36. Kapitel


36. Kapitel

Chesney Wold

Charley und ich traten unsre Reise nach Lincolnshire nicht allein an. Mein Vormund hatte es sich nicht nehmen lassen, mich im Auge zu behalten bis zu unsrer sichern Ankunft in Mr. Boythorns Haus. So begleitete er uns, und wir waren zwei Tage unterwegs. Mir erschien jeder Lufthauch, jeder Duft, jede Blume und jedes Blatt, jeder Grashalm und jede vorüberziehende Wolke und alles in der Natur schöner und wunderbarer als je. Das war mein erster Gewinn, den ich aus meiner Krankheit zog. Wie wenig hatte ich verloren, wenn die ganze weite Welt so voller Wonnen für mich war!

Da mein Vormund gleich wieder zurückreisen wollte, vereinbarten wir bereits auf der Hinfahrt einen Tag, wo mein Liebling mich besuchen kommen sollte. Ich schrieb ihr einen Brief, den er ihr zu geben versprach, und er schied von uns eine halbe Stunde nach unsrer Ankunft an unserm Reiseziel. Es war ein schöner Frühsommerabend.

Hätte eine gute Fee für mich das Haus mit einem Wink ihres Zauberstabes gebaut und wäre ich eine Prinzessin und ihr Patenkind gewesen, hätte man mich darin nicht mehr ehren können. So viele Vorbereitungen hatte man für mich getroffen und überall eine so liebevolle Erinnerung an all die Kleinigkeiten, die ich liebte, an den Tag gelegt, daß ich mich wohl ein Dutzend Mal, von Rührung überwältigt, hätte hinsetzen können, ehe noch die Hälfte der Zimmer besichtigt war. Ich tat jedoch etwas Vernünftigeres. Ich führte nämlich Charley überall herum. Charleys Entzücken beruhigte mich, und nachdem wir einen Spaziergang im Garten gemacht und Charley ihr ganzes Vokabularium von Bewunderungsausdrücken erschöpft hatte, fühlte ich mich wieder stillglücklich. Es war mir ein großer Trost, nach dem Tee zu mir sagen zu können: Liebe Esther, ich glaube, du bist jetzt verständig genug, um dich hinzusetzen und einen Dankesbrief an deinen liebenswürdigen Wirt zu schreiben. Er hatte einen Bewillkommnungsbrief an mich zurückgelassen, der so sonnig war wie sein eignes Gesicht, und seinen Vogel meiner Obhut anvertraut, worin ich das höchste Zeichen seines Vertrauens sah. Ich schrieb ihm ein Billett nach London, erzählte ihm, was alle seine Lieblingspflanzen und Bäume machten und wie der wunderbarste aller Vögel mir mit seinem Gezirp auf gastfreundschaftlichste Weise die Honneurs des Hauses gemacht habe und jetzt, nachdem er zum unsäglichen Entzücken meiner kleinen Zofe auf meiner Schulter gesungen, in der gewöhnlichen Ecke seines Käfigs schlafen gegangen sei. Ob er dabei träume oder nicht, sei ich außerstande zu berichten.

Nachdem ich meinen Brief beendet und auf die Post geschickt hatte, blieb mir viel mit dem Auspacken und Ordnen meiner Sachen zu tun, und ich schickte deshalb Charley zeitig zu Bett, da ich ihrer diesen Abend nicht weiter bedürfe.

Ich hatte nämlich noch nicht in den Spiegel gesehen und auch meinen eignen nicht zurückverlangt. Deshalb wollte ich allein sein und sagte mir, wie ich jetzt in meinem Zimmer ungestört war: Esther, wenn du glücklich sein und ein Recht haben willst, zu beten, treu und wahr zu bleiben, mußt du jetzt Wort halten. Ich war fest entschlossen, es zu halten, aber ich setzte mich erst eine Weile hin, um mir all das Gute, das mir widerfahren, nochmals vor Augen zu führen.

Das Haar hatte man mir nicht abgeschnitten, obgleich es mehr als einmal gefährdet gewesen war. Es war noch lang und stark. Ich löste es, ließ es herunterfallen und trat vor den Toilettenspiegel. Man hatte ihn mit einem Musselinevorhang verhüllt. Ich zog die Gaze zurück. Ich hatte mich sehr verändert – ach, sehr, sehr. Anfangs war mir mein Gesicht so fremd, daß ich es fast mit den Händen bedeckt und wahrscheinlich zurückgefahren wäre, wenn ich vorher meine Gedanken nicht gesammelt hätte. Bald aber gewöhnte ich mich mehr daran und lernte dadurch die Größe der Veränderung nur noch genauer kennen.

Sie war nicht von der Art, wie ich sie erwartete. Ich war nie schön gewesen und hatte mich nie dafür gehalten, aber ich hatte doch ganz anders ausgesehen. Jetzt war alles verschwunden. Es gelang mir mit ein paar durchaus nicht bittern Tränen, mich damit abzufinden, und ich band mir das Haar für die Nacht auf und konnte mit wirklich dankbarem Herzen vor dem Spiegel stehen.

Eine Sache beunruhigte mich, und ich mußte lange darüber nachdenken, ehe ich einschlief. Ich hatte den Blumenstrauß von Mr. Woodcourt aufgehoben, die Blumen getrocknet und in ein Buch, das mir teuer war, gelegt. Niemand wußte das, selbst Ada nicht. Ich schwankte, ob ich recht täte, ein Geschenk aufzubewahren, das er früher einer andern gegeben – ob es edel gegen ihn war. Ich wollte selbst in den heimlichsten Tiefen meiner Seele edel gegen ihn sein, weil ich ihn einst hätte lieben und ihm mein Herz ganz widmen können. Endlich kam ich zu dem Schluß, daß ich es behalten dürfte, wenn auch nur als eine Erinnerung an etwas, das unwiderruflich vorüber war.

Ich stand absichtlich am nächsten Morgen zeitig auf, um vor dem Spiegel sitzen zu können, wenn Charley wie gewöhnlich auf den Zehenspitzen hereinkäme.

»O Gott, Miß!« rief sie und fuhr zurück, als sie mich so sah.

»Ja, Charley«, sagte ich und steckte mir ruhig das Haar auf. »Ich befinde mich ganz wohl dabei und fühle mich vollkommen glücklich.«

Ich sah, welche Last ihr von der Seele fiel. Aber bei mir war die Erleichterung noch bei weitem größer. Ich kannte jetzt das Schlimmste und hatte mein seelisches Gleichgewicht wiedergewonnen.

Von dem Wunsch erfüllt, noch vor Adas Ankunft ganz wieder bei Kräften und guter Laune zu sein, entwarf ich mit Charley eine Reihe von Plänen, die uns ermöglichen sollten, den ganzen Tag im Freien zu sein. Wir wollten vor dem Frühstück spazieren gehen und zeitig zu Mittag essen und dazwischen uns ebenfalls im Freien und nach dem Tee im Garten aufhalten, uns zeitig schlafen legen, jeden Hügel der Nachbarschaft besteigen und jeden Weg durch Gebüsch und Feld durchforschen. Was kräftigende Speisen und kleine Stärkungsmittel betraf, war Mr. Boythorns gutherzige Haushälterin beständig mit etwas zu essen oder zu trinken bei der Hand, und wenn es ihr zu Ohren kam, daß ich im Park ausruhe, gleich kam sie mir mit einem Korb nachgetrabt, und ihr freundliches Gesicht glänzte bei ihren Vorlesungen über die Wichtigkeit häufigen Essens. Dann war ein ausdrücklich für mich bestimmtes Pony da, ein dickes kleines Ding mit einem kurzen Hals und einer dicht über die Augen fallenden Mähne, das, wenn es wollte, so leicht und ruhig galoppieren konnte, daß es eine wahre Freude war. Schon nach ein paar Tagen kam es auf mich zu, wenn ich es rief, fraß mir aus der Hand und lief mir nach. Wir lernten uns so gut verstehen, daß, wenn es träge und etwas trotzköpfig mit mir einen schattigen Heckengang entlang trabte und ich ihm auf den Hals klopfte und sagte: »Stubbs, ich wundre mich, daß du nicht galoppierst, wo du doch weißt, wie gern ich das habe; mir scheint gar, du willst einschlafen«, es den Kopf komisch ein paar Mal schüttelte und sogleich in Galopp verfiel, wobei Charley immer stehen blieb und vor Freude in die Hände klatschte. Ich weiß nicht, wer dem Pony den Namen »Stubbs« gegeben hatte, aber er schien so natürlich zu ihm zu gehören wie sein zottiges Fell.

Einmal spannten wir es vor einen kleinen Wagen und fuhren triumphierend fünf Meilen weit die grünen Hecken entlang, aber plötzlich, gerade als wir es in den Himmel hoben, schien es übelzunehmen, daß es ein Kreis von Mücken, die schon auf dem ganzen Weg seine Ohren umschwirrten, so weit begleitet hatte, und es blieb stehen, offenbar, um darüber nachzudenken. Wie ich vermute, kam es zu der Ansicht, die Lage sei unerträglich, denn es weigerte sich standhaft, sich von der Stelle zu rühren, bis ich Charley die Zügel übergab, ausstieg und zu Fuß weiterging. Und da folgte es mir mit einer gewissen trotzigen Art von guter Laune, steckte mir den Kopf unter den Arm und rieb sich das Ohr an meinem Ärmel. Es nützte nichts, daß ich sagte: »Stubbs, ich bin, wie ich dich kenne, überzeugt, du wirst weitergehen, wenn ich mich in den Wagen setze.« Aber kaum war ich auch nur einen Schritt von ihm weg, blieb es wie eingewurzelt stehen, und wieder mußte ich wie zuerst vor ihm hergehen. Und in diesem Aufzug kehrten wir zur großen Freude der Dorfbevölkerung wieder nach Hause zurück.

Charley und ich hatten wirklich allen Grund, Chesney Wold das freundschaftlichste aller Dörfer zu nennen. Schon nach Verlauf einer Woche freuten sich die Leute so sehr, wenn wir vorbeikamen – und das geschah häufig genug im Lauf des Tages –, daß uns aus jeder Hütte freundliche Gesichter grüßten. Ich hatte schon früher viele von den Erwachsenen und fast alle Kinder kennengelernt, aber jetzt schien sogar der Kirchturm ein vertrautes und liebevolles Aussehen anzunehmen.

Unter meinen neuen Freundinnen befand sich auch eine uralte Frau, die in einem so kleinen Hüttchen, strohbedeckt und weißgetüncht, wohnte, daß der Fensterladen, wenn er aufgeklappt wurde, die ganze Vorderseite des Hauses bedeckte.

Diese Alte hatte einen Enkel auf der See, und ich schrieb einen Brief für sie an ihn und zeichnete oben drüber die Kaminecke, in der er aufgewachsen war und wo sein Stuhl noch auf seinem alten Fleck stand. Das ganze Dorf hielt das für das größte Kunstwerk der Welt, und als eine Antwort von Plymouth kam, worin er äußerte, daß er das Bild mit nach Amerika hinübernehmen und von dort wieder schreiben wollte, rechnete man mir all das Gute, das von rechtswegen dem Postamt gebührte, hoch an und schrieb alle Verdienste des ganzen Beförderungssystems mir zu. Das viele Spazierengehen in frischer Luft, das Spielen mit den Kindern, das Plaudern mit so vielen Leuten, die Besuche in den vielen Hütten, dazu noch der Unterricht für Charley und das tägliche Briefschreiben an Ada ließen mir kaum Zeit übrig, an den kleinen Verlust, den ich erlitten, zu denken. Und so war ich fast immer heiter. Wenn ich zuweilen doch daran denken mußte, ging es immer bald vorüber. Ich fühlte es tiefer, als ich hätte hoffen dürfen, als einmal ein Kind vor mir zu seiner Mutter sagte: »Warum ist die Dame jetzt nicht mehr so hübsch wie früher?« Aber als ich merkte, daß das Kind mich deshalb nicht weniger gern hatte und mit einer Art mitleidiger Zärtlichkeit mit seiner weichen Hand über mein Gesicht strich, war ich bald wieder beruhigt.

Die Luft wehte mich so frisch und erquickend an wie nur je, und die Farbe der Gesundheit kam nach und nach wieder. Charley sah prächtig aus, strahlend und rosig, und wir freuten uns beide, so lange der Tag war, und schliefen gesund die Nächte hindurch.

