah es gewiß nicht, denn für Vergnügen hatte Mr. Nadgett keinen Sinn.

Er mußte da offenbar etwas anderes zu tun haben.

34. Kapitel


34. Kapitel

Mark und Martin begeben sich in die Heimat und begegnen unterwegs einigen hervorragenden »Köpfen des Landes«

Unter den Reisenden an Bord des Dampfschiffs zog zuvörderst ein ausgemergelter Gentleman ihre Aufmerksamkeit auf sich, der, auf einem niedrigen Feldstuhl sitzend, die Beine auf ein Mehlfaß gelegt hatte, als wolle er mit seinen Fußknöcheln die Aussicht bewundern.

Er hatte straffes schwarzes Haar, in der Mitte des Kopfes gescheitelt und zu beiden Seiten über den Rockkragen niederwallend. Eine schmale Bartfranse umsäumte sein Kinn über dem bloßen Hals. Er trug einen weißen Hut, einen schwarzen Anzug, der an den Ärmeln zu lang und an den Beinen zu kurz war, schmutzige braune Strümpfe und Schnürstiefel. Sein Teint, von Natur schon unappetitlich, erschien noch schmutziger infolge der sorgsam geübten Sparsamkeit des Mannes hinsichtlich Seife und Wasser. Dasselbe traf auch bei allen waschbaren Teilen seiner Kleidung zu, die er ganz gut einmal zu seiner eigenen Bequemlichkeit sowohl wie aus Achtung für seinen Verkehr hätte wechseln können. Der Gentleman mochte ungefähr fünfunddreißig Jahre alt sein, saß unter dem Schatten eines großen grünen Baumwollschirms zu einem Häuflein zusammengekauert und kaute an seinem Tabakröllchen wie eine Kuh am Grase.

An all dem wäre nun nichts Auffälliges gewesen, denn jeder Gentleman an Bord schien mit seiner Wäscherin auf Kriegsfuß zu stehen und von früher Jugend auf das armselige, erbärmliche Geschäft, sich selbst zu waschen, aufgegeben zu haben. Überdies war jeder Gentleman sozusagen vollgepfropft mit Kautabak und, was die Gliedmaßen beim Sitzen und Liegen anbelangte, nahezu grotesk verrenkt. Im Äußern dieses Gentlemans lag jedoch eine so eigentümliche Mischung von Schlauheit und Weisheit, daß Martin sofort erkannte, er habe es hier mit einem durchaus nicht gewöhnlichen Charakter zu tun. Und schließlich stellte es sich auch heraus, daß dies tatsächlich der Fall war. »Wie geht’s, Sir?« tönte nämlich plötzlich eine Stimme in Martins Ohr.

»Wie geht’s Ihnen, Sir?« lautete Martins Erwiderung.

Der erste Sprecher war ein kleiner schmächtiger Gentleman mit einer Tuchmütze auf dem Kopf und einem langen, losen Rock aus grünwollenem Stoff, der an den Taschen mit schwarzem Samt verbrämt war. »Sie sind wohl aus Europa, Sir?«

»Allerdings«, antwortete Martin.

»Da können Sie von Glück sagen, Sir.«

Martin dachte das auch, bemerkte aber rechtzeitig, daß der Gentleman seine Bemerkung in einem ganz andern Sinne meinte, als es anfänglich geschienen.

»Da können Sie von Glück sagen, daß Sie Gelegenheit haben, unsern Elijah Pogram von Angesicht zu Angesicht kennenzulernen.«

»Ihren Elijahpogram?« versetzte Martin in der Meinung, es sei ein einziges Wort und bedeute irgendein öffentliches Gebäude.

»So ist es, Sir.«

Martin versuchte eine Miene zu machen, als ob er den Yankee verstehe, konnte aber der Sache nicht auf den Grund kommen.

»So ist es, Sir«, wiederholte der Gentleman. »Unser Elijah Pogram, Sir, sitzt in diesem Augenblick, wie er leibt und lebt, dort beim Dampfkessel«

In diesem Augenblick legte der Gentleman unter dem grünen Schirm seinen rechten Zeigefinger an die Augenbraue, als ob er soeben über höchst bedeutsame Fragen nachgrüble.

»So, so. Das also ist Elijah Pogram!« rief Martin.

»So ist es«, versetzte der Amerikaner. »Das ist Elijah Pogram.«

»Oh!« rief Martin. »Da staune ich wirklich außerordentlich!« In Wirklichkeit hatte er nicht die geringste Idee, wer Mr. Elijah Pogram sein könne, da er den Namen in seinem ganzen Leben noch nie gehört hatte.

»Wenn der Schiffskessel zerspringen sollte, Sir«, fing der Fremde wieder an, »jetzt in diesem Augenblick – so wäre dies ein Festtag im Kalender des Despotismus. In seinen Folgen für die Menschheit vielleicht ebenso groß, Sir, wie unser glorreicher vierter Juli. Jawohl, Sir, das ist seine Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram, Kongreßmitglied – einer der größten Geister unseres Landes. Sehen Sie sich einmal seine Stirne an.«

»Höchst bemerkenswert«, sagte Martin.

»So ist es, Sir. Als unser unsterblicher Chiggle, Sir, die berühmte Pogramstatue aus Marmor meißelte, die in ganz Europa zu soviel Streit und Geschrei Anlaß gab, soll er gesagt haben, die Stirne sei übermenschlich. Das war noch vor der allgemeinen Pogrambewegung und folglich eine verdammt gescheite Prophezeiung.«

»Was ist das: die Pogrambewegung?« fragte Martin, in der Meinung, es handle sich wahrscheinlich um eine Wirtshausreklame.

»Eigentlich Pogramtrutzbewegung, Sir«, verbesserte der Amerikaner.

»Ja, ja, natürlich«, rief Martin. »Wo hab ich denn meine Gedanken. Sie trotzte –«

»Sie trotzte der ganzen Welt, Sir«, ergänzte der Gentleman gravitätisch. »Die Bewegung forderte die Welt im allgemeinen heraus, sich mit uns zu messen, entwickelte das Programm der Erschließung unsrer innern Hilfsquellen, die uns instand setzen, das Universum zu bekriegen. Sie wünschen gewiß, Elijah Pogram kennenzulernen, Sir?«

»Wenn Sie die Güte haben wollten«, sagte Martin.

»Mr. Pogram«, rief der Fremde – Mr. Pogram hatte übrigens jedes Wort des Dialoges gehört – »hier steht ein Gentleman aus Europa, Sir; aus England, Sir; aber ich dächte, edeldenkende Feinde können ganz gut auf dem neutralen Boden des Privatlebens miteinander zusammenkommen.«

Der ausgemergelte Mr. Pogram schüttelte Martin die Hand, wie ein Uhrwerk, das soeben abläuft; aber quasi als Gegensatz dazu fing er gleich darauf wieder zu kauen an und bewegte langsam seine Kiefer wie ein Uhrwerk, das gerade aufgezogen wird.

»Mr. Pogram«, erklärte der Gentleman, »ist ein Diener der Öffentlichkeit. Wenn der Kongreß seine Ferien antritt, zeigt sich Mr. Pogram dem Volke in den einzelnen Bezirken der Vereinigten Freien Staaten, deren begabter Sohn er ist.«

Martin dachte, wenn seine Hochwohlgeboren Elijah Pogram zu Hause geblieben wäre und seine Schuhe allein auf Reisen geschickt hätte, daß damit der gleiche Zweck ebensogut erfüllt worden wäre; denn diese waren im Grunde genommen so ziemlich das Sehenswerteste an ihm.

Schließlich stand Mr. Pogram auf, und nachdem er ein paar Tabakknödel, die ihn in seiner Artikulation gehindert haben würden, ausgespuckt hatte, suchte er sich einen Platz, wo er sich bequem anlehnen konnte, und begann mit Martin zu plaudern, dabei sich stets mit seinem grünen Schirme beschattend.

Als er mit den Worten: »Wie gefällt Ihnen –« begann, fiel ihm Martin sofort in die Rede und ergänzte:

»Amerika, nicht wahr?«

»Jawohl, Sir«, versetzte Mr. Elijah Pogram. – Inzwischen hatte sich ein Häuflein Passagiere, um mit zuzuhören, was jetzt folgen werde, um sie versammelt, und Martin hörte den ersten Gentleman einem Herrn, sich die Hände reibend, zuflüstern:

»Geben Sie acht, Pogram wird ihm einheizen, daß er braun und blau anläuft. Mordsspaß, das.«

»Nun«, fuhr Martin nach einem kurzen Zögern fort, »ich weiß aus Erfahrung, daß ihr Amerikaner immer gern diese Frage stellt mit der Absicht, ein gewisses eingebildetes Übergewicht vis-à-vis einem Fremden zur Geltung zu bringen. Sie wollen eben nur eine ganz bestimmte Antwort zu hören bekommen und keine andere. Ich habe nun aber durchaus keine Lust, diese eine gewisse Antwort zu geben und kann es auch nicht mit gutem Gewissen tun. Deshalb will ich lieber schweigen.«

Mr. Pogram gedachte jedoch, in seiner nächsten Sitzung eine große Rede zu halten über die Urteile und Vorurteile des Auslandes und das Thema schriftstellerisch zu verwerten, und da er die »freie und unabhängige« Gewohnheit liebte, sich jede Art von »Auskunft« auf jede nur mögliche zudringliche Art zu verschaffen und sie dann öffentlich mit seinem Zwecke dienenden Verdrehungen zu benutzen, so ließ er sich nicht so leicht abspeisen und trachtete durch alle möglichen Mittel Martin seine Ansichten auf die eine oder die andere Weise herauszulocken; denn wäre ihm das nicht gelungen, so hätte er sich ja etwas erfinden müssen, und das wäre doch viel zu mühsam gewesen. Er notierte sich demgemäß im Geiste seine Antwort voraus und fing von neuem an:

»Sie kommen aus Eden, Sir. Wie hat Ihnen Eden gefallen?«

Martin sagte ihm seine Meinung über diesen Teil von Amerika ziemlich offen und in recht starken Ausdrücken.

»Sonderbar«, meinte Mr. Pogram und warf einen listigen Blick auf die Gruppe ringsum. »Der Haß gegen unser Vaterland und seine Institutionen und die nationale Antipathie im britischen Volksgebiet ist wahrhaftig tief eingewurzelt.«

»Gott im Himmel, Sir«, rief Martin. »Ist denn die Edener Landaktien-Gesellschaft mit Mr. Scadder an der Spitze mit all dem Jammer und Elend, das sie verschuldet, eine amerikanische Institution? Hat je ein Mensch gehört oder behauptet, daß sie einen Teil der hiesigen Regierungsform ausmache?«

»Ich bin der Ansicht«, sagte Mr. Pogram, abermals umherblickend, und nahm seine Rede wieder auf, wo ihn Martin unterbrochen, »der Grund liegt zum Teil in der Eifersucht und in den Vorurteilen, zum Teil in der angebotenen Untauglichkeit des britischen Volkes, die erhabenen Institutionen unseres Vaterlandes gebührend zu würdigen. Ich hoffe, Sir«, fuhr er zu Martin gewendet fort, »daß Sie in Eden die Bekanntschaft eines Gentlemans namens Chollop gemacht haben.«

»Allerdings«, gab Martin zu. »Übrigens, mein Freund hier kann diese Frage vielleicht besser beantworten als ich, da ich damals sehr schwer krank daniederlag. – Mark, der Gentleman spricht von Mr. Chollop.«

»Oh! Jawohl, Sir, jawohl, ich kenne ihn«, entgegnete Mark.

»Ein glänzendes Vorbild unseres vaterländischen Kernvolkes, Sir?« warf Pogram fragend hin.

»Jawohl, Sir«, rief Mark.

Seine Hochwohlgeboren Elijah Pogram sah seine Freunde an, als wolle er sagen: »Jetzt gebt mal acht! Gebt acht, was jetzt kommen wird!« – Ein allgemeines leises Gemurmel zollte dem Pogramgenie seinen Tribut.

»Unser Landsmann ist ein Musterbild des Menschen, wie er frisch und stark aus der Hand der Natur hervorgeht«, rief Pogram begeistert. »Er ist ein echtes Kind dieser freien Hemisphäre. Grünend wie die Gebirge unseres Landes, frisch und übersprudelnd wie unsere Salzquellen, unberührt von verpestenden Konvenienzen wie unsere weiten, grenzenlosen Prärien. Rauh mag er sein, aber das sind auch unsere Bären. Wild mag er sein, doch das sind auch unsere Büffel. Aber er ist ein Kind der Natur und ein Kind der Freiheit, und voller Stolz ruft er den Despoten und Tyrannen zu: ›Meine herrliche Heimat ist dort, wo die Sonne zur Ruhe geht.‹«

Dies stimmte teilweise auf Chollop, teilweise auf einen gewissen berüchtigten Postmeister im Westen, der vor nicht sehr langer Zeit wegen Unterschlagung aus seinem Amte entfernt werden mußte. Doch da der Mann für Mr. Pogram gestimmt, hatte dieser von seinem Sitz im Kongreß das Todesurteil auf das Haupt des unpopulären Präsidenten, der diese Unzukömmlichkeiten aufgedeckt, herabgedonnert.

Mr. Pograms Worte hatten eine glänzende Wirkung. Die Umstehenden waren entzückt, und einer von ihnen sagte laut, daß es Martin hören mußte: er schätze, der Fremde habe jetzt ein Pröbchen von der Beredsamkeit Amerikas zu kosten bekommen und betrachte sich wohl als gänzlich erledigt.

Mr. Pogram wartete, bis sich seine Zuhörer wieder beruhigt hatten, und fuhr dann zu Mark gewendet fort:

»Sie scheinen diese Ansicht nicht zu teilen, Sir?«

»Je nun«, meinte Mark, »gefallen hat mir Mr. Chollop nicht besonders; das könnte ich gerade nicht behaupten, Sir. Er kam mir vor wie ein Eisenfresser, und ich war auch nicht sonderlich entzückt, daß er mit seinen kleinen Mordwerkzeugen, die er bei sich zu führen liebt, immer so rasch bei der Hand war.« »Es ist doch höchst seltsam!« rief Mr. Pogram und hob seinen Schirm höher empor, um darunter hervor seine Umgebung besser mustern zu können. »Es ist doch höchst auffallend! Wiederum bemerken Sie den eingewurzelten Haß, den die Engländer gegen uns und unsere Institutionen hegen – –«

»Mein Gott, sind Sie aber ein sonderbares Volk!« unterbrach Martin. »Ist denn Mr. Chollop und die ganze Menschenklasse, die er repräsentiert, eine der Institutionen des Landes? Sind Revolver, Stockdegen, Bowie-Messer und dergleichen vielleicht Institutionen, auf die man stolz sein könnte? Sind blutige Duelle, rohe Kämpfe, wilde Überfälle, Niederknallen und Erstechen auf offener Straße Institutionen von Amerika? Vielleicht bekommt man nächstens noch zu hören, daß Ehrlosigkeit und Betrug gleichfalls zu den ›Institutionen‹ dieser großen Republik gehören.«

Kaum waren diese Worte seinen Lippen entflohen, da blickte seine Hochwohlgeboren Elijah Pogram schon wieder bedeutsam umher.

»Dieser krankhafte Haß gegen unsere Institutionen«, bemerkte er, »ist wirklich ein vortreffliches Studium für den Psychologen. – – Er spielt jetzt gar auf die ›Repudiation‹ an.«

»Ach Gott, Sie können ja alles, wenn Sie wollen, zur Institution machen«, meinte Martin lachend, »und ich gestehe, ich bin schon bald so weit, daß ich schließlich alles für möglich halte. Aber der größte Teil von alledem umfaßt bei uns eine einzige ›Institution‹, und die nennen wir Old Bailey oder Zuchthaus.«

Da in diesem Augenblick die Glocke zum Dinner rief, rannte alles nach der Kajüte, und auch Mr. Elijah Pogram wurde von solcher Eile ergriffen, daß er ganz vergaß, seinen Regenschirm zuzumachen, und sich mit ihm dermaßen in der Kajütentüre verklemmte, daß man ihn nur mit Mühe wieder befreien konnte. Ein paar Minuten lang entfesselte diese Störung fast eine Revolution unter den heißhungrigen Passagieren hinter ihm, die schon im Geiste die Teller sahen, die Messer und Gabeln arbeiten hörten und genau wußten, was geschehen würde, wenn sie versäumten, sich rechtzeitig Plätze zu erobern. Sie rasten förmlich, und mehrere ehrenwerte Bürger, die bereits an der Tafel saßen, es bemerkten und trachteten, die Situation für sich nach Kräften auszunutzen, gerieten infolge ihrer unnatürlichen Anstrengungen, alles aufgetragene Fleisch hinunterzuschlingen, bevor die andern kämen, in Todesgefahr, so daß die meisten von ihnen zu ersticken drohten. Endlich jedoch wurde die Regenschirmbarrikade mit Todesmut gestürmt und die Festung genommen. Nach hartnäckigem Kampfe befanden sich schließlich Elijah Pogram und Martin Seite an Seite, wie etwa im Parterre eines Londoner Theaters, und die nächsten vier Minuten schnappte Mr. Pogram von allem, was noch zu erwischen war, wie ein Rabe große Brocken auf. Nachdem er sein Dinner, das sich so ungewöhnlich lange verzögerte, glücklich hinter sich hatte, nahm er seine Unterhaltung mit Martin wieder auf und bat ihn, sich ihm gegenüber ohne Rückhalt auszusprechen, denn er sei ein Philosoph und erfreue sich infolgedessen einer unerschütterlichen Seelenruhe. Martin vernahm das mit Vergnügen, denn er hatte sich bereits mit der Vermutung getragen, Mr. Elijah Pogram sei ein Anhänger jener gewissen hemmungslosen republikanischen Ideen und pflege seine Gesinnungen mehr mit Messer und Revolver als mit Feder und Tinte zum Ausdruck zu bringen.

»Was halten Sie zum Beispiel von meinen anwesenden Landsleuten?« fragte Mr. Elijah Pogram.

»Ach Gott, es sind recht nette Leute«, meinte Martin.

Und das waren sie allerdings, wenigstens sprach niemand ein Wort; jeder hatte, wie in Amerika in solchen Fällen üblich, nur auf seine Privatschlingorgane Bedacht; genauer gesagt, benahm sich der größte Teil der Anwesenden bei Tisch wie das Schwein beim Trog.

Seine Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram warf Martin einen Blick zu, der soviel ausdrücken sollte wie: »Ich weiß ganz gut, das ist nicht dein Ernst«, und bald erhielt er auch eine Bestätigung dieser Ansicht.

Gegenüber saß ein Gentleman, der im buchstäblichsten Sinne des Wortes mit Tabaksaft durchtränkt war. Ein kleiner Bart aus Tabakjauche, an seinen Mundwinkeln und an seinem Kinn eingetrocknet, zierte seine Lippe. Das bedeutete indes in Amerika einen so gewöhnlichen Schmuck, daß er kaum Martins Aufmerksamkeit fesselte, allein der gute Bürger, der offenbar darauf brannte, seine republikanische Gleichheit jedem Fremden zu beweisen, zog jetzt sein Messer durch den Mund und schnitt sich dann von der Butter ab, eben als Martin sich davon nehmen wollte. Die ganze Sache hatte etwas derartig »Saftiges« an sich, daß einem Gassenkehrer dabei übel geworden wäre.

Als Mr. Elijah Pogram, dem dies natürlich ein Alltagsereignis war, bemerkte, daß Martin verekelt seinen Teller zurückschob und auf die Butter verzichtete, geriet er in großes Entzücken darob und sagte:

»Wirklich, ich muß gestehen – der geradezu krankhafte Haß von euch Engländern gegen die Institutionen unseres Landes ist geradezu erstaunlich.«

»Meiner Seel!« fuhr Martin auf. »Sie bilden da Zusammenhänge, daß es wirklich unglaublich ist. Da macht einer mit Absicht ein Schwein aus sich, und das nennen Sie eine – ›Institution‹!«

»Es mangelt uns an Zeit, uns mit Formalitäten abzugeben, Sir«, erklärte Mr. Elijah Pogram.

»Abzugeben?!« rief Martin. »Ich dächte, es handelt sich hier einfach darum, daß der Herr drüben vorzieht, sich die Manieren eines Wilden anzueignen und jede gute selbstverständliche Sitte beiseite zu lassen, die doch jedem Gebildeten vorschreiben muß, nicht andern Leuten geradezu absichtlich Ekel einzuflößen. Ich bin zum Beispiel überzeugt, daß der Herr da drüben von Haus aus ganz gut weiß, was schicklich ist, und nur glaubt, seine ›Unabhängigkeit‹ dadurch zu beweisen, daß er sich wie ein Vieh aufführt.«

»Er ist aus unserm Lande gebürtig und daher von Natur aus vorurteilsfrei und unverfroren«, sagte Mr. Pogram.

»Bedenken Sie einmal, wozu dies alles noch führen soll, Mr. Pogram!« stellte Martin vor. »Die große Masse Ihrer Landsleute fängt an, hartnäckig gewisse kleine Regeln zu vernachlässigen, die mit Vornehmheit, Sitte, Regierung oder Vaterland durchaus nichts zu tun haben, sondern lediglich Dinge des Anstandes und der gewöhnlichsten Sittlichkeit sind. Sie leisten Ihnen darin Vorschub, indem Sie alle Angriffe auf derartige gesellige Verstöße mit beißenden Antworten erwidern und die größte Unflätigkeit als schönen Nationalzug erklären. Aber aus Mißachtung kleinerer Verpflichtungen entsteht allmählich auch das Bedürfnis, sich jeder Rücksicht auf die größeren zu entäußern und, sagen wir einmal, schließlich die Bezahlung jeder Schuld im allgemeinen zu verweigern. Was daraus folgen wird, weiß ich nicht, aber jeder von uns muß, wenn er nur will, einsehen, daß nur etwas Ähnliches daraus resultieren kann wie der Vorgang, der einen Baum zum Verwelken bringt, wenn seine Wurzel anfängt zu faulen.«

Mr. Pogram war zu sehr Philosoph, um dies einsehen zu können. Sie gingen also wieder auf das Verdeck, wo der Amerikaner seinen frühern Posten einnahm, weiterkaute und schließlich infolge der unvermeidlichen Tabakvergiftung in einen an Lethargie grenzenden Zustand versank.

Nach einer mehrtägigen ermüdenden Fahrt gelangten sie wieder an demselben Kai an, wo Mark am Abend ihres Aufbruchs nach Eden beinahe das Schiff versäumt hätte. Kapitän Kedgick stand gerade dort und schien sehr überrascht, als er die beiden an Land steigen sah.

»Zum Teufel nochmal«, rief der Kapitän, »na, das ist aber merkwürdig!«

»Wir können doch bei Ihnen übernachten, Kapitän?« fragte Martin. »Schätze, Sie können wohl im Hotel bleiben, wenn Sie Lust dazu haben«, entgegnete Mr. Kedgick kühl. »Aber unsern Leuten wird’s nicht sonderlich gefallen, daß Sie wieder zurückkommen.«

»Wieso denn nicht, Kapitän Kedgick?« fragte Martin.

»Man hat bestimmt erwartet, Sie würden sich dort dauernd niederlassen«, entgegnete Kedgick achselzuckend. »Sie können doch nicht leugnen, daß sich die Leute in diesem Punkte enttäuscht sehen müssen?«

»Was meinen Sie damit?« fragte Martin erstaunt.

