31. Kapitel


31. Kapitel

Wärterin und Kranke

Ich war noch nicht viele Tage wieder zu Hause, als ich eines Abends hinauf in mein Zimmer ging, um Charley über die Schulter zu gucken und zu sehen, wie sie mit ihren Schreibübungen vorankäme. Schreiben war eine harte Arbeit für Charley. Sie schien keine Macht über die Feder zu haben, die in ihrer Hand ein widerspenstiges Leben zu bekommen schien, ausglitschte, krumm ging, stehen blieb, spritzte und sich in die Ecken drängte wie ein Reitesel. Es war seltsam, was für alte Buchstaben Charleys junge Hand machte. Buchstaben, so runzlig und verschrumpft und schlottrig, und die Hand so voll und rund! Und wie ungewöhnlich geschickt Charley in andern Dingen war! Sie hatte so gewandte kleine Finger wie nur irgend jemand.

»Nun, Charley, wir machen Fortschritte«, ermutigte ich sie, als ich eine ganze Seite voll Os betrachtete, auf der alle möglichen drei- und viereckigen, birnenförmigen und schiefstehenden Formen zu sehen waren. »Wenn es uns erst einmal gelingt, sie rund zu kriegen, sind wir Meister, Charley.«

Dann machte ich ein O, und Charley machte eins. Charleys Feder wollte es aber nicht zusammenschließen, sondern geruhte, es zu einem Knoten zu wirbeln.

»Tut nichts, Charley. Wir werden es mit der Zeit schon lernen.«

Charley war mit ihrem Pensum fertig, legte die Feder hin, machte das steifgewordne Händchen auf und zu, besah mit ernstem Gesicht, halb stolz, halb zweifelhaft, die Seite, stand auf und knickste.

»Ich danke Ihnen, Miß. Wenn Sie erlauben, Miß, haben Sie nicht eine arme Frau namens Jenny gekannt?«

»Die Frau eines Ziegelstreichers, Charley«

»Ja. Sie redete mich vor kurzem an, als ich ausging, und sagte, sie kenne Sie, Miß. Sie fragte mich, ob ich nicht die kleine Zofe der jungen Dame sei – sie meinte Sie, Miß –, und ich sagte ja, Miß.«

»Ich dachte, sie wäre weggezogen, Charley.«

»Sie war auch weg, Miß, aber ist wieder in ihre alte Wohnung zurückgekommen – sie und Liz. Haben Sie die andre arme Frau namens Liz gekannt, Miß?«

»Ich glaube wohl, wenn auch nicht dem Namen nach.«

»Sie hat das auch gesagt«, entgegnete Charley. »Sie sind beide zurückgekehrt, Miß, und haben sich weit und breit herumgetrieben.«

»Weit und breit herumgetrieben haben sie sich, Charley?«

»Ja, Miß.«

Wenn Charley die Buchstaben in ihrem Schreibheft nur so rund hätte machen können wir ihre Augen, als sie mich dabei ansah, wären sie vortrefflich gewesen.

»Und diese arme Frau kam vor drei oder vier Tagen hierher ins Haus in der Hoffnung, Sie zu sehen, Miß. Weiter wollte sie nichts, sagte sie. Aber Sie waren nicht da. Sie sah mich herumgehen, Miß«, sagte Charley und lachte voll Freude und Stolz, »und meinte, ich sähe ganz wie Ihre Zofe aus.«

»Meinte sie das wahrhaftig, Charley?«

»Ja, Miß, wirklich und wahrhaftig.«

Charley machte wieder kreisrunde Augen, lachte fröhlich auf und sah dann so ernsthaft drein, wie es sich für meine Zofe schickte. Ich konnte mich nie satt an Charley im Vollgenuß ihrer großen Würde sehen, wenn sie mit ihrem jungen Gesicht, ihrer kindlichen Gestalt und doch so gesetztem Ausdruck vor mir stand und ihre kindliche Freude dann und wann auf das reizendste die Hülle durchbrach.

»Und wo hast du sie gesehen, Charley?«

Das Gesicht meiner kleinen Zofe trübte sich, als sie zur Antwort gab: »Vor der Apotheke, Miß«, denn sie trug noch ihren schwarzen Trauerrock.

Ich fragte, ob die Frau des Ziegelstreichers krank sei, aber Charley sagte: »Nein. Jemand anders. Ein armer Junge in ihrer Hütte, der sich bis St. Albans geschleppt hat und ohne Ziel herumgewandert ist. Ein armer Junge! Ohne Vater, ohne Mutter und ohne sonst jemanden auf Erden. So, wie Tom gewesen wäre, Miß, wenn Emma und ich nach dem Vater gestorben wären«, sagte Charley, und ihre runden Augen füllten sich mit Tränen.

»Und sie holte Arznei für ihn, Charley?«

»Sie sagte, Miß, daß er das einmal auch für sie getan hätte.«

Das Gesicht meiner kleinen Zofe glühte so vor Eifer, und ihre sonst so ruhigen Hände verkrampften sich so fest, als sie vor mir stand und mich ansah, daß ich unschwer ihre Gedanken erriet.

»Ich glaube, Charley, wir könnten beide nichts Besseres tun, als hinüberzugehen und nachzusehen, was es gibt.«

Die Schnelligkeit, mit der Charley mir Hut und Schleier brachte, mir beim Ankleiden half, sich in ihr Umschlagtuch hüllte und sich wie eine kleine alte Frau zurechtputzte, verrieten genügend ihre Bereitwilligkeit. Und so gingen Charley und ich, ohne weiter ein Wort darüber zu verlieren, aus.

Es war ein kalter unwirtlicher Abend, und die Bäume schauerten im Wind. Es hatte seit vielen Tagen unaufhörlich stark geregnet. Soeben erst hatte es nachgelassen. Der Himmel, zum Teil aufgehellt, war noch sehr dunkel, selbst über uns, wo ein paar Sterne schimmerten. Im Norden und Nordwesten, wo die Sonne vor drei Stunden untergegangen war, lag ein bleiches totes Licht, schön und grauenhaft zugleich. Und in dasselbe hinein ragten lange schwere Wolkenreihen wie ein Meer, das im Wogen erstarrt ist. In der Richtung von London breitete sich ein fahlroter Schimmer über die ganze dunkle Himmelswüste, und der Gegensatz zwischen diesen beiden Lichtern und der Gedanke, daß der rote Schein von einem unirdischen Feuer herrühren könne und auf alle die unsichtbaren Gebäude der Stadt und die Gesichter der vielen tausend staunenden Bewohner herabscheinen, war im höchsten Grade feierlich.

Ich hatte an diesem Abend keine Ahnung – keine, ich weiß es gewiß –von dem, was mir bald zustoßen sollte. Aber ich habe mich seitdem oft erinnert, daß mich, wie wir an der Gartentür stehen blieben, um den Himmel anzusehen, und dann unsern Weg einschlugen, für einen Augenblick ein unbeschreibliches Gefühl beschlich, ich sei etwas andres, als ich damals war. Ich weiß, daß damals und an jenem Ort, den wir besuchten, dieser Gedanke über mich kam. Seitdem ist dieses Gefühl mit diesem Ort und dieser Zeit in mir verknüpft und mit allem, was damit in Verbindung steht, bis hinab zu den Stimmen im Dorf, dem Bellen eines Hundes und dem Rollen von Rädern, die die aufgeweichte Straße bergab kamen.

Es war ein Samstagabend, und die meisten Leute aus der Gegend, in die wir gingen, saßen in den Schenken. Der Ort war ruhiger, als ich ihn von früher her kannte, aber immer noch so ärmlich und elend. Die Ziegelöfen brannten, und ein erstickender Rauch wälzte sich blau und grau auf uns zu.

Wir erreichten die Hütte, in deren Fenster ein schwacher Lichtschein glänzte, klopften an die Tür und traten ein. Die Mutter, der das kleine Kind gestorben war, saß auf einem Stuhl an der Seite des kärglichen Feuers neben dem Bett, und ihr gegenüber hockte ein zerlumpter Knabe auf dem Fußboden, an den Herd gelehnt. Unter dem Arm hielt er die letzten zerfetzten Reste einer Pelzmütze, und wie er sich zu wärmen versuchte, klapperte er mit den Zähnen wie die Türe und das Fenster. Die Stube war dumpfiger noch als früher, und es herrschte in ihr ein ungesunder eigentümlicher Geruch.

Ich hatte den Schleier nicht zurückgeschlagen, als ich die Frau beim Eintreten anredete. Sogleich fuhr der Junge mit wankenden Beinen in die Höhe und starrte mich mit einem merkwürdigen Ausdruck von Überraschung und Entsetzen an.

Seine Bewegung war so rasch und ich so offenkundig die Ursache, daß ich nicht näher trat, sondern stehen blieb.

»I mag net noch amal aufn Friedhof gehn«, murmelte der Junge vor sich hin. »I mag net, hören S.«

Ich schlug den Schleier zurück und sprach mit der Frau. Sie sagte zu mir halblaut: »Achten Sie nicht auf ihn, Maam. Er wird bald wieder zu sich kommen«, und zu dem Jungen: »Jo, Jo, was ist denn?«

»I weiß schon, warum s kommen is.«

»Wer?«

»Die Dame dorten. I soll mit ihr aufn Friedhof gehn. ’s gfallt mir net dorten. Sie könnten mich dorten begrabn.«

Sein Schüttelfrost kam wieder, und wie er sich an die Wand lehnte, teilte sich sein Zittern der ganzen Hütte mit.

»Das und ähnliches hat er den ganzen Tag über gesprochen, Maam«, flüsterte mir Jenny zu. »Was machst du denn für Augen! Das ist doch meine Dame, Jo.«

»Das is sie?« antwortete der Junge zweifelnd und betrachtete mich, wobei er den Arm schützend über seine fiebrigen Augen hielt. »Schaut grad aus wie die andre. S is net der Hut und a net des Kleid, aber anschaun tut s mich wie die andre.«

Meine kleine Charley, erfahren in Krankheit und Sorge, hatte Hut und Schal abgelegt, ging jetzt still mit einem Stuhl zu ihm hin und hieß ihn sich niedersetzen, wie eine alte Krankenwärterin. Nur hätte eine solche ihm vielleicht nicht so viel Vertrauen eingeflößt wie Charley mit ihrem jugendlichen Gesicht.

»Hören S«, sagte der Junge. »Is die Dame wirklich net die andre Dame?«

Charley schüttelte den Kopf und wickelte methodisch seine Lumpen um ihn und hüllte ihn so warm ein wie nur möglich.

»So. Dann kann sie’s wohl net sein.«

»Ich komme, um zu sehen, ob ich etwas für dich tun kann«, sagte ich. »Was fehlt dir?«

»Mir is kalt«, antwortete der Knabe heiser, und sein hohler Blick musterte mich ruhelos. »Und dann is mir wieder heiß, und das wechselt so miteinander. Im Kopf is mir so dumm, und i glaub, i werd verrückt. Und dann is mir so trocken, und alle Knochen im Leib tun mir weh.«

»Seit wann ist er hier?« fragte ich die Frau.

»Seit heut morgen, Maam. Ich hab ihn in einem Winkel im Dorf gefunden. Ich kenn ihn von London her. Nicht wahr, Jo?«

»Toms Einöd«, bestätigte er.

So oft sich seine Aufmerksamkeit oder seine Augen auf etwas richteten, geschah es nur für kurze Zeit. Bald ließ er wieder den Kopf sinken, wiegte ihn schwer hin und her und redete halb wie im Schlaf.

»Wann ist er von London gekommen?«

»Gestern«, antwortete der Junge selbst, jetzt ganz rot und fieberheiß. »I geh irgendwohin.«

»Wohin denn?«

»Irgendwohin«, wiederholte er lauter. »Marsch vorwärts! ham s mir öfter als je zuvor gsagt, seitdem mir die, was die andre is, den Sovring geben hat. Mrs. Sangsby hetzts gegen mi auf-, und ich hab doch nix angestellt, und sie beobachtens und hetzens mi alle. Alle ohne Ausnahm. Von der Stund an, wo ich net aufsteh, bis zu Stund, wo i net schlafn geh. I geh irgendwohin. Dahin geh i. Unten in Toms Einöd hat s zu mir gsagt, daß s von St. Albans kommen is, und so bin i auf d St. Albansstraßn gangen. S is so gut wie alles andre.«

Bei den letzten Worten wendete er sich an Charley.

»Was soll man mit ihm anfangen?« fragte ich und nahm die Frau beiseite. »In diesem Zustand kann er seine Reise unmöglich fortsetzen, selbst wenn er ein Ziel hätte.«

»Ich weiß nicht mehr als die Toten, Maam«, entgegnete sie und sah ihn mitleidig an. »Vielleicht wissen es die Toten besser, wenn sie’s uns nur sagen könnten. Ich hab ihn aus Barmherzigkeit den Tag über hier behalten und ihm eine Suppe und Arznei gegeben, und Liz ist fort, um zu versuchen, ob ihn nicht jemand zu sich nehmen will. Hier liegt mein kleiner Liebling im Bett, es ist ihr Kind, aber ich nenne es das meine. Aber ich kann den Jungen nicht lang hier behalten, denn wenn mein Mann nach Hause kommt und findet ihn hier, wird er ihn hinauswerfen und könnte ihm was antun. Horch! Da kommt Liz zurück.«

Die andre Frau hastete bei diesen Worten herein, und der Junge stand mit dem dunkeln Bewußtsein, gehen zu müssen, auf. Wann das kleine Kind aufwachte, wann und wieso Charley es aus dem Bette nahm, um, es beruhigend, auf und ab zu gehen, weiß ich nicht, aber sie tat das alles in einer ruhigen mütterlichen Weise, als ob sie wieder mit Tom und Emma in Mrs. Blinders Dachstübchen sei.

Liz war da und dort gewesen, von einem zum andern gewiesen worden und kam unverrichteter Dinge wieder. Anfangs war es zu zeitig für die Aufnahme des Knaben in das Armenspital gewesen und dann wieder zu spät. Ein Beamter schickte sie zu einem andern, und der wieder zum ersten zurück, und so war es reihum gegangen, als wären beide nur wegen ihrer Geschicklichkeit, mit der sie ihren Obliegenheiten auszuweichen verstanden, anstatt ihnen nachzukommen, angestellt.

»Jenny«, sagte Liz keuchend, denn sie war gelaufen und hatte große Angst. »Jenny, dein Mann ist auf dem Heimweg, und meiner kommt auch gleich, und Gott helfe dem Jungen. Wir können nicht mehr für ihn tun.«

Sie brachten ein paar Halfpence zusammen und drückten sie ihm eilig in die Hand, und dann wankte er halb bewußtlos, halb dankbar aus dem Hause.

»Gib mir das Kleine, liebes Kind«, sagte die Mutter zu Charley. »Und ich dank dir auch schön. Und gute Nacht, liebe Jenny. – Fräulein, wenn mein Mann mich läßt, will ich nachher unten am Ziegelofen nachschauen, wo der Junge wahrscheinlich sein wird, und auch wieder morgen früh.«

Sie eilte fort, und gleich darauf sahen wir sie, das Kind in ihren Armen einsingend, an ihrer Tür stehen und voll Spannung die Straße hinunterschauen, die ihr betrunkner Mann kommen mußte.

Ich wagte nicht, mich aufzuhalten oder mit einer der beiden Frauen zu sprechen, um sie nicht in Ungelegenheiten zu bringen, aber ich sagte Charley, wir dürften den Knaben hier nicht ohne Hilfe sterben lassen. Charley, die viel besser als ich wußte, was not tat, und ebenso rasch wie geistesgegenwärtig war, eilte vor mir her, und gleich darauf holten wir Jo unmittelbar am Ziegelofen ein.

Ich glaube, er mußte seine Wanderung mit einem kleinen Bündel unter dem Arm begonnen haben, das man ihm vermutlich gestohlen hatte, denn er trug immer noch die zerlumpten Reste einer Pelzmütze wie ein Bündel unter dem Arm und wankte barhäuptig in dem jetzt wieder heftig gießenden Regen einher. Als wir ihn riefen, blieb er stehen, und wieder erwachte seine Furcht vor mir. Er starrte mich mit seinen fieberglänzenden Augen an, und sogar sein Frösteln hörte auf.

Ich forderte ihn auf, mit uns zu kommen, und sagte, wir würden Sorge tragen, daß er für die Nacht ein Obdach fände.

»I brauch ka Obdach«, antwortete er. »I kann mi auf die warmen Ziegel legn.«

»Aber weißt du denn nicht, daß die Leute dort sterben?« wendete Charley ein.

»Sterben tuns überall. Sie sterben in ihnere Stuben – sie weiß schon wo, ich habs ihr zeigt – und sterben tuns in Toms Einöd haufenweis. Sterben tuns mehr, als s leben, was i weiß.« Dann flüsterte er Charley heiser zu: »Wanns nicht die andre is, is a net die Ausländerin. Gibt’s denn drei?«

Charley sah mich erschrocken an. Ich fürchtete mich förmlich vor mir selbst, als mich der Knabe so anstarrte.

Aber er wendete sich um und folgte mir, als ich ihm winkte, und da ich sah, daß mein Einfluß auf ihn soweit reichte, führte ich ihn graden Wegs nach Hause. Es war nicht weit. Nur den Hügel hinauf. Wir trafen bloß einen Mann unterwegs. Ich bezweifle, ob wir ohne Beistand nach Hause gekommen wären, so unsicher und schwankend war der Gang des Jungen. Aber er ließ keinen Laut der Klage hören und war seltsam unbekümmert um sich, wenn ich mich so ausdrücken darf.

Ich ließ ihn einen Augenblick in der Vorhalle stehen, wo er sich in eine Ecke des Fenstersitzes drückte und mit mehr Teilnahmslosigkeit als Verwunderung den Komfort der Umgebung anstarrte. Dann ging ich in das Besuchszimmer, um mit meinem Vormund zu sprechen. Dort fand ich Mr. Skimpole, der mit der Landkutsche angekommen war, ohne vorher jemanden verständigt zu haben, wie das so seine Gewohnheit war. Nie pflegte er sich in solchen Fällen Kleider mitzubringen, sondern stets alles, was er brauchte, zu borgen.

Sie kamen gleich mit mir heraus, um den Jungen zu besichtigen. Auch die Dienerschaft hatte sich in der Vorhalle versammelt. Jo kauerte, von Fieber geschüttelt, in der Fensternische wie ein verwundetes Tier, das man in einem Graben gefunden hat, und Charley stand bei ihm.

»Das ist ein trauriger Fall«, sagte mein Vormund, nachdem er ihm einige Fragen gestellt, ihm den Puls gefühlt und seine Augen untersucht hatte. »Was meinen Sie, Harold?«

»Das Beste ist, Sie schicken ihn fort«, riet Mr. Skimpole.

»Was meinen Sie?« fragte mein Vormund fast zornig.

»Mein lieber Jarndyce«, entschuldigte sich Mr. Skimpole, »Sie wissen doch, was ich bin. Ich bin ein Kind. Schelten Sie mich nicht aus, wenn ich es vielleicht verdiene. Aber ich habe eine angeborne Abneigung gegen dergleichen. Ich hatte sie stets, als ich noch Arzt war. Er ist krank, müssen Sie wissen. Er hat ein sehr bösartiges Fieber.«

Mr. Skimpole hatte sich wieder aus der Vorhalle in das Besuchszimmer zurückgezogen, sich auf den Musikstuhl gesetzt und sagte dies, während wir um ihn herumstanden, in seiner gewohnten leichtherzigen Weise.

»Sie werden sagen, das sei kindisch. Gut, ich gebe das zu. Aber ich bin eben ein Kind und beanspruche auch nicht, etwas andres zu sein. Wenn Sie ihn auf die Straße hinausschicken, schicken Sie ihn nur dorthin, wo er schon früher war. Er wird sich da nicht schlimmer befinden als früher. Sogar besser, wenn Sie wollen. Geben Sie ihm sechs Pence oder fünf Schilling oder fünf Pfund zehn Schilling – Sie sind ja Rechenkünstler und ich nicht – und schicken Sie ihn fort.«

»Und was soll er dann anfangen?« fragte mein Vormund.

»Meiner Seel.« Mr. Skimpole zuckte mit seinem gewinnendsten Lächeln die Achseln. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was er dann anfangen soll. Aber ich zweifle nicht, daß er irgend etwas anfangen wird.«

»Ist es nicht ein entsetzlicher Gedanke«, sagte mein Vormund, als ich ihm in kurzen Worten von den vergeblichen Bemühungen der zwei Frauen erzählte, »ist es nicht ein entsetzlicher Gedanke«, – er schritt dabei auf und nieder und fuhr sich in den Haaren herum – »daß, wenn dieses unglückliche Kind ein Verbrecher wäre, ihm das Gefängnisspital weit offen stünde und er so gut wie jeder andre Junge im ganzen Königreich gepflegt werden würde?«

»Mein lieber Jarndyce«, entgegnete Mr. Skimpole, »Sie werden mir die Albernheit der Frage verzeihen, da sie von einem Menschen kommt, der von den Dingen dieser Welt gar nichts versteht, – aber warum ist er denn also kein Verbrecher?«

Mein Vormund blieb stehen und sah Mr. Skimpole mit einer Mischung von Ergötzen und Entrüstung an.

»Ich sollte meinen, man brauchte unsern jungen Freund nicht wegen allzu großen Zartgefühls im Verdacht zu haben«, sagte Mr. Skimpole aufrichtig und ohne im geringsten zu erröten. »Ich glaube, wenn er mehr falsch angewendete Energie, die ihn ins Gefängnis gebracht hätte, gezeigt haben würde, so wäre er weiser und vielleicht auch anständiger gewesen. Das hätte mehr Unternehmungsgeist und daher eine gewisse Art Poesie verraten.«

»Ich glaube wirklich«, entgegnete mein Vormund und ging jetzt wieder unruhig auf und ab, »daß es auf der Welt kein zweites Kind wie Sie gibt.«

»Meinen Sie im Ernst? Wohl möglich. Aber ich kann wirklich nicht einsehen, warum unser junger Freund in seiner Weise nicht versuchen sollte, sich mit soviel Poesie, als ihm zu Gebote steht, zu umgeben. Sicherlich ist er mit Appetit begabt. Wahrscheinlich ist, wenn er sich in einem bessern Gesundheitszustand befindet als jetzt, sein Appetit vortrefflich. Also gut. Wenn die Eßstunde unsres jungen Freundes kommt – wahrscheinlich gegen Mittag –, soll unser junger Freund zur menschlichen Gesellschaft sagen: ‚Ich habe Hunger, möchten Sie nicht die Gewogenheit haben, mir Ihren Löffel zu geben und mich zu füttern.‘ Die menschliche Gesellschaft, die doch das ganze Löffelsystem eingeführt hat und keinen Löffel für unsern Freund zu haben behauptet, gibt diesen Löffel nicht heraus, daher soll unser junger Freund sagen: ‚Sie werden schon entschuldigen, wenn ich mir einen nehme.‘ Dies erscheint mir als ein Fall falsch angewendeter Energie, aber es liegt eine gewisse Vernunft und eine gewisse Romantik drin. Und ich weiß nicht, ob mich nicht unser junger Freund als Illustration eines solchen Falles mehr interessieren würde als als armer Vagabund. Das kann schließlich jeder sein.«

»Unterdessen verschlimmert sich sein Zustand«, erlaubte ich mir einzuwenden.

»Unterdessen«, sagte Mr. Skimpole heiter, »verschlimmert sich sein Zustand, wie Miß Summerson mit ihrem praktischen gesunden Sinn sehr richtig bemerkt. Um so mehr empfehle ich Ihnen, ihn fortzuschicken, ehe sich sein Zustand verschlimmert.«

– Das liebenswürdige Gesicht, mit dem er das sagte, werde ich wohl nie vergessen. –

»Natürlich, Mütterchen«, wendete sich mein Vormund zu mir, »kann ich seine Aufnahme an den Ort, wo er hingehört, schon dadurch erzwingen, daß ich hingehe und darauf dringe. Aber schlimm genug ist es, wenn so etwas überhaupt nötig ist. Es ist schon spät, und das Wetter sehr schlecht, und der Junge scheint ganz erschöpft zu sein. In der Dachkammer über dem Schuppen steht ein Bett. Es ist wohl das beste, wir lassen ihn dort bis morgen früh liegen, und dann kann man ihn einwickeln und fortschaffen. Das wollen wir tun.«

»O«, sagte Mr. Skimpole, dessen Hände auf den Tasten des Klaviers ruhten, während wir uns von ihm wieder zu dem Knaben wendeten. »Wollen Sie wieder zu unserm jungen Freund gehen?«

»Ja.«

»Nein, wie ich Sie um Ihre Konstitution beneide! Sie machen sich nichts aus solchen Dingen, und Miß Summerson auch nicht. Sie sind immer bereit, irgendwohin zu gehen oder irgend etwas zu tun. Das ist das Wollen! – Ich habe überhaupt kein Wollen – und kein Nichtwollen –, nur ein Nichtkönnen.«

»Sie können dem Jungen nichts verschreiben, vermute ich?« fragte mein Vormund und sah sich über die Schulter halb ärgerlich nach Mr. Skimpole um. Nur halb ärgerlich, denn er schien ihn niemals als ein zurechnungsfähiges Wesen zu betrachten.

»Lieber Jarndyce, ich bemerkte eine Flasche kühlender Medizin in seiner Tasche, und er kann nichts Besseres tun, als sie einnehmen. Sie können auch in seiner Schlafstube ein wenig Essig sprengen lassen und das Zimmer mäßig kühl und ihn mäßig warm halten. Aber es wäre eine Anmaßung von mir, einen Rat geben zu wollen, wo Miß Summerson eine solche Detailkenntnis besitzt und eine solche Fähigkeit, sich um jede Kleinigkeit zu kümmern.«

Wir kehrten wieder in die Vorhalle zurück und setzten Jo auseinander, was wir vorzunehmen gedächten, und Charley machte es ihm dann noch ein Mal klar. Er hörte uns mit schlaffer Teilnahmslosigkeit an und sah müde allen Vorbereitungen zu, als geschähen sie für einen ganz Fremden. Da die Dienerschaft großes Mitleid für seinen jammervollen Zustand an den Tag legte und voll Eifer half, war die Stube über dem Schuppen bald fertig, und ein paar Leute trugen ihn, gut eingehüllt, über den nassen Hof. Sie waren sehr freundlich gegen ihn, munterten ihn auf und nannten ihn »alter Knabe«. Charley leitete das Ganze und war immer unterwegs zwischen Krankenstube und dem Haus mit Stärkungsmitteln und was wir ihm sonst einzugeben wagten. Mein Vormund sah selbst nach ihm, ehe man ihn für die Nacht allein ließ, und berichtete mir, als er in sein Brummstübchen ging, um an das Krankenhaus einen Brief zu schreiben, den ein Bote am nächsten Morgen mit Tagesanbruch besorgen sollte, daß der Patient ruhiger sei und schlafen zu wollen scheine. Sie hätten die Tür von außen verschlossen, im Falle er delirieren sollte, aber alles wäre so eingerichtet, daß er sofort gehört werden würde, wenn er riefe oder sonst Lärm machen sollte.

Da Ada wegen einer Erkältung das Zimmer hütete, war Mr. Skimpole die ganze Zeit über allein und vertrieb sich die Zeit mit Klavierspielen, mit Bruchstücken von rührenden Liedern, zu denen er, wie wir aus der Ferne hörten, mit großem Ausdruck und Gefühl sang.

Als wir wieder in den Salon zurückkehrten, sagte er, er wolle uns eine kleine Ballade vorsingen, zu der ihn unser junger Freund »angeregt« habe. Und er sang ein paar Strophen von einem Betteljungen, der

»Vereinsamt, verwaist, verstoßen, verlassen
durch die Welt sich schleppt, ziellos, durch die Gassen«.

Ein Lied, das ihn stets zum Weinen brächte, sagte er.

Er war den ganzen übrigen Abend außerordentlich fröhlich. – Er »zirpe« geradezu, wie er sich lustig ausdrückte, wenn er bedächte, von welch geschäftigen Geistern er umgeben sei. Er trank ein Glas Glühwein auf die »Genesung unsres jungen Freundes« und malte in heitern Farben die Möglichkeit aus, daß es Jo wie Whittington vielleicht bestimmt sein könnte, Lordmayor von London zu werden. Er würde dann gewiß eine Jarndyce-Stiftung und ein Summerson-Armenhaus und eine kleine jährliche Prozession des ganzen Gemeinderats nach St. Albans ins Leben rufen. Er bezweifle nicht, sagte er, daß unser junger Freund in seiner Art ein vortrefflicher Junge sei. Aber seine Art sei nicht Harold Skimpoles Art, und was Harold Skimpole sei, habe Harold Skimpole zu seiner größten Überraschung selbst erst entdeckt, als er zuerst seine eigne Bekanntschaft gemacht habe. Er habe sich mit allen seinen Fehlern ohne Widerspruch hingenommen und es für die gesündeste Philosophie gehalten, sich in die Umstände zu fügen, und er hoffe, wir würden dasselbe tun.

Charleys letzter Bericht lautete, daß der Knabe sich ruhig verhalte. Ich konnte aus meinem Fenster die Laterne, die sie bei ihm gelassen hatten, brennen sehen und legte mich zu Bett, ganz glücklich bei dem Gedanken, daß der Arme wenigstens ein Obdach habe.

Noch vor Tagesanbruch war mehr Unruhe und Gerede im Haus als gewöhnlich und weckte mich. Ich zog mich an, blickte zum Fenster hinaus und fragte einen unsrer Leute, ob ein Unglück geschehen sei. Die Laterne brannte immer noch in dem Fenster über dem Schuppen.

»Der Junge, Miß!«

»Geht es ihm schlechter?«

»Fort, Miß.«

»Tot!«

»Tot, Miß? Nein. Fort. – Verschwunden.«

Jemals zu erraten, um welche Stunde der Nacht Jo sich davon gemacht hatte oder wie und warum, schien eine hoffnungslose Sache zu sein. Die Tür war noch ganz so, wie wir sie verlassen hatten, die Laterne stand immer noch im Fenster, und man konnte nur vermuten, er sei durch eine Falltür im Fußboden, die in den leeren Schuppen hinunterführte, entflohen. Aber wenn das der Fall war, hatte er sie wieder sorgfältig zugemacht, und sie sah aus, als habe man sie nie berührt. Vermißt wurde nicht das mindeste. Wir mußten uns also zu der Ansicht entschließen, er habe in der Nacht das Delirium bekommen und sei von irgend einer Einbildung verlockt oder aus gegenstandsloser Furcht in seinem mehr als hilflosen Zustand entflohen. So dachten wir alle, mit Ausnahme Mr. Skimpoles, der wiederholt sorglos äußerte, es sei unserm jungen Freund wahrscheinlich durch den Kopf gegangen, er wäre mit seinem bösartigen Fieber ein gefährlicher Hausgenosse, weshalb er sich mit großem natürlichem Takt empfohlen habe.

Man stellte jede mögliche Nachforschung an und fragte an allen möglichen Orten nach. Man untersuchte die Ziegelöfen, ging nach den Hütten und verhörte die beiden Frauen aufs gründlichste, aber sie wußten nichts von ihm, und niemand konnte an der Echtheit ihres Erstaunens zweifeln. Die Witterung war schon seit einiger Zeit sehr naß gewesen, und es hatte auch während der Nacht selbst zu sehr geregnet, als daß sich seine Fußstapfen hätten verfolgen lassen. Hecken, Gräben, Mauern, Heustadel und Schober wurden von unsern Leuten in weitem Umkreis untersucht, ob sich der Junge nicht vielleicht an einem dieser Orte bewußtlos oder tot auffände, aber auch nicht die geringste Spur war von ihm zu entdecken. Von der Stunde an, wo man ihn in der Kammer allein gelassen hatte, blieb er verschwunden.

Fünf Tage lang dauerten die Nachforschungen fort. Ich meine nicht, daß sie dann aufhörten, aber meine Aufmerksamkeit wurde damals in einer für mich sehr einschneidenden Weise abgelenkt.

Als Charley nämlich wieder des Abends in meinem Zimmer ihre Schreibaufgaben machte und ich ihr gegenüber arbeitete, fühlte ich, daß plötzlich der Tisch zitterte. Ich blickte auf und sah, daß meine kleine Zofe ein Schüttelfrost vom Kopf bis zur Zehe durchlief.

»Charley«, fragte ich, »frierst du so?«

»Ich glaube ja, Miß. Ich weiß nicht, was es ist. Ich kann mich nicht ruhig verhalten. Es war mir schon gestern so zumute. Ziemlich um dieselbe Stunde, Miß. Erschrecken Sie nicht, aber ich fürchte, ich bin krank.«

Ich hörte Adas Stimme draußen und eilte sogleich an die Verbindungstür zwischen dem gemeinschaftlichen Salon und meinem Zimmer. Ich verschloß sie gerade noch rechtzeitig, denn während meine Hand noch den Schlüssel umdrehte, hörte ich klopfen.

Ada rief mir zu, ich solle sie hereinlassen, aber ich sagte:

»Jetzt nicht, Liebste. Geh lieber. Es ist nichts. Ich werde gleich hinüberkommen.«

Ach, es dauerte lange, lange Zeit, ehe mein Liebling und ich wieder zusammenkamen.

Charley wurde krank. Im Verlauf von zwölf Stunden war sie schwerkrank. Ich ließ sie in mein Zimmer tragen, legte sie in mein Bett und setzte mich ruhig daneben, um sie zu pflegen. Ich unterrichtete meinen Vormund von allem, und warum ich es für notwendig halte, mich abzuschließen, und weshalb ich meinen Liebling durchaus nicht sehen wollte. Anfangs kam sie sehr oft an die Tür und rief mich und machte mir schluchzend und weinend Vorwürfe, aber ich schrieb ihr einen langen Brief, sagte ihr, daß sie mir damit Sorge und Schmerz bereite, und bat sie, wenn sie mich liebe und mir keinen Kummer zu machen wünsche, mir nicht näher als bis zum Garten zu kommen. Daraufhin trat sie oft unter das Fenster, und wenn ich schon vorher, wo wir kaum je getrennt gewesen, ihre liebe süße Stimme so sehr und von Herzen lieben gelernt hatte, wie teuer wurde sie mir jetzt, wo ich, ohne hinauszublicken, hinter dem Vorhang stand und ihr lauschte. Wie sehr lernte ich sie erst später lieben, als die schwere Zeit kam.

Man schlug in unserm gemeinsamen Salon ein Bett für mich auf, und durch Offenstehenlassen der Tür machte ich aus den beiden Zimmern eins, nachdem Ada diesen Flügel des Hauses ganz geräumt hatte. So war die Krankenstube stets frisch und luftig. Nicht ein Dienstbote war im Hause, der nicht mit größter Bereitwilligkeit und ohne die mindeste Furcht zu jeder Stunde des Tags oder der Nacht mir geholfen hätte, aber ich hielt es für das beste, eine einzige sehr gewissenhafte Frau auszuwählen, die Ada nie sehen durfte, wie ich anordnete, und von der ich wußte, daß sie keine Vorsichtsmaßregel außer acht lassen werde. Das ermöglichte mir, daß ich zuweilen in den Garten gehen konnte, um in Gesellschaft meines Vormunds frische Luft zu schöpfen, wenn wir nicht Gefahr liefen, Ada zu begegnen.

Die arme Charley wurde schwerkrank und schwebte in Lebensgefahr. Eine lange Reihe von Tagen und Nächten lag sie danieder. So geduldig war sie, klagte so wenig und war so sanft und ergeben, daß ich oft, wenn ich bei ihr saß und ihren Kopf auf meinem Arm ruhen ließ, denn das war manchmal das einzige Mittel, sie einschlummern zu machen, unsern Vater im Himmel im stillen bat, mich die Lehre, die mir diese kleine Schwester gab, nicht vergessen zu lassen.

Viel Sorgen machte mir der Gedanke, daß Charleys hübsches Gesicht entstellt sein würde, wenn sie wieder genesen sollte, aber meistens verdrängte ich die Angst, daß sie in weit größerer Gefahr schwebe. Als es am schlimmsten mit ihr stand und sie von ihren Sorgen um ihre kleinen Geschwister und von dem Krankenbett ihres Vaters phantasierte, kannte sie mich doch immer noch soweit, daß sie ruhiger wurde, wenn ich sie in die Arme nahm, weil nichts andres mehr half. In solchen Stunden pflegte ich mir mit Qual vorzustellen, wie ich jemals den zwei verwaisten Kleinen mitteilen sollte, daß das Kind, das von seinem eignen treuen Herzen gelernt hatte, ihnen in ihrer Not Mutter zu sein, gestorben sei.

In Stunden, wo das Fieber nachließ, kannte Charley mich recht gut und sprach mit mir, ließ Tom und Emma vielmals grüßen und sagte, sie sei überzeugt, Tom werde zu einem tüchtigen Mann heranwachsen. In solchen Augenblicken erzählte sie mir von dem, was sie ihrem Vater vorgelesen hatte, um ihn zu trösten: Von dem Jüngling, den sie hinaus zum Begräbnis trugen und der der einzige Sohn seiner verwitweten Mutter gewesen. Und von der Tochter des Hauptmanns, die die Hand der Barmherzigkeit auf dem Totenbett wieder zum Leben erweckte. – Sie sagte mir, sie sei niedergekniet, als ihr Vater gestorben war, und habe in ihrem ersten Schmerz gebetet, auch er möge auferweckt und seinen armen Kindern zurückgegeben werden, und daß sie glaube, auch Tom werde dasselbe Gebet für sie zum Himmel schicken, falls sie nie wieder genesen und sterben sollte. Und dann müßte ich Tom auslegen, wie diese Menschen in den alten Zeiten wieder zum irdischen Leben erweckt worden wären, auf daß wir ein Pfand der ewigen Fortdauer im Himmel hätten.

In keinem ihrer Krankheitsstadien verlor sie auch nur ein einziges Mal ihre sanften liebenswürdigen Eigenschaften.

Charley starb nicht. Langsam, langsam überwand sie die Krisis, und dann fing es an, besser mit ihr zu werden. Die Furcht, ihr Gesicht könne entstellt sein, wich bald von mir, und auch hierin ging es immer besser, und ich sah sie wieder zu ihrem früheren kindlichen Ebenbilde werden.

Es war ein großer Morgen, als ich Ada, die unten im Garten stand, alles das berichten konnte. Und ein großer Abend, als Charley und ich endlich zusammen im anstoßenden Zimmer Tee tranken. Aber an demselben Abend fühlte ich, daß ein Fieber über mich kam. Zum Glück für uns beide fiel es mir erst, nachdem Charley wieder ruhig im Bett lag, ein, ich könnte mich von ihr angesteckt haben. Während des Tees hatte ich meinen Zustand noch unterdrücken können, aber damit war es jetzt bereits vorbei, und ich begriff, daß ich in Charleys Fußstapfen trat.

Ich war jedoch noch kräftig genug, zeitig früh aufzustehen und den fröhlichen Gruß meines Herzenslieblings aus dem Garten erwidern und mit ihr so lange wie gewöhnlich sprechen zu können. Aber ich war nicht ganz frei von dem Eindruck, während der Nacht fiebernd und außer mir in den beiden Zimmern herumgegangen zu sein. Und manchmal wurde es mir wirr im Kopf, und ich hatte ein seltsames Gefühl der Vollheit, so, als ob ich viel größer sei als sonst.

Des Abends wurde es mir soviel schlimmer, daß ich beschloß, Charley vorzubereiten, und ihr sagte:

»Du fühlst dich jetzt wieder viel kräftiger, Charley, nicht wahr?«

»O, gewiß.«

»Kräftig genug, um ein Geheimnis zu hören, Charley?«

»O, kräftig genug, Miß!« rief sie. Aber mitten in ihrer Freude trübte sich ihre Miene, denn sie las das Geheimnis auf meinem Gesicht. Sie stand aus dem Lehnstuhl auf, fiel mir um den Hals und sagte:

»O Miß, daran bin ich schuld. Ich schuld!« Und noch vieles mehr aus der Fülle ihres dankbaren Herzens heraus.

»Nun höre, Charley«, sagte ich, nachdem ich sie eine Weile hatte gewähren lassen, »wenn ich krank werde, setze ich mein größtes Vertrauen von allen Menschen auf dich. Und wenn du nicht so ruhig und gefaßt für mich bist, wie du es immer für dich selbst warst, kannst du mir nicht beistehen, Charley!«

»Lassen Sie mich nur noch ein wenig mich ausweinen, Miß«, jammerte Charley. »O, mein Gott, o Gott, o Gott! Ich werde mich gleich wieder beruhigt haben, o Gott!« An den innigen Ton, wie sie das sagte, während sie an meinem Halse hing, kann ich nie ohne Tränen zurückdenken.

So ließ ich sie sich denn ein wenig ausweinen, und es tat uns beiden wohl.

»Verlassen Sie sich auf mich, Miß!« sagte Charley dann ruhig. »Ich höre jetzt genau zu.«

»Vorderhand ist es sehr wenig, Charley. Ich werde dem Doktor heute abend sagen, daß ich mich nicht recht wohl fühle und daß du meine Wärterin sein sollst.«

Dafür dankte mir das arme Kind mit ganzem Herzen.

»Und morgen in der Frühe, wenn du Miß Ada im Garten hörst und ich nicht mehr imstande sein sollte, wie gewöhnlich an den Fenstervorhang zu kommen, so gehe du hin, Charley, und sag, ich schliefe noch und wäre etwas erschöpft. Die ganze Zeit über bleibst du im Zimmer, wie ich darin geblieben bin, Charley, und läßt niemanden herein.«

Charley versprach es mir, und ich legte mich nieder, denn der Kopf war mir sehr schwer. Ich sprach an diesem Abend den Arzt und bat ihn darum, nichts im Hause von meiner Erkrankung verlauten zu lassen. Ich habe eine sehr undeutliche Erinnerung von dem Hinüberschwimmen dieser Nacht in den Tag und dem des Tags wieder in die Nacht. Am ersten Morgen war ich gerade noch knapp imstande, an das Fenster zu gehen und mit meinem Liebling zu sprechen.

Am zweiten Morgen hörte ich ihre Stimme draußen und bat Charley mit Anstrengung, denn das Reden wurde mir schwer, ihr zu sagen, ich schliefe. Ich hörte sie leise antworten: »Störe sie nicht, Charley, um alles in der Welt nicht!«

»Und wie sieht mein Herzenskind aus, Charley?«

»Enttäuscht, Miß«, berichtete Charley, durch den Vorhang lugend.

»Aber ich weiß, sie ist heute morgen wieder sehr schön.«

»Ja, das ist sie, Miß. Sie sieht immer noch zum Fenster herauf.«

Mit ihren klaren blauen Augen, Gott segne sie!

Ich rief Charley zu mir und gab ihr einen letzten Auftrag:

»Jetzt höre, Charley! Wenn sie erfährt, daß ich krank bin, wird sie versuchen, in das Zimmer zu dringen. Laß sie nicht herein, Charley, wenn du mich wirklich lieb hast, Charley. Wenn sie auch nur ein einziges Mal hereinkommt, um mich anzusehen, während ich hier liege, ist es mein Tod.«

»Ich werde es nie tun! Niemals!«

»Ich vertraue dir, meine gute Charley. Und jetzt komm her und setz dich eine Weile neben mich und gib mir die Hand, denn ich kann dich nicht sehen, Charley. Ich bin blind!«

23. Kapitel


23. Kapitel

Esthers Erzählung

Nach sechs vergnüglich verlebten Wochen kehrten wir von Mr. Boythorn wieder nach Hause zurück. Wir waren oft im Park und im Walde gewesen und selten vor der Hütte des Parkhüters vorbeigegangen, ohne ein paar Worte mit seiner Frau zu sprechen; aber Lady Dedlock bekamen wir weiter nicht zu Gesicht, außer sonntags in der Kirche. Es waren Gäste in Chesney Wold, und obgleich viele schöne Gesichter sie umgaben, übte ihr Antlitz immer noch denselben Einfluß auf mich aus wie das erste Mal. Selbst jetzt weiß ich nicht recht, war der Einfluß peinlich oder angenehm für mich. Zog er mich zu ihr hin oder stieß er mich von ihr ab! Ich glaube, meine Bewunderung war mit einer gewissen Furcht gemischt, und ich weiß, daß in ihrer Anwesenheit meine Gedanken stets wie das erste Mal zu jener längst vergangnen Zeit meines Lebens zurückwanderten.

An mehr als einem Sonntag schien es mir, ich könnte vielleicht auf Lady Dedlock ebenso wirken wie sie auf mich –, ich meine, daß ich ihren Gedankengang vielleicht ebenso störte, wie sie den meinen beeinflußte. Aber jedes Mal, wenn ich einen verstohlenen Blick auf sie warf und sie so ruhig und kühl und unnahbar dasitzen sah, fühlte ich, daß das eine törichte Einbildung war. Überhaupt merkte ich, daß mein ganzes Denken und Fühlen in bezug auf sie unvernünftig und haltlos war, und machte mir innerlich darüber manchen Vorwurf.

Ein Vorfall, der sich ereignete, bevor wir Mr. Boythorn verließen, findet wohl am besten gleich hier Erwähnung.

Ich ging mit Ada im Garten spazieren, als man mir meldete, jemand wünsche mich zu sprechen. Ich trat in das Frühstückszimmer, in das man die Person geführt hatte, und fand dort die französische Zofe, die an dem Tag des Gewitters die Schuhe ausgezogen hatte und durch das nasse Gras gegangen war.

»Mademoiselle«, fing sie an und fixierte mich mit ihren scharfen Augen ein wenig zu sehr, als daß es sich mit ihrer sonst angenehmen Erscheinung und ihrem weder frechen noch kriecherischen Benehmen gut vertragen hätte. »Ich nehme mir eine große Freiheit, indem ich hierher komme, aber Sie werden es gewiß entschuldigen, da Sie so liebenswürdig sind, Mademoiselle.«

»Sie brauchen sich durchaus nicht zu entschuldigen, wenn Sie mit mir zu sprechen wünschen«, sagte ich.

»Ja, das wünsche ich. Tausend Dank für die freundliche Erlaubnis. Ich darf also sprechen. Nicht wahr?« sagte sie rasch und natürlich.

»Gewiß.«

»Mademoiselle, Sie sind so liebenswürdig! Hören Sie mich, bitte, an. Ich habe Myladys Dienst verlassen. Wir konnten nicht miteinander auskommen. Mylady trägt den Kopf hoch. Außerordentlich hoch. Pardon! Mademoiselle, Sie haben recht!« Ihre schnelle Auffassung erriet, was ich hatte sagen wollen. »Es ziemt sich nicht für mich, hierherzukommen und Klage über Mylady zu führen. Aber ich sage nur, sie trägt den Kopf hoch, außerordentlich hoch. Weiter sage ich kein Wort. Alle Welt weiß das.«

»Bitte, fahren Sie fort!«

»Sogleich, Mademoiselle. Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Höflichkeit. Mademoiselle, ich hätte den glühenden Wunsch, bei einer jungen Dame, die gebildet ist und schön ist, einen Dienst zu bekommen. Sie sind gut, gebildet und schön wie ein Engel. Ach, wenn ich die Ehre haben könnte, in Ihre Dienste treten zu dürfen!«

»Es tut mir wirklich leid…« begann ich.

»Weisen Sie mich nicht so rasch zurück, Mademoiselle«, sagte sie und zog unwillkürlich ihre schönen schwarzen Augenbrauen zusammen. »Lassen Sie mich wenigstens hoffen – nur einen Moment! Mademoiselle, ich weiß, die Stelle bei Ihnen würde stiller sein als die, die ich verlassen habe. Aber grade das hätte ich gerne. Ich weiß, diese Stelle würde weniger angesehen sein als meine vorige. Aber das wäre gerade mein Wunsch. Ich weiß, daß ich mich an Lohn schlechter stünde. Gut. Ich bin zufrieden.«

»Ich versichere Ihnen«, sagte ich, schon von dem bloßen Gedanken, eine solche Gesellschafterin um mich zu haben, ganz verwirrt, »daß ich überhaupt keine Kammerfrau halte und…«

»Ach Mademoiselle, warum nicht? Warum nicht, wenn Sie jemand haben können, der Ihnen anhänglich ist, der Ihnen mit Freuden dienen würde, treu, eifrig und verläßlich! Mademoiselle, ich möchte bei Ihnen wirklich von Herzen gern dienen. Reden Sie jetzt nicht von Geld. Nehmen Sie mich, so, wie ich vor Ihnen stehe. Umsonst.«

Sie war so merkwürdig ernst, daß ich einen Schritt zurücktat, denn ich fürchtete mich fast vor ihr. Ohne es in ihrem Eifer zu merken, drängte sie sich mir immer noch auf und sprach mit rascher, unterdrückter Stimme, aber immer mit einer gewissen Anmut und voll Anstand.

»Mademoiselle, ich bin aus dem Süden, wo man schnell entschlossen ist und liebt oder haßt. Mylady trug den Kopf zu hoch für mich, und ich tat es auch. Es ist geschehen. Vorbei. Aus. Nehmen Sie mich als Ihre Zofe an, und ich will Ihnen gut dienen. Ich will mehr für Sie tun, als Sie sich jetzt vorstellen können. Gut! Mademoiselle, verlassen Sie sich darauf! Ich sage Ihnen, ich werde mein Allermöglichstes in allem und jedem tun! Wenn Sie meine Dienste annehmen, werden Sie es nicht bereuen. Mademoiselle, Sie werden es nicht bereuen, und ich werde Ihnen nützlich sein. Sie wissen nicht, wie nützlich.«

In ihrem Gesicht drückte sich eine drohende Energie aus, während ich ihr auseinandersetzte, daß es mir rein unmöglich sei, sie in meine Dienste zu nehmen. Ihr Anblick erinnerte mich an das Bild eines Weibes in den Straßen von Paris während der Schreckenszeit. Sie hörte mich ohne Unterbrechung an und sagte dann mit ihrem hübschen Akzent und mit ihrer sanftesten Stimme: »Nun gut, Mademoiselle, ich habe meine Antwort! Es tut mir leid. Ich muß also anderswo suchen, was ich hier nicht gefunden habe. Würden Sie mir gütigst erlauben, Ihnen die Hand zu küssen?«

Sie sah mich noch aufmerksamer an, als sie meine Hand nahm, und schien sich einen Augenblick jede Ader genau merken zu wollen. »Ich fürchte, Sie haben sich über mich gewundert an jenem Gewittertag, Mademoiselle?« sagte sie und verbeugte sich zum Abschied noch einmal.

Ich gab zu, daß wir uns alle gewundert hätten.

»Ich habe ein Gelübde getan, Mademoiselle«, sagte sie lächelnd, »und wollte es meinem Gedächtnis einprägen, damit ich es getreulich erfülle. Und das werde ich auch. Adieu, Mademoiselle!«

So endete unsere Unterredung, und, wie ich gestehen muß, zu meiner großen Erleichterung. Sie reiste wahrscheinlich ab, denn ich bekam sie nicht mehr zu Gesicht. Und nichts störte weiter unsre stillen Sommervergnügungen, bis sechs Wochen verstrichen waren und wir nach Hause zurückkehrten.

Damals und viele Wochen nachher noch besuchte uns Richard sehr häufig. Außer, daß er jeden Samstag kam und bis Montag bei uns blieb, ritt er oft unerwartet herüber, brachte den Abend bei uns zu und ritt am nächsten Morgen früh wieder zurück. Er war so lebhaft wie immer und erzählte uns, daß er sehr fleißig sei. Aber trotzdem war ich innerlich nicht ohne Besorgnis. Es schien mir, als ob er in einer falschen Richtung tätig sei. Ich konnte nicht entdecken, daß sein Fleiß zu etwas anderm führte als zur Erweckung trügerischer Hoffnungen hinsichtlich des Prozesses, der schon die verderbliche Ursache so vieler Schmerzen und Leiden geworden war. Er sei jetzt in den Kern des Geheimnisses eingedrungen, sagte er uns, und nichts könne klarer sein, als daß das Testament, nach dem er und Ada, ich weiß nicht, wie viele tausend Pfund, erben sollten, endlich anerkannt werden müßte, wenn der Kanzleigerichtshof nur einen Funken Verstand oder Gerechtigkeit besäße, und daß dieser glückliche Abschluß nicht mehr lange auf sich warten lassen könne. Das bewies er sich durch all die ermüdenden Argumente, die er gelesen hatte, und jedes derselben stürzte ihn nur noch tiefer in seine Verblendung. Er hatte sogar angefangen, die Gerichtssitzungen regelmäßig zu besuchen. Er erzählte uns, daß er täglich Miß Flite dort sähe, daß sie sich miteinander unterhielten und er ihr kleine Gefälligkeiten erweise und sie von ganzem Herzen bemitleide, wenn er auch innerlich über sie lächeln müsse.