Einen Platz im Park von Chesney Wold, mit einer lieblichen Aussicht von einer erhöht stehenden Bank aus, hatte ich besonders gern. Die Waldung war dort gelichtet und ausgehauen, um den Ausblick zu verschönern, und die helle sonnige Landschaft dahinter schimmerte so wundervoll in der Ferne, daß ich wenigstens einmal des Tages dort rastete. Ein malerischer Teil des Herrschaftssitzes, der »Geisterweg« genannt, nahm sich von dieser Höhe herab sehr schön aus, und der unheimliche Name und die damit zusammenhängende alte Familiensage der Dedlocks, die mir Mr. Boythorn schon früher einmal erzählt hatte, verliehen der Landschaft neben ihren wirklichen Reizen etwas seltsam Geheimnisvolles. Nicht weit davon lag ein Abhang, auf dem die herrlichsten Veilchen wuchsen, und da es Charleys tägliches Vergnügen war, Blumen zu pflücken, gewann sie die Stelle so lieb wie ich selbst.

Ich kam nie in die Nähe des Hauses und hatte auch keine Veranlassung dazu. Die Familie war nicht anwesend, wie ich schon bei meiner Ankunft gehört hatte, und wurde auch nicht erwartet. Immerhin empfand ich eine gewisse Neugierde und ein Interesse für das Gebäude. Ich saß oft auf der Bank, malte mir aus, wie wohl das Haus eingerichtet wäre, und hätte gern gewußt, ob wirklich, wie die Sage erzählt, ein menschlichen Tritten ähnlicher Schall auf dem einsamen Geisterweg widerhalle. Das unbeschreibliche Gefühl, das Lady Dedlock in mir erweckt hatte, mag wohl dazu beigetragen haben, daß ich mich selbst während ihrer Abwesenheit von dem Hause fern hielt. Ich weiß es nicht gewiß, glaube aber, daß das der Grund war, der mich abschreckte, in die Nähe des Hauses zu gehen.

Eines Tages nun, nach einem langen Spaziergang, ruhte ich wieder auf meinem Lieblingsplatz aus, und Charley suchte Veilchen in meiner Nähe. Ich richtete wie gewöhnlich meinen Blick auf den sich in weiter Ferne in tiefem Schatten von Mauerwerk hinziehenden Geisterweg und malte mir die weibliche Gestalt aus, die dort angeblich spuken sollte, als ich wahrnahm, daß sich mir in Wirklichkeit eine Gestalt durch das Gehölz näherte. Der Ausblick war so von Laub verfinstert, und die auf dem Erdboden sich abmalenden Schatten der Zweige wirkten auf das Auge so verwirrend, daß ich sie anfangs nicht erkennen konnte, aber ganz allmählich zeigte es sich, daß es eine Dame war. – Und zwar Lady Dedlock! Sie war allein und näherte sich der Bank, wie ich mit Erstaunen bemerkte, in viel rascherem Schritt, als ich sie sonst je hatte gehen sehen.

Ihr unerwartetes Näherkommen versetzte mich in große Aufregung, und ich wäre gern aufgestanden, um meinen Spaziergang fortzusetzen, aber ich konnte nicht. Ich war wie gebannt. Nicht so sehr durch ihre aufgeregt flehende Gebärde, ihr rasches Näherkommen, ihre ausgestreckten Hände und die ganze Veränderung in ihrem sonst so stolzen selbstbeherrschten Wesen, als durch ein Etwas in ihrem Gesicht, nach dem ich geschmachtet und von dem ich geträumt hatte, als ich noch ein kleines Kind gewesen – von einem Etwas, das ich noch in keinem Gesicht gesehen.

Mir wurde ganz bang und schwach, und ich rief Charley. Lady Dedlock blieb sofort stehen und zeigte augenblicklich wieder ihre alte Haltung und ihre eisige Miene.

»Miß Summerson, ich fürchte, ich habe Sie erschreckt«, sagte sie und kam jetzt langsamer auf mich zu. »Sie können wohl kaum schon wieder bei Kräften sein. Ich weiß, daß Sie sehr krank gewesen sind. Es ist mir sehr zu Herzen gegangen, als ich es hörte.«

Ich hätte meine Augen ebensowenig von ihrem bleichen Gesicht wegwenden als von der Bank aufstehen können. Sie reichte mir ihre Hand, deren Eiseskälte mit der gezwungnen Fassung in ihrem Gesicht so im Widerspruch stand, daß mich der Bann noch mehr überwältigte. Ich kann nicht sagen, was für Gedanken mir durch den Kopf wirbelten.

»Aber Sie erholen sich jetzt wieder?« fragte sie freundlich.

»Vor einem Augenblick war mir noch ganz wohl, Lady Dedlock.«

»Ist dies Ihre junge Begleiterin?«

»Ja.«

»Möchten Sie sie nicht vorausschicken und mit mir Ihren Heimweg machen?«

»Charley«, sagte ich, »trag deine Blumen nach Hause. Ich werde gleich nachkommen.«

Mit ihrem besten Knicks band sich Charley errötend ihren Hut fest und entfernte sich. Als sie fort war, setzte sich Lady Dedlock neben mich auf die Bank.

Ich habe keine Worte, um meinen Gemütszustand zu beschreiben, als ich in ihrer Hand mein Taschentuch sah, mit dem ich die Leiche des Kindes in der Zieglerhütte zugedeckt hatte.

Ich blickte sie an. Aber ich konnte sie nicht sehen, ich konnte nicht Atem holen. So wild und ungestüm klopfte mein Herz, daß es mir vorkam, als wolle sich mein Leben von mir losreißen. Aber als sie mich an ihre Brust riß, mich mit heißen Tränen küßte, mich bedauerte, mich wieder zu mir selber brachte, dann vor mir auf die Knie fiel und mir zurief: »Mein Kind, mein Kind, ich bin deine verworfne unglückselige Mutter, oh, versuche mir zu vergeben…« als ich sie so zu meinen Füßen in ihrer großen Seelenqual liegen sah, fühlte ich mitten durch den Strom all dieser Gefühle ein Jauchzen der Dankbarkeit gegen die göttliche Vorsehung, daß ich jetzt so verändert war und durch keine Spur von Ähnlichkeit ihre Schande verraten konnte, gehen. Niemand hätte jetzt auch nur entfernt an einen nahen Verwandtschaftsgrad zwischen uns denken können.

Ich hob meine Mutter auf und bat und flehte sie an, sich nicht solcher Betrübnis hinzugeben und sich so vor mir zu demütigen. Ich tat es in gebrochenen, unzusammenhängenden Worten, denn außer daß ich furchtbar aufgeregt war, erschreckte es mich, sie vor mir knien zu sehen. Ich sagte ihr oder versuchte es vielmehr, daß, wenn mir, ihrem Kinde, es überhaupt zukäme, von Verzeihen zu reden, ich ihr schon viele, viele Jahre vergeben hätte. Ich sagte ihr, daß mein Herz vor Liebe zu ihr überströme, vor einer natürlichen Liebe, die nichts längst Vergangenes verändert habe oder irgend etwas je verändern könne. Es käme nicht mir, die ich jetzt zum ersten Mal an der Brust meiner Mutter läge, zu, sie dafür zur Rechenschaft zu ziehen, daß sie mir das Leben gegeben, sondern daß es meine Pflicht sei, sie zu segnen und sie aufzunehmen, ob auch die ganze Welt sich von ihr abwende, und daß ich sie nur um Erlaubnis bitten könne, das tun zu dürfen.

Ich hielt meine Mutter umarmt und sie mich, und in der schweigenden Waldung, in der stillen Ruhe des Sommertags schien es außer unser beider stürmisch klopfenden Herzen nichts zu geben, was nicht von Frieden erfüllt war.

»Mich zu segnen und mich aufzunehmen!« stöhnte meine Mutter. »Dazu ist es viel zu spät! Ich muß meinen dunkeln Weg allein gehen, und er wird mich führen, wohin er will. Von Tag zu Tag, manchmal von Stunde zu Stunde, sehe ich nicht den nächsten Schritt vor meinen schuldigen Füßen. Das ist die irdische Strafe, die ich auf mich geladen habe. Ich muß sie tragen und sie verbergen.«

Wie sie jetzt daran dachte, hüllte sie sich unwillkürlich wieder in die Miene stolzer Gleichgültigkeit wie in einen Schleier, aber nur einen Augenblick.

»Ich muß dieses Geheimnis verbergen, wenn es überhaupt möglich ist, nicht bloß um meinetwillen. Ich habe einen Gatten, ich unglückliches und Schande bringendes Geschöpf!«

Sie sprach diese Worte fast mit einem unterdrückten Schrei der Verzweiflung, der schrecklicher war, als wenn sie ihrer Leidenschaft freien Lauf gelassen hätte. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, schauderte in meiner Umarmung zusammen, als wollte sie vermeiden, daß ich sie berühre. Ich konnte sie mit all meiner Überredungskunst und meinen Liebkosungen nicht bewegen, aufzustehen. »Nein, nein, nein«, sagte sie, nur so könne sie mit mir sprechen, überall sonst müsse sie stolz und hochmütig sein. Hier in den einzigen natürlichen Minuten ihres Lebens wolle sie sich demütigen und sich schämen.

Sie erzählte mir, sie sei während meiner Krankheit fast wahnsinnig geworden. Erst vor nicht langer Zeit habe sie erfahren, daß ihr Kind noch lebe. Vorher habe sie nicht ahnen können, daß ich ihre Tochter sei. Sie wäre mir hierher gefolgt, um nur ein einziges Mal in ihrem Leben mit mir zu sprechen. Wir könnten nie zusammen kommen, nie miteinander verkehren, vielleicht von dieser Zeit an nie wieder auf Erden ein Wort miteinander sprechen. Sie übergab mir einen Brief, den sie nur für mich geschrieben hatte, und sagte mir, wenn ich ihn gelesen haben würde und vernichtet – nicht sowohl um ihretwegen, denn sie verlange für sich nichts mehr, als um ihres Gatten und meinetwillen –, müßte ich sie für immer als gestorben betrachten. Wenn ich glauben könnte, daß sie in der Seelenqual, in der ich sie jetzt sähe, mich mit der Liebe einer Mutter umfange, so bäte sie mich, es zu tun. Denn dann würde ich bei der Erinnerung daran, was sie gelitten, mit größerer Barmherzigkeit an sie denken können. Sie habe sich selbst über alle Hoffnung und Hilfe hinausbegeben. Ob sie ihr Geheimnis bis zum Tode bewahren könne oder ob es entdeckt und damit Schmach und Schande auf den Namen, den sie angenommen, bringen werde, sei ihr beständiger Gedanke in ihrer seelischen Einsamkeit. Keine Liebe könne sich ihr nahen und kein menschliches Geschöpf ihr die mindeste Hilfe leisten.

»Aber ist das Geheimnis vorläufig sicher?« fragte ich. »Ist es jetzt sicher, liebste Mutter?«

»Nein. Es war schon dicht daran, entdeckt zu werden. Durch einen Zufall nur wurde es noch gerettet. Ein andrer Zufall kann es verraten –morgen –, jeden Tag.«

»Fürchtest du eine bestimmte Person?«

»Still! Zittre und weine nicht so meinetwegen. Ich bin diese Tränen nicht wert«, sagte meine Mutter und küßte mir die Hände. »Ja, eine Person fürchte ich sehr.«

»Einen Feind?«

»Mein Freund ist er nicht. Er ist zu leidenschaftslos, um das eine oder das andre zu sein. Es ist Sir Leicester Dedlocks Advokat – mechanisch treu, ohne Anhänglichkeit und sehr erpicht auf den Gewinn, das Privilegium und den Ruf, der Herr der Geheimnisse großer Häuser zu sein.«

»Hat er Verdacht geschöpft?«

»Sogar sehr.«

»Aber nicht gegen dich?« fragte ich voll Unruhe.

»Ja. Er ist immer wachsam und beständig in meiner Nähe. Ich kann ihn vielleicht auf einem Punkt festhalten, aber ihn nie abschütteln.«

»Hat er so wenig Erbarmen oder Mitleid?«

»Er kennt weder das, noch Haß. Ihm ist alles gleichgültig, außer seinem Beruf. Sein Beruf ist die Entdeckung von Geheimnissen und der unumschränkte Besitz der Macht, die sie ihm verleihen.«

»Kannst du dich ihm nicht anvertrauen?«

»Ich werde es nie versuchen. Der finstre Weg, den ich seit so vielen Jahren gegangen bin, mag führen, wohin er will. Ich folge ihm bis zum Ende, was es auch immer sein mag. Es kann nahe, es kann entfernt liegen. So lange der Weg dauert, wird mich nichts davon abbringen.«

»Liebe Mutter, so entschlossen bist du?«

»Ich bin entschlossen. Ich habe lange Torheit mit Torheit, Hochmut mit Hochmut, Verachtung mit Verachtung, Trotz mit Trotz überboten und viele Eitelkeiten mit noch größeren überlebt und will auch diese Gefahr überleben und übersterben, wenn ich kann. Sie hat mich fast so grauenhaft eingeschlossen, wie diese Waldungen von Chesney Wold das Haus dort ringsum, aber mein Weg durch sie bleibt derselbe. Ich habe bloß einen. Ich kann bloß einen haben.«

»Mr. Jarndyce…«, fing ich an, aber meine Mutter unterbrach mich heftig.