»Sie hätten sie damals nicht ›empfangen‹ sollen«, erklärte der Kapitän, »das hätten Sie bleiben lassen müssen

»Aber, lieber Freund«, entgegnete Martin, »habe ich denn darauf bestanden? Es geschah doch von meiner Seite durchaus nicht freiwillig. Sagten Sie mir denn nicht, es gäbe einen Skandal und es würde mir das Fell über die Ohren gezogen wie einer wilden Katze, wenn ich’s abschlüge? Wurde mir denn nicht sogar gedroht, wenn ich die Leute nicht empfinge?«

»Davon weiß ich nichts«, versetzte der Kapitän. »Aber wenn unsern Leuten mal der Kamm schwillt, so wird er hochrot, das kann ich Ihnen versichern.«

Mit diesen Worten blieb er zurück, um sich Mark anzuschließen, während Martin mit Mr. Elijah Pogram voraus zum National-Hotel ging.

»Sie sehen, Kapitän, wir sind glücklich und lebendig wieder zurückgekommen«, fing Mark wieder an.

»Hätt es nicht gedacht«, brummte der Kapitän. »Der Mensch hat kein Recht, ein öffentlicher Charakter zu sein, wenn er sich nicht auch den öffentlichen Voraussetzungen fügt. Unsere fashionable Welt wäre nicht zu dem Lever gekommen, wenn sie das gewußt hätte.«

Kein Zureden vermochte den Kapitän umzustimmen: beharrlich bestand er darauf, es übelzunehmen, daß die beiden Engländer nicht in Eden gestorben waren. Die Gäste des National-Hotels hatten hinsichtlich dieses Punktes gleichfalls sehr ausgesprochene Ansichten, und es war ein großes Glück, daß ihnen keine Zeit blieb, über ihre Enttäuschung nachzudenken, denn die Anwesenheit seiner Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram forderte unbedingt, daß man ihm sofort ein Lever gab.

Da das gemeinschaftliche Souper bei Ankunft des Dampfbootes bereits vorüber war, so nahmen Martin, Mark und Mr. Pogram den Tee, und was dazu gehörte, an der öffentlichen Tafel gesondert ein. Und gleich darauf trat die Deputation ein, die dem Kongreßmitglied die zugedachte Ehre ankündigen sollte. Sie bestand aus sechs Gentlemen und einem noch im Stimmwechsel begriffenen Jüngling.

»Sir!« begann der erste Sprecher.

»Mr. Pogram!« schrillte der Jüngling dazwischen.

Der Sprecher, dadurch an seine Anwesenheit erinnert, stellte ihn vor:

»Doktor Ginery Dunkle, Sir! Ein Herr von ganz hervorragender poetischer Begabung. Er ist erst vor kurzem hier angekommen und bedeutet für uns eine Akquisition ersten Ranges, Sir. Ich kann Ihnen das versichern. Jawohl, Sir. Hier – Mr. Jodd, Sir. Mr. Izzard, Sir. Mr. Julius Bib, Sir.«

»Julius Washington Merryweather Bib«, ergänzte Mr. Bib. »Ich bitte um Verzeihung, Sir, pardon: also Mr. Julius Merryweather Bib – aus der Holzbranche, Sir; ein sehr angesehener Gentleman. Und hier – Oberst Groper, und hier – Professor Piper. Mein Name, Sir, ist Oscar Buffum.«

Jeder der vorgestellten Herren trat bei Nennung seines Namens einen Schritt vor, nickte seiner Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram zu, schüttelte ihm die Hand und glitt dann wieder in den Hintergrund. Als die Vorstellungszeremonien beendet waren, fing der erste Sprecher wieder an.

»Sir!«

»Mr. Pogram!« schrillte der Jüngling abermals dazwischen.

»Vielleicht«, wendete sich der Sprecher sofort an ihn, »sind Sie so gütig, Doktor Ginery Dunkle, unsern kleinen Antrag dem Herrn gegenüber vorzutragen.«

Dem schrillen jungen Mann konnte nichts erwünschter sein; sofort trat er vor.

»Mr. Pogram! Sir! Einige unserer Mitbürger, Sir«, begann er, »vernahmen von Ihrer Ankunft im National-Hotel und wünschten aus Anerkennung Ihrer Dienste für das Vaterland, Sir, das Vergnügen zu haben, Sie näher kennenzulernen und sich mit Ihnen auszusprechen in einem Zeitpunkt, der für unser ganzes großes freies Vaterland so bedeutsam ist.«

»Hört, hört!« rief Oberst Groper mit lauter Stimme. »Sehr gut, hört, hört! Ausgezeichnet!«

»Und deshalb, Sir«, fuhr der junge Doktor fort, »erbitten sie sich die Ehre Ihrer Gesellschaft bei einem kleinen Lever, Sir – um acht Uhr an der Damentable d’hôte.«

Mr. Pogram verbeugte sich und erwiderte:

»Mitbürger!«

»Sehr gut!« rief der Oberst. »Hört, hört! Ausgezeichnet!«

Mr. Pogram dankte dem Oberst mit einer Verbeugung und fing dann wieder an:

»Ihre Anerkennung, meine Herren, meiner Bemühungen in Sachen der gemeinsamen Wohlfahrt geht mir sehr zu Herzen. Zu allen Zeiten und an allen Orten – an dem Damentable d’hôte, meine Herrn, und auf dem Schlachtfelde – werde ich es mir zur Ehre anrechnen, mit Ihnen zusammenzutreffen. Und mögen, meine Freunde, dereinst die Worte auf meinem Grabe geschrieben stehen: ›Er war Kongreßmitglied unseres gemeinsamen Vaterlandes und unermüdlich in seinem Amte‹.«

»Das Komitee, Sir«, unterbrach ihn der schrille Jüngling, »wird Ihnen fünf Minuten vor acht Uhr seine Aufwartung machen. Gestatten Sie, daß ich mich jetzt empfehle, Sir.«

Mr. Pogram drückte ihm und allen andern Herrn noch einmal die Hand.

Als die Gentlemen sich fünf Minuten vor acht Uhr wieder einstellten, leierten sie einer nach dem andern mit melancholischer Stimme den Bewillkommnungsgruß herunter: »Wie geht es Ihnen, Sir.«

Sie wechselten dann mit Mr. Pogram abermals Händedrücke, als seien sie in der Zwischenzeit mindestens ein Jahr über Land gewesen und träfen sich jetzt bei einem Leichenbegängnis.

Mittlerweile hatte sich Mr. Pogram ein wenig restauriert und sowohl Haare wie Gesicht hergerichtet, sorgfältig bestrebt, sich seiner Statue, die im Lande allgemein bekannt war, so ähnlich wie möglich zu machen. Es glückte ihm, und jeder Mann, der nur halbwegs normalsichtig war, rief sofort, wenn er ihn erblickte, aus: »Das ist er, wie er leibt und lebt; ganz wie er damals die Trutzrede hielt!«

Auch das Komitee hatte sich verschönt, und als es in den Table-d’hôte-Saal strömte, hörte man viele Damenhände klatschen, und Ausrufe: Pogram! Pogram! Manche Herren stiegen sogar auf die Stühle, um den berühmten Mann besser sehen zu können.

Stolz, so der allgemeine Mittelpunkt zu sein, blickte Mr. Pogram wohlgefällig umher, lächelte und bemerkte gleichzeitig zu dem schrillen jungen Herrn, er wisse wahrhaftig so mancherlei Gutes über die Schönheit der Töchter ihres gemeinsamen Vaterlandes zu sagen, aber nie habe er einen solchen Blütenkranz von Damen beisammen gesehen. Später ließ dies der schrille Jüngling zu Elijah Pograms großer Überraschung in die Zeitung setzen.

»Wir möchten Sie höflichst bitten, Sir, wenn es Ihnen angenehm ist«, meldete sich Mr. Buffum und legte Hand an Mr. Pogram, gerade, als ob er ihm Maß zu einem Rock nehmen wolle, »sich gefälligst mit dem Rücken gegen die Wand rechts in der vordersten Ecke zu stellen, damit unsere Mitbürger mehr Platz haben. Wenn Sie sich mit dem Rücken gefälligst an die eine Seite des Vorhangs anlehnen und das linke Bein hinter den Ofen stecken, Sir, so wird hoffentlich genügend Raum bleiben.«

Mr. Pogram tat, wie ihm geheißen, und keilte sich in einen Winkel, worunter seine Ähnlichkeit mit der bekannten Pogramstatue allerdings beträchtlich litt.

Sodann begann die Unterhaltung des Abends. Die Herren brachten ihre Damen herbei, stellten sie zuerst vor und erwiesen sich dann gegenseitig den gleichen Dienst. Dabei fragte man ununterbrochen Mr. Pogram, was er von dieser oder jener politischen Frage halte, musterte ihn von oben bis unten, betrachtete sich gegenseitig und machte höchst unglückliche Gesichter. Die Damen auf ihren Stühlen blickten durch ihre Lorgnons auf Mr. Elijah Pogram und sagten so laut, daß man es unfehlbar hören mußte: »Wenn er nur endlich spräche! Warum spricht er denn eigentlich nicht? Man fordere ihn doch zum Reden auf!«

Von Zeit zu Zeit warf Mr. Elijah Pogram einen Blick auf die Damen, dann wieder auf die Decke und gab gelegentlich mit der Miene eines Senators kurze Gutachten ab, wenn man ihn darum anging. Das Ganze machte den Eindruck, als ob der große Zweck der Zusammenkunft lediglich darin bestünde, Seine Hochwohlgeboren um keinen Preis aus seiner Ecke herauszulassen und ihn dort fest eingekeilt zu halten.

Plötzlich verkündete ein Tumult vor der Türe die Ankunft irgendeiner Notabilität, und gleich darauf sah man einen sehr aufgeregten ältlichen Gentleman sich in die Massen stürzen, um sich einen Weg zu Seiner Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram zu bahnen. Martin, der sich in einer fernen Ecke ein kleines Lauschwinkelchen gesichert hatte und Mark an seiner Seite wußte, vermeinte diesen Gentleman zu kennen, wenn er auch nicht gleich wußte, wo er ihn hintun sollte. Aber sofort wurde ihm jeder Zweifel genommen, denn der Herr rief mit Stentorstimme, wobei ihm die Augen fast aus dem Kopfe quollen: »Sir, gestarteten Sie – Mrs. Hominy!«

»Gott segne das Frauenzimmer, Mark« rief Martin. »Da ist sie schon wieder!«

»Ja, da kommt sie«, lachte Mr. Tapley. »Pogram kennt sie, wie man sieht. Sie ist doch eine öffentliche Person! – Hat stets ein wachsames Auge aufs Vaterland, Sir! Wenn der Gatte dieser Dame meinen Prinzipien huldigt, so muß er ein ungemein ›fideler‹ alter Herr sein.«

Die Menge bildete eine Gasse, und Mrs. Hominy schritt mit aristokratischem Gang, das Taschentuch in der Hand und die klassische Haube auf, langsam wie eine Prozession hindurch. Mr. Pogram sprach sein Entzücken aus, sie zu sehen, und sofort trat allgemeine Stille ein. Man begriff, wenn eine Frau wie Mrs. Hominy mit einem Manne wie Mr. Pogram zusammentraf, so mußte notwendigerweise etwas Höchstinteressantes dabei herauskommen. Die ersten Begrüßungen wurden mit leiser Stimme ausgetauscht, wurden aber bald hörbarer, denn Mrs. Hominy war sich ihrer Stellung bewußt und sich darüber klar, was man von ihr erwartete. Anfangs setzte sie dem berühmten Kongreßmitglied ziemlich scharf zu und kanzelte es wegen eines gewissen von ihm abgegebenen Votums herunter, das sie als die »Mutter der modernen Gracchen« ausdrücklich durch eine Zeile gesperrt gedruckten Textes abzulehnen für nötig gefunden hätte. Mr. Pogram wich einer Erwiderung geschickt durch zeitgemäße Anspielung auf das sternengesprenkelte Banner aus, das die merkwürdige Kraft zu haben scheine, sooft es gehißt werde, jeden ausbrechenden Sturm im Keim zu ersticken – und die Sache lief glatt ab. Es kamen sodann gewisse Fragen über Tarife, Handelsverträge, Grenzstreitigkeiten und Import und Export zur Verhandlung. Mrs. Hominy redete nicht nur, wie man sagt, wie ein Buch, sondern rezitierte geradezu fort und fort den Inhalt ihrer eigenen Werke.

»O Gott, was ist das!« rief sie plötzlich und öffnete ein kleines Billett, das ihr ein sehr erhitzt aussehender Gentleman einhändigte. »Sagen Sie! Oh, man denke!«

Und laut las sie folgendes vor:

»Zwei literarische Damen vermelden der ›Mutter der modernen Gracchen‹ ihr Kompliment und bitten ihre talentvolle Mitbürgerin, sie freundlichst Seiner Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram vorzustellen, den sie beide so oft und naturgetreu als Statue von der Hand des großen Meisters, Mr. Chiggle, bewundert haben. Auf eine mündliche Andeutung von Seiten der ›Mutter der modernen Gracchen‹, daß sie dem Gesuche der beiden Damen willfahren wolle, würden sie sich sodann das Vergnügen nehmen, sich der glänzenden Versammlung, die das patriotische Vorgehen eines Pogram zu ehren gedenkt, anzuschließen. Es würde dies vielleicht dazu beitragen, ein weiteres Band der Einigkeit zwischen den beiden Damen und der ›Mutter der modernen Gracchen‹ zu knüpfen; – um so mehr, als beide Damen hinsichtlich Denkungsweise vollständig zum Transzendentalismus gravitieren.«

Sofort erhob sich Mrs. Hominy, eilte zur Tür und kam nach einer Minute mit den beiden Damen zurück, die sie mit der ganzen Würde, die ihr so eigentümlich war, durch die Gasse in dem Gedränge dem großen Mr. Elijah Pogram zuführte. Das Ganze glich, wie der schrille junge Mann verzückt ausrief, aufs Haar der letzten Szene aus dem Coriolan.

Eine der Damen trug eine braune Perücke von bemerkenswertem Umfang. An der Stirne der andern stak, durch irgendein geheimnisvolles Mittel befestigt, eine riesige Kamee in der Form und Größe einer Kirchweih-Himbeertorte, die im Zentrum das Kapitol zu Washington erblicken ließ.

»Miss Toppit und Miss Codger«, stellte Mrs. Hominy vor.

»Codger, scheint mir, ist der Name der Dame, den ich so oft in den englischen Zeitungen als den der ältesten hier lebenden Einwohnerin gelesen habe«, flüsterte Mark.

»Einem Pogram durch eine Mrs. Hominy vorgestellt zu werden«, begann Miss Codger, »bedeutet in der Tat ein außerordentliches Moment in dem Eindruckskomplex dessen, was wir gemeinhin unser Gefühl nennen. Warum wir es so nennen oder wieso es überhaupt Eindrücke aufnimmt oder ob wir überhaupt eindrucksfähig sind oder ob es wirklich, wie uns unsere Sinne vortäuschen, einen Pogram und eine Mrs. Hominy gibt – oder ob nicht vielmehr ein tätiges Prinzip obwaltet, dem wir unbewußt diesen Titel geben –, das ist ein viel zu verwickeltes philosophisches Thema, als daß es im gegenwärtigen Augenblick eine Kritik vertrüge.«

»Geist und Materie«, fügte die Dame in der Perücke hinzu, »gleiten rasch in den Strudel der Unendlichkeit hinab. Auf heult das Erhabene gen Himmel, und sanft schlummert das stille Ideal in den verschwiegenen Kammern der Phantasie. Es zu hören ist süß, aber wild auflachet der ernste Philosoph und sagt zum Grotesken: Was soll das? Haltet mir fest dieses Phantom. Gehet und bringet es her! Und so entschwindet die Vision.«

Nach diesen Worten ergriffen die beiden Damen Mr. Pograms Hände und drückten sie an ihre Lippen. Sodann rief die Mutter der modernen Gracchen nach Stühlen, damit die drei literarischen Damen allen Ernstes beginnen könnten, den armen Mr. Pogram regelrecht zu bearbeiten und in die Enge zu treiben, auf daß er sich in seinen glänzendsten Farben zeige.

Wieso Mr. Pogram sogleich aus den Tiefen seines Geistes herauftauchte und die drei literarischen Damen nie darin gewesen waren, ist nicht des Erzählens wert. Genug, alle vier warfen, um sich über Wasser zu halten, gewaltig nach allen Seiten mit großen Worten um sich und faselten das Blaue vom Himmel herunter. Natürlich war man allgemein der Ansicht, daß hier der schärfste geistige Wettkampf stattfand, den man je im National-Hotel erlebt. Dem schrillstimmigen Jüngling standen des öftern die Tränen in den Augen, und die ganze Versammlung wurde gewahr, daß ihr vor lauter Denken der Kopf brummte. Als schließlich noch das Komitee Mr. Elijah Pogram aus seiner Ecke erlösen mußte und wohlbehalten wieder in das nächste Zimmer geleitete, glühte alles förmlich vor Bewunderung.

»Eine Bewunderung, die sich Luft machen muß«, erklärte Mr. Buffum, »wenn man nicht bersten soll. Ich bin Ihnen wahrhaft dankbar, Mr. Pogram. Ich fließe über, Sir, vor stolzer Verehrung vor Ihnen und tiefer Erregung. Das Gefühl, dem Ausdruck zu geben ich vorschlagen möchte, Sir, heißt: ›Mögen Sie immer so unerschütterlich bleiben, Sir, wie Ihre Marmorstatue; mögen Sie stets ein so großer Schrecken für Ihre Feinde bleiben, wie Sie es jetzt sind.‹«

Mr. Pogram dankte seinem Freund und Landsmann für die liebenswürdigen Wünsche, und das Komitee begab sich nach abermaligem feierlichem Händeschütteln zu Bett. Nur der Doktor eilte noch in eine Zeitungsredaktion, um dort ein kurzes Gedicht niederzuschreiben, zu dem ihn die Ereignisse des Abends begeistert hatten. Es begann mit den »Sternen auf dem Banner der Republik« und trug den Titel: »Ein Fragment, geistig empfangen anläßlich eines Begebnisses, bei dem Seine Hochwohlgeboren Mr. Elijah Pogram sich mit drei von Columbias schönsten Töchtern in eine philosophische Dissertation einließ«, von Doktor Ginery Dunkle, Troja.

Wenn sich Mr. Pogram so sehr auf sein Bett freute wie Martin, so war er für seine Mühewaltung jedenfalls reichlich belohnt. Am nächsten Tage verkauften Martin und Mark ihre Habseligkeiten um jeden Preis an dieselben Händler zurück, von denen sie sie erworben, traten dann ihre Weiterreise an und wurden abermals Mr. Pograms Reisegefährten bis kurz vor New York. Als das berühmte Kongreßmitglied im Begriffe stand, sie zu verlassen, wurde es plötzlich höchst gedankenschwer und nahm, nachdem es eine Weile vor sich hingebrütet, Martin beiseite.

»Wir müssen uns jetzt trennen, Sir«, begann es.

»Ach, lassen Sie sich das nicht so zu Herzen gehen«, tröstete Martin, »wir müssen uns dareinschicken.«

»Darum handelt es sich nicht, Sir!« entgegnete Mr. Pogram. »Keineswegs! Aber ich sähe es gern, wenn Sie ein Exemplar von meiner Trutzrede annehmen wollten.«

»Ich danke Ihnen verbindlichst, Sir«, sagte Martin. »Sie sind sehr gütig. Es würde mich sehr freuen.«

»Auch darum handelt es sich nicht, Sir«, fing Pogram wieder an. »Hätten Sie den Mut, ein Exemplar nach England mitzunehmen?«

»Natürlich«, versicherte Martin, »warum denn nicht.«

»Die Rede ist etwas scharf, Sir«, gab Pogram zu bedenken.

»Das macht nichts«, meinte Martin. »Wenn Sie wollen, nehme ich ein ganzes Dutzend mit.«

»Nein, Sir«, wehrte Mr. Pogram ab; »ein Dutzend, das wäre mehr als zuviel. Also, wenn Sie wirklich vor der Gefahr nicht zurückschrecken, Sir, so ist hier ein Exemplar für Ihren Lordkanzler «, er zog eine Broschüre aus der Tasche, »und hier ein zweites für ihren ersten Staatssekretär. Ich wünschte, daß die Leute, Sir, es läsen und meine Gesinnungen kennenlernten, damit sie später nicht Unkenntnis vorschützen können. Aber immerhin möchte ich nicht, daß Sie sich meinetwegen in Gefahr begeben, Sir!«

»Es ist nicht die geringste Gefahr dabei, versichere ich Ihnen«, lachte Martin, dann steckte er die Pamphlete in die Tasche und verabschiedete sich von Mr. Pogram.

Mr. Bevan hatte ihm geschrieben, daß er sie zu einer bestimmten Zeit – und glücklicherweise kamen sie zurecht – in einem bestimmten Hotel in der Stadt erwarten wolle. Ohne Verzug begaben sich Mark und Martin dorthin und hatten die Freude, ihren wackern Freund bereits dort zu finden und sich herzlich und warm von ihm aufgenommen zu sehen.

»Es tut mir wirklich sehr leid und beschämt mich tief«, sagte Martin, »daß ich Ihnen so zur Last fallen muß, aber werfen Sie nur einen Blick auf unsere Kleidung, und Sie werden erkennen, wie heruntergekommen wir sind.«

»Ich bin weit davon entfernt zu glauben, daß ich Ihnen einen Dienst geleistet habe, der der Rede wert wäre«, unterbrach ihn Mr. Bevan. »Ich muß mir vielmehr Vorwürfe machen, daß ich unwissentlich die Hauptursache Ihrer Leiden geworden bin. Ich hätte mir ebensowenig träumen lassen, daß Sie nach Eden gehen oder sich hier überhaupt noch goldene Berge versprechen würden, als ich daran dachte, selber nach Eden zu gehen.«

»Die Sache ist so: Ich faßte nämlich den verrückten Entschluß, und zwar in sanguinischer Unbesonnenheit«, erklärte Martin. »Am liebsten möchte ich gar nichts mehr davon hören. Mark da wurde überhaupt nicht in der Sache gefragt.«

»Nun, er wird wohl auch in anderer Hinsicht keine Stimme gehabt haben«, meinte Mr. Bevan mit einem Lachen, das klar verriet, wie genau er Marks und Martins Charaktere durchschaute.

»Ich fürchte, allerdings keine besondere«, gab Martin errötend zu, »aber man lebt, um zu lernen, Mr. Bevan. Und wenn man dann infolge eigener Unbesonnenheit knapp vor dem Tode steht, so lernt man’s nur um so schneller.« »Was haben Sie jetzt im Sinn?« fragte Mr. Bevan. »Sie gedenken wohl sofort nach England zurückzukehren?«

»Allerdings, allerdings«, versetzte Martin hastig, denn er bangte schon vor dem Gedanken an irgendeine andere Möglichkeit. »Hoffentlich ist das auch Ihr Rat?«

»Gewiß. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie nach Amerika kamen. Freilich kommt derartiges leider nur zu oft vor, als daß wir weiter viel Worte drüber zu verlieren brauchten. Sie wissen natürlich nicht, daß das Schiff, in dem Sie mit unserm Freund, dem General Fladdock, die Reise hierher gemacht haben, im Hafen liegt?«

»Wirklich?« rief Martin.