Er dachte keinen Augenblick daran, der arme, liebe, sanguinische Richard, damals so vielen Glückes fähig und mit einer so viel bessern Zukunft vor sich, welch verhängnisvolle Kette sich zwischen seiner frischen Jugend und ihrem welken Alter schlang, zwischen seinen hohen Hoffnungen und ihren in Käfigen hintrauernden Vögeln und ihrem ärmlichen Dachstübchen und ihrem irren Geist.

Ada liebte ihn zu sehr, um ihm in irgend etwas, was er sagte oder tat, zu mißtrauen, und mein Vormund klagte zwar häufig über Ostwind und las mehr als gewöhnlich im Brummstübchen, beobachtete aber sonst strengstes Stillschweigen über dieses Thema. Als ich daher eines Tages Caddy Jellyby auf ihre Bitte einen Besuch in London machte, kam ich auf den Einfall, mich von Richard im Landkutschenbureau abholen zu lassen, um mit ihm ein wenig über seine Angelegenheiten zu plaudern. Ich fand ihn bei meiner Ankunft dort, und wir gingen Arm in Arm fort.

»Nun, Richard«, sagte ich, sobald ich anfangen konnte, mit ihm ernst zu sprechen, »arbeiten Sie sich jetzt ein?«

»O ja, liebe Esther«, entgegnete Richard. »So ziemlich.«

»Ich meine, haben Sie ordentlich Wurzel gefaßt?«

»Wie meinen Sie das, Wurzel gefaßt?« fragte er mit seinem heitern Lachen.

»In der Jurisprudenz Wurzel gefaßt.«

»O ja. Es macht sich.«

»Das haben Sie schon vorhin gesagt, lieber Richard.«

»Und Sie halten es für keine ausreichende Antwort, wie? Nun, da haben Sie vielleicht recht. Wurzel gefaßt? Sie meinen, ob ich mit ganzem Herzen bei der Sache bin?«

»Ja.«

»Nun, nein. Das kann ich nicht gerade behaupten, weil man nicht ordentlich anfangen kann, solange sich die Angelegenheit in einem so unklaren Stadium befindet. Wenn ich sage Angelegenheit, so meine ich natürlich damit – das verbotene Thema.«

»Glauben Sie wirklich, der Prozeß könne jemals aus dem unklaren Stadium herauskommen?«

»Daran ist doch kein Zweifel.«

Wir gingen eine Weile stumm nebeneinander her; dann redete mich Richard in seiner offenherzigsten Weise an:

»Meine liebe Esther, ich verstehe Sie ganz gut und wünschte bei Gott, ich wäre ein beständigerer Mensch. Ich meine nicht beständig in bezug auf Ada, denn ich liebe sie aufs innigste – mehr und mehr von Tag zu Tag –, aber beständiger in bezug auf mich selbst. Vielleicht drücke ich mich nicht richtig aus, aber Sie werden mich schon verstehen. Wenn ich ein beständigerer Mensch wäre, hätte ich entweder bei Badger oder bei Kenge & Carboy festgehalten wie der grimme Tod und wäre jetzt solid und gesetzt geworden und hätte keine Schulden und…«

»Haben Sie Schulden, Richard?«

»Ja. Ein paar, liebe Esther. Auch habe ich mir etwas zu sehr das Billardspielen angewöhnt und ähnliches. Jetzt ist’s draußen. Sie verabscheuen mich, Esther, nicht wahr?«

»Sie wissen, daß dies nicht der Fall ist«, sagte ich.

»Sie sind nachsichtiger gegen mich, als ich es oft selbst bin. Liebe Esther, ich bin ein armer Hund, daß ich nicht zur Ruhe kommen kann. Aber wie kann ich es denn? Wenn Sie in einem unvollendeten Hause wohnen müßten, würden Sie darin nicht zur Ruhe kommen können, und wenn Sie verurteilt wären, alles, was Sie anfingen, halbfertig liegen lassen zu müssen, wären Sie auch nicht imstande, sich einer Sache ernstlich zu widmen. Ich bin in diesen endlosen Rechtsstreit mit all seinen wechselnden Chancen hineingeboren worden, und er hat mich aus dem Gleichgewicht zu bringen begonnen, ehe ich noch recht wußte, was ein Prozeß ist. Er hat mich seitdem nie mehr recht wieder ins Geleise kommen lassen. Hier stehe ich nun manchmal, von der Überzeugung durchdrungen, daß ich gar nicht wert bin, meine vertrauensvolle Kusine Ada zu lieben.«

Wir waren an einer menschenleeren Stelle angelangt, und er bedeckte die Augen mit seiner Hand und schluchzte.

»Richard, nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen! Sie haben eine vornehme Denkungsweise, und der Gedanke an Ada kann Sie jeden Tag ihrer würdiger machen.«

»Ich weiß das, liebe Esther«, antwortete er und drückte mir den Arm. »Ich weiß das alles. Sie dürfen sich nicht wundern, daß ich jetzt ein bißchen weich bin, aber die Geschichte hat mir lange Zeit auf der Seele gelegen, und ich wollte oft mit Ihnen darüber sprechen, aber manchmal hat mir die Gelegenheit und oft der Mut dazu gefehlt. Ich weiß, daß der Gedanke an Ada mich ändern sollte, aber er tut es nicht. Ich bin zu unbeständig. Ich liebe sie auf das innigste, und dennoch handle ich jeden Tag und jede Stunde unrecht an ihr und an mir. Aber das kann nicht ewig dauern. Wir müssen endlich zu einem Schlußtermin kommen und zu einem Urteil zu unsern Gunsten. Und dann sollen Sie und Ada sehen, was ich in Wirklichkeit sein kann.«

Es hatte mir einen Stich ins Herz gegeben, als ich ihn schluchzen hörte und die Tränen zwischen seinen Fingern durchdringen sah, aber es war mir unendlich weniger schmerzlich als die Hoffnungsfreude, mit der er die letzten Worte sprach.

»Ich habe die Akten gründlich studiert, Esther, mich monatelang in sie vertieft«, fuhr er mit seiner alten Heiterkeit wieder fort, »und Sie können sich darauf verlassen, daß wir gewinnen müssen. Was langes Warten betrifft, hat es daran nicht gefehlt, Gott weiß. Um so wahrscheinlicher, daß die Sache rasch zu Ende geht. Sie steht sogar heute auf der Tagesordnung. Es wird zuletzt alles gut werden, und dann sollen Sie sehen.«

Da ich ihn soeben Kenge & Carboy in dieselbe Kategorie mit Mr. Badger hatte stellen hören, fragte ich ihn, wann er beabsichtige, sich in Lincoln’s-Inn einschreiben zu lassen.

»Das ist’s ja eben! Ich denke gar nicht daran, Esther«, erwiderte er gezwungen. »Ich glaube, ich habe die Sache dick. Ich habe im Falle ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ wie ein Galeerensklave gearbeitet und vorläufig meinen Durst nach Jurisprudenz gelöscht und mich überzeugt, daß ich mich nicht dafür eigne. Außerdem finde ich, daß es mich nur noch unruhiger macht, immerwährend auf dem Schauplatz der Handlung zu sein. Worauf richten sich nun naturgemäß meine Gedanken?« fuhr Richard fort, im Laufe seiner Rede wieder zuversichtlich geworden.

»Ich kann es nicht erraten.«

»Machen Sie kein so ernstes Gesicht! Es ist jedenfalls das Beste«, entgegnete Richard, »was ich tun kann, liebe Esther, das ist sicher. Ich brauche doch keinen Beruf im Leben zu haben, um versorgt zu sein. Der Prozeß muß endlich zu Ende gehen, und dann bin ich geborgen. Nein! Ich betrachte die Jurisprudenz als einen Beruf, der für mich nur vorübergehend ist und zu meiner zeitweiligen Lage, ich möchte sagen, vortrefflich paßt. Worauf richten sich nun naturgemäß meine Gedanken?«

Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf.

»Auf was sonst«, sagte Richard im Tone tiefster Überzeugung, »als auf die Armee.«

»Auf die Armee?«

»Auf die Armee, natürlich. Ich brauche mir nur ein Patent zu verschaffen, und fertig.«

Und dann bewies er mir durch ausführliche Berechnungen in seinem Notizbuch, daß – vorausgesetzt, er habe zweihundert Pfund Schulden in sechs Monaten gemacht, noch vor seinem Eintritt in die Armee, und als Offizier in einem entsprechenden Zeitraum gar keine weitern – denn dazu sei er fest entschlossen –, daß diese veränderte Lebensweise eine Ersparnis von vierhundert Pfund jährlich oder zweitausend Pfund in fünf Jahren bewirken müsse, was schon eine recht beträchtliche Summe sei. Und dann sprach er so offen und aufrichtig von dem Opfer, das er bringen wolle, indem er sich eine Zeitlang von Ada fernhalte, und von dem Ernst, der ihn jetzt erfülle, ihre Liebe zu vergelten, sie glücklich zu machen und alle seine Fehler abzulegen und ein Mann von Energie und Festigkeit zu werden, daß mir wirklich das Herz weh tat. Ich dachte bei mir, wie würde und könnte das alles enden, wo alle seine hohen Eigenschaften so bald und so sicher von dem Gifthauch getroffen werden mußten, der alles, was er berührte, zugrunde richtete.

Ich sprach mit Richard mit dem ganzen Ernst, der mich erfüllte, und bat ihn um Adas willen, nicht seine Hoffnung auf den Kanzleigerichtsprozeß zu setzen. Allem, was ich sagte, stimmte Richard bereitwillig bei. Nur über den Gerichtshof und was damit zusammenhing ging er leicht hinweg und entwarf die glänzendsten Schilderungen von dem Beruf, dem er sich widmen wollte, wenn der böse Prozeß einmal aufgehört haben würde, seine Gedanken gefangen zu halten. Wir hatten ein langes Gespräch, aber im Wesen drehte es sich immer wieder um denselben Punkt.

Endlich erreichten wir Soho-Square, welchen Platz Caddy Jellyby als einen stillen Ort in der Nähe von Newmanstreet zum Stelldichein bestimmt hatte.

Caddy ging in dem Park in der Mitte des Platzes spazieren und eilte uns entgegen, sobald sie uns erblickte. Nach einigen fröhlichen Worten ließ uns Richard allein.

»Prince hat in der Nähe Unterricht zu geben, Esther«, sagte Caddy, »und hat sich den Gartenschlüssel für uns geben lassen. Wenn du daher mit mir hier spazieren gehen willst, können wir uns einschließen, und ich kann dir in Ruhe erzählen, weshalb ich dein liebes gutes Gesicht so bald wieder zu sehen wünschte.«

»Sehr gut, liebe Caddy«, sagte ich. »Das ist ein prächtiger Einfall.«

Caddy verschloß, nachdem sie das »liebe gute Gesicht«, wie sie es nannte, liebreich geküßt hatte, das Gitter, nahm meinen Arm, und wir gingen gemütlich im Garten spazieren.

»Du mußt wissen, Esther«, begann Caddy, die immer eine Vorliebe für Vertraulichkeit hatte, »als du mir sagtest, es sei Unrecht, ohne Ma’s Wissen zu heiraten oder sie über unser Verlöbnis in Unwissenheit zu lassen – wenn ich auch nicht annehme, daß sie sich viel um mich kümmert –, glaubte ich deine Äußerung Prince mitteilen zu müssen. Erstens, weil ich aus allem, was du mir sagst, profitieren möchte, und zweitens, weil ich keine Geheimnisse vor Prince habe.«

»Ich hoffe, er hat mir beigestimmt, Caddy.«

»Und wie! Ich versichere dir, er würde dir in allem und jedem beistimmen. Du hast keine Idee, welch hohe Meinung er von dir hat.«

»Wirklich?«

»Esther, jede andere als mich würde es eifersüchtig machen«, lachte Caddy und schüttelte den Kopf. »Aber ich freue mich nur darüber, denn du bist meine erste Freundin und die beste, ich jemals haben werde. Und niemand kann dich genug achten und lieben, wenn er mir gefallen will.«

»Mein Wort, Caddy«, sagte ich, »ihr habt euch wohl alle zusammen verschworen, mich eingebildet zu machen? Nun, was wolltest du sagen?«

»Wir sprachen also ausführlich darüber, und ich sagte zu Prince: ‚Prince, da Miß Summerson…’«

»Ich hoffe doch nicht Miß Summerson?«

»Nein, allerdings nicht!« rief Caddy fröhlich. »Ich sagte: Esther. Ich sagte zu Prince: Da Esther entschieden dieser Meinung ist, Prince, und sie gegen mich ausgesprochen hat und stets darauf anspielt in den freundlichen Briefchen, die du dir so gern von mir vorlesen läßt, so bin ich bereit, Mama alles zu gestehen, sobald du die Zeit für geeignet hältst.

Und ich glaube, Prince, daß Esther der Meinung ist, ich stünde besser und ehrenhafter da, wenn du es zugleich deinem Papa sagtest.«

»Ja, liebe Caddy«, rief ich. »Esther ist ganz gewiß dieser Ansicht.«

»So hatte ich also recht! Siehst du! Nun also! Das beunruhigte Prince sehr. Nicht, daß er im mindesten andrer Meinung gewesen wäre, sondern weil er soviel Rücksicht auf die Gefühle seines Vaters nimmt und befürchtet, dem alten Mr. Turveydrop würde das Herz brechen oder er könnte in Ohnmacht fallen oder die Sache könnte ihn in irgendeiner andern Art überwältigen. Er fürchtete, der alte Mr. Turveydrop würde es als Pflichtvergessenheit auffassen und eine große seelische Erschütterung davontragen. Du mußt nämlich wissen, Esther, Mr. Turveydrop ist bei seinem hervorragenden Anstand ungemein sensitiv.«

»Wirklich, liebe Caddy?«

»O, außerordentlich sensitiv. Prince sagt es immer. Nur das war die Ursache, daß mein liebes Kind…« Caddy entschuldigte sich, über und über errötend, »…ich nenne gewöhnlich Prince mein liebes Kind.«

Ich lachte; und Caddy lachte und wurde rot und fuhr fort:

»Dies hat ihn veranlaßt, Esther.«

»Wen veranlaßt, meine Liebe?«

»O du Boshafte!« Caddys hübsches Gesicht wurde feuerrot. »Mein liebes Kind, also, wenn du darauf bestehst… Das hat ihm wochenlang Sorge gemacht und ihn veranlaßt, es von Tag zu Tag hinauszuschieben. Endlich sagte er zu mir: Caddy, wenn Miß Summerson, auf die mein Vater große Stücke hält, sich bewegen ließe, mit dabei zu sein, wenn ich es ihm entdecke, glaube ich, könnte ich es tun. So versprach ich ihm denn, dich zu fragen. Ich möchte außerdem«, sagte Caddy und sah mich voll Hoffnung, aber furchtsam an, »wenn es dir recht wäre, später mit dir zu Mama gehen. Das meinte ich, als ich in meinem Brief schrieb, ich wollte dich um eine große Gunst und um deinen Beistand bitten. Und wenn du glaubst, du könntest mir meinen Wunsch erfüllen, Esther, würden wir beide dir von Herzen dankbar sein.«

»Wir werden sehen, Caddy«, sagte ich und tat, als ob ich überlegte. »Ich glaube wirklich, wenn es drauf ankäme, könnte ich Schwereres als das vollbringen. Ich stehe dir und dem lieben Kind natürlich gern zur Verfügung, liebe Caddy.«

Caddy war ganz entzückt, empfand sie doch jeden kleinen Freundschaftsdienst so tief wie wohl je ein zärtliches Herz, das auf dieser Erde geschlagen hat. Und nachdem wir noch ein paar Mal im Garten auf und ab gewandelt waren, zog sie sich ein Paar funkelnagelneue Handschuhe an, wie sie sich denn überhaupt nach Möglichkeit herausgeputzt hatte, um dem Meister des Anstands keine Schande zu machen, und wir gingen geradenwegs nach Newmanstreet.

Prince gab natürlich Unterricht. Er beschäftigte sich gerade mit einer nicht sehr hoffnungsvollen Schülerin – einem bornierten kleinen Mädchen mit trotzigen Stirnfalten, einer tiefen Stimme und einer seelenlosen unzufriedenen Mama; und die Sache wurde durch die Verwirrung, in die wir Prince versetzten, keineswegs aussichtsvoller. Die Unterrichtsstunde nahm einen so unharmonischen Verlauf wie möglich, ging aber endlich zu Ende, und als das kleine Mädchen seine Schuhe gewechselt und den Feuerglanz ihres weißen Musselinkleides in vielen Shawls gelöscht hatte, nahm seine Mama es mit sich fort.

Nach ein paar vorbereitenden Worten suchten wir Mr. Turveydrop auf und fanden ihn, Hut und Handschuhe um sich gruppiert, als ein Musterbild des Anstandes auf dem Sofa in seinem Privatzimmer sitzen, dem einzigen wirklich behaglichen Raum im ganzen Hause. Er schien sich zwischen den Mahlzeiten in aller Muße angekleidet zu haben. Sein Toilettekasten, seine Bürsten und andere Utensilien, alles von elegantester Form, lagen herum.

»Vater: Miß Summerson – Miß Jellyby.«

»Entzückend! Bezaubernd!« rief Mr. Turveydrop und erhob sich mit seiner hochschultrigen Verbeugung. »Darf ich bitten!…« Er schob uns Stühle hin. »Bitte, Platz zu nehmen!« Er küßte die Fingerspitzen seiner linken Hand. »Ich bin außer mir vor Entzücken!« Er verdrehte und schloß die Augen. »Meine kleine Einsiedelei wird zu einem Paradies!« Wieder gruppierte er sich auf dem Sofa wie der ersten Gentleman nach dem König.

»Abermals finden Sie uns, Miß Summerson«, säuselte er, »beschäftigt mit unsern kleinen Künsten: Politur, Politur! Abermals spornt uns das schöne Geschlecht an und belohnt uns durch seine liebenswürdige Gegenwart. Es bedeutet schon sehr viel in diesen Zeiten – und wie sehr sind wir seit den Tagen Seiner Königlichen Hoheit des Prinzregenten, meines Gönners, wenn ich so sagen darf, entartet –, zu sehen, daß der Anstand nicht ganz von Handwerkern mit Füßen getreten wird und daß noch das Lächeln der Schönheit auf ihn herabglänzt, gnädiges Fräulein.«

Ich konnte keine passende Antwort finden, und er nahm noch eine Prise.

»Lieber Sohn«, wendete er sich zu Prince, »du hast heute nachmittag vier Stunden zu geben. Ich würde dir raten, schnell ein paar Sandwichs zu essen.«

»Ich danke dir, Vater«, antwortete Prince, »ich werde pünktlich sein. Lieber Vater, darf ich dich bitten, dich auf das gefaßt zu machen, was ich dir zu sagen habe?«

»Gütiger Himmel!« rief das Anstandsmusterbild aus, blaß und erschrocken, als Prince und Caddy Hand in Hand vor ihm niederknieten. »Was bedeutet das? Ist das Verrücktheit? Oder was sonst?«

»Vater«, begann Prince mit großer Unterwürfigkeit, »ich liebe diese junge Dame, und wir sind verlobt.«

»Verlobt!« rief Mr. Turveydrop, lehnte sich in das Sofa zurück und verhüllte sich das Gesicht mit der Hand. »Ein Pfeil in mein Hirn geschleudert von meinem eignen Kinde!«

»Wir sind schon seit einiger Zeit verlobt, Vater«, stammelte Prince. »Und Miß Summerson, die davon hörte, riet uns, dir die Sache mitzuteilen, und war so außerordentlich liebenswürdig, uns heute hierher zu begleiten. Miß Jellyby ist eine junge Dame, die dich im höchsten Grade schätzt, Vater!«

Mr. Turveydrop ließ ein Stöhnen hören.

»Nicht, Vater, nicht«, flehte der Sohn. »Miß Jellyby schätzt dich außerordentlich hoch, und unser heißester Wunsch ist, dir jede mögliche Bequemlichkeit zu schaffen.«

Mr. Turveydrop seufzte laut.

»Nicht, bitte nicht, Vater«, flehte Prince wieder.

»Mein Junge«, ächzte Mr. Turveydrop, »es ist gut, daß deiner seligen Mutter dieser Schlag erspart blieb. Stoß zu und schone mich nicht. Triff mich ins Herz, mein Sohn, triff mich ins Herz!«

»Ich bitte dich, Vater, sprich nicht so!« jammerte Prince unter Tränen. »Es zerreißt mir das Herz. Ich versichere dir, Vater, unser heißester Wunsch ist, dir jede Bequemlichkeit zu schaffen. Caroline und ich kennen unsre Pflicht. Was für mich Pflicht ist, ist es auch für Caroline, wie wir oft miteinander besprochen haben. Und mit deiner Bewilligung und Zustimmung, Vater, wollen wir alles tun, um dir das Leben so angenehm wie möglich zu machen.«

»Triff mich ins Herz«, murmelte Mr. Turveydrop. »Triff mich ins Herz!«

– Aber er schien auch zu horchen, wie mir vorkam. –

»Lieber Vater, wir wissen recht gut, daß du an mancherlei kleine Bequemlichkeiten gewöhnt bist und Anspruch darauf hast, und es wird unsre größte Sorge und unser Stolz sein, in erster Linie dafür zu sorgen. Wenn du uns mit deiner Einwilligung und Zustimmung glücklich machen willst, Vater, wollen wir gar nicht eher heiraten, als bis es dir paßt, und wenn wir einmal verheiratet sind, werden wir natürlich an dich in erster Reihe denken. Du mußt hier immer das Oberhaupt bleiben, Vater, und wir fühlen, wie widernatürlich es wäre, wenn wir anders dächten oder wenn es uns nicht gelingen sollte, dir in jeder Hinsicht das Leben angenehm zu gestalten.«

Mr. Turveydrop kämpfte einen schweren innerlichen Kampf durch und saß jetzt wieder im Sofa aufrecht, die dicken Backen über die steife Halsbinde hängend; ein vollendetes Muster väterlichen Anstandes.

»Mein Sohn«, sagte er, »meine Kinder! Ich kann euern Bitten nicht widerstehen. Seid glücklich!«

Sein gütiges Wohlwollen, mit dem er seine künftige Schwiegertochter emporhob, seinem Sohn die Hand reichte und Caddy küßte, wirkte geradezu verwirrend auf mich.

»Meine Kinder!« – Mr. Turveydrop schlang väterlich den linken Arm um Caddy, die neben ihm saß, und stemmte die rechte Hand graziös in die Hüfte. – »Mein Sohn und meine Tochter! Euer Glück wird mir beständig am Herzen liegen. Ich will über euch wachen. Ihr sollt immer bei mir wohnen«, – damit meinte er natürlich, er wolle stets bei ihnen wohnen – »dieses Haus ist von jetzt an das eure so gut wie das meine. Betrachtet es als euer eignes Heim. Möget ihr lange leben, es mit mir zu teilen.«

Die Macht seiner Allüren war so groß, daß Caddy und Prince ganz von Dankbarkeit überwältigt waren, als ob er ihnen ein unermeßliches Opfer gebracht hätte, während er sich doch in Wirklichkeit nur für den Rest seines Lebens bei ihnen einquartierte.

»Was mich betrifft, meine Kinder, so naht für mich des Lebens gelber Herbst, und unmöglich ist es, zu sagen, wie lange die letzten schwachen Spuren ritterlichen Anstandes diesem Zeitalter der Weberei und Spinnerei erhalten bleiben. Aber solange das noch der Fall ist, will ich meine Pflicht gegen die Gesellschaft erfüllen und mich wie gewöhnlich in der Stadt zeigen. Ich habe nur wenige und einfache Bedürfnisse. Mein kleines Appartement, meine paar Toilettebedürfnisse, ein frugales Frühstück und ein einfaches Diner genügen. Ich überlasse es eurer Kindesliebe, für diese Bedürfnisse zu sorgen, und komme für alle übrigen auf.«

Prince und Caddy waren abermals von seiner Hochherzigkeit überwältigt.

»Mein Sohn, was die kleinen Einzelheiten betrifft, die dir mangeln, Einzelheiten in Allüren, die den Menschen angeboren sind und sich wohl ausbilden, aber nie erschaffen lassen, kannst du stets auf mich bauen. Ich habe seit den Tagen seiner Königlichen Hoheit des Prinzregenten getreulich auf meinem Posten ausgeharrt und werde ihn auch jetzt nicht verlassen. Nein, mein Sohn! Wenn du jemals deines Vaters bescheidne Stellung mit einem Gefühl des Stolzes betrachtet hast, so kannst du dich auch jetzt darauf verlassen, daß er nie etwas tun wird, was sie beflecken könnte. Was dich selbst betrifft, Prince, so ist dein Charakter anders geartet. Wir können nicht alle gleich sein, noch wäre das auch wünschenswert, und du mußt arbeiten, fleißig sein, Geld verdienen und deinen Kundenkreis so sehr vergrößern wie nur möglich.«

»Darauf kannst du dich verlassen, lieber Vater. Ich will es mit ganzem Herzen tun«, beteuerte Prince.

»Ich zweifle nicht daran. Deine Eigenschaften sind nicht glänzend, lieber Sohn, aber solid und nützlich. Und euch beiden, liebe Kinder, möchte ich nur im Geiste meiner seligen Gattin, auf deren Lebenspfad ich das Glück hatte, glaube ich, wenigstens einige Lichtstrahlen zu werfen, euch möchte ich zurufen: Sorget für das Etablissement, sorgt für meine einfachen Bedürfnisse, und Gott sei mit euch!«

Mr. Turveydrop wurde aus Anlaß des feierlichen Augenblicks dann wieder so galant, daß ich Caddy sagte, wir müßten wirklich auf der Stelle nach Thavies-Inn gehen, wenn wir überhaupt heute noch hinkommen wollten. So entfernten wir uns denn nach einem sehr zärtlichen Abschied Caddys von ihrem Bräutigam, und sie war auf dem Nachhauseweg so glücklich und so voll des Lobes über den alten Mr. Turveydrop, daß ich um keinen Preis ein Wort des Tadels über ihn über die Lippen gebracht hätte.

In den Fenstern des Hauses in Thavies-Inn hingen Vermietungsanzeigen, und es sah schmutziger, düsterer und unheimlicher aus als je. Der Name des armen Mr. Jellyby hatte erst vor ein paar Tagen in der Konkursliste gestanden, und er hatte sich im Speisezimmer mit zwei Herren und einem Haufen von blauen Dokumentenbeuteln, Rechnungsbüchern und Papieren eingeschlossen und machte die verzweifeltsten Anstrengungen, Einsicht in seine Angelegenheiten zu gewinnen. Sie schienen sich ganz und gar seinem Verständnis zu entziehen, denn als Caddy mich irrtümlich in das Speisezimmer führte und wir ihn dort, die Brille auf der Nase, hoffnungslos in einer Ecke neben dem großen Eßtisch von zwei Herrn blockiert fanden, schien er alles aufgegeben zu haben und sprach- und gefühllos geworden zu sein.

Als wir die Treppe hinauf zu Mrs. Jellybys Zimmer gingen – die Kinder kreischten unisono in der Küche, und kein Dienstbote ließ sich sehen –, trafen wir sie mit einer umfangreichen Korrespondenz beschäftigt. Sie öffnete, las und sortierte Briefe, und ganze Haufen zerrissener Kuverts bedeckten den Boden. Sie war so davon in Anspruch genommen, daß sie mich anfangs nicht gleich erkannte, obgleich sie mich mit ihrem sonderbaren in die Ferne gerichteten Blick ihrer hellen Augen lange ansah.

»Ah, Miß Summerson«, sagte sie endlich. »Ich dachte gerade an etwas anderes. Ich hoffe, Sie befinden sich wohl. Es freut mich, Sie zu sehen. Mr. Jarndyce und Miß Clare befinden sich doch ebenfalls wohl?«

Ich bejahte und erkundigte mich nach Mr. Jellybys Befinden.

»Nun, es geht ihm nicht allzu gut«, gab Mrs. Jellyby mit Seelenruhe zur Antwort. »Er hat Unglück im Geschäft gehabt und ist etwas niedergeschlagen. Glücklicherweise bin ich selbst so beschäftigt, daß ich keine Zeit habe, darüber nachzudenken. Wir haben gegenwärtig ungefähr hundertsiebzig Familien, Miß Summerson, jede ungefähr fünf Köpfe stark, die entweder gerade im Begriffe sind, nach dem linken Nigerufer abzureisen, oder bereits abgereist sind.«

Ich mußte an die arme Familie in unsrer unmittelbarsten Nähe denken, die weder am linken Nigerufer war noch dorthin reisen konnte, und begriff nicht, wie Mrs. Jellyby so ruhig sein konnte.

»Sie haben Caddy mitgebracht, wie ich sehe«, bemerkte sie mit einem Blick auf ihre Tochter. »Sie ist eine wahre Seltenheit bei uns geworden. Sie hat mich wirklich gänzlich im Stich gelassen und tatsächlich genötigt, einen Jungen anzustellen.«

»Ich weiß, Ma…« begann Caddy.

»Du weißt doch, Caddy«, unterbrach sie die Mutter mild, »daß ich einen Jungen angestellt habe und daß er jetzt nur zu Tisch gegangen ist. Was für einen Zweck hat es da, zu widersprechen!«

»Ich wollte doch gar nicht widersprechen, Ma. Ich wollte nur sagen, daß du doch nicht verlangen kannst, ich solle mein ganzes Leben lang der Packesel bleiben.«

»Ich sollte doch denken, meine Liebe«, sagte Mrs. Jellyby und fuhr dabei fort, ihre Briefe zu öffnen und sie mit lächelndem Gesicht zu überfliegen und zu sortieren, »du hättest in deiner Mutter ein Vorbild von Geschäftseifer vor dir. Übrigens: Ein bloßer Packesel? Wenn du die geringste Sympathie für die Bestimmung des Menschengeschlechts hättest, würdest du hoch über einem solchen Gedanken stehen. Aber die fehlt dir eben. Ich habe es dir oft gesagt, Caddy, du hast keine solche Sympathie.«

»Nein, für Afrika nicht, Ma, gewiß nicht.«

»Natürlich nicht. Sehen Sie, Miß Summerson, wenn ich nicht glücklicherweise so beschäftigt wäre«, Mrs. Jellyby sah mich einen Augenblick sanft an und überlegte dabei, wohin sie einen eben erbrochenen Brief legen solle, »würde mich das wieder sehr schmerzen und enttäuschen. Aber ich habe in der Angelegenheit mit Borriobula-Gha so den Kopf voll und muß mich so darauf konzentrieren, daß ich nicht darunter leide.«

Da Caddy mir einen bittenden Blick zuwarf und Mrs. Jellyby gerade durch meinen Hut und meinen Kopf hindurch weit nach Afrika hineinblickte, hielt ich es für eine günstige Gelegenheit, auf den Zweck meines Besuchs zu sprechen zu kommen und Mrs. Jellybys Aufmerksamkeit darauf zu lenken.

»Vielleicht werden Sie sich fragen«, begann ich, »was mich hierher geführt und veranlaßt hat, Sie zu stören.«

»Es freut mich stets, Sie zu sehen, Miß Summerson«, versicherte mir Mrs. Jellyby und nahm ihre Beschäftigung mit gewinnendem Lächeln wieder auf, »obgleich ich wünschte, Sie interessierten sich ein wenig mehr für das Borriobulaprojekt.« Sie schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Ich bin also mit Caddy hergekommen«, fing ich wieder an, »weil sie der gewiß richtigen Meinung ist, sie dürfe kein Geheimnis vor ihrer Mutter haben, und sich einbildet, sie würde mehr Mut haben, wenn ich ihr behilflich wäre.«

»Caddy«, sagte Mrs. Jellyby, hielt einen Augenblick in ihrer Beschäftigung inne und setzte sie dann kopfschüttelnd, aber in heiterer Ruhe fort. »Du willst mir gewiß irgendeinen Unsinn mitteilen?«

Caddy knüpfte ihr Hutband auf, nahm den Hut ab, ließ ihn an dem Bande auf den Fußboden herunterbaumeln, schluchzte laut und sagte:

»Ma, ich bin verlobt!«

»O du törichtes Kind«, erwiderte Mrs. Jellyby mit zerstreuter Miene und überflog dabei ein Telegramm. »Was für eine Gans du doch bist!«

»Ich bin verlobt, Ma«, schluchzte Caddy, »mit dem jungen Mr. Turveydrop von der Tanzakademie, und der alte Mr. Turveydrop – er ist ein hervorragender Gentleman, ich versichere dir – hat seine Einwilligung gegeben, und ich bitte und flehe dich an, gib mir auch die deine, Ma. Denn sonst könnte ich nie glücklich sein. Wirklich nie, nie«, schluchzte Caddy, die alle ihre früheren Leiden ganz und gar vergaß und sich nur ihrem guten Herzen überließ.

»Da sehen Sie wieder, Miß Summerson«, bemerkte Mrs. Jellyby voller Seelenruhe, »welches Glück, daß ich so beschäftigt bin und meine Gedanken auf eine einzige Sache konzentrieren muß. Da verlobt sich Caddy mit dem Sohn eines Tanzmeisters, verkehrt mit Leuten, die nicht mehr Sympathien für die Geschicke des Menschengeschlechts haben als sie selbst! Und noch dazu, wo Mr. Gusher, einer der ersten Philantropen unsrer Zeit, mir angedeutet hat, daß er ernstlich geneigt sei, sich für sie zu interessieren.«

»Ma, ich habe Mr. Gusher von jeher gehaßt und verabscheut«, schluchzte Caddy.

»Caddy, Caddy!« Mrs. Jellyby öffnete mit der größten Gemütsruhe wieder einen Brief. »Ich zweifle daran nicht. Wie könnte es auch anders sein, da dir die Neigungen, von denen er überfließt, gänzlich abgehen. Ich wiederhole, Miß Summerson, diese kleinlichen Einzelheiten würden mich tief bekümmern, wenn meine öffentlichen Pflichten nicht mein Lieblingskind wären und mich in umfassendster Weise in Anspruch nähmen. Aber kann ich die Folgen eines törichten Streichs von Seiten Caddys, von der ich übrigens nichts andres erwarten durfte, wie einen Nebel zwischen mich und den großen afrikanischen Kontinent treten lassen? Nein, nein!« wiederholte Mrs. Jellyby mit ruhiger klarer Stimme und lächelte liebenswürdig, Briefe aufbrechend und sortierend. »Nein, wahrhaftig nicht!«

Ich war so wenig gefaßt auf eine so außerordentlich kaltblütige Aufnahme der Angelegenheit, obgleich ich es mir hätte denken können, daß ich keine Worte fand. Caddy schien es ebenso zu gehen. Mrs. Jellyby fuhr fort, Briefe zu öffnen und zu sortieren, und wiederholte in freundlichem Ton und mit dem ruhigsten Lächeln von der Welt von Zeit zu Zeit: »Nein, wahrhaftig nicht!«

»Ich hoffe, Ma«, schluchzte endlich die arme Caddy, »du bist nicht böse auf mich?«

»Ach Caddy, du bist wirklich abgeschmackt, daß du noch so fragen kannst, wo du doch eben von mir gehört hast, wie sehr ich anderweitig beschäftigt bin.«

»Und ich hoffe, Ma, du gibst uns deine Zustimmung und deinen Segen.«

»Du hast sehr töricht gehandelt, Kind, daß du einen solchen Schritt tatest, und bist aus der Art geschlagen, sonst hättest du dich dem allgemein menschlichen Interesse gewidmet. Aber der Schritt ist einmal geschehen, und ich habe einen Knaben aufgenommen und will kein Wort weiter darüber verlieren. Ich bitte dich, Caddy«, sagte Mrs. Jellyby, denn Caddy küßte sie, »störe mich nicht bei meiner Arbeit und laß mich diesen Stoß Briefe erledigen, ehe die Nachmittagspost kommt.«

Ich konnte nichts Besseres tun als mich verabschieden, blieb aber noch einen Augenblick stehen, und Caddy sagte:

»Du wirst doch nichts dagegen haben, daß ich ihn dir vorstelle, Ma?«

»O Gott, o Gott, Caddy!« rief Mrs. Jellyby, die bereits wieder im Geiste in weiter Ferne weilte. »Fängst du schon wieder an? – Wen willst du vorstellen?«

»Ihn, Ma.«

»Caddy, Caddy!« sagte Mrs. Jellyby, solcher Nebensächlichkeiten sichtlich müde, »dann mußt du ihn an einem Abend mitbringen, an dem keine Sitzung des Haupt-, des Neben- oder des Abzweigungsvereins angesetzt ist. Du mußt den Besuch nach den Ansprüchen einrichten, die man an meine Zeit stellt. Meine liebe Miß Summerson, es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mit hierhergekommen sind, diesem albernen Gänschen herauszuhelfen. Leben Sie wohl! Wenn ich Ihnen sage, daß ich heute morgen achtundfünfzig Briefe von Fabrikarbeiterfamilien empfangen habe, die alle wünschen, die Einzelheiten der Eingeborenen- und Kaffeekulturfrage kennenzulernen, so muß ich Sie gewiß nicht erst um Verzeihung bitten, daß ich so wenig Zeit habe.«

Caddy war sehr betrübt, als wir die Treppe hinabgingen, und fing an meiner Brust wieder zu schluchzen an. Scheltworte wären ihr lieber gewesen als eine so gleichgültige Behandlung, sagte sie und vertraute mir an, sie sei so arm an Ausstattung, daß sie noch gar nicht wüßte, wie sie jemals würde anständig getraut werden können. Ich konnte mich über all das natürlich nicht wundern, und es gelang mir, sie nach und nach zu trösten, indem ich von den vielen Dingen sprach, die sie für ihren armen Vater und für Peepy tun könnte, wenn sie erst einmal eine eigne Wirtschaft habe würde. Dann gingen wir hinunter in die feuchte dunkle Küche, wo Peepy mit seinen kleinen Brüdern und Schwestern auf dem Steinboden herumkrabbelte. Wir spielten so lustig mit ihnen, daß ich, um nicht ganz in Stücke gerissen zu werden, wieder zum Märchenerzählen meine Zuflucht nehmen mußte.

Von Zeit zu Zeit hörte ich im Zimmer über uns laute Stimmen und heftiges Herumwerfen von Stühlen. Dies Geräusch ließ mich vermuten, daß der arme Mr. Jellyby jedes Mal vom Speisetisch aufsprang und zum Fenster rannte, mit der Absicht, sich hinauszustürzen, so oft er einen neuen Versuch machte, Einsicht in seine Angelegenheiten zu gewinnen.

Als ich nach des Tages Geschäften abends ruhig nach Hause fuhr, mußte ich viel über Caddys Verlobung nachdenken und fühlte mich in der Hoffnung bestärkt, daß sie trotz des alten Mr. Turveydrop glücklich sein werde. Wenn auch nur geringe Aussicht war, daß sie und ihr Gatte jemals das Musterbild des Anstands durchschauen würden, so brachte ihnen das weiter keinen Schaden, und kein Mensch auf der Welt hätte ihnen wohl mehr Weisheit gewünscht. Ich jedenfalls nicht. Ich schämte mich fast, daß ich nicht selbst an ihn glauben konnte.

Und ich blickte zum Himmel empor und dachte an die Wanderer in fernen Ländern und an die Sterne, die sie sahen, und hoffte, immer so gesegnet und glücklich zu sein, mich in meiner bescheidenen Weise irgend jemandem nützlich machen zu können.

Als ich nach Hause kam, freuten sich alle so sehr, mich wiederzusehen, daß ich mich am liebsten hingesetzt und vor Freude geweint hätte. Nur wäre das wohl nicht die beste Art gewesen, mich angenehm zu machen. Jedermann im Hause, vom Geringsten bis zum Höchsten, zeigte mir ein so freundliches Bewillkommnungsgesicht und sprach so heiter zu mir und freute sich so sehr, etwas für mich tun zu können, daß ich wirklich glaube, es hat noch nie auf der Welt ein glücklicheres unbedeutendes Geschöpf gegeben, als ich war.

Wir kamen an diesem Abend so ins Plaudern hinein, als Ada und mein Vormund mich verleiteten, ihnen die ganze Geschichte von Caddy zu erzählen, daß ich lange Zeit allein erzählte und immer nur erzählte. Endlich ging ich in mein Zimmer hinauf, ganz rot bei dem Gedanken, wie ich gepredigt hatte. Und gleich darauf klopfte es leise an meine Türe. Ich sagte: »Herein!« und auf der Schwelle erschien ein hübsches kleines Mädchen in saubern Trauerkleidern und knickste.

»Wenn Sie gestatten, Miß«, sagte die Kleine leise, »ich bin Charley.«

»Ja wirklich, Charley«, rief ich, beugte mich erstaunt zu ihr nieder und gab ihr einen Kuß. »Wie es mich freut, dich zu sehen, Charley!«

»Wenn Sie gestatten, Miß, ich bin Ihre Zofe.«

»Charley?«

»Wenn Sie gestatten, Miß, ich bin ein Geschenk für Sie. Mr. Jarndyce läßt Sie vielmals grüßen.«

Ich setzte mich, die Hand auf Charleys Schulter, und blickte sie an.

»Und, ach, Miß«, sagte Charley, während Tränen ihr über die Grübchen in den Wangen liefen, »Tom ist in der Schule, wenn Sie gestatten, und lernt so gut! Und die kleine Emma ist bei Mrs. Blinder, Miß, und in so guter Obhut! Und Tom wäre schon viel eher in die Schule gekommen und Emma zu Mrs. Blinder und ich schon viel eher hierher, Miß, aber Mr. Jarndyce dachte, Tom und Emma und ich sollten uns erst ein wenig mit der Trennung vertraut machen, weil wir so klein wären. Aber bitte, weinen Sie nicht, Miß.«

»Ich kann nicht anders, Charley.«

»Ach, Miß, ich kann auch nicht anders. Und wenn Sie erlauben, Miß, Mr. Jarndyce läßt herzlich grüßen und glaubt, es würde Ihnen Freude machen, mir dann und wann etwas beizubringen. Und wenn Sie erlauben, Tom und Emma und ich sollen uns ein Mal im Monat sehen. Und ich bin so glücklich und dankbar, Miß«, rief Charley mit überströmendem Herzen, »und ich werde mich bemühen, eine gute Dienerin zu sein.«

»O liebe Charley, vergiß nie, wer das alles getan hat.«

»Nein, Miß, ich werde es nie vergessen. Und Tom auch nicht. Und Emma auch nicht. Ihnen haben wir alles zu verdanken, Miß.«

»Ich habe nicht einmal davon gewußt. Mr. Jarndyce war es, Charley.«

»Ja, Miß, aber es geschah alles Ihnen zuliebe, und damit Sie meine Herrin werden sollten. Wenn Sie erlauben, Miß, Mr. Jarndyce schickt mich Ihnen mit seinen herzlichsten Grüßen, und es sei alles nur Ihnen zuliebe geschehen. Ich und Tom dürften das nie vergessen.«

Charley trocknete sich die Augen und trat ihr Amt an, wobei sie sich in ihrer matronenhaften zierlichen Weise im Zimmer umherbewegte und alles zusammenlegte, was ihr in die Hände fiel. Gleich darauf kam sie wieder zu mir geschlichen und sagte:

»Ach bitte, Miß, weinen Sie nicht.«

Und ich sagte wieder: »Ich kann nicht anders, Charley.«

Und Charley sagte wieder: »Ach, Miß, ich kann auch nicht anders.« Und so weinte ich doch, aber vor lauter Freude, und sie auch.

18. Kapitel


18. Kapitel

Lady Dedlock

Es war nicht so leicht, wie es anfangs geschienen hatte, für Richard in Mr. Kenges Kanzlei eine Probezeit auszumachen. Richard selbst war das Haupthindernis. Kaum stand es in seiner Macht, Mr. Badger jeden Augenblick zu verlassen, fing er an zu zweifeln, ob er denn das überhaupt wünsche. Er wisse es selbst nicht recht, sagte er. Medizin sei immerhin kein übler Beruf. Er könne nicht sagen, daß er ihm mißfalle. Vielleicht gefalle er ihm so gut wie jeder andere… Wir sollten es ihn nur noch einmal versuchen lassen.

Hierauf schloß er sich ein paar Wochen lang mit einigen Büchern und ein paar Knochen ein und schien sich mit großer Schnelligkeit eine ziemliche Menge Kenntnisse anzueignen. Nachdem seine Begeisterung ungefähr einen Monat gedauert, fing sie an, sich abzukühlen, und als sie ganz kalt geworden, fing sie an, sich noch einmal zu erwärmen. Sein Hin- und Herschwanken zwischen Jus und Medizin dauerte so lang, daß der Hochsommer herankam, ehe er von Mr. Badger schied und seine Probezeit bei Kenge & Carboy antrat.

Bei aller dieser Flatterhaftigkeit bildete er sich sehr viel darauf ein, daß er es »diesmal« außerordentlich ernst nähme. Und er war so gutmütig und so fröhlich gelaunt und liebte Ada so sehr, daß es sehr schwer war, ihm böse zu sein.

»Was Mr. Jarndyce betrifft«, der, wie ich hier erwähnen will, während dieser ganzen Zeit sehr viel über Ostwind klagte, »was Mr. Jarndyce betrifft«, sagte Richard zu mir, »so ist es der prächtigste Kerl unter der Sonne, Esther. Schon ihm zuliebe muß ich mich diesmal fest ins Zeug legen und die Sache ordentlich ins Geleise bringen.«

Sein Vorhaben, sich tüchtig ins Zeug zu legen, stach von seinem lustigen Gesicht, seiner sorglosen Art und seiner Sprunghaftigkeit, mit der er alles erfaßte, aber nichts festhalten konnte, komisch ab. Dennoch sagte er uns zuweilen, er nähme es so ernst, daß er sich wundere, wieso sein Haar nicht grau werde.

Also, wie bereits erwähnt, im Hochsommer trat er bei Mr. Kenge ein, um zu versuchen, wie ihm der Beruf gefalle.

Die ganze Zeit über war er in Geldsachen, wie ich ihn schon früher beschrieben habe: freigebig, verschwenderisch, unglaublich sorglos, aber immer überzeugt, daß er eher berechnend und überlegt sei.

Um die Zeit, wo er in die Kanzlei eintreten sollte, sagte ich einmal in seiner Anwesenheit halb im Scherz, halb ernsthaft zu Ada, er müsse Fortunas Säckel haben, so leichtsinnig gehe er mit Geld um. Und er gab darauf zur Antwort:

»Mein Juwel von einer lieben Kusine, man höre diese alte Frau! Warum sagt sie das? Weil ich vor ein paar Tagen acht Pfund oder so etwas für eine gewisse hübsche Weste und Knöpfe gegeben habe. Wenn ich nun bei Badger geblieben wäre, hätte ich auf einen Sitz zwölf Pfund für eine Reihe herzzerbrechender Vorlesungen bezahlen müssen. So spare ich vier Pfund rund bei dem Geschäft.«

Zwischen ihm und meinem Vormund wurde viel betreffs der Arrangements, die seinetwegen in London, während er es mit der Jurisprudenz versuchen wollte, getroffen werden mußten, erörtert. Wir waren nämlich schon seit längerer Zeit nach Bleakhaus zurückgekehrt, und es lag zu weit entfernt, als daß er öfter als einmal in der Woche hätte hinauskommen können. Mein Vormund sagte mir, wenn Richard sich entschließen sollte, bei Mr. Kenge zu bleiben, wolle er ihm eine größere Wohnung, in der auch wir manchmal ein paar Tage bleiben könnten, mieten. »Aber, kleines Frauchen«, setzte er hinzu und rieb sich sehr bedeutsam den Kopf, »er hat sich noch nicht fest entschlossen.«

Die Beratungen endeten damit, daß wir für ihn gegen monatliche Kündigung eine hübsche kleine möblierte Wohnung in einem stillen alten Hause in der Nähe von Queens-Square mieteten. Er fing gleich damit an, all sein Geld zum Ankauf der wunderlichsten kleinen Ausschmückungen für diese Wohnung auszugeben, und so oft es Ada und mir gelungen war, ihm irgendeine besonders unnütze und kostspielige Ausgabe auszureden, schrieb er sich die Summe gut und hielt es für eine Ersparnis des Restes, wenn er etwas weniger für irgend etwas andres aufwendete.

Solang diese Angelegenheit noch in Schwebe war, blieb unser Besuch bei Mr. Boythorn aufgeschoben. Endlich zog Richard in seine neue Wohnung ein, und nichts stand unsrer Abreise mehr im Weg. Er hätte uns ganz gut um diese Jahreszeit begleiten können, aber er war von dem Reiz der Neuheit seiner Stellung zu sehr in Anspruch genommen und machte höchst energische Anläufe, den Geheimnissen des verhängnisvollen Prozesses auf die Spur zu kommen. Daher gingen wir ohne ihn, und mein Liebling war voll Freude, ihn seines Fleißes wegen loben zu können.

Wir hatten in der Landkutsche eine angenehme Fahrt nach Lincolnshire und in Mr. Skimpole einen unterhaltenden Reisegefährten. Wie wir erfuhren, hatte ihm die Person, die am Geburtstage seiner blauäugigen Tochter seine Wohnung mit Beschlag belegt, sein ganzes Mobiliar ausräumen lassen. Aber es schien ihm eine große Erleichterung zu sein, daß es fort war. Tische und Stühle, sagte er, seien langweilige Gegenstände und wirkten monoton. Sie gewährten keine Abwechslung und brächten den Menschen um sein seelisches Gleichgewicht. Wie angenehm wäre es, an keine bestimmten Stühle und Tische gebunden zu sein und wie ein Schmetterling unter gemieteten Möbeln herumzugaukeln, von Rosenholz zu Mahagoni, von Mahagoni zu Nußbaum und von dieser zu jener Form zu flattern, wie es gerade die Laune eingäbe.

»Das Komische bei der Sache ist«, erzählte er mit seinem geschärften Sinn für das Lächerliche, »daß meine Stühle und Tische noch gar nicht bezahlt sind und dennoch mein Hauswirt mit der ruhigsten Miene von der Welt mit ihnen abzieht. Ist das nicht komisch? Es liegt etwas Groteskes darin. Der Möbelhändler hat sich doch niemals verpflichtet, dem Hauswirt meinen Zins zu zahlen. Wenn ich eine Warze auf der Nase habe, die meines Hauswirts Begriffe von Schönheit verletzt, so hat er doch kein Recht, an der Nase meines Möbelhändlers, der keine Warze hat, zu kratzen. Seine Logik scheint recht mangelhaft zu sein.«

»Nun«, sagte mein Vormund gutgelaunt, »es ist ziemlich klar, daß der die Stühle und Tische zu bezahlen hat, der sie schuldig ist.«

»Natürlich!« entgegnete Mr. Skimpole. »Das ist der Gipfelpunkt von Unverstand in dieser Geschichte. Ich sagte zu meinem Hauswirt: ‚Mein Bester, Sie wissen wohl nicht, daß mein vortrefflicher Freund Jarndyce diese Dinge zu bezahlen haben wird, die Sie so unzarterweise wegschaffen lassen. Haben Sie denn gar keine Rücksicht für sein Eigentum ?‘ Er hatte nicht die mindeste.«

»Und wies alle Vermittlungsvorschläge zurück?« fragte mein Vormund.