»Hegt er Argwohn?«

»Nein. Nein, gewiß nicht. Verlaß dich darauf, er ahnt nichts.« Und ich teilte ihr mit, wieweit er meine Jugendgeschichte kenne und was er mir von ihr erzählt hatte. »Aber er ist so gut und verständig«, setzte ich hinzu, »daß er vielleicht, wenn er wüßte…«

Meine Mutter, die bis dahin ihre Stellung nicht im mindesten verändert hatte, unterbrach mich und legte mir die Hand auf den Mund.

»Vertraue ihm ganz«, sagte sie nach einer kleinen Weile. »Du hast meine Erlaubnis dazu – eine armselige Mitgift von einer solchen Mutter für ihr schwer gekränktes Kind –, aber sage mir nichts davon. Selbst jetzt besitze ich noch eine Spur von Stolz.«

Meine Aufregung und mein Schmerz waren so groß, daß ich meine Worte kaum selbst verstehen konnte, und jeder Satz, den meine Mutter gesprochen, hatte einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, daß ich ihr auseinandersetzte oder es wenigstens versuchte, ich habe nur gehofft, Mr. Jarndyce, der wie der beste Vater an mir gehandelt, könne vielleicht imstande sein, ihr einigermaßen mit Rat und Hilfe beizustehen. Aber meine Mutter sagte, es sei unmöglich. Niemand könne ihr helfen. Durch die Wüste, die vor ihr läge, müsse sie ganz allein gehen.

»Mein Kind, mein Kind!« sagte sie. »Jetzt zum letzten Mal! Ich küsse dich zum letzten Mal, umarme dich zum letzten Mal. Wir werden uns nie wiedersehen. Um die Hoffnung aufrecht zu erhalten, das tun zu können, wonach ich strebe, muß ich so bleiben, wie ich schon so lange gewesen bin. Das ist mein Lohn und mein Verhängnis. Wenn du von Lady Dedlock hörst, von der glänzenden, beneideten, umschmeichelten Lady, so denke daran, daß deine unglückliche, schuldbeladne Mutter sich unter dieser Maske verbirgt. Denke, daß sie in Wirklichkeit leidet und in nutzloser Reue den Rest von Zärtlichkeit und Wahrheit, dessen sie noch fähig ist, in ihrer Brust ersticken muß. Dann verzeihe ihr, wenn du kannst, und flehe den Himmel an, ihr zu vergeben.«

Wir hielten uns noch eine kleine Weile in den Armen, aber sie war so stark, daß sie meine Hände wegnehmen, wieder auf meine Brust legen, sich mit einem letzten Kuß von mir losreißen und wieder zurück durch den Wald gehen konnte.

Ich war allein. Ruhig und still unter mir in Sonnenschein und Schatten lag das alte Haus mit seinen Terrassen und Türmchen, das, wie ich es zum ersten Mal gesehen, ein so ruhevoller Frieden zu umschweben schien, das aber jetzt wie ein erbarmungsloser Zeuge des Jammers meiner Mutter aussah. In meiner Betäubung und einer Schwäche und Hilflosigkeit, wie ich sie kaum in der schlimmsten Zeit meiner Krankheit empfunden, kam mir die Notwendigkeit, mich gegen die Gefahr einer Entdeckung und selbst des leisesten Verdachtes sichern zu müssen, zu Hilfe. Ich tat mein möglichstes, um Charley zu verbergen, daß ich geweint hatte, und zwang mich, an die Verpflichtung, vorsichtig und gesammelt zu erscheinen, wie an ein mir anvertrautes heiliges Gut zu denken. Es bedurfte einiger Zeit, ehe es mir gelang, meine Schmerzensausbrüche zurückzudrängen, aber nach ungefähr einer Stunde befand ich mich besser und fühlte, daß ich heimkehren könnte.

Ich ging sehr langsam auf unser Haus zu und sagte Charley, die an der Gartenpforte nach mir Ausschau hielt, ich hätte mich verleiten lassen, meinen Spaziergang, nachdem mich Lady Dedlock verlassen, fortzusetzen, fühlte mich jetzt sehr müde und wolle mich hinlegen.

In der Stille meines Zimmers las ich den Brief und ersah daraus aufs deutlichste – und das tat mir wohl –, daß meine Mutter mich wissentlich nie verlassen hatte. Ihre ältere und einzige Schwester, meine Patin, hatte, als man mich als tot auf ein Bett gelegt, wahrscheinlich Lebenszeichen in mir entdeckt, mich in ihrem finster strengen Pflichtgefühl, ohne mein Lebenbleiben weiter zu wünschen oder zu wollen, insgeheim auferzogen und seit dem Tag meiner Geburt das Antlitz meiner Mutter nie wiedergesehen.

Welch seltsame Stellung nahm ich in dieser Welt ein. Meine Mutter hatte bis vor kurzer Zeit noch gewähnt, ich habe nie geatmet, sei längst begraben, habe nie zu den Lebenden gezählt und nie einen Namen getragen.

Als sie mich das erste Mal in der Kirche erblickt, wäre ich ihr aufgefallen, und sie hätte an das kleine Wesen denken müssen, das jetzt wohl so ähnlich wie ich hätte aussehen müssen. Was der Brief mir weiter sagte, will ich vorläufig nicht niederschreiben.

Meine erste Sorge war, ihn zu verbrennen und sogar die Asche zu vernichten. Dabei beschlich mich der Gedanke, es sei besser, ich wäre überhaupt nie am Leben geblieben – besser für viele Leute, wenn ich nie geatmet hätte. Es flößte mir Schrecken ein, daß ich meiner Mutter und einem stolzen Familiennamen möglicherweise Gefahr und Schande bringen könnte. Ich fühlte mich so verwirrt und erschüttert, daß ich zu glauben anfing, es sei vom Schicksal bestimmt gewesen, daß ich bei meiner Geburt hätte sterben sollen, und, daß ich noch lebe, sei unrecht.

So waren die Gefühle, die mich erfüllten.

Erschöpft schlief ich ein und weinte beim Aufwachen, bei dem Gedanken, mit meiner Last von Sorgen wieder in der Welt sein zu müssen. Es flößte mir ein Grauen ein, wenn ich wieder an die dachte, gegen die ich ein lebendiges Zeugnis war, und an den Besitzer von Chesney Wold – und an die neue schreckliche Bedeutung der alten Worte, die jetzt wie eine am Ufer zerschellende Woge in mein Ohr klangen: »Deine Mutter, Esther, ist deine Schande, und du bist die ihre. Die Zeit wird kommen, und früh genug, wo du das besser verstehen und auch fühlen wirst, wie es ein Weib nur fühlen kann.«

Und wieder erwachten die Worte in meinem Hirn: »Bete täglich, daß die Sünden anderer nicht auf dein Haupt kommen mögen.«

Das, was mich umfing, vermochte ich nicht mehr zu entwirren, und es kam mir vor, als ob alle Schmach und Schande an mir läge und jetzt die Heimsuchung über mich gekommen sei.

Der Tag verschwamm in einen düstern, trüben Abend, und immer noch kämpfte ich mit meinem Gram. Ich ging allein aus, ging eine kleine Weile im Park spazieren und beobachtete die dunkeln, auf die Bäume fallenden Schatten und den flatternden Flug der Fledermäuse, die mich manchmal fast streiften. Zum ersten Mal fühlte ich mich nach dem Schlosse hingezogen. Vielleicht wäre ich nicht in seine Nähe gekommen, wenn ich gefaßter gewesen wäre. Aber so lenkte ich in den Pfad ein, der dicht daran vorbeiführte.

Ich wagte nicht, stehen zu bleiben oder aufzublicken, aber ich ging an dem Terrassengarten mit seinen reichen Düften und seinen breiten Gängen, den wohlgepflegten Beeten und dem geschornen Rasen vorüber. Ich sah, wie schön und ernst er war, wie an den alten steinernen Balustraden und Brustlehnen und den breiten Treppen mit den niedrigen Stufen Zeit und Wetter genagt hatten, wie Moos und Efeu sie und das alte steinerne Piedestal der Sonnenuhr umwucherten, und ich hörte das Plätschern der Springbrunnen. Dann führte mich der Weg an langen Reihen dunkler Fenster vorüber, unterbrochen von bezinnten Türmen und Pforten in exzentrischen Formen, wo alte steinerne Löwen und groteske Ungeheuer vor dunkeln schattigen Höhlen sich aufbäumten und, mit Wappenschildern in den Klauen, das Abendgrauen anfletschten. Von da ging der Pfad unter einem Torweg hinweg über einen Hof mit dem Haupteingang und an den Stallungen vorbei. Tiefe Stimmen lebten im Rauschen des Windes auf, in der dicken, sich an einer hohen roten Ziegelmauer hinaufschlingenden Efeudecke, in dem leisen Ächzen des Wetterhahns, im Bellen der Hunde und in dem langsamen Dröhnen einer Uhr. Ein süßer Geruch von den rauschenden Linden traf mich, und ich wendete mich, wie der Pfad sich dahinwand, nach der Südfront, und über mir erblickte ich die Balustrade des Geisterwegs und ein helles Fenster. Vielleicht war es das meiner Mutter.

Der Weg war hier gepflastert wie die über mir befindliche Terrasse, und meine Schritte, bisher unhörbar gewesen, hallten jetzt laut auf den steinernen Platten wider. Ich blieb nirgends stehen, um mir etwas zu betrachten, aber ich sah alles beim Vorübergehen. Ich eilte rasch weiter und wäre in wenigen Augenblicken an dem erhellten Fenster vorbeigekommen, da brachte mich der Widerhall meiner Schritte plötzlich auf den Gedanken, in der Sage vom »Geisterweg« könne eine schreckliche Wahrheit liegen. Ich selbst könne bestimmt sein, Unglück über das stolze Haus zu bringen, und meine eignen warnenden Schritte spukten jetzt darin. Von einem Grauen vor mir selbst erfaßt, das mein Blut gerinnen machte, entfloh ich vor mir selbst und eilte auf dem Weg zurück, den ich gekommen, und schöpfte erst wieder Atem, als ich das Haus des Pförtners erreichte und in schweren schwarzen Massen der Park hinter mir lag.

Erst als ich in meinem Zimmer wieder für die Nacht allein war, bekümmert und unglücklich, wurde mir klar, wie unrecht und undankbar ich war. Ein Brief von meinem Herzensliebling, der morgen kommen wollte, wurde mir übergeben. Ein heiterer Brief voll so liebreicher Vorfreude, daß ich hätte von Stein sein müssen, wenn er mich nicht gerührt hätte. Auch mein Vormund schrieb, er bäte das Mütterchen, wenn ich es vielleicht irgendwo treffen sollte, zu grüßen und ihm zu sagen, wie jämmerlich sie sich ohne mich befunden hätten. Die Wirtschaft ginge aus allen Fugen, und niemand sonst könne die Schlüssel führen – jeder im Hause erkläre, es sei ganz verändert, und alle drohten mit Rebellion, wenn ich nicht bald zurückkäme. Die beiden Briefe führten mir vor Augen, wieweit über Verdienst man mich liebe und wie glücklich ich mich fühlen müsse. Das brachte mich darauf, über mein ganzes vergangenes Leben nachzudenken, und – was schon längst hätte geschehen sollen –ich kam in eine bessere Stimmung.

Ich sah recht gut ein, daß es nicht meine Bestimmung hatte sein können, zu sterben, sonst hätte ich nicht gelebt – um nicht zu sagen, sonst wäre ich nie für ein so glückliches Leben aufgespart worden. Ich erkannte, wieviel Umstände für mein Wohlergehen zusammen gewirkt hatten, und daß, wenn die Sünden der Väter manchmal an ihren Kindern heimgesucht würden, dies Wort nicht die Bedeutung haben könnte, die ich ihm heute morgen unterlegt. Ich begriff, daß ich an meiner Geburt ebensowenig schuld war wie die Königin an der ihren und von dem Vater im Himmel nicht für meine Geburt bestraft worden sein könnte, ebensowenig wie eine Königin dafür belohnt werden würde. Die erschütternden Ereignisse des heutigen Tages müßten mich belehren, daß ich sogar so bald schon einen mildernden Trost in der über mich gekommenen Veränderung finden könnte. Ich fühlte mich bestärkt in meinen alten Entschlüssen und flehte um Kraft und schüttete mein Herz aus in einer Bitte für meine unglückliche Mutter und mich und fühlte, daß der finstere Schatten von heute morgen zu schwinden begann. Er quälte mich nicht im Schlaf, und als das Licht des kommenden Tages mich weckte, war er verschwunden.