»Ja. Die Fahrtliste besagt, daß es morgen in See gehen wird.«

Das war eine verlockende und doch zugleich sehr peinliche Nachricht, denn Martin begriff, daß er nicht hoffen durfte, an Bord eines derartigen Schiffes irgendeine Beschäftigung zu erhalten. Das Geld, das er noch besaß, reichte nicht zu einem Viertel hin, die Summe zurückzuzahlen, die er sich bereits ausgeborgt; und wenn es selbst zur Heimreise gelangt hätte, würde er es doch kaum über sich gewonnen haben, alles dafür auszugeben. Er setzte dies Mr. Bevan in Kürze auseinander und teilte ihm seinen Plan mit.

»Das ist ein ebenso verrückter Einfall wie der, nach Eden zu gehen«, versetzte der Amerikaner. »Sie müssen einfach wegfahren, und zwar reisen wie ein Christ – wenigstens wie es ein Christ als Vorderkajütenpassagier tun kann – und mir noch einige Dollar mehr schuldig werden, als Sie beabsichtigten. Wenn Mr. Mark im Schiff drüben nachsehen will, wie viele Passagiere angemeldet sind, und findet, daß Sie an Bord gehen können, ohne im Zwischendeck direkt zu ersticken, so lautet mein Rat: Fahren Sie. Wir beide können uns inzwischen in der Stadt umsehen. Zu Norris brauchen wir ja nicht zu gehen – außer es läge Ihnen besonders viel daran! –, und am Nachmittag können wir dann alle drei gemeinschaftlich dinieren.«

Martin konnte nur seinen Dank stammeln, und damit war die Sache abgemacht.

Als Mark das Zimmer verließ, eilte ihm Martin nach und riet ihm, unter allen Umständen Plätze auf der »Schraube« zu belegen, und wenn sie selbst auf dem bloßen Deck kampieren müßten: ein Auftrag, den Mr. Tapley, der natürlich genau so dachte, bereitwilligst zu besorgen versprach.

Als er später wieder mit Martin allein zusammentraf, war er in prächtigster Laune und hatte offenbar etwas mitzuteilen, auf das er sich nicht wenig zugute tat.

»Ich habe Mr. Bevan hinters Licht geführt, Sir«, sagte er grinsend vor Vergnügen.

»Mr. Bevan hinters Licht geführt!?« wiederholte Martin.

»Der Koch der ›Schraube‹ hat das Schiff verlassen und gestern geheiratet«, versetzte Mr. Tapley.

Martin sah ihn ratlos an.

»Als ich nun an Bord kam und man mich erkannte«, fuhr Mark fort, »kam der Maat zu mir und fragte mich, ob ich nicht auf der Heimreise die Stelle des Kochs übernehmen wolle. ›Sie sind ja daran gewöhnt‹, sagte er, ›und haben auf der Herfahrt sowieso für jedermann gekocht.‹ Und so bin ich jetzt Koch«, fügte Mark hinzu, »wenn ich auch einen Eid drauf leisten kann, daß ich mich früher nie auf dergleichen verstanden habe.«

»Und was haben Sie drauf erwidert?« fragte Martin.

»Was ich erwidert habe?« rief Mark. »Nun, ich habe gesagt, daß ich alles nehmen wolle, was ich kriegen könne. ›Wenn es sich so verhält‹, sagte der Maat, ›nun gut, dann bringen Sie mal ein Glas Rum her.‹ Und das geschah. Und mein Lohn, Sir«, rief Mark jubelnd, »bestreitet auch Ihre Überfahrt. Ich habe schon das Mangelholz in Ihr Kabuff gelegt, um es zu reservieren. Es ist die bequemste Koje rückwärts in der Ecke. – So weit wären wir jetzt. – Hoch England und Britannia drauf und dran!«

»Sie sind der famoseste Bursche, den es je gegeben hat«, jubelte Martin und drückte Mark warm die Hand. »Aber was meinen Sie damit, daß Sie sagten, Sie hätten Mr. Bevan angeführt?«

»Na, begreifen Sie’s denn nicht?« rief Mark. »Natürlich sagen wir ihm kein Wort. Wir nehmen sein Geld an, wenn wir’s auch natürlich nicht behalten wollen, schreiben ihm dann ein Briefchen, erklären ihm die ganze Sache, tun das Geld hinein und lassen ’s im Gasthof mit dem Auftrag, es ihm erst zuzustellen, wenn wir fort sind. Verstehen Sie jetzt?«

Martins Entzücken über diesen Einfall kannte keine Grenzen, und der Vorschlag Mr. Tapleys wurde natürlich angenommen. Sie verbrachten zu dritt einen heitern Abend, blieben im Hotel über Nacht, besorgten den Brief und gingen am nächsten Morgen mit so leichtem Herzen an Bord, wie es einem Menschen nach soviel erlebtem Elend nur zumute sein kann.

»Leben Sie wohl – und tausendmal Dank«, sagte Martin zu Mr. Bevan. »Wie werde ich Ihnen jemals für all Ihre Güte danken können!«

»Wenn Sie je ein reicher oder einflußreicher Mann werden«, entgegnete Mr. Bevan, »so können Sie ja versuchen, Ihre Regierung zu veranlassen, daß sie sich mehr um ihre Untertanen kümmert, wenn diese im Ausland ihr Glück probieren wollen. Erzählen Sie, welche Erfahrung Sie selbst als Auswanderer gemacht haben, und legen Sie es der Regierung nahe, mit wie wenig Mühe viel Elend verhindert werden könnte.«

Hoi a ho! Die Ankerketten rasselten um das Gangspill. Mit vollen Segeln stach das Schiff in See, und sein breites Bugspriet deutete gerade nach England zu. Wie eine Wolke lag Amerika bald hinter den Reisenden.

»Na, Koch, über was brüten Sie so angelegentlich?« fragte Martin lustig.

»Ich habe mir soeben gedacht«, entgegnete Mark, »wenn ich nun ein Maler wäre und aufgefordert würde, den amerikanischen Adler zu malen, wie ich’s wohl angreifen sollte.«

»Sie müßten ihn eben so adlerähnlich machen, wie Sie könnten.«

»Nö«, sagte Mark. »Das wäre nichts für mich. Ich würde ihn zeichnen wie ’ne Fledermaus, weil er kein Licht verträgt – wie den Hahn auf dem Mist, weil er sich so patzig macht – wie ’n Pfau wegen seiner Eitelkeit – und wie ’n Strauß, weil er glaubt, man sieht ihn nicht, wenn er den Kopf in den Sand steckt.«

30. Kapitel


30. Kapitel

Es zeigt sich, daß selbst in dem besten Familienleben die Harmonie gestört werden kann

Wie es die erste Sorge des Chirurgen ist, wenn er ein Glied amputiert hat, die Pulsadern, die sein grausames Messer durchschnitten, zu unterbinden, so ist es die Pflicht dieser Erzählung, die in ihrem schonungslosen Verlauf vom Pecksniffschen Rumpf den rechten Arm, nämlich Gratia, abgetrennt hat, nach dem väterlichen Stamm zu sehen und zu betrachten, wie dieser in allen seinen verschiedenen Verzweigungen sich ohne Stütze behalf.

Zuvörderst müssen wir von Mr. Pecksniff bemerken, daß er, nachdem er seine jüngere Tochter mit dem auserlesensten aller irdischen Güter, nämlich mit einem zärtlichen und nachsichtigen Gatten versehen und durch ihre glückliche Versorgung den heißesten Wunsch seines Vaterherzens befriedigt hatte, in neuer jugendlicher Kraft auflebte und sich, getragen von den Flügeln eines reinen Gewissens, zu jeder Art von Flug befähigt fühlte. Die guten Väter in den Theaterstücken pflegen, wenn sie ihren Töchtern die Männer ihrer Liebe gegeben haben, sich selber zu beglückwünschen und sich zu versichern, daß sie nun nichts mehr auf Erden zu tun haben und der Herr sie in Frieden zu sich nehmen könne, wenn sie sich auch selten beeilen, wirklich in die Grube zu fahren. Mr. Pecksniff war ein Vater von der weiseren und praktischeren Sorte und schien daher zu glauben, er müsse jetzt erst recht zu leben anfangen, und, da er sich einer Bequemlichkeit beraubt sah, sich mit einer andern umgeben.

Wie geneigt übrigens auch der Wackere war, scherzhaft zu tun und sich in den Gärten seiner Phantasie zu ergehen, so stand ihm doch fortwährend ein Hindernis im Wege. Die zarte Cherry, aufgestachelt von dem Bewußtsein, sie erfahre nur Verachtung und eine Unbill, die, statt mit der Zeit nachzulassen, nur immer üppiger und üppiger in ihrem Herzen wucherte – die zarte Cherry war in offener Rebellion begriffen. Sie führte erbittert Krieg gegen ihren teuern Papa und ließ den Ehrenmann sozusagen ein wahres Hundeleben führen – besser gesagt, es gab keinen Hund in seiner Hütte, im Stalle oder im Hause, dem es nur halb so schlimm ergangen wäre wie Pecksniff in der Nähe seines liebevollen Kindes.

Vater und Tochter saßen beim Frühstück; Tom hatte sich zurückgezogen, und sie waren allein. Mr. Pecksniff machte anfangs ein finsteres Gesicht, allmählich heiterte sich aber seine Miene auf, und er blickte verstohlen auf seine Tochter. Ihre Nase war sehr rot und hatte etwas Spitziges, Herausforderndes.

»Cherry«, begann Mr. Pecksniff milde, »was liegt denn eigentlich zwischen uns? Mein Kind, warum sind wir so entzweit?«

Miss Cherrys Antwort war keine rechte Erwiderung auf diesen Zärtlichkeitserguß, denn sie lautete: »Possen, dummes Zeug, Papa!«

»Possen? Dummes Zeug?« wiederholte Mr. Pecksniff angelegentlich und besorgt.

»Es ist zu spät, Papa«, entgegnete die Tochter ruhig, »so mit mir zu sprechen. Ich weiß ganz gut, was vorgeht und was ich davon zu halten habe.«

»Das ist hart«, rief Mr. Pecksniff, seine Tasse anredend. »Das ist sehr hart! Du bist doch mein Kind. Ich habe dich auf den Armen getragen, als du noch formlose Wollschuhe – ich möchte sagen ›Muffler‹ – trugst, und das ist schon viele Jahre her.«

»Du brauchst mich deshalb nicht zu verhöhnen, Papa«, versetzte Cherry indigniert, »ich bin nicht gar so viel älter als meine Schwester, die du ja jetzt glücklich an deinen Freund angebracht hast.«

»Ach, Menschennatur, Menschennatur, arme Menschennatur«, stöhnte Mr. Pecksniff, den Kopf über die Menschennatur schüttelnd, als ob er selbst ein viel höheres, weit über alle Menschennatur erhabenes Wesen sei. »Zu denken, daß dieser Zwist aus einer solchen Ursache entspringt. Du mein lieber Himmel!«

»Jawohl, aus einer solchen Ursache!« höhnte Cherry »Nenne lieber die Ursache beim wirklichen Namen, sonst tue ich’s! Jawohl ich! Und ich will und werde es!«

Vielleicht war die Energie, mit der sie diese Worte aussprach, ansteckend, jedenfalls änderte Mr. Pecksniff plötzlich Ton und Miene, wurde sehr böse – um nicht zu sagen »ingrimmig« – und rief: »Du willst und wirst es? Aber du hast es ja in einem fort getan! Gestern, heute, jetzt! Du lässest jeden Anstand beiseite und machst kein Geheimnis aus deiner Gemütsart. Hundertmal gewiß schon hast du dich Mr. Chuzzlewit gegenüber gehenlassen und kompromittiert!«

»Ich?!« rief Cherry mit bitterm Lächeln. »Oh, natürlich! Übrigens wenn auch! Ich mache mir nichts daraus.«

»Und auch mich hast du bloßgestellt«, sagte Mr. Pecksniff vorwurfsvoll.

Miss Cherry antwortete nur mit einem geringschätzigen Lächeln.

»Da es nun schon einmal zu einer Aussprache gekommen ist«, begann Mr. Pecksniff von neuem und schüttelte drohend das Haupt, »so laß dir ein für allemal gesagt sein, daß ich dergleichen nicht mehr zugeben werde. Keinen Unsinn jetzt mehr, Miss.«

»Ich werde tun«, sagte Cherry, wiegte sich auf ihrem Stuhle hin und her und erhob ihre Stimme zum lautesten Diskant, »ich werde tun, Papa, was mir beliebt und was ich bisher getan habe. Ich lasse mich nicht in allem und jedem unterdrücken, verlaß dich drauf. Man hat mich schmachvoller mißhandelt als irgend jemanden auf der Welt« – sie fing an zu weinen und zu schluchzen – »und ich kann mich auch weiterhin auf das Ärgste von deiner Seite gefaßt machen, das weiß ich. Aber ich mache mir nichts daraus; – nein, ich mache mir nichts daraus!«

Mr. Pecksniff geriet durch den lauten Ton, in dem sie sprach, so außer sich, daß er sich zuerst in wilder Unruhe umsah, ob er kein Mittel finden könne, sie zu beruhigen, dann aber stand er auf und schüttelte seine Tochter, bis die Schmachtlocke auf ihrer Frisur wie eine Feder hin und her nickte. Charitas war durch diesen Angriff so in Erstaunen versetzt, daß er damit wirklich den gewünschten Erfolg erzielt zu haben schien.

»So werde ich dir jedesmal kommen«, rief Mr. Pecksniff nach Luft schnappend und nahm seinen Sitz wieder ein, »wenn du dich noch mal unterstehst, mit mir in so lauter Weise zu sprechen. Was willst du eigentlich damit sagen, daß du von schmählicher Behandlung sprichst? Wenn Jonas deine Schwester vorzog, so möchte ich gerne wissen, wer das hätte ändern können. – Was geht denn die ganze Geschichte mich an?«

»Hat man mich vielleicht nicht als Handhabe benutzt und meine Gefühle mit Füßen getreten? Hat er nicht zuerst mir den Hof gemacht?« schluchzte Cherry und rang die Hände. »Oh, daß ich eine derartige Behandlung erleben mußte!«

»Du wirst sie noch einmal erleben«, beteuerte Mr. Pecksniff, »wenn du mich so weit treibst und ich kein anderes Mittel mehr habe, den Anstand in diesem bescheidenen Hause aufrechtzuerhalten. Ich verstehe dich nicht. Ich muß mich wahrhaftig wundern, daß du so wenig Einsicht und Verstand beweist. Wenn Jonas sich nichts aus dir machte, wie kannst du jetzt noch wünschen, ihn zu besitzen?«

»Ich ihn besitzen wollen!« stöhnte Cherry. »Ich ihn besitzen wollen! Papa!«

»Nun also, wozu machst du dann einen solchen Spektakel?« rief Mr. Pecksniff. »Wenn du nichts mehr von ihm wissen willst?«

»Weil man falsch und hinterlistig an mir gehandelt hat!« schrie Cherry. »Und weil mein eigner Vater und meine leibliche Schwester sich gegen mich verschworen haben. Auf sie bin ich nicht böse«, setzte sie hinzu und machte ein bitterböses Gesicht. – »Ich bemitleide sie; ich bedaure sie; weiß ich doch, was für ein Schicksal ihrer harrt – bei dem Schuft!«

»Mr. Jonas wird nicht daran sterben, daß du ihn einen Schuft nennst«, sagte Pecksniff mit steigender Ergebung. »Nenne ihn meinetwegen, wie du willst, aber mach der Sache jetzt ein Ende!«

»Nein, kein Ende, Papa!« kreischte Charitas. »Nein, kein Ende! Es ist das auch nicht das einzige, was zwischen uns liegt. Ich will und werde mich nicht darein fügen, und es ist besser, wenn du das ein für allemal jetzt erfährst. Nein, ich will und werde mich nicht darein fügen; ich bin nicht blind oder blödsinnig! Alles, was ich zu sagen habe, ist: – ich will nicht!«

Was Miss Cherry nun auch damit sagen wollte, jedenfalls fühlte sich Mr. Pecksniff erschüttert, und sein armseliger Versuch, eine würdevolle Miene aufzusetzen, scheiterte kläglich. Sein Zorn verwandelte sich im Handumdrehen in Demut, und seine Worte wurden schmeichlerisch.

»Meine Liebe«, lenkte er ein, »wenn ich in der Aufregung eines zornigen Augenblicks zu einem nicht zu rechtfertigenden Mittel meine Zuflucht nahm, um einen Gefühlsausbruch zu unterdrücken, der darauf hinausgelaufen wäre, sowohl dich wie mich herabzuwürdigen, so bitte ich dich um Verzeihung. Ein Vater, der sein Kind um Verzeihung bittet!« rief Mr. Pecksniff. »Ich dächte, das müßte ein Anblick sein, der selbst die wildeste Natur zu besänftigen vermochte!«

Miss Cherry besänftigte er nun aber ganz und gar nicht – wahrscheinlich, weil ihre Natur nicht wild genug war. Sie bestand im Gegenteil wiederholt auf ihrer Behauptung, sie sei nicht blödsinnig oder blind und werde »es« unter gar keinen Umständen weiter ruhig mit ansehen.

»Du mußt in einem Irrtum befangen sein, mein Kind«, versuchte Mr. Pecksniff auszuweichen, »aber ich will nicht weiter fragen, was du meinst; ich verlange es auch nicht zu wissen. Nein, bitte«, sagte er, mit der Hand abwehrend, und wieder stieg ihm das Blut in die Wangen, »lassen wir das Thema fallen, mein Kind. Sei es, wie es wolle.«

»Es ist nicht mehr als recht und billig, daß das Thema zwischen uns vermieden werden soll«, versetzte Cherry; »aber um imstande zu sein, es vermeiden zu können, muß ich dich zuvörderst bitten, mir ein Heim zu geben.«

Mr. Pecksniff sah sich gedrückt im Zimmer um und fragte: »Ein Heim, mein Kind?«

»Ein anderes Heim, Papa«, wiederholte Cherry mit düsterer Feierlichkeit. »Verschaffe mir bei Mrs. Todgers oder sonstwo eine Unterkunft. Hier kann und will ich nicht länger wohnen bleiben, wenn es schon einmal so weit gekommen ist.«

Möglich, daß in Miss Pecksniffs Geist bei dem Gedanken an Mrs. Todgers ein Traumgesicht von allerlei verliebten Herren auftauchte, die danach schmachteten, ihr anbetend zu Füßen zu fallen, möglich auch, daß Mr. Pecksniff bei seiner neu erwachenden Jugendlichkeit den Hinweis auf das gedachte Etablissement als willkommenes Mittel betrachtete, eine drückende, hemmende Bürde loszuwerden, jedenfalls klang der Vorschlag seinem aufmerksamen Ohr durchaus nicht wie etwa ein Totengeläute aller Hoffnungen.

Aber er war ein Mann von tiefem Gefühl und höchster Empfindsamkeit, er drückte daher sein Taschentuch mit beiden Händen gegen die Augen, wie Leute seines Schlages es gern zu tun pflegen. Besonders, wenn sie sich beobachtet wissen. »Eins meiner Täubchen«, schluchzte er, »hat mich bereits verlassen und sich an die Brust eines Gatten geschmiegt, und das andere will seinen Flug jetzt zu Mrs. Todgers nehmen! Ach, was soll aus mir werden? Ich weiß es nicht! Doch, was liegt daran – –?«

Selbst diese Bemerkung, die noch pathetischer dadurch wurde, daß er von Schmerz übermannt mitten darin abbrach, machte auf Charitas keinerlei Eindruck. Sie blieb mürrisch, starr und unbeugsam.

»Stets habe ich«, fuhr Mr. Pecksniff fort, »stets habe ich meiner Kinder Glück dem meinigen – ich will sagen: das meinige dem meiner Kinder aufgeopfert, und ich werde nicht so spät noch beginnen, mein Leben nach anderen Grundsätzen einzurichten. Wenn du bei Mrs. Todgers glücklicher sein zu können glaubst als im Hause deines Vaters, so gehe zu Mrs. Todgers! Denke nicht dabei an mich, mein Kind!« setzte er mit Rührung hinzu. »Ich werde mich auch mit der Einsamkeit abzufinden trachten.«

Miss Charitas wußte ganz genau, daß ihr Vorschlag ihrem Vater in Wirklichkeit große Freude bereitete, sie unterdrückte daher ihre eigene und begann auf die näheren Bedingungen einzugehen. Mr. Pecksniffs Äußerungen darüber waren anfangs so abweisend, daß ein nochmaliger Streit und vielleicht sogar ein nochmaliges Schütteln zu folgen drohte, aber allmählich kamen sie zu einer Art von Verständigung, und der Sturm ging leichter vorüber, als es anfangs den Anschein hatte. In Wirklichkeit bot Miss Charitas‘ Vorschlag so viel Annehmlichkeiten für beide Teile, daß es seltsam hätte zugehen müssen, wenn sie nicht zu einer Einigung gekommen wären. Sie beschlossen daher, das Projekt für alle Fälle vorerst einmal zu versuchen, und zwar sogleich. Unpäßlichkeit, der Wunsch nach Ortsveränderung sowie die Sehnsucht, ihrer Schwester nahe zu sein, sollten als Entschuldigung für Cherrys Abreise vor Mr. Chuzzlewit und Mary dienen, die beide die junge Dame ohnehin seit einiger Zeit für sehr nervös erregt hielten. Nachdem dies Abkommen getroffen war, gab Mr. Pecksniff seiner Tochter seinen Segen mit aller Würde eines selbstlosen Vaters, der zwar ein schweres Opfer gebracht hat, sich aber mit dem Gedanken tröstet, daß jede gute Tat den Lohn in sich selbst trägt.

So waren sie zum erstenmal wieder versöhnt seit jener verhängnisvollen Nacht, wo Mr. Jonas, die ältere Schwester verschmähend, seine Leidenschaft für die jüngere eingestanden und Mr. Pecksniff ihm darin – aus moralischen Gründen – Vorschub geleistet hatte.

Aber wie ging es – im Namen der sieben Weltwunder – zu, daß Mr. Pecksniff und Cherry sich jetzt so plötzlich voneinander trennen wollten? Was hatte ihr Verhältnis zueinander so sehr getrübt? Warum gab Miss Pecksniff mit solcher Emphase zu verstehen, daß sie weder blind noch blödsinnig sei und nicht länger mehr ruhig zusehen wolle? Es war doch ausgeschlossen, daß Mr. Pecksniff noch einmal daran dachte zu heiraten? Oder sollte wirklich seine Tochter mit dem scharfen Auge einer alten Jungfer einen solchen Plan in seinem Hirn durchschaut haben?

Gehen wir der Sache einmal nach.

Mr. Pecksniff, als Mann ohne Fehl und Tadel, als ein Charakter, an dem der Hauch der Verleumdung spurlos verging wie gemeiner Hauch an einer polierten Fläche, konnte sich erlauben, was sich gewöhnliche Menschen nicht gestatten durften: Er kannte die Reinheit seiner eigenen Beweggründe, und wenn eine Triebfeder in ihm tätig war, ließ er sie walten und wirken, wie es nur ein sehr guter (oder ein sehr schlechter) Mann imstande ist. Hatte er starke und auf der Hand liegende Gründe, ein zweites Weib zu freien? Ja, allerdings! Und nicht bloß etwa einen oder zwei, sondern eine ganze Menge.