»Wies alle Vorschläge zurück. Ich machte ihm ganz kühle geschäftliche Vorschläge. Ich nahm ihn beiseite und sagte zu ihm: ‚Sie sind doch Geschäftsmann, glaube ich.‘ ‚Ja‘, gab er zur Antwort. ‚Also gut, so wollen wir die Sache geschäftsmäßig behandeln. Hier ist Tinte. Hier sind Federn und Papier und hier Oblaten. Was wünschen Sie eigentlich? Ich habe Ihr Haus seit ziemlich langer Zeit bewohnt und, wie ich glaube, zu unsrer beiderseitigen Zufriedenheit, bis dieses unangenehme Mißverständnis entstand; wollen wir also die Sache in aller Freundschaft und ganz geschäftsmäßig abmachen. Was wünschen Sie denn eigentlich?« Als Antwort darauf bediente er sich des bildlichen Ausdrucks – der etwas Orientalisches an sich hat –, daß er nie die Farbe meines Geldes gesehen hätte.

‚Lieber Freund‘, erklärte ich ihm, ‚ich habe nie Geld. Ich verstehe nichts von Geld.‘ – ‚Gut, Sir, was bieten Sie also, wenn ich Ihnen Zeit lasse ?‘ fragte er. ‚Mein Bester, Sie müssen wissen, ich habe keinen Begriff von Zeit, aber Sie sagen, Sie seien Geschäftsmann, und was in geschäftsmäßiger Form mit Feder, Tinte, Papier und Oblaten getan werden kann, bin ich bereit zu tun. Machen Sie sich nicht auf Kosten eines Fremden bezahlt – das ist töricht –, sondern verfahren Sie geschäftsmäßig!‘ Aber er wollte nicht, und das war das Ende vom Lied.«

Wenn das die Nachteile von Mr. Skimpoles Kindlichkeit waren, so hatte sie doch auch für ihn ihre gewissen Vorteile. Auf der Reise entwickelte er einen sehr guten Appetit bei jeder Erfrischung, die uns angeboten wurde, zum Beispiel bei einem Korb köstlicher Treibhauspfirsiche. Ans Zahlen dachte er nie. So fragte er den Kutscher, als dieser das Fahrgeld einsammeln kam, was er für ein gutes Fahrgeld halte – für ein reichliches –, und sagte auf die Antwort: »Eine halbe Krone für jeden Passagier«, daß das wenig genug sei, wenn man bedenke… und überließ das Zahlen Mr. Jarndyce.

Es war herrliches Wetter. Die grünen Getreidefelder wogten so schön, die Lerchen sangen so fröhlich, die Hecken waren so bunt von wilden Blumen, das Laub der Bäume stand so dicht, und die Bohnenfelder, über die ein leichter Wind dahinstrich, erfüllten die Luft mit köstlichem Wohlgeruch! Spät nachmittags erreichten wir den Marktflecken, wo wir die Kutsche verlassen sollten, einen ausgestorbnen kleinen Ort mit einem Kirchturm, einem Marktplatz mit einem Kreuz, einer sonnenbestrahlten Straße und einem Teich, in dem sich ein altes Pferd die Beine kühlte, und ein paar Menschen, die schläfrig in kleinen Schattenflecken lagen oder herumstanden. Nach dem Rauschen der Blätter und dem Wogen des Korns den ganzen Weg entlang sah es wie die stillste, heißeste, regungsloseste kleine Stadt in ganz England aus.

Vor dem Wirtshaus wartete Mr. Boythorn zu Pferd mit einem offnen Wagen auf uns, der uns nach seinem noch einige Meilen entfernten Hause bringen sollte. Er war außer sich vor Freude, uns zu sehen, und stieg behende aus dem Sattel.

»Bei Gott!« sagte er, nachdem er uns höflich begrüßt hatte. »Das ist eine ganz niederträchtige Kutsche. Sie ist das schlagendste Beispiel eines abscheulichen öffentlichen Vehikels, das jemals die Oberfläche der Erde verunstaltet hat. Fünfundzwanzig Minuten zu spät gekommen! Der Kutscher verdiente hingerichtet zu werden.«

»Ist sie zu spät gekommen?« fragte Mr. Skimpole, an den er sich bei diesen Worten gewendet hatte. »Sie kennen meine Schwäche.«

»Fünfundzwanzig Minuten! Sogar sechsundzwanzig Minuten!« entgegnete Mr. Boythorn und sah auf die Uhr. »Mit zwei Damen im Wagen hat dieser Halunke seine Ankunft absichtlich um sechsundzwanzig Minuten verzögert. Absichtlich! Ein Zufall ist ausgeschlossen. Schon sein Vater – und sein Onkel waren die liederlichsten Kutscher, die jemals auf einem Bock saßen.« Während er dies mit einem Ton höchster Entrüstung ausrief, half er uns mit größter Höflichkeit und mit freudestrahlendem Gesicht in seinen kleinen Phaethon.

»Es tut mir leid, meine Damen«, sagte er, entblößten Hauptes am Wagenschlag stehend, als alles fertig war, »daß ich leider einen Umweg von fast zwei Meilen machen muß, da der nächste Weg durch Sir Leicester Dedlocks Park führt. Ich habe geschworen, den Grund und Boden dieses Kerls nie mit meinem oder meines Pferdes Fuß zu betreten, während der gegenwärtigen Verhältnisse und solange ich atmen kann.« Als er dabei den Blicken meines Vormundes begegnete, brach er in eins seiner fürchterlichen Gelächter aus, daß es selbst den regungslosen Marktflecken in Aufruhr zu versetzen schien.

»Die Dedlocks sind hier, Lawrence?« fragte mein Vormund, als wir auf der Straße dahinfuhren und Mr. Boythorn auf dem grünen Rasen daneben trabte.

»Sir Arrogant Strohkopf ist hier«, antwortete Mr. Boythorn. »Hahaha! Sir Arrogant ist hier, und ich freue mich, denn die Gicht hat ihn bei den Beinen erwischt. Mylady« – immer, wenn er sie nannte, machte er eine höfliche Handbewegung, als wolle er sie von dem Streite ausschließen – »wird, glaube ich, täglich erwartet. Es wundert mich nicht im geringsten, daß sie ihr Erscheinen so lang wie möglich hinausschiebt. Was dieses herrliche Weib veranlaßt haben mag, dieses Gestell mit Kopf von einem Baronet zu heiraten, ist eines der unfaßbarsten Geheimnisse, die jemals der menschliche Geist zu lösen versucht hat. Hahahaha!«

»Ich nehme an«, sagte mein Vormund lachend, »daß wir den Park doch während unsres Aufenthaltes hier betreten dürfen? Das Verbot erstreckt sich doch nicht auf uns; oder doch?«

»Ich kann meinen Gästen nichts verbieten…« Mr. Boythorn verbeugte sich gegen Ada und mich mit seiner gewinnenden ritterlichen Höflichkeit, die ihm so gut stand. »Außer ihre Abreise. Es tut mir nur leid, daß ich nicht das Glück haben kann, sie in Chesney Wold herumzuführen, das wirklich sehr schön ist. Aber trotz der Sonne dieser Sommertage, Jarndyce, werdet ihr, wenn ihr den Besitzer besucht, wahrscheinlich sehr kühl empfangen werden. Er benimmt sich jederzeit wie eine Achttageuhr, wie eine von den Achttageuhren in prachtvollen Gehäusen, die nie gehen und nie gegangen sind… Hahaha! Aber er wird eine Extrasteifheit den Freunden seines Freundes und Nachbarn Boythorn gegenüber an den Tag legen. Soviel kann ich euch versprechen.«

»Wir werden es nicht darauf ankommen lassen«, sagte mein Vormund. »Er schätzt die Ehre, mich zu kennen, wahrscheinlich ebensowenig, darf ich wohl sagen, wie ich die Ehre seiner Bekanntschaft. Die Luft der Parkanlagen und vielleicht eine Besichtigung des Hauses, wie sie jeder beliebige Neugierige haben kann, genügen mir vollkommen.«

»Gut«, sagte Mr. Boythorn. »Das freut mich. Man betrachtet mich hier als einen zweiten Ajax, der den Blitz herausfordert. Hahahaha. Wenn ich sonntags in unsre kleine Kirche gehe, so erwartet ein beträchtlicher Teil der unbeträchtlichen Gemeinde, mich, von dem Blitz des Dedlock-Zornes getroffen und zu Asche verbrannt, niederstürzen zu sehen. Hahahaha! Ich glaube, Sir Leicester wundert sich selbst, daß es nicht geschieht. Denn er ist, bei Gott, der selbstgefälligste, hohlköpfigste, geckenhafteste und gehirnloseste aller Esel.«

Wir kamen jetzt an den Kamm des Hügels, und Mr. Boythorn konnte uns Chesney Wold zeigen, was seine Aufmerksamkeit von seinem Feinde ablenkte.

Es war ein malerisches altes Haus mitten in einem schönen baumbestandnen Park. Aus den Gipfeln, nicht weit von dem Herrschaftssitz, lugte die Turmspitze der von ihm erwähnten kleinen Kirche hervor. Wie schön sie aussahen, die feierlich stillen Wälder, über die Licht und Schatten wie himmlische Fittiche mit barmherzigen Botschaften durch die Sommerluft rasch dahinglitten –, der grüne Samtrasen der Abhänge, das glitzernde Wasser und der Garten mit seinen reichfarbigen, in symmetrische dichte Gruppen gedrängten Blumenbeeten –, das Haus mit Giebel und Schornstein und Turm, mit seinem dunklen Torweg und der geräumigen Terrasse, um deren Balustraden sich, die Pfeiler erkletternd und die Vasen füllend, eine Glut von Rosen schlang. Alles schien in seiner Solidität und in der heiteren, friedlichen Stille, die ringsum herrschte, kaum mehr Wirklichkeit zu sein. Auf Ada und mich machte es einen tiefen Eindruck. Über allem, über Haus, Garten und Terrasse, über den Abhängen, dem Wasser, den alten Eichen, dem Farnkraut und Moos, der Waldung und weithinaus durch die Lichtungen in der Ferne, die in einem purpurnen Nebel vor uns lag, schien ungestörte Ruhe zu herrschen.

Als wir das kleine Dorf erreichten und an einer kleinen Schenke vorbeifuhren, die das Wappen der Dedlocks trug, grüßte Mr. Boythorn einen jungen Mann, der auf einer Bank vor der Wirtshaustür saß und Angelgeräte neben sich liegen hatte.

»Das ist der Enkel der Wirtschafterin, Mr. Rouncewell«, sagte er. »Er hat sich in ein hübsches Mädchen oben im Edelhof verliebt. Lady Dedlock hat Gefallen an dem hübschen Mädchen gefunden und will sie um ihre eigne schöne Person behalten, eine Ehre, die mein junger Freund durchaus nicht zu würdigen weiß. Da er sein Röschen jetzt sowieso nicht heiraten kann, selbst wenn sie wollte, so muß er sich’s gefallen lassen und schauen, wie er am besten dabei fährt. Mittlerweile kommt er ziemlich oft auf einen oder zwei Tage her, um – zu fischen. Hahahaha!«

»Ist er mit dem hübschen Mädchen verlobt, Mr. Boythorn?« fragte Ada.

»Nun, meine liebe Miß Clare, ich glaube, sie verstehen einander. Sie werden sie ja in Bälde selbst sehen, und in solchen Sachen muß ich von Ihnen lernen – nicht Sie von mir.«

Ada errötete, und Mr. Boythorn, der uns auf seinem hübschen Grauschimmel vorausgetrabt war, stieg vor seiner Haustür ab und stand mit dargebotnem Arm und entblößtem Haupt da, bereit, uns zu empfangen.

Er bewohnte ein hübsches Haus, ein ehemaliges Pfarrhaus mit einem Rasenplatz davor, einem bunten Blumengarten an den beiden Seiten, und das ganze Grundstück umschlossen von einer ehrwürdigen alten Mauer von fruchtreifem, rötlichem Aussehen.

Übrigens hatte so ziemlich alles in der Nähe des Hauses einen Anstrich der Reife und des Überflusses. Die alte Lindenallee sah aus wie ein grüner Klostergang, die Kirsch- und Apfelbäume waren von Früchten schwer, die Stachelbeerbüsche trugen so reichlich, daß sich die Zweige bogen und auf die Erde senkten, Erdbeeren und Himbeeren gediehen in demselben Überfluß, und die Pfirsiche glühten zu Hunderten an der Mauer in der Sonne. Unter den ausgespannten Netzen und den in der Sonne funkelnden und glitzernden Glasrahmen häufte sich ein solcher Berg von Schoten und Hülsenfrüchten und Gurken, daß jeder Fußbreit Erdboden wie eine Schatzkammer von Pflanzen erschien, während der Duft von Gewürzkräutern und allerlei nützlichen Gewächsen die Luft zu einem großen Blumenstrauß machte; ganz zu schweigen von dem Heugeruch, der von den benachbarten Wiesen herüberwehte.

Eine solche Stille und Ruhe herrschte innerhalb der alten roten Mauer, daß selbst die zur Verscheuchung der Vögel in Girlanden ausgehängten Federn sich kaum bewegten, und die Mauer hatte ein so Reife beförderndes Aussehen, daß, wo hie und da hoch oben ein unbenutzter Nagel oder ein Stück Leiste hängen geblieben war, man sich leichter denken konnte, sie wären mit den wechselnden Jahreszeiten reif geworden als nach dem Lauf der Dinge verrostet und verwittert.

Das Haus, im Vergleich zu dem Garten ein wenig unordentlich, war so ein richtiges altes Haus, mit Sitzen am Kamin, die Küche mit Ziegeln gepflastert und große Balken quer über der Decke. Auf der einen Seite des Gebäudes lag der schreckliche strittige Fleck, und Mr. Boythorn hatte Tag und Nacht eine Schildwache in einem Fuhrmannskittel dort stehen, die beauftragt war, im Falle eines Angriffs augenblicklich eine eigens zu diesem Zweck aufgehängte große Glocke zu läuten und eine in einer Hundehütte angekettete große Bulldogge zur Vernichtung des Feindes loszulassen. Noch nicht zufrieden mit diesen Vorsichtsmaßregeln, hatte Mr. Boythorn auf Schildern, auf denen sein Name in großen Buchstaben stand, die schreckliche Warnung angeschrieben: »Achtung vor der Bulldogge. Bissig im höchsten Grade. Lawrence Boythorn.«

»Die Muskete ist mit Rehposten geladen. Lawrence Boythorn.«

»Fußeisen und Selbstschüsse sind hier zu allen Zeiten Tag und Nacht gelegt. Lawrence Boythorn.«

Dann: »Achtung: Wer sich frecherweise erlaubt, ohne Erlaubnis dieses Grundstück zu betreten, verfällt der schärfsten körperlichen Züchtigung und wird außerdem mit der äußersten Strenge des Gesetzes verfolgt. Lawrence Boythorn.«

Diese Tafeln zeigte er uns von seinem Fenster aus, während ihm dabei sein Vogel auf dem Kopf herumhüpfte, und er lachte sein: Hahahaha! Hahahaha! so laut und heftig, daß ich wirklich glaubte, er werde sich einen Schaden tun.

»Aber das nenne ich, sich recht viel Unannehmlichkeiten bereiten«, meinte Mr. Skimpole in seiner gewöhnlichen leichtherzigen Weise, »wo es Ihnen doch nicht ernst damit ist.«

»Nicht ernst?« rief Boythorn mit unbeschreiblicher Wärme. »Nicht ernst? Ich hätte einen Löwen gekauft, wenn Aussicht gewesen wäre, ihn abzurichten, anstatt dieses Hundes, und ihn auf den ersten dieser widerwärtigen Räuber gehetzt, der sich eine Verletzung meiner Rechte erlaubt haben würde. Wenn Sir Leicester Dedlock sich übrigens dazu verstehen will, die Frage durch ein Duell zu entscheiden, so bin ich bereit, ihm mit jeder Waffe, die der Menschheit in irgendeinem Land oder zu irgendeiner Zeit bekannt gewesen ist, entgegenzutreten. So sehr ist’s mir ernst. Ich dächte, das genügt.«

Wir waren an einem Samstag in seinem Hause angekommen und machten uns Sonntag morgens alle nach der kleinen Kirche im Park auf den Weg. Wir betraten den Park fast unmittelbar von dem strittigen Grundstück aus und gingen einen hübschen Fußweg über den grünen Rasen und unter schönen Bäumen hinweg, bis wir den Eingang zur Kirche erreichten.

Die Gemeinde war sehr klein und bestand aus lauter Bauern, mit Ausnahme der ziemlich großen Menge Dienerschaft des Herrschaftssitzes. Einige waren bereits auf ihren Plätzen, während andre noch nachkamen. Es befanden sich einige sehr stattliche Bediente darunter und ein wahres Bild von einem alten Kutscher, der aussah, als ob er der offizielle Repräsentant allen Pompes und Glanzes, der jemals auf einem Bock gesessen, wäre. Auch eine hübsche Kette von jungen Mädchen war zugegen, und über ihnen thronte das schöne alte Gesicht und die würdige behäbige Gestalt der Wirtschafterin. Das Mädchen, von dem Mr. Boythorn gesprochen, saß neben ihr. Sie war so außerordentlich hübsch, daß ich sie an ihrer Schönheit erkannt haben würde, selbst wenn ich nicht gesehen hätte, wie verschämt sie sich der Blicke des jungen Fischers bewußt war, den ich nicht weit davon entdeckte.

Ein Gesicht, und zwar kein angenehmes, obgleich es schön war, schien außerdem dieses hübsche Mädchen und überhaupt alles und jedes tückisch zu belauern. Es war das Gesicht einer Französin.

Die Glocke läutete noch, die vornehmen Herrschaften waren auch noch nicht da, und so hatte ich Zeit, mich in der Kirche umzusehen, die so modrig wie ein Grab roch. Was für eine dunkle, altertümliche, feierliche kleine Kirche es war! Die von Bäumen dicht beschatteten Fenster ließen ein gedämpftes Licht herein, das die Gesichter rings um mich her bleich erscheinen ließ und die alten Erzplatten auf dem Fußboden und die von der Zeit und Feuchtigkeit zerfressenen Denkmäler verdunkelte und das Stückchen Sonnenschein auf der Schwelle der kleinen Eingangspforte, wo ein Glockenstrang einförmig die Glocke in Bewegung setzte, glänzend machte wie einen Edelstein.

Eine gewisse Bewegung unter den Leuten, die Miene ehrfürchtiger Scheu auf den Gesichtern der Bauern und ein höflich grimmiger Ausdruck Mr. Boythorns, als ob er unerschütterlich entschlossen sei, die Anwesenheit eines gewissen jemand unter gar keinen Umständen zur Kenntnis zu nehmen, verrieten mir, daß die hohen Herrschaften gekommen waren und der Gottesdienst beginnen konnte.

»Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Diener, denn vor dir…«

Werde ich jemals vergessen, wie heftig mein Herz klopfte, als mich beim Aufstehen jener Blick traf? Werde ich jemals vergessen, wie die schönen stolzen Augen aus ihrem gleichgültig schmachtenden Schlummer plötzlich zu erwachen und mich fast zu bannen schienen? Es dauerte nur eine Sekunde, dann waren meine Augen wieder freigelassen –wenn ich es so nennen kann –, und ich sah auf mein Buch nieder. Aber das schöne Gesicht stand im Geiste haarscharf vor mir.

Und merkwürdig, es regte sich in mir etwas, was mich an die einsamen Tage bei meiner Patin erinnerte. Ja, selbst an die längst entschwundne Zeit, wo ich auf den Zehen vor meinem kleinen Spiegel gestanden, um mich anzukleiden, nachdem ich vorher meine Puppe angezogen hatte. Und trotzdem wußte ich genau, daß ich das Gesicht dieser Dame niemals vorher in meinem Leben gesehen hatte.

Es war nicht schwer zu erraten, daß der zeremoniöse, gichtische, grauköpfige Herr, der allein mit der Dame im Kirchenstuhl saß, Sir Leicester Dedlock war und sie Lady Dedlock. Aber warum ihr Gesicht so sonderbar auf mich wirkte, wie ein zerbrochener Spiegel, in dem ich einzelne Bruchstücke alter Erinnerungen sah, und warum ich so aufgeregt und unruhig war, weil zufällig ihr Blick auf mir geruht hatte, das konnte ich mir nicht erklären.

Ich empfand es als eine ganz unbegreifliche Schwäche und trachtete, sie dadurch zu überwinden, daß ich aufmerksam den Worten der Predigt folgte. Und da kam es mir sonderbarerweise vor, als hörte ich nicht den Geistlichen sprechen, sondern die unvergeßliche Stimme meiner Patin. Das brachte mich auf den Gedanken, ob Lady Dedlock ihr nicht vielleicht zufällig ähnlich sähe. Vielleicht war das wirklich ein wenig der Fall, aber der Ausdruck war so ganz anders, und die finstere Strenge, die sich in die Züge meiner Patin eingefressen hatte, wie Witterung in Felsgestein, fehlte so vollständig in diesem Gesicht, daß von einer Ähnlichkeit nicht gut die Rede sein konnte. Ebensowenig hatte ich jemals in irgend einem Antlitz einen derartig stolzen und hochmütigen Ausdruck wie bei Lady Dedlock gesehen, und doch schien ich, ich, die kleine Esther Summerson, als Kind, das ein Leben für sich geführt hatte und dessen Geburtstag nie ein Festtag gewesen, vor meinen eignen Augen emporzusteigen, aus der Vergangenheit heraufbeschworen wie durch eine seltsame Macht dieser vornehmen Dame, von der ich genau wußte, daß ich sie bis zu dieser Stunde niemals gesehen hatte.

Ich war so unerklärlich aufgeregt, daß mir selbst die beobachtenden Blicke der französischen Zofe weh taten, die doch schon von ihrem ersten Erscheinen in der Kirche an ununterbrochen lauernd umhergeblickt hatte. Allmählich, wenn auch nur sehr langsam, wurde ich meiner seltsamen Bewegung Herr. Nach einer Weile sah ich mich wieder nach Lady Dedlock um. Sie stand gerade auf, um in den Gesang vor der Predigt einzustimmen. Sie beachtete mich nicht, und mein Herzklopfen hatte aufgehört. Es kam auch nicht wieder außer auf ein paar Augenblicke, als sie später ein oder zwei Mal Ada und mich durch ihre Lorgnette musterte.

Nach Beendigung des Gottesdienstes reichte Sir Leicester Lady Dedlock höchst zeremoniell und feierlich den Arm – obgleich er selbst nur mit Hilfe eines dicken Stockes gehen konnte – und führte sie aus der Kirche an den Ponywagen, in dem sie gekommen waren. Die Dienerschaft zerstreute sich und ebenso die Gemeinde, die, wie Mr. Skimpole zu Mr. Boythorns unendlichem Vergnügen äußerte, Sir Leicester die ganze Zeit über betrachtet hätte, als wäre er Großgrundbesitzer im Paradiese.

»Das glaubt er nämlich wirklich«, sagte Mr. Boythorn. »Er ist fest davon überzeugt. Auch sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater waren es.«

»Wissen Sie«, fuhr Mr. Skimpole ganz unerwartet zu Mr. Boythorn fort, »daß ich sehr gern einen solchen Mann sehe.«

»So? Ah. Was Sie sagen!«

»Nehmen Sie an, er wünsche mich zu begönnern. Sehr gut, ich würde nicht widersprechen.«

»Aber ich«, rief Mr. Boythorn mit großer Entschiedenheit.

»Wirklich?« entgegnete Skimpole leichthin. »Aber das würde Ihnen doch Mühe machen. Warum sollten Sie sich Mühe machen? Hier bin ich, zufrieden, was da kommt, über mich ergehen zu lassen, und gebe mir nie Mühe. Ich komme also hierher und finde einen mächtigen, Huldigung heischenden Potentaten. Gut. Ich sage: Mächtiger Potentat, hier meine Huldigung! Es ist leichter, sie darzubringen, als sie zu verweigern. Hier ist sie. Wenn Sie mir irgend etwas Angenehmes zu zeigen haben, werde ich mich glücklich schätzen, es anzusehen. Wenn Sie mir irgend etwas Angenehmes zu geben haben, werde ich mich glücklich schätzen, es anzunehmen. Der mächtige Potentat antwortet: ‚Das ist ein verständiger Mensch. Ich finde, er wirkt günstig auf meine Verdauung und mein galliges Naturell. Er zwingt mir nicht die Notwendigkeit auf, mich zusammenzurollen wie ein Stacheligel. Im Gegenteil, ich breite mich aus, ich entfalte mich und wende mein silbernes Futter nach außen, wie Miltons Wolke, und das ist angenehmer für uns beide.‘ So sehe ich die Sache an, wenn ich als Kind spreche.«

»Aber angenommen, Sie gingen morgen irgendwo anders hin«, sagte Mr. Boythorn, »wo Sie das gerade Gegenteil eines solchen Kerls fänden; was dann?«

»Was dann?« sagte Mr. Skimpole mit einer Miene kindlicher Einfalt und Aufrichtigkeit. »Ganz dasselbe dann! Ich würde sagen: Mein verehrter Boythorn – wenn Sie der Betreffende wären –, mein verehrter Boythorn, Sie wollen von dem mächtigen Potentaten nichts wissen? Sehr gut. Ich auch nicht. Ich halte es für meinen Beruf im sozialen System, mich angenehm zu machen; ich halte es für jedermanns Beruf im sozialen System, sich angenehm zu machen. Es soll doch ein System der Harmonie sein. Deshalb, wenn Sie gegen den Potentaten sind, bin ich auch gegen ihn. Und jetzt, mein trefflicher Boythorn, lassen Sie uns zu Tisch gehen.«

»Aber der treffliche Boythorn könnte sagen«, entgegnete unser Wirt und wurde blutrot vor Zorn, »ich will ver…«

»Ich verstehe schon«, unterbrach ihn Mr. Skimpole. »Sehr wahrscheinlich würde er das sagen.«

»…sein, wenn ich zu Tische gehe«, ergänzte Mr. Boythorn mit großer Heftigkeit, blieb stehen und stieß mit dem Stock auf den Boden. »Und er würde wahrscheinlich hinzusetzen, gibt es nicht etwas, was Prinzip heißt, Mr. Harold Skimpole?«

»Worauf Harold antworten würde«, erwiderte Mr. Skimpole in seiner fröhlichsten Weise und mit seinem naivsten Lächeln: »Bei meinem Leben, ich habe nicht den mindesten Begriff davon. Ich weiß nicht, was Sie Prinzip nennen, wo es ist oder wer es hat. Wenn Sie es haben und es angenehm finden, freut mich das sehr, und ich gratuliere Ihnen von Herzen. Aber ich weiß nichts davon, das versichere ich Ihnen, denn ich bin ein reines Kind und lege keinen Wert darauf und brauche es nicht. Und dann, sehen Sie, würden der treffliche Boythorn und ich dennoch zu Tisch gehen.«

Das war eins von den vielen kleinen Zwiegesprächen zwischen den beiden, bei denen ich immer fürchtete, sie würden mit einem heftigen Ausbruch von Seiten unsres Wirtes enden. Das wäre unter allen Umständen auch sicher der Fall gewesen, wenn nicht Mr. Boythorn eine so hohe Auffassung von Gastfreundschaft gehabt hätte. Überdies lachte mein Vormund so herzlich über Mr. Skimpole wie über ein Kind, das den ganzen Tag Seifenblasen macht, daß die Sache nie über diesen Punkt hinausging. Mr. Skimpole, der es nie zu wissen schien, wenn er einen gefährlichen Gegenstand berührte, fing dann vielleicht eine Skizze im Park an, die er nie fertig machte, oder spielte Melodien auf dem Piano, sang Bruchstücke von Liedern oder legte sich unter einen Baum auf den Rücken und schaute in den Himmel und hielt alles das für seinen wirklichen Beruf, weil es ihm so ausgezeichnet paßte.

»Unternehmungsgeist und Anstrengung«, pflegte er in solchen Fällen zu uns zu sagen, »sind mir eine wahre Lust. Ich glaube, ich bin ein echter Kosmopolit. Ich habe die größten Sympathien für sie. Ich liege an einem schattigen Platz wie diesem hier und denke an die Wagehälse, die den Nordpol suchen oder bis in das Herz der heißen Zone eindringen, mit Bewunderung. Habsüchtige, geldgierige Leute fragen: Was trägt es ihm ein, nach dem Nordpol zu fahren. Wozu ist das gut? Ich weiß es nicht, aber jedenfalls, wenn der Wagehals es auch nicht weiß, gibt er meinen Gedanken, während ich hier liege, angenehm Nahrung. Aber vielleicht fährt er wirklich hin – unbewußt natürlich –, um meine Gedanken angenehm zu beschäftigen, während ich hier liege. Nehmen wir einen extremen Fall: Nehmen wir die Sklaven in den amerikanischen Plantagen. Ich gebe zu, daß sie hart arbeiten müssen. Ich gebe zu, daß ihnen das nicht besonders gefällt. Ich gebe ohne weiteres zu, daß sie ihr Dasein im großen ganzen recht unangenehm empfinden, aber sie beleben die Landschaft für mich, stimmen sie poetisch für mich, und vielleicht ist das einer der angenehmeren Zwecke ihres Daseins. Ich empfinde es jedenfalls so und würde mich nicht wundern, wenn es sich auch in Wirklichkeit so verhielte.«

Ich fragte mich bei solchen Gelegenheiten immer, ob er wohl jemals an seine Frau und Kinder denke und von welchem Gesichtspunkt aus er sie in seiner kosmopolitischen Weltanschauung wohl betrachte. Soweit ich übrigens beurteilen konnte, dachte er fast niemals an sie.

Wieder war eine Woche bis zum Samstag nach jenem Kirchgang verflossen, und jeder Tag war so hell und blau gewesen, daß im Wald herumzustreifen und das Sonnenlicht zwischen den durchscheinenden Blättern hereinfallen und in den schönen Verschlingungen der Schatten der Bäume glänzen zu sehen, während die Vögel sangen und die Luft schlief bei dem Gesumme der Insekten, eine wahre Freude war. Wir hatten uns ein Lieblingsplätzchen tief in Moos und altem abgefallnem Laub, wo ringsum einige gefällte, ganz aus der Rinde geschälte Bäume lagen, ausgesucht. Wenn wir dort saßen, blickten wir durch einen grünen Prospekt, getragen von tausend natürlichen Säulen, den weißschimmernden Stämmen der Bäume, in eine Ferne, die durch ihren Gegensatz zu dem Schatten, in dem wir saßen, und die Laubwölbung, durch die wir auf sie hinsahen, so hell erstrahlte, daß sie wie ein Blick ins Jenseits war.

An diesem Samstag saßen Mr. Jarndyce, Ada und ich dort, bis wir dumpf in der Ferne den Donner rollen und große Regentropfen auf die Blätter klatschen hörten.

Die ganze Woche über war es außerordentlich schwül gewesen, aber das Gewitter kam so plötzlich – wenigstens für uns an dieser geschützten Stelle –, daß, ehe wir noch den Saum des Waldes erreichten, Blitz auf Blitz zuckte und der Regen schwer durch die Blätter rauschte, als wäre jeder Tropfen eine Bleikugel.

Da das kein Wetter war, um unter den Bäumen Schutz zu suchen, liefen wir aus dem Wald heraus und die moosbewachsenen Stufen, die an den Umzäunungen entlang führten, hinauf und hinab und eilten zu einem Parkwächterhäuschen in der Nähe hin. Schon oft war uns die düstere romantische Schönheit dieser Hütte in dem dunkeln Zwielicht der Bäume aufgefallen. Von Efeu dicht umwuchert, stand sie an einem steilen Abhang, und einmal hatten wir den Hund des Parkhüters in das tiefe Farnkraut untertauchen sehen wie in einen grünen See.

Es war so dunkel in der Hütte bei dem ganz mit Wolken bedeckten Himmel, daß wir nur den Mann unterscheiden konnten, der, als er uns sah, an die Tür kam und zwei Stühle für Ada und mich hinsetzte.

Die Jalousien waren in die Höhe gezogen, und wir saßen im Flur und sahen auf das Gewitter hinaus. Es war grandios, wie sich der Wind erhob und die Bäume niederbog und den Regen vor sich hertrieb wie eine Rauchwolke, den feierlichen Donner zu hören und das Blitzen zu sehen und dabei mit Schauer an die gewaltigen Mächte denken zu müssen, von denen unser unbedeutendes Leben umgeben ist, Zeuge zu sein, wie wohltätig sie wirkten und auf Blätter und Blüten eine Frische ausschütteten, die alles neu zu machen schien.

»Ist es nicht gefährlich, an einer so offnen Stelle zu sitzen?«

»O nein, liebe Esther«, antwortete Ada ruhig.

Ada sagte das zu mir, aber ich hatte kein Wort gesprochen.

Mein Herzklopfen kam wieder. Ich hatte die Stimme nie gehört, wie ich auch das Gesicht vorher nie gesehen hatte, aber sie machte denselben seltsamen Eindruck auf mich. In einem Augenblick erzeugte sie unzählige Bilder vor meiner Seele: Lady Dedlock hatte vor uns Schutz in der Hütte gesucht und war aus dem Dunkel drinnen hervorgetreten. Sie stand hinter meinem Stuhl und hatte die Hand auf die Lehne gelegt. Ich sah ihre Hand ganz dicht an meiner Schulter, als ich mich umdrehte.

»Ich habe Sie erschreckt?« sagte sie.

Nein. Ich war nicht erschrocken. Warum hätte ich auch erschrecken sollen.

»Ich glaube«, wendete sich Lady Dedlock zu meinem Vormund, »ich habe das Vergnügen mit Mr. Jarndyce.«

»Ihr Gedächtnis erweist mir mehr Ehre, als ich hätte vermuten dürfen, Lady Dedlock«, entgegnete er.

»Ich erkannte Sie am Sonntag in der Kirche. Es tut mir leid, daß Streitigkeiten Sir Leicesters – sie sind, ich glaube, nicht von ihm ausgegangen – es so lächerlich schwierig machen, Ihnen hier unsre Gastfreundschaft anbieten zu können.«

»Ich bin in die Verhältnisse eingeweiht«, antwortete mein Vormund mit einem Lächeln, »und ich fühle mich auch ohne dies verpflichtet.«

Sie hatte ihm in einer gewissen kühlen Gleichgültigkeit, die ihr Gewohnheit geworden zu sein schien, die Hand gereicht und sprach in einem ebensolchen Ton, obgleich ihre Stimme etwas außerordentlich Gewinnendes hatte. Sie war ebenso anmutig wie schön, ungemein sicher und sah aus, wie ich mir dachte, als könnte sie das Herz jedes Menschen gefangen nehmen, wenn sie es der Mühe wert halte.

Der Parkhüter brachte ihr einen Stuhl heraus, und sie setzte sich in die Mitte des Eingangs zwischen uns.

»Haben Sie den jungen Herrn untergebracht, von dem Sie uns schrieben, dessen Wünsche in irgendeiner Weise zu fördern aber leider nicht in Sir Leicesters Macht stand?« fragte sie über die Schulter meinen Vormund.

»Ich hoffe ja.«

– Sie schien eine hohe Meinung von Mr. Jarndyce zu haben und zu wünschen, mit ihm auf gutem Fuß zu stehen. Es lag etwas sehr Gewinnendes in ihrem stolzen Wesen, und sie wurde vertraulicher – besser gesagt, unbefangener, wenn das überhaupt noch möglich war, wie sie mit ihm über ihre Schulter hinüber sprach. –

»Ich vermute, dies ist Ihr anderes Mündel, Miß Clare?«

Er stellte ihr Ada vor.

»Man wird Ihnen trotz Ihres Don-Quichote-Charakters Ihre Uneigennützigkeit nicht mehr glauben, wenn Sie nur Schönheiten unter Ihren Schutz nehmen. Aber stellen Sie mich auch dieser jungen Dame vor«, sagte sie und sah mir voll ins Gesicht.

»Miß Summerson ist wirklich mein Mündel«, erklärte Mr. Jarndyce. »Für sie bin ich beim Lordkanzler verantwortlich.«

»Hat Miß Summerson ihre beiden Eltern verloren?«

»Ja.«

»Sie hat es sehr gut mit der Wahl ihres Vormunds getroffen.«

Lady Dedlock sah mich an, und ich stimmte ihr bei, daß das allerdings in ganz hervorragender Weise der Fall sei. Plötzlich wendete sie sich mit einer Hast von mir ab, die fast wie Abneigung oder Mißfallen aussah, und sprach wieder mit ihm über die Achsel.

»Jahre sind vergangen, seit wir zusammengekommen sind, Mr. Jarndyce.«

»Eine sehr lange Zeit. Wenigstens glaubte ich, es sei lange her, bis ich Sie vorigen Sonntag sah.«

»Was, selbst Sie sind ein Schmeichler oder halten es für notwendig, mir gegenüber einer zu werden«, sagte sie mit leichter Geringschätzung. »Einen solchen Ruf habe ich mir erworben?«

»Sie haben soviel erworben, Lady Dedlock«, sagte mein Vormund, »daß Sie wohl eine kleine Strafe bezahlen müssen. Wenn auch nicht mir.«

»Soviel!« wiederholte sie leise lachend. »Ja!« In ihrer Überlegenheit und Macht und Faszinationsgabe und, ich weiß nicht, was alles, schien sie in Ada und mir wenig mehr als Kinder zu sehen. Wie sie leise lachte und dann nachdenklich in den Regen hinausschaute, war sie so unbefangen und sicher und hing ihren Gedanken so ungeniert nach, als ob sie allein wäre.

»Ich glaube, Sie kannten meine Schwester besser als mich, als wir zusammen im Ausland waren?« fragte sie und blickte wieder auf.

»Ja, wir trafen uns öfter.«

»Wir sind unsre eignen Wege gegangen«, sagte Lady Dedlock, »und hatten selbst, ehe wir noch uneins zu werden für gut fanden, wenig miteinander gemein. Es ist bedauerlich, aber es konnte nicht anders sein.«

Wieder sah sie in den Regen hinaus. Das Gewitter zog schnell vorüber. Der Regenschauer ließ stark nach, das Blitzen hörte auf, der Donner rollte in der Ferne über den Hügeln, und die Sonne fing an, auf die nassen Blätter und den dünn rieselnden Regen zu glitzern.

Während wir schweigend dasaßen, sahen wir einen kleinen Pony-Phaethon in munterm Trab auf uns zufahren.

»Der Bote kommt mit dem Wagen zurück, Mylady«, meldete der Parkhüter.

Als der Phaethon vorfuhr, bemerkten wir, daß zwei Personen drin saßen. Mit einigen Mänteln und Tüchern im Arm stieg zuerst die Französin aus, die ich in der Kirche gesehen hatte, und dann das hübsche Mädchen. Die Französin mit einer gewissen trotzigen Zuversicht, das Mädchen verlegen und zögernd.

»Was heißt das?« fragte Mylady. »Zwei?!«

»Ich bin für jetzt noch Ihre Kammerfrau, Mylady«, sagte die Französin. »Der Bote verlangte nach der Zofe.«

»Ich fürchtete, Sie könnten mich meinen, Mylady«, entschuldigte sich das hübsche Mädchen.

»Ich meinte auch dich, mein Kind«, entgegnete Lady Dedlock ruhig. »Gib mir diesen Schal um.«

Sie bückte sich ein wenig, und das hübsche Mädchen ließ das Tuch leicht auf ihre Schultern fallen. Die Französin stand unbeachtet daneben und sah mit krampfhaft zusammengepreßten Lippen zu.

»Es tut mir leid«, wendete sich Lady Dedlock zu Mr. Jarndyce, »daß wir unsre frühere Bekanntschaft wahrscheinlich nicht erneuern können. Sie werden mir erlauben, den Wagen für Ihre beiden Mündel wieder herzuschicken. Er wird gleich zurück sein.«

Da mein Vormund um keinen Preis dieses Anerbieten annehmen wollte, verabschiedete sie sich mit Anmut von Ada – nicht von mir –, legte ihre Hand auf seinen dargebotnen Arm und stieg in den Wagen, der eine kleine, niedrige Parkchaise mit einem Halbdach war.

»Steig ein, Kind«, sagte sie zu dem hübschen Mädchen. »Ich werde dich brauchen. Fahren Sie zu.«

Der Wagen fuhr fort, und die Französin, die mitgebrachten Plaids auf dem Arm, blieb stehen, wo sie ausgestiegen war.

Ich glaube, Stolz kann nichts so wenig vertragen als wieder Stolz, und sie war bestraft für ihr herrisches Wesen. Ihre Rache war das eigentümlichste, was ich mir denken kann. Sie blieb regungslos stehen, bis der Wagen in die Auffahrt eingebogen war, und zog dann, ohne eine Miene zu verziehen, die Schuhe aus, ließ sie auf dem Rasen stehen und ging langsam und wohlüberlegt gerade durch die nassesten Stellen des Grases dem Wagen nach.

»Ist das Mädchen verrückt?« fragte mein Vormund.

»O nein, Sir«, sagte der Parkhüter, der ihr mit seiner Frau nachsah. »Hortense ist gar nicht verrückt. Sie ist so klar im Kopf wie irgendeine, aber schrecklich obenhinaus und leidenschaftlich. – Sie ist furchtbar wütend, weil man ihr gekündigt hat und ihr andre vorgezogen werden.«

»Aber warum geht sie ohne Schuhe durch das Wasser?«

»Nun, vielleicht um sich abzukühlen«, meinte der Mann.

»Oder vielleicht bildet sie sich ein, es sei Blut«, sagte die Frau. »Die würde ebensogut durch Blut wie durch alles andre gehen, wenn es ihr einmal in den Kopf steigt.«

Wenige Minuten später kamen wir in der Nähe des Herrenhauses vorbei. Es sah jetzt, wo überall ringsum Diamantentropfen glitzerten, ein leichter Wind wehte, die Vögel nicht mehr ängstlich schwiegen und wieder laut sangen und alles von dem Regen erfrischt war und der Wagen auf der Auffahrt glänzte wie ein Feenwagen aus Silber, noch friedlicher aus.

Immer noch voll Fassung und Ruhe, auch eine friedliche Gestalt nach ihrer Art in der Landschaft, ging Mademoiselle Hortense ohne Schuhe durch das nasse Gras.

19. Kapitel


19. Kapitel

Marsch vorwärts

Um Chancery-Lane haben die Gerichtsferien begonnen. Bürgerliches Recht und römisches Recht, diese guten Schiffe, diese teakholzgebauten, kupferbeschlagenen, eisengegürteten, erzgestirnten und doch nichts weniger als schnellsegelnden Klipper liegen abgetakelt im Dock. Der »Fliegende Holländer« mit seiner Mannschaft gespenstischer Klienten, die alle, denen sie begegnen, anflehen, ihre Leidensgeschichte anzuhören, ist für jetzt Gott weiß wohin verschlagen worden. Die Gerichtshöfe sind sämtlich geschlossen, die öffentlichen Ämter liegen in einem heißen, schweißtreibenden Schlaf, selbst die Westminster-Hall ist eine schattige, einsame Insel, wo Nachtigallen singen und eine zärtlichere Klasse von Prozessanten, als man sie gewöhnlich dort findet, spazieren gehen könnte.

Der »Tempel«, Chancery-Lane, Serjeant’s-Inn und Lincoln’s-Inn bis hinaus zu Lincoln’s-Inn-Fields sind wie Fluthäfen zur Ebbezeit, wo gestrandete Prozesse und Kanzleien vor Anker hoch und trocken auf dem Schlamm der Ferienzeit liegen und unbeschäftigte Schreiber sich auf Stühlen schaukeln, die erst wieder auf die vier Beine zu stehen kommen, wenn die Strömung der Gerichtszeit wiederkehrt. Die Tore der Kanzleilokale sind zu Dutzenden geschlossen, und Briefe und Pakete werden scheffelweise beim Portier abgegeben. Ganze Wagenladungen Gras würden aus den Fugen des Trottoirs von Lincoln’s-Inn wachsen, wenn nicht die Austräger, die nichts zu tun haben als dort im Schatten zu sitzen – die weißen Schürzen als Schutz vor den Fliegen über den Kopf gezogen –, es herausrupften und nachdenklich kauten.

Nur ein einziger Richter weilt in der Stadt. Selbst er erscheint nur zwei Mal wöchentlich in seinen Amtszimmern. Wenn die Provinzbewohner der Assisen-Städte zu seinem Bezirk ihn jetzt sehen könnten! Keine Allongeperücke, kein roter Talar, kein Hermelin, keine Hellebardiers, keine weißen Stäbe. Ein bürgerlicher, sorgfältig rasierter Gentleman mit weißen Hosen und einem weißen Hut, das richterliche Gesicht seegebräunt und die richterliche Nase infolge Sonnenstichs sich schälend, der, wenn er in die Stadt kommt, den Austernkeller besucht und eisgekühltes Ingwerbier trinkt.

Das Barreau Englands ist über die ganze weite Erde verstreut. Wie England vier lange Sommermonate ohne seine Advokaten – diese allgemein anerkannte Zuflucht im Unglück und sein einzig legitimer Triumph im Glück – auskommen kann, gehört nicht hierher; jedenfalls trägt Britannia gegenwärtig nicht diesen Ehrenschild.

Der gelehrte Herr, der über die unerhörte Verletzung der Gefühle seiner Klienten durch die Gegenpartei immer so entsetzlich entrüstet wird, daß er außerstande zu sein scheint, sich jemals zu erholen, befindet sich viel besser, als man denken sollte, in der Schweiz. Der gelehrte Herr, der das Geschäft des Verächtlichmachens besorgt und alle Gegner mit seinem giftigen Sarkasmus vernichtet, lebt kreuzfidel in einem französischen Badeort.

Der gelehrte Herr, der bei der geringsten Veranlassung kannenweis weint, hat seit sechs Wochen keine Träne vergossen. Der sehr gelehrte Herr, der die angeborne Hitze seines heftigen Temperaments in den Brunnen und Quellen der Rechtswissenschaft abgekühlt hat, bis er während der Session groß geworden ist in verknoteten und verwickelten Argumentationen, die die Eingeweihten nur unvollkommen verstehen und die Uneingeweihten überhaupt nicht, macht in charakteristischer Vorliebe für Dürre und Staub die Gegend von Konstantinopel unsicher.

Andere Fragmente desselben großen Palladiums sind auf den Lagunen Venedigs, am zweiten Nilkatarakt, in den deutschen Bädern und auf dem Meeressand an der ganzen englischen Küste verstreut zu finden. Kaum einem einzigen begegnet man in der verlassenen Region von Chancery-Lane. Wenn ein solches einsames Mitglied des Barreaus über diese Wüste flattert und einen umherschweifenden Klienten trifft, der sich vom Schauplatz seiner Sorgen nicht trennen kann, so erschrecken beide voreinander, weichen sich in großem Bogen aus und verstecken sich im Schatten.

Es ist die heißeste Ferienzeit seit vielen Jahren. Alle jungen Schreiber sind wahnsinnig verliebt und sehnen sich in verschiedenen Abstufungen in Margate, Ramsgate oder Gravesend nach seligem Beisammensein mit dem Gegenstand ihrer Liebe. Allen Schreibern von mittlerem Alter kommen ihre Familien zu zahlreich vor. Alle herrenlosen Hunde, die in den Inns herumstreunen und an den Treppenabsätzen und andern ausgetrockneten Orten nach Wasser lechzen, lassen ein kurzes, ärgerliches Geheul hören. Alle Hunde von Blinden auf der Straße rennen mit ihren Herrn gegen Brunnen oder machen sie über Wassereimer stolpern. Ein Laden mit Jalousien, einem wasserbegossenen Trottoir davor und einer Schüssel mit Goldfischen im Fenster gilt als geweihtes Asyl. In »Temple Bar« wird es so heiß, daß es für den benachbarten Strand von Fleetstreet das bedeutet, was das Lämpchen für einen Teekocher ist, und die Umgebung die ganze Nacht in Siedehitze erhält.

Es gibt Kanzleien in den Inns, wo man sich abkühlen könnte, wenn die Langeweile nicht noch schlimmer wäre als die Hitze. Aber in den kleinen Gäßchen in der Nähe dieser Zufluchtsorte brütet die Glut. In Mr. Krooks Hof ist es so heiß, daß die Leute das Innere ihrer Häuser nach außen gekehrt haben und in Stühlen auf dem Trottoir sitzen – Mr. Krook mit eingerechnet, der, die Katze neben sich, hier seine Studien fortsetzt. Die »Sonne« hat ihre harmonischen Gesellschaften vorläufig unterbrochen, und der kleine Swills ist in den Gärten flußabwärts tätig, wo er den Unschuldigen spielt und komische, für die Harmlosen bearbeitete Liedchen singt, die, wie der Anschlagzettel besagt, selbst das empfindsamste Gemüt nicht verletzen können.

Über der ganzen juristischen Nachbarschaft hängt wie ein großer Schleier von Rost oder eine riesenhafte Spinnwebe das Nichtstun und die Traumstimmung der Gerichtsferien. Auch Mr. Snagsby, der Schreibmaterialienhändler in Cook’s Court, Cursitor Street, empfindet diesen Einfluß. Nicht nur als mitfühlender und versonnener Mann, sondern auch hinsichtlich seiner Geschäftstätigkeit. Er hat während der Gerichtsferien mehr Muße, in Staple-Inn und Rolls-Yard zu träumen, als zu andern Zeiten und bemerkt gelegentlich zu den beiden »Stiften«, wie schön es sei, bei so heißem Wetter sich vorzustellen, daß man auf einer Insel, vom Meere umwogt und umtost, lebe.

Guster hat an diesem Nachmittag sehr viel zu tun, denn Mr. und Mrs. Snagsby erwarten Gäste. Die geladene Gesellschaft ist nicht so sehr zahlreich als gewählt, denn sie besteht aus Mr. und Mrs. Chadband und sonst niemandem.

Da Mr. Chadband sich sowohl im Gespräch als in Briefen gern ein »Gefäß« nennt, halten ihn zuweilen Leute, die ihn nicht kennen, für einen Herrn, der mit Wasserleitungen zu tun hat. Er ist aber, wie er sich ausdrückt, »in der Seelsorge tätig«. Mr. Chadband gehört keiner besondern Sekte an, aber er hat Jünger, und Mrs. Snagsby zählt zu ihnen. Mrs. Snagsby hat sich erst vor kurzem bei Mr. Chadband eingeschrieben. Dieses Gefäß zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, als die Sommerhitze sie ein wenig aufgeregt hatte.

»Meine kleine Frau«, sagt Mr. Snagsby zu den Spatzen in Staple-Inn, »liebt die Religion gern ein wenig gepfeffert, müßt ihr wissen.«

Deshalb richtet Guster, sehr erbaut von dem Gedanken, heute die fromme Magd Chadbands sein zu dürfen, von dem sie weiß, daß er die Gabe hat, vier Stunden lang in einem Zug predigen zu können, das kleine Staatszimmer zum Tee her. Die Möbel sind ausgeklopft und abgestaubt, die Porträts Mr. und Mrs. Snagsbys mit einem feuchten Tuch aufgefrischt, das beste Teeservice steht auf dem Tisch und neben ihm schmackhaftes frisches Brot, kalte frische Butter, dünn geschnittener Schinken, Zunge und Gothaer Wurst, und köstliche kleine Reihen von Anchovis ruhen in Petersilie. Ganz zu schweigen von den frisch gelegten Eiern, die warm in einer Serviette heraufgebracht werden sollen, und dem warmen, butterbestrichnen Zwieback. Denn Chadband ist ein geräumiges Gefäß – seine Feinde sagen, ein Schlund von einem Gefäß –, und er weiß mit den Waffen des Fleisches, wie es Messer und Gabel sind, merkwürdig gut umzugehen.

Mr. Snagsby hat seinen besten Rock an, überblickt noch einmal alle Vorbereitungen, als sie fertig sind, und sagt nach einem bescheidenen Hüsteln hinter der Hand zu Mrs. Snagsby:

»Wann erwartest du Mr. und Mrs. Chadband, meine Liebe?«

»Um sechs.«

Mr. Snagsby äußert leichthin und äußerst milde, daß es schon sechs Uhr vorbei sei.

»Möchtest du vielleicht ohne sie anfangen?« fragt Mrs. Snagsby vorwurfsvoll.

Mr. Snagsby sieht aus, als ob er das allerdings gern möchte, aber er sagt bloß mit seinem sanftmütigen Hüsteln:

»Nein, meine Liebe, nein. Ich erwähnte es nur so.«

»Was ist Zeit gegen die Ewigkeit«, seufzt Mrs. Snagsby.