Mein Liebling sollte um fünf Uhr nachmittags ankommen. Ich wußte die Zwischenzeit nicht besser zu verbringen, als durch einen langen Spaziergang die Straße entlang, die sie kommen mußte. So machten denn Charley und ich und Stubbs – Stubbs diesmal gesattelt, denn nach unsern Erfahrungen spannten wir ihn nie wieder ein – einen langen Ausflug auf diesem Weg und wieder zurück. Dann hielten wir große Umschau in Haus und Garten, um nachzusehen, ob alles in bestem Zustand sei, und hielten den Vogel als wichtigen Bewohner des Hauses bereit. Es mußten noch mehr als zwei Stunden vergehen, ehe sie ankommen konnte, und die Zwischenzeit erschien mir sehr lang, da ich wegen meines veränderten Aussehens voll banger Unruhe war. Ich liebte mein Herzenskind so sehr, daß ich in großer Sorge war, welchen Eindruck es auf sie machen würde.

Wird sie wohl vorbereitet sein? dachte ich. Bei meinem Anblick nicht erschrecken und sich abgestoßen fühlen? Wird sie sich nicht vielleicht erst wieder von neuem an mich gewöhnen müssen?

Ich kannte das offenherzige reizende Gesicht meines Lieblings zu gut, als daß ich nicht schon im voraus hätte gewiß sein müssen, sie würde den ersten Eindruck nicht vor mir verbergen können. Und ich überlegte mir, ob ich dann ganz für mich würde einstehen können, wenn es, wie es doch so wahrscheinlich war, wechselnde Empfindungen verraten sollte.

Ja! Ich glaubte, ich werde es imstande sein. Nach der letzten Nacht glaubte ich es. Aber warten und warten und hoffen und harren und denken und grübeln sind eine schlimme Sache, und so beschloß ich denn, ihr wieder auf der Straße entgegenzugehen.

Daher sagte ich zu Charley: »Charley, ich gehe allein auf der Straße spazieren, bis sie kommt.« Und da Charley stets im höchsten Maße alles billigte, was ich für gut fand, blieb sie zu Hause und ließ mich gehen.

Aber als ich an den zweiten Meilenstein kam, hatten mich die öfters in der Ferne aufsteigenden Staubwolken so wiederholt in Aufregung versetzt, trotzdem ich mir sagte, es könne die Kutsche noch nicht sein, daß ich wieder umzukehren und nach Hause zu gehen beschloß. Und dann war mir so bange, die Kutsche möchte am Ende hinter mir herkommen, daß ich den größten Teil des Weges lief, um mich nicht einholen zu lassen.

Wieder sicher zu Hause, hielt ich mir vor, was für Dummheiten ich gemacht hatte. Jetzt war ich ganz erhitzt, und die Situation war schlimmer anstatt besser.

Endlich – ich glaubte, es sei noch mindestens eine Viertelstunde Zeit –rief mir Charley plötzlich zu: »Da kommt sie, Miß! Da ist sie schon!«

Fast ohne es zu wollen, lief ich die Treppe hinauf in mein Zimmer und versteckte mich hinter der Tür. Und da stand ich zitternd, selbst noch, als ich meinen Liebling die Treppe heraufkommen und rufen hörte: »Esther, meine liebe gute Esther, wo steckst du denn? Mütterchen! Kleines altes Mütterchen!«

Sie kam hereingerannt und wollte wieder hinauslaufen, als sie mich erblickte. Ach, mein Engel, mein Liebling! Der alte teuere Blick! Lauter Liebe, Zärtlichkeit und Zuneigung. Nichts sonst darin, nein, nichts, nichts.

Ach, wie glücklich fühlte ich mich, wie ich auf dem Fußboden saß und neben mir mein süßes liebes Kind, das seine liebliche Wange an mein durch Narben entstelltes Gesicht schmiegte, es mit Tränen und Küssen bedeckte, mich hin- und herwiegte wie ein Baby, mich bei jedem erdenklichen Kosenamen rief und an ihr zärtliches Herz drückte.

37. Kapitel


37. Kapitel

Jarndyce kontra Jarndyce

Wenn das Geheimnis, das ich zu bewahren hatte, nur mich betroffen hätte, würde ich es Ada anvertraut haben, bevor wir noch lange beisammen gewesen wären, so aber fühlte ich mich nicht einmal berechtigt, es meinem Vormund mitzuteilen, außer im äußersten Notfall. Es war eine schwere Bürde für mich, es so allein tragen zu müssen, aber meine Verpflichtung stand klar vor mir, und glücklich in der Liebe meines Herzenskindes, bedurfte ich keiner Ermutigung, stark zu bleiben. Oft, wenn sie schlief und alles ruhig war, erhielt mich die Erinnerung an meine Mutter wach, und ich fühlte mich tief bekümmert. Aber nie mehr wurde ich ein zweites Mal schwach, und Ada fand mich, wie sie sagte, so wie je. Sie berührte die Veränderung nicht, von der ich genug gesagt habe, und wenn ich es vermeiden kann, auch weiter nicht mehr zu erwähnen gedenke.

Sehr schwer wurde es mir, an diesem Abend ganz gefaßt zu erscheinen. Ada fragte mich, während wir arbeiteten, ob die Familie auf ihrem Landsitz sei, und als ich antworten mußte, ja, ich glaubte es, denn Lady Dedlock habe vorgestern mit mir im Park gesprochen, war es mir noch schwerer, auf die Frage, was sie denn gesagt habe, nur zur Antwort zu geben, sie wäre sehr gütig und teilnehmend gewesen. Ada gab zu, daß sie schön und elegant sei, machte aber einige Bemerkungen über ihr stolzes Wesen und ihre hochmütige abweisende Miene. Ohne es zu wissen, kam mir Charley zu Hilfe, indem sie uns erzählte, Lady Dedlock habe nur zwei Nächte auf dem Landsitz verbracht, um bei einer andern großen Familie in der nächsten Grafschaft einen Besuch zu machen, und sei zeitig am andern Morgen, nachdem sie mit mir an unserm Lieblingsplatz gesprochen, wieder weitergereist. Charley machte das Sprichwort, daß kleine Eimer stets große Ohren haben, zur Wahrheit, denn sie erfuhr immer an einem Tag mehr als ich in einem Monat.

Wir sollten vier Wochen in Mr. Boythorns Haus bleiben. Mein Liebling war kaum acht schöne Tage dagewesen, soweit ich mich erinnere, als eines Abends, nachdem wir dem Gärtner beim Blumenbegießen geholfen hatten und gerade die Lichter angezündet worden waren, Charley mit höchst wichtiger Miene hinter Adas Stuhl auftauchte und mir geheimnisvoll winkte, hinauszukommen.

»O, wenn Sie erlauben, Miß«, flüsterte sie mit so runden und großen Augen wie nur möglich. »Es verlangt Sie jemand im Wirtshaus zu sprechen.«

»Wer kann mich denn im Wirtshaus sprechen wollen, Charley?«

»Ich weiß nicht, Miß«, entgegnete Charley, streckte den Kopf vor und faltete ihre Hände über ihrem kleinen Schürzenbund, was sie stets tat, wenn sie im Hochgenuß eines Geheimnisses oder einer vertraulichen Mitteilung schwelgte. »Aber es ist ein Herr, Miß. Er läßt sich Ihnen empfehlen und Sie bitten, zu kommen, ohne jemandem etwas davon zu sagen.«

»Wer läßt sich empfehlen, Charley?«

»Er tut’s, Miß«, entgegnete Charley, deren grammatikalische Kenntnisse gewiß Fortschritte, aber nicht allzuschnelle, machten.

»Und wie kommst du dazu, die Botschaft zu überbringen, Charley?«

»Ich bin nicht der Bote, wenn Sie erlauben, Miß«, rechtfertigte sich meine kleine Zofe. »Es war W. Grubble, Miß.«

»Und wer ist denn W. Grubble, Charley?«

»Mister Grubble, Miß. Kennen Sie ihn denn nicht, Miß? ‚Gasthaus zum Dedlock-Wappen, ausgeübt von W. Grubble‘.«

Charley sagte die Worte her, als ob sie die Firmatafel langsam abbuchstabierte.

»Ah, der Wirt, Charley?«

»Ja, Miß. Wenn Sie erlauben, Miß, seine Frau ist eine sehr schöne Dame, aber sie hat sich einmal den Knöchel gebrochen und ist nie mehr wieder grade geworden. Ihr Bruder ist der Sägemüller, den sie eingesteckt haben, Miß, und sie glauben, er wird sich mit Bier noch einmal ganz und gar zu Tode trinken«, sagte Charley.

Da ich nicht wußte, um was es sich handeln könne, und jetzt sehr leicht in Schrecken zu versetzen war, hielt ich es für das Beste, sogleich selbst hinzugehen. Ich ließ mir von Charley rasch Hut, Schleier und meinen Schal holen und ging dann die kleine holprige Straße hinab, wo ich ebenso zu Hause war wie in Mr. Boythorns Garten.

Mr. Grubble stand in Hemdsärmeln an der Tür seines äußerst saubern kleinen Gasthauses und wartete auf mich. Als er mich kommen sah, nahm er seinen Hut mit beiden Händen ab und trug ihn wie ein schweres eisernes Gefäß vor mir her durch den sandbestreuten Garten in sein bestes Zimmer, eine hübsche, mit Teppichen belegte Stube mit mehr Blumenstöcken darin, als gerade nötig gewesen wären, einem kolorierten Kupferstich, die Königin Karoline darstellend, verschiednen Muscheln und einer ziemlichen Anzahl Teebretter, zwei ausgestopften Fischen in Glaskästen und einem seltsamen Ei oder Kürbis – oder was es sonst war, was da von der Ecke herabhing. Ich kannte Mr. Grubble vom Ansehen recht gut, denn er pflegte oft an seiner Haustür zu stehen. Er war ein freundlich aussehender untersetzter Mann von mittleren Jahren und schien sich einzubilden, ohne Hut und Stulpenstiefel nie passend angezogen zu sein. Einen Rock dagegen trug er nur in der Kirche.

Er putzte den Docht der Kerze, trat ein paar Schritte zurück, um zu sehen, ob sie gut brenne, und verschwand aus dem Zimmer, mir ganz unerwartet, denn ich wollte ihn gerade fragen, wer nach mir geschickt habe. Die Tür der gegenüberliegenden Stube ging jetzt auf, und ich hörte einige Stimmen, die mir bekannt vorkamen, aber sogleich verstummten. Ein rascher leichter Schritt näherte sich dem Zimmer, in dem ich wartete, und wer stand vor mir?

Richard!

»Meine liebe Esther!« rief er. »Meine Herzensfreundin!«

Er war so zärtlich und innig, daß ich in der ersten Überraschung, erfreut über seine brüderliche Begrüßung, kaum Atem genug finden konnte, ihm zu sagen, daß sich Ada wohl befinde.

»Sie erraten immer meine innersten Gedanken – sind immer dasselbe liebe Mädchen.« Er führte mich zu einem Stuhl und setzte sich neben mich.

Ich schlug meinen Schleier ein wenig zurück.

»Immer dasselbe liebe Mädchen«, wiederholte er genau so herzlich wie vorhin.

Ich schlug den Schleier ganz zurück, legte meine Hand auf seinen Arm, sah ihn an und sagte ihm, wie dankbar ich ihm für sein freundliches Willkommen sei und wie sehr es mich freue, ihn wiederzusehen; –innerlich froh auch wegen des in meiner Krankheit gefaßten Entschlusses, den ich ihm sogleich mitteilte.

»Meine Liebe«, sagte Richard, »auch für mich gibt es niemanden, mit dem es mich mehr zu sprechen verlangte, als Sie, denn ich möchte, daß Sie mich ganz verstehen.«

»Und ich möchte, Richard«, sagte ich und schüttelte den Kopf, »daß Sie vor allem noch eine andre Person verstehen lernten.«

»Da Sie so direkt auf John Jarndyce anzuspielen scheinen«, sagte Richard, »kann ich wohl annehmen, daß Sie niemand anderen meinen?«

»Natürlich meine ich ihn.«

»Dann kann ich gleich sagen, daß mich das freut, denn gerade in dieser Hinsicht liegt es mir am meisten am Herzen, verstanden zu werden. Von Ihnen, verstehen Sie recht: von Ihnen, liebe Esther. Mr. Jarndyce oder Mr. Sonstjemand bin ich keine Rechenschaft schuldig.«

Es schmerzte mich, daß er diesen Ton anschlug, und äußerte mich in diesem Sinne.