In dem alten Martin Chuzzlewit war allmählich eine große Veränderung vor sich gegangen. Schon in jener Nacht, wo er so zur Unzeit in Mr. Pecksniffs Hause erschienen, war er gegen früher außerordentlich zahm und leicht zu behandeln. Dies schrieb Mr. Pecksniff dem tiefen Eindruck zu, den des Bruders Tod auf ihn gemacht haben mußte. Von jener Stunde an aber schien sich Mr. Chuzzlewits Charakter nach und nach vollständig umgewandelt und beinah bis zu einer stumpfen Gleichgültigkeit gegenüber jedermann, Mr. Pecksniff ausgenommen, herabgemildert zu haben. Sein Aussehen glich zwar so ziemlich seinem frühern, aber sein Geist war nicht mehr der alte. Nicht, daß diese oder jene Leidenschaft stärker oder schwächer geworden wäre, nein, das Kolorit des ganzen Mannes war sozusagen verblichen. Wenn ein Zug verschwand, trat kein anderer an seine Stelle. Zu gleicher Zeit nahmen auch seine Sinne ab; er hatte ein weniger scharfes Gesicht, war bisweilen schwerhörig, achtete nicht viel auf das, was um ihn herum vorging, und konnte oft tagelang stumm vor sich hinbrüten. Diese Veränderung nahm einen so schnellen Verlauf, daß man sie kaum bemerkte, als sie bereits vollkommen gediehen war. Mr. Pecksniff nahm sie zuerst wahr, und da ihm ein ähnlicher Vorgang bei Anthony Chuzzlewit noch frisch in Erinnerung war, glaubte er in dessen Bruder Martin denselben Prozeß rapiden Alterns zu erkennen.

Bei Mr. Pecksniffs Zartgefühl bedeutete dies für ihn einen sehr traurigen Anblick. Er sah voraus, daß sein geschätzter Verwandter das Opfer hinterlistiger Personen werden und sein Reichtum in unwürdige Hände fallen mußte. Und das berührte ihn so schmerzlich, daß er sich vornahm, die Erbschaft für sich selbst zu sichern, all das schleicherische Pack fernzuhalten und das Ei, wie man zu sagen pflegt, für sich selbst auszubrüten. Nach und nach begann er zu versuchen, ob Mr. Chuzzlewit ein fügsames Werkzeug in seiner Hand zu werden verspreche. Da dies der Fall zu sein schien – ja, da Martin sich sogar sehr geschmeidig und weich wie Wachs in seinen Händen erwies und sich nach Belieben kneten ließ, so machte er es sich in seiner Herzensgüte zur Aufgabe, jeden fremden, ihm feindlichen Einfluß zu unterbinden und alle leitenden Fäden selbst in die Hand zu bekommen. Und als schließlich jede kleine Probe, auf die er Mr. Chuzzlewit zu stellen wagte, über Erwarten günstig ausfiel, so glaubte er schon des alten Mannes harte Taler in seinen eignen, nichts weniger als weltlich gesinnten Taschen klimpern zu hören. Aber sooft er über dieses Thema nachdachte – und er tat es in seiner eifrigen Weise wirklich recht oft –, und wenn er sich mit himmelwärts jubelndem Herzen die Verkettung der Umstände vergegenwärtigte, die den alten Herrn zur Strafe für die Übeltäter und zum Triumph der Gerechtigkeit in seine Hand gegeben, stets fühlte er, daß Mary Graham einen hindernden Faktor in seiner ganzen Berechnung bilde. Mochte man sagen, was man wollte, Mr. Pecksniff erkannte ganz genau, daß Martin sie liebte. Er erriet es durch tausend kleine Anzeichen. Stets hatte sie der alte Herr gern um sich, und nie war er ruhig, wenn er sie abwesend wußte. Daß er wirklich das Gelübde getan habe, ihr in seinem Testamente nichts zu vermachen, daran zweifelte Mr. Pecksniff sehr, und selbst wenn er es getan hätte, so gab es ja tausenderlei Mittel, um das Gelübde zu umgehen und um sein Gewissen zu beruhigen. Auch wußte Pecksniff, daß Marys schutzlose Stellung in der Welt eine Qual für die Denkungsweise des alten Mannes bedeuten mußte. Martin hatte es ihm oft genug angedeutet. »Was nun«, sagte sich Mr. Pecksniff, »wenn ich sie heiratete? Wie wäre das?«

Er strich sich das Haar in die Höhe und warf einen Blick auf seine Büste von Spoker: »Was, wenn ich mich zuerst seiner Zustimmung versicherte – er ist ziemlich geistesschwach, der Ärmste – und sie dann heiratete?«

Mr. Pecksniff hatte ein großes Verständnis für Schönheit, besonders an Frauen, und verstand es, besonders bei Frauen, sich einzuschmeicheln. Wie bereits erwähnt, ließ er Mrs. Todgers gegenüber seinerzeit auch nicht den geringfügigsten Anlaß ungenutzt, sie zu umarmen – es war dies so eine Art Gewohnheit von ihm, ein Teil des sanften Edelmutes seines Charakters.

Ehe noch der Gedanke in ihm auftauchte, sich wieder zu verheiraten, hatte er Mary bereits manchen Beweis seiner höchsten Bewunderung gegeben. Sie hatte es nicht mit Unwillen aufgenommen; das war nun wohl weiter nicht von Bedeutung; – aber, wie diese Idee in ihm allmählich heranreifte, wurden diese Beweise zu lebhaft, um dem scharfsichtigen Auge Cherrys zu entgehen, die mit einem Mal den Plan durchschaute. In Wirklichkeit aber hatte Pecksniff von Anbeginn die Gewalt von Marys Reizen empfunden. So vereinigten sich also Neigung und Eigennutz und lenkten das Wägelchen seiner Pläne.

Mr. Pecksniff war viel zu weichherzig und versöhnlich, als daß man von ihm hätte erwarten können, er gebe vielleicht irgendeinem Gedanken Raum, sich an dem jungen Martin wegen der unverschämten Ausdrücke, die dieser sich beim Abschiede erlaubt, zu rächen und ihn womöglich noch gründlicher von aller Hoffnung auf eine Wiederversöhnung mit seinem Großvater auszuschließen. Vor einer Zurückweisung seiner eigenen Person von seiten Marys war ihm nicht bange, denn er fühlte sich vollkommen überzeugt, daß ihre Lage trostlos sein müsse, wenn sie ihn und Mr. Chuzzlewit gegen sich habe. Und was die Wünsche ihres eigenen Herzens betraf, so fanden diese kein Verständnis in Mr. Pecksniffs moralischer Anschauung. Er war sich bewußt, was für ein rechtschaffener Mann er war und welchen Segen er für jede Frau auf Erden bedeuten müsse. Seine Tochter hatte jetzt rücksichtslos das Thema zur Sprache gebracht und bewiesen, daß sie die Sachlage durchschaute. Es blieb ihm daher nichts weiter übrig, als lediglich seinen Plan so gewandt wie möglich und so schlau wie nur irgend denkbar zu verfolgen.

»Nun, mein wertgeschätzter Herr«, sagte er eines Tages zu dem alten Martin, als dieser im Garten umherschlenderte, wie er zu tun pflegte, wenn er Lust dazu hatte, »wie steht das werte Befinden an diesem köstlichen Morgen?«

»Meinen Sie mich?« fragte der alte Mann.

»Aha«, murmelte Mr. Pecksniff, »er hat heute wieder seinen tauben Tag. – Wen könnt ich denn sonst meinen, mein werter Herr?«

»Sie hätten auch Mary meinen können«, brummte der alte Mann.

»Allerdings. Sehr richtig. Ich dürfte doch gewiß auch von ihr wie von einer teuern, lieben Freundin sprechen, nicht wahr«, sondierte Mr. Pecksniff.

»Selbstverständlich«, entgegnete der alte Martin, »und ich denke, sie verdient es auch.«

»Sie denken?!« rief Mr. Pecksniff. »Sie denken bloß, Mr. Chuzzlewit?«

»Ich kann Sie nicht recht verstehen«, versetzte Martin. »Bitte, reden Sie doch lauter.«

»Er wird auch von Tag zu Tag tauber«, brummte Pecksniff. – – »Also, ich wollte sagen, mein werter Herr, ich fürchte, daß ich mich auf eine Trennung von Cherry gefaßt machen muß.«

»Was hat sie denn angestellt?« fragte Mr. Chuzzlewit.

»Oh, nichts. Gar nichts!« beteuerte Mr. Pecksniff, beinahe schreiend. – »Er ist heute ganz kindisch. – Er wird jeden Tag marastischer«, brummte er in sich hinein.

»Also warum soll sie dann fort?«

»Sie fühlt sich nicht recht wohl. Die beiden Schwestern liebten einander aufs zärtlichste von der Wiege an, und ich denke, ich will Cherry der Abwechslung wegen nach London schicken – und zwar für ziemlich lange Zeit, Sir, wenn ich sehe, daß es ihr dort gut gefällt.«

»Sehr gut«, versetzte Martin, »und sehr verständig.«

»Es freut mich von Herzen, das von Ihnen zu hören. – – Ich hoffe, ich darf Ihnen doch während der traurigen Zeit ihrer Abwesenheit ein wenig Gesellschaft leisten?« fragte Mr. Pecksniff.

»Ich habe durchaus nicht vor, mich derselben zu entziehen«, lautete Martins Antwort.

»Warum wollen Sie übrigens«, flötete Mr. Pecksniff, zog den Arm des alten Herrn durch den seinigen und ging langsam neben ihm her; »warum wollen Sie eigentlich, mein werter Herr, nicht zu mir ziehen und bei mir bleiben? Ich bin überzeugt, ich könnte Sie mit mehr Komfort umgeben, so bescheiden auch mein Dach sein mag – mit mehr Komfort, als sie in dem Dorfwirtshause drüben werden finden können. Und verzeihen Sie mir, Mr. Chuzzlewit, verleihen Sir mir, wenn ich sage, daß ein Haus wie der ›Drache‹ trotz der Ordnung, die dort waltet – und soviel ich weiß, gehört Mrs. Lupin zu den würdigsten Wirtinnen dieser Gegend –, kaum ein passendes Heim für Miss Graham bedeutet.«

Martin sann einen Augenblick nach, drückte dann seinem Begleiter die Hand und erwiderte:

»Ja, Sie haben ganz recht.«

»Schon der Anblick der Kegelbahn«, fuhr Mr. Pecksniff beredt fort, »steht durchaus nicht im Einklang mit einer so zarten und feinen Natur.«

»Freilich«, gab der alte Herr zu. »Es ist eine ordinäre Belustigung fürs Volk.«

»Für das allergemeinste Volk!« verbesserte Mr. Pecksniff. »Warum wollen Sie also Miss Graham nicht hierher bringen, Sir? Hier steht Ihnen doch mein Haus zur Verfügung. Ich bewohne es allein, denn Tom Pinch zähle ich nicht. Unsere liebe Freundin soll das Zimmer meiner Tochter bekommen, und Sie selbst können sich ein beliebiges anderes auswählen. Wir werden uns diesbezüglich schon einigen.«

»Ja, das glaube ich auch«, murmelte Martin.

Mr. Pecksniff drückte ihm die Hand. »Ich sehe, wir verstehen uns, mein werter Herr.« – Ich kann ihn um den kleinen Finger wickeln dachte er innerlich mit Jubel.

»Die Entschädigungssumme müssen Sie mir überlassen«, sagte der alte Mann nach einer Pause von ungefähr einer Minute.

»Reden Sie nicht von Entschädigung!« bat Mr. Pecksniff flehentlich.

»Ich frage Sie aber«, wiederholte Martin mit einem Anflug seiner alten Hartnäckigkeit, »ob Sie die Entschädigungssumme mir überlassen wollen oder nicht.«

»Wenn Sie es wünschen, muß ich es wohl, mein werter Herr«, gab Mr. Pecksniff betrübt zu.

»Ich bestehe darauf. Sie wissen, daß ich auf dergleichen immer bestehe. Ich will bezahlen, wenn ich irgendwo wohne; auch wenn es bei Ihnen ist. Außerdem behalte ich mir vor, eines Tages noch anderweitigen verwandtschaftlichen Pflichten nachzukommen, Pecksniff.«

Der würdige Architekt war viel zu ergriffen, um ein Wort sprechen zu können. Er versuchte eine Träne auf die Hand seines Gönners niederträufeln zu lassen, konnte aber in seiner ausgetrockneten Gefühlsretorte nicht genug Feuchtigkeit aufbringen.

»Möge dieser Tag noch ferne sein«, lautete sein frommer Ausruf. »Ach, wenn ich nur Worte finden könnte, um Ihnen zu sagen, welch tiefes Interesse ich an Ihnen und den Ihrigen nehme! – – Ich meine damit unsere schöne verwaiste junge Freundin.« »Sehr wahr«, erwiderte Martin. »Sehr wahr! Sie bedarf allerdings eines Menschen, der sich für sie interessiert. Ich habe unrecht getan, daß ich sie in dieser Weise an mich fesselte. Obgleich sie eine Waise ist, würde sie doch jemanden gefunden haben, der sie beschützt und dessen Gefühle sie erwidert hätte. Als sie noch ein Kind war, gefiel ich mir in dem Gedanken, ich erwiese ihr eine Wohltat, während ich doch nur meiner Laune nachging, als ich sie als Schranke zwischen mich und falschherzige Schurken setzte. Jetzt, wo sie ein Weib ist, habe ich diesen Trost nicht mehr. Sie hat keine andere Stütze als sich selbst. Ich habe sie in eine so schiefe Stellung zur Welt gebracht, daß jeder Hund sie anbellen oder vor ihr kriechen kann, je nachdem er Lust dazu hat. Ihre Lage verdient in der Tat die größte Berücksichtigung.«

»Und was, wenn ihre Stellung verändert und festgestellt würde?« deutete Mr. Pecksniff an.

»Wie könnte das sein? Soll ich sie vielleicht Näherin oder Gouvernante werden lassen?«

»Gott behüte!« rief Mr. Pecksniff. »Nein, mein werter Herr, es gibt noch andere Mittel. Es gibt wirklich noch andere. Ich fühle mich jetzt zu sehr aufgeregt und verstimmt und möchte das Thema nicht weiter verfolgen; ich weiß kaum, wie ich die Worte stellen soll. Erlauben Sie mir, die Sache ein andermal wieder zur Sprache zu bringen?«

»Sie sind doch nicht unwohl?« fragte Martin besorgt.

»Nein, nein!« versicherte Pecksniff. »Nein! Erlauben Sie mir nur, das Thema ein andermal wieder zur Sprache zu bringen. Ich möchte jetzt zu meiner Beruhigung ein wenig Spazierengehen. – Gott zum Gruß!«

Der alte Herr erwiderte den frommen Wunsch und drückte dem würdigen Vetter die Hand. Als er sich umwandte und langsam dem Hause zuschritt, blieb Mr. Pecksniff stehen und blickte ihm nach. Er hatte sich merkwürdig rasch von seiner soeben an den Tag gelegten Aufregung erholt, die man bei jedem andern als ihm für einen bloßen Kunstgriff hätte halten können, um dem alten Martin in gewisser Hinsicht auf den Puls zu fühlen. Der Wechsel, der in dem alten Herrn vorgegangen, sprach sich jetzt so augenfällig in dessen äußerer Erscheinung aus, daß Pecksniff, als er ihm nachblickte, nicht umhin konnte, vor sich hinzumurmeln:

»Ich kann ihn wahrhaftig bereits um den kleinen Finger wickeln. Wer hätte das gedacht!«

Der alte Martin sah sich in diesem Augenblick wieder um und grüßte freundlich. Pecksniff winkte zurück.

»Und wie lange ist es her«, murmelte Mr. Pecksniff, »daß er mich nicht einmal ansehen wollte! Wie wohltuend diese Veränderung wirkt! Knetbar wie Wachs ist das menschliche Herz und verwickelt der Prozeß seiner Läuterung. Äußerlich ist der Mensch ganz der alte, und doch kann ich ihn um den kleinen Finger wickeln! Wer hätte das gedacht!«

Und in der Tat schien es wirklich nichts mehr zu geben, was Mr. Pecksniff mit dem alten Herrn nicht hätte anfangen können. Mochte er tun oder sagen, was er wollte, alles war recht, und was er anriet, geschah. Martin war nur den Schlichen so vieler dürftiger Glücksjäger entronnen und in der Höhle seines Argwohns und Mißtrauens so viele Jahre dahingewelkt, um das Werkzeug und Spielzeug dieses rechtschaffenen Mannes zu werden. Mit dem Ausdruck glückseliger Überzeugung auf dem strahlenden Antlitz setzte der würdige Architekt seinen Morgenspaziergang fort.

Das Sommerwetter in seiner Brust spiegelte sich auch in der Natur ab. Durch tiefgrüne Fernsichten, wo sich die Zweige zu Laubengängen verschlangen und sich das Sonnenlicht in schimmernde Strahlenbündel verwandelte, durch betautes Farnkraut, wo die Hasen erschreckt bei der Annäherung von menschlichen Schritten aufsprangen und flohen, an umgrünten, stillen Lachen vorbei, über umgestürzte Baumstämme und tief hinab in träumerische Schluchten durch raschelndes altes Laub, dessen bloßer Duft Erinnerung bedeutete, schlenderte Mr. Pecksniff friedlich dahin. Durch Wiesen, Pförtchen und Hecken, von wilden Rosen duftend, an Hütten mit Strohdächern vorüber, deren Bewohner sich demütig vor ihm neigten wie vor einem Mann, der zugleich gut und weise ist, wandelte der würdige Architekt in stiller Betrachtung einher. Bienen flogen dahin, summend bei ihrer Arbeit, die müßigen Mücken drehten sich bald in engern, bald in weitern Kreisen oder tanzten lustig in der Luft vor ihm her. Die Farbe des hohen Grases kam und ging, von den Wolken beschattet oder dem Lichte erhellt, je nachdem der Himmel sein Antlitz wechselte. Die Vögel sangen fröhlich auf den Zweigen, und Mr. Pecksniff huldigte der Schönheit des Tages dadurch, daß er im Gehen seinen Plänen nachhing.

In seiner Gedankenfülle strauchelte er zufällig über die im Wege liegenden Wurzeln eines alten Baumes. Er erhob seine frommen Augen, um den Boden vor sich zu mustern, und stutzte ein wenig, als er das verkörperte Abbild seiner Grübeleien nicht weit vor sich erblickte. Mary selbst. Und allein!

Einen Augenblick blieb er stehen, unwillkürlich, wie um umzukehren; sein nächster Impuls jedoch war, näherzutreten, und er tat das auch mit raschem Schritt. Dabei trällerte er so süß und mit soviel Unschuld vor sich hin, daß ihm nur die Federn und Schwingen fehlten, um ein Vögelein zu sein.

Als Mary die holden Töne hinter sich hörte, die nicht den Sängern des Waldes angehörten, blickte sie sich um. Mr. Pecksniff küßte seine Fingerspitzen und war im Nu an ihrer Seite.

»Am Busen der Natur?« säuselte er mild. »Auch mir geht es so.« – Mary erwiderte, der Morgen sei so schön, daß sie sich habe weiter in den Park verlocken lassen, als ihre ursprüngliche Absicht gewesen. Sie wolle übrigens jetzt umkehren. Mr. Pecksniff flötete, daß das gleiche bei ihm zutreffe und er sie deshalb begleiten wolle.

»Nehmen Sie meinen Arm, süßes Mädchen«, sagte er.

Mary lehnte ab und schlug einen so raschen Schritt ein, daß er sich genötigt sah, es ihr sanft zu verweisen.

»Sie hatten doch gar keine Eile, als ich auf Sie zukam! Warum sind Sie denn jetzt so grausam und eilen so? Sie fürchten sich doch nicht vor mir?«

»Allerdings will ich Ihnen ausweichen«, antwortete Mary und wandte ihm ihr zornglühendes Antlitz zu. »Sie wissen ganz gut, daß ich Ihnen ausweiche. Lassen Sie mich los, Mr. Pecksniff, Ihre Berührung ist mir unangenehm!«

Seine Berührung! Unangenehm! Was? Diese keusche, patriarchalische Berührung, die Mrs. Todgers – gewiß eine zartfühlende Dame – nicht nur ohne Widerrede, sondern bestimmt mit offenkundigem Vergnügen geduldet hätte! Es mußte hier ein Irrtum obwalten. Mr. Pecksniff bedauerte tief, solche Worte hören zu müssen.

»Wenn Sie noch nicht bemerkt haben, daß es so ist, so bitte ich Sie, diese Versicherung jetzt von meinen Lippen entgegenzunehmen. Wenn Sie ein Gentleman sind, fahren Sie nicht fort, mich weiter zu belästigen«, rief Mary.

»Ich verstehe«, sagte Mr. Pecksniff milde. »Ich würde ein solches Benehmen an einer meiner Töchter nur löblich finden, warum sollte ich es an einem so schönen Wesen tadeln? Freilich, es ist hart, es schneidet mir in die Seele, aber ich kann Ihnen trotzdem nicht böse sein, Mary.«

Miss Graham wollte sagen, daß es ihr leid tue, ihn vielleicht verletzt zu haben, brach aber in Tränen aus. Abermals näherte sich ihr Mr. Pecksniff, ergriff ihre Hand, küßte ihr sie und fuhr folgendermaßen fort:

»Es freut mich, daß wir uns begegnet sind; es freut mich von Herzen. Bin ich doch imstande, jetzt mein Herz von einer schweren Last zu erleichtern und im Vertrauen mit Ihnen zu sprechen. Mary«, fügte er mit seinen zartesten Tönen hinzu – so zart, daß er beinahe quiekste, »Mary, mein Leben, ich liebe dich!«

Eine ärgerliche Sache, diese jungfräuliche Ziererei! Mary tat jetzt gar, als ob sie schauderte!

»Ich liebe Sie«, wiederholte Mr. Pecksniff, »mein süßes Leben. Mit einer Innigkeit, die sogar mir völlig überraschend kommt. Ich glaubte, daß dieses Gefühl mit einer Frau zu Grabe getragen worden sei, die an Vorzügen des Körpers und des Geistes Ihnen glich. Aber ich finde, daß ich im Irrtum war.«

Mary suchte ihre Hand loszumachen, sie hätte sich aber ebensowenig den Umarmungen einer zärtlichen Boa Constrictor entziehen können, wenn man etwas so Greuliches mit dem trefflichen Architekten vergleichen darf.

»Obgleich ich Witwer bin«, fuhr Mr. Pecksniff, die Ringe an Marys Fingern betrachtend und mit seinem fetten Daumen einer zarten blauen Ader folgend, fort, »Witwer mit zwei Töchtern, so bin ich dennoch frei. Eine davon ist, wie Sie wissen, verheiratet, und die andere steht im Begriffe – ich gestehe es – warum sollte ich auch nicht –, in der Voraussicht, daß sich meine Lage verändern wird, das Vaterhaus zu verlassen. Ich bin ein Mann von Charakter, hoffe ich, und wie ich höre, sprechen die Leute gut von mir; auch glaube ich annehmen zu dürfen, daß meine Persönlichkeit und meine Manieren nichts von einem Ungeheuer an sich haben. Ach, du schlimme Hand«, fügte er zärtlich hinzu, die widerstrebende Beute anredend, »warum hast du mich in Fesseln geschlagen? Warte du!«

Und er klopfte die Hand, um sie zu strafen, drückte sie aber dann voll Versöhnlichkeit an seine Weste, um sie wieder zu trösten.