»Sehr wahr, meine Liebe«, gibt Mr. Snagsby zu. »Nur wenn jemand Speisen für einen Tee bereit hält, denkt er dabei – vielleicht – mehr – an die Zeit. Und wenn schon eine Zeit zum Tee festgesetzt ist, so sollte man auch pünktlich antreten.«

»Antreten!« wiederholt Mrs. Snagsby mit Strenge. »Antreten! Als ob Mr. Chadband ein Preisboxer wäre!«

»O, so habe ich es nicht gemeint, meine Liebe«, entschuldigt sich Mr. Snagsby.

Guster, die zum Fenster des Schlafzimmers hinausgesehen hat, kommt plötzlich die Treppe heruntergepoltert wie das Gespenst aus dem Volksmärchen, stürzt mit rotem Gesicht in das Staatszimmer und meldet, daß Mr. und Mrs. Chadband in Sicht seien. Da gleich darauf die Klingel an der innern Tür im Gang ertönt, wird Guster von Mrs. Snagsby streng ermahnt, bei sonstiger augenblicklicher Entlassung die Zeremonie des Anmeldens nicht zu versäumen. Durch diese Drohung ganz außer Fassung gebracht, verstümmelt sie die Zeremonie derart, daß sie meldet: »Mr. und Mrs. Cheeseming, oder so heißens«, und verschwindet dann mit Gewissensbissen.

Mr. Chadband ist ein großer gelber Mann mit einem fetten Lächeln und sieht aus, als flösse Tran in seinen Adern. Mrs. Chadband ist eine finstere, strengblickende, schweigsame Frau.

Mr. Chadband bewegt sich langsam und schwerfällig, fast wie ein Bär, der aufrecht gehen gelernt hat. Er weiß nichts mit seinen Armen anzufangen; als ob sie ihm im Wege wären und er am liebsten damit scharren möchte. Sein Kopf ist stets schweißbedeckt, und er fängt nie an zu reden, ohne nicht vorher seine große Hand emporzuhalten als Zeichen für seine Zuhörer, daß er sie zu erbauen gedenke.

»Meine Freunde«, hebt Mr. Chadband an. »Friede sei mit diesem Hause! Friede dem Hausherrn und der Hausfrau, den Jungfrauen und den Jünglingen darin! Meine Freunde, warum wünsche ich Frieden? Was ist Friede? Ist es Krieg? Nein. Ist es Kampf? Nein. Ist er lieblich und sanft und schön und heiter und voll Freude? Ja, ja! Deshalb, meine Freunde, wünsche ich: Friede sei mit euch und den Eurigen!«

Da Mrs. Snagsby sehr erbaut aussieht, hält es Mr. Snagsby für angebracht, Amen zu sagen. Das findet allgemeine Billigung.

»Nun, meine Freunde«, fährt Mr. Chadband fort, »da ich einmal bei diesem Thema bin…«

Guster erscheint.

Mrs. Snagsby ruft mit tiefer Grabesstimme und ohne den Blick von Chadband zu wenden, mit grauenhafter Deutlichkeit: »Fahr ab!«

»Nun, meine Freunde«, sagt Chadband, »da ich einmal bei diesem Thema bin, um es in meiner schlichten Weise zu eurer Erbauung…«

Ganz unverantwortlicher Weise murmelt Guster: »Siebzehnhundertzweiundachtzg!« Die Grabesstimme wiederholt noch feierlicher: »Abfahren!«

»Nun, meine Freunde«, sagt Mr. Chadband, »wollen wir im Geiste der Liebe…«

Abermals wiederholt Guster: »Siebzehnhundertzweiundachtzg!«

Mr. Chadband hält mit der entsagungsvollen Miene eines Mannes, der an Verfolgung gewöhnt ist, inne, faltet langsam sein Kinn in ein fettes Lächeln und sagt:

»Wir wollen die Jungfrau hören! Sprich, Jungfrau!«

»Siebzehnhundertzweiundachtzg, wenn S erlauben, Sir. Er möcht gern wissen, für was der Schilling is«, sagt Guster atemlos.

»Wofür?« entgegnet Mr. Chadband. »Das Fahrgeld.«

Guster erklärt, daß der Kutscher auf einem Schilling acht Pence bestehe und die Polizei holen wolle. Mrs. Snagsby und Mrs. Chadband wollen ihrer Entrüstung durch schrille Schreie Luft machen, aber Mr. Chadband erhebt die Hand und beschwichtigt den Sturm.

»Meine Freunde«, sagt er, »ich entsinne mich einer gestern unerfüllt gelassenen Pflicht. Es ist recht, daß ich gezüchtigt werde. Man soll nicht murren. Rachael, bezahle die acht Pence.«

Während Mrs. Snagsby tief aufatmet und Mr. Snagsby streng ansieht, als wollte sie sagen: Hörst du diesen Apostel! und Mr. Chadband in Demut und Tran erglänzt, bezahlt Mrs. Chadband das Geld.

Es ist Mr. Chadbands Gepflogenheit, diese Art Verrechnung von kleinsten Soll- und Habenposten öffentlich zu verbuchen.

»Meine Freunde, acht Pence ist nicht viel. Es hätte ebensogut 1 sh. und 4 d. sein können. Es hätte ebensogut eine halbe Krone sein können. O lasset uns jauchzön! Lasset uns jauchzön!« Mit dieser Bemerkung, die das Bruchstück aus einer Hymne zu sein scheint, nach dem Tone zu schließen, begibt sich Mr. Chadband mit feierlichem Schritt an den Tisch und erhebt nochmals, bevor er einen Stuhl nimmt, ermahnend die Hand.

»Meine Freunde, was ist das, was wir hier vor uns ausgebreitet sehen? Erfrischungen. Bedürfen wir der Erfrischungen, meine Freunde? Ja, wir bedürfen ihrer. Und warum bedürfen wir der Erfrischungen, meine Freunde? Weil wir sterblich sind. Weil wir eitel Sünder sind. Weil wir der Erde angehören, weil wir nicht der Luft angehören. Können wir fliegen, meine Freunde? Nein, wir können es nicht. Warum können wir nicht fliegen, meine Freunde?«

Kühn gemacht durch seinen Erfolg vorhin, wagt Mr. Snagsby mit aufgeräumtem, ja fast schlauem Ton zu bemerken: »Keine Flügel.« Aber sofort wird er von Mrs. Snagsby mit einem finstern Stirnrunzeln in seine Schranken gewiesen.

»Nun, meine Freunde«, fährt Mr. Chadband fort, ohne im mindesten Mr. Snagsbys Einwurf zu beachten:

»Warum können wir nicht fliegen? Vielleicht, weil wir geschaffen sind, um zu gehen? So ist es. Können wir gehen, meine Freunde, ohne Kraft? Wir können es nicht. Was würden wir tun ohne Kraft, meine Freunde? Unsre Beine würden ihren Dienst versagen, unsre Knie würden einknicken, unsre Füße würden straucheln, und wir fielen zu Boden. Woher nun, meine Freunde, nehmen wir, vom fleischlichen Standpunkt aus betrachtet, die Kraft, die unsern Gliedern nötig ist? Ziehen wir sie nicht«, fragt Chadband mit einem Blick über die Tafel, »aus dem Brote in mannigfacher Gestalt, aus der Butter, die da gewonnen wird aus der Milch, die da wiederum gemolken wird von der Kuh, aus den Eiern, so das Huhn leget, aus Schinken, aus Zunge, aus Wurst und dergleichen? So ist es. So lasset uns denn teilhaben an den guten Dingen, so uns beschert sind.«

Mr. Chadbands Widersacher leugnen, daß seine Gabe, Worte auf Worte zu türmen, etwas Besonderes sei. Aber das spricht nur für ihre Scheelsucht, weiß jedermann doch, daß der Chadbandsche Redestil Gemeingut ist und überall Anklang findet.

Mr. Chadband ist vorläufig fertig, nimmt an Mrs. Snagsbys Tische Platz und legt mit fabelhafter Energie los. Die Verwandlung jeglicher Art Speise in den bereits erwähnten Tran scheint ein von der Konstitution dieses musterhaften »Gefäßes« so unzertrennlicher Prozeß zu sein, daß man ihn eine Ölmühle oder eine andre zur Verfertigung dieses Artikels eingerichtete Fabrik nennen könnte, wenn er anfängt, zu essen und zu trinken. An dem heutigen Abend hält er in Cook’s Court, Cursitor Street, die Mühle so flott in Gang, daß das Vorratshaus bis zum Rande gefüllt erscheint, als er zu arbeiten aufhört.

Während der Erbauungsepoche des Essens flüstert Guster – die sich von ihrem ersten Versehen nicht erholen konnte und kein mögliches oder unmögliches Mittel unversucht gelassen hat, ihrem eignen Ansehen und dem des Hauses zu schaden, indem sie zum Beispiel eine Art unerwarteter Militärmusik mit Tellern auf Mr. Chadbands Kopf veranstaltete und später den würdigen Herrn mit Eierbrötchen krönte – flüstert Guster Mr. Snagsby zu, daß jemand nach ihm frage.

»Um nicht durch die Blume zu sprechen, man erwartet mich unten im Laden«, sagt Mr. Snagsby und steht auf. »Die werte Gesellschaft wird mich gewiß für eine halbe Minute entschuldigen.«

Mr. Snagsby geht hinunter und findet die beiden »Stifte« in Betrachtung eines Polizeidieners versunken, der einen zerlumpten Knaben am Arm hält.

»Gott im Himmel«, fragt Mr. Snagsby, »was ist denn los?«

»Dieser Junge da«, sagt der Konstabler, »gehorcht nicht, obgleich ich ihm wiederholt gesagt habe, er solle sich auf die Beine machen…«

»I bin immer auf die Bein, Sir«, heult der Junge und wischt sich die schmutzigen Tränen mit dem Ärmel ab. »I bin immer auf die Bein gwesen, was i auf der Welt bin. Wo kann i denn hin, Sir, wenn i auch immer weiter geh?«

»Er geht nicht, wenn ich sage: Marsch vorwärts!« wiederholt der Polizeimann ruhig und bewegt den Hals militärisch hin und her, um ihn besser in seine steife Halsbinde zu passen. »Obgleich ich es ihm wiederholt gesagt habe. Deshalb hab ich ihn arretieren müssen. Er ist der widerspenstigste Spitzbub, der mir jemals vorgekommen ist. Er will nicht vorwärts.«

»Gottes willen, wo soll i denn hin«, heult der Junge, rauft sich verzweifelt die Haare und stampft mit seinen bloßen Füßen auf Mr. Snagsbys Hausflur.

»Mit so was komm mir nicht, oder ich mach kurzen Prozeß mit dir«, droht der Konstabler und schüttelt ihn, ohne sich dabei weiter aufzuregen. »Meine Instruktion lautet: Marsch vorwärts. Ich habe dir das schon fünfhundert Mal gesagt.«

»Aber wohin?« jammert der Junge.

»Hm, das scheint mir wirklich auch die Frage zu sein, Konstabler«, sagt Mr. Snagsby gedankenvoll und hüstelt ratlos hinter der Hand.

»Soweit gehen meine Instruktionen nicht«, entgegnet der Konstabler.

»Ich habe meinen Instruktionen gemäß Jungen, die auf der Gasse herumstrolchen, zu sagen: Marsch vorwärts!«

Hörst du das, Jo? Es geht dich und andre deinesgleichen nichts an, daß die großen Sterne am parlamentarischen Himmel seit ein paar Jahren unterlassen haben, ein Beispiel in: Marsch, vorwärts! zu geben. Das große Rezept, die profunde philosophische Vorschrift, ist für dich allein das Um und Auf deines seltsamen Daseins auf Erden. Marsch vorwärts! Nicht, daß du etwa ganz von der Welt verschwinden sollst, Jo – das würde den großen Sternen nicht passen –, aber: Marsch vorwärts!

Mr. Snagsby sagt nichts dieser Art – sagt überhaupt nichts –, hüstelt nur seinen ratlosesten Husten als Ausdruck dafür, daß er keinen Ausweg sieht. Mittlerweile sind Mr. und Mrs. Chadband und Mrs. Snagsby, von dem Wortwechsel herbeigelockt, auf der Treppe erschienen, und da Guster von Anfang an dort gestanden hat, ist jetzt das ganze Haus am Ende des Ganges versammelt.

»Es handelt sich einfach darum, Sir«, sagt der Konstabler, »ob Sie den Jungen kennen. Er behauptet ja.«

Mrs. Snagsby ruft von ihrer Höhe herunter: »Nein, er kennt ihn nicht.«

»Mein kleines Frauchen«, sagt Mr. Snagsby mit einem Blick auf die Treppe, »meine Liebe, du gestattest. Bitte, nur einen Augenblick Geduld, meine Liebe. Ich kenne diesen Jungen allerdings ein wenig und wüßte nichts Schlimmes von ihm, eher vielleicht das Gegenteil.«

Und der Schreibmaterialienhändler erzählt alles, was er von Jo weiß, und verschweigt nur die Geschichte mit der halben Krone.

»Soweit scheint er also wahr gesprochen zu haben«, sagt der Polizeimann. »Als ich ihn droben in Holborn arretierte, behauptete er, Sie kennen ihn. Darauf sagte ein junger Mann unter den Umstehenden, daß er Sie kenne und daß Sie ein ehrenwerter Mann und Hausbesitzer wären und daß er nachkommen wolle, wenn ich herginge und mich erkundige. Der junge Mann scheint aber keine Lust zu haben, Wort zu halten, sondern… Ah, da ist ja der junge Mann!«

Mr. Guppy tritt ein, nickt Mr. Snagsby zu und greift mit kommishafter Ritterlichkeit zur Begrüßung der Damen auf der Treppe an den Hut.

»Ich habe soeben die Kanzlei verlassen, um spazieren zu gehen, als ich Zeuge dieses Auftritts wurde«, erklärt Mr. Guppy dem Papierhändler. »Und da Ihr Name fiel, hielt ich es für nötig, die Sache näher untersuchen zu lassen.«

»Das war sehr freundlich von Ihnen, Sir«, bedankt sich Mr. Snagsby. »Ich bin Ihnen sehr verbunden.« Und abermals erzählt Mr. Snagsby, was er weiß, und verschweigt wieder die Geschichte mit der halben Krone.

»Ich weiß schon, wo du wohnst«, sagt der Polizeimann zu Jo. »Du wohnst unten in ‚Toms Einöd‘. Eine hübsche unschuldige Gegend zum Wohnen und von gutem Ruf.«

»I kann in keim bessern Ort net wohnen«, jammert Jo. »Sie würden nix von mir wissen wolln, wenn i an am bessern Ort wohnen möcht wollen. Wer möcht so einen, wie i bin, in an ordentlichen Haus wohnen lassn.«

»Du bist sehr arm, was?« fragt der Polizeimann.

»Ja, dös bin i.«

»Nun, was sagen Sie dazu? Diese beiden Kronen hab ich aus ihm herausgeschüttelt, kaum daß ich ihn angefaßt habe«, sagt der Konstabler und zeigt die Geldstücke den Umstehenden.

»Sie sin der Rest von an Sovering, Mr. Snagsby«, rechtfertigt sich Jo. »Von an Sovering, was mir eine Dame mit an Schleier gebn hat, die gsagt hat, sie war a Dienstmadel, und die amal abends an mein Straßenübergang kommen is und mi aufgfordert hat, ihr dös Haus hier zu zeign, und das Haus, wo der, was für Ihna abgschriebn hat, gstorben is, und den Kirchhof, wos n begraben habn. Sie hat zu mir gsagt: Bist du der Bursche von der Totenschau, hats gsagt. I hab zu ihr gsagt, ja, hab i zu ihr gsagt. Kannst du mir alle diese Orte zeigen, hat s gfragt. Ja, dös kann i, hab i gsagt. Und sie hat zu mir gsagt: So tu es. Und i bin vorausgangen, und sie hat mir an Sovering gebn und is fortgloffen. Und i hab nix von den Sovering ghabt«, sagt Jo, und schmutzige Tränen laufen ihm über die Wangen, »denn i hab unten in Toms Einöd fünf Schilling fürs Wechseln gebn müssn, und einer hat mir fünfi gstohln bein Schlafn, und aner hat mir neun Pence gstohlen, und der Wirt hat gsagt, i müßt was zum Besten gebn, und des hat a ganze Menge kost.«

»Du erwartest doch nicht, daß dir ein Mensch die Geschichte von der Dame und dem Sovereign glaubt?« sagt der Konstabler und sieht Jo mit unaussprechlicher Verachtung von der Seite an.

»I erwart gar nix«, erwidert Jo, »aber wahr ist die Gschicht.«

»Sie sehen, was das für ein Subjekt ist«, bemerkt der Konstabler zu den Umstehenden. »Nun, Mr. Snagsby, wenn ich ihn dies Mal nicht einstecke, wollen Sie da für ihn bürgen, daß er schaut, daß er weiterkommt ?«

»Nein«, ruft Mrs. Snagsby von der Treppe herab.

»Liebes Frauchen!« bittet ihr Gatte. »Konstabler, ich bezweifle nicht, daß er sich packen wird. Du mußt es wirklich tun«, sagt Mr. Snagsby.

»Ja, ja, ich wers schon tun, Herr«, beteuert der unglückliche Jo.

»Also, marsch fort«, befiehlt der Polizeimann. »Du weißt jetzt, was du zu tun hast, und bild dir nicht ein, daß du das nächste Mal so gut wegkommst. Hier, nimm dein Geld. Und je eher du fünf Meilen weg bist, desto besser für uns alle.«

Mit diesem Abschiedswink und einer Handbewegung auf die untergehende Sonne als einem leidlichen Ort, wohin Jo sich packen könne, wünscht der Polizeimann seinem Auditorium einen guten Nachmittag und weckt das Echo in Cook’s Court, wie er auf der Schattenseite drüben langsamen Schrittes dahingeht und, um sich bei der Hitze den Kopf abzukühlen, seinen eisenbeschlagenen Hut in der Hand trägt.

Jos unwahrscheinlich klingende Geschichte von der Dame und dem Sovereign hat die Neugier der ganzen Gesellschaft mehr oder weniger erregt. Mr. Guppy, der in Zeugensachen stets sehr wißbegierig ist und unter der Langweile der Ferienzeit schwer gelitten hat, fühlt ein solches Interesse für den Fall, daß er mit Jo ein regelrechtes Kreuzverhör anstellt. Das interessiert die Damen so außerordentlich, daß Mrs. Snagsby ihn höflich einlädt, hinauf zu kommen und eine Tasse Tee zu trinken. Da Mr. Guppy die Einladung annimmt, wird Jo aufgefordert, mit bis an die Tür des Staatszimmers zu kommen, wo ihn Mr. Guppy einvernimmt und in alle möglichen Formen quetscht, wie ein Koch ein Stück Tafelbutter, und ihn nach berühmten Mustern ausholt. Auch insofern ist die Einvernahme den Musterverhören ähnlich, als sie auch nichts zu Tage fördert und ebenfalls sehr lang dauert.

Mr. Guppy schwelgt in seinen Talenten, und Mrs. Snagsby sieht nicht nur ihre Neugier befriedigt, sondern hat auch die Empfindung, daß es ihres Gatten Geschäft in den Augen der Jurisprudenz hebt. Während des hitzigen Gefechtes ist das »Gefäß« Chadband, das sich ausschließlich der Tranbereitung zuwendet, kalt gestellt und wartet, bis es wieder aufs Herdfeuer kommt.

»Das eine weiß ich«, sagt Mr. Guppy. »Entweder bleibt der Junge an seiner Geschichte pappen wie Schusterpech, oder es ist wirklich etwas Außergewöhnliches an der Sache, das alles übertrifft, was mir jemals bei Kenge & Carboy vorgekommen ist.«

Mrs. Chadband flüstert Mrs. Snagsby etwas zu, und diese ruft aus: »Was Sie nicht sagen!«

»Seit vielen Jahren!« antwortet Mrs. Chadband.

»Sie kennt Kenge & Carboys Kanzlei seit vielen Jahren«, erklärt Mrs. Snagsby triumphierend Mr. Guppy. »Mrs. Chadband – Gattin dieses Herrn hier – Ehrwürden Mr. Chadband.«

»O wirklich!« sagt Mr. Guppy.

»Ja, ehe ich meinen jetzigen Mann heiratete«, bestätigt Mrs. Chadband.

»Waren Sie Partei in einem Prozeß, Maam?« fragt Mr. Guppy und beginnt mit ihr ein Kreuzverhör.

»Nein.«

»Nicht Partei in einem Prozeß, Maam?«

Mrs. Chadband schüttelt den Kopf.

»Da standen Sie wahrscheinlich in Beziehungen mit jemandem, der Partei in einem Prozeß war, Maam?« forscht Mr. Guppy, der es über alles liebt, einer Unterhaltung einen juristischen Anstrich zu geben.

»Auch das eigentlich nicht«, entgegnet Mrs. Chadband, die auf den Spaß mit einem sauern Lächeln eingeht.

»Auch das eigentlich nicht!« wiederholt Mr. Guppy. »Also gut. Bitte, Maam, war es eine Ihnen bekannte Dame, die mit der Firma Kenge & Carboy zu tun hatte, oder war es ein Ihnen bekannter Herr? Lassen Sie sich Zeit, Maam. Wir werden es gleich haben. Herr oder Dame?«

»Keins von beiden.«

»O! Ein Kind!« sagt Mr. Guppy und wirft der staunenden Mrs. Snagsby den gewissen pfiffigen Advokatenblick zu, den Anwälte englischen Geschworenen zuzuwerfen pflegen. »Nun, Maam, würden Sie vielleicht die Güte haben, uns zu sagen, was für ein Kind.«

»Sie haben es endlich heraus, Sir«, sagt Mrs. Chadband wieder mit einem sauern Lächeln. »Es wird, nach Ihrem Aussehen zu urteilen, wohl vor Ihrer Zeit gewesen sein. Ich hatte ein Kind in meiner Obhut, namens Esther Summerson, das ich später den Herren Kenge & Carboy übergab.«

»Miß Summerson, Maam?« fragt Mr. Guppy aufgeregt.

»Ich nenne sie Esther Summerson«, sagt Mrs. Chadband mit Strenge. »Zu meiner Zeit ist es noch ohne Miß gegangen. Esther, hieß es, Esther, tu das, Esther, tu jenes. Und sie hatte zu parieren.«

»Meine werte Maam«, entgegnet Mr. Guppy und tritt von der andern Seite des kleinen Zimmers an Mrs. Chadband heran. »Der untertänigst Ergebene, der jetzt vor Ihnen steht, nahm die junge Dame in Empfang, als sie aus dem Institut nach London fuhr, auf das Sie soeben Bezug nahmen. Darf ich mir das Vergnügen gestatten, Ihnen die Hand zu drücken?«

Mr. Chadband, der jetzt seine Zeit gekommen sieht, gibt sein gewohntes Zeichen, erhebt sein dampfendes Haupt und betupft es mit einem Taschentuch. »Still!« flüstert Mrs. Snagsby.

»Meine Freunde«, beginnt Chadband. »Wir haben mit Mäßigkeit von den guten Dingen genossen, die uns beschert wurden. Möge dieses Haus leben von dem Fett der Erden, mögen Korn und Wein im Überfluß sein darin, möge es wachsen, möge es blühen, möge es gedeihen, möge es vorwärts kommen! Aber, meine Freunde, haben wir sonst nichts genossen? Ja! Meine Freunde. Was haben wir sonst noch genossen? Geistige Nahrung? Ja. Von wem stammte dieser geistige Nutzen? Mein junger Freund, tritt vor!«

Der so angeredete Jo zögert verlegen, weicht erst einen Schritt zurück, voller Argwohn gegenüber den Absichten des beredten Mr. Chadband, und geht dann zu ihm.

»Mein junger Freund«, sagt Chadband, »du bist uns eine Perle, du bist uns ein Diamant, du bist uns ein Edelstein, du bist uns ein Juwel. Und warum, mein junger Freund?«

»Ich woaß net«, sagt Jo. »Was woaß denn i.«

»Mein junger Freund, eben weil du nicht die Erkenntnis hast, daß du uns ein Edelstein und ein Juwel bist, weißt du es nicht. Denn was bist du, mein junger Freund? Bist du ein Tier des Feldes? Nein. Ein Vogel der Luft? Nein. Ein Fisch des Meeres oder des Flusses? Nein. Du bist ein menschlicher Knabe, mein junger Freund. Ein menschlicher Knabe. O glorreich, ein menschlicher Knabe zu sein. Und warum ist es glorreich, mein junger Freund? Weil du fähig bist, die Lehren der Weisheit zu empfangen, weil du fähig bist, Gewinn zu ziehen aus der Rede, die ich jetzt zu deinem Besten halten will, weil du weder ein Stecken noch ein Stab noch ein Stock noch ein Stein noch ein Pfosten noch ein Pfeiler bist.

O Himmelsstrom, so klar und rein,
ein frommer Knabe noch zu sein!

Und fühlst du jetzt in diesem Strome deine Glieder, mein junger Freund? Nein. Warum kühlst du jetzt nicht in diesem Strom deine Glieder? Weil du in einem Zustande der Finsternis bist, weil du in einem Zustande der Umnachtung bist, weil du in einem Zustande der Sündhaftigkeit bist, weil du in einem Zustande der Knechtschaft bist. Mein junger Freund, was ist Knechtschaft? Lasset uns das jetzt ergründen im Geiste der Liebe.«

Bei diesem bedrohlichen Stadium der Predigt fährt Jo, der jetzt ganz den Verstand verloren zu haben scheint, mit dem rechten Arm über sein Gesicht und gähnt fürchterlich. Mrs. Snagsby spricht entrüstet die Vermutung aus, daß er ein Kind des Erzfeindes sei.

»Meine Freunde«, sagt Mr. Chadband, faltet sein so viel gelästertes Kinn wieder zu einem fetten Lächeln und blickt um sich. »Es ist recht, daß ich gedemütigt werde. Es ist recht, daß ich geprüft werde, es ist recht, daß ich gegeißelt werde, es ist recht, daß ich gezüchtigt werde. Ich strauchelte vergangnen Sabbat, als ich mit Hochmut meiner dreistündigen Erbauung gedachte. Die Schuld ist getilgt. Der Gläubiger hat den Zehent genommen. O lasset uns jauchzen im Herrn! O lasset uns jauchzen!«

Große Ergriffenheit Mrs. Snagsbys.

»Meine Freunde«, schließt Chadband und blickt um sich. »Ich will jetzt nicht mit meinem jungen Freund fortfahren. Willst du morgen zu mir kommen, mein junger Freund, und diese gute Dame fragen, wo ich zu finden bin, auf daß du die Predigt hörst? Oder willst du den Tag darauf kommen wie die durstige Schwalbe und den Tag nach diesem und viele folgende schöne Tage, um die Predigt zu hören?« – So spricht Mr. Chadband mit der Grazie einer Kuh.

Jo, dem es vor allem drum zu tun scheint, fort zu kommen, nickt linkisch. Mr. Guppy wirft ihm einen Penny hin, und Mrs. Snagsby ruft Guster zu, ihn sicher aus dem Hause zu geleiten. Aber ehe er hinuntergeht, wird er von Mr. Snagsby mit Speiseresten vom Tisch beladen, die er mit dem Arm fest an sich drückt.

Mr. Chadband – von dem seine Widersacher sagen, es sei zwar kein Wunder, daß er beliebig lang solch gräßlichen Unsinn fortsprechen könne, aber ganz bestimmt eines, daß er wieder aufhöre, wenn er einmal die Kühnheit gehabt habe, anzufangen – Mr. Chadband zieht sich in das Privatleben zurück, bis die Zeit kommt, wo er ein kleines Kapitalabendessen in Tran umwandelt.

Jo wandert nach der Blackfriars Brücke, wo er eine heiße steinerne Ecke findet, um dort sein Mahl zu halten.

Und da sitzt er und kaut und nagt und schaut hinauf zu dem großen Kreuz auf der Kuppel der St. Pauls-Kathedrale, das über einer rot und violett gefärbten Dunstwolke funkelt. Nach seinem Gesicht zu urteilen, ist ihm das heilige Symbol der Gipfelpunkt von Verwirrung und Unverständlichkeit inmitten der Wirrnis der Stadt. So golden, so hoch oben, so weit außer seinem Bereich.

Da sitzt er. Die Sonne geht unter, schnell rinnt der Fluß dahin, und in zwei Strömen wogt das Menschengewühl vorüber – vorwärts getrieben zu irgendeinem Zweck und zu einem einzigen Ziel… Dann jagt der Konstabler ihn wieder fort und herrscht ihn an:

»Marsch vorwärts!«

2. Kapitel


2. Kapitel

In der vornehmen Welt

Nur ein flüchtiger Blick in die feine Welt an diesem schmutzigen Nachmittag.

Sie ist dem Kanzleigerichtshof nicht so unähnlich, wie es vielleicht scheinen mag. Die vornehme Welt und das Kanzleigericht sind beide Kinder des Hergebrachten und eines heilig gewordenen Brauchs, verschlafene Rip van Winkles, die seltsame Spiele während langer Gewitterzeit gespielt haben, schlummernde Dornröschen, die der Ritter eines Tages erwecken wird, wenn alle stillstehenden Bratspieße in der Küche sich mit wunderbarer Emsigkeit zu drehen anfangen werden.

Die vornehme Welt ist keine große Welt. Selbst im Verhältnis zu unserer, die auch ihre Grenzen hat, wie selbst Seine Lordschaft finden würden, wenn sie rund um dieselbe herumzureisen und an dem Rande, wo sie zu Ende geht, stehen zu bleiben geruhten, ist sie nur ein kleines Stückchen. Es ist viel Gutes darin; es leben brave und ehrliche Leute in ihr; sie füllt ihren bestimmten Platz aus, aber das Schlimme an ihr ist, daß sie zu sehr in feine Baumwolle eingewickelt ist und die brausenden Wogen der größeren Welt nicht hören kann und nicht sehen, wie sie um die Sonne kreist. Es ist eine verdorrende Welt, und ihr Wachstum ist zuweilen behindert durch den Mangel an Luft.

Lady Dedlock ist auf einige Tage in ihre Stadtwohnung zurückgekehrt, ehe sie nach Paris reist, wo sie sich einige Wochen aufhalten wird. Wohin sie sich später zu begeben gedenkt, ist noch ungewiß. Die »fashionablen Nachrichten« verkünden es zum Troste der Pariser, und sie wissen alles, was in der vornehmen Welt geschieht. Etwas anderes zu wissen wäre unchic.

Mylady Dedlock kommt von ihrem Landsitz in Lincolnshire. Die Wasser sind über die Ufer getreten in Lincolnshire. Ein Brückenbogen im Park ist unterwaschen und eingesunken. Die nahe Niederung, eine halbe englische Meile breit, ist ein Sumpf geworden. Mit melancholischen Bäumen als Inseln darin und einer Oberfläche, die den ganzen Tag lang bei dem fallenden Regen wie punktiert aussieht.

Lady Dedlocks Landsitz ist sehr ungemütlich geworden. Das Wetter ist seit vielen Tagen und Nächten so naß gewesen, daß die Bäume bis unter die Rinde durchweicht sind und die feuchten Späne, wenn sie der Holzfäller abhaut, sich geräuschlos vom Stamme trennen und ohne Laut zu Boden fallen. Das Wild trieft und läßt Pfützen zurück, wohin es tritt. Der Schuß aus der Büchse verliert seinen scharfen Knall in der feuchten Luft, und der Rauch schwebt langsam in einer kleinen Wolke der grünen, buschgekrönten Höhe zu, die einen Hintergrund für den fallenden Regen bildet. Die Aussicht aus den Fenstern Lady Dedlocks ist eine Landschaft, abwechselnd in Bleizeichnung und in Tusche. Die Vasen auf der Terrassenmauer im Vordergrund fangen den Regen auf den ganzen Tag, und die schweren Tropfen fallen trip, trip, trip auf die breiten Sandsteinplatten des Ganges, der schon seit alter Zeit der »Geisterweg« heißt. Sonntags riecht die kleine Kirche im Park modrig; die Eichenkanzel bricht in kalten Schweiß aus, und ein Geruch und Geschmack liegt in der Luft, der an die Gräber der alten Dedlocks erinnert.

Lady Dedlock, die kinderlos ist, hat im frühen Zwielicht aus ihrem Boudoir einen Blick auf das Häuschen des Parkwächters geworfen; der Schein eines Feuers schimmerte durch die Jalousien, Rauch stieg aus dem Schornstein, und ein Kind, verfolgt von einer Frau, lief hinaus in den Regen, einem in eine Kapuze gehüllten Mann beim Parktor entgegen. Der Anblick hat die Gnädige in üble Laune versetzt. Sie sagt, sie habe sich tödlich gelangweilt.

Deshalb hat Lady Dedlock von ihrem Landsitz in Lincolnshire Abschied genommen und überläßt ihn dem Regen, den Krähen, den Kaninchen, dem Rotwild, den Rebhühnern und Fasanen. Die Bilder der Dedlocks entschwundener Zeiten sind aus purer Niedergeschlagenheit in den feuchten Wänden verschwunden, als der Kastellan durch die alten Gemächer ging und die Läden zumachte. Wann sie wieder erscheinen werden, kann der Berichterstatter der fashionabeln Nachrichten, der gleich dem bösen Feind die Vergangenheit wohl weiß und die Gegenwart, aber die Zukunft nicht, jetzt noch nicht sagen.

Sir Leicester Dedlock ist nur Baronet, aber es gibt keinen mächtigeren Baronet als ihn. Seine Familie ist so alt wie die Hügel von Lincolnshire, nur unendlich vornehmer. Er ist der Überzeugung, daß die Welt ganz gut ohne Hügel und Berge bestehen könnte, ohne Dedlocks jedoch zugrunde gehen müßte. Er gibt im allgemeinen zu, daß die Natur eine gute Einrichtung ist – ein wenig ruppig zwar, wenn sie nicht von einem Parkzaun umschlossen wird –, aber eine Einrichtung, die in ihrer Gestaltung ganz von den großen Familien der Grafschaft abhängt. Er ist ein Gentleman von strengster Gewissenhaftigkeit, verachtet alle Kleinlichkeit und Niedrigkeit und ist bereit, bei der geringsten Veranlassung eher jeden beliebigen Tod zu sterben als den kleinsten Flecken auf seinem Ruf zu dulden. Er ist ein ehrenwerter, halsstarriger, wahrheitsliebender, stolzer Mann voll krasser Vorurteile, und vollkommen unvernünftig.

Sir Leicester ist volle zwanzig Jahre älter als Mylady. Fünfundsechzig erlebt er nicht noch einmal, vielleicht auch nicht sechs- oder siebenundsechzig. Er hat von Zeit zu Zeit einen Gichtanfall, und sein Gang ist ein wenig steif. Er ist eine vornehme Erscheinung mit seinem grauen Haar und Backenbart, dem feinen Spitzenhemd, der tadellos weißen Weste und dem hochgeschlossenen blauen Frack mit den glänzenden Knöpfen. Er ist sehr förmlich, zu allen Zeiten gegen Mylady ausnehmend höflich und zollt ihren persönlichen Reizen die höchste Anerkennung. Seine Galanterie gegen die Gnädige ist sich seit dem Brautstande unverändert gleichgeblieben und bildet die einzige kleine Stelle Romantik und Poesie in ihm.

Er hat sie aus Liebe geheiratet. Man flüstert sich sogar zu, daß sie nicht einmal von »Familie« sei, aber Sir Leicester hatte für beide »Familie« genug, und sie besaß Schönheit, Stolz, Ehrgeiz, Arroganz und Verstand genug, um es mit einer ganzen Legion vornehmer Damen aufzunehmen. Reichtum und Rang mit diesen Gaben vereint setzten sie bald an die Spitze, und seit Jahren hat Lady Dedlock den Mittelpunkt der vornehmen Welt gebildet und in der Mode die Führung an sich gerissen.

Daß Alexander der Große Tränen vergoß, als er keine Welten mehr zu erobern hatte, weiß jedermann oder sollte es wenigstens wissen, denn der Umstand wird häufig genug erwähnt. Als Lady Dedlock ihre Welt eroberte, verriet ihre Temperatur mehr den Gefrier- als den Schmelzpunkt. Eine erschöpfte Gelassenheit, eine müde Ruhe, ein gelangweilter Gleichmut, die sich weder durch Interesse noch durch Befriedigung stören ließen, waren ihre Siegestrophäen. Sie ist durch und durch vornehm. Wenn sie morgen in den Himmel versetzt werden sollte, würde sie fraglos ohne die mindeste Verzückung emporschweben.

Sie ist immer noch schön, und wenn auch nicht mehr in der Blüte, so doch nicht in ihrem Herbst. Sie hat ein feines Gesicht; der Naturanlage nach sind ihre Züge eher sehr hübsch als schön zu nennen, aber der angelernte Ausdruck der vornehmen Weltdame verleiht ihnen etwas Klassisches. Ihre Figur ist elegant und macht den Eindruck von Schlankheit. Nicht, daß sie wirklich so ist, aber alle ihre Vorzüge sind gut herausgearbeitet, wie Bob Stables hochwohlgeboren wiederholt auf Eid versichert hat. Derselbe Gewährsmann bemerkt, daß sie tadellos aufgezäumt sei, und sagt lobend von ihrem Haar, sie sei die bestgestriegelte Frau im ganzen Gestüt.

Mit allen ihren Reizen ist Lady Dedlock von ihrem Landsitz in Lincolnshire, Schritt für Schritt von den Fashionabeln der Modezeitung verfolgt, eingetroffen, um einige Tage in ihrer Stadtwohnung zu verweilen, bevor sie nach Paris reist, wo sie einige Wochen zu bleiben gedenkt.

In ihrer Stadtwohnung stellt sich an diesem trüben Nachmittag ein altmodischer alter Gentleman ein, Attorney und Solizitor beim hohen Kanzleigericht, der die Ehre hat, Rechtsanwalt der Dedlocks zu sein, und viele eiserne Kästen mit diesem Namen darauf in seiner Kanzlei aufzuweisen hat. Durch die Vorhalle die Treppen hinauf, die Korridore entlang und durch die Zimmer, die in der Saison sehr glänzen und außer der Zeit sehr unwirtlich sind – ein Feenland für den Besucher und eine Wüste für den Bewohner –, führt den alten Herrn ein Merkur mit gepudertem Kopf zu der Gnädigen.

Der alte Herr sieht ein wenig verrostet aus, steht aber in dem Rufe, durch Heiratsverträge und Testamente für den Adel viel Geld erworben zu haben und sehr reich zu sein. Ein undurchdringlicher Nebel von Familiengeheimnissen, als deren stummen Bewahrer man ihn kennt, umgibt ihn. Es gibt adlige Mausoleen, die seit Jahrhunderten in abgelegenen Parkalleen unter uralten Bäumen und wucherndem Farnkraut stehen und vielleicht weniger Familiengeheimnisse bewahren, als in Mr. Tulkinghorns unter Menschen wandelnder Brust verborgen sind.

Er gehört der alten Schule an, das heißt, der Schule, die niemals jung gewesen ist, und trägt kurze Hosen, die an den Knieen mit Bändern befestigt sind, und Gamaschen oder Strümpfe. Die Eigentümlichkeit seiner schwarzen Kleider und Strümpfe, mögen sie von Seide oder Wolle sein, ist, daß sie nie glänzen. Stumm, verschlossen, ohne Antwort für ein neugieriges Licht, ist sein Anzug wie er selbst. Er unterhält sich nie, wenn man ihn nicht in Berufssachen zu Rate zieht. Man findet ihn zuweilen stumm, aber zwanglos und ganz zu Hause am Eck der Gasttafeln in vornehmen Landschlössern oder nicht weit von Salons sitzen, von denen die Modezeitung so viel zu reden hat. Jedermann kennt ihn dort, und der halbe Hochadel bleibt mit den Worten stehen: »Wie geht’s Ihnen, Mr. Tulkinghorn?« Er nimmt die Begrüßung mit Ernst entgegen und begräbt sie neben all dem übrigen, was er weiß.

Sir Leicester Dedlock ist in Gesellschaft der Gnädigen und schätzt sich glücklich, Mr. Tulkinghorn zu empfangen. Es liegt etwas Vorschriftsmäßiges in Mr. Tulkinghorns Benehmen, das Sir Leicester immer sehr angenehm berührt und ihn wie eine Art Tribut anmutet. Er findet auch an Mr. Tulkinghorns Anzug Gefallen und sieht auch darin eine Art Huldigung. Er ist ungemein respektabel geschnitten und hat etwas Sachwalterhaftes. Er ist fast wie die Livree eines Aufsehers der Rechtsmysterien oder eines juristischen Kellermeisters.

Ist sich Mr. Tulkinghorn selbst darüber klar? Es kann sein, kann aber auch nicht sein. Und doch ist diese Frage bei allem, was mit Lady Dedlock als der Führerin und dem Glanzstern der vornehmen Welt in Berührung kommt, von großer Bedeutung. Sie hält sich für ein unerforschliches Wesen, das weit über der Beurteilungssphäre gewöhnlicher Sterblicher steht. So kommt sie sich im Spiegel vor, in dem sie auch wirklich so aussieht. Dennoch kennt jeder kleine Stern, der sich um sie dreht, von der Kammerzofe an bis zum Direktor der italienischen Oper, ihre Schwächen und Vorurteile, ihren Hochmut, ihre Torheiten und Launen und richtet sich in seinem Verkehr mit ihr nach ihren Charakterzügen, wie die Putzmacherin nach ihren Körperproportionen. Je nachdem es gilt, eine neue Mode, einen neuen Kleidungsschnitt, eine neue Sitte, einen neuen Sänger, eine neue Tänzerin, einen neuen Schmuck, einen Zwerg, einen Riesen, eine Kapelle oder sonst etwas in Mode zu bringen.

Es gibt ehrerbietige Leute in Dutzenden von Berufen, von denen allen Lady Dedlock glaubt, sie lägen beständig auf den Knien vor ihr, und die dabei genau wissen, daß sie wie ein Kind zu leiten ist; – Leute, die ein ganzes Leben lang an nichts denken als wie man ihr schmeicheln kann und die sich stellen, als seien sie demütig und unbedingt gehorsam, dabei aber sie und ihr ganzes Gefolge im Schlepptau haben, mit ihr wie mit einem Köder angeln und sie führen, wohin sie wollen, wie Lemuel Gulliver die stattliche Flotte des Reichs Liliput nach Belieben dirigierte.

»Wenn man bei dieser Sorte reüssieren will«, sagen Blaze & Sparkle, die Juweliere – und sie verstehen unter »dieser Sorte« Lady Dedlock und ihren Anhang –, »so darf man nicht vergessen, daß man es nicht mit dem großen Publikum zu tun hat; man muß »diese Sorte« an ihrer schwächsten Seite fassen, und ihre schwächste Seite ist diese und diese.«

»Um Ihre Artikel abzusetzen, meine Herren«, raten Sheen & Gloß, die Tuchhändler, ihren Freunden, den Fabrikanten, »so müssen Sie zu uns kommen, weil wir die Leute der feinen Gesellschaft zu behandeln wissen und dadurch die Mode bestimmen können.«

»Wenn Sie diesen Kupferstich bei meiner hochgestellten Kundschaft anbringen wollen, Sir«, sagt Mr. Sladdery, der Kunsthändler, »oder wenn Sie diesen Zwerg oder Riesen zu deichseln wünschen oder für diese Unternehmung der Unterstützung meiner hohen Kunden bedürfen, so müssen Sie mir das überlassen, denn ich kenne die führenden Personen in diesen Kreisen, Sir, und kann Ihnen, ohne zu übertreiben, sagen, daß ich sie um den Finger wickeln kann«, – worin Mr. Sladdery, der ein ehrenwerter Mann ist, durchaus nicht übertreibt.

Wenn daher Mr. Tulkinghorn wirklich nicht wissen sollte, was gegenwärtig in der Seele der Gnädigen vorgeht, so ist doch auch das Gegenteil sehr leicht möglich.

»Myladys Angelegenheit ist also wieder vor dem Kanzler verhandelt worden, Mr. Tulkinghorn?« fragt Sir Leicester und reicht dem Anwalt die Hand.

»Ja, sie kam heute zur Verhandlung«, entgegnet Mr. Tulkinghorn und macht der Gnädigen, die auf einem Sofa am Kamm sitzt und das Gesicht mit einem Handschirm schützt, eine seiner stummen Verbeugungen.

»Es ist wohl nutzlos zu fragen, ob irgend etwas geschehen ist«, sagt Mylady, noch immer von der trüben Stimmung, die ihr der Landsitz in Lincolnshire verursacht hat, bedrückt.

»Es ist nichts geschehen, was Gnädigste erwähnenswert nennen würden.«

»Es wird nie etwas geschehen«, meint Mylady.

Sir Leicester hat gegen den endlosen Gang der Kanzleigerichtsprozesse nichts einzuwenden. Es ist eine langsame, kostspielige, echt britische, konstitutionelle Sache. Allerdings handelt es sich für ihn in dem fraglichen Prozeß nicht um Sein oder Nichtsein, sondern bloß um die geringfügige Mitgift, die ihm Mylady zubrachte, und er hat eine dunkle Ahnung, daß es ein höchst lächerlicher Zufall ist, wenn der Name Dedlock in einem Prozeß als Partei vorkommt. Er sieht in dem Kanzleigericht etwas, das im Verein mit andern Institutionen von der vollendetsten menschlichen Weisheit ersonnen wurde und in Beziehungen zur ewigen gesetzmäßigen Ordnung steht, wenn auch hie und da die Gerechtigkeit ein wenig nachhinkt und zuweilen Verwirrung zur Folge hat. Beschwerden darüber beizustimmen, hieße vielleicht irgend jemand der niedereren Klassen ermutigen, sich aufzulehnen – wie etwa Wat Tyler bösen Angedenkens.

»Da einige neue Zeugenaussagen zu den Akten gekommen«, sagt Mr. Tulkinghorn, »und überdies kurz gefaßt sind und ich nach dem etwas weitschweifigen Prinzip verfahre, meine Klienten um Erlaubnis zu bitten, ihnen alle neuen Schritte in Prozessen vorlegen zu dürfen«, – Mr. Tulkinghorn ist ein vorsichtiger Mann und übernimmt nie mehr Verantwortlichkeit, als unbedingt nötig ist – »und da die Herrschaften außerdem nach Paris reisen, so habe ich alles mitgebracht.«

Sir Leicester geht nämlich ebenfalls nach Paris, wenn auch der Glanzpunkt der Fashionablen die Gnädige ist.

Mr. Tulkinghorn zieht seine Akten aus der Tasche, bittet um Erlaubnis, sie auf ein goldenes Spielzeug von Tischchen neben der Gnädigen legen zu dürfen, setzt die Brille auf und fängt an, bei dem Schimmer einer Schirmlampe vorzulesen:

»Kanzleigerichtshof. In Sachen John Jarndyce kontra –«

Die Gnädige unterbricht ihn mit der Bitte, soviel wie möglich von dem technischen Formwuste wegzulassen.

Mr. Tulkinghorn blickt über die Brille und fängt tiefer unten von neuem an. Mylady findet es nicht der Mühe wert, ihm ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Sir Leicester in seinem Lehnstuhl blickt ins Feuer und scheint ein stolzes Wohlgefallen an den juristischen Wiederholungen und Weitschweifigkeiten, die ihm wie nationale Bollwerke erscheinen, zu finden. Die Hitze ist zufällig groß, wo Mylady sitzt, und der Handschirm ist weniger nützlich als schön; er ist unschätzbar, aber klein. Mylady setzt sich anders und erblickt dabei die Papiere auf dem Tisch, – besieht sie näher, besieht sie noch näher und fragt impulsiv: »Wer hat denn das geschrieben?«

Mr. Tulkinghorn hält, verwundert über die Lebhaftigkeit und den ungewohnten Ton der Gnädigen, inne.

»Es ist das, was Sie eine Kanzlistenhandschrift nennen?« fragt sie, blickt ihn wieder in ihrer teilnahmslosen Weise an und spielt mit dem Schirm.

»Nicht so ganz. Wahrscheinlich hat sie den Kanzleicharakter erst angenommen, als sie schon ausgebildet war. Warum fragen Gnädigste?«

»Um eine Abwechslung in diese abscheuliche Einförmigkeit zu bringen. Bitte, fahren Sie fort.«

Mr. Tulkinghorn liest weiter.

Die Hitze wird größer. Die Gnädige bedeckt das Gesicht mit dem Schirm. Sir Leicester nickt ein, fährt plötzlich auf und ruft:

»He? Was sagten Sie?«

»Ich fürchte«, flüstert Mr. Tulkinghorn, der hastig aufgestanden ist, »Lady Dedlock befindet sich nicht wohl.«

»Ich fühle mich nur schwach«, lispelt Mylady mit weißen Lippen. »Weiter nichts; aber es ist wie die Schwäche des Todes. Sprechen Sie nicht mit mir. Klingeln Sie und lassen Sie mich in mein Zimmer bringen!«

Mr. Tulkinghorn zieht sich in ein anderes Zimmer zurück. Klingeln schellen, Schritte kommen und gehen, und Stille tritt wieder ein. Endlich bittet der gepuderte Merkur Mr. Tulkinghorn, wieder hereinzukommen.

»Es geht Mylady jetzt bereits besser«, sagt Sir Leicester und winkt dem Advokaten, Platz zu nehmen, um sich allein vorlesen zu lassen. »Ich bin sehr erschrocken. Ich kann mich nicht erinnern, daß Mylady jemals ohnmächtig geworden wäre. Aber das Wetter ist abscheulich, und sie hat sich auf unserm Gut in Lincolnshire wirklich tödlich gelangweilt.«

20. Kapitel


20. Kapitel

Ein neuer Mieter

Die langen Gerichtsferien treiben ihrem Ende zu, wie ein fauler Strom bequem und langsam durch flaches Land dem Meere zufließt. Mr. Guppy treibt in ähnlicher Weise den Strom der Zeit hinab. Er hat sein Federmesser stumpf gemacht und die Spitze abgebrochen, so oft hat er es in sein Pult gestoßen. Nicht etwa, daß er auf das Pult irgend einen Groll hätte, aber er muß irgend etwas zu tun haben, etwas, was ihn nicht aufregt, was weder seine physische noch seine geistige Energie allzu sehr in Anspruch nimmt. Er hat bald herausgefunden, daß ihm nichts besser bekommt, als auf einem Bein seines Sessels zu balancieren, mit dem Federmesser in das Pult zu stechen und zu gähnen.

Kenge & Carboy sind verreist. Der Substitut hat einen Jagdschein genommen und weilt auf seines Vaters Gut. Und Mr. Guppys beide Stipendiarkollegen sind auf Urlaub.

Mr. Guppy und Mr. Richard Carstone teilen sich in die Kanzlei. Aber Mr. Carstone ist für die Ferien in Kenges Zimmer einquartiert, und Mr. Guppy ärgert sich darüber. So übermäßig ärgert er sich darüber, daß er zu seiner Mutter in vertraulichen Stunden, wo er mit ihr in Oldstreet-Road Hummer und Salat zu Abend ißt, mit beißendem Sarkasmus äußert, er fürchte sehr, die Kanzlei sei nicht fein genug für Gigerln, und wenn er gewußt hätte, daß ein Gigerl komme, hätte er frisch tünchen lassen.

Mr. Guppy hat jeden, der einen Stuhl in Kenge & Carboys Kanzlei besetzt, im Verdacht, daß er gegen ihn heimtückische Pläne schmiede. Es ist klar, daß jeder ihn stürzen will. Wenn man ihn fragt, wieso, warum und zu welchem Zweck, schließt er nur das eine Auge und schüttelt den Kopf. Auf Grund dieser tiefsinnigen Erkenntnis gibt er sich unendliche Mühe, das Komplott zu vereiteln, und ersinnt die geistreichsten Schachzüge auf einem Brett ohne Gegner.

Es ist daher kein geringer Trost für Mr. Guppy, daß der neue Ankömmling beständig über den Akten in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce brütet, denn er weiß ganz gut, daß daraus nur Mißlingen und Enttäuschung kommen kann. Seine Zufriedenheit teilt auch der dritte Genosse während der Gerichtsferien in Kenge & Carboys Kanzlei, nämlich der junge Smallweed.