»Gut, gut, liebe Esther. Wir wollen davon jetzt nicht weiter sprechen«, sagte Richard. »Ich möchte mit Ihnen am Arm in Ihrem Landhaus hier erscheinen und meine reizende Kusine überraschen. Ich hoffe, Ihre Gewissenhaftigkeit John Jarndyce gegenüber verbietet Ihnen das nicht?«

»Lieber Richard, Sie wissen, Sie würden in seinem eignen Haus ebenso herzlich willkommen sein. Es würde Ihnen ein Vaterhaus sein, wenn Sie es nur so betrachten wollten. Und Sie sind hier wie dort gleich herzlich willkommen.«

»Sie sprechen wie die beste aller kleinen Hausfrauen!« rief Richard heiter.

Ich fragte ihn, wie ihm sein neuer Beruf gefalle.

»Ganz gut, danke«, sagte er. »Nichts auszusetzen. Vorderhand ist er so gut wie jeder andre. Ich weiß nicht, ob ich mich sehr um ihn kümmern werde, wenn ich erst einmal im reinen bin, aber dann kann ich ja mein Patent verkaufen und… Aber sprechen wir jetzt nicht von dem ganzen Trödel.«

So jung und schön, in jeder Hinsicht so das vollkommene Gegenteil von Miß Flite und doch ihr so schrecklich ähnlich, als jetzt ein gequälter, von Ungeduld verzehrter Ausdruck sein Gesicht überflog.

»Ich bin soeben auf Urlaub in London, Esther.«

»Nein, wirklich?«

»Ja! Ich bin herübergereist wegen meiner – Kanzleigerichtsangelegenheit, ehe die langen Ferien anfangen, um nachzusehen, wie sie steht«, sagte Richard mit einem gezwungen unbefangnen Lächeln. »Ich versichere Ihnen, wir fangen jetzt wirklich an, mit dem langwierigen Prozeß vorwärts zu kommen.«

Ich schüttelte bedenklich den Kopf.

»Sie meinen, es ist kein angenehmes Gesprächsthema?« Wieder flog derselbe Schatten wie vorhin über sein Gesicht. »Wir wollen für heute abend die Sache ganz und gar fallen lassen… Weg damit. Wen, denken Sie wohl, habe ich mitgebracht?«

»War das Mr. Skimpoles Stimme vorhin?«

»Erraten! Das ist der richtige Mann für mich! Er tut mir wohler als jeder andre Mensch. Was für ein bezauberndes Kind er doch ist.«

Ich fragte Richard, ob jemand wisse, daß sie beide zusammen hierhergereist wären.

»Nein, niemand.« Richard hätte einen Besuch bei dem lieben alten Knaben gemacht – so nannte er Mr. Skimpole –, und der »liebe alte Knabe« hätte ihm unsern Aufenthalt mitgeteilt, es sich in den Kopf gesetzt, uns zu besuchen, und Lust bekommen, ihn zu begleiten, und so sei er denn hier.

»Er ist – ohne die nicht unbedeutenden Kosten, die er einem macht, einzubeziehen – dreifach sein Gewicht in Gold wert. Er ist so ein fideler Kerl. Kein Funken Eigennutz in ihm. Ein frisches jugendliches Herz.«

Ich sah zwar gerade keinen Beweis von Mr. Skimpoles Uneigennützigkeit in dem Umstand, daß er sich seine Reisekosten von Richard bezahlen ließ, aber ich machte weiter keine Bemerkung darüber.

Er kam jetzt selbst herein, und das gab unserm Gespräch eine andere Wendung. Er war entzückt, mich zu sehen, sagte, er hätte meinetwegen zuweilen während sechs Wochen Tränen der Freude und Teilnahme vergossen, wäre nie so glücklich gewesen, als wie er von meiner Genesung gehört habe, und finge jetzt an, einzusehen, warum in der Welt Gutes mit Schlimmem gemischt sei. Er fühle, daß er die Gesundheit um so höher schätze, wenn jemand anders krank sei, und sagte, er wisse durchaus nicht, ob es nicht im Schöpfungsplan läge, daß A. schielen müsse, um B. wegen seines eignen geraden Blickes glücklich zu machen, oder daß C. ein hölzernes Bein habe, um D. zufriedener mit seinem eignen aus Fleisch und Blut in einem seidnen Strumpf zu machen.

»Meine liebe Miß Summerson. Hier haben Sie unsern Freund Richard zum Beispiel. Er ist erfüllt von herrlichen Zukunftsträumen, die er aus der Nacht des Kanzleigerichtshofs heraufbeschwört. Ist das nicht herrlich, begeisternd und voller Poesie? In alten Zeiten wurden die Wälder und Einöden für den Schäfer durch die Pfeifen des Pan und den Tanz der Nymphen belebt und erhellt. Unser idyllischer Richard, dieser Schäfer der Gegenwart, bringt heitere Fröhlichkeit in die schläfrigen Advokatenkanzleien, indem er die Nymphe Fortuna und ihr Gefolge nach den melodischen Noten eines Urteils vor dem Richterstuhl tanzen läßt. Das ist doch wirklich erfreulich, das müssen Sie doch selbst sagen! Irgendein bärbeißiger, sauertöpfischer Kerl wird vielleicht einwenden: Was, einen Nutzen sollen alle diese Mißbräuche unsrer Gerichtshöfe auch noch haben? Wie können Sie so etwas verteidigen! Und ich antworte darauf: Mein bärbeißiger Freund, ich verteidige sie nicht, aber sie sind mir sehr angenehm. Ich habe einen Freund, einen jungen Schäfer, der sie in etwas für meine Einfalt geradezu Faszinierendes verwandelt. Ich sage nicht, daß sie erwiesenermaßen zu diesem Zweck existieren – aber es könnte vielleicht doch sein… Sie müssen bedenken, daß ich unter euch weltgesinnten Brummbären ein Kind bin und mich überdies nicht verpflichtet fühle, euch oder mir wegen irgend etwas Rechenschaft zu geben.«

Es wurde mir sofort klar, daß Richard kaum irgendeinen schlimmeren Freund hätte finden können als gerade diesen. Es machte mir große Sorge, daß er noch dazu zu einer Zeit, wo er eines festen Vorsatzes und Zieles am meisten bedurft hätte, diesen gewinnenden Leichtsinn, dieses jederzeit bereite Wegschieben unangenehmer Dinge vor Augen hatte. Ich glaubte mir wohl erklären zu können, warum ein fester Charakter wie der meines Vormunds – in der Welt erfahren und überdies gezwungen gewesen, die unglückseligen Verschleppungen des Familienunglücks mit anzusehen – einen so großen Trost in Mr. Skimpoles Offenherzigkeit hinsichtlich seiner Schwächen und seines Zurschautragens harmloser Aufrichtigkeit fand, aber ich konnte doch nicht so ganz davon durchdrungen sein, daß Mr. Skimpoles Wesen vollständig uneigennützig sei.

Sie gingen beide mit mir nach Hause, und nachdem Mr. Skimpole uns am Gartentor verlassen hatte, trat ich leise mit Richard ein und sagte:

»Liebe Ada, ich habe einen Herrn mitgebracht, der dich besuchen will.«

Es war nicht schwer, in ihrem errötenden erschrockenen Gesicht zu lesen. Sie liebte ihn innig, und er wußte es, und ich wußte es. Es war eine durchsichtige Sache, dieses »Einander-nur-Vetter-und-Kusine-Sein«.

Ich machte mir fast Vorwürfe, in meinem Argwohn engherzig zu sein, aber ich fühlte mich doch nicht so ganz sicher, ob Richard Ada ebenso innig liebte wie sie ihn. Er bewunderte sie sehr – das hätte jeder tun müssen – und würde, glaube ich wohl sagen zu dürfen, sein jugendliches Verlöbnis mit Stolz und Freude erneuert haben, wenn er nicht gewußt hätte, wie fest sie das ihrem Vormund gegebne Versprechen gehalten haben würde.

Dennoch quälte mich der Gedanke, daß der ihn beherrschende Einfluß sich sogar bis hierher erstreckte, daß er hier wie in allem andern das Beste aufschöbe, bis ihm ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ nicht mehr auf der Seele liege. Was Richard ohne diesen geistigen Mehltau hätte sein können, entzieht sich wohl für immer meinen Blicken.

Er sagte Ada in seiner offensten Weise, er sei nicht gekommen, um die mit Mr. Jarndyce – wie er sagte, zu blind und vertrauensvoll – vereinbarten Bedingungen heimlich zu verletzen, sondern sei öffentlich gekommen, um sie und mich zu sehen und sich wegen seiner gegenwärtigen Stellung zu Mr. Jarndyce zu rechtfertigen. Da das alte Kind uns gleich stören kommen werde, bäte er mich, für morgen eine Stunde, wo er ohne Rückhalt mit mir sprechen und sich rechtfertigen könne, zu bestimmen. Ich schlug ihm einen Spaziergang im Park für sieben Uhr früh vor, und er ging darauf ein.

Mr. Skimpole erschien bald darauf und erheiterte uns eine Stunde lang. Er legte ein besonderes Verlangen an den Tag, die kleine Coavinses, wie er Charley nannte, zu sehen, und erzählte ihr mit der Miene eines Patriarchen, daß er ihrem seligen Vater soviel Beschäftigung, wie nur in seiner Macht gestanden, gegeben habe, und wenn einer ihrer kleinen Brüder sich beizeiten demselben Beruf zuwenden würde, er immer noch imstande zu sein hoffe, ihm ziemlich viel zu tun zu geben.

»Denn man fängt mich stets mit den gleichen Netzen«, sagte er und sah uns über ein Glas Wein mit Wasser mit strahlendem Gesicht an. »Und ich werde jedesmal wieder ausgelöst. Irgend jemand zahlt immer für mich. Ich selbst kann es nicht, das wissen Sie, denn ich habe nie Geld. Durch irgend jemandes Hilfe komme ich immer wieder frei. Wenn Sie mich aber fragen, wer der Jemand ist, könnte ich es Ihnen auf mein Wort nicht sagen. Wir wollen auf dieses Jemands Gesundheit trinken. Gott segne ihn!«

Richard verspätete sich ein wenig am Morgen, aber ich hatte nicht lange auf ihn zu warten, und wir gingen zusammen in den Park. Die Luft war hell und taufrisch, und kein Wölkchen stand am Himmel. Die Vögel sangen entzückend, die funkelnden Tropfen im Farnkraut, auf Gras und Laub, waren herrlich anzusehen, und der Reichtum des Waldes schien sich seit gestern verzwanzigfacht zu haben, als ob die Natur in der stillen Nacht emsiger als je für die Herrlichkeit des Tages vorgesorgt hätte.

»Es ist ein reizender Ort«, sagte Richard und sah sich um. »Nichts von dem Streit und dem Unfrieden von Prozessen.«

– Aber andrer Kummer war hier! –

»Ich will Ihnen was sagen, liebes Mütterchen. Wenn ich meine Angelegenheiten erst einmal in Ordnung gebracht habe, glaube ich, ich ziehe hierher und setze mich zur Ruhe.«

»Wäre es nicht besser, sich jetzt zur Ruhe zu setzen?«

»Jetzt zur Ruhe zu kommen oder überhaupt etwas Definitives zu tun, ist nicht so leicht. Kurz, es ist unmöglich. Mir wenigstens.«

»Warum?«

»Sie wissen, warum, Esther. Wenn Sie in einem unausgebauten Hause wohnten, das jeden Tag ein neues Dach bekommen oder vom Giebel bis zum Grund eingerissen und wieder neu aufgebaut werden kann – morgen, übermorgen, nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr –, würde es Ihnen auch schwerfallen, sich zur Ruhe zu setzen oder ins Geleise zu kommen. So geht es mir. Jetzt!! Es gibt kein Jetzt für uns Prozeßparteien.«

Ich hätte fast an die Anziehungskraft glauben können, von der meine arme geisteskranke Freundin in Bleakhaus gesprochen hatte, als ich jetzt wieder Richards verfinsterten Blick von gestern abend sah. Schrecklicher Gedanke, aber es lag auch etwas darin von dem Schatten des unglücklichen Gridley.