»Gesegnet mit den nötigsten irdischen Gütern und in der Gesellschaft unseres verehrungswürdigen Freundes, meine Teuerste«, fuhr er fort, »werden wir glücklich sein; und wenn ›er‹ dereinst eingeht in den Hafen der ewigen Ruhe, werden wir uns zu trösten wissen, mein schönes Himmelsschlüsselchen; was meinen Sie dazu?«

»Vielleicht«, erwiderte Mary hastig, »sollte ich Ihnen für diesen Beweis Ihres Vertrauens dankbar sein, aber ich kann nicht sagen, daß ich es wirklich wäre. Ich will annehmen, daß Sie meinen Dank wenigstens verdienen. So nehmen Sie ihn denn und verlassen Sie mich jetzt gefälligst, Mr. Pecksniff.«

Mit einem salbungsvollen Lächeln zog der Vortreffliche ihre Hand wieder an seine Brust.

»Bitte, bitte, lassen Sie mich los, Mr. Pecksniff«, rief das junge Mädchen, »ich kann Sie nicht weiter anhören und Ihren Antrag nicht annehmen. Es gibt gewiß viele junge Damen, denen er sicher erwünscht wäre, aber bei mir ist das durchaus nicht der Fall. Ich muß daher von Ihnen als einen Akt der Freundlichkeit und des Anstandes verlangen, daß Sie mich endlich loslassen.«

Mr. Pecksniff ging ruhig weiter neben ihr her, den Arm um ihre Taille gelegt, so zufrieden, als wenn alles in bester Ordnung und sie in wahrhafter Liebe miteinander verbunden wären.

»Wenn Sie mich durch Ihre überlegene Kraft zwingen wollen«, sagte Mary, als sie sah, daß gute Worte nicht die geringste Wirkung auf Pecksniff ausübten, jetzt mit offenem Unwillen, »wenn Sie mich als der Stärkere zwingen, Sie zu begleiten und unterwegs Ihren Unverschämtheiten als Zielscheibe zu dienen, so soll es Ihnen wenigstens nicht möglich sein zu verhindern, daß ich Ihnen offen heraus meine Meinung sage. Ich empfinde den tiefsten Abscheu vor Ihnen, denn ich kenne Ihren wahren Charakter und verachte Sie aus dem tiefsten Grund meines Herzens.«

»Nicht doch«, wehrte Mr. Pecksniff süß ab, »nein, nein, nein!«

»Welchen Kunstgriffen oder unglücklichen Zufällen Sie Ihren Einfluß über Mr. Chuzzlewit verdanken, weiß ich nicht«, fuhr Mary fort, »er mag vielleicht stark genug sein, sogar den Eindruck dieses Vorganges auszutilgen, wenn ich die ganze Sache Mr. Chuzzlewit erzählen sollte, aber verlassen Sie sich darauf, ich werde meinen väterlichen Freund trotzdem von allem, was vorgefallen ist, unterrichten.«

Mr. Pecksniff hob langsam und schmachtend seine schweren Augenlider und senkte sie dann wieder. Es war soviel, als sage er mit vollkommenster Seelenruhe: ja, ja, in der Tat!

»Ist es nicht genug«, fuhr Mary fort, »daß Sie sein Wesen verkehren und an seinem Charakter rütteln, daß Sie alle seine Vorurteile Ihren eigenen schlimmen Zwecken anpassen und ein von Natur aus wohlwollendes Herz verhärten, indem Sie die Wahrheit davon fernhalten und nur lügenhaften und berechnenden Ansichten Zutritt gestatten? Ist es nicht genug, daß Sie Ihre Macht zu solchen Dingen mißbrauchen, müssen Sie auch noch roh, grausam und niederträchtig gegen mich handeln?«

Noch immer führte Mr. Pecksniff sie ruhig weiter und blickte so milde drein wie ein Lamm auf der Weide.

»Ist denn nichts imstande, Sie zu rühren, Sir!?« rief Mary.

»Meine Teuerste«, begann Mr. Pecksniff mit einem ruhigen Lächeln, »die Gewohnheit der Selbstprüfung und die Übung der – soll ich Tugend sagen?«

»Der Heuchelei«, verbesserte Mary.

»Nein, nein«, rief Mr. Pecksniff und drückte und liebkoste die gefangene Hand vorwurfsvoll, »der Tugend – der Tugend – haben mich befähigt, so auf der Hut zu sein gegen mich selbst, daß es wirklich schwerhält, mich aus der Fassung zu bringen. Es ist vielleicht eine wunderliche Tatsache, aber seien Sie überzeugt, daß es jedermann schwer finden wird, mich zu reizen. Und konnte sie glauben«, fügte Mr. Pecksniff, die Hand fester anfassend, neckisch hinzu, »daß sie dazu imstande sein werde?! Wie wenig kennt sie mein Herz.«

Das war allerdings richtig! Marys Gefühl war so seltsam beschaffen, daß sie die Liebkosungen einer Kröte oder Natter, vielleicht sogar die Umarmung eines Bären Mr. Pecksniffs Zärtlichkeit vorgezogen haben würde.

»Nun, nun, nun«, fuhr der Treffliche fort, »ein paar Worte werden alles wieder ins Gleichgewicht bringen und das beste Einverständnis zwischen uns herstellen. Nein, ich bin Ihnen nicht böse, meine Liebe.«

»Sie nicht böse!«

»Nein«, versicherte Mr. Pecksniff, »ich bin es nicht, Sie dürfen mir’s aufs Wort glauben. Und auch Sie sind es mir nicht.«

An seinem Arme aber pochte ein Herz, das ein anderes Lied sang. – »Ich bin überzeugt, Sie sind es nicht«, fuhr Mr. Pecksniff fort, »und ich will Ihnen den Grund sagen, warum. Es gibt zwei Martin Chuzzlewits, meine Liebe, und wenn Sie aus Übereilung und Zorn dem einen etwas sagen, so kann man nicht wissen, was für ernste Folgen das für den andern haben könnte. Sie wünschen doch dem jüngeren von beiden nicht zu schaden, wie?«

Mary zitterte heftig und blickte Mr. Pecksniff mit so stolzer Verachtung an, daß er seine Augen abwandte – ohne Zweifel bloß, um nicht gegen die Überzeugung seines bessern Selbsts sich von ihr beleidigt zu fühlen.

»Ein schlecht begrabener Zwist, mein Herzchen, kann sich leicht in lodernden Haß verwandeln, bedenken Sie das«, fuhr der Treffliche langsam fort. »Es wäre gewiß höchst bedauerlich, einem beinahe enterbten jungen Mann in seinen auf sehr schwachen Füßen stehenden Aussichten noch mehr zu schaden, aber wie leicht ist das getan. Ach, wie leicht! Sie glauben, ich hätte wirklich Einfluß auf unsern verehrungswürdigen Freund? Nun, vielleicht ist es so – vielleicht ist es so.« Dabei erhob er seinen Blick zu dem ihrigen und nickte ihr mit einer wahrhaft bezaubernd neckischen Miene zu.

»Nein«, schloß er gedankenvoll, »an Ihrer Stelle, mein süßes Herzchen, würde ich um alles in der Welt mein Geheimnis für mich behalten. Ich bin durchaus nicht überzeugt – bin im Gegenteil weit davon entfernt –, ob es überhaupt unsern Freund überraschen würde. Er und ich haben erst diesen Morgen ein Gespräch miteinander gehabt, und er verlangt sehnlichst, höchst sehnlich danach, Sie entsprechend versorgt zu wissen. Wie dem übrigens auch sein mag, die Folgen Ihrer Mitteilung würden stets dieselben bleiben und Martin junior könnte dadurch ernstlich zu Schaden kommen. Sie wissen, ich bemitleide Martin junior«, säuselte Pecksniff mit überzeugendem Lächeln. »Obgleich er es nicht verdient, so empfinde ich dennoch Mitleid mit ihm.«

Mary weinte jetzt so bitterlich und war so betrübt, daß der Treffliche es für geraten hielt, sie von seiner Umarmung zu befreien und bloß an der Hand zu halten.

»Was unsern eigenen Anteil an diesem kostbaren Geheimnisse betrifft, so wollen wir’s für uns behalten, nur unter uns besprechen, und Sie werden sich die Sache überlegen. Ich weiß, mein Herz, Sie werden mir recht geben; ich weiß es bestimmt. Denken Sie jetzt, wie Sie wollen, darüber, aber Sie werden es tun. Ich glaube mich zu erinnern – ich weiß in der Tat nicht mehr, wo oder wie ich es gehört habe«, setzte Pecksniff mit bezaubernder Offenherzigkeit hinzu, »daß Sie und Martin junior in kindlichem Alter eine Art von zärtlicher Zuneigung zueinander empfanden. Wenn wir einmal verheiratet sind, werden Sie mit Vergnügen daran zurückdenken, daß diese Liebe zu Martins Bestem nicht weitergedauert hat, sondern zu seinem Heil und zu seinem Vorteil im Sande verlief. Und dann wollen wir sehen, was wir tun können, um Martin junior mit einer Kleinigkeit im Leben weiterzuhelfen. Habe ich also wirklich einigen Einfluß bei unserm verehrungswürdigen Freund? – Nun, vielleicht ist es so, wer weiß.«

Das Gehölz, in dem dieses zärtliche Gespräch geführt wurde, stieß dicht an Mr. Pecksniffs Haus. Sie waren jetzt so nahe davor, daß er stehenblieb, Marys kleinen Finger nahm und in scherzhaftem Tone wie zum Abschied sagte:

»Soll ich hineinbeißen?«

Da er keine Antwort erhielt, küßte er den Finger, beugte sich nieder, neigte sein aufgedunsenes, welkes Gesicht zu Mary herab und entließ sie gnädigst mit einem Segenswunsch, der aus einem solchen Munde vollständig hinreichen mußte, sie von Stund an für ihr ganzes übriges Leben glücklich zu machen.

Galanterie im wahren Sinne des Wortes soll einen Mann erheben und veredeln, und wirklich hat die Liebe schon so manchen Cimon verschönt, aber an Mr. Pecksniff schien sie, vielleicht weil sie für ein so erhabenes Wesen eine gar zu irdische Erscheinung war, keine ungewöhnliche Veränderung hervorzubringen. Im Gegenteil, er schien sich in sich selbst verkriechen zu wollen und unglücklich darüber zu sein, daß es ihm nicht recht gelingen wollte, sich schön zu fühlen. Seine Schuhe schienen ihm zu groß, seine Ärmel zu lang, seine Haare zu schütter, sein Hut zu klein, seine Züge zu ordinär. Sein bloßer Hals kam ihm vor, als würde ihm ein Strick ausgezeichnet stehen. Einige Minuten lang wurde ihm abwechselnd heiß und kalt; – er fühlte sich beklommen, blamiert, kurz, alles, nur nicht pecksniffisch. Aber bald faßte er sich wieder und lenkte mit so wohlwollender Miene seine Schritte dem Hause zu, als sei er der Hohepriester der Sommermorgenfeier gewesen.

Mit den Worten: »Ich habe bereits alles für meine morgige Abreise vorbereitet«, empfing ihn Charitas.

»So bald gedenkst du mich zu verlassen, mein Kind?«

»Unter den bewußten Umständen kann ich nicht bald genug fortkommen«, versetzte Charitas. »Ich habe an Mrs. Todgers geschrieben, mir die näheren Bedingungen eines Unterkommens für mich anzugeben, und habe sie gebeten, mich jedenfalls an der Postkutsche zu erwarten, wenn ich ankomme. – Sie werden jetzt ganz Ihr eigener Herr sein, Mr. Pinch.«

– Mr. Pecksniff hatte einen Augenblick das Zimmer verlassen, und Tom war eingetreten. –

»Mein eigener Herr?« wiederholte Tom.

»Ja. Es wird niemand mehr in Ihre Verhältnisse eingreifen, wenigstens hoffe ich das. Hem! Was für eine wandelbare Welt unser Erdenleben doch ist!«

»Wie? Wollen – wollen Sie sich auch verheiraten, Miss Pecksniff?« fragte Tom höchlichst überrascht.

»Das nicht gerade«, stotterte Cherry. »Ich bin noch zu keinem Entschluß gekommen, – obschon ich glaube, daß ich’s könnte, wenn ich wollte, Mr. Pinch.« »Natürlich können Sie es«, versicherte Tom und sagte damit die volle Wahrheit, denn er glaubte tief innerlich fest daran.

»Nein«, sagte Cherry, »mir ist’s nicht ums Heiraten zu tun, denn es hat mir bisher noch keiner gefallen. – Hm! – Aber ich will nicht mehr länger bei Papa bleiben. Ich habe gewisse Gründe dazu, die jedoch vorderhand noch ein Geheimnis bleiben müssen. Ich versichere Ihnen, daß ich Ihrer stets in Freundschaft gedenken werde, schon um des Mutes willen, den Sie in jener Nacht bewiesen haben. Was also Sie und mich betrifft, so scheiden wir als die besten Freunde.«

Tom dankte ihr für ihre Freundschaft und ihr Vertrauen, obwohl sie so geheimnisvoll tat, daß es ihn förmlich verwirrte. In seiner unbegrenzten Zuneigung zu der Familie hatte er schon Gratias Verlust lebhafter empfunden, als irgendein Mensch begreifen konnte, der nicht wußte, daß Pinch die Ursachen aller erlittenen Kränkungen nur seinem eigenen Mangel an Verdiensten zuschrieb. Er hatte sich kaum in den Abgang der jüngeren Schwester hineinfinden können, und nun sollte er auch noch erleben, daß er Charitas verlor! Sie war sozusagen unter seinen Augen aufgewachsen. Beide Schwestern bildeten einen Teil von Mr. Pecksniff und einen Teil von ihm – waren die Mittelpunkte von Mr. Pecksniffs Liebe und seinen eigenen Dienstleistungen. Nein, das war zu viel! – Vor lauter Brüten über diese schrecklichen Veränderungen konnte Tom in der nächsten ganzen Nacht kaum zwei Stunden schlafen. Als der Morgen graute, meinte er, er müsse von Unmöglichkeiten geträumt haben; aber nein, als er die Treppe hinunterging, sah er mit eigenen wachen Augen, daß die Koffer gepackt, die Hutschachteln zusammengeschnürt und andere Vorbereitungen, die den ganzen Tag in Anspruch nahmen, für Miss Charitas‘ Abreise getroffen wurden.

Als die Zeit des Abschieds gekommen war, legte Miss Charitas die Haushaltsschlüssel mit großer Würde auf den Tisch, sagte dem ganzen Hause Lebewohl und verließ ihr väterliches Heim – zur heimlichen Wonne des Dienstmädchens, das, wie gewisse Lästerzungen später behaupteten, am nächsten Sonntagsgottesdienst deswegen ein besonders inniges Dankgebet zum Himmel schickte.

31. Kapitel


31. Kapitel

Mr. Pinch wird einer Pflicht enthoben, die er im Grunde genommen niemals hatte, und Mr. Pecksniff erfüllt eine Pflicht, die er der gesamten Menschheit schuldig zu sein glaubt

Die Schlußworte des vorigen Kapitels leiten sehr passend den Anfang des gegenwärtigen ein, denn dieses hat ebenfalls mit einer Kirche zu tun, und zwar mit einer Kirche, die wir schon oft erwähnt haben und in der Tom Pinch gratis die Orgel zu spielen pflegte.

Eine Woche nach Miss Charitas‘ Abreise nach London machte Mr. Pecksniff an einem schwülen Nachmittag einen einsamen Spaziergang, und dabei fiel es ihm ein, auch einmal den Kirchhof zu besuchen. Wie er so zwischen den Grabsteinen umherschlenderte und die eine oder andere brauchbare Sentenz auf den Grabinschriften seinem Gedächtnis einzuprägen bemüht war – versäumte er doch nie eine Gelegenheit, sich mit moralischen Raketen zu versehen, die er bei passender Gelegenheit loslassen konnte –, begann Tom gerade mit seinem Orgelspiel.

Tom benützte fast jeden freien Augenblick dazu, und da es ein einfaches kleines Instrument war, das man allein mit den Füßen bedienen konnte, so waren keine Blasbalgtreter nötig, obgleich sämtliche Knaben oder Männer des Dorfes ihm gewiß mit Freuden ihre Dienste angeboten haben würden und ihm geholfen hätten, bis sie vor Anstrengung umgefallen wären.

Mr. Pecksniff hatte im allgemeinen gegen Musik nichts einzuwenden – nicht das mindeste – das betonte er stets –, hielt aber die Tonkunst im großen und ganzen für eine Art Spielerei, die gerade gut genug wäre für Toms geistige Fähigkeiten. Mit Bezug auf das Orgelspiel seines Faktotums war er ganz besonders nachsichtig, denn wenn Tom an Sonntagen spielte, hatte er so die Empfindung, er selbst werde dadurch zum Wohltäter an der ganzen Gemeinde. Sooft es daher unmöglich war, Tom anderweitig auszunutzen, erlaubte er ihm gern, sich auf diesem Instrumente zu üben – ein Beweis von Rücksicht, den Mr. Pinch stets dankbar anerkannte. Der Nachmittag war sehr schwül, und Mr. Pecksniff hatte einen weiten Spaziergang hinter sich. Er erfreute sich, wie gesagt, keines besonders musikalischen Gehörs, wußte es aber zu würdigen, wenn eine Melodie einen beruhigenden Einfluß auf seine Seele übte. Und das war eben jetzt der Fall. Tönte sie ihm doch zu wie ein harmonisches Schnarchen. Er näherte sich der Kirche, blickte durch die Fensterscheiben neben dem Eingang und erblickte Tom, wie er hinter den zurückgeschlagenen Vorhängen der Emporkirche ausdrucksvoll und mit tiefer Innigkeit spielte.

Die Kirche hatte etwas Einladendes in ihrer Kühle; die alte eichene Decke, von Querbalken getragen, die altersgrauen Mauern, die marmornen Täfelungen und der geborstene steinerne Fußboden boten einen erfrischenden Anblick. Efeublätter schlugen sanft an die Fenster gegenüber, und das Sonnenlicht fiel schräg herein, und der Hintergrund des Kirchenschiffs lag in verlockendem Schatten.

Aber das verführerischste Plätzchen von allen war ein mit roten Vorhängen und weichen Kissen versehener Kirchenstuhl, in dem die Würdenträger des Ortes, deren Oberhaupt Mr. Pecksniff war, sich sonntags einschlossen. Mr. Pecksniffs Sitz befand sich in der Ecke – in einer sehr behaglichen Ecke, wo sich in diesem Augenblick sein umfangreiches Gebetbuch auf dem Pulte breitmachte. So beschloß Pecksniff denn hineinzugehen und ein wenig auszuruhen.

Leise trat er ein, teils, weil es eine Kirche war, teils, weil er immer einen sehr leisen Schritt hatte, teils, weil Tom eine feierliche Melodie spielte, teils, weil er nicht bemerkt werden wollte. Er klinkte die Türe des hohen Kirchstuhls auf, schlüpfte hinein und machte sie wieder hinter sich zu. Dann setzte er sich auf seinen gewohnten Platz, streckte sich bequem aus und schickte sich an, der Musik zu lauschen.

Es ist ein unerklärlicher Umstand, daß er sich schläfrig fühlen konnte, wo doch die Macht der Ideenverbindung hätte hinreichen müssen, ihn wach zu erhalten, aber dennoch war es der Fall. Er hatte noch keine fünf Minuten in seinem verborgenen Winkelchen gesessen, als er einzunicken begann. Sooft er träge seine Augen öffnete, so oft nickte er abermals wieder ein. Die Lider fielen ihm zu, und er nickte aufs neue und verfiel auf diese Art in eine Art Halbbewußtsein, bis auch dieses verschwamm und er so unbeweglich schlummerte wie die Kirchenwände selbst.

Lange noch nachdem er eingeschlafen, hörte er die Orgel, wenn er sich auch nicht klarmachen konnte, daß es eine Orgel war – so wenig wie es ein Ochse imstande gewesen wäre. Nach einer Weile fing er an, in Zwischenräumen traumhafte Stimmen zu hören. Eine Art träge Neugierde weckte ihn. Er schlug die Augen auf. Schlaftrunken blickte er auf die Vorhänge und in seinem Stuhl umher, und eben war er wieder auf bestem Wege einzunicken, als es ihm schien, als ob doch wirkliche Stimmen in der Kirche zu vernehmen wären – gedämpfte Stimmen, die in seiner Nähe angelegentlich miteinander sprachen und in murmelndem Echo von den Wänden widerhallten. Er setzte sich auf und horchte. Ehe er noch ein Dutzend Sekunden gelauscht hatte, war er so vollkommen wach wie nur je in seinem Leben. Augen, Ohren und Mund weit offen, beugte er sich mit äußerster Vorsicht ein wenig vor, lüftete den Vorhang und blickte hinaus.

Tom Pinch und Mary waren es.

Natürlich.

Er hatte ihre Stimme erkannt und wußte bereits, was sie sprachen. Wie der Schädel eines Guillotinierten guckte sein Kopf hervor, mit dem Kinn gerade über dem Rande des Kirchenstuhles, so daß er sogleich wieder untertauchen konnte, falls einer der Sprechenden sich umdrehte. In dieser Stellung horchte Mr. Pecksniff. Und er horchte mit solcher Anstrengung, daß selbst sein Haar und sein Hemdkragen sich aufzurichten schienen, als wollten sie ebenfalls mithorchen.