Ob der kleine Smallweed, mit seinem Spitznamen auch Small oder Hühnchen genannt, jemals ein Kind gewesen ist, wird in Lincoln’s-Inn stark bezweifelt. Er ist nicht ganz fünfzehn Jahre und schon ein alter Rechtswissenschaftler. Man neckt ihn damit, er habe eine leidenschaftliche Neigung für eine Dame in einem Zigarrenladen in der Nähe von Chancery-Lane gefaßt und ihretwegen einer andern, mit der er seit einigen Jahren verlobt gewesen, die Treue gebrochen. Er ist eine Stadtpflanze, von kleiner Statur und welken Gesichtszügen, fällt aber schon von weitem durch einen sehr hohen Zylinder auf. Ein Guppy zu werden, ist sein Ehrgeiz. Er wird von diesem Herrn begönnert, kleidet sich wie er, spricht und geht wie er und ahmt ihn in allem und jedem nach. Er genießt Mr. Guppys besonderes Vertrauen und erteilt ihm gelegentlich aus dem Brunnen seiner Erfahrung Rat über gewisse schwierige Punkte im Privatleben.

Mr. Guppy hat den ganzen Morgen im Fenster gelegen und alle Sessel der Reihe nach probiert und keinen bequem gefunden. Auch hat er verschiedne Male den Kopf in den eisernen Dokumentenschrank gesteckt, um sich abzukühlen. Mr. Smallweed ist zwei Mal nach Brausegetränken geschickt worden und hat sie zwei Mal in den zwei Kanzleigläsern gemischt und mit dem Lineal umgerührt. Mr. Guppy stellt zu Mr. Smallweeds Erbauung das Paradoxon auf, daß man durstiger wird, je mehr man trinke, und läßt sein Haupt in einem Zustand hoffnungsloser Langweile auf dem Fensterbrett ruhen.

Während er so auf den Schatten von Oldsquare Lincoln’s-Inn hinausblickt und die unerträgliche Ziegelmauer betrachtet, dämmert ein männlicher Backenbart in die Sphäre seines Bewußtseins, tritt aus dem gewölbten Gang unten hervor und wendet sich ihm zu. Zugleich ertönt ein lautes Pfeifen durch das Inn, und eine gedämpfte Stimme ruft: »He, Guppy!«

»Ist es denn möglich«, fährt Mr. Guppy aus seinem Halbschlummer auf. »Hühnchen! Jobling ist unten.«

Small guckt ebenfalls zum Fenster hinaus und ruft Jobling an.

»Wo bist du denn entsprungen?« fragt Mr. Guppy.

»Aus den Gemüsegärten unten bei Deptford. Ich kann es nicht länger dort aushalten. Ich lasse mich anwerben. Ja, ja! – Könntest du mir nicht eine halbe Krone pumpen? Meiner Seel, ich habe Hunger.«

Jobling sieht auch ganz danach aus und scheint unten in den Gemüsegärten von Deptford ein wenig herabgekommen zu sein.

»Ja, ja. Wirf mir eine halbe Krone herunter, wenn du eine übrig hast. Ich muß unbedingt etwas essen.«

»Willst du mit mir essen kommen?« fragt Mr. Guppy, wirft das Geldstück hinunter, und Mr. Jobling fängt es geschickt auf.

»Wie lang muß ich da noch warten?« fragt Jobling.

»Höchstens eine halbe Stunde. Ich warte hier nur, bis der Feind weggeht.« Guppy winkt mit dem Kopf nach dem Zimmer daneben.

»Was für ein Feind?«

»Ein Neuer. Will sich hier einschreiben lassen. Willst du warten?«

»Kann man unterdessen was zu lesen haben?« fragt Mr. Jobling.

Smallweed schlägt das Advokatenverzeichnis vor, aber Mr. Jobling erklärt mit größtem Ernst, daß er das nicht aushalten würde.

»Du kannst auch die Zeitung haben«, meint Mr. Guppy. »Er soll sie dir herunterbringen. Es ist nämlich besser, wenn man dich hier nicht sieht. Lies sie auf der Treppe. Es ist ein ruhiger Platz.«

Jobling nickt eingeweiht. Der findige Smallweed bringt ihm die Zeitung und wirft noch ein Mal vom Treppenabsatz aus einen forschenden Blick auf ihn, ob er sich nicht am Ende vor der Zeit davonmachen werde.

Endlich entfernt sich der Feind, und Small holt Mr. Jobling herauf.

»Nun, wie geht’s dir?« fragt Mr. Guppy und schüttelt ihm die Hand.

»So, so. Und dir?«

Da Mr. Guppy erwidert: Nicht besonders, wagt Mr. Jobling die Frage: »Na, und wie geht’s ihr«? Das weist Mr. Guppy als unziemlich zurück und sagt: »Jobling, es gibt Saiten im menschlichen Herzen…«

Jobling bittet um Verzeihung.

»Jedes Thema, nur das nicht«, sagt Mr. Guppy, in seinem Grame wühlend.

»Es gibt Saiten, Jobling…«

Mr. Jobling bittet abermals um Verzeihung.

Während dieses kurzen Zwiegesprächs hat der rührige Smallweed, der mit von der Partie ist, in Kanzleischrift auf einen Zettel geschrieben: »Kommen gleich zurück.« Diese Nachricht für jeden, den es angehen mag, heftet er an den Briefkasten. Dann setzt er seinen Hut in demselben Neigungswinkel auf wie Mr. Guppy und meldet seinem Gönner, daß sie sich jetzt »drücken könnten«.

Alle drei begeben sich in ein Speisehaus in der Nähe, das von den Gästen »das Hundsfutter« genannt wird und wo eine Kellnerin, ein strammes Mädchen von vierzig Jahren, einen gewissen Eindruck auf den empfänglichen Smallweed gemacht hat, wie die Sage geht.

Er ist nämlich ein niederträchtiger Wetterhahn, dem Jahre nichts gelten. In seiner Frühreife repräsentiert er Jahrhunderte eulenhafter Klugheit. Wenn er jemals in einer Wiege gelegen hat, muß er bereits damals einen Taillenrock angehabt haben.

Ein uraltes Auge hat Smallweed; er trinkt und raucht in einer merkwürdig affenhaften Weise, sein Hals steckt tief in seinem Kragen, und er läßt sich prinzipiell nie leimen. Er durchschaut immer alles, was es auch sei. Kurz, die Jurisprudenz hat ihn von Kindesbeinen an so gehegt und gepflegt, daß er eine Art fossiler Kobold geworden ist, dessen irdisches Dasein man in den Gerichtskanzleien dadurch erklärt, daß sein Vater der Herr Pappdeckel und seine Mutter das einzige weibliche Mitglied der Familie Fließpapier gewesen sei und daß man ihm seinen ersten Rock aus einem blauen Aktenbeutel geschnitten habe.

Ungerührt von dem verführerischen Anblick im Fenster, wo künstlich weiß gemachter Blumenkohl und Geflügel, Körbe mit grünen Schoten und kühle saftige Gurken und Keulen, fertig für den Bratspieß, ausgestellt sind, tritt Mr. Smallweed in das Speisehaus. Sie kennen ihn und fürchten ihn dort. Er hat seine Lieblingsbox, bestellt alle Zeitungen und ist grob gegen kahlköpfige Patriarchen, wenn sie sie länger als zehn Minuten lesen. Es ist vergeblich, ihn mit einem zu dünnen Brote täuschen zu wollen oder ihm mit einem Aufschnitt zu kommen, der nicht von allerbester Sorte ist. Was die Sauce betrifft, ist er unerbittlich wie Stein.

In Erkenntnis seiner geradezu magischen Gewalt und sich seine gefürchtete Erfahrung zunutze machend, zieht ihn Mr. Guppy in der Wahl der Speisen für heute zu Rate, wirft ihm einen fragenden Blick zu, während die Kellnerin die Speisekarte herunterleiert, und erkundigt sich: »Was ißt du, Hühnchen?«

Das Hühnchen wählt in seiner unendlichen Schlauheit Kalbsbraten und Schinken und französische Bohnen. »Die Fülle gefälligst nicht vergessen, Polly«, setzt er mit einem koboldartigen Zwinkern seines Auges hinzu, worauf Mr. Guppy und Mr. Jobling dasselbe bestellen. »Und drei Krüge Porter mit Ale!«

Die Kellnerin kommt bald wieder zurück und trägt ein Ding, das wie ein Modell des babylonischen Turms aussieht, aber in Wirklichkeit aus aufgeschichteten Tellern und flachen zinnernen Schüsseln besteht.

Mr. Smallweed befindet für gut, was serviert wird, und zwinkert, Wohlwollen des Eingeweihten in seinem uralten Auge, der Kellnerin zu. Dann stillt das juristische Triumvirat seinen Appetit inmitten beständigen Kommens und Gehens, Herumrennens, Geklappers von Steingut und eines Auf- und Abrollens des Speiseaufzugs aus der Küche. Rufe nach immer mehr Portionen schrillen das Sprachrohr hinunter. Überall herrscht der Geruch und Dampf von Braten vor, und in der heißen Atmosphäre scheinen die unsaubern Messer und Tischtücher von selbst Fett- und Bierflecken auszuschwitzen.

Mr. Jobling ist höher zugeknöpft, als die Mode erfordert. Sein Hut glänzt an den Rändern merkwürdig, als ob dort die Schnecken eine Lieblingspromenade gehalten hätten. Dasselbe Phänomen zeigt sich an mehreren Stellen seines Rockes und besonders an den Nähten. Er hat das fadenscheinige Aussehen eines Gentlemans in bedrängter Lage, und selbst sein blonder Backenbart macht den Eindruck von Schäbigkeit.

Sein Appetit ist so groß, daß man daraus auf eine karge Kost von längerer Dauer schließen kann. Er räumt mit seiner Portion Kalbsbraten und Schinken so schnell auf, noch ehe die beiden andern halb fertig sind, daß Mr. Guppy ihm noch eine Portion vorschlägt.

»Ich danke dir, Guppy«, sagt Mr. Jobling. »Ich glaube wirklich, ich könnte noch eine vertragen.«

Es wird also noch eine gebracht, und er macht sich mit großem Eifer darüber her.

Mr. Guppy sieht ihn zuweilen schweigend an, bis er auch mit diesem zweiten Gericht halb fertig ist und inne hält, um einen wonnigen Zug aus seinem Krug Porter mit Ale zu tun, die Beine ausstreckt und sich die Hände reibt.

Als ihn Mr. Guppy so behaglich zufrieden sieht, sagt er:

»So. Jetzt bist du wieder ein lebendiger Mensch, Tony.«

»Nun, noch nicht ganz«, meint Mr. Jobling. »Aber sagen wir: Eben auf die Welt gekommen.«

»Willst du vielleicht noch Gemüse, Spargel, Schoten, Sommerkohl?«

»Ich danke dir, Guppy. Ich glaube wirklich, ich könnte noch ein bißchen Sommerkohl vertragen.«

Er wird bestellt, und Mr. Smallweed setzt sarkastisch hinzu: »Ohne Schnecken!« Der Sommerkohl wird gebracht.

»Ich wachse in die Höhe, Guppy«, berichtet Mr. Jobling und handhabt Messer und Gabel mit Genuß und Ausdauer.

»Freut mich zu hören.«

»Komme schon in die Flegeljahre«, berichtet Mr. Jobling.

Er spricht weiter nichts, bis er sich seiner Aufgabe entledigt hat, was genau mit dem Fertigwerden der Herren Guppy und Smallweed zusammentrifft. Er hat seine Strecke im besten Stil zurückgelegt und die beiden mit Leichtigkeit um eine Portion Braten und Kohl geschlagen.

»Nun, Hühnchen«, fragt Mr. Guppy, »was würdest du als Mehlspeise empfehlen?«

»Markpudding«, antwortet Mr. Smallweed ohne Zögern.

»Jawohl, jawohl«, bestätigt Mr. Jobling mit schlauem Blick. »Das ist das Wahre. Danke dir, Guppy. Ich glaube wirklich, ich könnte noch einen Markpudding vertragen.«

Drei Markpuddings erscheinen, und Mr. Jobling äußert frohgelaunt, daß er jetzt bald mündig werde. Auf die Puddings folgen auf Mr. Smallweeds Befehl drei Cheshire-Käse und darauf drei Rum. Als dieser Gipfelpunkt des Glücks erreicht ist, legt Mr. Jobling die Beine auf den teppichüberzognen Sitz – er hat eine Seite der Box ganz für sich allein –, lehnt sich gegen die Wand und sagt: »Jetzt bin ich erwachsen, Guppy. Ich habe das Alter der Reife erlangt.«

»Was hältst du nun vom… Du genierst dich doch nicht vor Smallweed?«

»Nicht im mindesten. Ich erlaube mir, auf seine Gesundheit zu trinken.«

»Sir. Die Ihre!« dankt Mr. Smallweed.

»Ich wollte sagen, was hältst du jetzt vom Anwerbenlassen, Jobling?«

»Mein lieber Guppy, was ich nach dem Essen denke und was ich vor dem Essen denke, ist zweierlei. Aber selbst nach dem Essen lege ich mir die Frage vor: Was soll ich anders anfangen? Wovon soll ich leben? Ill foh manscheh, ihr wißt«, sagt Mr. Jobling und spricht die Worte mit sorgfältiger Vermeidung jeglicher französischer Betonung aus. »Ill foh manscheh, sagt der Franzose, und das hat der Engländer gerade so notwendig wie der Franzose. Sogar noch notwendiger.«

Mr. Smallweed ist ebenfalls der Ansicht: Noch notwendiger.

»Wenn mir jemand gesagt hätte«, fährt Jobling fort, »selbst damals noch, als wir beide die Partie nach Lincolnshire machten, Guppy, und hinüber nach Castle-Wold fuhren…«

»Chesney-Wold«, berichtigt Mr. Smallweed.

»Chesney-Wold. Ich danke Ihnen… Wenn mir damals jemand gesagt hätte, daß es mir einmal so schlecht gehen würde wie jetzt, würde ich ihm eine… Ja, ich würde ihm eine heruntergehauen haben«, sagt Mr. Jobling und nimmt mit einer Miene verzweifelter Resignation einen Schluck Rum mit Wasser. »Ich hätte ihm eine heruntergehauen.«

»Aber Tony, es stand schon damals schlimm mit dir«, wirft Mr. Guppy ein. »Du hast im Gig von nichts anderm gesprochen.«

»Guppy«, sagt Mr. Jobling, »ich will das nicht leugnen. Es stand schon damals recht schlecht mit mir. Aber ich dachte, es würde schon irgend etwas Günstiges kommen. Ich hatte das sichere Gefühl, daß sich alles noch machen werde, aber ich habe mich geirrt. Es macht sich nie etwas von selbst, und als die Gläubiger Lärm in den Kanzleien schlugen und schmutzig genug waren, sich wegen ein paar Pfennigen, die ich bei ihnen geborgt hatte, zu beklagen, war es mit meiner Stellung vorbei. Und mit jeder neuen Stelle ebenfalls, denn wenn ich mich auf meine ehemaligen Chefs beziehen wollte, käme alles heraus und die Sache wäre wieder rum. Was soll man nun tun? Ich habe mich verborgen gehalten und unten in den Gemüsegärten billig gelebt, aber was hilft das Billigleben, wenn man kein Geld hat. Da könnte man ebensogut teuer leben.«

»Besser«, berichtigt Mr. Smallweed.

»Gewiß, das wäre wenigstens vornehm. Und Vornehmheit und Backenbart waren von jeher meine Schwächen, und mir ist’s gleich, ob’s jemand weiß oder nicht. Es sind große Schwächen… Verdamm mich, Sir, es sind große Schwächen. Gut«, fährt Mr. Jobling fort und greift herausfordernd wieder nach dem Rum mit Wasser. »Was bleibt einem da andres übrig, als sich anwerben lassen?«

Mr. Guppy nimmt jetzt größeren Anteil am Gespräch, um zu zeigen, was seiner Meinung nach übrig bleibt. Er spricht mit der ernsten eindringlichen Miene eines Mannes, der noch keinen dummen Streich gemacht hat, außer, daß er das Opfer der Liebe geworden ist.

»Jobling, ich und unser beider Freund Smallweed –«

Mr. Smallweed bemerkt bescheiden: »Auf das Wohl der Herren!« und trinkt.

»– haben mehr als einmal die Sache besprochen, seitdem du –«

»– einen Tritt gekriegt hast«, ergänzt Mr. Jobling mit Bitterkeit. »Sprich es nur aus, Guppy!«

»N-nein. Seitdem Sie die Inn verlassen haben«, verbessert Mr. Smallweed zartfühlend.

»– seitdem du die Inn verlassen hast, Jobling«, sagt Mr. Guppy. »Und ich habe neulich mit unserm Freund Smallweed einen Plan besprochen, der mir eingefallen ist. Du kennst doch Snagsby, den Papierhändler?«

»Ich weiß nur, daß es einen Papierhändler dieses Namens gibt«, entgegnet Mr. Jobling. »Er war nicht unser Lieferant, und ich kenne ihn nicht weiter.«

»Aber unsrer ist er, Jobling, und ich kenne ihn. Also höre. Ich bin in letzter Zeit durch gewisse Umstände mit ihm und seiner Familie besser bekannt geworden. Die Umstände tun hier nichts zur Sache. Sie können – oder können auch nicht – in Beziehung zu einem Thema stehen, das vielleicht – oder vielleicht auch nicht – einen Schatten auf mein Dasein geworfen hat.«

Da es Mr. Guppys Art ist, seine vertrauten Freunde mit seinem Schmerz anzurenommieren, sie aber in dem Augenblick, wo sie auf das Thema eingehen, mit schneidender Härte wegen »gewisser Saiten des menschlichen Herzens« schroff in ihre Schranken zu weisen, weichen sowohl Mr. Jobling wie Mr. Smallweed der gelegten Falle aus und bleiben stumm.

»Es kann so sein«, wiederholt Mr. Guppy. »Oder es kann auch nicht so sein. Das gehört nicht hierher. Es genügt, das sowohl Mr. wie Mrs. Snagsby gern bereit sind, mir gefällig zu sein, und während der Gerichtssession von uns viel beschäftigt werden. Er bekommt auch viel Arbeit von Tulkinghorn und hat überdies ein glänzendes Geschäft. Ich glaube, wenn unser gemeinsamer Freund Smallweed auf der Zeugenbank säße, könnte er das beeiden?!«

Mr. Smallweed nickt und scheint vor Begier zu brennen, beeidigt zu werden.

»Nun, meine Herren Geschworenen«, fährt Mr. Guppy fort. »Ich meine dich, Jobling… Du wirst sagen, daß das eine sehr armselige Perspektive ist. Zugegeben. Aber es ist besser als nichts und besser, als sich anwerben zu lassen. Du brauchst vor allem Zeit. Es muß einige Zeit verstreichen, bis Gras über die Geschichte gewachsen ist. Du könntest noch viel Schlimmeres erleben, als für Snagsby abschreiben zu müssen.«

Mr. Jobling will ihn unterbrechen, aber der weise Smallweed hält ihn mit einem trocknen Husten und den Worten: »Hm! Shakespeare!« davon ab.

»Die Sache hat zwei Seiten, Jobling. Das ist die erste. Ich komme zur zweiten. Du kennst Krook, den Kanzler drüben. Was, Jobling?« sagt Mr. Guppy in ermutigendem Kreuzverhör. »Du kennst doch Krook, den Kanzler drüben in der Gasse?«

»Vom Sehen.«

»Vom Sehen. Gut. Und du kennst doch die kleine Flite?«

»Die kennt jeder Mensch.«

»Die kennt jeder Mensch. Sehr gut. Nun gehört es seit einiger Zeit zu meinen Obliegenheiten, Flite eine gewisse Summe wöchentlich auszubezahlen. Außerdem habe ich meinen Instruktionen gemäß ihren Wochenzins vor ihren Augen Krook selbst zu übergeben. Dadurch kam ich in Verbindung mit Krook und lernte sein Haus und seine Gewohnheiten kennen. Ich weiß, daß er noch ein Zimmer zu vermieten hat. Dort kannst du unter einem beliebigen Namen sehr billig wohnen… So ungestört, als ob du hundert Meilen weit weg wärst. Er stellt keine unnötigen Fragen und würde dich auf ein Wort von mir als Mieter annehmen, ehe noch die Glocke zu Ende schlägt. Und ich will dir noch etwas sagen, Jobling«, Mr. Guppy spricht plötzlich leiser und wird vertraulicher. »Er ist ein sonderbarer alter Knabe, wühlt immer in einem Haufen Papieren herum und plagt sich ab, um allein lesen und schreiben zu lernen, ohne damit vorwärts zu kommen, wie mir scheint. Er ist ein sonderbarer alter Kauz. Ich weiß nicht, ob es nicht der Mühe wert wäre, sich den Burschen ein wenig genauer anzusehen.«

»Du willst doch nicht sagen?…« fängt Mr. Jobling an.

»Ich will nur sagen«, Mr. Guppy zuckt bescheiden die Achseln, »daß ich mir nicht recht klar über ihn werden kann. Unser gemeinsamer Freund Smallweed soll selbst erklären, ob er mich nicht hat bemerken hören, daß ich mir nicht über ihn klar werden kann.«

»Allerdings«, bestätigt Mr. Smallweed lakonisch.

»Ich kenne ein wenig das Geschäft und auch ein wenig das Leben, Tony, und es kommt mir selten vor, daß ich mir nicht über irgend jemand mehr oder weniger klar werden kann, aber ein solch alter Fuchs, so schlau und geheimnisvoll, wenn er auch, glaube ich, nie nüchtern ist, ist mir noch nie vorgekommen. Er muß wunderbar alt sein und hat keine Seele um sich. Er soll unermeßlich reich sein, und ob er nun ein Schmuggler, ein Hehler ist oder insgeheim auf Pfänder borgt oder wuchert – was ich mir manchmal schon gedacht habe –, jedenfalls wäre es für dich der Mühe wert, ihm ein wenig in die Karten zu gucken. Ich sehe nicht ein, weshalb du nicht darauf eingehen solltest, wenn dir alles übrige soweit paßt.«

Mr. Jobling, Mr. Guppy, Mr. Smallweed stützen ihre Ellbogen auf den Tisch, legen das Kinn auf die Hand und blicken zur Decke empor. Nach einer Weile trinken sie jeder einen Schluck, lehnen sich langsam zurück, stecken die Hände in die Taschen und sehen einander an.

»Ja, wenn ich meine alte Energie noch hätte, Tony«, seufzt Mr. Guppy. »Aber es gibt Saiten im menschlichen Herzen…«

Mr. Guppy ertränkt den Rest des schmerzlichen Gedankens in Rum mit Wasser, schließt damit, daß er es Tony Jobling überläßt, sich zu dem Abenteuer zu entschließen, und sagt ihm, daß ihm während der Gerichtsferien und solange das Geschäft stocke seine Börse zur Verfügung stehe. Auf drei, vier oder sogar fünf Pfund käme es ihm nicht an. »Denn man soll niemals sagen«, setzt Mr. Guppy mit Emphase hinzu, »daß William Guppy einen Freund im Stiche gelassen habe.«

Der Vorschlag ist so annehmbar, daß Mr. Jobling mit Rührung ausruft: »Guppy, alter Kamerad, deine Hand.« Mr. Guppy reicht sie ihm: »Jobling, mein Junge, hier ist sie.« Mr. Jobling entgegnet: »Guppy, wir sind jetzt schon einige Jahre Duzfreunde.« »So ist es, Jobling«, bestätigt Mr. Guppy.

Sie schütteln einander die Hände, und Mr. Jobling fügt in gerührtem Ton hinzu: »Ich danke dir, Guppy, aber ich glaube, ich könnte noch ein Glas vertragen. Alter Bekanntschaft wegen.«

»Krooks letzter Mieter ist in seinem Zimmer gestorben«, bemerkt Guppy so gelegentlich nach einer Pause.

»So, ist er das?«

»Es war Totenschau. Ursache des Todes: Zufall. Das macht dir doch nichts aus?«

»Nein«, sagt Mr. Jobling, »macht mir nichts aus. Aber er hätte ebensogut anderswo sterben können. Es ist verdammt kurios, daß er gerade in meiner Wohnung sterben mußte.«

Mr. Jobling nimmt den Übergriff sehr übel und kommt einige Mal darauf zurück mit Bemerkungen wie: »Es gibt doch wahrhaftig Orte genug zum Sterben. Ob es ihm wohl gefallen hätte, wenn ich in seiner Wohnung gestorben wäre!«

Da der Vertrag so gut wie abgeschlossen ist, schlägt Mr. Guppy vor, den getreuen Smallweed hinzuschicken und fragen zu lassen, ob Mr. Krook zu Hause sei, um in diesem Fall das Geschäft ohne Verzug abschließen zu gehen. Mr. Jobling erteilt seine Zustimmung, und Smallweed begibt sich unter seinen großen Zylinder und balanciert ihn à la Guppy aus dem Speisehaus hinaus. Bald darauf kehrt er mit der Nachricht zurück, Mr. Krook sei zu Hause und er habe ihn durchs Fenster hinten im Laden schlafen sehen, so fest wie ein Murmeltier.

»Also, zahlen«, ruft Mr. Guppy. »Wir wollen hingehen. Small, wieviel wird’s machen?«

Mr. Smallweed winkt die Kellnerin mit dem Augenlid herbei und diktiert: »Vier Mal Kalbsbraten und Schinken ist drei, vier Mal Kartoffeln macht drei und vier, ein Sommerkohl macht drei und sechs, drei Mal Pudding ist vier und sechs, und sechs Brote sind fünf, und drei Cheshire sind fünf und drei, vier Bier sechs und drei, vier kleine Rum acht und drei, und drei Mal für Polly ist acht und sechs. Acht Schilling sechs Pence, Polly, und achtzehn Pence heraus, ist ein halber Sovereign!«

Nicht im geringsten von dieser fürchterlichen Rechenarbeit angegriffen, entläßt Smallweed seine Freunde mit einem kaltblütigen Nicken und bleibt zurück, um bei Gelegenheit Polly ein wenig zu bewundern und die Zeitung zu lesen, die, außer wenn er seinen Zylinder aufhat, so groß für ihn ist, daß er hinter ihr wie unter einem Bettuch verschwindet.

Mr. Guppy und Mr. Jobling begeben sich nach dem Hadern- und Flaschen-Laden, wo sie Mr. Krook immer noch fest wie ein Murmeltier schlafen finden. Er schnarcht laut, das Kinn auf der Brust, und läßt sich weder durch Geräusche draußen noch durch leises Schütteln wecken. Auf dem Tisch neben ihm stehen unter dem gewöhnlichen Allerlei eine leere Ginflasche und ein Glas. Die stickige Luft ist so von dem Geruch des Getränks gesättigt, daß selbst die grünen Augen der Katze oben auf dem Sims, sich öffnend und schließend und den Besuch anglimmernd, betrunken aussehen.

»Heda!« ruft Mr. Guppy und rüttelt die zusammengesunkene Gestalt des Alten von neuem. »Mr. Krook! Hallo, Sir!«

– Ebenso leicht könnte man ein Bündel alter Kleider, in dessen Innerem Spiritus glüht, wecken. –

»Ist dir jemals eine solche Betäubung zwischen Betrunkenheit und Schlaf vorgekommen?« fragt Mr. Guppy.

»Wenn das sein regelmäßiger Schlummer ist«, bemerkt Jobling, ein wenig beunruhigt, »wird er eines Tages überhaupt nicht mehr aufwachen.«

»Es ist bei ihm immer mehr ein Schlaganfall als ein Schlaf«, sagt Mr. Guppy und schüttelt ihn abermals. »Hallo, Euer Lordschaft! Sie können schon fünfzig Mal beraubt sein! Machen Sie doch die Augen auf!«

Nach vielem Lärm tut es Krook, aber anscheinend, ohne den Besuch oder irgend etwas andres zu sehen. Er legt zwar ein Bein über das andre, faltet die Hände, öffnet und schließt ein paar Mal die pergamentnen Lippen, scheint jedoch gefühllos zu sein wie vorher.

»Jedenfalls lebt er noch«, sagt Mr. Guppy. »Wie geht’s, Mylord Kanzler? Ich habe einen Freund mitgebracht, Sir. Wegen eines kleinen Geschäftes.«

Der Alte sitzt immer noch da, schmatzt mit seinen trockenen Lippen und hat nicht das mindeste Bewußtsein. Nach einigen Minuten macht er einen Versuch, aufzustehen. Sie helfen ihm dabei, und er taumelt an die Wand und starrt sie an.

»Wie geht’s, Mr. Krook?« fragt Mr. Guppy, ein wenig außer Fassung. »Wie geht’s, Sir. Sie sehen entzückend aus, Mr. Krook. Ich hoffe, Sie sind doch ganz wohl?«

Der Alte will nach Mr. Guppy oder in die leere Luft schlagen, dreht sich dabei willenlos um und kommt mit dem Gesicht gegen die Wand zu stehen. So bleibt er ein oder zwei Minuten angelehnt und taumelt dann durch den Laden zur Eingangstür. Die Luft, die Bewegung im Hof, die Zeit oder alle drei zusammen bringen ihn wieder zum Bewußtsein. Er kommt ziemlich festen Schrittes wieder, schiebt sich seine Pelzmütze auf dem Kopf zurecht und sieht die beiden lauernd an.

»Ihr Diener, meine Herren. Ich habe ein wenig genickt. Hi! Ich bin manchmal schwer zu wecken.«

»Ziemlich schwer, das stimmt«, bestätigt Mr. Guppy.

»Was? Sie haben es wohl versucht?« fragt Krook argwöhnisch.

»Nur ein wenig.«

Das Auge des Alten ruht auf der leeren Flasche. Er nimmt sie, untersucht sie und dreht sie langsam um.

»So, so!« sagt er und sieht dabei aus wie der Kobold im Märchen. »Da ist jemand drüber gewesen!«

»Ich versichere Ihnen, wir fanden sie so«, sagt Mr. Guppy. »Aber wenn Sie mir erlauben, lasse ich sie Ihnen wieder füllen?«

»O natürlich!« ruft Krook freudig erregt. »Gewiß! Machen Sie keine Umstände! Lassen Sie sie nebenan füllen – in der ‚Sonne‘. Mit des Lordkanzlers Vierzehnpence. Hihi! Sie wissen’s schon drüben.«

Er drängt die leere Flasche Mr. Guppy so angelegentlich auf, daß dieser seinem Freund zunickt, hinauseilt und mit der gefüllten Flasche wieder hereinkommt. Der Alte nimmt sie wie ein geliebtes Enkelkind in die Arme und streichelt sie zärtlich.

»Aber«, flüstert er mit halbgeschlossenen Augen, nachdem er sie gekostet hat, »das ist ja nicht des Lordkanzlers Vierzehnpence. Das ist Achtzehnpence.«

»Ich dachte, er würde Ihnen besser schmecken«, meint Mr. Guppy.

»Sie sind ein Edelmann, Sir«, Krook kostet abermals, und sein heißer Atem haucht sie an wie eine Flamme. »Sie sind ein Reichsbaron.«

Rasch benützt Mr. Guppy den günstigen Augenblick, stellt seinen Freund unter dem Namen Mr. Weevle vor und erklärt, warum sie gekommen seien. Mit der Flasche unter dem Arm – seine Betrunkenheit überschreitet nie einen gewissen Grad – mustert Krook mit aller Muße den neuen Mieter und scheint Gefallen an ihm zu finden.

»Sie wünschen sich das Zimmer anzusehen, junger Mann? O, es ist ein schönes Zimmer. Habe es weißen lassen. Hi! Es ist jetzt die doppelte Miete wert. Ganz abgesehen von meiner Gesellschaft, wenn Sie Wert darauf legen, und einer so ausgezeichneten Katze für die Mäuse.«

Mit diesen Worten führt der Alte die beiden die Treppe hinauf in das Zimmer, das allerdings viel reinlicher aussieht und einige alte Möbelstücke enthält, die er aus seinen unerschöpflichen Schätzen herausgegraben hat.

Über die Bedingungen sind sie bald einig, denn der Lordkanzler kann es mit Mr. Guppy, der mit Kenge & Carboy, »Jarndyce kontra Jarndyce« und so weiter in Verbindung steht, nicht genau nehmen, und man kommt überein, daß Mr. Weevle am nächsten Tag einziehen soll.

Mr. Weevle begibt sich sodann mit Mr. Guppy nach Cook’s Court, Cursitor Street, um sich Mr. Snagsby vorstellen zu lassen, und, was noch wichtiger ist, sich Stimme und Fürsprache Mrs. Snagsbys zu sichern. Dann erstatten sie dem ausgezeichneten Smallweed, der zu diesem Zweck mit seinem großen Zylinder auf dem Kopf in der Kanzlei wartet, Bericht und scheiden voneinander, nachdem Mr. Guppy erklärt hat, er möchte am liebsten dem kleinen Fest damit die Krone aufsetzen, daß er sie ins Theater führte, wenn es nicht Saiten im menschlichen Herzen berührte, die das wie Hohn erscheinen ließen.

Am nächsten Tag in der Abenddämmerung findet sich Mr. Weevle bescheiden bei Krook ein, durchaus nicht übermäßig mit Gepäck beschwert, und nimmt Besitz von seiner neuen Wohnung, wo die beiden großen Augen in den Fensterläden ihn im Schlaf verwundert anstarren. Am folgenden Tag borgt sich Mr. Weevle, der ein findiger, anstelliger Nichtsnutz von einem Burschen ist, von Miß Flite Nadel und Zwirn und einen Hammer von seinem Wirt und geht ans Werk, sich bescheidne Ersatzfenstervorhänge zu verfertigen, und hängt seine beiden Teetassen, seine Milchkanne und andre Steingutsachen an kleine Haken wie ein schiffbrüchiger Matrose, der es sich so gut wie möglich einrichtet.

Was Mr. Weevle von all seinem bißchen Besitz am höchsten schätzt – außer seinem blonden Backenbart –, ist eine auserlesene Sammlung von Kupferdrucken des echt nationalen Werkes »Die Göttinnen Albions oder Pracht-Galerie britischer Schönheiten«, die Damen der Modewelt oder vornehmer Abkunft in jeder albernen Geziertheit, die Kunst verbunden mit Kapital hervorbringen kann, darstellend. Mit diesen prachtvollen Porträts, die während seines Exils in den Gemüsegärten in einer unwürdigen Bandschachtel ruhten, dekoriert er sein Zimmer. Die Wirkung ist imponierend, da die »Prachtgalerie britischer Schönheiten« in jeder Art Phantasietracht jedes mögliche Instrument spielt, jede Art von Hund streichelt und alle möglichen Sorten Blumentöpfe und Balustraden als Hintergrund gewählt hat.

Die Modewelt ist nun einmal Mr. Weevles Schwäche, wie sie schon Tony Joblings Schwäche war. Sich abends die gestrige Zeitung aus der »Sonne« zu borgen und zu lesen, was für glänzende und ausgezeichnete Meteore in jeder Richtung über den Modehimmel schießen, gewährt ihm unsägliche Befriedigung. Zu wissen, welches Mitglied der Haute volée geruhte, sich dem oder jenem Feste anzuschließen, oder die nicht weniger glänzende und bedeutungsvolle Tat plant, morgen wieder abzureisen, durchbebt ihn mit wonnevollem Entzücken. Unterrichtet zu sein, was die Prachtgalerie britischer Schönheiten augenblicklich tut oder vorhat und was für Heiraten in dieser Galerie auf dem Tapet sind und »was man spricht«, heißt die glorreichsten Ziele des Menschengeschlechts kennen lernen. Mr. Weevle wendet sein Auge von diesen Nachrichten auf die darin besprochenen fashionablen Porträts, und es ist ihm, als kenne er die Originale und sie kennten ihn.

Sonst ist er ein ruhiger Mieter, anstellig und erfinderisch. Er versteht ebensogut für sich zu kochen und zu waschen, wie für sich zu zimmern, und zeigt gesellige Neigungen, sobald die abendlichen Schatten sich über den Hof senken. Zu solchen Zeiten, wenn ihn nicht Mr. Guppy besucht oder dessen Ebenbild, ein kleinerer Stern mit Zylinder, verläßt er sein düsteres Zimmer, dessen großes tintenberegnetes Holzpult er geerbt hat, und plaudert mit Krook oder ist sehr »aufgeknöpft«, wie sie es in Cook’s Court nennen, gegen jeden, der Lust zur Unterhaltung hat.

Deshalb sieht sich Mrs. Piper, die im Hof tonangebend ist, veranlaßt, Mrs. Perkins gegenüber zweierlei Bemerkungen zu machen:

Erstens, daß, wenn ihr Johnny einen Backenbart bekommen sollte, sie wünsche, er ganz dem des jungen Mannes gleiche, und zweitens: »Merken Sie sich meine Worte, Mrs. Perkins… Wundern Sie sich nicht, wenn der junge Mann einmal des alten Krook ganzes Geld erbt.«

21. Kapitel


21. Kapitel

Die Familie Smallweed

Inmitten einer recht übel aussehenden und übel duftenden Nachbarschaft, wenn auch einer ihrer höher gelegenen Teile den Namen Mount Pleasant führt, verbringt der Kobold Smallweed, getauft Bartholomäus, am häuslichen Herde aber »Bart« genannt, den spärlichen Rest seiner Zeit, den ihm die Kanzlei, und was damit zusammenhängt, übrig läßt. Er wohnt in einer kleinen schmalen Straße, die immer einsam, schattig, und traurig von allen Seiten wie ein Grab dicht ummauert ist. Aber immer noch wächst in ihr der Stumpf eines alten Waldbaumes, und sein Duft ist fast so frisch und natürlich wie Smallweeds Anstrich von Jugend.

Seit mehreren Generationen hat es in der Familie Smallweed nur ein einziges Kind gegeben. Kleine alte Männer und Frauen sind vorgekommen, aber kein Kind, bis Mr. Smallweeds Großmutter, die jetzt noch am Leben ist, schwachen Geistes und zum ersten Mal in ihrem Leben zum Kinde wurde. Mit den kindischen Eigenschaften eines gänzlichen Mangels an Beobachtungsgabe, Gedächtnis, Verstand und Interesse und mit der ewigen Neigung behaftet, beim Feuer einzuschlafen und hineinzufallen, hat Mr. Smallweeds Großmutter unzweifelhaft zur Belebung der ganzen Familie beigetragen.

Mr. Smallweeds Familie erfreut sich noch eines Großvaters. Der untere Teil seines Körpers ist ganz und der obere Teil beinah in hoffnungslosem Zustand, aber sein Geist ist ungeschwächt. Er kennt so gut wie früher die vier Spezies der Arithmetik und eine gewisse kleine Auswahl der greifbarsten Tatsachen. Was Idealismus, Ehrfurcht, Bewunderung und andre derartige phrenologische Eigenschaften betrifft, ist er darin nicht schlimmer dran als früher. Alles, was Großvater Smallweed je in seinen Geist aufgenommen hat, ist bei Beginn eine Raupe gewesen und bis zuletzt eine Raupe geblieben. In seinem ganzen Leben hat er nicht einen einzigen Schmetterling ausgebrütet. Der Vater dieses angenehmen Großvaters, aus der Gegend von Mount Pleasant, war eine hornhäutige zweibeinige geldsammelnde Art Spinne gewesen, die ihre Netze wob, um unvorsichtige Fliegen zu fangen, und in dunkeln Löchern auf der Lauer lag. Der Gott dieses alten Heiden hieß Zinseszins. Er lebte für diesen Gott, heiratete für ihn und starb für ihn. Als ihn ein schwerer Verlust in einem ehrenhaften kleinen Unternehmen traf, in dem der ganze Verlust auf der andern Seite hätte liegen sollen, brach ihm etwas – etwas, was zu seinem Leben notwendig war und daher nicht gut sein Herz gewesen sein konnte –, und er starb. Da sein Ruf nicht gut gewesen und er in einer Armenschule einen vollständigen Kursus der Fragen und Antworten über das alte Volk der Ammoniter und Hittiter durchgemacht hatte, wurde er häufig als ein Beispiel der schlimmen Folgen der Erziehung hingestellt.

Sein Geist pflanzte sich in seinem Sohne fort, dem er stets eingeprägt hatte, frühzeitig die Fühler auszustrecken, und den er im zwölften Lebensjahr bei einem Wucherer in die Lehre gab. Hier bildete der junge Gentleman, der von knickerigem und geizigem Charakter war, seinen Geist und schwang sich durch Entwicklung seiner Familienanlage allmählich bis zum – Eskompteur auf. Da er sich ebenfalls frühzeitig etablierte und spät heiratete, wie sein Vater vor ihm, zeugte er ebenfalls einen Sohn von knickerigem engherzigem Charakter, der auch seinerzeit sich frühzeitig etablierte und spät heiratete und Vater des Zwillingspaares Bartholomäus und Judith Smallweed wurde. Während der ganzen Zeit des langsamen Gedeihens dieses Stammbaums hatte das Haus Smallweed, immer sich frühzeitig etablierend und spät heiratend, seinen praktischen Charakter gestärkt, allen Vergnügungen entsagt, alle Geschichtsbücher, Märchen, Phantasien und Fabeln verboten und jegliche Art Spielerei verbannt. Die Folge davon war die erquickliche Tatsache, daß dem Hause nie ein Kind geboren wurde und die fertigen kleinen Männer und Frauen, die es hervorbrachte, alten Affen glichen, auf deren Seele etwas Niederdrückendes lastete.

Gegenwärtig sitzen in der dunkeln kleinen Stube, einige Fuß unter dem Straßenpflaster, in zwei schwarzen Roßhaarlehnstühlen auf beiden Seiten des Kamins Mr. und Mrs. Smallweed, beide steinalt, und verbringen hier ihre rosigen Stunden. Es ist eine grimmig und streng aussehende ungemütliche Stube, in der man keine andere Zier bemerkt als ein ganz ordinäres Tischtuch und ein ganz hartes eisenblechernes Teebrett, das seinem dekorativen Charakter nach kein schlechtes allegorisches Bild von Großvater Smallweeds Seele ist.

Auf dem Herd stehen ein paar Dreifüße für die Töpfe und Kessel, deren Bewachung Großvater Smallweeds gewöhnliche Beschäftigung ausmacht, und zwischen ihnen ragt von dem Kaminsims eine Art messingner Hausgalgen vor, um daran Fleisch zu braten, der ebenfalls unter seiner Aufsicht steht, wenn er in Tätigkeit ist.

Unter des ehrwürdigen Mr. Smallweeds Sessel und bewacht von seinen spindeldürren Beinen ist ein Schubkasten angebracht, der der Legende nach Schätze von fabelhaftem Wert birgt. Neben ihm liegt ein überzähliges Kissen, das er immer bei der Hand haben muß, um es der ehrwürdigen Gefährtin seines Lebensabends an den Kopf werfen zu können, wenn sie eine Anspielung auf Geld macht, eine Anspielung, gegen die er ganz besonders empfindlich ist.

»Wo bleibt nur Bart?« fragt Großvater Smallweed Judy, Barts Zwillingsschwester.

»Ist noch nicht da«, brummt Judy.

»Es ist seine Teezeit, was?«

»Nein.«

»Wieviel, glaubst du, fehlt noch daran?«

»Zehn Minuten.«

»He?«

»Zehn Minuten«, schreit Judy lauter.

»Ho!« sagt Großvater Smallweed. »Zehn Minuten.«

Großmutter Smallweed, die gemummelt hat und mit dem Kopf gewackelt, den Dreifuß anstierend, hört die Zahlen nennen, bringt sie mit Geld in Verbindung und kreischt wie ein häßlicher alter Papagei ohne Federn: »Zehn Zehnpfundnoten.«

Großvater Smallweed wirft ihr augenblicklich das Kissen an den Kopf.

»Verwünscht noch Mal, kusch!« ruft der gute Alte.

Die Wirkung der Wurfbewegung ist zwiefach. Sie drückt nicht nur Mrs. Smallweeds Kopf in die Ecke ihres Lehnstuhls und läßt ihre Mütze in einem wenig respektierlichen Zustand erblicken, wenn die Enkelin sie wieder erlöst hat, sondern die damit verbundne Anstrengung macht auch Mr. Smallweed in seinen Lehnstuhl zurücksinken wie eine zerbrochene Puppe.

Da der treffliche alte Herr zu solchen Zeiten nur wie ein bloßes Kleiderbündel mit einem schwarzen Hauskäppchen obendrauf aussieht, so bietet er keinen sehr belebten Anblick, bis ihn die Enkelin wie eine große Flasche geschüttelt und zurecht geklopft und gepufft hat wie ein Polster. Wenn sich durch diese Behandlungsweise wieder ein Ansatz von Hals bei ihm zeigt, sitzen er und die Gefährtin seines Lebensabends sich wieder in den zwei Lehnstühlen gegenüber wie ein paar Schildwachen, die der Tod, der schwarze Sergeant, auf ihrem Posten vergessen hat.

Das Zwillingskind Judy ist eine würdige Gesellschaft für die beiden.

Sie ist so unzweifelhaft Mr. Smallweed jrs. Schwester, daß beide zusammengeknetet kaum einen jungen Menschen von Durchschnittsproportionen ergeben hätten, während sie allein ein so glückliches Beispiel der Familienähnlichkeit mit dem Affengeschlecht ist, daß sie, mit Tressenjacke und Mütze aufgeputzt, ruhig, ohne aufzufallen, auf einer Drehorgel sitzen könnte. Gegenwärtig jedoch trägt sie natürlich nur einen einfachen knappen Rock von braunem Stoff.

Judy hat nie eine Puppe gehabt, hat nie vom Aschenbrödel gehört oder irgendein Spiel gespielt. Als sie ungefähr zehn Jahre alt war, kam sie ein oder zwei Mal in Kindergesellschaft, aber die Kinder konnten nicht mit Judy und Judy nicht mit ihnen auskommen. Sie schien ein Geschöpf anderer Gattung zu sein, und auf beiden Seiten herrschte ein instinktiver Widerwille.

Ob Judy lachen kann, ist fraglich. Sie hat es so selten gesehen, daß die Wahrscheinlichkeit sehr dagegen spricht. Von einem kindlichen Lachen hat sie bestimmt keinen Begriff. Wenn sie zu lachen versuchen würde, stünden ihr wahrscheinlich die Zähne im Weg, denn sie ahmt in jeder Miene das Greisenalter nach, das um sie ist. So ist Judy.

Und ihr Zwillingsbruder hat in seinem ganzen Leben noch nie einen Kreisel aufgewunden. Von dem Däumling, der den Riesen totschlug, oder Sindbad, dem Seefahrer, weiß er nicht mehr als von den Bewohnern der Sterne.

Von Bockspringen oder Ballspielen hatte er schon gar nie eine blasse Ahnung. Aber insofern ist er glücklicher als seine Schwester, als in seine enge Welt der Tatsachen ein Dämmerschein der höheren Regionen gedrungen ist, die innerhalb des Gesichtskreises Mr. Guppys liegen, dieses glänzenden Zauberers. Deshalb seine Bewunderung vor diesem strahlenden Stern.

Mit einem gongähnlichen Geräusch setzt Judy eins der eisenblechernen Teebretter auf den Tisch und verteilt Ober- und Untertassen. Das Brot legt sie in ein eisernes Körbchen und ein wenig Butter auf einen kleinen Zinnteller. Großvater Smallweed sieht scharf hin, wie der Tee eingeschenkt wird, und fragt Judy, wo das Mädchen ist.

»Charley, meinst du?« fragt Judy.

»He?«

»Charley, meinst du?«

Das berührt eine Feder in Großmutter Smallweeds Erinnerungsuhrwerk. Und wie gewöhnlich den Dreifuß angrinsend, schreit sie:

»Über dem Wasser. Charley über dem Wasser! Charley über dem Wasser. Über das Wasser zu Charley! Charley über dem Wasser! Über das Wasser zu Charley!« – und wird ganz lebhaft dabei.

Der Großvater sieht sich nach dem Kissen um, hat sich aber von seiner letzten Anstrengung noch nicht genügend erholt.

»Ha!« fragt er, als Stille eingetreten ist. »Heißt sie so? Sie ißt viel. Es wäre besser, ihr Kostgeld zu geben.«

Mit dem schlauen Augenzwinkern ihres Bruders schüttelt Judy den Kopf und spitzt ihre Lippen zu einem Nein, ohne es auszusprechen.

»Nein?« wiederholt der Alte. »Warum nicht?«

»Wir würden ihr sechs Pence täglich geben müssen und können es billiger machen«, sagt Judy.

»Bestimmt?«

Judy antwortet mit einem höchst bedeutsamen Nicken und schrillt, während sie so sparsam wie möglich die Butter auf das Brot kratzt und es in Scheiben schneidet: »Charley, wo bist du?«

Schüchtern erscheint ein kleines Mädchen in einer groben Schürze und einem großen Hut, die Arme mit Seifenschaum bedeckt und in der Hand eine Scheuerbürste, und knickst.

»Was machst du jetzt?« herrscht Judy sie an und schnappt nach ihr wie eine bösartige alte Hexe.

»Ich scheuere das Hofzimmer oben, Miß.«

»Mach es ordentlich und trödle nicht. Schlamperei paßt mir nicht. Mach rasch! Fort!« ruft Judy und stampft mit dem Fuß auf den Boden. »Ihr Mädchen macht einem doppelt so viel Arbeit, als ihr wert seid.«

Als diese strenge Matrone wieder an ihre Beschäftigung geht, Butter auf das Brot zu kratzen, fällt der Schatten ihres Bruders, der zum Fenster hereinsieht, auf sie. Messer und Brot in der Hand, macht sie ihm die Haustür auf.

»Nun, Bart!« sagt Großvater Smallweed. »Da bist du ja. He?«

»Da bin ich«, nickt Bart.

»Wieder mit deinem Freund zusammen gewesen, Bart?«

Small nickt.

»Auf seine Kosten zu Mittag gegessen, Bart?«

Small nickt wieder.

»Das ist recht. Lebe auf seine Kosten, soviel du kannst, und laß dich durch sein törichtes Beispiel warnen. Das ist der Nutzen eines solchen Freundes. Der einzige Nutzen, den du aus ihm ziehen kannst«, sagt der ehrwürdige Weise.

Der Enkel könnte diesen guten Ratschlag ehrerbietiger aufnehmen, aber er billigt ihn mit einem leichten Nicken und Augenzwinkern und setzt sich an den Teetisch.

Die vier alten Gesichter schweben sodann über den Teetassen wie eine Gesellschaft gespenstischer Cherubim, und Mrs. Smallweed wackelt beständig mit dem Kopf und schnattert die Dreifüße an, während der greise Patriarch beständig geschüttelt werden muß wie eine große schwarze Flasche.

»Ja, ja«, sagt der alte Herr und fängt seine Vorlesungen über Weisheit wieder an. »Diesen Rat würde dir auch dein Vater gegeben haben, Bart. Du hast deinen Vater nie gesehen. Sehr schade. Er war mein echter Sohn.«

»Er war mein echter Sohn«, wiederholt der alte Herr und faltet die Hände mit der Butterschnitte über dem Knie. »Ein guter Rechner. –Starb vor fünfzehn Jahren.«

Von ihrem gewohnten Instinkt getrieben, ruft Mrs. Smallweed: »Fünfzehnhundert Pfund. Fünfzehnhundert Pfund in einem schwarzen Kasten! Fünfzehnhundert Pfund unter Schloß und Riegel! Fünfzehnhundert Pfund gut versteckt.«

Der würdige Gatte legt das Butterbrot hin und wirft sofort mit dem Kissen nach ihr. Sie wird in die Ecke ihres Stuhls gequetscht, und er sinkt entkräftet zurück.

Sein Aussehen, wenn er an Mrs. Smallweed wieder eine solche Ermahnung verschwendet hat, ist höchst ausdrucksvoll, aber keineswegs einnehmend. Erstens, weil ihm die Anstrengung meistens das Hauskäppchen über ein Auge schiebt und ihm ein Aussehen koboldartiger Flottheit verleiht, zweitens, weil er heftige Verwünschungen gegen Mrs. Smallweed ausstößt, und drittens, weil der Kontrast zwischen seinen kräftigen Ausdrücken und seiner schwächlichen Gestalt an einen giftigen alten Bösewicht erinnert, der gern grausam sein möchte, aber nicht kann.