»Mein lieber Richard«, wendete ich ein, »das ist ein schlechter Anfang für unsre Unterredung.«

»Ich wußte, daß Sie das sagen würden, Mütterchen.«

»Und nicht ich allein, lieber Richard, war es, die Sie einmal warnte, nie eine Hoffnung oder eine Erwartung auf diesen Familienfluch zu gründen!«

»Da kommen Sie wieder auf John Jarndyce zurück«, unterbrach mich Richard ungeduldig. »Nun gut. Früher oder später müssen wir sowieso darauf kommen, denn auf ihn bezieht sich alles, was ich zu sagen habe, und es ist vielleicht am besten, wir sprechen gleich davon. Meine liebe Esther, wie können Sie nur so blind sein! Sehen Sie denn nicht, daß er als Mitbeteiligter ein Interesse daran haben muß, daß ich nichts von dem Prozesse weiß und mich möglichst wenig darum kümmere?«

»Richard!« drang ich in ihn. »Ist es denn möglich, daß Sie Mr. Jarndyce jemals gesehen, ihn sprechen gehört haben, jemals in seinem Hause gewohnt und ihn gekannt haben und es dennoch über sich bringen können, selbst mir gegenüber und an diesem einsamen Ort, wo uns niemand hört, einen so unwürdigen Verdacht auszusprechen!«

Er errötete tief, als ob er in seiner angebornen natürlichen Hochherzigkeit einen Gewissensbiß empfinde. Er schwieg eine kleine Weile, ehe er mit gepreßter Stimme zur Antwort gab:

»Esther, ich bin überzeugt, Sie halten mich nicht für einen niedrig denkenden Menschen und wissen, ich fühle wie Sie, daß Argwohn und Mißtrauen schlimme Eigenschaften in so jungen Jahren wie den meinen sind.«

»Gewiß«, versicherte ich, »gewiß.«

»Sie sind ein liebes Mädchen, wie immer, und trösten mich. Ich hätte überhaupt in dieser ganzen Angelegenheit ein bißchen Trost nötig, denn sie ist selbst im besten Fall eine schlimme Sache, wie ich Ihnen nicht erst zu sagen brauche.«

»Das weiß ich, Richard, das weiß ich so gut – was soll ich nur sagen –so gut wie Sie.«

»Kommen Sie, Schwester«, sagte Richard ein wenig heiterer. »Seien Sie jetzt unparteiisch. Wenn ich das Unglück habe, unter dem Einfluß des Prozesses zu stehen, so hat er’s doch auch. Wenn es mich ein wenig durcheinander gebracht hat, so ist es doch bei ihm ebenso der Fall. Ich sage ja nicht, daß er – abgesehen davon – nicht ein ehrenwerter Mann sei. Ich bin überzeugt, daß er es ist. Aber es steckt jedermann an. Sie wissen selbst, daß es jedermann ansteckt. Sie haben das fünfzigmal von ihm selber gehört. Warum sollte denn gerade er davon frei sein.«

»Weil«, sagte ich, »weil er ein ungewöhnlicher Charakter ist und sich mit Festigkeit außerhalb des Zauberkreises gehalten hat, Richard.«

»Ach, weil und weil!« entgegnete Richard in seiner lebhaften Weise. »Ich weiß wirklich nicht, mein liebes Mütterchen, ob es nicht bloße Klugheit und Vorsichtigkeit von ihm ist, die Maske solcher Gleichgültigkeit aufzusetzen. Andre dabei beteiligte Parteien werden vielleicht dadurch gleichgültiger gegen ihre eignen Interessen. Leute können wegsterben und Einzelheiten in Vergessenheit geraten – kurz, viele Dinge ruhig geschehen, die recht gelegen kommen.«

Richard tat mir so leid, daß ich ihm keinen Vorwurf mehr machen konnte, selbst nicht mit einem Blick. Ich erinnerte mich daran, wie nachsichtig und ohne Bitterkeit mein Vormund von ihm gesprochen hatte.

»Esther«, fing Richard wieder an, »Sie dürfen nicht etwa glauben, ich sei hierher gekommen, um John Jarndyce heimlich anzuklagen. Ich bin nur gekommen, um mich zu rechtfertigen. Was ich sage, ist: Alles war recht gut und schön, und wir kamen aufs beste miteinander aus, solange ich noch ein Knabe war und mich um den Prozeß ganz und gar nicht kümmerte. Kaum aber fing ich an, ein Interesse daran zu finden und ihm nachzugehen, wurde die Sache anders. Da entdeckte John Jarndyce, Ada und ich müßten unser Verhältnis lösen und paßten nicht für einander, wenn ich meinen höchst tadelnswerten Weg nicht verließe. Und das zu tun, fällt mir nun, liebe Esther, nicht ein. Ich will John Jarndyces Gunst nicht unter diesen unbilligen Bedingungen genießen, die er durchaus kein Recht hat, mir vorzuschreiben. Aber ob es ihm nun gefallen oder mißfallen mag, jedenfalls werde ich meine und Adas Rechte aufrecht erhalten. Ich habe viel darüber nachgedacht und bin endlich zu diesem Schluß gekommen.«

Armer lieber Richard! Allerdings hatte er darüber sehr viel nachgedacht. Sein Gesicht, seine Stimme und sein ganzes Benehmen verrieten das deutlich.

»Ich sage offen und ehrlich und habe ihm bereits darüber geschrieben, daß wir uneins sind und daß es besser ist, wir sind es offen als heimlich. Ich danke ihm für seinen guten Willen und seinen Schutz, und er geht seinen Weg und ich den meinen. Tatsache ist nun einmal, daß unsre Wege nicht dieselben sind. Nach einem der strittigen Testamente soll ich viel mehr bekommen als er. Ich will nicht behaupten, daß gerade dieses Testament gerichtlich bestätigt werden müsse, aber es hat gerade soviel Aussicht darauf wie die andern.«

»Lieber Richard. Ich habe schon von Ihrem Brief an ihn gehört. Er erwähnte ihn ohne ein böses oder erzürntes Wort.«

»Wirklich?« entgegnete Richard, ein wenig besänftigt. »Da freut es mich, daß ich sagte, er sei ein ehrenhafter Mann, außerhalb dieser ganzen unglückseligen Geschichte. Ich sagte das immer und habe nie daran gezweifelt. Ich weiß wohl, liebe Esther, meine Ansichten werden Ihnen ungerecht erscheinen und auch Ada, wenn Sie ihr erzählen, was wir miteinander gesprochen haben, aber wenn Sie die Prozeßakten so durchgenommen hätten, wie ich bei Kenge, wenn Sie wüßten, was für eine Unmasse von Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen, Verdächtigungen und Gegenverdächtigungen in ihnen steckt, so würden Sie mich in meiner jetzigen Ansicht geradezu für gemäßigt halten.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Aber glauben Sie denn, daß in diesem Wust von Papieren viel Wahrheit und Gerechtigkeit steckt, Richard?«

»Wahrheit und Gerechtigkeit steckt irgendwo in dem Prozeß, Esther –«

»– oder war vor langer Zeit einmal darin«, sagte ich.

»Ist – ist darin – muß doch irgendwo darin stecken«, fuhr Richard ungeduldig fort, »und endlich einmal an den Tag kommen. Aber Ada mir als Lockvogel hinzustellen, um mich abzulenken, ist nicht der richtige Weg, die Wahrheit an den Tag zu bringen. Sie sagen, der Prozeß habe mich verändert. John Jarndyce sagt, er verändere jeden, der daran teil hat, habe es getan und werde es immer tun. Ein um so größeres Recht habe ich dann, alles aufzubieten, was ich nur kann, um ihn zu Ende zu bringen.«

»Alles, was Sie können, Richard! Aber glauben Sie nicht, daß in diesen vielen Jahren andre nicht auch schon getan haben, was sie konnten? Sind die Schwierigkeiten geringer geworden, bloß, weil es so vielen fehlgeschlagen ist?«

»Es kann nicht ewig dauern«, rief Richard mit einer heftig aufflammenden Wildheit, die wieder die traurige Erinnerung an Gridley in mir wachrief. »Ich bin jung, und es ist mir ernst. Und Energie und festes Wollen haben schon manches Wunder getan. Andre haben sich nur mit halber Kraft darauf geworfen. Ich widme mich der Sache mit Leib und Seele. Ich mache sie zu meinem Lebenszweck.«

»Um so schlimmer, lieber Richard, ach, nur um so schlimmer.«

»Nein, nein, nein, haben Sie keine Angst um mich!« antwortete er mit großer Innigkeit. »Sie sind ein liebes, gutes, kluges, ruhiges, prächtiges Mädchen, aber Sie sind in Vorurteilen befangen. Ich komme damit wieder auf John Jarndyce. Ich sage Ihnen, meine gute Esther, als wir miteinander auf dem Fuß standen, den er für so angemessen fand, standen wir nicht auf dem natürlichen Fuß.«

»Halten Sie denn Zwist und Feindschaft für natürliche Verhältnisse, Richard?«

»Nein, das sage ich nicht. Ich meine nur, daß die ganze Angelegenheit uns in eine schiefe Lage drängt, in der natürliche Verhältnisse ein Unding sind. Wieder ein Grund mehr, die Sache nach Möglichkeit zu beschleunigen. Wenn alles vorbei sein wird, entdecke ich vielleicht, daß ich mich in John Jarndyce geirrt habe. Mein Kopf wird möglicherweise klarer sein, wenn ich den Prozeß einmal los bin, und dann stimme ich vielleicht dem bei, was Sie mir heute gesagt haben. – Sehr gut. Dann werde ich das mit Freude anerkennen und ihm Abbitte leisten.«

– Also alles in eine phantastische Ferne gerückt, und bis dahin Verwirrung und Unklarheit! –

»Vertrauteste meiner Seele! Meine liebe, liebe Esther, ich wünsche, daß meine Kusine Ada einsieht, daß ich hinsichtlich John Jarndyce nicht voreingenommen, launenhaft oder trotzköpfig bin, sondern zielbewußt vorgehe und die Vernunft auf meiner Seite habe. Ich möchte gern, daß Sie bei ihr für mich sprechen. Sie hat eine große Verehrung für ihren Vetter John, und ich weiß, Sie werden den von mir gewählten Weg in milderem Licht darstellen, selbst, wenn Sie ihn nicht billigen, und – kurz – ich möchte mich einem so vertrauensvollen Herzen wie dem Adas nicht im Lichte eines streitsüchtigen und argwöhnischen Charakters zeigen.«

Ich sagte ihm, er sei in diesen letzten Äußerungen mehr wieder der alte Richard gewesen als in all dem, was er vorher geäußert habe.

»Nun ja«, gestand Richard, »da mögen Sie recht haben, Esther. Es kommt mir fast selbst so vor. Aber ich werde mit der Zeit imstande sein, mich offen zu geben. Dann wird alles ins Geleise kommen, haben Sie keine Angst.«

Ich fragte, ob das alles sei, was ich Ada sagen sollte.

»Nicht ganz. Es ist meine Pflicht, ihr nicht zu verschweigen, daß John Jarndyce meinen Brief in seiner gewohnten Art beantwortet hat, mich als ‚lieber Rick‘ angeredet, mir meine Meinungen auszureden versucht und mir gesagt hat, daß er deshalb zu mir nicht anders sein werde. Das alles ist recht schön und gut, ändert aber die Sache selbst nicht. Ich wünsche auch, Ada wissen zu lassen, daß ich für ihre Interessen so gut wie für die meinen sorge – denn ihr und mein Interesse decken sich –, und hoffe, sie werde mich, wenn vielleicht unbestimmte Gerüchte ihr zu Ohren kommen sollten, nicht für leichtsinnig oder unbedacht halten. Ich richte im Gegenteil mein ganzes Augenmerk auf die Beendigung des Prozesses und arbeite stets auf dieses Ziel hin. Da ich inzwischen mündig geworden bin und diesen Schritt nun einmal getan habe, so halte ich mich jeder Verantwortlichkeit gegenüber John Jarndyce zwar für ledig, aber da Ada immer noch Kanzleigerichtsmündel ist, verlange ich die Erneuerung unsres Verlöbnisses vorläufig noch nicht von ihr. Wenn sie frei und selbständig handeln kann, werde ich wieder mir selbst gehören, und ich glaube, wir werden dann in ganz andern materiellen Verhältnissen sein.

Wenn Sie ihr das alles in Ihrer rücksichtsvollen Weise sagen wollten, würden Sie mir einen großen Freundschaftsdienst erweisen, liebe Esther, und ich werde mich mit ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ mit noch größerer Energie herumschlagen. Natürlich verlange ich nicht, daß in Bleakhaus etwas geheimgehalten wird.«

»Richard«, sagte ich, »Sie schenken mir großes Vertrauen, und doch, fürchte ich, werden Sie keinen Rat von mir annehmen?«

»In dieser Angelegenheit unmöglich, meine liebe Esther. In jeder andern mit der größten Bereitwilligkeit.«

– Als ob in seinem Leben noch eine andre existierte! Als ob seine ganze Laufbahn und sein Charakter nicht eine einzige Farbe angenommen hätten! –

»Aber eine Frage darf ich Ihnen doch vorlegen, Richard?«

»Ich dächte ja«, sagte er lachend. »Ich wüßte nicht, wer es sonst tun könnte, wenn nicht Sie.«

»Sie sagten vorhin, daß Sie kein geordnetes Leben führten.«

»Wie kann ich denn das, liebe Esther, wenn nichts im Geleise ist?«

»Haben Sie wieder Schulden gemacht?«

»Natürlich«, sagte Richard, ganz erstaunt über meine Einfalt.