»Nein«, hörte er Tom sagen, »außer dem einzigen aus New York ist kein Brief weiter an mich gelangt. Aber seien Sie deshalb nicht beunruhigt. Es ist höchst wahrscheinlich, daß sie weiter ins Land hineingezogen sind, wo die Briefpost noch nicht so regelmäßig funktioniert. Er bemerkte es gleich in dem Schreiben, daß es in der Stadt, in die sie zu gehen gedächten, wohl so sein werde. In Eden, Sie wissen.«

»Es ist eine schwere Sorge für mich«, klagte Mary. »Sie dürfen es nicht als solche empfinden«, tröstete Tom; »sagt doch das Sprichwort, daß nichts so schnell wandert wie schlimme Neuigkeiten, und wenn Martin nur das Geringste zugestoßen wäre, so würden Sie zuverlässig längst davon erfahren haben. Ich habe oft gewünscht, Ihnen dies sagen zu können«, fuhr er einigermaßen verlegen fort, »aber Sie haben mir niemals Gelegenheit dazu gegeben.«

»Ich habe immer gefürchtet«, sagte Mary, »Sie könnten glauben, ich scheute mich, Ihnen mein Vertrauen zu schenken, Mr. Pinch.«

»N-nein«, stammelte Tom, »ich kann Ihnen versichern, daß ich niemals etwas Derartiges geglaubt habe; – ich – ich – hätte den Gedanken sogleich unterdrückt. Als eine Ungerechtigkeit gegen Sie. Ich fühle, wie delikat es für Sie sein muß, sich gerade mir anzuvertrauen«, setzte er rasch hinzu, »aber seien Sie überzeugt, ich würde mein Leben dransetzen, Ihnen nur einen Tag Unruhe zu ersparen, weiß Gott. Ich fürchtete, manchmal Ihr Mißfallen zu erregen, – weil – weil ich die Kühnheit hatte, zuweilen Ihre Gedanken erraten zu wollen. Dann wieder bildete ich mir ein, daß Ihr gutes Herz Sie veranlasse, sich von mir fernzuhalten.«

»Wirklich?«

»Es war sehr töricht, sehr anmaßend und lächerlich, etwas Derartiges zu glauben«, fuhr Tom fort, »aber ich fürchtete, Sie könnten es für möglich halten, daß ich – daß ich – Sie zu viel bewundern und darüber – – meinen eigenen Seelenfrieden verlieren könnte und – daß Sie deshalb auf die geringe Hilfe verzichteten, die Sie sonst von mir angenommen hätten. – – Wenn Ihnen je ein solcher Gedanke kam«, stotterte er, »bitte, so lassen Sie ihn jetzt fallen. Ich brauche nur wenig zu meinem Glück und werde hier zufrieden leben, wenn Sie und Martin mich längst vergessen haben. Ich bin ein armes, schüchternes und unbeholfenes Geschöpf und kein Mann von Welt; und Gott behüte, daß Sie je mehr an mich dächten als an einen alten Mönch.«

»Lieber Mr. Pinch«, Mary reichte Tom die Hand, »ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr mich Ihre Güte rührt. Ich habe Ihnen nie durch den geringsten innern Zweifel unrecht getan, – nie aufgehört zu fühlen, daß Sie uns alles das – ja mehr als alles – waren, was Martin mir von Ihnen sagte. Ohne Ihre stumme und zartsinnige Freundschaft hätte ich mich hier sehr unglücklich gefühlt, aber Sie sind mir ein guter Engel gewesen, der mir Dankbarkeit, Hoffnung und Mut eingeflößt hat«

»Ich fürchte, ich gleiche so wenig einem Engel«, entgegnete Tom kopfschüttelnd, »wie einem von den steinernen Cherubim auf den Gräbern hier. Ich glaube nicht, daß es viele wirkliche Engel dieser Art gibt. Aber ich möchte wissen (wenn Sie es mir sagen wollen), warum Sie so ganz und gar über Martin geschwiegen haben.«

»Weil ich fürchtete, Ihnen wehe zu tun.«

»Mir wehe zu tun!« rief Tom.

»Ich meine, Ihnen zu schaden bei Ihrem Herrn.«

– Der Ehrenmann, von dem die Rede war, duckte sich unter den Kirchenstuhl. –

»Bei Pecksniff?« rief Tom, freudig erregt. »O du mein Himmel! Der denkt nicht an so etwas! Er ist der beste aller Sterblichen. Er würde nur um so glücklicher sein, je wohler Sie sich fühlen. Nein, nein, vor Pecksniff brauchen Sie sich nicht zu fürchten, der ist wahrhaftig kein Spion.«

So mancher an Mr. Pecksniffs Stelle würde, wenn es möglich gewesen wäre, augenblicklich durch den Boden des Prunkstuhls getaucht sein, um in Kalkutta oder irgendeiner unbewohnten Gegend bei den Antipoden wieder zum Vorschein zu kommen. Mr. Pecksniff kauerte sich nur zusammen, horchte noch gespannter als früher und lächelte bloß.

Mary schien inzwischen widersprochen zu haben, denn Tom fuhr fort und beteuerte mit ehrlichem Eifer:

»Ich weiß wirklich nicht, wie es kommt, aber sooft ich mich in dieser Weise auslasse, muß ich finden, daß niemand Mr. Pecksniff Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Es ist dies eine der außerordentlichsten Merkwürdigkeiten, die ich mir nur denken kann, aber dennoch ist es der Fall. Da haben wir zum Beispiel Mr. John Westlock, der als Zögling hier weilte. In allen andern Sachen ist er sonst der beste Mensch von der Welt, aber ich glaube wirklich, er würde Pecksniff am liebsten durchgepeitscht haben, wenn er hätte können. Und John ist nicht der einzige. Jeder Zögling, der noch hier gewesen ist, ist mit demselben eingefleischten Haß gegen Pecksniff wieder fortgegangen. Da war zum Beispiel Mark Tapley. Wenn er auch eine ganz andere Lebensstellung bekleidete«, fuhr Tom fort, »so ist es doch ganz entsetzlich, wie auch er, als er noch im ›Drachen‹ angestellt war, sich über Pecksniff ausließ. Und dann Martin! – Martin war der Schlimmste von allen. Aber ich vergesse ja ganz: natürlich war er es, der Sie darauf brachte, Mißtrauen gegen Mr. Pecksniff zu hegen; Sie kamen offenbar deshalb mit Vorurteilen hierher. Sie werden einsehen, Miss Graham, unter solchen Umständen ist man kein unbefangener Beobachter.«

Und voll Triumph über diese große Entdeckung rieb sich Tom mit großer Selbstzufriedenheit die Hände.

»Mr. Pinch«, rief Mary, »Sie täuschen sich.«

»Nein, nein«, widersprach Tom, »Sie täuschen sich in ihm. Aber«, fuhr er, rasch seinen Ton ändernd, fort, »was gibt es, was haben Sie denn nur, Miss Graham?«

Langsam brachte Mr. Pecksniff sein Haar, seine Stirne, seine Augenbrauen und schließlich sein Auge über den Kirchenstuhlrand. Das junge Mädchen saß neben der Türe auf einer Bank und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Tom beugte sich über sie.

»Was ist Ihnen?« rief Tom abermals. »Habe ich etwas gesagt, was Sie kränken konnte? Oder hat sich irgend jemand erlaubt, Ihnen wehe zu tun. Bitte, weinen Sie doch nicht. Bitte, sagen Sie mir, was Ihnen fehlt. Ich kann es nicht mit ansehen, daß Sie so betrübt sind. Barmherziger Himmel, ich war in meinem ganzen Leben noch nie so außer mir und so tief ergriffen.«

Mr. Pecksniff hielt sein Auge wie gebannt noch immer auf dieselbe Stelle gerichtet. Nur ein Bohrer oder ein glühendroter Draht wäre imstande gewesen, seinem Blick eine andere Richtung zu geben.

»Ich würde Ihnen gegenüber schweigen, Mr. Pinch«, schluchzte Mary, »wenn ich’s nur übers Herz bringen könnte! Aber Ihre Selbsttäuschung hat etwas so Schreckliches und übersteigt so alles Maß, und es ist so durchaus nötig für uns, auf unsrer Hut zu sein und uns keine Blöße zu geben, daß mir keine andere Wahl bleibt, als Ihnen mitzuteilen, wer mich bedrängt. Ich bin ausdrücklich hierher gekommen, um Ihnen davon Mitteilung zu machen. Ich glaube, dennoch würde mir der Mut gefehlt haben, wenn Sie mich nicht zufälligerweise gerade auf das Thema gebracht hätten.«

Tom blickte sie fest an und schien durch seine Miene sagen zu wollen: »Was wird da wohl noch alles herauskommen«, aber er ließ kein Wort laut werden.

»Dieser Mensch, den Sie für den besten aller Sterblichen halten – « begann Mary aufblickend, mit bebenden Lippen und blitzenden Augen.

»Gott im Himmel«, stöhnte Tom, »halten Sie noch einen Augenblick inne. – Dieser Mensch, den ich für den besten aller Sterblichen halte? Sie meinen natürlich Pecksniff? Ja, natürlich, Sie müssen Pecksniff meinen. Barmherziger Himmel, überlegen Sie sich, was Sie sagen! Was hat er getan? Wenn er nicht der beste Mensch ist, was wäre er sonst?«

»Er ist der schlechteste, der falscheste, hinterlistigste, niederträchtigste, grausamste, schmutzigste, schamloseste Schuft!« rief das junge Mädchen bebend vor Entrüstung.

Tom ließ sich auf seinen Sitz zurückfallen und schlug die Hände zusammen.

»Wie wollen Sie einen Menschen nennen«, fuhr Mary fort, »der mich in seinem Hause als Gast aufnimmt – als Gast wider Willen! –, der meine Verhältnisse kennt, meine Verlassenheit und Hilflosigkeit, und sich dennoch untersteht, mich vor seinen Töchtern in ein so schiefes Licht zu bringen, daß sogar ein Kind, wenn es mein Bruder wäre, mir instinktiv zur Hilfe käme?«

»Einen Schurken!« rief Tom. »Einen solchen Menschen würde ich einen Schurken nennen.«

Mr. Pecksniff tauchte unter.

»Als mein einziger Freund«, fuhr Mary fort, »– und er ist ein lieber und wohlwollender Freund – noch im Besitz seiner vollen Geisteskraft war, demütigte er sich vor ihm, wurde aber fortgewiesen wie ein Hund, weil man ihn damals durchschaute. Jetzt kriecht er wieder an diesen Freund heran, wo dieser in geistesschwachen Zustand versunken ist, und mißbraucht den Einfluß, den er sich erschlichen, zu bösen und niedrigen Zwecken!«

»Ein solcher Mensch wäre ein Schurke«, rief Tom.

»Und wie, Mr. Pinch, würden Sie einen Menschen nennen, der in der Annahme, es müßte seine Pläne fördern, wenn ich seine Frau wäre, mich mit der niederträchtigen Drohung zum Schweigen zwingt, falls ich ihn nicht heirate, solle Martin, auf dessen Haupt ich leider schon soviel Unglück gehäuft habe, noch tiefer ins Verderben gestürzt werden? Wie ist ein Mensch zu nennen, der sogar meine Treue gegen den, den ich von ganzer Seele liebe, zu einer Qual für mich selbst und zu einem Unrecht an dem Gegenstand meiner Neigung macht – der mich, mag ich tun, was ich will, zu seinem Werkzeug stempelt, um dem wehe zu tun, auf dessen Haupt ich Segen über Segen herabflehen möchte?! Was ist der Mensch, der mich in alle diese grausamen Schlingen verstrickt, der mir bei hellichtem Tage mit glatter Zunge und lächelndem Gesicht seine selbstsüchtigen Ziele auseinandersetzt – der mich wider meinen Willen umarmt und seine Lippen auf meine Hand drückt«, fuhr das aufgeregte Mädchen fort, »die ich am liebsten abhauen möchte, wenn ich dadurch die Schande der Herabwürdigung seiner Berührung wegwaschen könnte?«

»Ich sage«, rief Tom mit Feuer, »er ist ein Schurke! Und ein Bösewicht! Und wer es auch sein mag – ich sage – er ist ein doppelzüngiger und niederträchtiger Schurke!«

Mary bedeckte ihr Gesicht wieder mit ihren Händen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Die Leidenschaft, die sich während dieser Enthüllungen aufrechterhalten, schien sich jetzt in dem überwältigenden Gefühl der Schmach und des Kummers aufzulösen.

Jeder Anblick von Schmerz wäre imstande gewesen, Tom an seiner empfindungsreichsten Stelle zu fassen, aber ein Anblick wie dieser war es ganz besonders. Marys Tränen und Schluchzen waren Pfeile in sein Herz. Er versuchte sie zu trösten, setzte sich neben sie und bot seine ganze schwache Beredsamkeit auf, indem er in Worten des Lobes und der Hoffnung von Martin zu ihr sprach. Trotzdem er sie mit einer Hingebung liebte, wie wohl nur selten ein Weib geliebt wird, so redete er doch ohne Unterlaß von Martin. Nicht alle Schätze Indiens hätten ihn verlocken können, sich selbst auch nur zu erwähnen.

Als sich Mary einigermaßen beruhigt, stellte sie Tom vor, der von ihr geschilderte Mensch sei Pecksniff in seiner wahren Gestalt. Wort für Wort, Satz für Satz, soweit ihr Gedächtnis ausreichte, erzählte sie Tom, was zwischen ihr und dem Ehrenmanne im Gehölz vorgefallen war – ohne Zweifel zur größten Erbauung des Betreffenden selbst, der in seinem Verlangen, hinter dem Vorhang hervorzugucken, und andererseits in seiner Furcht, gesehen zu werden, fortwährend auf- und niedertauchte wie der schlaue Gockel im Puppenkasten, der sich fürchtet, mit dem Prügel eins auf den Kopf zu bekommen. Als sie ihre Erzählung beendet und Tom ersucht hatte, so zu tun, als ob er von dem, was vorgefallen, nicht die geringste Ahnung habe, dankte sie ihm für seine Teilnahme, und dann trennten sie sich, da Fußtritte draußen im Kirchhof hörbar wurden. Tom blieb allein in der Kirche zurück.

Und jetzt brach ein Sturm von Aufregung und das ganze Elend plötzlicher Erkenntnis über ihn herein. Der Stern, der ihm von Jugend auf durch sein ganzes Leben geleuchtet, war im Nu in eklen Dunst aufgelöst. Nicht daß Pecksniff, wie er ihn sich vorgestellt, zu existieren aufgehört hätte, nein – er hatte niemals existiert. Wäre er gestorben, wäre Tom doch wenigstens eine teure Erinnerung geblieben, aber nach dieser Entdeckung war auch das vorüber. Da Toms Blindheit in dieser Hinsicht total und nicht partiell gewesen, so stand jetzt alles mit einem Schlage in entsetzlicher Deutlichkeit vor ihm. Sein Pecksniff hatte sich niemals die Schurkereien zuschulden kommen lassen können, von denen er soeben gehört; – es konnte nur ein Pecksniff sein, der zu allem fähig war und ohne Zweifel sein ganzes Leben lang Niederträchtigkeiten verübt hatte. Von der erhabenen Höhe, auf die Tom das Ideal seines Herzens gestellt, war es auf einmal kopfüber heruntergestürzt und

»Nicht des Königs Gebot und Heeresmacht reichten hin,
die Statue wieder aufzurichten.«

Legionen von Titanen hätten nicht vermocht, Pecksniff aus dem Schlamme hervorzuziehen und wieder rein zu waschen. Aber er – Tom –, der darunter litt, hatte seinen Kompaß verloren, seine Himmelskarte war zerrissen, seine Uhr stehengeblieben, sein Mast war über Bord gegangen, sein Anker losgerissen, und er selbst trieb wie ein Wrack im weiten Meer.

Mr. Pecksniff beobachtete ihn mit lebhaftem Interesse. Er erriet die Bedeutung von Toms innerlichen Selbstgesprächen und war gespannt, wie er sich wohl weiter benehmen würde. Eine Zeitlang raste Mr. Pinch wie ein Verrückter im Kirchenschiff auf und nieder, hin und wieder haltmachend, um sich an einen Stuhl zu lehnen und nachzugrübeln. Dann wieder starrte er ausdruckslos auf ein altes, geschmackvoll mit Menschenschädeln und gekreuzten Knochen verziertes Monument, als wäre es das schönste Kunstwerk, das er je gesehen, trotzdem er es zu andern Zeiten mit größter Verachtung behandelt haben würde, setzte sich nieder oder ging abermals auf und ab, bis er endlich zur Orgel emporstieg und mit zögernder Hand nach den Tasten suchte. Aber der sonst so vertraute Klang und die hehren Töne waren dahin. Er schlug einen langen wehmütigen Akkord an, dann ließ er den Kopf auf die Hände sinken und überließ sich ganz seiner hoffnungslosen Stimmung.

»Ich würde mir noch nicht soviel daraus machen«, jammerte er, erhob sich von seinem Stuhl und starrte in die Kirche hinunter, »ich würde mir noch nicht soviel daraus machen, wenn ich es wäre, dem er so Schreckliches zugefügt, denn ich habe seine Geduld oft auf die Probe gestellt, war auf seine Nachsicht angewiesen und war ihm nie eine Hilfe, wie es ein anderer hätte sein können. Ich würde es mir nicht so zu Herzen nehmen, Pecksniff«, fuhr er fort, ohne zu ahnen, wer ihm unten im Kirchenstuhl zuhörte, »wenn du mir unrecht getan hättest, denn ich würde hinreichende Entschuldigung dafür gefunden haben; und wie weh du mir auch getan hättest, so würde ich dich doch immer noch haben achten können. O Gott, warum mußtest du so tief in meinen Augen sinken! Ach, Pecksniff, es gibt nichts auf der Welt, das ich nicht mit Freuden hingeben würde, wenn ich mir meine alte Verehrung für dich dadurch wieder erkaufen könnte.«

Mr. Pecksniff setzte sich auf das Polster nieder und zupfte seinen Hemdkragen in die Höhe, während Tom, bis ins Innerste aufgewühlt, sich in diesen Ausrufen erging. Nach einer Weile hörte er Mr. Pinch die Treppe hinunterkommen und mit den Kirchenschlüsseln klirren. Als er vorsichtig das Auge über den Rand des Kirchenstuhls erhob, sah er ihn langsam hinausgehen und die Türe hinter sich schließen.

Lange wagte er nicht, sein Versteck zu verlassen, denn er bemerkte durch die Kirchenfenster, wie Tom zwischen den Gräbern hin und her wandelte und manchmal an einem Gedenkstein stehenblieb wie ein Leidtragender, der den Verlust eines lieben Freundes betrauert. Selbst als Tom den Kirchhof verlassen, blieb Mr. Pecksniff noch immer sitzen, nicht sicher, ob Tom nicht am Ende doch noch einmal zurückkomme. Endlich trat er aus der Kirche hinaus und ging mit unbefangener Miene in die Sakristei, wo sich knapp am Boden ein Fenster befand, durch das er bloß hinauszusteigen brauchte.

Er befand sich in höchst seltsamer Gemütsverfassung und eilte sich durchaus nicht, fortzukommen. Er schien sogar eher Lust zu haben, noch ein Viertelstündchen zu vertrödeln, wenigstens öffnete er den Schrank in der Sakristei und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel des Pfarrers, der an der Türe hing. Da er bemerkte, daß sein Haar einigermaßen in Unordnung war, erlaubte er sich, von der kanonischen Bürste Gebrauch zu machen. Dann öffnete er einen zweiten Schrank, machte ihn aber sogleich wieder zu, da ihn der Anblick eines schwarzen und eines weißen Chorrocks erschreckte, die, an ihren Haken baumelnd, ganz den Eindruck machten, als ob sich zwei Pfarrer in der Garderobe erhängt hätten. Sich plötzlich erinnernd, im ersten Schrank eine Flasche Portwein und einen Rest Zwieback gesehen zu haben, sperrte er lieber wieder diesen auf und führte sich mit großem Behagen die beiden Labsale zu Gemüte – alles mit höchst tiefsinniger Miene, als wären seine Gedanken ganz anderswo.

Dann schien er plötzlich einen festen Entschluß zu fassen – wenn er überhaupt geschwankt hatte –, stellte Flasche und Zwieback wieder an ihren Ort und öffnete das Fenster. Ohne Schwierigkeiten gelangte er auf den Kirchhof und ging geraden Weges nach Hause.

»Mr. Pinch zu Hause?« fragte er die Dienstmagd.

»Er ist soeben gekommen, Sir.«

»Soeben gekommen, so?« wiederholte Mr. Pecksniff gut gelaunt. »Er ist wahrscheinlich oben?«

»Ja, Sir, er ist hinaufgegangen. Soll ich ihn rufen?«

»Nein«, sagte Mr. Pecksniff, »nein, du brauchst ihn nicht zu rufen, Jane, ich danke dir, Jane. Was machen übrigens deine Verwandten, Jane?«

»Sie befinden sich ziemlich wohl, ich danke Ihnen, Sir.«

»Freut mich, freut mich. Sag ihnen, daß ich mich nach ihrem Befinden erkundigt habe, Jane. – Ist Mr. Chuzzlewit drinnen?«

»Ja, Sir, er ist im Zimmer drin und liest.«

»Im Wohnzimmer und liest. So, so. Sehr gut. Ich denke, ich werde ihm ein wenig Gesellschaft leisten.«

Noch nie hatte man Mr. Pecksniff in besserer Laune gesehen.

Als er jedoch in das Zimmer trat, wo der alte Herr mit Feder, Tinte und Papier tätig war – Mr. Pecksniff sah immer darauf, daß er mit Schreibmaterialien wohlversehen war –, da machte er ein minder heiteres Gesicht. Er war nicht etwa erzürnt oder rachsüchtig, mürrisch oder verdrießlich – nein, durchaus nicht –, aber betrübt war er, schmerzlich betrübt. Und als er neben dem alten Herrn Platz nahm, da stahlen sich zwei Tränen – nicht Tränen wie die, mit denen die Engel eine Sündenschuld auslöschen, sondern eher solche, bei denen sie eine Schuld eintragen –, zwei solche Tränen also stahlen sich über seine menschenfreundlichen Wangen herab.

»Was gibt es?« fragte der alte Martin. »Pecksniff, Mensch, was fehlt Ihnen denn?«

»Es tut mir von Herzen leid, daß ich Sie stören muß, mein wertgeschätzter Freund, und noch mehr schmerzt mich die Ursache, die mich dazu zwingt. Mein guter, mein würdiger Freund, ich bin schmählich hintergangen worden!«

»Sie sind hintergangen worden?«

»Ach«, jammerte Mr. Pecksniff in tiefster Seelenqual, »betrogen auf die entsetzlichste Weise, grausam hintergangen von jemandem, Sir, in den ich das unbeschränkteste Vertrauen setzte. – Hintergangen, Mr. Chuzzlewit von – – Thomas Pinch!«

»Schlimm, schlimm, sehr schlimm«, murmelte Martin Chuzzlewit und legte sein Buch nieder, »sehr schlimm. Aber vielleicht irren Sie sich. Sind Sie Ihrer Sache auch ganz sicher?«

»Vollständig sicher, mein wertgeschätzter Freund. Meine eigenen Augen und Ohren sind meine Zeugen, ich hätte es sonst nicht geglaubt. Ich hätte es nicht geglaubt, Mr. Chuzzlewit, und wenn ein feuriger Drache es von der Spitze der Salisbury-Kathedrale verkündet hätte. Ich hätte gesagt«, rief Mr. Pecksniff, »der Drache lügt. Einen derartigen Glauben hegte ich zu Thomas Pinchs Treue, daß ich dem Drachen die Lüge in den Hals zurückgeschleudert und Thomas an mein Herz gedrückt hätte. Aber ich selbst, Sir, bin leider kein Drache, und es bleibt mir keine Hoffnung – keine Möglichkeit –, die Sache zu beschönigen.«

Martin Chuzzlewit schien diese so unerwartete Nachricht sehr zu beunruhigen. Er bat Mr. Pecksniff, sich zu fassen, und fragte, wieso Mr. Pinch ihn denn hintergangen habe.

»Das ist ja eben das Schlimme an der Sache, Sir«, rief Mr. Pecksniff. »Es betrifft eine Angelegenheit, die Sie sehr nahe angeht. Ach, ist es nicht genug«, rief er mit einem Aufblick zum Himmel, »daß mich ein so schwerer Schlag trifft, muß er auch meine Freunde treffen?!«

»Sie erschrecken mich!« rief der alte Mann sich verfärbend. »Ich bin nicht mehr so stark wie früher; Sie erschrecken mich, Pecksniff!«

»Fassen Sie sich, mein wertgeschätzter Freund«, redete ihm Mr. Pecksniff tröstend zu. »Wir wollen handeln, wie die Umstände es erheischen. Sie werden alles erfahren, Sir. Es soll Ihnen Genugtuung werden. Aber vorerst müssen Sie mich entschuldigen, Sir, Sie müssen mich entschuldigen. Ich habe eine Pflicht zu erfüllen, die ich der menschlichen Gesellschaft schuldig bin!«

Er zog die Klingel, und Jane erschien.