Das alles ist etwas so Gewöhnliches in dem Familienkreise der Smallweeds, daß es weiter keinen Eindruck hervorruft. Der alte Herr wird nur geschüttelt und seine inneren Federn werden aufgeklopft, das Kissen wird von neuem an seinen gewöhnlichen Platz neben ihn gelegt und die alte Dame abermals in ihrem Stuhl aufgerichtet, um bei nächster Gelegenheit wieder wie ein Kegel umgeworfen zu werden.

Manchmal rückt man ihr die Mütze zurecht. Manchmal auch nicht.

Dies Mal vergeht einige Zeit, bis sich der alte Herr soweit beruhigt hat, um seine Rede fortsetzen zu können, und selbst dann mischt er verschiedne erbauliche Zurufe an die Gefährtin seines Lebens, die aber nicht zuhört und sich auf Erden nur noch mit Dreifüßen unterhält, hinein.

»Wenn dein Vater, Bart, länger gelebt hätte, würde er sehr reich geworden sein – du höllisches Plappermaul –, aber gerade als er anfing, das Gebäude aufzurichten, zu dem er viele Jahre lang den Grund gelegt hatte – du verwünschte Elster, was willst du denn eigentlich –, erkrankte er und starb an einem zehrenden Fieber, denn er war immer ein sparsamer Mann voll Sorge ums Geschäft – ich möchte dir eine Katze an den Kopf werfen, anstatt eines Kissens und tue es auch noch ein Mal, wenn du einen so verdammten Narren aus dir machst –, und deine Mutter, die eine verständige Frau war, so dürr wie ein Hobelspan, schwand hin wie Zunder, als sie dich und Judy geboren hatte… Du bist ein altes Schwein, du bist ein dummes Höllenschwein – Schweinskopf!!«

Judy, die sich für das, was sie schon so oft gehört hat, nicht im geringsten interessiert, gießt aus den Ober- und Untertassen und dem Grunde der Kanne verschiedne Nebenströme Tee zum Abendbrot der kleinen Scheuerfrau zusammen. Ebenso sammelt sie in dem eisernen Brotkorb soviel Rinden und Brocken Brot, als die strenge Sparsamkeit des Hauses übrig gelassen hat.

»Aber dein Vater und ich waren Kompagnons, Bart«, fährt der alte Herr fort, »und nach meinem Tode bekommen du und Judy alles. Es ist ein großes Glück für euch, daß ihr zeitig in die Lehre gegangen seid. Judy ins Blumengeschäft und du in die Kanzlei. Ihr werdet das Geld nicht anzugreifen brauchen. Ihr verdient euch auch so euren Lebensunterhalt und spart noch mehr dazu. Wenn ich tot bin, geht Judy wieder ins Blumengeschäft, und du bleibst in der Kanzlei.«

Nach Judys Aussehen könnte man eher auf eine Beschäftigung mit Dornen als mit Blumen schließen, aber sie ist frühzeitig in die Mysterien der Verfertigung künstlicher Blumen eingeweiht worden. Ein scharfer Beobachter hätte sowohl in ihrem als in ihres Bruders Auge, während ihr ehrwürdiger Großvater von seinem Tode sprach, ein klein wenig Ungeduld, wann er wohl sterben würde, und ein wenig Groll, daß es schon so lange dauere, entdecken können.

»Wenn ihr jetzt alle fertig seid«, sagt Judy und räumt auf, »will ich das Mädchen zum Tee hereinholen. Sie würde nie fertig werden, wenn ich ihr den Tee draußen in der Küche gäbe.«

Charley wird also hereingerufen und setzt sich unter einem heftigen Kreuzfeuer von Blicken zu ihrem Tee und einer druidischen Ruine von Butterbrot hin. Bei der Beaufsichtigung des Mädchens scheint Judy Smallweed ein wahrhaft geologisches Alter zu erreichen und auszusehen, als ob sie aus den fernsten Zeitepochen herstamme. Ihr System, mit oder ohne Anlaß über das Kind herzufallen, es auszuschimpfen, ist geradezu wunderbar und beweist eine Fertigkeit im Mißhandeln von Dienstboten, die selbst jahrhundertealte Übung nur selten verleiht.

»Glotze nicht den ganzen Nachmittag in der Stube herum«, ruft sie und stampft mit dem Fuß, als sie zufällig einen Blick des Kindes auf den Teekessel erhascht, »verzehre deinen Proviant und geh wieder an die Arbeit.«

»Ja, Miß.«

»Sage nicht ja«, fährt Miß Smallweed auf. »Ich weiß schon, wie ihr Mädchen seid. Tue es, ohne zu reden, dann fang ich vielleicht an, dir zu glauben.«

Charley schlingt einen großen Schluck Tee hinunter, zum Zeichen der Unterwürfigkeit, und zerstört die druidischen Ruinen so sehr, daß Miß Smallweed ihr vorwirft, gefräßig zu sein, »was bei euch Mädchen«, wie sie sagt, »so abstoßend ist«. Es würde Charley wahrscheinlich noch schwerer fallen, Judys Anforderungen, wie Mädchen sein müßten, zu entsprechen, wenn man nicht ein Klopfen an der Tür hörte.

»Sieh nach, wer’s ist, und kaue nicht beim Aufmachen«, ruft Judy.

Während sich die Zielscheibe ihrer Liebenswürdigkeiten zu diesem Zweck entfernt, benützt Miß Smallweed die Gelegenheit, um die Reste von Brot und Butter zusammenzuschieben und ein paar schmutzige Teetassen in die ebbende Flut des Teekessels zu werfen; ein Wink, daß sie das Essen und Trinken für beendigt ansieht.

»Nun, wer ist’s und was will er?« fragt sie dann spitzig.

Es ist ein gewisser Mr. George, wie sich herausstellt. Ohne weitere Anmeldung oder Zeremonie tritt Mr. George ein.

»Pfui Teufel!« sagt Mr. George. »Habt ihr’s aber heiß hier. Immer ein Feuer, was? Na! Vielleicht tut ihr gut, euch beizeiten daran zu gewöhnen.« Mr. George spricht diese letzten Worte zu sich selbst, während er Großvater Smallweed zunickt.

»Ho! Sie sind’s?« ruft der alte Herr. »Wie geht’s? Wie geht’s?«

»Soso mittel«, antwortet Mr. George und nimmt einen Stuhl.

»Ihre Enkelin habe ich bereits die Ehre zu kennen. Ihr Diener, Miß.«

»Hier, mein Enkel«, stellt Großvater Smallweed Bart vor. »Sie kennen ihn noch nicht. Er ist in einer Kanzlei und nicht viel zu Hause.«

»Ihr Diener, ebenfalls! – Er ist wie seine Schwester. Ganz seine Schwester. Verflucht ähnlich sieht er seiner Schwester.« Mr. George legt einen großen, nicht sehr höflich klingenden Nachdruck auf seine Worte.

»Und wie geht die Welt mit Ihnen um, Mr. George?« fragt Großvater Smallweed und reibt sich langsam die Schenkel.

»So ziemlich wie gewöhnlich. Wie mit einem Fußball.«

Mr. George ist ein sonnenverbrannter Mann von etwa fünfzig Jahren, gut gebaut und hübsch von Gesicht, mit schwarzem Kraushaar, hellen Augen und einer breiten Brust. Seine sehnigen und kräftigen Hände, so sonnenverbrannt wie sein Gesicht, sind offenbar an ein rauhes Leben gewöhnt. Seltsam an ihm ist, daß er immer nur auf der Vorderkante des Stuhles sitzt, als ob er aus alter Gewohnheit Raum ließe für ein Kleidungsstück oder eine Rüstung. Auch sein Schritt ist taktmäßig und wuchtig und würde gut zu Sporenklirren passen. Er ist glatt rasiert, aber sein Mund sieht aus, als ob die Oberlippe seit vielen Jahren einen großen Schnurrbart gewohnt gewesen wäre, und die Art, wie er manchmal mit seiner breiten braunen Hand darüber streicht, verstärkt diese Vermutung. Man möchte glauben, daß Mr. George einmal früher Kürassier gewesen sei.

Zu der Familie Smallweed bildet Mr. George einen ganz besondern Kontrast. Wohl noch nie ist ein Kavallerist in einem ihm unähnlicheren Haushalt einquartiert gewesen. Er verhält sich zu ihr wie ein Schlachtschwert zu einem Krebsmesser. Seine entwickelte Gestalt und ihre verkümmerten Formen, sein breitspuriges Wesen, dem das Zimmer zu klein scheint, und ihre kleine verkümmerte Weise, seine tönende Stimme und ihre spitzigen unansehnlichen Töne bilden den stärksten und seltsamsten Gegensatz, den man sich nur denken kann. Wie er in der Mitte des grämlich aussehenden Zimmers sitzt, ein wenig vorgebeugt, die Hände auf die Schenkel gestützt und die Ellbogen auswärts gekehrt, sieht er aus, als könnte er, wenn er lange hier bliebe, die ganze Familie samt dem Haus und seinen vier Zimmern nebst Küche absorbieren.

»Reiben Sie sich vielleicht die Beine, um Leben hineinzureiben?« fragt er Großvater Smallweed, nachdem er sich im Zimmer umgesehen hat.

»S ist so eine Gewohnheit, Mr. George, und… hm, ja… Es unterstützt auch die Zirkulation.«

»Die Zir-ku-la-tion«, wiederholt Mr. George, faltet seine Arme auf der Brust und sieht dadurch noch zwei Mal so groß aus. »Wird nicht mehr viel davon vorhanden sein, sollte ich meinen.«

»Nun ja, ich bin alt, Mr. George«, gibt Großvater Smallweed zu. »Aber ich trage meine Jahre noch recht rüstig. Ich bin älter als sie«, fügt er mit einem Kopfnicken auf seine Gattin hinzu. »Und schauen Sie sie an, wie sie ist… Verdammtes Höllenplappermaul!« ruft er in plötzlich wiedererwachender Feindseligkeit.

»Die arme alte Seele!« sagt Mr. George mitleidig und wendet ihr sein Gesicht zu. »Schelten Sie die alte Dame nicht. Sehen Sie sie nur an, wie sie dasitzt, die Mütze halb auf dem armseligen Kopf, im Stuhl. Fast wie ein Bündel. Munter, Maam. So ist’s recht. Na also… Denken Sie an Ihre Mutter, Mr. Smallweed«, Mr. George hat unterdessen der Alten ein wenig aufgeholfen und kehrt jetzt wieder zu seinem Platz zurück, »wenn Ihnen Ihre Frau nicht genügt.«

»Sie selbst sind wahrscheinlich ein vortrefflicher Sohn gewesen, Mr. George«, wirft der Alte mit einem spöttischen Lächeln hin.

Mr. Georges Gesicht rötet sich etwas lebhafter, als er antwortet: »Nun, nein, ich war das gerade nicht.«

»Ah, da staune ich.«

»Ich auch. Ich hätte ein guter Sohn sein sollen und glaube, ich hatte auch die Absicht, es zu sein. Aber ich war’s nicht. Ich war ein verdammt schlechter Sohn. Das ist das Lange und Breite von der Geschichte. Und ich habe nie jemand Ehre gemacht.«

»Merkwürdig!« höhnt der Alte.

»Je weniger wir davon sprechen, desto besser ist’s«, beginnt Mr. George von neuem. »Kommen Sie. Sie wissen, was wir ausgemacht haben. Immer eine Pfeife für die zwei Monate Zinsen. Ba, s ist schon gut. Sie brauchen sich nicht wegen der Pfeife zu fürchten. Hier ist der neue Wechsel, und hier sind die zwei Monate Zinsen. Es ist verteufelt schwer, sie in meinem Geschäft zusammenzubringen.«

Mr. George sitzt mit verschränkten Armen da und scheint die Familie und die ganze Stube in sich hineinzuatmen, während Judy dem Großvater Smallweed zwei schwarze Ledertaschen aus einem Schreibtisch holt.

In eine derselben kommt das eben erhaltene Dokument, und aus der anderen übergibt der alte Herr ein ähnliches Mr. George, der es nimmt und zu einem Fidibus zusammendreht.

Da Mr. Smallweed durch die Brille jeden Federstrich der beiden Dokumente genau vergleicht und das Geld drei Mal durchzählt und sich von Judy jedes Wort, das sie spricht, mindestens zwei Mal wiederholen läßt und in seiner Rede und allen seinen Bewegungen so zitterig und langsam wie nur möglich ist, dauert dieses Geschäft ziemlich lange. Erst als er ganz fertig ist, und nicht eine Sekunde früher, machen sich seine gierigen Augen und Finger davon los, und er beantwortet Mr. Georges letzte Bemerkung mit den Worten:

»Fürchten, die Pfeife zu bestellen? So knickerig sind wir nicht, Sir. Judy, hol sogleich die Pfeife und das Glas Brandy mit Wasser für Mr. George.«

Die lieblichen Zwillinge haben die ganze Zeit über geradeaus gesehen, außer wenn sie von den schwarzen Ledertaschen abgelenkt wurden, entfernen sich jetzt und verschmähen den Gast und überlassen ihn dem Alten, wie zwei junge Bären einen Reisenden dem väterlichen Petz überlassen würden.

»So sitzen Sie wohl den ganzen Tag da?« fragt Mr. George, die Arme auf der Brust verschränkt.

»Jawohl, jawohl«, nickt der Alte.

»Und Sie beschäftigen sich mit gar nichts?«

»Ich sehe dem Feuer zu – und dem Kochen und Braten.«

»Wenn etwas da ist«, betont Mr. George mit großem Nachdruck.

»Jawohl, wenn etwas da ist.«

»Lesen Sie nichts oder lassen Sie sich nicht vorlesen?«

Der Alte schüttelt triumphierend und schlau den Kopf.

»Nein, nein. Unsere Familie hat sich nie ans Lesen gehalten. Es schaut nichts dabei heraus. Unsinn. Faulenzerei. Dummes Zeug. Nein, nein.«

»Zwischen euch beiden ist auch eine schwere Wahl«, brummt der Gast leise vor sich hin und blickt auf das alte Weib und wieder zu Mr. Smallweed. »Sie!« sagt er dann laut.

»Nun, was denn?«

»Sie ließen mich wahrscheinlich auch gleich federn, wenn ich nur einen Tag im Rückstand bliebe?«

»Bester Freund!« ruft Großvater Smallweed und streckt beide Arme wie ein Wegweiser aus. »Niemals! Niemals! Bester Freund! Aber mein Gewährsmann in der City, den ich bewogen habe, Ihnen das Geld zu leihen, täte es vielleicht.«

»O, Sie können also nicht für ihn stehen?« fragt Mr. George und murrt in sich hinein: »Du verdammter alter lügnerischer Schuft!«

»Bester Freund, es ist kein Verlaß auf ihn. Ich möchte ihm nicht trauen. Er will seinen Wechsel haben, bester Freund.«

»Der Teufel zweifelt daran«, sagt Mr. George.

Da jetzt Charley mit einem Präsentierbrett hereintritt, auf dem die Pfeife, ein kleines Paket Tabak und das Glas Brandy mit Wasser stehen, fragt er sie: »Wo kommst denn du her? Du hast das Familiengesicht nicht.«

»Ich bin Zugeherin, Sir«, gibt Charley zur Antwort.

Der Kavallerist – wenn er überhaupt ein Kavallerist ist oder war – nimmt ihr mit einer für eine so schwere Hand auffallenden Zartheit den Hut ab und streichelt ihr den Kopf. »Du gibst dem Hause beinah ein gesundes Aussehen. Es fehlt ihm ein bißchen Jugend ebensosehr wie frische Luft.«

Dann entläßt er sie, zündet sich die Pfeife an und trinkt auf das Wohl von Mr. Smallweeds Freund in der City – der einzigen jemals vorgekommenen Ausgeburt der Phantasie des geschätzten alten Herrn.

»Sie glauben also, er würde ganz rücksichtslos gegen mich vorgehen, wie?«

»Ich glaube es… Ich fürchte es. Ich weiß, daß er es«, sagt Mr. Smallweed unvorsichtigerweise, »wohl schon zwanzig Mal getan hat.«

Unvorsichtigerweise insofern, als seine gelähmte bessere Hälfte, die mittlerweile über dem Feuer hingedröselt hat, beim Nennen der Zahl augenblicklich aufwacht und schnattert: »Zwanzigtausend Pfund, zwanzig Zwanzigpfundnoten in einem Geldkasten, zwanzig Guineen. Zwanzig Millionen. Zwanzig Prozent. Zwanzig…« Hier wird sie von dem fliegenden Kissen unterbrochen. Der Gast, dem dieses eigentümliche Verfahren ganz neu zu sein scheint, reißt es von ihrem Gesicht weg.

»Du Teufelsidiot, du Skorpion… Du Höllenskorpion! Giftkröte! Du verdammte schnatternde Besenstielhexe! Verbrennen sollte man dich!« japst der Alte, tief in seinen Stuhl versunken. »Bester Freund, möchten Sie mich nicht ein bißchen aufschütteln?!«

Mr. George, der die beiden abwechselnd angestarrt hat, als kenne er sich gar nicht mehr aus, faßt seinen verehrungswürdigen Wirt auf dessen Bitte an der Kehle, zerrt ihn im Stuhl in die Höhe wie eine Puppe und scheint zu schwanken, ob er nicht lieber alle Fähigkeit, je wieder das Kissen zu schleudern, aus ihm heraus und ihn selbst ins Grab schütteln solle. Er widersteht dieser Versuchung zwar, schüttelt ihn aber doch so heftig, daß dem Greis der Kopf wackelt wie einem Harlekin, setzt ihn derb in seinem Stuhl aufrecht und schiebt ihm seine Hauskappe mit solcher Kraft zurecht, daß der Alte eine ganze Minute lang mit den Augen zwinkert.

»O Gott«, ächzt Mr. Smallweed. »Schon gut. Danke, bester Freund, schon gut. O Gott, ich bin ganz außer Atem. O Gott!« – Mr. Smallweed hat sichtlich Furcht vor seinem »besten Freunde«, der, größer als je aussehend, immer noch vor ihm steht.

Die beunruhigende Gestalt sinkt jedoch allmählich wieder in ihren Stuhl und raucht in langen Zügen und ergeht sich in philosophischen Reflexionen wie: »Der Name des Freundes in der City fängt mit einem T an, und du hast ganz recht hinsichtlich des Wechsels.«

»Sagten Sie etwas, Mr. George?«

Der Kavallerist schüttelt den Kopf, fährt, den rechten Ellbogen auf das rechte Knie gestützt, fort zu rauchen und läßt die andere Hand auf dem linken Schenkel ruhen, den Ellbogen in soldatischer Weise auswärts gekehrt. Dabei betrachtet er Mr. Smallweed mit aufmerksamem Ernst und fächelt dann und wann die Rauchwolken weg, um das Gesicht seines Gegenübers deutlicher sehen zu können.

»Ich vermute«, sagt er und verändert seine Stellung gerade nur soviel, um das Glas an seine Lippen bringen zu können, »daß ich der einzige unter allen Lebenden oder Toten bin, der je eine Pfeife Tabak aus Ihnen herausgequetscht hat.«

»Ich sehe doch keine Gesellschaft um mich, Mr. George, die ich traktieren könnte. Ich kann es mir nicht leisten, aber da Sie in Ihrer gewinnenden Art eine Pfeife zur Bedingung gemacht haben…«

»O, es ist mir nicht um den Wert zu tun. Darum nicht. Es war nur so ein Einfall von mir, aus Ihnen etwas herauszuquetschen, etwas für mein Geld zu haben.«

»Ja, Sie sind klug, klug, Sir!« ruft Großvater Smallweed und reibt sich die Schenkel.

»Sehr klug. War ich immer.« – Paff – »Ein sicheres Zeichen für meine Klugheit, daß ich überhaupt den Weg hierher gefunden habe.« – Paff – »Auch daß ich’s zu dem gebracht habe, was ich jetzt bin.« – Paff – »Ich bin überhaupt als klug bekannt«, sagt Mr. George und raucht ruhevoll. »Ich habe es im Leben zu etwas gebracht.«

»Lassen Sie den Mut nicht sinken, Sir. Sie können noch in die Höhe kommen.«

Mr. George lacht und trinkt.

»Haben Sie keine Verwandten«, fragt Großvater Smallweed mit einem Zucken in seinen Augenlidern, »die das kleine Kapital abzahlen möchten oder eine oder zwei gute Unterschriften geben würden? Ich könnte meinen Freund in der City dann zu einem größeren Wechsel bewegen. Zwei gute Unterschriften genügen meinem Freund in der City. Haben Sie keine solchen Verwandten, Mr. George?«

Mr. George, der immer noch ruhig fortraucht, gibt zur Antwort: »Wenn ich welche hätte, würde ich sie nicht in Anspruch nehmen. Ich habe den Meinen schon Sorgen genug gemacht. Es mag vielleicht eine gute Buße für einen Vagabunden sein, der die beste Zeit seines Lebens vergeudet hat, wieder zu anständigen Leuten zurückzugehen, denen er nie Ehre gemacht hat, und sich von ihnen erhalten zu lassen. Aber das ist nicht meine Art. Die beste Art Buße fürs Fortlaufen ist meiner Ansicht nach das Fortbleiben.«

»Und die natürliche Zuneigung, Mr. George?« wirft Großvater Smallweed hin.

»Zu zwei guten Namen, wie?« Mr. George schüttelt den Kopf. »Nein, das ist auch nicht meine Art.«

Großvater Smallweed ist allmählich wieder in seinen Stuhl zu einem Bündel Kleider mit einer Stimme darin zusammengesunken, die Judy ruft. Dieser Engel erscheint, schüttelt ihn in der gewohnten Weise und hat von jetzt an neben dem alten Herrn zu bleiben. Er scheint keine Lust mehr zu verspüren, die Hilfe seines Gastes nochmals in Anspruch zu nehmen.

»Ja, ja«, bemerkt er, als er wieder in Ordnung ist. »Wenn Sie den Kapitän hätten aufspüren können, Mr. George, hätten Sie Ihr Glück gemacht. Wenn Sie damals, wo Sie infolge unsrer Zeitungsankündigungen – wenn ich sage unsrer, so meine ich die mehrerer meiner Freunde in der City, die ihr Kapital in dieser Weise anlegen und mich armen Teufel auch nebenbei eine Kleinigkeit verdienen lassen –, wenn Sie damals uns hätten helfen können, Mr. George, wären Sie heute ein gemachter Mann.«

»Ich wäre sehr gern ein gemachter Mann, wie Sie’s nennen«, sagt Mr. George, raucht aber nicht mehr so ruhig wie vorher, denn seit der Anwesenheit Judys steht er wie unter einem Zauber, wenn auch unter keinem liebreizenden, der ihn zwingt, sie anzusehen, wie sie neben ihres Großvaters Stuhl steht. »Aber im übrigen bin ich froh, daß es nicht geschehen ist.«

»Warum, Mr. George? Hölle und Schwefel… Warum?« fragt Großvater Smallweed, sichtlich gereizt.

– Hölle und Schwefel sind ihm offenbar eingefallen, weil sein Blick gerade auf die schlummernde Mrs. Smallweed gefallen ist. –

»Aus zwei Gründen, Kamerad.«

»Aus was für zwei Gründen, Mr. George? Im Namen –«

»– unsres Freundes in der City?« fragt Mr. George und nimmt einen Schluck.

»Nun ja, wenn Sie wollen. Aus was für zwei Gründen?«

»Erstens«, entgegnet Mr. George, blickt aber immer noch Judy an, als wäre es gleichgültig, wen von beiden er anredete, sie sieht doch ebenso alt und fast genau so aus wie ihr Großvater. »Erstens, weil Ihr Gentlemen mich eingetunkt habt. Ihr habt in die Zeitungen gesetzt, daß Ihr für Mr. Hawdon – oder meinetwegen Kapitän Hawdon, wenn Sie’s schon nicht anders haben wollen, weil er früher einmal Kapitän war – eine angenehme Nachricht hättet.«

»Nun, und?« fährt der Alte schrill und heftig auf.

»Nun«, sagt Mr. George und raucht ruhig weiter, »es wäre ihm wohl sehr angenehm gewesen, sich von der ganzen Wechslerzunft Londons einstecken zu lassen?«

»Woher wissen Sie das ? Einige von seinen reichen Verwandten hätten seine Schulden gezahlt oder für ihn gebürgt. Außerdem hat er uns eingetunkt. Er schuldete uns allen ohne Ausnahme ungeheure Summen. Ich hätte ihn lieber erwürgt, als ihn losgelassen. Wenn ich hier sitze«, krächzt der Alte und hält seine kraftlosen zehn Finger empor, »so möchte ich ihn jetzt noch erwürgen.« In einem plötzlichen Wutanfall wirft er mit dem Kissen nach der nichts Arges ahnenden Mrs. Smallweed, trifft sie aber nicht.

»Ich weiß ja«, beginnt der Kavallerist von neuem, nimmt seine Pfeife aus dem Mund und sieht von dem Kissen auf den Pfeifenkopf, der fast ausgebrannt ist. »Ich weiß ja, daß er’s schlimm getrieben hat und ins Verderben gerannt ist. Ich bin so manchen Tag an seiner Seite geritten, wie er in voller Karriere ins Verderben stürmte. Ich bin bei ihm gewesen in gesunden und kranken Tagen, in Reichtum und Armut. Diese Hand hat ihn zurückgehalten, als er alles vergeudet hatte und alles um ihn her zusammenbrach und er sich die Pistole an die Stirn setzte.«

»Ich wollte, er hätte sie abgedrückt«, flucht der wohlwollende alte Herr, »und sich den Kopf in so viele Stücke zersprengt, als er Sovereigns schuldig war.«

»Das hätte freilich einen Krach gegeben«, antwortet der Kavallerist kaltblütig. »Jedenfalls ist er damals jung, voll Hoffnungen und schön gewesen, und es freut mich, daß ich ihn, als er es nicht mehr war, nicht aufgefunden habe, um ihm zu Ihrer angenehmen Nachricht zu verhelfen. Das ist Grund Numero 1.«

»Ich hoffe, Numero 2 ist ebensogut«, knurrt der Alte.

»Nun, nein. Der ist selbstsüchtiger. Wenn ich ihn hätte finden wollen, hätte ich ihn in einer andern Welt suchen müssen.«

»Woher wissen Sie das ?«

»Er war nicht mehr hier.«

»Woher wissen Sie, daß er nicht mehr hier war?«

»Verlieren Sie nicht Ihre Laune, wie Sie Ihr Geld verloren haben«, sagt Mr. George und klopft ruhig seine Pfeife aus. »Er ertrank schon lange vorher. Davon bin ich überzeugt. Er ist über Bord gegangen. Ob absichtlich oder zufällig, weiß ich nicht. Vielleicht weiß es Ihr Freund in der City. Kennen Sie diese Melodie, Mr. Smallweed?« setzt er hinzu und fängt an zu pfeifen und schlägt dazu den Takt mit der leeren Pfeife auf dem Tisch.

»Melodie?« entgegnet der Alte. »Nein! Mit Melodien haben wir hier nichts zu schaffen.«

»Es ist der Totenmarsch aus Saul. Sie spielen ihn bei Soldatenbegräbnissen. Daher ist’s der natürliche Abschluß der Sache. Nun, wenn Ihre hübsche Enkelin – Sie entschuldigen schon, Miß – sich herablassen will, diese Pfeife zwei Monate lang aufzuheben, brauchen wir das nächste Mal keine zu kaufen. Guten Abend, Mr. Smallweed.«

»Bester Freund!« Der Alte streckt ihm beide Hände hin.

»Sie glauben also, Ihr Freund in der City würde kein Erbarmen haben, wenn ich das nächste Mal nicht zahlte«, fragt der Kavallerist und sieht wie ein Riese auf den Alten herunter.

»Bester Freund, das fürchte ich sehr«, sagt Mr. Smallweed und blickt wie ein Pygmäe zu ihm auf.

Mr. George lacht und schreitet, mit einem Blick auf den Großvater und einem Abschiedsgruß auf die wütende Judy, zum Zimmer hinaus und rasselt mit seinem imaginären Säbel und seinem Küraß davon.

»Verdammter Schurke!« sagt der alte Ehrenmann und schneidet der Tür eine scheußliche Grimasse, wie sie sich schließt. »Ich werde dich schon noch leimen!«

Nach dieser liebenswürdigen Bemerkung schwingt sich sein Geist wieder in die Zauberregionen seines Denkens, die ihm seine Erziehung und seine Lebensweise erschlossen haben, und wieder verdämmern er und Mrs. Smallweed ihre rosigen Stunden wie zwei Schildwachen, die der schwarze Sergeant vergessen hat.

Während das Paar getreulich auf seinem Posten ausharrt, schreitet Mr. George mit gewichtigem Schritt und ernstem Gesicht durch die Straßen. Es ist acht Uhr, und der Tag neigt sich seinem Ende zu.

Er bleibt dicht bei der Waterloobrücke stehen, liest einen Theaterzettel und entschließt sich, in Astleys Theater zu gehen. Dort freut er sich an den Pferden und den Kraftstücken, betrachtet die Waffen mit kritischem Blick, mißbilligt die Gefechte, weil sie von mangelhafter Fechtkunst zeugen, wird aber tief gerührt von der Poesie. Bei der letzten Szene, wo der Kaiser der Tartaren in den Wagen steigt und die vereinten Liebenden segnet, indem er die englische Flagge über ihnen schwingt, werden seine Wimpern feucht.

Als das Stück aus ist, geht Mr. George wieder über die Brücke und wendet seine Schritte nach der merkwürdigen Region um Hay-Market und Leicester-Square, dem Mittelpunkt ausländischer Hotels und zweideutiger Fremder, Ballhäuser, Boxer, Fechtmeister, Fußgardisten, alter Porzellanläden, Spielhäuser, Ausstellungen und eines großen Gemischs von Schäbigkeit und lichtscheuem Treiben. Im Herzen dieser Region angelangt, erreicht er durch einen Hof und einen langen weißgetünchten Durchlaß ein großes Ziegelgebäude, das aus nackten Wänden, Dachbalken und Dachfenstern besteht und an dessen Vorderseite, wenn man es so nennen kann, in großen Buchstaben steht:

Georges Schießgalerie usw.

Er geht in »Georges Schießgalerie usw.«. Darin erblickt man einige Gaslampen, die jetzt zum größten Teil abgedreht sind, zwei weiß angestrichene Scheibenstände und Einrichtungen zum Bogenschießen, Fechtzeug und alle Erfordernisse für Boxkunst.

An diesem Abend ist in Georges Schießgalerie keine dieser sportlichen Übungen in Gang, und ein kleiner grotesk aussehender Mann mit einem großen Kopf ist hier Alleinherrscher und liegt schlafend auf dem Fußboden.

Der kleine Mann ist wie ein Büchsenmacher gekleidet, trägt eine grünwollene Schürze und Mütze, und sein Gesicht und seine Hände sind schmutzig von Pulver und vom Laden von Gewehren. Wie er vor einer grellweißen Scheibe im Lichtschein liegt, sieht man die schwarzen Flecken an ihm um so deutlicher. Nicht weit von ihm steht ein fester, grob gehobelter Tisch mit einem Schraubstock, an dem er gearbeitet hat. Er ist ein kleiner Mann mit einem ganz zerhauenen Gesicht, der nach dem blaugefleckten Aussehen einer seiner Backen zu urteilen im Lauf des Geschäfts ein paar abgekriegt zu haben scheint.

»Phil«, sagt der Kavallerist ruhig.

»Zu Befehl!« Phil springt auf.

»Wie war das Geschäft?«

»Flau wie Dünnbier«, berichtet Phil. »Fünf Dutzend Büchsen- und ein Dutzend Pistolenschüsse. Und das Ziel!« Phil stößt bei dem Gedanken daran ein Geheul aus.

»Sperr zu, Phil!«

Wie Phil im Saal herumgeht, um den Auftrag auszuführen, zeigt es sich, daß er lahm ist, obgleich er sich sehr rasch vom Fleck bewegt. Auf der fleckigen Seite seines Gesichts hat er keine Augenbraue. Auf der andern eine sehr buschige schwarze, was ihm ein sehr eigentümliches und fast finsteres Aussehen verleiht. Seinen Händen scheint alles zugestoßen zu sein, was ihnen nur ohne Fingerverlust zustoßen konnte; sie sind über und über gekerbt, vernarbt und verkrümmt. Er scheint sehr stark zu sein und hebt schwere Bänke, als habe er gar keinen Begriff von ihrer Last. Er hat eine seltsame Art, sich mit der Achsel an der Wand entlang zu schieben und nach Gegenständen, die er sucht, hinzulavieren, anstatt gerade auf sie loszugehen, wodurch um die ganze Galerie herum ein Schmutzstreifen an der Wand entstanden ist, den die Leute »Phils Unterschrift« nennen.

Dieser Aufseher von Georges Galerie – George selbst ist manchmal nicht anwesend – beendigt jetzt, nachdem er die großen Türen geschlossen und alle Flammen bis auf eine ausgedreht hat, seine Vorkehrungen damit, daß er aus einem hölzernen Verschlag in der Ecke zwei Matratzen mit Bettzeug herauszieht. Sie werden an die entgegengesetzten Enden der Galerie geschleppt, und dann macht sich jeder seine Lagerstätte zurecht.

»Phil«, sagt der Galeriedirektor, geht ohne Rock und Weste auf ihn zu und sieht in seinen Hosenträgern noch soldatischer aus. »Man hat dich in einem Hausflur gefunden, was?«

»In der Gosse«, berichtigt Phil. »Der Nachtwächter ist über mich gestolpert.«

»Da ist dir das Vagabundieren schon von Anfang an zur zweiten Natur geworden?«

»Zweiten Natur geworden«, nickt Phil.

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Gouverneur.«

Phil kann nicht einmal auf das Bett direkt zugehen, sondern muß sich erst an zwei Seiten der Galerie hinwetzen, um dann auf die Matratze zuzulavieren.

Der Kavallerist geht noch ein paar Mal auf und ab, blickt zu dem durch die Dachfenster hereinscheinenden Mond hinauf, begibt sich auf einem kürzeren Weg als sein Aufseher zu seiner Matratze und legt sich ebenfalls schlafen.

22. Kapitel


22. Kapitel

Mr. Bucket

Die Allegorie in Lincoln’s-Inn-Fields sieht ziemlich kühl drein, obgleich der Abend schwül ist, denn beide Fenster Mr. Tulkinghorns stehen weit offen, und das Zimmer ist hoch, luftig und schattig. Das sind vielleicht, wenn der November kommt mit Nebel und Regen oder der Januar mit Eis und Schnee, keine sehr wünschenswerten Eigenschaften, aber sie haben ihre guten Seiten während der Hundstage. Sie ermöglichen es der Allegorie, obgleich sie Backen hat wie Pfirsiche und Knie wie Blumensträuße und rosenrot geschwollen ist an Waden und Armmuskeln, heute abend ziemlich kühl auszusehen. Staub fliegt in Menge zu Mr. Tulkinghorns Fenster herein und hat sich auf den Möbeln und Akten angehäuft. In dicken Schichten liegt er überall. Wenn ein Windhauch vom Lande her sich hereinverirrt und in blinder Hast wieder hinauswehen will, streut er der Allegorie soviel Staub in die Augen, wie das Gesetz – oder Mr. Tulkinghorn, einer seiner treuesten Anhänger – gelegentlich der Laienwelt in die Augen zu streuen pflegt.

In diesem dumpfigen Magazin voll von Staub, jenem alles durchdringenden Artikel, in den sich seine Akten und er selbst und alle seine Klienten und alle irdischen Dinge, belebte und unbelebte, dereinst auflösen werden, sitzt Mr. Tulkinghorn an einem der offenen Fenster und erfreut sich an einer Flasche alten Portweins. Obgleich ein hartgesottener Mann, verschlossen, trocken und still, liebt er doch alten Wein zuweilen. Er hat einen unschätzbaren Portwein in einem versteckten Keller unter den Fields, der eins seiner vielen Geheimnisse ist. Wenn er allein zu Hause speist, wie er es heute getan hat, und sich seinen Fisch, sein Beefsteak oder Huhn aus dem benachbarten Restaurant bringen läßt, steigt er mit einer Kerze in die hallenden Regionen unter dem verlassenen Gebäude hinab und kehrt, angemeldet von dem fernen Donnerhall zufallender Türen, zurück, umduftet von Erdatmosphäre und in der Hand eine Flasche mit fünfzig Jahre altem, funkelndem Nektar, der dann im Glase über seine eigne Berühmtheit errötet und das ganze Gemach mit dem Dufte südlicher Trauben erfüllt.

Mr. Tulkinghorn sitzt in der Dämmerung am offnen Fenster und freut sich seines Weines. Als ob er ihm von fünfzig Jahre langem Schweigen zuraune, macht er ihn nur noch verschlossener und zugeknöpfter. Undurchdringlicher als je sitzt Mr. Tulkinghorn da und trinkt und denkt in dieser Zwielichtstunde über alle seine Geheimnisse nach, die sich für ihn an dunkelnde Waldungen auf dem Land und an große leere verschlossene Häuser in der Stadt knüpfen. Und vielleicht hat er auch ein paar Gedanken übrig an seine eigne Familiengeschichte, an sein Geld und sein Testament, das allen ein Geheimnis ist, und an seinen einzigen Junggesellenfreund, der ebenso wie er Advokat gewesen und dasselbe Leben geführt hatte, bis er mit fünfundsiebzig Jahren es plötzlich zu einsam fand, an einem Sommerabende seinem Friseur seine goldne Uhr schenkte, ruhig nach Hause in den »Tempel« ging und sich erhängte.

Aber Mr. Tulkinghorn ist heute abend nicht allein und kann sich daher seinem gewohnten Nachsinnen nicht überlassen. Am Tisch mit ihm, wenn auch mit bescheiden ein wenig weggezogenem Stuhl sitzt ein kahlköpfiger milder Mann mit glänzender Platte, der ehrerbietig hinter der Hand hüstelt, wenn der Advokat ihn auffordert, sich einzuschenken.

»Nun, Snagsby«, sagt Mr. Tulkinghorn, »erzählen Sie diese seltsame Geschichte noch einmal.«

»Bitte sehr, Sir. Sie sagten mir, als Sie so gütig waren, gestern abend einen Sprung herüber zu machen – ich bitte zu entschuldigen, daß ich mir die Freiheit genommen habe, Sir, aber ich erinnerte mich Ihres Interesses für den Verstorbenen und dachte, – Sie könnten, das heißt, Sie wollten vielleicht…«

Mr. Tulkinghorn ist nicht der Mann, der einem einen Satz ergänzen oder irgendeine ihn betreffende Möglichkeit zugeben würde. So verliert sich Mr. Snagsby mit einem verlegenen Hüsteln wieder in die Worte:

»Ich bitte zu entschuldigen, wenn ich mir die Freiheit genommen habe.«

»Keine Ursache«, sagt Mr. Tulkinghorn. »Sie erwähnten vorhin, Snagsby, Sie hätten Ihren Hut aufgesetzt und seien zu mir gekommen, ohne Ihrer Frau etwas davon zu sagen. Ich denke, das war recht klug. Die Sache ist nicht wichtig genug, um viel Aufhebens davon zu machen.«

»Ja, sehen Sie, Sir«, entgegnet Mr. Snagsby. »Meine kleine Frau ist – um nicht durch die Blume zu sprechen – vielleicht ein wenig neugierig. Sie ist neugierig. Armes kleines Ding, sie leidet an Krämpfen, und es tut ihr gut, wenn sie eine Ablenkung hat. Deshalb bemächtigt sie sich, ich möchte fast sagen, jedes Themas, das in ihren Bereich kommt, mag es sie etwas angehen oder nicht, besonders, wenn es sie nichts angeht. Meine kleine Frau ist geistig sehr regsam, Sir!«

Mr. Snagsby trinkt und murmelt mit einem bewundernden Hüsteln hinter der Hand: »Wahrhaftig, ein exzellenter Wein!«

»Deshalb erwähnten Sie zu Hause nichts von Ihrem gestrigen Besuch?« fragt Mr. Tulkinghorn. »Und von Ihrem heutigen desgleichen nichts?«

»Nein, Sir. Und von dem heutigen desgleichen nichts. Meine kleine Frau ist gegenwärtig – um nicht durch die Blume zu sprechen – fromm gestimmt, oder glaubt es wenigstens, und besucht die abendlichen geistlichen Übungsstunden – so nennt sie sie – eines gewissen Reverend namens Chadband. Er verfügt zweifellos über eine große Beredsamkeit. Aber der Stil gefällt mir nicht besonders. Doch das gehört nicht her. Da meine kleine Frau in dieser Weise beschäftigt ist, wurde es mir leichter, unauffällig einen Sprung herüberzumachen.«

Mr. Tulkinghorn nickt beistimmend. »Schenken Sie sich ein, Snagsby!«

»O, ich danke bestens, Sir«, entgegnet der Papierhändler mit seinem ehrerbietigen Husten. »Wirklich, ein wundervoller Wein, Sir.«

»Es ist ein jetzt selten gewordner Wein«, nickt Mr. Tulkinghorn. »Er ist fünfzig Jahre alt.«

»Was Sie sagen, Sir! Aber es wundert mich eigentlich gar nicht. Er könnte geradesogut – beliebig alt sein.«

Nach dieser allgemeinen Lobspende auf den Portwein hüstelt Mr. Snagsby hinter der Hand seinen Bescheidenheitshusten, als wolle er sich entschuldigen, daß er überhaupt so etwas Kostbares zu trinken wage.

»Möchten Sie nicht noch ein Mal wiederholen, was der Junge sagte?« Mr. Tulkinghorn steckt die Hände in die Taschen seiner rostigen Kniehosen und lehnt sich ruhevoll in seinen Stuhl zurück.

»Mit Vergnügen, Sir.«

Getreulich, wenn auch etwas weitschweifig, geht der Papierhändler durch, was Jo vor den versammelten Gästen in seinem Hause erzählt hat. Am Ende seiner Geschichte angelangt, fährt er plötzlich erschrocken auf und bricht ab mit einem: »Mein Gott, Sir, ich wußte gar nicht, daß noch jemand anders hier anwesend ist.«

Mr. Snagsby ist ganz erregt, weil er in einer kleinen Entfernung vom Tisch zwischen sich und dem Advokaten eine Person mit aufmerksamem Gesicht, Hut und Stock in der Hand, stehen sieht, die anfänglich nicht da war und inzwischen weder durch die Tür noch zu den Fenstern hereingekommen ist. Es steht wohl ein Schrank im Zimmer, aber seine Angeln haben nicht geknarrt, und man hat keinen Tritt auf dem Fußboden gehört. Und dennoch steht diese dritte Person jetzt da mit aufmerksamem Gesicht, Hut und Stock in der Hand und die Hände auf dem Rücken; ein stummer aufmerksamer Zuhörer.

Er ist ein untersetzter, kräftig gebauter, solid aussehender, schwarzgekleideter Mann mit scharfen Augen und in mittleren Jahren. Abgesehen davon, daß er Mr. Snagsby ins Auge faßt, als wolle er ihn porträtieren, ist auf den ersten Blick nichts Auffälliges an ihm; wenn nur sein gespenstisches Kommen nicht gewesen wäre.

»Sie brauchen wegen des Herrn nicht zu erschrecken«, sagt Mr. Tulkinghorn in seiner gelassenen Weise. »Es ist nur Mr. Bucket.«

»Ach so, Sir«, entgegnet der Papierhändler und deutet durch einen Husten an, daß er keine Ahnung hat, wer Mr. Bucket sein mag.

»Ich wollte, daß er die Geschichte mit anhöre«, erklärt der Advokat. »Aus einem gewissen Grunde hätte ich halb und halb Lust, mehr davon zu erfahren, und er kennt sich in solchen Dingen aus. Was meinen Sie dazu, Bucket?«

»Sehr einfach, Sir. Da unsre Schutzleute den Jungen von seinem Standpunkt abgeschoben haben und er auf seinem alten Strich nicht sein kann, ist es nicht schwer, ihn in weniger als ein paar Stunden herzubringen, wenn Mr. Snagsby nichts dagegen hat, mit mir einen Besuch in ‚Toms Einöd‘ zu machen, um ihn mir zu zeigen. Ich kann es natürlich auch ohne Mr. Snagsby tun. Aber das ist der kürzeste Weg.«

»Mr. Bucket ist Polizeidetektiv, Snagsby«, erklärt der Advokat.

»Was Sie nicht sagen, Sir!« stammelt Mr. Snagsby und fühlt in seinem Haarbüschel eine Neigung, als wolle er sich aufrichten.

»Und wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Bucket an den fraglichen Ort zu begleiten«, fährt der Advokat fort, »würden Sie mich wirklich sehr verpflichten.«

Mr. Snagsby zögert nur einen Augenblick, aber schon hat Mr. Bucket seine Seele bis auf den Grund sondiert.

»Sie brauchen keine Angst um den Jungen zu haben«, sagt er. »Es geschieht ihm durchaus nichts. Er hat nichts angestellt. Wir wollen ihn nur hier haben, um ihm ein paar Fragen vorzulegen, und er wird für seine Mühe bezahlt und dann wieder entlassen werden. Er wird ein gutes Geschäft dabei machen. Ich verspreche Ihnen als Mensch, daß der Junge anstandslos wieder entlassen werden wird. Haben Sie keine Angst, daß Sie ihm schaden. Sie brauchen das nicht zu befürchten.«

»Also gut, Mr. Tulkinghorn!« ruft Mr. Snagsby fröhlich und beruhigt aus. »Da das der Fall ist…«

»Ja. Übrigens hören Sie mal, Mr. Snagsby«, nimmt Bucket den Papierhändler beiseite und klopft ihm gemütlich auf die Brust. »Sie sind ein Mann von Welt, verstehen Sie, und ein Geschäftsmann und ein verständiger Mensch. Das wissen wir.«

»Ich bin Ihnen sehr für Ihre gute Meinung verbunden«, antwortet der Stationer mit seinem Bescheidenheitshüsteln, »aber…«

»Das sind Sie bestimmt«, versichert Bucket. »Daher ist es überflüssig, einem Mann wie Ihnen, der einem Geschäft vorsteht, das Vertrauenssache ist und eine Person erfordert, die die Augen offen und alle ihre fünf Sinne beisammen hat und den Kopf gerade hält – ist es überflüssig, einem Mann wie Ihnen zu sagen, daß es das Beste und Klügste ist, über derlei kleine Dinge den Mund zu halten. Verstehen Sie mich wohl, den Mund zu halten!«

»Gewiß, gewiß«, beteuert der Papierhändler.

»Ihnen kann ich’s ja sagen«, fährt Bucket mit einer gewinnend offenherzigen Miene fort. »Soweit ich die Sache durchschaue, scheint der Verstorbene auf eine kleine Erbschaft Anspruch gehabt zu haben, und das Frauenzimmer hat ihm vermutlich einige Streiche gespielt.«

»Oh«, versichert Mr. Snagsby. Aber die Sache scheint ihm nicht besonders einzuleuchten.

»Sie sehen es gewiß gern«, Mr. Bucket klopft Mr. Snagsby wieder gemütlich und beruhigend auf die Brust, »daß jeder zu seinem Rechte kommt. Das ist gewiß auch Ihr Wunsch.«

»Natürlich!« nickt Mr. Snagsby.

»Also Ihnen und zugleich einem Kunden oder Klienten zuliebe… Wie nennen Sie es in Ihrem Geschäft? Ich habe vergessen, wie mein Onkel, der früher einmal bei Ihnen im Geschäft war, es nannte.«

»Nun, ich sage meistens Kunde«, entgegnet Mr. Snagsby.

»Sie haben recht!« Mr. Bucket schüttelt ihm freundschaftlich die Hand. »Ihnen und zu gleicher Zeit einem wirklich guten Kunden zuliebe werden Sie mit mir ganz im Vertrauen einen Besuch in ‚Toms Einöd‘ machen und über die ganze Geschichte für alle Zeiten schweigen und sie niemandem gegenüber erwähnen. Das ist so etwa Ihre Absicht, wenn ich Sie recht verstehe.«

»Sie haben ganz recht, Sir, Sie haben ganz recht«, sagt Mr. Snagsby. »Also hier ist Ihr Hut; und wenn Sie fertig sind, ich bin bereit.«

Die beiden verlassen Mr. Tulkinghorn, der, ohne daß sich die Oberfläche seiner unergründlichen Tiefen auch nur im geringsten kräuselt, seinen alten Wein weitertrinkt, und treten auf die Straße.

»Sie kennen wohl nicht zufällig einen wackern Mann namens Gridley, oder ja?« fragt Bucket freundschaftlich so nebenbei, als sie die Treppe heruntergehen.

»Nein«, sagt Mr. Snagsby nachdenklich. »Ich kenne niemanden dieses Namens. Warum?«

»Es ist nichts Besonderes. Er hat ein bißchen seinem Temperament die Zügel schießen lassen, sich gegen einige respektable Leute Drohungen erlaubt und hält sich jetzt vor einem Vorführungsbefehl versteckt, den ich gegen ihn habe –, was ein vernünftiger Mann nicht tun sollte.«

Wie sie durch die Straßen eilen, macht Mr. Snagsby die merkwürdige Beobachtung, daß, so schnellen Schrittes sie auch gehen, sein Begleiter stets in einer ganz undefinierbaren Art zu lauern und zu schleichen scheint und jedes Mal, wenn er rechts oder links abbiegen will, vorher den festen Vorsatz heuchelt, geradeaus zu gehen und erst im allerletzten Augenblick knapp abschwenkt. Dann, wenn sie an einem Polizeimann vorbeikommen, bemerkt Mr. Snagsby, daß sowohl der Konstabler wie auch Mr. Bucket auffallend zerstreut werden, einander ganz übersehen und ins Leere zu blicken scheinen.

Ein paar Mal holt Mr. Bucket einen oder den andern klein gewachsenen jungen Mann mit einem glänzenden Hut und glattem, zu großen Locken an jedem Ohr gedrehtem Haar ein und berührt ihn, fast ohne ihn anzusehen, mit seinem Stock, worauf sich jedes Mal der betreffende junge Mann umsieht und augenblicklich verduftet. Meistens nimmt Mr. Bucket derlei Vorgänge mit einem Gesicht zur Kenntnis, das sich so wenig verändert wie der große Trauerring an seinem kleinen Finger oder sein Chemisettknopf, der nicht besonders viel Diamanten, aber dafür eine sehr dicke Fassung hat.

Als sie endlich ‚Toms Einöd‘ erreichen, bleibt Mr. Bucket einen Augenblick an der Ecke stehen, läßt sich von dem dort patrouillierenden Schutzmann eine angezündete Blendlaterne geben, worauf ihn dieser, die eigne Blendlaterne am Gürtel, begleitet.

Zwischen seinen beiden Führern geht Mr. Snagsby eine greuliche Gasse ohne Abzugskanäle entlang durch tiefe Schichten von schwarzem Schlamm und fauligem Wasser – trotzdem um diese Zeit in allen andern Stadtteilen die Straßen trocken sind –, durch scheußliche Gerüche und Szenerien, daß er kaum seinen Sinnen traut, wo er doch sein ganzes Leben in London verbracht hat. Von dieser Straße und ihren Trümmerhaufen zweigen andre Straßen und Höfe von so unflätigem Aussehen ab, daß Mr. Snagsby an Leib und Seele ganz krank wird und jeden Augenblick in den höllischen Abgrund zu versinken fürchtet.

»Treten Sie ein bißchen zur Seite, Mr. Snagsby«, sagt Bucket, als eine Art schäbiger Palankin, von einer lärmenden Menge umgeben, sich ihnen nähert. »Da kommt das Fieber die Gasse herauf.«

Wie der unsichtbare Kranke vorübergetragen wird, verläßt die Menge diesen anziehenden Gegenstand und drängt sich wie ein Traumbild voll grauenhafter Gesichter um die drei Fremden und verschwindet in Gäßchen unter Trümmern oder hinter Mauern und behält sie von weitem im Auge, gelegentliche Warnungsrufe und gellende Pfiffe ausstoßend, bis sie die Gegend verlassen.

»Sind das die Fieberhäuser, Darby?« fragt Mr. Bucket kaltblütig, wie er seine Blendlaterne eine Reihe stinkender Ruinen entlang leuchten läßt.