»Ist das so natürlich?«

»Gewiß, liebes Kind. Ich kann mich einer Sache ohne Geldkosten doch nicht vollständig widmen. Sie vergessen oder vielmehr wissen nicht, daß, mag jetzt dieses oder jenes Testament bestätigt werden, Ada und ich jedenfalls etwas bekommen müssen. Es kann sich nur um die größere oder die kleinere Summe handeln. Ganz durchzufallen ist ausgeschlossen. Beruhigen Sie sich, meine prächtige Esther«, sagte Richard, dem ich wirklich Spaß zu machen schien, »ich werde schon gut durchkommen! Ich werde mir schon einen Weg bahnen, meine Liebe.«

Ich sah die Gefahr, in der er schwebte, so deutlich, daß ich ihn in Adas und meines Vormunds und meinem eignen Namen aufs dringendste beschwor, ihn warnte und ihm einige seiner Irrtümer klar zu machen versuchte. Alles, was ich ihm sagte, hörte er mit Geduld und Sanftmut an, aber es prallte von ihm ab, ohne den mindesten Eindruck hervorzubringen. Nach der Art, wie er meines Vormundes Brief aufgenommen hatte, konnte ich mich darüber eigentlich nicht wundern, aber jedenfalls beschloß ich, auch noch Adas Einfluß auf ihn wirken zu lassen.

Als wir daher auf unserm Spaziergang das Dorf erreichten und ich zum Frühstück nach Hause kam, bereitete ich Ada auf alles, was ich ihr mitzuteilen hatte, vor, und stellte ihr vor Augen, wie sehr wir zu befürchten hätten, daß Richard sich selbst verlieren und sein ganzes Leben zwecklos vergeuden könnte. Natürlich machte sie das sehr bekümmert, aber sie hoffte, viel zuversichtlicher als ich, daß er seine Irrtümer rechtzeitig einsehen werde.

– Es war so natürlich und liebevoll von meinem Herzensschatz. –

Dann setzte sie sich hin und schrieb ihm folgenden Brief:

Liebster Vetter!

Esther hat mir alles mitgeteilt, was Du ihr diesen Morgen gesagt hast. Ich schreibe Dir jetzt, um auf das dringlichste alles, was sie Dir vorgehalten hat, selbst zu wiederholen und Dich wissen zu lassen, wie fest ich überzeugt bin, daß Du früher oder später in unserm Vetter John ein Muster von Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Herzensgüte erkennen wirst. Es wird Dir noch einmal bitter leid tun, ihm, wenn auch unabsichtlich, so unrecht getan zu haben.

Ich weiß nicht recht, wie ich das, was ich Dir jetzt sagen möchte, schreiben soll, aber ich hoffe, Du wirst es so auffassen, wie ich es meine. Ich fürchte fast, liebster Vetter, daß Du Dir zum Teil meinetwegen für die Zukunft so viel Sorge machst – und damit natürlich auch mir. Im Falle das so sein sollte, bitte ich Dich auf das ernstlichste und flehentlichste, davon abzulassen. Du könntest nichts für mich tun, was mich halb so glücklich machen würde, als daß Du dem unheilvollen Schatten, in dem wir beide geboren sind, auf ewig den Rücken kehrtest. Sei mir nicht böse, daß ich Dir das sage. Bitte, bitte, lieber Richard, tue es um meinet – und um deinetwillen. Schon aus natürlicher Abneigung gegen die Sorgenquelle, die mit schuld war, daß wir schon in frühester Jugend Waisen wurden, bitte, bitte, sage Dich auf ewig davon los. Wir haben wahrhaftig Grund, zu wissen, daß nichts Gutes und keine Hoffnung aus dieser Quelle kommt. Nur Kummer und Sorgen.

Liebster Vetter, ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß Du selbstverständlich ganz frei bist. Aller Wahrscheinlichkeit nach wirst Du einmal ein Mädchen finden, das Du viel mehr lieben wirst als Deine erste flüchtige Jugendneigung. Laß mich Dir sagen, daß ich Deinem Schicksal viel lieber in die weite Welt folgen – und wäre es noch so bescheiden und armselig – und Dich in der Erfüllung Deiner Pflicht und im Verfolgen des von Dir erwählten Weges glücklich sehen, als hoffen würde, mit Dir auf Kosten öder Jahre martervollen Wartens und gleichgültig gegen jedes andre Lebensziel dereinst reich zu sein, wenn das überhaupt möglich wäre. Du wirst Dich vielleicht wundern, daß ich das bei meiner geringen Lebenserkenntnis und Erfahrung so zuversichtlich ausspreche, aber im innersten Herzen fühle ich, daß ich recht habe.

Stets verbleibe ich, liebster Vetter,
Deine Dich zärtlich liebende
Ada.

Dieses Briefchen brachte Richard sehr bald zu uns. Aber es machte nur einen sehr geringen, wenn überhaupt einen Eindruck auf ihn.

»Wir wollen unparteiisch versuchen«, sagte er, »wer recht und wer unrecht hat.« Er wollte es uns zeigen – wir sollten schon sehen. Er war begeistert und voller Glut, als ob Adas Zärtlichkeit ihn ansporne, aber ich konnte nur seufzend hoffen, der Brief möchte, wenn er ihn später nochmals läse, einen stärkeren Eindruck auf ihn machen, als es offenbar jetzt der Fall gewesen.

Da er den Tag über bei uns bleiben wollte und für den nächsten Morgen Plätze in der Landkutsche bestellt hatte, suchte ich Gelegenheit, mit Mr. Skimpole zu sprechen. Da wir uns viel im Freien aufhielten, ergab sich das leicht, und ich deutete ihm zart an, es sei eine Sache der Verantwortlichkeit, Richard vor unnötigen Ausgaben zurückzuhalten.

»Verantwortlichkeit, meine liebe Miß Summerson?« griff Mr. Skimpole das Wort mit seinem gewinnendsten Lächeln auf. »Ich bin für so etwas der allerungeeignetste Mensch auf der Welt. Ich war nie in meinem Leben verantwortlich. Ich kann es nicht sein.«

»Ich fürchte, jedermann ist verpflichtet, es zu sein«, wendete ich schüchtern ein, da er soviel älter und gescheiter war als ich.

»Wirklich?« sagte Mr. Skimpole mit drolligem Erstaunen über meinen lichtvollen Einwand. »Aber jedermann ist doch nicht verpflichtet, zahlungsfähig zu sein? Ich bin es zum Beispiel nicht. Ich war es nie. Sehen Sie her, meine liebe Miß Summerson.« Er nahm eine Handvoll loses Kupfer- und Silbergeld aus der Tasche. »Hier ist soundsoviel Geld. Ich habe keine Idee, wieviel es ist. Ich bin in der Kunst des Zählens nicht bewandert. Sagen wir vier Schilling und neun Pence – sagen wir vier Pfund und neun Schilling. Jemand behauptet nun, ich wäre viel mehr schuldig als das. Ich glaube das gern. Ich glaube, ich bin soviel schuldig, als gutmütige Leute mir borgen wollen. Wenn sie nicht aufhören, das zu tun, warum sollte ich mich weigern. Da haben Sie Harold Skimpole im kleinen. Wenn das Verantwortlichkeit ist, so bin ich verantwortlich.«

Die vollkommene Unbefangenheit, mit der er das Geld wieder einsteckte und mich mit einem Lächeln auf seinem geistvollen Gesicht ansah, als ob er mir eine Anekdote von irgendeinem andern erzählt hätte, machte auf mich fast den Eindruck, als ob ihn wirklich die Sache nicht das geringste anginge.

»Wenn Sie schon von Verantwortlichkeit sprechen«, fing er wieder an, »so möchte ich Ihnen sagen, daß ich noch nie das Glück gehabt habe, jemanden zu kennen, der so erfrischend verantwortlich ist wie Sie. Sie erscheinen mir wie der wahre Probierstein der Verantwortlichkeit. Wenn ich Sie, meine liebe Miß Summerson, so beschäftigt sehe, das ganze kleine geordnete System, dessen Mittelpunkt Sie selbst sind, tadellos in Gang zu erhalten, so fühle ich eine Neigung, mir zu sagen – und sage es wirklich sehr oft –: das ist wahres Verantwortlichkeitsgefühl.«

Nach solchen Äußerungen fiel es mir schwer, ihm zu erklären, was ich meinte, aber ich ging doch so weit zu sagen, daß wir alle hofften, er werde Richard in seiner jetzigen falschen Lebensansicht nicht bestärken, sondern eher davon abzubringen suchen.

»Wie gern täte ich’s, wenn ich könnte«, gab er zur Antwort. »Aber, meine liebe Miß Summerson, mir liegt alle Künstelei und Verstellung fern. Wenn er mich bei der Hand nimmt und nach einer lustigen Jagd nach dem Glück durch Westminster-Hall führt, muß ich ihm doch folgen. Wenn er sagt: ‚Skimpole, schließen Sie sich dem Tanz an‘, muß ich mich ihm anschließen. Der gesunde Menschenverstand würde das nicht tun, ich weiß. Aber ich habe keinen gesunden Menschenverstand.«

»Es ist ein großes Unglück für Richard«, gab ich ihm zu bedenken.

»Sind Sie wirklich der Meinung?« entgegnete Mr. Skimpole. »Sagen Sie das nicht! Nehmen wir an, er trifft auf der Straße den leibhaftigen gesunden Menschenverstand, einen vortrefflichen Mann, Runzeln im Gesicht, fürchterlich praktisch. Kleingeld für eine Zehnpfundnote in jeder Tasche, ein liniertes Rechenbuch in der Hand, kurz, sagen wir gleich, in jeder Hinsicht einem Steuereinnehmer gleichend. Unser lieber Richard, sanguinisch, enthusiastisch, Hindernisse überspringend, von Poesie übervoll wie eine junge Knospe, sagt zu diesem höchst respektablen Gefährten: ‚Ich sehe eine goldne Aussicht vor mir, sie ist heiter, wunderschön und freudig. Ich springe einfach über die öde Landschaft, die dazwischen liegt, hinweg, um die goldne Aussicht zu erreichen.‘ Der respektable Gefährte schlägt ihn sofort mit dem linierten Rechenbuch zu Boden, sagt ihm in seiner prosaischen Weise, er sehe nichts derart, beweist ihm, daß es nichts ist als Advokatenhonorare, Betrug, Roßhaarperücken und schwarze Talare. Sie müssen zugeben, daß das eine schmerzliche Enthüllung ist, allerdings verständig in letzter Linie, was ich gar nicht bezweifle, aber unangenehm. So etwas liegt mir nicht. Ich besitze kein liniertes Rechenbuch und habe kein steuereinsammelndes Element in der Zusammensetzung meiner Seele. Ich bin in keiner Hinsicht respektabel und verlange es nicht zu sein. Sonderbar vielleicht, aber es ist so.«

Es war unnütz, darüber noch ein Wort zu verlieren, und so schlug ich denn vor, uns Ada und Richard, die ein wenig vorausgegangen waren, anzuschließen, und gab Mr. Skimpole verzweifelt auf.

Er hatte im Lauf des Morgens sich das Schloß angesehen und beschrieb während unsres Spaziergangs sehr launig die Familienporträts. Es befänden sich unter den seligen Ladies Dedlock, erzählte er uns, so schauderhafte Schäferinnen, daß die friedlichen Hirtenstäbe in ihren Händen wie Angriffswaffen aussähen. Sie hüteten ihre Herden in Steifleinen und Puder und legten sich, nur um das Bürgervolk zu erschrecken, Schönheitspflästerchen auf, wie sich die Häuptlinge wilder Stämme für den Kriegspfad bemalten. Unter den Bildern befände sich eines von Sir Dedlock, Numero Soundsoviel, mit einer Schlacht im Hintergrund, einer auffliegenden Mine, Rauchwolken, flammenden Blitzen, einer brennenden Stadt und einem erstürmten Fort. Alles das sei zwischen den Hinterbeinen seines Pferdes zu sehen, wahrscheinlich um zu zeigen, wie wenig sich ein Dedlock aus solchen Kleinigkeiten mache. Das ganze Geschlecht, sagte er, sei im Leben das gewesen, was er ausgestopfte Menschen nenne – eine zahlreiche Kollektion mit Glasaugen, in der jeweilig modernsten Haltung auf verschiedenen Zweigen und Stengeln des Stammbaumes sitzend, sehr korrekt, ganz ohne Leben und immer in Glaskästen. Der Name Dedlock und jede Anspielung darauf bedrückte mich, und ich fühlte mich förmlich erleichtert, als Richard das Thema unterbrach, indem er mit einem Ausruf des Erstaunens einem Fremden entgegeneilte, der langsam auf uns zukam.

»Mein Gott!« rief Mr. Skimpole. »Vholes.«

Wir fragten, ob der Herr ein Freund Richards sei.