»Sei so gut und schicke Mr. Pinch herunter, Jane.«

Tom kam – gezwungen und verändert in seinem ganzen Benehmen, niedergeschlagen, gedrückt und sichtlich verlegen. Er brachte es nicht über sich, Mr. Pecksniff ins Gesicht zu sehen.

Der Ehrenmann warf Mr. Chuzzlewit einen Blick zu, als wolle er sagen: »Sie sehen selbst«, und redete Tom folgendermaßen an: »Mr. Pinch, ich habe das Fenster in der Sakristei offen gelassen. Würden Sie die Güte haben, es zuzusperren und mir dann die Schlüssel des Gotteshauses herzubringen!«

»Das Sakristeifenster, Sir?« stotterte Tom.

»Ich denke, Sie verstehen mich doch, Mr. Pinch«, entgegnete Mr. Pecksniff streng. »Jawohl, Mr. Pinch, das Sakristeifenster. Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß ich nach einem ermüdenden Spaziergang in der Kirche einschlief und soeben erst einige Bruchstücke« – er legte einen besonderen Nachdruck auf dieses Wort – »eines gewissen Zwiegesprächs zwischen zwei Personen mit anhören mußte. Eine davon schloß die Kirche zu, als sie hinausging, und ich sah mich genötigt, das Gotteshaus durch das Sakristeifenster zu verlassen. Tun Sie mir also den Gefallen, das Sakristeifenster jetzt zu schließen, und kommen Sie dann zu mir zurück.« – Kein Physiognom auf der Welt hätte Toms Gesicht bei diesen Worten beschreiben können. Es lag Verwunderung darin und milder Vorwurf, aber weder Furcht noch Schuldbewußtsein, wenn auch ersichtlich eine Menge gewaltiger Gefühle miteinander um die Oberherrschaft rangen. Er verbeugte sich und ging, ohne auch nur ein einziges Wort – weder im Guten noch im Bösen – zu erwidern.

»Pecksniff!« rief Martin zitternd. »Was hat das alles zu bedeuten? Übereilen Sie sich nicht. Es könnte Ihnen später vielleicht leid tun.«

»Nein, mein wertgeschätzter Freund«, rief Mr. Pecksniff mit Festigkeit. »Ich habe eine Pflicht zu erfüllen, die ich der menschlichen Gesellschaft schuldig bin, und ich will mich ihrer entledigen, koste es, was es wolle.«

Um seine Pflicht gegenüber der menschlichen Gesellschaft erfüllen zu können, mußte Pecksniff Tom erst wieder zurückkehren lassen; er benützte daher die Zwischenzeit, seinen »wertgeschätzten« Freund entsprechend zu präparieren. Mary befand sich in ihrem Zimmer, und eine Störung von ihrer Seite stand nicht zu befürchten, da der stets rücksichtsvolle Mr. Pecksniff den alten Herrn gebeten hatte, ihr sagen zu lassen, sie solle vor einer halben Stunde nicht herunterkommen. Ihre Gefühle mußten selbstverständlich geschont werden.

»Haben Sie das Sakristeifenster geschlossen, Mr. Pinch?« fragte Pecksniff, als Tom zurückkehrte.

»Gewiß, Sir!«

»Ich danke Ihnen. Und jetzt sind Sie vielleicht so freundlich, mir die Schlüssel auszufolgen, Mr. Pinch.«

Tom legte sie auf den Tisch. Er hielt den ganzen Bund an dem Schlüssel zur Orgelgalerie, obgleich dieser einer der kleinsten war, und sah ihn noch lange traurig an, als er ihn aus der Hand gelegt. Er war ein alter, lieber Freund von ihm gewesen – ein Kamerad seit langer, langer Zeit.

»Mr. Pinch«, begann Mr. Pecksniff kopfschüttelnd. »Mr. Pinch, wirklich, ich wundere mich, daß Sie mir noch ins Gesicht sehen können!«

Aber Tom sah ihm dennoch ins Gesicht, und während er sonst für gewöhnlich eine gebückte Haltung zu haben pflegte, stand er jetzt doch so gerade vor ihm, wie nur ein Mensch stehen kann.

»Mr. Pinch«, Pecksniff griff nach seinem Taschentuch, ahnend, daß er es sehr bald brauchen werde, »ich will nicht von der Vergangenheit reden. Ich will Ihnen und mir diese Pein ersparen.«

Toms Auge war nicht sehr ausdrucksvoll für gewöhnlich, leuchtete aber jetzt um so mehr, als er Mr. Pecksniff anblickte und erwiderte:

»Ich danke Ihnen, Sir! Es freut mich sehr, daß Sie nicht von der Vergangenheit sprechen wollen!«

»Die Gegenwart genügt uns«, unterbrach ihn Mr. Pecksniff und ließ, um seine Verlegenheit zu verbergen, einen Penny fallen, »und je früher sie vorbei ist, desto besser. – – Ich will Sie nicht entlassen, Mr. Pinch, ohne nicht vorher ein Wort der Erklärung einzufügen. Nach dem, was vorgefallen ist, wäre es zwar vollkommen gerechtfertigt, wenn ich es täte, aber es könnte immerhin wie Übereilung aussehen, und das wünsche ich nicht«, er ließ abermals einen Penny fallen. »Ich bin vollkommen meiner selbst Herr, und deshalb will ich Ihnen jetzt wiederholen, was ich bereits zu Mr. Chuzzlewit gesagt habe.«

Tom sah den alten Herrn an, der hin und wieder, wie zur Billigung von Mr. Pecksniffs Gesinnungen und Aussprüchen, mit dem Kopfe nickte, sich sonst aber in keiner Weise in das Gespräch mischte.

»Aus diesen Bruchstücken einer Unterhaltung also, die ich soeben in der Kirche mit anhörte, Mr. Pinch – und zwar zwischen Ihnen und Miss Graham – ich sage ›Bruchstücke‹, weil ich ziemlich weit entfernt von Ihnen schlummerte, als ich von Ihren Stimmen aufgeweckt wurde –, und aus dem, was ich mit ansah, erkannte ich (und ich hätte viel darum gegeben, Mr. Pinch, wenn ich es nicht hätte müssen), daß Sie sich, alle Bande der Pflicht und Ehre vergessend, Sir, gegen die geheiligten Gesetze der Gastfreundschaft, denen Sie als Bewohner dieses Hauses Treue schuldig waren, unterfangen haben, Liebeserklärungen an Miss Graham zu richten.«

Tom sah ihm unverwandt ins Auge.

»Wollen Sie es leugnen, Sir?« fragte Mr. Pecksniff, ließ ein Pfund zwei Schillinge und vier Pence zu Boden fallen und tat sehr geschäftig, sie wieder aufzulesen.

»Nein, Sir«, erwiderte Tom, »ich leugne es nicht.«

»Sie leugnen es also nicht!« rief Mr. Pecksniff und warf dem alten Herrn einen triumphierenden Blick zu. »Bitte, haben Sie dann die Güte, das Geld zusammenzuzählen, Mr. Pinch, und Ihren Namen unter diese Quittung zu setzen – Sie leugnen es also nicht?«

Nein, Tom leugnete es nicht; er verschmähte es, zu leugnen. Er erkannte, daß Mr. Pecksniff als »Horcher an der Wand seine eigene Schand« gehört hatte und sich nicht das geringste daraus machte, in der Achtung – oder vielmehr Verachtung – seines ehemaligen Schülers noch tiefer zu sinken. Er sah, daß Pecksniff diese Fabel ersonnen hatte als das leichteste Mittel, ihn loszuwerden, und daß er auf sein Nichtleugnen gerechnet hatte. Er begriff sofort, daß die Wahrheit den alten Martin noch mehr gegen Mary und den jungen Martin aufbringen müsse. Pecksniff rechnete mit seinem Edelmut und hatte offenbar das Märchen von den Bruchstücken erfunden. – Leugnen? Nein!

»Der Betrag stimmt also? Wie, Mr. Pinch?« fragte Pecksniff.

»Vollkommen, Sir.«

»Es wartet ein Mann unten in der Küche«, fuhr Mr. Pecksniff fort, »um Ihr Gepäck dahin zu schaffen, wo Sie es wünschen. Sie scheiden jetzt, Mr. Pinch, aus diesem Hause, und ich kenne Sie von diesem Augenblick an nicht länger.«

Ein unnennbares Gefühl – Mitleid, Kummer, alte Anhänglichkeit, verkannte und zurückgewiesene Dankbarkeit, Enttäuschung: keines von diesen Gefühlen und doch etwas von allen – zerriß Toms empfindsames Herz beim Abschied. Es wohnte keine Seele in Pecksniffs Kadaver, und doch war Tom nicht imstande, den Mann in seiner wahren Gestalt bloßzustellen. Selbst jetzt nicht. Auch wenn er keinem geliebten Wesen dadurch geschadet haben würde, wenn er die Wahrheit enthüllt hätte.

»Ich will nicht in Worte fassen«, ächzte Mr. Pecksniff unter Tränen, »was für einen Schlag dies für mich bedeutet, wie es mich angreift und wie es auf mein Gefühl wirken und mein Innerstes verletzen muß. Ich achte es für nichts. Ich kann schwerere Bürde tragen als irgendein anderer, aber was ich hoffen will und was Sie hoffen müssen – wenn nicht eine große Verantwortlichkeit auf Ihnen lasten soll, Mr. Pinch –, ist, daß dieser Verrat meine Ansichten von der Menschheit im allgemeinen nicht ändern möge – oder der Reinheit meines Herzens schaden – oder, wenn ich so sagen darf, die Schwingen meiner Seele brechen. Ich hoffe, es wird nicht der Fall sein. Es soll Ihnen zum Troste gereichen – wenn nicht jetzt, so doch in Zukunft –, zu wissen, daß ich mich nach Kräften bemühen werde, nicht schlechter von meinen Nebenmenschen im allgemeinen zu denken, dessentwegen, was zwischen uns vorgefallen ist! – Leben Sie wohl!«

Tom hatte ihm anfänglich einen kleinen Lanzettstich, der in seiner Macht stand, ersparen wollen, als er ihn aber so reden hörte, besann er sich anders und sagte:

»Ich glaube, Sie haben etwas in der Kirche vergessen, Sir.«

»Nicht daß ich wüßte«, rief Mr. Pecksniff.

»Dies hier ist, glaube ich, doch Ihr Augenglas? Nicht wahr?«

»Oh! – Hm«, stotterte Mr. Pecksniff verlegen und verwirrt. »Hm. Ich danke Ihnen. Legen Sie es nur auf den Tisch, wenn ich bitten darf.«

»Ich habe es gefunden«, fuhr Tom, jedes Wort sorgsam abwägend, fort, »als ich das Sakristeizimmer zuschließen wollte, und zwar im Kirchenstuhl.«

Das war kompromittierend. Mr. Pecksniff hatte es weggelegt, als er mit dem Kopf im Kirchenstuhl auf- und abgetaucht war, um nicht damit gegen das Getäfel zu stoßen, und hatte es beim Fortgehen ganz vergessen. Als Tom nach der Emporkirche zurückkehrte und nachgrübelte, von wo aus man ihn denn habe belauschen können, wurde er auf die offenstehende Tür des Betstuhls aufmerksam. Er warf einen Blick hinein und fand das Glas. Er gab jetzt durch Rückerstattung der Lorgnette Mr. Pecksniff zu verstehen, daß er genau wußte, wo der Lauscher gesessen, und daß es sich durchaus nicht um das Mitanhören von »Bruchstücken« der Unterhaltung handeln konnte.

»Ich bin froh, daß er fort ist«, sagte der alte Martin tief aufatmend, als Tom das Zimmer verlassen hatte.

»Es ist allerdings eine Erleichterung«, pflichtete Mr. Pecksniff bei. »Eine große Erleichterung! – Nachdem ich nunmehr – wie ich hoffe, mit leidlicher Festigkeit – mich der Pflicht entledigt habe, die ich der menschlichen Gesellschaft schulde, so will ich mich mit Ihrer Erlaubnis in den Garten zurückziehen, um in Demut und Schmerz ein paar Tränen zu vergießen.«

Tom ging die Treppe hinunter, räumte sein Büchersims ab, packte seine Werke, seine Noten und die alte Geige in seinen Koffer, langte seine Kleider heraus – es waren ihrer nicht viele –, legte sie auf die Bücher und verfügte sich in das Arbeitszimmer, um sein Instrumentenfutteral zu holen.

Es stand dort ein zerfetzter alter Stuhl, dem die Roßhaare aus dem Überzug herausstanden wie eine Perücke – eine wahre Bestie von einem Stuhl. Und dennoch hatte Tom seit seinem Hiersein täglich darauf gesessen. Er und der Stuhl waren immer älter und schäbiger geworden, Zöglinge hatten ihre Lehrzeit überstanden, Jahreszeiten waren gekommen und gegangen, und immer hatten Tom und das altbenutzte Möbel mitsammen durch dick und dünn ausgehalten. Dieser Teil des Zimmers wurde traditionell »Toms Ecke« genannt. Man hatte sie ihm zugewiesen, da sie in starker Zugluft und ziemlich weit vom Feuer entfernt lag. Von jeher hatte er dort gesessen. An die Wand waren mit Kohle Porträts von Pecksniff gezeichnet, von denen jedes die schwachen Seiten des Edelmannes fürchterlich karikierte, und diabolische Sprüche und Redensarten – schreiende Gegensätze seines Charakters – waren auf Schleifen geschrieben, die ihm aus dem Munde heraushingen. Jeder Zögling hatte etwas Neues dazu erfunden. Phantasieporträts von Toms Vater mit einem einzigen Auge mitten auf der Stirn, seiner Mutter mit einer ungeheuern Nase – und seiner Schwester, die, im Gegensatz dazu, durchwegs fabelhaft schön gehalten war und Tom infolgedessen mit den übrigen Scherzen versöhnte. Unter weniger ungewöhnlichen Umständen würde es ihm tief ins Herz geschnitten haben, all diese Dinge zu verlassen und dabei denken zu müssen, daß er sie heute wohl zum letzten Male sah. So aber fiel es ihm verhältnismäßig leicht. Es gab keinen Pecksniff, hatte nie einen Pecksniff gegeben, und alle übrigen Schmerzen traten vor diesem einen in den Hintergrund.

Als Tom wieder in seine Schlafkammer trat, um seinen Koffer und Reisesack zuzuschließen, mit Gamaschen und Überrock angetan, den Hut auf dem Kopf und den Stock in der Hand, sah er sich zum letztenmal darin um. An so manchem frühen Sommermorgen und in Winternächten beim Schein ersparter Lichtstümpchen hatte er sich in diesem Zimmer oft halb blind gelesen. Hier war es, wo er das erstemal versucht, unter der Bettdecke Violine spielen zu lernen – ein Experiment, von dem er übrigens auf die Vorstellungen der Zöglinge hin, wenn auch nur ungern, bald wieder abgestanden war. Zu jeder andern Zeit würde er bei dem Gedanken an alles, was er hier gelernt, an die vielen Stunden, die er hier verbracht, und sogar um der Träume willen, die er hier geträumt, mit Schmerz von dieser Stube geschieden sein. Aber es gab keinen Pecksniff – es hatte nie einen Pecksniff gegeben. Und Pecksniffs Unwirklichkeit erstreckte sich sogar bis in die Kammer, in der dieses jetzt so wesenlose Geschöpf, auf einem Bette sitzend, so oft mit größtem Nachdruck Moral gepredigt hatte, daß Tom die Augen feucht geworden waren, wie er atemlos auf die schwungvollen Worte gelauscht.

Der Mann, der den Koffer fortbringen sollte (ein alter Bekannter aus dem »Drachen«) kam jetzt die Treppe heraufgestampft und machte Tom (dem er unter gewöhnlichen Umständen kollegial zugenickt haben würde), eine linkische Verbeugung, als wisse er von dem Vorgefallenen, wünsche aber zu betonen, daß er diesbezüglich seine eigenen Gedanken habe. Die Ehrenbezeugung fiel ziemlich plump aus, denn der Mann war bloß ein Stallknecht, aber Tom liebte ihn darum, und der Abschied von ihm kam ihm schwerer an als der von dem Hause.

Tom wollte ihm das Gepäck tragen helfen, aber wie schwer es auch war, der Mann aus dem »Drachen« schien es so wenig zu fühlen wie ein Elefant seinen Palankin. Er schwang es auf den Rücken und schob sich damit die Treppe herunter, als sei es ihm leichter – er war ein handfester Kerl –, einen Koffer zu tragen, als krank und ledig zu gehen. In der Haustüre stand Jane, aus tiefstem Herzen schluchzend, und vor der Treppe Mrs. Lupin, die ebenfalls weinte und die Hand ausstreckte, um sich von »Mr. Pinch« zu verabschieden.

»Aber nicht wahr, Sie kommen doch noch einmal in den ›Drachen‹, Mr. Pinch?«

»Nein«, versetzte Tom, »nein. Ich gehe heute abend noch nach Salisbury, denn ich kann hier nicht bleiben. Um Gottes willen, machen Sie mir das Herz nicht so schwer, Mrs. Lupin.«

»Aber Sie müssen noch mit in den ›Drachen‹, Mr. Pinch! Und wenn’s auch nur für diese Nacht wäre. Wohlverstanden, nicht als Reisender, sondern als lieber Besuch für mich.«

»O Gott, o Gott«, jammerte Tom, sich die Augen wischend. »Die Freundlichkeit der Leute wird mir noch das Herz brechen. Wirklich, ich muß heute abend noch nach Salisbury, meine liebe, gute Mrs. Lupin; wenn Sie aber meinen Koffer in Ihre Obhut nehmen wollen, bis ich Ihnen darum schreibe, so würde ich das als den größten Gefallen betrachten, den Sie mir erweisen können.«

»Ich wollte«, rief Mrs. Lupin, »daß es zwanzig Koffer wären, Mr. Pinch; ich würde sie sämtlich wie meine eigenen behüten!«

»Ich danke Ihnen«, sagte Tom. »Das sieht Ihnen wieder ähnlich. Und jetzt Gott befohlen. – Gott befohlen.«

Es standen noch mehrere andere Leute, alte und junge, vor der Tür; einige weinten wie Mrs. Lupin, andere suchten wie Tom tapfer und mannhaft dreinzusehen, wieder andere waren in heimlicher Bewunderung Mr. Pecksniffs verloren, des Mannes, der sozusagen durch ein Augenblinzeln auf einen Bogen Papier eine Kirche zu bauen imstande war – während bei andern ein ähnliches Gefühl für Tom zu erkennen war.

Mr. Pecksniff war zugleich mit seinem alten Schüler auf der Schwelle erschienen und hielt, während Tom mit Mrs. Lupin sprach, den Arm majestätisch ausgestreckt, als wolle er sagen: »So fahre denn hin!« Als Tom sich entfernt hatte und um die Ecke gebogen war, schüttelte er den Kopf, schloß die Augen, seufzte tief auf und zog die Türe hinter sich zu. Daraus mußten natürlich auch Toms beste Freunde schließen, Mr. Pinch habe etwas ganz Schreckliches begangen, denn sonst hätte sicherlich ein Mann wie Mr. Pecksniff nie und nimmer eine derartige Empfindung an den Tag legen können. Hätte sich’s um einen gewöhnlichen Zwist gehandelt, bemerkten sie, so würde er doch ein paar Worte des Abschieds gesprochen haben. So aber war es augenfällig, daß Mr. Pinch sich schwer an ihm vergangen haben mußte.

Tom hörte von all dem nichts mehr, denn er trabte, so rasch er konnte, des Weges, bis er das Chausseehäuschen erblickte, wo ihn die Familie des Mauteinnehmers an dem frostigen Morgen begrüßt hatte, als er einst mit dem jungen Martin denselben Weg gegangen war. Das Dorf hatte er bereits im Rücken, und der Schlagbaum war seine letzte Prüfung. Als die Kinder des Mautwächters ihm jubelnd entgegeneilten, wäre er am liebsten querfeldein davongelaufen.

»Mr. Pinch, lieber Mr. Pinch«, rief die Frau des Schlagbaumwächters, »zu so ungewöhnlicher Zeit kommen Sie – noch dazu mit einem Bündel – hier vorbei?«

»Ich gehe nach Salisbury«, erklärte Tom.

»Ja, und wo ist denn das Gig?« rief die Frau und spähte die Straße hinab in der Vermutung, Tom habe irgendwo umgeworfen, ohne daß sie es bemerkt hatte.

»Ich gehe heute zu Fuß«, sagte Tom. »Ich –« er konnte keine Ausrede erfinden, denn er fühlte, wie die nächste Frage lauten werde, wenn er der Antwort auswich. »Ich bin nicht mehr bei Mr. Pecksniff.«

Der Mautwächter – ein alter Brummbär, der stets eine Pfeife im Mund hatte und meistens auf einem Gartenstuhl saß, der absichtlich so zwischen zwei kleinen Fenstern aufgestellt war, daß man beide Seiten der Straße leicht übersehen konnte – kam im Nu herausgestürzt.

»Nicht mehr bei Mr. Pecksniff?« rief er.

»Nein«, sagte Tom. »Ich habe ihn verlassen.«

Der Schlagbaumwächter sah seine Frau an, überlegend, ob er sie ausfragen solle oder sie hineinschicken, damit sie nach den Kindern sehe. Er entschloß sich zu letzterem und befahl ihr barsch, sich augenblicklich in das Häuschen zu trollen.

»Sie haben Mr. Pecksniff verlassen?« rief er, die Arme verschränkend, und stellte sich breit hin. »Ebensogut hätte ich geglaubt, mir würde der Kopf davonfliegen.«

»Ach«, murmelte Tom, »gestern abend hätte ich mir’s auch noch nicht träumen lassen. Gute Nacht.«

Wenn nicht gerade in diesem Augenblick ein großer Zug Ochsen durchgekommen wäre, würde der Schlagbaumwächter schnurstracks ins Dorf gerannt sein, um sich zu erkundigen, was denn los sei. So aber griff er wieder zu seiner Pfeife und zog sein Weib ins Vertrauen. Allein auch der vereinigte Scharfsinn beider konnte nichts herausklügeln, und so gingen sie bildlich gesprochen »im Dunkeln« zu Bett. Sooft übrigens nachts ein Frachtwagen oder ein anderes Fuhrwerk durchkam und der Kutscher fragte: »Was gibt’s Neues?« betrachtete sich der Mauteinnehmer den Mann beim Lichte seiner Laterne, um sich zu überzeugen, ob es auch einer sei, der sich für das Thema interessiere, und fragte dann in einem solchen Fall, sich fester in seinen Mantel hüllend:

»Sie haben doch schon von Mr. Pecksniff da drunten gehört?«

»Natürlich!«

»Und auch von seinem jungen Mann, dem Mr. Pinch?«

»Freilich!«

»Pinch ist jetzt fort von ihm!«

Und jedesmal nach einer derartigen Mitteilung stürzte er wieder in seine Hütte und ließ sich nicht mehr blicken, während der andere sprachlos vor Erstaunen seines Weges zog.