Darby bestätigt es und erwähnt, daß seit vielen Monaten die Leute zu Dutzenden drin »umgestanden« seien oder sterbend hinausgetragen wurden wie »rotzkranke Schafe«.

Als Bucket, wie sie weitergehen, zu Mr. Snagsby bemerkt, er finde ihn etwas angegriffen aussehend, antwortet ihm Mr. Snagsby, er glaube, er könne die schreckliche Luft nicht mehr länger einatmen.

In verschiedenen Häusern fragen sie nach einem Jungen namens Jo. Da in ‚Toms Einöd‘ nur wenige Leute nach Taufnamen bekannt sind, so wird Mr. Snagsby viel gefragt, ob er »Rotkopf« meine oder den »Oberst« oder »Galgennagel« oder »Spitzmeisl«, »Terrier Tip« oder »Lanky« oder »Baron«. Mr. Snagsby beginnt seine Beschreibung immer wieder von vorn. Die Meinungen, wer das Original des Bildes sei, sind geteilt. Die einen meinen, es müsse »Rotkopf« sein, die andern stimmen für den »Baron«. Der »Oberst« wird vorgeführt, entspricht aber der Schilderung nicht im mindesten. Wo Mr. Snagsby und seine Begleiter stehen bleiben, umflutet sie das Gedränge, und aus seinen schmutzigen Tiefen schöpft Mr. Bucket diensteifrigen Rat. Wenn sie weitergehen und die Blendlaterne leuchten lassen, strömt es wieder zurück und behält sie die Gäßchen entlang, in Ruinen und hinter Mauern, im Auge wie vorhin.

Endlich finden sie eine Spelunke, wo der »Schmier-Ober« die Nacht zubringt, und man kommt auf den Gedanken, der »Schmier-Ober« könne Jo sein. Ein Frage- und Antwortspiel zwischen Mr. Snagsby und der Eigentümerin des Hauses – einem versoffenen Gesicht, in ein schwarzes Bündel gehüllt, das aus einem Haufen Lumpen auf dem Fußboden einer Hundehütte, die ihr Privatwohnraum ist, hervorstiert – bringt sie auf diesen Gedanken. Der »Schmier-Ober« sei zum Arzt gegangen, um für eine Kranke eine Flasche Medizin zu holen, werde aber bald wieder da sein.

»Und wen haben wir heute nacht hier?« fragt Mr. Bucket, öffnet eine andre Tür und leuchtet mit der Blendlaterne hinein. »Zwei Betrunkene, he, und zwei Frauenzimmer? Die Männer sind vorläufig gut aufgehoben«, setzt er hinzu und zieht den Schlafenden die Arme vom Gesicht, um sie anzusehen. »Sind das eure Zuhälter, ihr Täubchen?«

»Ja, Sir«, gibt eins der Frauenzimmer zur Antwort. »Es sind unsre Männer.«

»Ziegelstreicher, was?«

»Ja, Sir.«

»Was macht ihr hier? Ihr gehört doch nicht nach London.«

»Nein, Sir. Wir gehören nach Hertfordshire.«

»Wohin in Hertfordshire?«

»Nach St. Albans.«

»Ihr seid auf der Walze, was?«

»Wir sind gestern herübergewandert. Wir haben jetzt unten bei uns keine Arbeit. Aber hier wird es nicht besser werden, fürchte ich.«

»Das ist nicht der Ort, um es zu was zu bringen«, sagt Mr. Bucket und wirft einen Blick auf die bewußtlosen Gestalten auf dem Boden.

»No, na«, antwortet die Frau mit einem Seufzer. »Jenny und ich wissen dös recht gut.«

Das Zimmer ist, wenn auch zwei oder drei Fuß höher als die Tür, doch so niedrig, daß keiner der drei Besucher, ohne nicht an die geschwärzte Decke zu stoßen, aufrecht stehen kann. Es verletzt jeden Sinn. Selbst die Talgkerze brennt blaß und kränklich in der vergifteten Luft. An der Wand stehen ein paar Bänke und eine höhere Bank als Tisch. Die Männer sind eingeschlafen, wo sie hingestolpert sind, und die Weiber sitzen bei der Kerze. In den Armen der Frau, die eben gesprochen hat, liegt ein winziger Säugling.

»Nun, wie alt soll denn das kleine Geschöpf sein?« fragt Mr. Bucket. »Es sieht ja aus, als wäre es erst gestern geboren.«

Er hat jetzt gar nichts Barsches an sich, und wie er sein Licht vorsichtig auf das Kind fallen läßt, wird Mr. Snagsby ganz seltsam an ein andres gewisses Kind erinnert, das auf Bildern von Glanz umstrahlt ist.

»Es ist noch nicht drei Wochen alt, Sir.«

»Ist es Ihr Kind?«

»Ja, meins.«

Die andre Frau, die sich darüber gebeugt hatte, als sie eingetreten waren, beugt sich jetzt wieder zu dem Kleinen herab und küßt es.

»Sie scheinen es so lieb zu haben, als ob Sie selbst seine Mutter wären«, sagt Mr. Bucket.

»Ich hatte grad so eins, Master, aber es ist gestorben.«

»Ach, Jenny«, sagt die andre Frau zu ihr, »besser so. Besser, s ist tot als lebendig, Jenny! Viel besser.«

»Was! Sie sind doch nicht so unnatürlich, hoffe ich«, sagt Mr. Bucket streng, »daß Sie Ihrem eignen Kind den Tod wünschen?«

»Gott weiß, daß Sie recht haben, Master. Gewiß bin ich nicht so. Ich würde mein eignes Leben dafür hergeben. So gut wie irgend eine vornehme Dame.«

»Dann sprechen Sie nicht so lästerlich«, sagt Mr. Bucket wieder besänftigt. »Warum tun Sie das?«

»Es kommt mir so in den Kopf, Master, wenn ich das Kind so liegen seh«, entgegnet die Frau, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Wenn es nie wieder aufwachen sollte, würden Sie mich für wahnsinnig halten, so würde ich mich gebärden. Ich weiß das ganz genau. Ich war dabei, wie Jenny das ihre verloren hat – nicht wahr, Jenny –, und ich weiß, wie es sie gepackt hat. Aber schaun Sie sich hier um. Schaun Sie die da«, sagt sie mit einem Blick auf die beiden Schlafenden auf dem Boden. »Schaun Sie sich den Jungen an, der ausgegangen ist, um mir einen Gefallen zu tun. Denken Sie an die Kinder, die Ihnen gewiß oft vorkommen und die Sie aufwachsen sehen.«

»Nun, nun. Sie werden den Kleinen anständig aufziehen, und er wird Ihnen ein Trost sein und im Alter für Sie sorgen«, tröstet Mr. Bucket.

»Ich werde gewiß mein möglichstes tun«, antwortet sie und wischt sich die Augen. »Aber wie ich heut ganz matt und nicht wohl vom Fieber gewesen bin, hab ich an alles das gedacht, was ihm in den Wegkommen wird. Mein Mann wird ihn nicht leiden können, und er wird Prügel kriegen und wird mich prügeln sehen, und es wird ihm zu Haus nicht gefallen, und er wird herumstreunen. Drum, wenn ich ihn da so liegen seh, denk ich mir, es war am besten, er war gestorben wie der Jenny ihr Kind.«

»Laß, laß!« sagt Jenny. »Liz, du bist müd und krank. Ich werd das Kind nehmen.«

Sie tut das und bringt dabei das Kleid der Mutter in Unordnung, deckt es aber rasch wieder über die wundgeschlagne Brust, an der der Säugling gelegen hat.

»Wenn ich an mein totes Kind denk«, sagt Jenny und geht, den Säugling auf dem Arm schaukelnd, auf und ab, »hab ich das Kleine hier so gern. Und ihr geht’s geradso. Ich denk mir, was ich alles drum geben möcht, könnt ich mein Kind wieder haben. Aber wir meinen innerlich ganz dasselbe.«

Während sich Mr. Snagsby schneuzt und ein Hüsteln der Teilnahme hören läßt, vernimmt man draußen einen Schritt. Mr. Bucket leuchtet mit seiner Laterne in den Eingang und sagt zu Mr. Snagsby:

»Was sagen Sie jetzt? Ist es der Schmier-Ober?«

»Es ist Jo«, bestätigt Mr. Snagsby.

Jo steht ganz erstaunt in dem hellen Lichtkreis wie eine zerlumpte Gestalt in einer Laterna magica und zittert bei dem Gedanken, gegen das Gesetz verstoßen zu haben und nicht weit genug fort gegangen zu sein. Da ihm jedoch Mr. Snagsby die tröstliche Versicherung gibt: »Es geschieht dir nichts und du kriegst Geld, Jo«, erholt er sich wieder und erzählt draußen, wohin ihn Mr. Bucket zu einer kleinen Privatunterhaltung hinführt, seine Geschichte fließend, wenn auch atemlos.

»Ich habe den Burschen vernommen«, sagt Mr. Bucket, als er zurückkommt, »und es stimmt schon. Also, Mr. Snagsby, wir sind bereit.«

Zuerst vollendet Jo seinen Liebesdienst damit, daß er die Medizin, die er geholt hat, der Frau mit der lakonischen mündlichen Vorschrift übergibt, daß alles auf einmal einzunehmen sei.

Zweitens legt Mr. Snagsby eine halbe Krone auf den Tisch, sein gewöhnliches Allheilmittel für eine unermeßliche Zahl von Leiden.

Drittens faßt Mr. Bucket Jo ein wenig oberhalb des Ellbogens am Arm, um ihn vor sich herzuschieben, denn ohne dies Verfahren kann doch weder der »Schmier-Ober« noch irgend jemand anders in vorschriftsmäßiger Weise nach Lincoln’s-Inn-Fields gebracht werden. Nachdem alle diese Anordnungen getroffen sind, wünschen sie den Frauenzimmern gute Nacht und treten wieder in die schwarze faulende ‚Toms Einöd‘.

Auf denselben stinkenden Wegen, durch die sie in diesen Schlund hinabgestiegen sind, gelangen sie allmählich wieder hinaus. Die Menge umwogt sie und pfeift und belauert sie, bis sie den Rand erreichen, wo Darby seine Blendlaterne wieder zurückerhält. Hier flieht die Menge wie eine Schar gefangen gehaltener Dämonen mit gellendem Gekreisch zurück und wird nicht mehr gesehen.

Sie gehen und fahren jetzt durch die helleren und luftigeren Straßen, die Mr. Snagsby noch nie so hell und luftig vorgekommen sind, bis sie an Mr. Tulkinghorns Haustür kommen.

Mr. Tulkinghorns Bureau ist im ersten Stock, und als sie die halberleuchteten Treppen hinaufsteigen, erwähnt Mr. Bucket, daß er den Schlüssel in der Tasche habe und sie nicht zu klingeln brauchten.

Für einen in solchen Dingen so bewanderten Mann braucht Bucket merkwürdig lang zum Öffnen der Tür und verursacht auch einigen Lärm. Vielleicht macht er damit jemand aufmerksam.

Endlich treten sie in das Vorzimmer, wo eine Lampe brennt, und dann in Mr. Tulkinghorns gewöhnliches Zimmer, wo er heute abend seinen alten Wein trank. Er ist nicht da, wohl aber seine beiden altmodischen Leuchter, und der Raum ist leidlich hell.

Mr. Bucket, der Jo immer noch mit vorschriftsmäßigem Griff festhält und nach Mr. Snagsbys Ansicht eine unbegrenzte Zahl von Augen zu besitzen scheint, macht ein paar Schritte in das Zimmer, da fährt Jo plötzlich zurück und bleibt stehen:

»Was gibt’s?« fragt Bucket flüsternd.

»Da ist sie«, ruft Jo.

»Wer?«

»Die Dame.«

Eine dichtverschleierte Frauengestalt steht mitten im Zimmer, und das Licht fällt auf sie. Sie regt sich nicht und ist ganz stumm. Das Gesicht der Gestalt ist ihnen zugekehrt, nimmt aber keine Notiz von ihrem Eintreten, und sie bleibt stehen wie eine Statue.

»Jetzt sag mir, woher weißt du, daß das die Dame ist?« fragt Bucket laut.

»I kenn den Schleier«, antwortet Jo mit weitaufgerissenen Augen. »Den Hut und a dös Kleid.«

»Bist du auch deiner Sache ganz gewiß, Schmier-Ober?« fragt Bucket und beobachtet Jo mit großer Aufmerksamkeit. »Schau noch ein Mal hin.«

»I schau schon so gut hin, wie i kann«, sagt Jo. »Und dös is der Schleier, der Hut und dös Kleid.«

»Wie war’s mit den Ringen, von denen du mir erzählt hast?«

»Glänzt habens, rund um a dum«, sagt Jo und reibt die Finger seiner linken Hand an den Knöcheln der rechten, ohne einen Blick von der Gestalt abzuwenden.

Die Gestalt zieht den rechten Handschuh aus und zeigt die Hand.

»Nun, was sagst du jetzt?«

Jo schüttelt den Kopf. »Ganz andere Ring warens, und d Hand is scho gar net.«

»Wie meinst du das?« fragt Bucket sichtlich und zwar außerordentlich befriedigt.

»d Hand war vüll weißer, vüll zarter und vüll kleiner«, erklärt Jo.

»Na, du wirst am Ende gar noch behaupten, ich war meine eigne Mutter«, sagt Mr. Bucket. »Erinnerst du dich noch an die Stimme der Dame?«

»I glaub schon«, sagt Jo.

Die Gestalt spricht. »Klang sie wie diese? Ich will so lang sprechen, wie du willst, wenn du deiner Sache nicht gewiß bist. War es diese Stimme oder klang sie ähnlich?«

Jo sieht Mr. Bucket ganz entgeistert an. »Net ein bisl.«

»Weshalb sagtest du dann, es wäre die Dame?« forscht der würdige Mann und deutet auf die Gestalt.

»Weil«, sagt Jo mit betroffenem Gesicht, aber ohne sich im geringsten beirren zu lassen, »weil dös der Schleier und der Hut und dös Kleid is. Sie is s und is s wieder net. Es is net ihre Hand, auch not ihre Stimm, und s sin auch nicht ihre Ring. Aber das is der Schleier, der Hut und dös Kleid, und sie hat sich auch grad so tragn und war auch grad so groß und hat mir an Sovring gebn und weg wars.«

»Na«, sagt Mr. Bucket leichthin, »was Besonderes haben wir von dir nicht erfahren, aber da hast du fünf Schillinge. Wende sie gut an und mach keine dummen Streiche.«

Bucket zählt verstohlen die Münzen aus einer Hand in die andre wie Spielmarken – es ist das so eine taschenspielerische Angewohnheit von ihm – und legt sie dann zu einer kleinen Säule geschichtet dem Knaben in die Hand und führt ihn zur Tür hinaus, wobei er Mr. Snagsby, dem bei all diesen mysteriösen Vorgängen durchaus nicht wohl zumute ist, mit der verschleierten Gestalt allein läßt. Aber als Mr. Tulkinghorn eintritt, hebt sich der Schleier, und eine recht hübsche, wenn auch sehr leidenschaftlich aussehende Französin kommt zum Vorschein.

»Ich danke Ihnen, Mademoiselle Hortense«, sagt Mr. Tulkinghorn mit seinem gewohnten Gleichmut. »Ich will Sie wegen dieser kleinen Wette nicht weiter bemühen.«

»Werden Sie nicht vergessen, Sir, daß ich gegenwärtig keine Stellung habe?« fragt Mademoiselle.

»Gewiß, gewiß.«

»Und mir die Ehre Ihrer einflußreichen Verwendung zusagen?«

»Unbedingt, Mademoiselle Hortense.«

»Ein Wort von Mr. Tulkinghorn ist fast allmächtig…«

»Es soll daran nicht fehlen, Mademoiselle.«

»Empfangen Sie die Versicherung meines verbindlichsten Dankes, Sir. Gute Nacht.«

Mademoiselle geht mit einer Miene angeborner Vornehmheit hinaus, und Mr. Bucket, der, wenn es darauf ankommt, ebenso zeremoniell wie irgend etwas anderes sein kann, begleitet sie nicht ohne Galanterie die Treppe hinunter.

»Nun, Bucket?« fragt ihn Mr. Tulkinghorn, als er wieder heraufkommt.

»Sie sehen, es ist so, wie ich gleich sagte, Sir. Es ist gar kein Zweifel. Es war die andre in den Kleidern von dieser hier. Die Farben und alles übrige hat der Junge genau erkannt. Mr. Snagsby, ich versprach Ihnen als Mensch, daß ihm nichts geschehen solle. Nun, ist ihm etwas geschehen ?«

»Sie haben Wort gehalten, Sir«, entgegnet der Papierhändler. »Und wenn ich jetzt nicht weiter mehr von Nutzen sein kann, Mr. Tulkinghorn, glaube ich, da meine kleine Frau etwas in Angst sein wird…«

»Ich danke Ihnen, Snagsby, wir brauchen Sie weiter nicht«, sagt Mr. Tulkinghorn. »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet für Ihre Mühewaltung.«

»Keine Ursache, Sir. Ich wünsche Ihnen gute Nacht.«

»Sehen Sie, Mr. Snagsby«, Mr. Bucket begleitet den Stationer an die Tür und schüttelt ihm unentwegt die Hand, »was mir so an Ihnen gefällt, ist, daß Sie ein Mann sind, der sich nicht ausholen läßt.«

»Wenigstens bemühe ich mich, so zu sein«, entgegnet Mr. Snagsby bescheiden.

»Nein. Da unterschätzen Sie sich. Sie bemühen sich nicht erst, so zu sein«, sagt Mr. Bucket, schüttelt ihm die Hand und segnet ihn in seiner zärtlichsten Weise. »Sie sind von Natur so. Das schätze ich eben an einem Mann von Ihrem Beruf so sehr.«

Mr. Snagsby gibt eine passende Antwort und geht heimwärts, so verwirrt von den Ereignissen des Abends, daß er nicht recht weiß, ob er wach ist oder an der Wirklichkeit der Straßen, durch die er geht, zweifeln soll, und sogar gewisse Bedenken hat, ob es wirklich der Mond ist, der da auf ihn herabscheint. Sehr bald verfliegen seine Zweifel angesichts der unleugbaren Wirklichkeit, denn Mrs. Snagsby ist auf dem Sofa, den Kopf in einem vollständigen Bienenkorb von Haarwickeln und die Nachtmütze darüber, wachgeblieben, hat Guster mit der Nachricht, ihr Gatte sei plötzlich verschwunden, nach der nächsten Polizeistation geschickt und die letzten zwei Stunden jedes Stadium Ohnmacht mit bemerkenswertem Anstand durchgemacht.

Wie die kleine Frau gefühlvoll bemerkt, erntet sie einen »schönen Dank« dafür.

11. Kapitel


11. Kapitel

Unser geliebter Bruder

Irgend jemand berührt die runzelvolle Hand des Advokaten, wie er im finstern Zimmer unentschlossen dasteht, und macht ihn auffahren: »Wer ist da!«

»Ich bin’s«, sagt der Alte vom Hause. Sein Atem berührt das Ohr Mr. Tulkinghorns. »Können Sie ihn nicht wecken?«

»Nein.«

»Was haben Sie mit Ihrer Kerze gemacht?«

»Sie ist ausgegangen. Hier ist sie.«

Krook nimmt sie, geht ans Feuer, bückt sich über die roten Kohlen und versucht den Docht anzuzünden. Die ersterbende Asche hat keine Glut mehr, und seine Bemühungen sind umsonst. Ebenso vergeblich sucht er seinen Mieter zu wecken; dann brummt er und geht hinunter in den Laden, um eine brennende Kerze zu holen. Aus irgendeinem Grunde erwartet Mr. Tulkinghorn seine Rückkehr nicht im Zimmer, sondern draußen auf der Treppe.

Endlich, endlich erhellt ein Licht die Wände, wie Krook langsam heraufkommt, die grünäugige Katze ihm auf den Fersen.

»Schläft der Mann immer so fest?« fragt der Advokat leise.

»Hi! Ich weiß nicht«, Krook schüttelt den Kopf und zieht die Augenbrauen in die Höhe. »Ich weiß so gut wie nichts von seinen Gewohnheiten, außer, daß er sich fast ganz abschließt.«

So flüsternd treten sie beide ein. Wie das Licht hereinkommt, scheinen die großen Augen in den Fensterläden dunkler zu werden und sich zu schließen. Nicht so die Augen auf dem Bett.

»Gott sei uns gnädig«, ruft Mr. Tulkinghorn. »Er ist tot.«

Krook läßt die schwere Hand, die er ergriffen hat, so plötzlich los, daß der Arm an der Seite des Bettes herunterfällt. Die beiden sehen sich einen Augenblick an.

»Laufen Sie nach einem Doktor! Rufen Sie Miß Flite oben, Sir! Hier steht Gift beim Bett! Rufen Sie Flite, wollen Sie?« sagt Krook, der seine dürren Hände über der Leiche hält wie die Flügel eines Vampirs.

Mr. Tulkinghorn eilt hinaus und ruft: »Miß Flite! Flite! Schnell, kommen Sie schnell! Flite!«

Krook folgt ihm mit seinen Blicken und benützt die Gelegenheit, während er ruft, sich zu dem alten Mantelsack und wieder zurück zu schleichen.«

»Schnell, Flite, schnell! Zum nächsten Doktor! Schnell!« So schreit Mr. Krook die verrückte kleine Alte, seine Mieterin, an.

Im Nu erscheint sie und verschwindet und kehrt zurück, begleitet von einem Arzt, der sehr verdrießlich dreinschaut, weil man ihn beim Essen gestört hat, – einem Mann mit einer dicken, mit Schnupftabak bedeckten Oberlippe und einem breiten schottischen Akzent.

»Ei! Gott haab ihn seelig«, sagt der Arzt und sieht nach einer kurzen Untersuchung auf. »Der ischt so toot wie Pharao.«

Mr. Tulkinghorn, der neben dem alten Mantelsack steht, fragt, ob er schon lange tot sei.

»Schon lange, Ser«, sagt der Arzt. »Waahrscheinlich ischt er etwa drei Stunden toot.«

»Ungefähr so lange auch meiner Meinung nach«, bemerkt ein schwarzer junger Mann auf der andern Seite des Bettes.

»Sind Sie selbscht Meediziner, Ser?« fragt der Schotte.

Der schwarze junge Mann sagt: »Ja.«

»Nun, denn kann ich ja gehn. Denn bin ich hier gaar nichts nütze.«

Mit dieser Bemerkung macht der Arzt seiner kurzen Anwesenheit ein Ende und kehrt wieder zu seinem Essen zurück.

Der schwarze junge Mediziner leuchtet mit der Kerze wiederholt über das starre Gesicht und untersucht sorgfältig den Schreiber, der seine Ansprüche auf seinen Namen jetzt dadurch festgestellt hat, daß er wirklich »Niemand« geworden ist.

»Ich kenne den Mann sehr gut vom Sehen«, sagt er. »Er hat seit den letzten anderthalb Jahren Opium bei mir gekauft. Ist jemand von den Anwesenden mit ihm verwandt?« fragt er und mustert die drei um das Bett herumstehenden Personen.

»Ich war sein Hauswirt«, gibt Krook mürrisch zur Antwort und nimmt dem Arzt die hingehaltene Kerze aus der Hand. »Er sagte einmal zu mir, ich sei der nächste Verwandte, den er hätte.«

»Er ist an einer zu starken Dosis Opium gestorben. Daran ist kein Zweifel. Das ganze Zimmer riecht danach. Hier ist noch genug«, – der Arzt nimmt Mr. Krook einen alten Teetopf aus der Hand – »um ein Dutzend Menschen zu töten.«

»Meinen Sie, daß er es absichtlich getan hat?« fragt Krook.

»Die zu starke Dosis genommen?«

»Ja!« – Krook schmatzt fast mit den Lippen im Hochgenuß eines schauerlichen Interesses.

»Das kann ich nicht sagen. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, da er gewohnt war, starke Dosen zu nehmen. Das kann niemand wissen. Er war sehr arm, vermute ich?«

»Das vermute ich auch. Sein Zimmer – macht nicht den Eindruck von Reichtum«, sagt Krook, der so aussieht, als habe er die Augen mit seiner Katze vertauscht, so gierig schweifen seine Blicke in der Stube umher. Aber ich bin nie hier gewesen, seit er eingezogen ist, und er war zu verschlossen, um mir etwas über seine Verhältnisse zu erzählen.«

»Ist er Ihnen Zins schuldig?«

»Sechs Wochen.«

»Er wird ihn nie bezahlen«, sagt der junge Arzt und nimmt seine Untersuchung wieder auf. »Es ist ganz außer Zweifel, daß er so tot ist wie Pharao, und nach seinem Körperzustand zu urteilen, möchte ich sagen, es ist ein Glück für ihn. Und doch muß er als junger Mann groß und schlank und ich sollte meinen hübsch gewesen sein.«

– Er sagt dies nicht ohne Gefühl, während er auf dem Rande der Bettstelle sitzt, das Gesicht dem Toten zugekehrt und die Hand auf die Herzgegend gelegt. –

»Ich erinnere mich, daß es mir schon früher einmal so vorkam, als sei etwas in seinem Auftreten, so abstoßend er sich auch benahm, was auf eine bessere Vergangenheit hindeutete. Wissen Sie etwas darüber?« fährt er fort und sieht sich um.

Krook antwortet: »Sie könnten ebensogut von mir verlangen, Ihnen die Damen zu beschreiben, deren Haar ich unten im Keller in Säcken habe. Ich weiß nicht mehr von ihm, als daß er anderthalb Jahre lang mein Mieter war und vom Abschreiben für Advokaten lebte – oder nicht lebte.«

Während dieses Zwiegesprächs hat Mr. Tulkinghorn abseits neben dem alten Mantelsack gestanden, die Hände auf dem Rücken und allem Anschein nach gleich unendlich fern von all den drei verschiedenen Arten von Teilnahme, die neben dem Bett an den Tag gelegt wurden – von dem Interesse des jungen Mannes an der Leiche als Arzt und seiner Teilnahme für den Verstorbenen als Mensch –, von des alten Mannes lüsternem Genuß an der Schrecklichkeit des Vorfalls – und von dem Grauen der verrückten kleinen Alten vor der Leiche. Sein unbewegliches Gesicht blieb so ausdruckslos wie das rostige Aussehen seiner Kleider. Er scheint die ganze Zeit über an nichts gedacht zu haben. Er hat weder Geduld noch Ungeduld, weder Aufmerksamkeit noch Zerstreutheit gezeigt. Nur die äußere Schale ist zu sehen gewesen. Ebensowenig hätte man auf den Ton eines Musikinstrumentes aus dem Gehäuse schließen können.

Er mischt sich jetzt hinein, redet den jungen Mann in seiner teilnahmslosen, geschäftsmäßigen Weise an.

»Ich kam einen Augenblick vor Ihnen hierher«, bemerkt er, »mit der Absicht, dem Verstorbenen, den ich als Lebenden nicht gekannt habe, einige Kopierarbeiten zu geben. Ich erfuhr seine Adresse von meinem Papierhändler Snagsby in Cook’s Court. Da niemand hier etwas von dem Toten weiß, wäre es vielleicht gut, nach Snagsby zu schicken. – Ah!« sagt er zu der verrückten kleinen Alten, die er oft im Kanzleigericht gesehen zu haben sich erinnert. »Ja, vielleicht holen Sie ihn«, sagt er, da sie sich in erschrecktem stummem Gebärdenspiel erbötig macht, den Papierhändler zu holen.

Während sie fort ist, gibt der Arzt die Untersuchung als hoffnungslos auf und deckt den Toten mit der Flickendecke zu. Mr. Krook und er wechseln ein paar Worte miteinander. Mr. Tulkinghorn spricht kein Wort und steht immer noch neben dem alten Mantelsack.

Mr. Snagsby erscheint in aller Eile in seinem grauen Kittel mit den schwarzen Schreibärmeln.

»Mein Gott, mein Gott!« sagt er. »Ist es also endlich dazu gekommen! Gott soll einen Menschen behüten!«

»Können Sie dem Hauswirt hier irgendeine Auskunft über den Unglücklichen geben, Snagsby?« fragt Mr. Tulkinghorn. »Er war angeblich mit seinem Zins im Rückstand. Und er muß doch begraben werden.«

»Hm, Sir«, meint Mr. Snagsby und läßt hinter seiner Hand ein verlegenes Hüsteln hören. »Ich wüßte wirklich nicht, welchen Rat ich geben könnte, außer, daß man nach dem Kirchendiener schicken sollte.«

»Ich spreche nicht von Rat«, lehnt Mr. Tulkinghorn ab. »Ich könnte ja selbst raten…«

»Niemand besser, Sir, selbstverständlich«, entschuldigt sich Mr. Snagsby mit seinem ehrerbietigen Husten.

»Ich meine, ob man nicht etwas über seine Verwandten oder woher er stammt oder über seine sonstigen Verhältnisse erfahren könnte?«

Mr. Snagsby schickt seiner Antwort einen allgemein versöhnlichen Husten voraus und sagt:

»Ich versichere Ihnen, Sir, ich weiß ebensowenig, woher er gekommen ist, als ich weiß…«

»Wohin er gegangen ist«, unterbricht ihn der Arzt, nachhelfend.

– Pause. –

Mr. Tulkinghorn sieht den Schreibmaterialienhändler an. Mr. Krook sieht mit offenem Munde von einem zum andern, erwartungsvoll, wer wohl jetzt etwas sagen werde.

»Was seine Verwandten betrifft, Sir«, fährt Mr. Snagsby fort, »wenn jemand zu mir spräche: Snagsby, hier liegen zwanzigtausend Pfund für Sie in der Bank von England bereit, wenn Sie mir auch nur einen von ihnen nennen, so könnte ich es nicht, Sir. Vor ungefähr anderthalb Jahren, soweit ich mich erinnern kann, und um die Zeit, wo er in den Althändlerladen hier eingezogen ist…«

»Um die Zeit war es«, bestätigt Krook mit einem Kopfnicken.

»Vor ungefähr anderthalb Jahren«, fährt Mr. Snagsby ermutigt fort, »kam er eines Morgens nach dem Frühstück in mein Geschäft, fand dort meine kleine Frau, legte ihr eine Probe seiner Handschrift vor und sagte ihr, er suche Abschreibearbeit zu bekommen. Und daß er – um nicht durch die Blume zu sprechen« – ein Lieblingsausdruck Mr. Snagsbys, wenn er keine Umstände machen und frei herausreden will – »und daß er sehr in Not sei. Meine kleine Frau hat für gewöhnlich keine besondere Vorliebe für Fremde, besonders – um nicht durch die Blume zu sprechen –, wenn sie etwas haben wollen. Aber irgend etwas an dem Mann mußte doch ihr Interesse erregt haben; ob er unrasiert war oder wild und ungekämmt aussah oder sonst etwas an sich hatte, was Damen interessiert, überlasse ich Ihnen zu beurteilen, aber sie nahm die Probe an und auch die Adresse. Meine kleine Frau hat kein gutes Ohr für Namen«, fährt Mr. Snagsby fort, nachdem er mit seinem rücksichtslosen Husten hinter der vorgehaltnen Hand zu Rate gegangen ist, »und sie verwechselte Nemo mit Nimrod. Sie hat sich deshalb angewöhnt, bei Tisch zu mir zum Beispiel zu sagen: Snagsby, hast du noch immer keine Arbeit für Nimrod? Oder: Snagsby, warum hast du die achtunddreißig Folioseiten in Sachen Jarndyce nicht Nimrod gegeben? Und so weiter. Auf diese Art bekam er nach und nach ziemlich regelmäßig Arbeit von uns, und das ist alles, was ich von ihm weiß, außer, daß er sehr rasch schrieb und sich aus Nachtarbeit nichts machte. Wenn man ihm zum Beispiel fünfundvierzig Folioseiten Mittwoch abends gab, hatte er sie schon Donnerstag früh fertig.« Mr. Snagsby schließt seine Rede mit einer höflichen Bewegung seines Hutes nach dem Bette hin, als wollte er hinzusetzen, – »was alles ohne Zweifel mein ehrenwerter Freund hier bestätigen würde, wenn es ihm sein Zustand erlaubte.«

»Möchten Sie nicht vielleicht nachsehen, ob Papiere da sind, die Licht in die Sache bringen könnten«, sagt Mr. Tulkinghorn zu Krook. »Man wird Totenschau halten und Sie wahrscheinlich danach fragen.«

»Nein, kann ich nicht«, antwortete der Alte plötzlich, die Zähne zusammenbeißend.

»Snagsby, durchsuchen Sie also einmal das Zimmer für ihn«, sagt Mr. Tulkinghorn. »Er könnte sonst leicht Unannehmlichkeiten haben. Da ich schon hier bin, will ich warten, wenn Sie schnell machen, und kann dann Zeugenschaft ablegen, daß alles richtig zugegangen ist, wenn es verlangt werden sollte.«

»Wenn Sie Mr. Snagsby die Kerze halten wollen, mein Freund, wird er bald sehen, ob etwas vorhanden ist.«

»Erstens einmal ist hier ein alter Mantelsack, Sir«, sagt Snagsby.

»Ja richtig!« Mr. Tulkinghorn scheint den Mantelsack nicht gesehen zu haben, obgleich er dicht daneben steht und weiß Gott sonst wenig genug im Zimmer ist.

Der Trödler hält das Licht, und der Papierhändler leitet die Untersuchung. Der Arzt lehnt an einer Ecke des Kaminsimses; Miß Flite steht zitternd auf der Türschwelle und lugt furchtsam ins Zimmer. Der gelehrte Advokat der alten Schule mit den glanzlosen schwarzen, mit Bändern am Knie zugebundnen Hosen, der langen schwarzen Weste, dem langärmeligen schwarzen Frack und dem ungestärkten weißen Halstuch mit der kleinen Schleife, die der Hochadel so gut kennt, steht genau auf demselben Fleck in der alten Stellung.

In dem Mantelsack finden sich ein paar wertlose Kleidungsstücke, ein Bündel Versatzscheine, diese Mautzettel auf dem Wege zur Armut, ein zerknittertes Blatt Papier, das nach Opium riecht und ein paar hingekritzelte Notizen aufweist, zum Beispiel: An dem und dem Tage soviel Gran genommen, an dem und dem so und so viel Gran mehr. Die Notizen sind vor längerer Zeit niedergeschrieben, wohl mit der Absicht, sie regelmäßig fortzusetzen. Aber bald sind sie abgebrochen worden. Es finden sich ein paar schmutzige Fetzen von Zeitungen, lauter Totenschauberichte. Weiter nichts. Sie suchen im Wandschrank und in der Schublade des tintenbespritzten Tisches. Auch nicht ein Stückchen eines alten Briefs oder sonst ein Anhaltspunkt ist zu entdecken. Der junge Arzt untersucht die Kleider des Schreibers. Weiter nichts als ein Messer und einige Halfpence kommen zum Vorschein. Mr. Snagsbys Rat ist schließlich doch der praktischste, und der Kirchendiener muß geholt werden.

Die kleine verrückte Alte holt daher den Kirchspieldiener, und die übrigen verlassen das Zimmer.

»Die Katze darf nicht hier bleiben«, sagt der Arzt. »Das geht nicht.«

Mr. Krook jagt sie vor sich hinaus, und sie schleicht verstohlen die Treppe hinab, richtet ihren schlanken Schweif auf und leckt sich die Lippen.

»Gute Nacht«, sagt Mr. Tulkinghorn und geht heim zu Allegorie und Grüblerei.

Um diese Zeit hat sich die Nachricht von dem Todesfall im Hofe verbreitet. Es sammeln sich Gruppen seiner Bewohner, um die Sache zu besprechen, und die Vorposten der Beobachtungsarmee, die hauptsächlich aus Jungen besteht, werden bis zu Mr. Krooks Fenster vorgeschoben, das sie dicht umlagern. Ein Polizeidiener ist bereits in das Zimmer hinauf und wieder bis zur Tür hinuntergegangen, steht da wie ein Turm und läßt sich nur gelegentlich herab, die Jungen tief unten zu seinen Füßen anzublicken. Und jedes Mal, wenn er sie ansieht, weichen sie scheu zurück.

Mrs. Perkins, die seit Wochen mit Mrs. Piper kein Wort gesprochen hat, weil der kleine Perkins dem kleinen Piper eins auf den Kopf gegeben hat, knüpft bei dieser aussichtsreichen Gelegenheit den freundschaftlichen Verkehr wieder an. Der Schankkellner an der Ecke, eine Art privilegierter Amts-Amateur, da er offizielle Lebenskenntnis besitzt und gelegentlich mit Betrunkenen zu tun hat, tauscht vertraulich Ansichten mit dem Polizeidiener und hat das Aussehen eines unbesiegbaren Jünglings, dem Konstablerstäbe und Polizeistationen nichts anhaben können.

Die Leute reden miteinander über die Gasse hinweg aus den Fenstern, und barhäuptige Späher kommen aus Chancery-Lane herbeigelaufen, um zu sehen, was es gibt. Die allgemeine Ansicht scheint zu sein, es sei ein Glück, daß wider Erwarten die Reihe nicht an Mr. Krook zuerst kam, aber es mischt sich ein wenig natürliche Enttäuschung hinein.

Inmitten dieser Aufregung erscheint der Kirchspieldiener.

Der Kirchspieldiener, obgleich allgemein in der Nachbarschaft für eine lächerliche Institution gehalten, genießt für den Augenblick eine gewisse Popularität, wenn auch nur als Person, die die Leiche ansehen darf. Der Polizeidiener sieht in ihm einen schwachsinnigen Zivilisten, ein Überbleibsel aus dem barbarischen Zeitalter der Nachtwächter, aber er läßt ihn ein wie etwas, das geduldet werden muß, bis die Regierung es abschafft. Die allgemeine Aufregung erreicht ihren Höhepunkt, als das Gerücht von Mund zu Mund geht, der Kirchspieldiener sei eingetroffen und hineingegangen.

Bald darauf kommt der Kirchspieldiener wieder heraus, und wieder steigt die Aufregung, die mittlerweile ein wenig abgeflaut war. Man vernimmt, daß er für die morgige Totenschau Zeugen sucht, die dem Beamten und den Geschwornen Auskunft über den Verstorbenen geben können. Er wird auf der Stelle an unzählige Leute gewiesen, die ihm nicht das mindeste zu sagen imstande sind. Er wird dadurch noch dümmer gemacht, daß man ihm beständig wiederholt, Mrs. Greens Sohn sei selbst Advokatenschreiber gewesen und habe den Toten besser gekannt als irgend jemand sonst.

Der Sohn von Mrs. Green befindet sich jedoch, wie sich bei näherer Nachfrage herausstellt, gegenwärtig an Bord eines Schiffes, das vor drei Monaten nach China unter Segel ging, das man aber vermutlich nach einer Eingabe an die Admiralitätschaft telegraphisch erreichen könnte.

Freund Kirchspieldiener geht in die verschiednen Läden und Gassenzimmer, fragt die Einwohner aus, schließt vor allen Dingen jedes Mal die Tür und erbittert durch langes Wartenlassen und alles umfassende Blödheit das Publikum. Der Polizeidiener lächelt den Schankkellner an. Das Publikum verliert das Interesse, und allgemeine Teilnahmslosigkeit fängt an einzutreten. Es verhöhnt den Kirchspieldiener, und schrille jugendliche Stimmen werfen ihm vor, einen Knaben gekocht zu haben; Chöre singen Fragmente eines Gassenliedes, das ebenfalls davon handelt und besagt, daß sie aus dem Knaben Suppe für das Armenhaus gekocht hätten. Der Polizeidiener sieht sich zuletzt genötigt, dem Gesetz zu Hilfe zu kommen und einen der Sänger zu ergreifen. Da die übrigen ausreißen, läßt er ihn unter der Bedingung, sofort aufzuhören und zu verduften – sonst! –, wieder los. Der Sänger kommt der Aufforderung augenblicklich nach. So legt sich die Aufregung, und der unerschütterliche Polizeimann, den ein wenig Opium mehr oder weniger kalt läßt, mit dem lackierten hohen Hut, der hohen Halsbinde, dem steifen Überrock, dem ledernen Gürtel und Armband und seiner ganzen übrigen Kriegsausrüstung schreitet langsam seines Weges mit schwerem Tritt. Er schlägt die Flächen seiner weißen Handschuhe gegeneinander und bleibt dann und wann an einer Straßenecke stehen, um sich nach Unglücksfällen umzusehen: Vom verlorenen Sohn aufwärts bis zum Mord.

Unter dem Schutze der Nacht flattert der schwachsinnige Kirchspieldiener in Chancery-Lane mit seinen Vorladungen herum, in denen der Name jedes Geschwornen falsch und nur sein eigner, den aber niemand lesen kann oder will, richtig geschrieben ist.

Nachdem die Vorladungen verteilt und die Zeugen benachrichtigt sind, begibt sich der Kirchspieldiener zu Mr. Krook, um hier einige Armenhausbewohner, die er bestellt hat, zu erwarten. Sie erscheinen bald darauf; er führt sie die Treppe hinauf, wo sie für die großen Augen in den Fensterläden etwas Neues zum Anstarren hinsetzen: Die letzte irdische Behausung für »Niemand«, – die letzte Behausung für jeden Sterblichen. Und die ganze Nacht hindurch steht der Sarg neben dem alten Mantelsack; und die einsame Gestalt auf dem Bett, die fünfundvierzig Jahre auf dem Pfad des Lebens gewandelt, liegt dort und hat nicht mehr Spur, die zu einer Entdeckung führen könnte, hinterlassen als ein ausgesetztes Kind.

Am nächsten Tag ist alles lebendig im Hof. Es ist wie ein Jahrmarkt, wie Mrs. Perkins in dickster Freundschaft mit Mrs. Piper in vertraulichem Gespräch zu dieser vortrefflichen Frau äußert. Der Totenbeschauer wird in dem Saal im ersten Stock der »Sonne« sitzen, wo sich zwei Mal wöchentlich die harmonische Gesellschaft versammelt und ein Herr von großem künstlerischem Ruf einen Lehnstuhl ausfüllt, vis à vis dem kleinen Swills, dem komischen Sänger, der, nach dem Zettel im Fenster zu schließen, hofft, daß sich seine Freunde um ihn scharen und »ein Talent ersten Ranges« unterstützen werden.

Die »Sonne« bestrahlt an diesem Morgen ein einträgliches Geschäft. Selbst Kinder bedürfen bei der allgemeinen Aufregung so sehr der Stärkung, daß ein Pastetenbäcker, der an der Ecke des Hofes einen fliegenden Laden errichtet hat, sagt, seine Likörbonbons gingen weg wie Rauch. In der Zwischenzeit zeigt der Kirchspieldiener, der zwischen Mr. Krooks Ladentür und dem Tor der »Sonne« hin und her spukt, die seiner Obhut anvertraute Sehenswürdigkeit ein paar diskreten Günstlingen, die sich ihm dafür mit einem Glas Ale oder dergleichen erkenntlich erweisen.

Zur festgesetzten Stunde erscheint der Totenbeschauer, von den Geschworenen erwartet und von einer Salve rasselnder Kegel aus der guten, trocknen Kegelbahn der »Sonne« begrüßt. Der Totenbeschauer besucht mehr Wirtshäuser als irgendein lebender Mensch. Der Geruch von Sägespänen, Bier, Tabakrauch und Branntwein ist ihm in seinem Beruf untrennbar geworden vom Tode, auch in seiner schrecklichsten Gestalt. Der Kirchspieldiener und der Wirt geleiten ihn in den Saal der »Harmonischen Gesellschaft«, wo er seinen Hut auf das Klavier legt und in einem Präsidenten-Lehnstuhl Platz nimmt – am obern Ende einer langen Tafel, die sich aus vielen aneinandergeschobenen kleinen Tischen zusammensetzt und verziert ist mit klebrigen Ringen, von Gläsern und Krügen herrührend, in endloser Verschlingung. Genau soviel Geschworne, als sich um die lange Tafel zusammendrängen können, sitzen dort. Die übrigen finden Platz mitten unter Spucknäpfen und Pfeifenständern oder lehnen am Klavier. Über dem Kopf des Totenbeschauers hängt ein kleiner eiserner Kranz, der Griff eines Klingelzugs, und im Laien erweckt er den Anschein, als sollte der Vorsitzende des Gerichtshofs im nächsten Augenblick gehängt werden.

»Man verlese und beeidige die Geschwornen!«

Während diese Zeremonie vor sich geht, macht der Eintritt eines kleinen, dicken Mannes mit einem mächtigen Hemdkragen, Triefaugen und einer roten Nase, der bescheiden an der Tür unter dem Publikum Platz nimmt, aber dennoch in dem Saale ganz zu Hause zu sein scheint, einiges Aufsehen. Ein allgemeines Flüstern verrät, daß es der kleine Swills ist. Man hält es nicht für unwahrscheinlich, daß er heute abend vor der »Harmonischen Versammlung« den Totenbeschauer kopieren wird.

»Also, meine Herren…« fängt der Vorsitzende an.

»Ruhe, Ruhe!« ruft der Kirchspieldiener. Er ruft es nicht dem Vorsitzenden zu, aber es klingt fast so.

»Also, meine Herren«, beginnt der Totenbeschauer von neuem, »Sie sind hier zusammengetreten, um über die Todesart einer gewissen Person die Tatsachen festzustellen. Sie werden Zeugenaussagen über die diesen Todesfall begleitenden Umstände hören und Ihren Wahrspruch nach den – Kegeln gibt’s heute nicht, die Kegelbahn ist augenblicklich zu sperren, Kirchendiener! – nach den Zeugenaussagen und nach nichts anderm fällen. Zuerst haben wir die Leiche zu besichtigen.«

»Platz da, Platz!« ruft der Kirchspieldiener.

Alle verlassen in Prozession wie ein langgestreckter Leichenzug den Saal und begeben sich zur Besichtigung in Mr. Krooks zweiten Stock in das Hinterzimmer. Ein paar der Geschwornen verlassen es blaß und hastig auf der Stelle wieder. Der Kirchspieldiener ist eifrig bemüht, daß zwei um Ärmelaufschläge und Knopflöcher herum nicht sehr sauber aussehende Herren, für die er schon im Saal der »Harmonischen Gesellschaft« neben dem Totenbeschauer ein besonderes Tischchen hingestellt hat, alles genau zu sehen bekommen. Sie sind nämlich die öffentlichen Berichterstatter über solche Untersuchungen – nach der Zeile –, und auch er ist der allgemeinen menschlichen Schwäche unterworfen, zu hoffen, gedruckt zu lesen, was Mooney, der tätige und scharfsinnige Kirchspieldiener des Distriktes, alles gesagt und getan hat. Er wünscht sich innerlich, den Namen Mooney in dem vertraulichen Ton erwähnt zu lesen wie in letzter Zeit den Namen des Henkers.

Der kleine Swills wartet im Saal auf die Rückkehr des Totenbeschauers und der Geschwornen. Auch Mr. Tulkinghorn wartet. Mr. Tulkinghorn wird mit Ehrfurcht begrüßt und in die Nähe des Totenbeschauers gesetzt. Zwischen diesen hohen Gerichtsbeamten ein Zimmerkegelspiel und eine Kohlenkiste. Die Untersuchung wird fortgesetzt. Die Geschworenen erfahren, wie der Gegenstand ihrer Untersuchung gestorben ist. Über ihn selbst erfahren sie nichts.

»Ein angesehener Advokat ist hier, meine Herren«, sagt der Totenbeschauer, »der, wie ich höre, zufällig anwesend war, als man die Leiche entdeckte; aber er könnte nur wiederholen, was Sie bereits von dem Arzt, dem Hauswirt, der Mieterin im obern Stock und dem Schreibmaterialenhändler gehört haben, und wir brauchen ihn daher nicht weiter zu inkommodieren. Ist sonst noch jemand hier, der eine Auskunft geben könnte?«

Mrs. Perkins schiebt Mrs. Piper vor. Mrs. Piper wird vereidigt.

»Anastasia Piper, meine Herren, verheiratete Frauensperson. Nun, Mrs. Piper, was haben Sie uns über die Sache zu sagen?«

Mrs. Piper hat sehr viel zu sagen. Besonders in Klammer und ohne jede Interpunktion, kann aber nicht viel Auskunft geben. Mrs. Piper wohnt im Hof (wo ihr Mann Schreiner ist) und es ist seit langer Zeit den Nachbarn wohl bekannt (es war zwei Tage nach dem Tage wo Alexander James Piper der jetzt achtzehn Monate vier Tage alt ist die Nottaufe erhielt weil er aufgegeben war so sehr litt das arme Kind an Krämpfen) daß der Kläger – so nennt immer wieder Mrs. Piper den Verstorbenen sich angeblich dem Teufel verkauft haben sollte. Das Gerücht sei wahrscheinlich entstanden weil der Kläger danach ausgschaut hat. Der Kläger habe immer fuchtig und grimmig ausgschaut und sie habe immer gesagt man dürfe ihn nicht frei herumgehen lassen weil manche Kinder furchtsam sind (und wenn man ihr nicht glaube so solle man Mrs. Perkins fragen die hier ist und die bestätigen kann daß sie und ihr Mann und ihre Familie niemals keine Unwahrheit nicht spricht) sie habe gesehen wie die Kinder den Kläger geneckt und gequält haben (denn Kinder sind Kinder und man kann nicht von ihnen erwarten besonders wenn sie munter und lebhaft sind daß sie sich wie Methuselers benehmen) deswegen und wegen seines finstern Aussehens habe sie oft geträumt daß er eine Axt aus der Tasche gezogen habe um damit Johnny den Kopf zu spalten aber das Kind kenne keine Furcht nicht und habe ihn oft dicht auf dem Fuß noch ausgespottet. In Wirklichkeit habe sie jedoch niemals den Kläger eine Axt aus der Tasche ziehen sehen. Im Gegenteil. Er sei rasch gegangen wenn ihm die Kinder nachliefen oder nachschrien als ob er Kinder nicht gern hätte und sie habe ihn nie mit einem Kind oder Erwachsenen nicht sprechen sehen ausgenommen mit dem Jungen was den Übergang unten im Gäßchen an der Ecke kehrt. Wenn er hier wäre müsse er selbst sagen daß man ihn oft mit ihm habe sprechen sehen.

Der Totenbeschauer fragt: »Ist der Junge hier?«

»Nein, Sir, er ist nicht hier«, sagt der Kirchspieldiener.

»Gehen Sie ihn holen.«

Während der Abwesenheit des emsigen und erfahrenen Dieners unterhält sich der Totenbeschauer mit Mr. Tulkinghorn.

»Hier ist der Junge, meine Herren.«

Hier ist er, schmutzbedeckt, ganz heiser, sehr zerlumpt.

»Nun, Junge!… Aber halt, einen Augenblick. Vorsicht. Der Knabe muß erst anderweitig verhört werden.«

Name? Jo. Hat keinen andern, soviel er weiß. Weiß nicht, daß jeder Mensch zwei Namen hat. Hat niemals von so was gehört. Weiß nicht, daß Jo die Abkürzung für einen längern Namen ist. Glaubt, daß er lang genug für ihn ist. Findet nichts daran auszusetzen. Kann er ihn buchstabieren? Nein. Er kann ihn nicht buchstabieren. Hat keinen Vater, keine Mutter, keine Freunde. Ist nie in der Schule gewesen – was ist dös, Elternhaus?? – Weiß, daß ein Besen ein Besen ist, und weiß, daß es eine Sünde ist, zu lügen. Erinnert sich nicht, wer ihm das von dem Besen und der Lüge gesagt hat, aber er weiß beides. Kann nicht genau sagen, was mit ihm nach dem Tode geschehen wird, wenn er den Herren hier eine Lüge sagt, aber er glaubt, daß es ihm zur Strafe sehr schlecht gehen wird und daß ihm dös dann recht gschiecht… Und deshalb will er die Wahrheit sagen.

»Damit kommen wir zu nichts, meine Herren«, sagt der Totenbeschauer und schüttelt melancholisch den Kopf.

»Glauben Sie nicht, daß wir seine Aussage anhören sollen, Sir?« fragt ein aufmerksamer Geschworner.