Aber das alles geschah lange, nachdem Tom bereits schlafen gegangen war. Zur Zeit befand er sich noch auf der Straße nach Salisbury, das er so bald wie möglich zu erreichen strebte. Anfangs war der Abend wunderschön, der Himmel umwölkte sich jedoch gegen Sonnenuntergang, und gleich darauf fiel dichter Regen. Zehn lange Meilen marschierte Pinch so, gänzlich durchnäßt, bis endlich ferne Lichter auftauchten und das Weichbild der Stadt ihn aufnahm. Er begab sich unverzüglich in das Wirtshaus, wo er damals auf Martin gewartet, beantwortete in Kürze die Fragen, die man hinsichtlich Mr. Pecksniffs Befinden an ihn richtete, und bestellte ein Bett. Er hatte weder Lust, etwas zu essen, noch etwas zu trinken, sondern setzte sich, während das Schlafzimmer für ihn hergerichtet wurde, im Gastzimmer an einen leeren Tisch, dachte über die Ereignisse des Tages nach und überlegte, was er jetzt wohl anfangen solle oder könne. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als das Stubenmädchen eintrat und meldete, das Bett sei fertig.

Es war ein niedriger Vierpfoster, dieses Bett, der sich in der Mitte wie ein Trog vertiefte. Das Zimmer stand voll von überflüssigen Tischen und Kommoden mit offenen Schubladen, in denen nasse Wäsche lag. Das ölgemalte Porträt eines auffallend fetten Ochsen hing über dem Kamin, und das Bild eines ehemaligen Wirtes, der dem Ochsen so ähnlich sah, daß man ihn ganz gut für seinen Bruder hätte halten können, glotzte zu Füßen des Bettes herunter. Ein Gemisch der wunderlichsten Gerüche kämpfte mit dem Duft alten Lavendels, und das Fenster schien seit undenklichen Zeiten nicht geöffnet worden zu sein, wenigstens trotzte es erfolgreich allen Bemühungen, es zu öffnen. An und für sich waren das nur Kleinigkeiten, aber sie machten den Ort noch unbehaglicher und trugen keineswegs dazu bei, Tom seine Lage vergessen zu machen. Pecksniff war aus der Welt geschieden– hatte nie auf Erden gelebt–, und es wollte schon viel sagen, daß Tom es nicht über sich brachte, ihn wie sonst in sein Nachtgebet einzuschließen.

Aber er fühlte sich nachher wohler und ging zu Bett, um von dem zu träumen, der nie gewesen.

32. Kapitel


32. Kapitel

Handelt wieder von Todgers‘ und einer Pflanze, die dort im Verborgenen hinwelkte

Früh am Morgen nach jenem Tag, an dem Miss Pecksniff dem Schauplatz ihrer Mädchenzeit Lebewohl gesagt, wurde sie in London, gleich nach ihrer Ankunft, von Mrs. Todgers in Empfang genommen und in das friedliche Heim im Schatten des Monumentes geleitet.

Mrs. Todgers sah infolge ihrer Sorgen um die tägliche Fleischbrühe und andere häusliche Kümmernisse, die ihr Geschäft mit sich brachte, ziemlich angegriffen aus, legte aber dennoch ihre gewohnte, angelegentliche und warme Teilnahme an den Tag.

»Und was macht Ihr lieber Papa, meine süße Miss Pecksniff?« fragte sie.

Miss Pecksniff teilte ihr – im Vertrauen natürlich – mit, daß der Treffliche daran denke, eine junge Frau Mama heimzuführen, und wiederholte ihren Ausspruch, daß sie weder blind noch blödsinnig sei und das nicht ruhig mit anzusehen gedenke.

Mrs. Todgers war über diese Neuigkeit empörter, als man hätte annehmen sollen. Sie war geradezu erbittert; sie sagte, es herrsche keine Wahrheit in den Herzen der Männer, und je inniger einer spreche, desto falscher und verräterischer sei er in der Regel. Mit erstaunlicher Klarheit durchschaute sie, daß der Gegenstand von Mr. Pecksniffs Zuneigung eine ränkevolle, wertlose und gottvergessene Person sei – eine Ansicht, die selbstverständlich von Miss Charitas vollständig bestätigt wurde, und dann versicherte sie mit Tränen in den Augen, sie liebe Miss Pecksniff wie eine Schwester und fühle die Kränkung, als ob sie ihr selbst angetan worden wäre.

»Und was die liebe, liebe Gratia anbetrifft«, sagte sie, »so habe ich sie erst ein einziges Mal seit ihrer Verheiratung gesehen und muß sagen, sie kam mir leider sehr bekümmert vor. – Übrigens, meine liebe Miss Pecksniff, ich habe immer gedacht, Sie sollten die Frau von Mr. Jonas werden?«

»Ach, du mein Himmel, nein«, rief Cherry, den Kopf schüttelnd; »o nein, Mrs. Todgers; – Gott sei vor! Nicht um alles in der Welt hätte ich mein Jawort gegeben.«

»Ich muß zugeben, daß Sie eigentlich recht haben«, versetzte Mrs. Todgers mit einem Seufzer. »Mir hat die Sache gleich nicht recht gefallen. – Und nun gar erst das Elend, das wir hier im Hause erlebt haben durch die Heirat, meine liebe Miss Pecksniff – es ist geradezu unglaublich.«

»Was sagen Sie da, Mrs. Todgers?« rief Charitas erstaunt.

»Schrecklich, ganz schrecklich«, wiederholte Mrs. Todgers mit Nachdruck. »Sie erinnern sich doch noch an den jüngsten Gentleman aus der Gesellschaft, meine Liebe?«

»Freilich!«

»Und Sie haben gewiß bemerkt, mit was für Augen er immer Ihre Schwester anzusehen pflegte und daß immer eine Art Versteinerung über ihn kam, sooft sie in seiner Gesellschaft war.«

»So? – Ich habe nichts davon bemerkt«, sagte Cherry verdrießlich. »Das ist doch alles dummes Zeug, Mrs. Todgers.«

»Nein, nein, meine Liebe«, beharrte Mrs. Todgers auf ihrer Ansicht, »ich habe ihn oft und oft gesehen, wie er beim Dinner über der Pastete gesessen ist und ihm der Löffel im Mund steckenblieb, wenn er Ihre Schwester ansah. Ich selbst kann’s bezeugen, wie er immer in der Ecke unsres Salons gestanden ist und sie mit einem so feuchten und melancholischen Blick angeschaut hat – fast wie ein Brunnen, aus dem man Tränen herauspumpen kann, und gar nicht wie ein Mann.«

»Möglich! – Ich kann weiter nichts sagen, als daß ich gar nichts dergleichen bemerkt habe«, versetzte Cherry hartnäckig.

»Und gar erst, als die Heirat stattfand«, fuhr Mrs. Todgers unbeirrt fort, »und alles in der Zeitung stand und die Nachricht hier beim Frühstück verlesen wurde, da hab ich wahrhaftig schon gemeint, er wolle vollständig verrückt werden. Seine Heftigkeit, meine liebe Miss Pecksniff, die schrecklichen Reden, die er über Selbstmord laut werden ließ und so, die Wildheit, die er an den Tag legte, wenn er seinen Tee trank, und die Wut, mit der er immer in sein Butterbrot gebissen hat – und dann gar erst, wie ihn Mr. Jinkins verhöhnt hat –, alles das sind Eindrücke, die ich nie vergessen kann.«

»Nur schade, daß er sich nicht wirklich umgebracht hat«, spöttelte Miss Pecksniff.

»Sich umgebracht?« rief Mrs. Todgers. »Nein, schon am Abend hatte er diese Absicht aufgegeben. Er wollte nur mehr andere Leute umbringen. Es gab da einen kleinen Radau – ich hoffe, Sie halten das nicht für einen ordinären Ausdruck, Miss Pecksniff, aber unsere Herren führen ihn immer im Mund –, also wie gesagt, meine Liebe, es gab da plötzlich, wenn auch ganz im Guten, einen Mordsradau unter ihnen, und dann sprang er plötzlich schäumend vor Wut auf, und wenn ihn nicht drei Herren festgehalten hätten, würde er sicher Mr. Jinkins mit einem Stiefelzieher totgeschlagen haben.«

– Miss Pecksniffs Miene drückte außerordentliche Gleichgültigkeit aus. –

»Aber jetzt«, schloß Mrs. Todgers, »ist er der zahmste Mensch von der Welt. Die Tränen treten ihm in die Augen, wenn man ihn nur ansieht. An Sonntagen sitzt er gewöhnlich den ganzen lieben langen Tag bei mir und jammert mir in so kläglicher Weise vor, daß es mir fast unmöglich ist, mich um das Hauswesen so zu kümmern, wie es die Herren Kostgänger wünschen. Seinen einzigen Trost noch findet er in weiblicher Gesellschaft. Er nimmt mich mit ins Theater, und zwar so oft, daß ich manchmal fürchte, es geht über seine Mittel, und wenn ich ihn anschau, die ganze Vorstellung hindurch hat er Tränen in den Augen. Besonders, wenn’s ein Lustspiel ist. Ach, und gestern erst! Wie ich da wieder erschrocken bin«, Mrs. Todgers legte die Hand aufs Herz, »die Hausmagd hat seinen Betteppich zum Fenster hinausg’hängt, und da hab ich schon glaubt, er sei’s.«

Die Verachtung, mit der Miss Pecksniff diesen pathetischen Bericht über den Seelenzustand des jüngsten Gentlemans der Gesellschaft anhörte, ließ bemerken, daß sie nicht sonderlich viel Teilnahme für den Unglücklichen empfand. Sie schien im Gegenteil die Sache sehr leicht zu nehmen und erkundigte sich, was sonst noch für Veränderungen in dem Logierhause für die Herren vom Handelsstande vorgefallen seien.

Mr. Bailey war fort und hatte – so vergänglich ist alle Größe auf Erden – ein altes Weib, das unter dem unmöglichen Insulanernamen »Tamaroo« vorgestellt wurde, zur Nachfolgerin erhalten. Wie sich später herausstellte, hatten – stets zu Scherzen aufgelegt – die Kostgänger Mrs. Todgers‘ ihr diesen Namen gegeben. Das Wort, hieß es, solle aus einer englischen Ballade stammen und den kühnen, feurigen Charakter eines gewissen Lohnkutschers illustrieren, der darin eine große Rolle spielte. Offenbar hatten sie den Namen Mr. Baileys Nachfolgerin gegeben, da sie nichts weniger als »feurig« war, von einem Anfall von Rotlauf hie und da vielleicht abgesehen. Man hatte die alte Frau auf allgemeinen Wunsch engagiert und außerdem auf ein Gelübde Mrs. Todgers‘ hin, daß nun und nimmermehr Jungen die Türen ihres Kosthauses für junge Gentlemen vom Handelsstand verdunkeln sollten.

Mrs. Tamaroo zeichnete sich durch einen vollständigen Mangel an Fassungskraft für alles mögliche aus und war ein förmliches Mausoleum für Botschaften und kleine Pakete. Wenn man sie mit Briefen auf die Post schickte, so war ihr erstes, sie durch allerlei Spalten und Ritzen von Privathaustüren zu schieben, in der Einbildung, jede Türe mit einem Loch oder Schlitz müsse ein Briefkasten sein. Sie war klein und alt und trug stets eine grobe Schürze, vorn mit einem Lätzchen und hinten mit Fransen, dazu fortwährend Bandagen um ihre Handgelenke, die mit einer chronischen Verrenkung behaftet zu sein schienen. Bei jeder Gelegenheit, wenn es galt, die Haustüre zu öffnen, benahm sie sich außerordentlich vorsichtig, dagegen um so weniger, wenn es sich darum handelte, sie zu schließen, und wenn sie die Gäste bei der Tafel bediente, geschah es stets mit dem Hut auf dem Kopf.

Das war aber auch so ziemlich die einzige große Veränderung im Hause außer der, die mit dem jüngsten Gentleman der Gesellschaft vorgegangen war. Schon durch seine bloße Erscheinung bestätigte er Mrs. Todgers‘ Erzählung, nur schien er noch viel empfindlicher, als sie ihm nachgesagt. Ganz neue schreckliche Begriffe von Vorausbestimmung spukten in seinem Hirn, und er sprach viel von dem »Geschick« der Menschen, worüber er gewisse Privatoffenbarungen erhalten zu haben schien, die nicht jedermann zugänglich waren; wenigstens wußte er ganz genau, daß es das Fatum der armen Gratia gewesen sei, sein Leben in der Knospe zu zertreten. Er tat ungemein tränenreich und sentimental, und da bekanntlich jedermann seine Bestimmung haben muß, so setzte er sich in den Kopf, die seinige bestehe darin, daß er ohne Unterlaß Tränen im Auge haben müsse.

Wohl Tag für Tag versicherte er Mrs. Todgers, die Sonne sei für ihn untergegangen und die Wogen über ihn dahingerollt. Der Juggernaut habe ihn überfahren und die tödliche Upaspalme von Java ihn vergiftet. – Sein Name war Moddle.

Diesem also höchst unglücklichen Mr. Moddle gegenüber benahm sich nun Miss Pecksniff anfangs mit großer Reserve, da sie durchaus nicht in der Stimmung war, sich mit Klageliedern zu Ehren ihrer verheirateten Schwester unterhalten zu lassen. Das hatte gerade noch gefehlt, um den armen jungen Herrn vollständig zu zerschmettern, und bitter beklagte er sich darüber gegen Mrs. Todgers.

»Selbst sie wendet sich von mir ab, Mrs. Todgers«, jammerte er.

»Aber warum versuchen Sie denn auch nicht, ein bißchen heiterer zu sein«, stellte ihm Mrs. Todgers vor.

»Heiterer zu sein, Mrs. Todgers? Heiterer?!« rief der »jüngste Gentleman der Gesellschaft«. »Wo sie mich doch an die Tage erinnert, die für immer dahin sind, Mrs. Todgers!«

»Dann täten Sie besser, sie auf eine kurze Zeit zu meiden«, rief Mrs. Todgers, »und sich ihr erst allmählich zu nähern! So möchte ich’s wenigstens machen.«

»Aber ich kann sie nicht meiden«, stöhnte Mr. Moddle. »Es fehlte mir die Willenskraft dazu. Ach, Mrs. Todgers, wenn Sie wüßten, welchen Trost mir der Anblick ihrer Nase gibt.«

»Ihrer Nase, Sir?« rief Mrs. Todgers.

»Ihres Profils im allgemeinen«, erklärte der »jüngste Gentleman der Gesellschaft«, »aber besonders der ihrer Nase. Sie hat so viel Ähnlichkeit –«, wieder gab er einem Schmerzensausbruche Raum, »– sie hat so viel Ähnlichkeit mit der Nase derer, die jetzt einem andern angehört, Mrs. Todgers.«

Aufmerksam wie stets, verfehlte Mrs. Todgers natürlich nicht, den Inhalt dieses Gesprächs Miss Cherry zu hinterbringen, die zwar darüber lachte, aber noch am selben Abend Moddle mit größerer Rücksicht behandelte und ihm so viel wie möglich ihr Profil zukehrte. Mr. Moddle war zum mindesten ebenso sentimental wie gewöhnlich, aber er saß ruhig da und starrte sie mit glänzenden Augen an, als danke er ihr für diese Wohltat.

»Nun, Sir«, lobte ihn am nächsten Tag die Besitzerin des Logierhauses, »Sie haben sich ja gestern abend sehr zusammengenommen. Ich denke, Sie kommen doch wieder drüber weg.«

»Bloß, weil sie der so ähnlich sieht, die einem andern gehört, Mrs. Todgers«, seufzte der Jüngling. »Wenn sie spricht und wenn sie lächelt, glaube ich immer wieder ihr Antlitz vor mir zu sehen, Mrs. Todgers.«

Auch dies wurde Miss Cherry hinterbracht, die daraufhin am Abend aufs liebenswürdigste plauderte und lächelte, ja sogar Mr. Moddle wegen seiner Niedergeschlagenheit neckte und ihn zuletzt aufforderte, einen Rubber Whist mit ihr zu spielen. Mr. Moddle nahm den hingeworfenen Fehdehandschuh auf, und so spielten sie mehrere Partien zu sechs Pence, die Miss Cherry samt und sonders gewann. Zum Teil mochte dies vielleicht der Galanterie des jungen Gentlemans zuzuschreiben sein, aber gewiß trug auch sein Gemütszustand Schuld an der Niederlage, denn sein Blick war so häufig von Tränen getrübt, daß er die Achter für Zehner und die Buben für Damen hielt, was ihm auf die Dauer der Zeit immerhin Nachteil brachte.

Am siebenten Whistabend, als Mrs. Todgers, die wie immer kiebitzte, den Vorschlag machte, sie sollten eigentlich um Pfänder oder Küsse spielen, sah man Mr. Moddle sogar die Farbe wechseln. Und am vierzehnten Abend küßte er im Flur, als Miss Pecksniff schlafen ging, ihr in Hast die Lichtschere; er hatte zwar auf die Hand, die sie trug, gezielt, sie aber leider verfehlt.

Schließlich fing Mr. Moddle an, auf die Idee zu kommen, Miss Pecksniff habe die Mission, ihn zu trösten; und Miss Pecksniff ihrerseits fing an zu glauben, es sei vielleicht ihre »Mission«, Mrs. Moddle zu werden. Moddle war noch recht jung – im Gegensatz zu Cherry –, hatte gute Aussichten in seinem Beruf und überdies ein beinahe sicheres Einkommen. Wirklich, die Sache war nicht so übel.

Überdies hatte er als Gratias Verehrer gegolten! Gratia hatte mit ihm renommiert und einst zu ihrer Schwester gesagt, er sei eine Eroberung von ihr. Hinsichtlich Aussehen, Temperament und Benehmen schlug er Jonas bei weitem, außerdem war er leicht lenkbar und überhaupt ganz der Mann, sich den Launen einer Frau zu fügen. Kurz, er verhielt sich zu Jonas wie ein Lamm zu einem Bären. Ha, welcher Triumph!

Inzwischen dauerte das Kartenspiel Abend für Abend fort, und Mrs. Todgers wurde kaltgestellt. Der »jüngste Gentleman der Gesellschaft« zeigte nicht mehr die frühere Vorliebe für ihre Gesellschaft und fing an – Miss Pecksniff mit ins Theater zu nehmen. Auch begann er, wie Mrs. Todgers sich ausdrückte, das Essen zu schwänzen und sich zu ganz ungesetzlichen Zeiten zu entfernen. Ja, zweimal empfing er sogar, wie Mrs. Todgers verriet, anonyme Briefe mit Empfehlungskarten von Geschäften für Brautausstattungen und Möbel. – Offenbar eine Bosheit von seiten des höchst ungentlemanliken Schuftes Jinkins, doch fehlte es leider an Beweisen, um ihn zur Rede stellen zu können. Alles das – so belehrte Mrs. Todgers ihre jungfräuliche Freundin – sprach eine so einfache und klare Sprache, daß kein Mißverständnis mehr möglich war.

»Meine liebe Miss Pecksniff, Sie können sich drauf verlassen«, sagte sie, »er brennt nur drauf, Ihnen seine Hand anzutragen.«

»Gott bewahre – was denken Sie! – Wenn’s so wäre, warum tut er’s dann nicht?« rief Cherry.

»Die Männer sind viel schüchterner, als man glaubt, meine Liebe«, orakelte Mrs. Todgers. »Sie gehen immer um den heißen Brei herum wie die Katzen, Monate und Monate lang hab ich g’sehn, wie meinem Todgers die Worte auf der Zunge g’legen sind, bevor er sich ausgesprochen hat.«

Miss Pecksniff meinte, Mr. Todgers könne hier denn doch nicht als passendes Beispiel angesehen werden.

»Aber ja, meine Liebe! Sicher!« remonstrierte Mrs. Todgers, sich in die Brust werfend. »Oh, er war seinerzeit ein sehr feiner Mann, das kann ich Ihnen versichern. Nein, nein, Sie müssen Mr. Moddle ein bissel einheizen, Miss Pecksniff, wenn Sie ihn zum Reden bringen wollen. Aber verlassen Sie sich drauf, dann wird’s plötzlich in einem ganz andern Tempo gehen.«

»Wirklich, ich wüßte nicht, in welcher Art ich das tun könnte, Mrs. Todgers«, erwiderte Charitas. »Er geht mit mir spazieren, spielt mit mir Whist und leistet mir oft stundenlang allein Gesellschaft.«

»Schon recht«, meinte Mrs. Todgers, »das ist ja alles unerläßlich, meine Liebe, und kann auch nicht anders sein.«

»Und dann setzt er sich stets ganz dicht neben mich.«

»Auch damit hat’s seine Richtigkeit«, entgegnete Mrs. Todgers.

»Und sieht mich beständig an.«

»Das kann ich mir denken«, rief Mrs. Todgers.

»Und dann legt er seinen Arm auf die Stuhllehne oder das Sofa oder was es sonst grad ist, wenn ich sitze – natürlich hinter mich.«

»Natürlich, freilich.«

»Und dann stehen ihm so oft die Tränen in den Augen.«

Mrs. Todgers meinte zwar, Mr. Moddle könne etwas Besseres tun als weinen; er solle lieber an des großen Lord Nelsons Signal zur Schlacht bei Trafalgar denken, indessen, sagte sie, er werde schon kühner werden oder besser gesagt, anbeißen, wenn Miss Pecksniff eine entschiedenere Stellung einnehme und ihm offen bedeute, daß es schließlich doch endlich einmal zu einem klaren Resultat kommen müsse.

So nahm sich denn die junge Dame vor, ihr Benehmen entsprechend einzurichten, und empfing bei nächster Gelegenheit Mr. Moddle mit kalter gezwungener Miene. Wirklich brachte sie ihn nach und nach dadurch so weit, daß er niedergeschlagen fragte, warum sie denn so verändert sei. Und da gestand sie ihm, sie halte es für notwendig, für ihren beiderseitigen Frieden einen entscheidenden Schritt zu tun. Sie seien in der letzten Zeit viel beisammen gewesen und hätten das süße Gefühl echter Seelenharmonie gekostet – sie ihrerseits könne ihn nicht mehr so leicht vergessen, noch werde sie je aufhören, seiner mit wärmster Freundschaft zu gedenken, aber die Leute hätten immerhin darüber zu reden angefangen, man habe die Sache bemerkt, und es sei notwendig, daß sie einander hinfort nicht mehr wären, als sich jede andere Dame und jeder andere Herr in Gesellschaft sind. Sie sei froh, daß sie rechtzeitig den Mut gefunden, offen mit ihm zu reden, solange sie noch Gewalt über ihr Herz habe. Es hätte sie große Kämpfe gekostet, das gebe sie zu, aber so schwach sie auch sei und so weiblich sie auch denke, so hoffe sie doch, den Sieg über sich selbst davontragen zu können.

Mr. Moddle, der darüber ganz außer sich geriet und reichlich Tränen vergoß, erkannte sofort, daß es sein Schicksal sei, andern Menschen Unglück zu bringen – dasselbe Unheil, das auch ihn betroffen –, er sei eine Art unbewußter Vampir und Miss Pecksniff ihm von den Schicksalsgöttinnen als Opfer Numero eins zugesandt worden. Charitas erklärte diese Ansicht für sündhaft und spornte ihn daraufhin zu der weiteren Frage an, ob sie mit einem gebrochenen Herzen vorliebnehmen könne, und als sich herausstellte, daß sie dazu vollständig imstande sei, legte Mr. Moddle einen schauerlichen Eid der Treue ab, der sofort angenommen und erwidert wurde.

Der junge Mann ertrug sein Glück mit größter Mäßigung. Statt zu jubeln, vergoß er mehr und reichlichere Tränen, als man bisher an ihm bemerkt hatte, und sagte schließlich schluchzend:

»Was für ein Tag ist dies gewesen! Ich gehe heut nicht mehr ins Kontor. Gott, was für ein Tag der Prüfung ist das heute für mich gewesen!«