»Ausgeschlossen. Sie haben den Knaben doch selbst gehört. ‚Weiß ich nicht genau‘ können wir nicht brauchen. In einem Gerichtshof können wir mit dergleichen nichts anfangen, meine Herren. Schreckliche Herabgekommenheit. Schaffen Sie den Jungen weg.«

Der Knabe tritt ab zur großen Erbauung der Zuhörerschaft – besonders des kleinen Swills, des komischen Sängers.

»Nun, sind noch andre Zeugen da?«

Es sind keine andern Zeugen da.

»Also, meine Herren! Hier ist ein unbekannter Mann infolge Genusses einer zu großen Menge Opium tot aufgefunden worden. Er ist überwiesen, seit anderthalb Jahren aus Gewohnheit Opium in großen Mengen genossen zu haben. Wenn Sie aus den Zeugenaussagen schließen zu dürfen glauben, daß er Selbstmord begangen hat, so haben Sie dementsprechend Ihren Wahrspruch zu fällen. Wenn Sie meinen, es handle sich um einen Zufall, so haben Sie ein dementsprechendes Verdikt zu fällen.«

Man fällt das entsprechende Verdikt. Selbstmord aus Zufall. Kein Zweifel.

»Meine Herren, Sie sind entlassen. Guten Nachmittag.«

Während der Totenbeschauer seinen Überrock zuknöpft, geben er und Mr. Tulkinghorn dem zurückgewiesenen Zeugen in einer Ecke eine Privataudienz. Dieses allen menschlichen Liebreizes bare Geschöpf weiß nur, daß der Tote, den es an seinem gelben Gesicht und schwarzen Haar soeben erkannt hat, manchmal von den Kindern auf der Straße verhöhnt und verfolgt wurde. An einem kalten Winterabend, als es in einem Torwege nicht weit von seinem Straßenübergang vor Kälte zitternd gekauert, habe sich der Mann nach ihm umgesehen, es ausgefragt und erfahren, daß es keinen Freund auf der Welt habe. Darauf hätte er gesagt: Ich auch nicht. Nicht einen! und hätte ihm Geld zu einem Abendessen und einem Obdach für die Nacht gegeben.

Seitdem hätte der Mann oft mit ihm gesprochen und ihn gefragt, ob er in der Nacht schlafen könnte, wie er Kälte und Hunger vertrüge und ob er sich den Tod wünsche, und ähnliche seltsame Fragen. Und manchmal hätte er im Vorbeigehen zu ihm gesagt: »Ich bin heute so arm wie du, Jo.« Wenn er aber Geld gehabt, habe er immer welches gegeben – und sehr gern. (Wie der Knabe fest überzeugt sei.)

»Er war sehr gut gegen mich.« Jo wischt sich mit dem zerlumpten Ärmel die Augen. »Wann i n so als a Toter daliegen siech, möcht i, er könnts hören. Er war immer so gut gegen mich.«

Wie er die Treppe hinunterschlottert, drückt ihm Mr. Snagsby, der im Hinterhalt auf ihn wartet, eine halbe Krone in die Hand.

»Wenn ich einmal mit meiner kleinen Frau – ich meine mit einer Dame – an deinem Straßenübergang vorbeikomme«, sagt Mr. Snagsby, den Finger an der Nase, »dann kennst du mich nicht, hörst du!«

Die Geschworenen bleiben noch eine Zeitlang in ernstem Gespräch in der Nähe der »Sonne«. Später findet man ein halbes Dutzend von ihnen in eine Wolke von Tabakqualm gehüllt, die das Gastzimmer der »Sonne« durchräuchert; zwei trollen nach Hampstead und vier kommen überein, da halber Preis ist, ins Theater zu gehen und den Abend mit Austern zu beschließen. Der kleine Swills wird allerseits traktiert. Gefragt, was er von der Verhandlung halte, nennt er sie einen »krumpen Start« – er ist berühmt wegen seines Witzes. Der Wirt der »Sonne« empfiehlt den kleinen Swills, als er sieht, wie populär er ist, höchlichst den Geschworenen und dem Publikum und beteuert, daß er in charakteristischen Liedern nicht seinesgleichen habe und für seine Charaktergarderobe einen ganzen Wagen brauche.

So verschmilzt allmählich die »Sonne« in die schattige Nacht und strahlt gewaltig im Gaslicht. Die Stunde der Harmonischen Gesellschaft naht. Der Gentleman mit dem hohen künstlerischen Ruf setzt sich in den Präsidentenstuhl vis à vis dem kleinen Swills mit dem roten Gesicht; seine Freunde scharen sich um sie und unterstützen das Talent ersten Ranges. Im Zenit des Abends sagt der kleine Swills:

»Gentlemen, wenn Sie mir erlauben, will ich eine kurze Beschreibung einer wirklichen Szene aus dem Löben, deren Zeuge ich heute war, versuchön.« Großer Beifall und Ermunterung werden ihm. Er verläßt das Zimmer als Swills und kommt als Totenbeschauer wieder herein und sieht ihm nicht im geringsten ähnlich; er beschreibt die Totenschau mit Zwischenspiel auf dem Pianoforte mit dem Refrain: Tippy toi li doll, tippy toi lo doll, tippy toi li doll, Dee! den er dem Totenbeschauer in den Mund legt.

Das Klaviergeklimper schweigt endlich, und die harmonischen Freunde sinken in ihre Kissen.

Ruhe herrscht um den Einsamen, der jetzt in seiner letzten irdischen Behausung liegt, bewacht während der paar stillen Nachtstunden von den riesigen Augen der Fensterläden. Wenn die Mutter, an deren Busen der Verlassene einst als Kind geruht, die Augen empor zu ihr gerichtet und das weiche Händchen, kaum wissend, wie es den Nacken, zu dem es emporstrebte, umfassen sollte, ihn mit prophetischem Blick hier hätte liegen sehen können, wie unmöglich wäre ihr die Vision erschienen.

Wenn in schöneren Tagen das jetzt erloschene Feuer in seiner toten Brust einst für ein Weib glühte, das sein Bild im Herzen trug, wo ist dieses Herz in dieser Stunde, wo seine Asche die letzte Nacht über der Erde weilt?

Bei Mr. Snagsby in Cook’s Court herrscht heute nacht keine Ruhe. Dort mordet Guster den Schlaf, indem sie, wie Mr. Snagsby selbst zugibt – um nicht durch die Blume zu sprechen –, nicht ein Mal, sondern zwanzig Mal in Krämpfe fällt. Die Ursache ist, daß Guster ein empfindsames Herz und ein empfängliches Etwas im Busen trägt, das ohne Tooting und ihren Schutzheiligen vielleicht zur Einbildungskraft ausgewachsen wäre. Sei dem, wie es wolle, Mr. Snagsbys Bericht über die Totenschau hat zur Teezeit einen so überwältigenden Eindruck auf sie gemacht, daß sie um die Stunde des Abendessens, einen fliegenden holländischen Käse voraussendend, in die Küche stürzt und einen Anfall von ungewöhnlicher Dauer bekommt, der nur aufhört, um sogleich wieder von neuem anzufangen, wobei sie die kurzen Zwischenräume dazu benützt, Mrs. Snagsby in rührendem Tone zu bitten, ihr nicht zu kündigen, wenn sie wieder zu sich käme, und mit Aufforderungen an das ganze Haus ausfüllt, sie auf die Steinfliesen zu legen und ruhig zu Bett zu gehen. Und Mr. Snagsby sagt, als er endlich den Hahn in der kleinen Milchwirtschaft in Cursitor Street in seine selbstlose Ekstase über das Erscheinen des Tageslichts ausbrechen hört, mit einem langen Atemzuge, obgleich er sonst der geduldigste aller Menschen ist:

»Mistviech, ich hoffte schon, du seist tot.«

Warum der enthusiastische Vogel sich in so unerhörter Weise anstrengt, über etwas zu krähen, was für ihn nicht von der mindesten Bedeutung sein kann, ist schließlich seine Sache. Krähen doch auch Menschen bei verschiedenen öffentlichen Triumphgelegenheiten, ohne daß es sie etwas angeht. Jedenfalls, und das genügt, der Tag bricht an, der Morgen und der Mittag kommen.

Der Emsige und Erfahrene, der in dieser Eigenschaft richtig in der Morgenzeitung gestanden hat, erscheint mit seinem Gefolge von Armenhausbewohnern bei Mr. Krook und geleitet die Leiche unsres dahingeschiedenen lieben Bruders auf einen rings von Häusern umgebenen, pesthauchenden und leichenüberfüllten Kirchhof, wo den Leibern unsrer noch nicht dahingeschiedenen geliebten Brüder und Schwestern bösartige Krankheiten mitgeteilt werden, dieweil unsre andern gewissen geliebten Brüder und Schwestern, die sich auf Amtshintertreppen herumtreiben und leider noch nicht von uns geschieden sind, es sich sehr wohl sein lassen.

In ein abscheuliches Stück Boden, der einen Türken mit Grauen erfüllen, über den ein Kaffer schaudern würde, bringen sie unsern dahingeschiedenen lieben Bruder, auf daß er ein christliches Begräbnis empfange.

Wo Häuser von allen Seiten herabsehen, außer wo ein kleiner Tunnel von einem Hofe aus nach dem eisernen Gitter seinen Schlund öffnet, wo jede Verkommenheit des Lebens dicht neben den Toten und jedes giftige Element des Todes dicht neben dem Leben sich die Hand reichen, da versenken sie unsern lieben Bruder einen oder zwei Fuß tief in die Erde. Hier säen sie ihn in Fäulnis, damit er in Fäulnis wieder auferstehe als rächendes Gespenst am Krankenbett; ein beschämendes Zeugnis für künftige Zeiten, wie Zivilisation und Barbarei auf dieser prahlerischen Insel Arm in Arm gingen.

Komm, Nacht! Komm, Finsternis! Ihr könnt auf einem solchen Platz wie diesem nicht zu bald kommen und nicht lange genug bleiben! Kommt, ihr flackernden Lichter in den Fenstern scheußlicher Häuser und ihr Missetäter dahinter! Recht so, Gasflamme, daß du so trag über dem Eisengitter brennst, auf das die vergiftete Luft ihre schlüpfrige Hexensalbe niederschlägt! Ganz gut, daß du jedem Vorübergehenden zurufst: Sieh her!

Bei Einbruch der Dunkelheit kommt schlotternden Ganges eine Gestalt in den Tunnelhof geschlichen, an die Außenseite des eisernen Gittertors. Sie faßt das Tor mit den Händen und schaut zwischen den Stäben hindurch und bleibt so stehen eine kleine Weile lang.

Mit einem alten Besen, den sie auf der Schulter trägt, kehrt sie die Stufe und fegt den Torweg rein. Sie tut das sehr geschäftig und geschickt, blickt wieder eine kleine Weile hinein und geht dann.

Jo, bist du’s? Gut, gut! Wenn du auch ein zurückgewiesener Zeuge bist, der »nicht genau sagen kann«, was mit ihm eine mächtigere Hand als die der Menschen vorhat, steckst du doch nicht ganz in irdischer Finsternis. Es ist etwas wie ein ferner Lichtstrahl in der Begründung, die du murmelnd dafür angibst:

»Er is immer so gut gegen mich gwesen.«

12. Kapitel


12. Kapitel

Auf der Lauer

Endlich hat es aufgehört zu regnen in Lincolnshire, und Chesney Wold hat sich wieder ein Herz gefaßt. Mrs. Rouncewells Kopf steckt voll wirtschaftlicher Sorgen, denn Sir Leicester und Mylady kommen von Paris nach Hause. Die »Fashionable« hat es entdeckt und teilt die frohe Botschaft dem umnachteten England mit. Sie hat auch entdeckt, daß sie einen neuen glänzenden und auserwählten Kreis der élite der beau monde (die fashionablen Zeitungen sind schwach im Englischen und riesenstark im Französischen) auf dem historischen und gastlichen Familiensitz in Lincolnshire um sich sehen werden.

Zu Ehren der glänzenden und vornehmen Gesellschaft und nebenbei auch Chesney Wolds wegen ist der eingestürzte Brückenbogen im Park ausgebessert, und das Wasser, das sich jetzt in die gebührenden Schranken zurückgezogen hat und wieder anmutig überbrückt wird, macht sich in der Aussicht von dem Hause aus recht hübsch. Der klare, kalte Sonnenschein glitzert im raschelnden Wald und sieht billigend zu, wie der scharfe Wind die Blätter verstreut und das Moos trocknet. Er gleitet hinter dem Schatten der Wolken über den Wald hin und jagt sie den ganzen Tag lang und kann sie doch nicht erhaschen. Er sieht zu den Fenstern herein und bringt auf den Ahnenbildern Streifen und Flecken von Licht an, von denen die Maler sich nie haben träumen lassen. Querüber das Bild von Mylady über dem Prachtkamin malt er einen breiten Lichtschrägbalken, der von links hinab in den Herd fährt und ihn zu zerspalten scheint.

Durch denselben kalten Sonnenschein und denselben scharfen Wind fahren Mylady und Sir Leicester in ihrem Reisewagen heimwärts; Myladys Kammerzofe und Sir Leicesters Lakai sitzen in zärtlicher Gemeinschaft hinten. Unter beträchtlichem Geklingel und Peitschenknallen und zahlreichem Sichaufbäumen von zwei sattellosen Pferden und zwei Zentauren mit glasierten Hüten, Stulpenstiefeln und fliegenden Mähnen und Schweifen rasseln sie aus dem Hofe des Hotels Bristol auf den Place Vendôme hervor und traben zwischen der Sonnenschein- und schattenwechselnden Kolonnade der Rue de Rivoli und dem Garten des verhängnisreichen Palastes eines kopflosen Königspaars über den Place de la Concorde und die Elysäischen Felder durch das Sternentor aus Paris hinaus.

Um nur die Wahrheit zu sagen, sie können gar nicht schnell genug abreisen, denn selbst hier hat sich Lady Dedlock zu Tode gelangweilt. Konzert, Matinees, Oper, Theater, Spazierfahrt, nichts ist Mylady neu unter dieser abgenutzten Sonne. Erst vorigen Sonntag, wo arme Teufel fröhlich waren innerhalb der Stadt und in dem Palastgarten unter verschnittenen Bäumen und den Statuen mit ihren Kindern spielten oder auf den Elysäischen Feldern, noch elysäischer geworden durch künstliche Hunde und hölzerne Pferde, in Gassenbreite spazieren gingen oder draußen vor dem Tor um ganz Paris einen Kreis zogen von Tanzen, Liebelei, Weintrinken, Tabakrauchen, Gräberbesuchen, Billard-, Karten- und Dominospielen und unter Quacksalbern und anderm toten und lebendigen Abschaum, – erst vorigen Sonntag hätte Mylady in der Einsamkeit der Langweile und in den Klauen des Riesen Verzweiflung beinahe ihre eigne Zofe wegen deren guter Laune gehaßt.

Daher kann sie Paris jetzt nicht schnell genug verlassen. Seelische Ermüdung liegt vor ihr und hinter ihr – ihr Ariel hat einen Gürtel davon um die ganze Erde gelegt, den niemand lösen kann. Aber das einzige, wenn auch unzulängliche Heilmittel ist, immer von dem letzten Ort an einen andern zu fliehen. Also weg mit Paris! Man vertausche es mit endlosen Alleen und Queralleen winterlicher Bäume. Und wenn man wieder zum Vorschein kommt, so sei es einige Meilen weiter, wo das Sternentor nur mehr ein weißer, sonnenglänzender Fleck ist und die Stadt eine formlose, dunkle Masse in der Ebene, aus der sich zwei dunkle, viereckige Türme erheben, auf denen Licht und Schatten auf- und abwärts steigen wie die Engel in Jakobs Traum.

Sir Leicester ist zumeist in ruhevoller, selbstgefälliger Gemütsverfassung und langweilt sich selten. Wenn er sonst nichts andres zu tun hat, kann er immer seine eigne Größe betrachten. Es bedeutet eine große Annehmlichkeit für einen Mann, ein so unerschöpfliches Gebiet zu haben. Nachdem er seine Briefe gelesen hat, legt er sich in eine Wagenecke zurück und stellt Betrachtungen über seine Wichtigkeit in der »Gesellschaft« an.

»Sie haben diesen Morgen ungewöhnlich viel Briefe bekommen«, sagt Mylady nach einer langen Pause. Sie ist müde vom Lesen. Sie hat während der letzten zwanzig Meilen beinahe eine ganze Seite gelesen.

– Es steht aber nichts drin. Überhaupt nichts. –

»Ich glaube vorhin einen von Mr. Tulkinghorns langen Ergüssen gesehen zu haben.«

»Mylady sehen alles«, sagt Sir Leicester voll Bewunderung.

»Ach«, seufzt Mylady. »Er ist der langweiligste aller Menschen.«

»Er sendet mir – ich muß Mylady wirklich um Verzeihung bitten – eine Botschaft für Sie«, sagt Sir Leicester, sucht den Brief aus den übrigen heraus und öffnet ihn.

»Wir machten gerade Halt, um die Pferde zu wechseln, als ich an sein Postskript kam, und deswegen vergaß ich. Ich bitte um Entschuldigung.

Er schreibt…« Sir Leicester braucht so lange, sein Augenglas herauszunehmen und sich damit zurechtzufinden, daß Mylady eine etwas gereizte Miene annimmt. »Er schreibt hinsichtlich des Wegerechts… Ich bitte um Verzeihung, das war es nicht. Er schreibt… Ja! Hier ist’s. Er schreibt: ‚Ich bitte, mich Mylady, der, wie ich hoffe, die Luftveränderung wohlgetan hat, hochachtungsvoll zu empfehlen. Wollen Sie mir die Gunst erweisen, ihr zu sagen, da es vielleicht von Interesse für sie ist, daß ich ihr bei ihrer Rückkunft etwas in bezug auf die Person mitzuteilen habe, die das Affidavit in dem Kanzleiprozeß, das ihre Aufmerksamkeit so sehr erregte, kopiert hat. Ich habe sie gesehen.’«

– Mylady, vorwärts gebeugt, blickt zum Fenster hinaus. –

»So lautet die Nachricht«, schließt Sir Leicester.

»Ich möchte ein wenig zu Fuß gehen«, sagt Mylady plötzlich und blickt immer noch zum Fenster hinaus.

»Zu Fuß gehen?« wiederholt Sir Leicester in einem Ton des Erstaunens.

»Ich möchte ein wenig zu Fuß gehen«, wiederholt Mylady mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit. »Bitte, den Wagen halten zu lassen.«

Der Wagen hält. Der zärtliche Bediente springt vom Rücksitz, öffnet den Schlag und klappt den Wagentritt herunter, einer ungeduldigen Handbewegung Myladys gehorsam. Mylady steigt so rasch aus und geht so schnell, daß Sir Leicester trotz peinlichster Höflichkeit außerstande ist, ihr den Arm zu reichen, und zurückbleibt. Eine oder zwei Minuten verstreichen, ehe er sie einholt. Sie lächelt, sieht sehr schön aus, nimmt seinen Arm, geht ein paar hundert Schritt, ist sehr gelangweilt und nimmt ihren Sitz im Wagen wieder ein.

Das Gerassel und Geklapper wird den größten Teil von drei Tagen unter mehr oder weniger Schellengeklingel und Peitschenknallen, mehr oder weniger Aufbäumen der Zentauren und sattellosen Pferde fortgesetzt.

Die altadlige Höflichkeit, mit der sich das Ehepaar behandelt, bildet in den Hotels, in denen es absteigt, den Gegenstand allgemeiner Bewunderung.

»Wenn auch Mylord ein wenig alt für Mylady ist«, sagt Madame, die Wirtin zum »Goldenen Affen«, »und eigentlich ihr zärtlicher Vater sein könnte, so sieht man doch auf den ersten Blick, daß sie sich lieben.«

Man sieht, wie Mylord in seinem weißen Haar, den Hut in der Hand, Mylady aus dem Wagen und in den Wagen hilft. Man sieht, wie Mylady Sir Dedlocks Höflichkeit anerkennend hinnimmt, indem sie ihr anmutiges Haupt neigt und ihm die Fingerspitzen ihrer so vornehmen Hand überläßt! Es ist hinreißend!

Das Meer weiß große Männer nicht zu würdigen und schüttelt sie herum wie unbedeutende Plebejer. Es pflegt stets hart auf Sir Leicester einzuwirken und auf seinem Gesicht grüne Flecken wie auf Salbeikäse hervorzubringen und in seiner aristokratischen Konstitution erschreckliche Revolutionen zu verursachen. Das Meer bedeutet für ihn das Radikale in der Natur. Doch endlich, nach einer kurzen Rast der Erholung, bändigt seine Würde auch den Ozean, und er reist mit Mylady weiter nach Chesney Wold und übernachtet nur einmal in London auf dem Wege nach Lincolnshire.

Durch denselben kalten Sonnenschein, der immer kälter wird, je mehr sich der Tag neigt, und durch denselben scharfen Wind, der immer schärfer wird, wie die einzelnen Schatten der kahlen Bäume im Wald zusammenfließen und der Geisterweg an seiner westlichen Ecke von einer Feuersäule am Himmel erhellt wird und sich auf die kommende Nacht gefaßt macht – fahren sie in den Park ein.

Die Krähen in ihren luftigen Häusern in der Ulmenallee scheinen die Frage zu besprechen, wer in dem unten dahinrollenden Wagen sitzt; einige scheinen ganz einverstanden, daß Sir Leicester und Mylady angekommen sind, andre streiten mit den Unzufriedenen, die es nicht zugeben wollen; dann sind alle einig, die Frage als erledigt zu betrachten, plötzlich brechen sie aber wieder in heftigen Streit aus, aufgereizt durch einen hartnäckigen, verschlafenen Vogelkameraden, der noch ein letztes widerspruchsvolles Krächzen hören ließ.

Der Reisewagen kümmert sich nicht darum und rollt auf das Haus zu, wo durch die Fenster warme Feuer scheinen, aber nicht genug an Zahl und nicht so hell, um der dunkeln Masse der Front den Anstrich des Bewohntseins zu geben. Aber der glänzende und auserwählte Kreis wird das bald ändern.

Mrs. Rouncewell steht bereit und erwidert Sir Leicesters gewohnten Händedruck mit einem tiefen Knicks.

»Wie geht’s Ihnen, Mrs. Rouncewell? Es freut mich, Sie zu sehen.«

»Ich hoffe, ich habe die Ehre, Sie in bester Gesundheit bewillkommnen zu dürfen, Sir Leicester.«

»In bestem Wohlbefinden, Mrs. Rouncewell.«

»Mylady sieht ausgezeichnet wohl aus«, sagt Mrs. Rouncewell mit einem zweiten Knicks.

Mylady gibt, ohne viel Worte zu verschwenden, zu verstehen, daß sie sich so langweilig wohl befinde, wie sie nur hoffen kann.

Rosa steht im Hintergrund hinter der Wirtschafterin, und Mylady, die eine schnelle Beobachtungsgabe nicht verlernt hat, was sie auch sonst alles überwunden haben mag, fragt:

»Wer ist das Mädchen?«

»Eine junge Schülerin von mir, Mylady – Rosa.«

»Kommen Sie her, Rosa!« Lady Dedlock winkt ihr fast mit einem Schein von Interesse. »Wissen Sie, wie hübsch Sie sind, mein Kind?« fragt sie und berührt die Schulter des Mädchens mit zwei Fingern.

Sehr beschämt sagt Rosa: »Nein, wenn Sie erlauben, Mylady!« und blickt empor und blickt wieder zu Boden, weiß nicht, wohin schauen, und sieht dadurch noch hübscher aus.

»Wie alt sind Sie?«

»Neunzehn, Mylady.«

»Neunzehn«, wiederholt Mylady gedankenvoll. »Nehmen Sie sich in acht, daß man Ihnen nicht mit Schmeicheleien den Kopf verdreht.«

»Ja, Mylady.«

Mylady berührt das Grübchen in der Wange des Mädchens mit ihren zarten behandschuhten Fingern und geht weiter bis an den Fuß der Treppenflucht, wo Sir Leicester ritterlich ihrer harrt. Ein alter Dedlock stiert aus einem Bilde, so groß wie im Leben und ebenso schläfrig, ratlos herunter, als ob er nicht wüßte, was er sich denken sollte… Wahrscheinlich ist das sein gewöhnlicher Geisteszustand gewesen schon in den Tagen der Königin Elisabeth.

Den ganzen Abend weiß Rosa in dem Zimmer der Wirtschafterin weiter nichts zu tun als das Lob Lady Dedlocks zu singen. Sie sei so leutselig, so anmutig, so schön, so elegant, habe eine so süße Stimme, und ihre Berührung durchzucke einen, daß man das Gefühl gar nicht los werden könne. Mrs. Rouncewell bestätigt das alles nicht ohne Stolz und ist nur hinsichtlich des Punktes Leutseligkeit nicht so ganz derselben Meinung. Mrs. Rouncewell weiß das nicht so ganz gewiß. Gott behüte, daß sie nur eine Silbe zum Nachteil irgend eines Mitglieds dieser hervorragenden Familie sagen sollte, und vor allem nicht über Mylady, der die ganze Welt zu Füßen liegt, aber wenn Mylady nur ein wenig freier sein wollte, nicht gar so kalt und zurückhaltend, meint Mrs. Rouncewell, würde sie leutseliger sein.

»Es ist fast schade«, setzt Mrs. Rouncewell hinzu, – fast, denn es würde an Gottlosigkeit grenzen, zu denken, es könnte in einer so ausdrücklich von der Vorsehung geschaffenen Einrichtung wie den Dedlocks etwas besser sein, als es ist – »daß Mylady keine Familie hat. Wenn sie eine Tochter hätte, eine erwachsene junge Dame, für die sie Interesse fühlte, so glaube ich, besäße sie die einzige Eigenschaft, die ihr zur Vollkommenheit noch fehlt.«

»Wäre dann vielleicht ihr Stolz nicht noch größer, Großmutter?« fragt Watt, der inzwischen zu Hause gewesen, aber gleich wieder zurückgekehrt ist, ein so guter Enkel ist er.

»Größer und am größten, mein Lieber«, verweist ihn die Haushälterin mit Würde, »sind Worte, die ich mir auf Mylady anzuwenden nicht erlauben darf, nicht einmal angewendet hören will.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Großmutter. Aber sie ist doch stolz, nicht wahr?«

»Wenn sie stolz ist, so hat sie allen Grund dazu. Die Familie Dedlock hat stets Grund dazu.«

»Nun, so hoffe ich«, sagt Watt, »daß sie aus ihrem Gebetbuch eine gewisse Stelle, die wohl nur die gewöhnlichen Leute angeht, über Stolz und Hoffart ausstreicht. Entschuldige, Großmutter! Es war nur ein Spaß.«

»Sir Leicester und Lady Dedlock, mein Lieber, sind keine passenden Zielscheiben für Spaße.«

»An Sir Leicester ist jedenfalls nichts Spaßiges«, sagt Watt. »Er ist kein Springinsfeld, und ich bitte ihn demütig um Verzeihung. Ich hoffe, Großmutter, daß die Anwesenheit der Familie und ihrer Gäste für mich kein Hindernis bildet, noch ein paar Tage wie jeder andre Reisende im Gasthof zu bleiben.«

»Natürlich, nicht im mindesten.«

»Das freut mich, weil ich – weil ich ein unwiderstehliches Verlangen fühle, meine Bekanntschaft mit dieser schönen Nachbarschaft zu erweitern.«

Er sieht dabei zufällig Rosa an, die deshalb die Augen senkt und wirklich sehr verlegen ist.

Aber nach dem alten Aberglauben sollten Rosas Ohren brennen und nicht ihre frischen Wangen, denn Myladys Kammerzofe hält in diesem Augenblick mit erstaunlicher Energie eine lange Rede über sie.

Myladys Kammerzofe ist eine Französin von zweiunddreißig Jahren aus den südlichen Provinzen zwischen Avignon und Marseille; ein großäugiges, braunes Frauenzimmer mit schwarzem Haar, die ganz hübsch wäre ohne einen gewissen katzenhaften Zug um die Lippen und eine gewisse unangenehme Gespanntheit des Gesichtes, die den Mund zu gierig erscheinen und die Stirn zu sehr hervortreten läßt. Ihr Körperbau hat etwas unbeschreiblich Scharfes und Hageres und sie selbst eine eigne Art, lauernd aus den Augenwinkeln zu schielen, ohne den Kopf zu drehen, die sie sich besser schenken könnte, besonders, wenn sie bei übler Laune und in der Nähe von Messern ist. Trotz des guten Geschmacks in ihrer Kleidung und sonstigen Toilette stechen diese Eigenschaften so hervor, daß sie wie eine zwar sehr saubere, aber doch nicht vollständig gezähmte Wölfin herumzugehen scheint.

Sie ist in allen für ihre Stellung nötigen Kenntnissen wohl bewandert und spricht überdies die englische Sprache fast wie eine Engländerin, und es fehlt ihr daher nicht an Worten, um ihrem Zorn darüber, daß Rosa Myladys Aufmerksamkeit erregt hat, ausgiebig Luft machen zu können, und sie entströmen ihr während des Essens mit so ingrimmigem Hohn, daß der zärtliche Bediente, der ihr Gesellschaft leistet, sich geradezu erleichtert fühlt, als sie bei der Mehlspeise das Messer weglegt und wieder zum Löffel greift.

Hahaha! Sie, Hortense, ist seit fünf Jahren in Myladys Diensten, und diese hat sie sich immer zehn Schritt vom Leibe gehalten; aber die Puppe wird geliebkost!… Jawohl, geliebkost!… Kaum, daß Mylady angekommen ist! Hahaha! »Und wissen Sie, wie hübsch Sie sind mein Kind?« – »Nein, Mylady!« – Da hat sie Recht! »Und wie alt sind Sie, mein Kind?« »Und nehmen Sie sich in acht, daß man Ihnen nicht mit Schmeicheleienden Kopf verdreht.« O wie drollig! Es ist wirklich überwältigend.

Kurz, Mademoiselle Hortense kann es nicht verwinden, gibt sich tagelang bei Tisch selbst unter ihren Landsleuten und den Zofen, die mit der Schar von Gästen kommen, dem stillen Genuß dieses scherzhaften Themas hin – einem Genuß, der sich in der ihr eigentümlichen gemütvollen Weise durch eine noch größere Gespanntheit des Gesichts, noch schärfer zusammengepreßte Lippen und schielenden Blick ausdrückt. Ihre Vorliebe für solche Art Humor reflektiert sich häufig in Myladys Spiegeln, wenn Mylady nicht zugegen ist.

Sämtliche Spiegel im Hause sind übrigens jetzt in Tätigkeit. Viele von ihnen nach langer Ruhe. Es sehen aus ihnen schöne Gesichter hervor, albern lächelnde Gesichter, junge Gesichter, Gesichter von siebzig Jahren, die durchaus nicht alt sein wollen, die ganze Gesellschaft von Gesichtern, die ein oder zwei Januarwochen in Chesney Wold zubringen wollen und denen die fashionable Zeitung, dieser gewaltige Nimrod vor dem Herrn, mit Adlerblick von dem Tage an, wo sie in St. James in Sicht kommen, bis zu dem, wo sie der Tod niederhetzt, auf den Fersen ist.

Der Edelsitz in Lincolnshire ist lauter Leben. Bei Tage hört man Schüsse und Stimmen in den Wäldern, Reiter und Wagen beleben die Parkwege, Lakaien und Diener füllen das Dorf und das Wirtshaus. Des Nachts sehen die Fensterreihen, wenn man sie von fernen Waldlichtungen in dem langen Salon, wo Myladys Bild über dem großen Prachtkamin hängt, erblickt, aus wie eine Reihe Juwelen in schwarzer Fassung. Sonntags wird die kleine, kalte Kirche fast erwärmt von so viel hoher Gesellschaft, und der dumpfige Geruch des Dedlockstaubes geht ganz in zartem Parfüm unter.

Der glänzende und vornehme Kreis umfaßt nicht wenig Aufwand an Erziehung, Verstand, Mut, Ehre, Schönheit und Tugend, aber dennoch leidet er an einem kleinen Mangel – trotz seiner unermeßlichen Vorzüge. Was kann das sein?

Etwa Dandytum? Es ist kein König Georg IV. mehr da – wie schade –, um in der Dandymode den Ton anzugeben. Die steifgestärkten weißen Halsbinden, die Röcke mit kurzen Taillen, die falschen Waden, die Schnürleiber sind verschwunden. Es gibt keine Karikaturen solch weiblicher Exquisiten mehr, die in der Opernloge im Übermaß von Entzücken in Ohnmacht fallen und von andern zeremoniösen Geschöpfen vermittelst langhalsiger Riechfläschchen wieder zum Leben erweckt werden, kein Beau ist mehr da, der vier Männer braucht, die ihn in seine Buckskins schütteln, der zu allen Hinrichtungen geht, aber von Selbstvorwürfen gepeinigt wird, wenn er einmal eine ganze Erbse gegessen hat.

Aber ist vielleicht doch Dandytum in dem glänzenden und vornehmen Kreise vorhanden? Dandytum von einer schädlicheren Art als das von der Oberfläche verschwundene und mit weniger harmlosen Dingen beschäftigt, als mit gestärkten weißen Halstüchern wundervolle Knoten zu schürzen und die eigne Verdauung einzuschränken, Dinge, die einen vernünftigen Menschen eigentlich nichts angehen.

Jawohl, es ist nicht zu leugnen. Es sind in Chesney Wold in dieser Januarwoche einige Damen und Herren da von der neuesten Mode – in der Religion zum Beispiel –, eine Gesellschaft, die in geziert ergriffener Sehnsucht nach Gemütsbewegung im Verlauf einer kleinen oberflächlichen Plauderei ein für allemal festgestellt hat, daß es dem gemeinen Volk an Glauben überhaupt fehle.

Es gibt auch Damen und Herren hier von einer andern Mode, die nicht so neu, aber sehr elegant ist, und die überein gekommen sind, einen glatten Firnis über die Welt zu streichen, damit die rauhe Wirklichkeit nicht so in die Augen steche. Für sie muß alles nett sein und unaufdringlich. Sie haben herausgefunden, wo es beständig fehlt. Sie dürfen über nichts weinen und über nichts lachen. Sie dürfen sich nicht durch Ideen stören lassen – sogar die schönen Künste müssen ihnen in Puder und rückwärtsschreitend wie der Lordkammerherr aufwarten –, müssen die Putzmacher- und Schneidermodelle früherer Jahrhunderte anziehen und ganz besonders Sorge tragen, daß sie sich nicht von dem lebendigen Geist der Zeit beeinflussen lassen.

Da ist zum Beispiel Lord Boodle, der bei seiner Partei großen Ruf genießt, der erfaßt hat, was Staatsdienst heißt, und Sir Leicester Dedlock nach dem Diner ernsthaft versichert, er wisse wirklich nicht, wo die gegenwärtige Zeit hinaus wolle. Eine Debatte sei nicht mehr, was sie in früherer Zeit gewesen; das Unterhaus sei nicht mehr, was es früher gewesen. Selbst ein Kabinett sei jetzt ganz anders als früher. Er nehme mit Erstaunen wahr, daß, im Fall das gegenwärtige Ministerium gestürzt werden sollte, die Krone bei der Bildung eines neuen Kabinetts in ihrer Wahl auf Lord Coodle und Sir Thomas Doodle beschränkt sei – vorausgesetzt, daß der Herzog von Foodle nicht in einem Kabinett mit Goodle sitzen könne, was man nach dem Bruch infolge der Affäre Hoodle annehmen müsse. Wenn man nun das Ministerium des Innern und die Führung des Oberhauses Joodle überlasse, die Schatzkammer Koodle, die Kolonien Loodle und das Auswärtige Amt Moodle, was bleibe dann für Noodle? Den Vorsitz im Ministerrat könne man ihm nicht anbieten, der sei für Poodle reserviert. Die Domänen und Liegenschaften könne man ihm nicht anvertrauen, die langten kaum für Quoodle. Was folge daraus? Daß das Vaterland zugrunde geht. Und das leuchtet dem Patriotismus Sir Leicester Dedlocks ein, weil man keine Stelle für Doodle hat.

In andrer Hinsicht beweist Hochwohlgeboren William Buffy, Parlamentsmitglied, einem ihm gegenüber Sitzenden, daß der Untergang des Vaterlandes – über die Tatsache ist gewiß kein Zweifel, es handelt sich nur um die Form – Cuffy zuzuschreiben ist. Wenn man Cuffy, als er zuerst ins Parlament gewählt wurde, gebührend behandelt und ihn verhindert hätte, zu Duffy überzugehen, so würde man ihn mit Fuffy haben alliieren können, hätte die gewichtige Unterstützung eines so gewiegten Redners wie Guffy sich gesichert, wäre bei den Wahlen durch den großen Einfluß und Reichtum Huffys unterstützt worden, hätte für drei Grafschaften Juffy, Kuffy und Luffy ins Parlament gebracht und das Kabinett durch die Amtserfahrung und das geschäftliche Talent Muffys gekräftigt. Das wäre alles geschehen, anstatt daß man jetzt von der bloßen Laune Cuffys abhinge.

Über diesen Punkt und einige untergeordnete Fragen herrschen Meinungsverschiedenheiten. Aber es ist dem glänzenden und vornehmen Kreis vollkommen klar, daß es sich nur um Boodle und seinen Anhang und um Buffy und seinen Anhang handeln kann. Das sind die großen Schauspieler, für die allein die Bühne da ist. Allerdings ist auch noch das Volk da – eine gewisse große Menge von Überzähligen, die gelegentlich angeredet werden und für die Vivats und Hochs und den Chor wie auf der Theaterbühne reserviert sind –, aber Boodle und Buffy, ihre Anhänger und Familien, ihre Erben, Exekutoren, Administratoren und Kuratoren sind die gebornen ersten Helden, Direktoren und Regisseure, und sonst darf niemand auf den Brettern erscheinen.

Auch darin liegt vielleicht mehr Dandytum in Chesney Wold, als dem glänzenden vornehmen Kreis auf die Dauer guttun wird. Es ist bei den ruhigsten und höflichsten Kreisen genau so wie mit dem Kreise, den der Nekromant um sich zieht – man sieht sehr seltsame Erscheinungen sich außerhalb desselben bewegen. Aber mit dem Unterschied, daß Wirklichkeiten leichter als Phantome den Kreis durchbrechen können.

Chesney Wold ist jedenfalls übervoll; so voll, daß im Busen der schlechter untergebrachten Kammerzofen ein brennendes Gefühl der Zurücksetzung glimmt, das nicht auszulöschen ist.

Nur ein Zimmer steht leer. Es ist ein Turmzimmer der dritten Verdienstklasse, einfach aber behaglich ausgestattet, von altmodischem geschäftsmäßigem Aussehen. Es ist Mr. Tulkinghorns Zimmer, das niemals einem andern eingeräumt wird, da er zu jeder Zeit kommen kann.

Vorläufig ist er noch nicht da. In seiner stillen Art pflegt er bei schönem Wetter von dem Dorfe her durch den Park zu gehen, in diesem Zimmer zu erscheinen, als wenn er es nie verlassen hätte, einen Diener zu beauftragen, Sir Leicester seine Ankunft zu melden, falls man seiner bedürfen sollte, und zehn Minuten vor dem Diner im Schatten der Bibliothekstür aufzutauchen. Er schläft in seinem Turm mit dem klagenden Flaggenstock über denn Haupte, und vor seinem Fenster dehnt sich ein flaches, bleigedecktes Dach, wo man bei schönem Morgenwetter vor dem Frühstück seine schwarze Gestalt herumspazieren sehen kann wie eine gigantische Krähe.

Jeden Tag vor dem Diner sieht sich Mylady nach ihm in der Dämmerung der Bibliothek um. Aber er ist nicht da. Jeden Tag beim Diner wirft Mylady einen Blick nach dem untern Ende der Tafel und sucht den leeren Platz, der ihn erwarten würde, wenn er schon angekommen wäre; aber es ist kein leerer Platz da. Jeden Abend fragt Mylady gelegentlich ihre Zofe:

»Ist Mr. Tulkinghorn angekommen?«

Jeden Abend lautet die Antwort:

»Nein, Mylady, noch nicht.«

Eines Abends, während sich Mylady das Haar aufbinden läßt, versinkt sie nach dieser Antwort in tiefes Grübeln, bis sie im Spiegel neben ihrem sinnenden Gesicht ein paar scharf beobachtende dunkle Augen erblickt.

»Wollen Sie sich gefälligst um Ihre Obliegenheiten kümmern«, sagt Mylady zu dem Spiegelbild Hortenses. »Sie können ihre Schönheit bei einer andern Gelegenheit bewundern.«

»Pardon! Ich bewundere Myladys Schönheit.«

»Die brauchen Sie gar nicht zu bewundern«, sagt Mylady verweisend.

Endlich, eines Nachmittags, kurz vor Sonnenuntergang, als die bunten Gruppen, die während der letzten paar Stunden den Geisterweg belebten, sich zerstreut haben und nur Sir Leicester und Mylady noch auf der Terrasse verweilen, erscheint Mr. Tulkinghorn. Er nähert sich mit seinem gewohnten gemessenen Schritt, der niemals schneller und niemals langsamer wird. Er trägt seine übliche ausdruckslose Maske und verbirgt Familiengeheimnisse in jedem Glied seines Körpers und jeder Falte seines Anzugs. Ob wirklich seine ganze Seele den Großen der Erde gewidmet ist oder sich nur auf die Dienstleistungen, die er sich bezahlen läßt, beschränkt, ist sein persönliches Geheimnis. Er bewahrt es, wie er die Geheimnisse seiner Klienten bewahrt; er ist in dieser Sache sein eigner Klient und wird sich nie verraten.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Tulkinghorn?« fragt Sir Leicester und streckt seine Hand aus.

Mr. Tulkinghorn befindet sich vollkommen wohl.

Sir Leicester und Mylady befinden sich ebenfalls sehr wohl. Alles höchst zufriedenstellend. Der Advokat geht, die Hände auf dem Rücken, neben Sir Leicester auf der Terrasse auf und ab. Mylady auf der andern Seite.

»Wir erwarteten Sie schon früher«, sagt Sir Leicester. Eine sehr gnädige Bemerkung. Das heißt soviel wie: Mr. Tulkinghorn, wir denken an Sie, selbst wenn Sie nicht hier sind und uns durch Ihre Anwesenheit an Ihre Existenz erinnern. Sie sehen, Sir, wir widmen Ihnen einen Teil unsrer Gedanken.

Mr. Tulkinghorn weiß das; er neigt das Haupt und sagt, er fühle sich außerordentlich verbunden.

»Ich wäre eher gekommen, wenn mich nicht die Prozesse zwischen Ihnen und Boythorn so sehr in Anspruch genommen hätten.«

»Ein sehr zügelloser Charakter«, bemerkt Sir Leicester mit Strenge. »Ein außerordentlich gefährlicher Mann für die menschliche Gesellschaft. Ein Mann von sehr niedriger Denkungsweise.«

»Er ist starrköpfig«, bestätigt Mr. Tulkinghorn.

»Ganz natürlich ist ein solcher Mensch starrköpfig«, sagt Sir Leicester und macht ein entsprechendes Gesicht. »Das wundert mich gar nicht.«

»Die einzige Frage ist nun«, fährt der Advokat fort, »ob Sie in einer Hinsicht nachgeben wollen.«

»Nein, Sir. Ausgeschlossen. Ich, nachgeben?«

»Ich meine keinen Punkt von Wichtigkeit. Natürlich würden Sie darin nicht nachgeben. Ich meine in einem nebensächlicheren Punkt.«

»Mr. Tulkinghorn«, erwidert Sir Leicester, »es kann zwischen mir und Mr. Boythorn keinen nebensächlichen Punkt geben. Wenn ich noch weiter gehe und sage, daß ich nicht begreife, wie irgendeins meiner Rechte ein nebensächlicher Punkt sein kann, so spreche ich nicht von mir allein, sondern in Bezug auf die Familientradition, die aufrecht zu erhalten mir obliegt.«

Mr. Tulkinghorn neigt wieder das Haupt.

»Ich bin jetzt instruiert«, sagt er. »Mr. Boythorn wird uns viel Ungelegenheiten machen.«

»Es liegt in der Natur eines solchen Charakters, Mr. Tulkinghorn, Unannehmlichkeiten zu bereiten. Ein ausnehmend übeldenkender, rebellischer Mensch. Ein Mensch, der vor fünfzig Jahren wahrscheinlich in Old-Bailey wegen demagogischer Umtriebe vor Gericht gestellt und streng bestraft worden wäre… Wenn man ihn nicht«, fügt Sir Leicester nach einer kurzen Pause hinzu, »gehenkt und gevierteilt hätte.«

– Sir Leicester scheint seine stolze Brust von einer Last zu befreien, indem er dies Todesurteil ausspricht. Das Aussprechen scheint ihm nach der wirklichen Vollstreckung des strengen Spruchs noch das beste zu sein. –

»Aber es wird Abend«, sagt er, »und Mylady könnte sich erkälten. Wollen wir vielleicht hineingehen?«

Als sie sich der Türe der Halle zuwenden, redet Lady Dedlock Mr. Tulkinghorn an:

»Sie ließen mir etwas über die Person sagen, nach deren Handschrift ich mich gelegentlich erkundigt habe. Es sieht Ihnen sehr ähnlich, daß Sie die Sache im Gedächtnis behielten; ich hatte sie schon ganz vergessen. Ihr Brief erinnerte mich wieder daran. Ich weiß nicht mehr, welche Ideenassoziation ich mit der Handschrift verbunden haben mag. Aber jedenfalls hatte ich eine dabei.«

»Wirklich?«

»O ja«, sagt Mylady leichthin. »Ich glaube, es muß irgendein Gedanke damit verbunden gewesen sein. Und Sie haben sich also wirklich die Mühe gegeben, den Schreiber dieses Dinges ausfindig zu machen…

Was war es gleich… Des Affidavits?«

»Ja.«

»Wie komisch!«

Sie treten in ein düsteres Frühstückszimmer im Erdgeschoß, das während des Tages von zwei tiefnischigen Fenstern erhellt wird. Es ist jetzt Zwielicht. Das Feuer glänzt hell an der getäfelten Wand und blaß auf den Fensterscheiben, hinter denen durch sein kaltes Spiegelbild die noch kältere Landschaft im Winde draußen zittert und ein grauer Nebel langsam einherkriecht: Der einzige Wanderer außer dem Wolkenheer.

Mylady ist in einem großen Lehnstuhl in der Kaminecke hingegossen, und Sir Leicester nimmt in einem andern großen Sessel ihr gegenüber Platz. Der Advokat steht vor dem Feuer und hält die Hand auf Armlänge vor, um sein Gesicht zu beschatten. Er blickt über den Arm auf Mylady.

»Ja«, sagt er, »ich erkundigte mich nach dem Mann und fand ihn. Und was das Seltsamste ist, ich fand –«

»– daß er durchaus keine ungewöhnliche Person ist, fürchte ich«, unterbricht ihn Lady Dedlock schmachtend.

»Ich fand ihn tot!«

»O Gott«, wehrt Sir Leicester Dedlock ab. Nicht so sehr von der Tatsache erschüttert als darüber, daß dergleichen hier erwähnt wird.

»Man wies mich nach seiner Wohnung – einem elenden, armseligen Ort –, und ich fand ihn tot.«

»Sie werden entschuldigen, Mr. Tulkinghorn«, bemerkt Sir Leicester, »ich glaube, je weniger von so etwas gesprochen wird –«

»Bitte, Sir Leicester, lassen Sie mich die Geschichte zu Ende hören«, unterbricht ihn Mylady. »Die Geschichte paßt vortrefflich für die Dämmerstunde. Wie schrecklich! Tot?«

Mr. Tulkinghorn bestätigt es abermals durch ein Kopfnicken. »Ob durch eigne Hand –«

»Auf Ehre!« ruft Sir Leicester. »Wahrhaftig –«

»Bitte lassen Sie mich die Sache zu Ende hören«, sagt Mylady.

»Wie Sie wünschen, Mylady, aber ich muß sagen –«

»Nein, Sie dürfen nichts sagen… Fahren Sie fort, Mr. Tulkinghorn.«

Sir Leicester gibt in seiner Galanterie nach, obgleich er innerlich fühlt, daß solche Unsauberkeiten den obern Klassen vorzusetzen – wahrhaftig –

»Ich wollte sagen«, fängt der Advokat mit unerschütterlicher Ruhe wieder an, »daß ich außerstande bin, Ihnen zu berichten, ob er durch eigne Hand gestorben ist oder nicht. Eigentlich müßte ich einen andern Ausdruck gebrauchen, denn er ist unzweifelhaft durch eigne Hand gestorben, wenn es sich auch nicht aufklären ließe, ob er vorsätzlich oder unabsichtlich gehandelt hat. Die Totenschau sprach sich dahin aus, daß er sich zufällig vergiftet habe.«

»Und was für eine Art Mensch war der Beklagenswerte?« fragt Mylady.

»Das ist sehr schwer zu sagen«, gibt der Advokat kopfschüttelnd zur Antwort. »Er hatte in so herabgekommenen Verhältnissen gelebt und sah mit seiner zigeunerhaften Gesichtsfarbe und seinem wirren schwarzen Haar und Bart so vernachlässigt aus, daß man ihn für den Gemeinsten der Gemeinen hätte halten mögen. Der Arzt jedoch war der Meinung, daß er früher etwas Besseres gewesen sein müßte.«

»Wie hieß der Unglückliche?«

»Er hieß so, wie er sich selbst nannte, aber niemand wußte seinen wirklichen Namen.«

»Auch keiner von denen, die ihn gepflegt haben?«

»Es hat ihn niemand gepflegt. Man fand ihn tot. Vielmehr ich fand ihn tot.«

»Gab es keinen Anhaltspunkt, etwas über ihn zu erfahren?«

»Nein; es war«, sagt der Advokat nachdenklich, »ein alter Mantelsack da, aber… Nein, es fanden sich keine Papiere vor.«

Während dieses ganz kurzen Zwiegesprächs sehen sich Lady Dedlock und Mr. Tulkinghorn ohne die geringste Veränderung in ihrem gewöhnlichen Verhalten zueinander unverwandt an – wie es vielleicht bei der Besprechung eines so ungewöhnlichen Themas natürlich ist. Sir Leicester hat mit dem typischen Ausdruck des Dedlocks auf der Treppe ins Feuer gestarrt. Als die Geschichte zu Ende ist, protestiert er wieder vornehm und betont, da es ganz klar sei, daß der arme Teufel in Myladys Seele unmöglich Erinnerungen erwecken könne – wenn er nicht etwa Bettelbriefe geschrieben habe –, er hoffe nichts mehr von einem Thema zu hören, das Myladys Stellung so fern liege.

»Allerdings eine Schauergeschichte«, sagt Mylady und sammelt ihre Mäntel und Pelze um sich, »aber man fühlt für einen Augenblick ein Interesse dafür. Haben Sie die Güte, Mr. Tulkinghorn, mir die Türe zu öffnen.«

Mr. Tulkinghorn gehorcht ehrerbietig und hält sie offen, während Mylady hinausgeht. Sie geht mit ihrer gewöhnlichen abgespannten Miene und gleichgültigen Grazie dicht an ihm vorüber. Sie sehen sich wieder beim Diner – auch am nächsten Tag – und später Tag für Tag. Lady Dedlock ist immer dieselbe erschöpfte Göttin, umgeben von Anbetern und der furchtbaren Gefahr ausgesetzt, zu Tode gelangweilt zu werden, selbst, wenn sie auf ihrem eignen Altar thront.

Mr. Tulkinghorn ist immer noch dieselbe stumme Schublade für hochadlige Vertrauensmitteilungen, so gar nicht an seinem Platz und doch so vollkommen zu Hause. Sie scheinen so wenig Rücksicht aufeinander zu nehmen, wie nur zwei Leute, die in ein und demselben Haus wohnen, aufeinander nehmen können; aber ob jeder den andern beobachtet, belauert und im Verdacht hat, daß er einen wichtigen, geheimen Gedanken verberge; ob jeder immer gerüstet ist, sich nie vom andern überrumpeln zu lassen, was jeder darum geben würde, um zu wissen, wieviel der andre weiß, – alles das liegt in ihrem tiefsten Herzen verborgen.