»Freund und juristischer Beirat«, erklärte Mr. Skimpole. »Ich versichere Ihnen, liebe Miß Summerson, wenn Sie gesunden Menschenverstand, Verantwortlichkeitssinn und Respektabilität in einem Mann vereinigt haben wollen, kurz, wenn Sie einen Mustermenschen haben wollen, dann ist Vholes der Mann.«

Wir sagten, wir hätten nicht gewußt, daß Richard den Rechtsbeistand eines Herrn dieses Namens genieße.

»Als er seine juristischen Kinderschuhe austrat«, entgegnete Mr. Skimpole, »machte er sich von unserm Freund, dem Konversationskenge, los und schloß sich, glaube ich, Vholes an. Das heißt, ich weiß es, denn ich führte ihn bei Vholes ein.«

»Kannten Sie ihn schon lange?« fragte Ada.

»Vholes? Meine liebe Miß Clare, ich war mit ihm auf dieselbe Weise wie schon mit mehreren Herren seines Fachs bekannt geworden. Er hat mich einmal in sehr gewinnender höflicher Weise behandelt. Ich glaube, er beantragte eine Exekution, wie es die Leute nennen, gegen mich. Irgend jemand war so gut, zu vermitteln und das Geld zu bezahlen. – Irgendeine Summe plus vier Pence war der Betrag –, ich habe vergessen, wieviel Pfund und Schillinge, aber ich weiß noch, die Summe endete mit vier Pence, und es kam mir damals noch so komisch vor, daß ich jemand vier Pence schuldig sein sollte. Kurz nach diesem Vorfall machte ich sie miteinander bekannt. Vholes bat mich darum, und ich tat es. Jetzt, wo ich weiter darüber nachdenke« – er sah uns mit seinem offenherzigsten Lächeln an, als ob er eine große Entdeckung gemacht habe – »frage ich mich, hat mich Vholes vielleicht bestochen? Er gab mir etwas und nannte es Provision. War es eine Fünfpfundnote? Ich glaube fast, es war eine Fünfpfundnote.«

Von weiteren Äußerungen über diesen Punkt hielt ihn Richards Rückkunft ab, der jetzt aufgeregt wieder zu uns trat und hastig Mr. Vholes vorstellte, einen blassen Mann mit schmalen Lippen, die aussahen, als seien sie eiskalt, hie und da einen roten Pickel auf dem Gesicht, von langer dürrer Gestalt, ungefähr fünfzig Jahre alt, engbrüstig und von gebückter Haltung. Ganz schwarz gekleidet, sogar die Handschuhe schwarz, und bis ans Kinn zugeknöpft, war an ihm nichts so merkwürdig wie sein lebloses Wesen und eine gewisse langsame starre Art, Richard anzublicken.

»Ich hoffe, ich störe Sie nicht, meine Damen«, sagte Mr. Vholes, und dabei bemerkte ich, daß er noch etwas Seltsames an sich hatte, nämlich eine merkwürdige Angewohnheit, in sich hineinzusprechen. »Ich habe mit Mr. Carstone verabredet, ihn stets auf dem laufenden zu erhalten, wenn der Lordkanzler seinen Prozeß auf die Tagesordnung setzt, und da mich nun einer meiner Schreiber gestern abend nach Postschluß benachrichtigte, der Fall werde unerwarteterweise morgen drankommen, nahm ich heute in aller Frühe einen Platz in der Landkutsche, um mit ihm in konferieren.«

»Ja«, sagte Richard mit gerötetem Gesicht und warf einen triumphierenden Blick auf Ada und mich. »Wir betreiben diese Sachen jetzt nicht mehr in der alten langsamen Weise. Jetzt heißt’s vorwärts. – Mr. Vholes, wir müssen ein Fuhrwerk mieten, um zur Poststation hinüberzufahren, damit wir heute abend die Kutsche noch treffen und in die Stadt kommen.«

»Ganz wie Sie wünschen, Sir«, entgegnete Mr. Vholes. »Ich stehe ganz zur Verfügung.«

»Warten Sie mal«, – Richard sah auf die Uhr, »Wenn ich jetzt zum Wirtshaus hinunterlaufe und meinen Mantelsack schnüren lasse, ein Gig oder eine Chaise bestelle oder was wir sonst bekommen können, bleibt uns noch eine ganze Stunde. Ich bin zum Tee wieder da. Ada und Sie, Esther, würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein, Mr. Vholes während meiner Abwesenheit zu bewirten?«

In seiner Hast war er schon fort, und wir verloren ihn bald in der Abenddämmerung aus dem Gesicht und gingen mit Mr. Vholes dem Hause zu.

»Ist Mr. Carstones Anwesenheit morgen notwendig, Sir?« fragte ich. »Kann sie von Nutzen sein?«

»Nein, Miß«, entgegnete Mr. Vholes. »Ich wüßte nicht, wie.«

Ada und ich sprachen unser Bedauern aus, daß Richard uns also nur verlassen sollte, um sich morgen enttäuscht zu sehen.

»Mr. C. hat es sich zum Prinzip gemacht, selbst seine Interessen überwachen zu wollen«, erklärte Mr. Vholes. »Und wenn ein Klient ein Prinzip aufstellt, und es ist nicht unmoralisch, so ist es meine Pflicht, danach zu handeln. Ich wünsche im Geschäft exakt und offen zu sein. Ich bin Witwer mit drei Töchtern – Emma, Jane und Karoline – und habe nur den Wunsch, meinen Lebenspflichten so zu genügen, daß ich ihnen einen geachteten Namen hinterlasse. – Übrigens, das ist wirklich ein sehr hübscher Aussichtspunkt hier, Miß.«

Da die Bemerkung mir galt, denn er ging neben mir, stimmte ich bei und wies noch auf andre Hauptreize der Landschaft hin.

»Es liegt mir ob«, sagte Mr. Vholes, »einen greisen Vater im Tal von Taunton zu unterstützen, seiner Heimat, und bin ein großer Bewunderer von Landschaften. Ich hatte keine Ahnung, daß die Gegend hier so reizvoll ist.«

Um die Konversation im Gang zu erhalten, fragte ich Mr. Vholes, ob er wohl gern auf dem Lande leben würde.

»Da berühren Sie eine zarte Saite in meinem Herzen, Miß. Meine Gesundheit ist nicht besonders gut – meine Verdauung hat sehr gelitten –, und wenn ich nur auf mich Rücksicht zu nehmen hätte, würde ich mich auf das Land zurückziehen, zumal mich Geschäftssorgen stets abgehalten haben, viel in Gesellschaft zu verkehren, und vor allem in Damengesellschaft, an der mir stets am meisten lag. Aber da ich drei Töchter habe – Emma, Jane und Karoline – und außerdem meinen greisen Vater, kann ich nicht an mich selbst denken. Allerdings brauche ich meine geliebte Großmutter, die in ihrem hundertzweiten Jahr starb, nicht mehr zu unterstützen, aber immerhin bleibt mir noch genug zu tun, die Mühle stets in Gang zu erhalten.« – Man mußte wegen seiner Angewohnheit, in sich hineinzusprechen, und seiner merkwürdig leblosen Weise aufmerksam zuhören, wenn man ihn verstehen wollte. –

»Sie müssen entschuldigen, daß ich meine Töchter erwähnte. Es ist meine schwache Seite. Ich wünsche den armen Mädchen ein, wenn auch bescheidenes, so doch unabhängiges Einkommen sowie einen guten Namen zu hinterlassen.«

Wir erreichten jetzt Mr. Boythorns Haus, wo der gedeckte Teetisch unser bereits wartete. Kurz darauf kam auch Richard wieder, ruhelos und in Eile, und beugte sich über Mr. Vholes‘ Stuhl und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mr. Vholes antwortete laut – das heißt, was man bei ihm laut nennen konnte –: »Sie wollen mich selbst kutschieren, Sir? Ganz wie Sie wünschen. Ich bin stets zu Ihren Diensten.«

Aus den hierauf folgenden Gesprächen entnahmen wir, daß Mr. Skimpole bis zum Morgen dableiben sollte, um die bereits bezahlten Rückplätze für sich allein zu benützen. Da Ada und ich wegen Richard bekümmert waren und es uns leid tat, so von ihm zu scheiden, gaben wir so deutlich, wie es die Höflichkeit erlaubte, zu verstehen, wir möchten Mr. Skimpole im Wirtshause lassen und uns zurückziehen, sobald Richard und Mr. Vholes fortgefahren sein würden.

Da Richards Lebhaftigkeit uns alle mitriß, gingen wir zusammen nach dem Hügel auf der Höhe des Dorfes, wohin er das Gig bestellt hatte, und fanden dort einen Mann mit einer Laterne bei dem dürren Falb, der vor den Wagen gespannt war, stehen.

Ich werde nie vergessen, wie die beiden im Laternenschimmer nebeneinander saßen. Richard, ganz Feuer und Flamme, mit den Zügeln in der Hand, Mr. Vholes, totenstill, in schwarzen Handschuhen, bis zum Kinn zugeknöpft und ihn ansehend wie eine Beute, die er mit seinem Zauber umstrickte. Vor mir steht das ganze Bild der warmen dunkeln Sommernacht, das Wetterleuchten, die staubige Landstraße, von Hecken und hohen Bäumen umsäumt, und das dürre fahle Pferd mit den gespitzten Ohren.

So fuhren sie fort zur Verhandlung ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘.

Mein Liebling sagte mir diese Nacht, ob Richard in Zukunft glücklich oder unglücklich, von Freunden umgeben oder verlassen sein würde, könne für sie nur insofern einen Unterschied machen, als daß, je mehr er eines treuen Herzens bedürfen sollte, desto mehr Liebe das ihre für ihn haben werde. Immer und zu allen Zeiten werde sie an ihn und nie an sich selbst denken, nie an ihr eignes Wohl, wenn sie das seine würde fördern können.

Und hielt sie Wort?

Ich blickte im Geiste die vor mir sich hinziehende Lebensstraße entlang, auf der das Ende der Reise bereits in der Ferne sichtbar wird, und treu und gut über dem toten Meer des Kanzleigerichtsprozesses und allen seinen mit Asche gefüllten Früchten, die es ans Ufer wirft, glaube ich meinen Liebling zu sehen.

24. Kapitel


24. Kapitel

Eine Gerichtsverhandlung

Richard weihte Mr. Jarndyce in seinen Gemütszustand ein, kurz nachdem er mit mir das bereits erwähnte Gespräch gehabt hatte. Ich bezweifle, daß mein Vormund durch die Mitteilung besonders überrascht war, aber sie bereitete ihm viel Sorge und Enttäuschung. Er und Richard waren oft noch spät abends und bereits früh morgens wieder miteinander eingeschlossen und verbrachten ganze Tage in London, hatten unzählige Zusammenkünfte mit Mr. Kenge und arbeiteten sich durch eine große Menge unangenehmer Geschäfte hindurch. Trotz alledem war mein Vormund, obgleich er sehr unter der Windrichtung litt und seinen Kopf so beständig rieb, daß kein einziges Haar auch nur einen Augenblick auf seiner rechten Stelle blieb, zu mir und Ada so freundlich wie immer, beobachtete aber über diese Angelegenheiten das strengste Stillschweigen, und da wir trotz angestrengtesten Bemühens aus Richard nur die allgemeine Versicherung herausbringen konnten, daß alles vortrefflich gehe und jetzt wirklich im richtigen Geleise sei, so wurden unsere Besorgnisse durch ihn nicht sehr vermindert.

Wir erfuhren im Verlauf der Zeit, daß man im Namen Richards, als Mündel oder als Unmündiger oder ich weiß nicht als was sonst, eine Eingabe an den Lordkanzler gemacht und lange hin- und hergeredet hatte und daß der Lordkanzler ihn in offener Gerichtssitzung ein beschwerliches und launisches Mündel genannt habe und daß man die Sache vertagte und wieder vertagte und weiter verwies und darüber Bericht erstattete und darum petitionieren ließ, bis Richard zu zweifeln anfing, wie er uns sagte, ob er, wenn er überhaupt je in die Armee eintreten könne, dann nicht ein Veteran von siebzig oder achtzig Jahren sein werde. Endlich lud ihn der Lordkanzler zu einer Besprechung in seinem Privatbureau ein und warf ihm dort ernstlich vor, daß er nicht wisse, was er wolle, und die Zeit vertrödle. »Ein wirklich guter Witz, wenn er aus solchem Munde kommt, sollte ich meinen«, sagte Richard.

Endlich wurde seine Eingabe bewilligt. Sein Name wurde im Armeekommando unter den Bewerbern um ein Fähnrichspatent bei der Garde eingeschrieben. Die Gebühr wurde deponiert, und Richard warf sich in seiner gewohnten charakteristischen Art mit Leidenschaft auf militärische Studien und stand jeden Morgen früh um fünf Uhr auf, um sich im Säbelfechten zu üben.

Ferienzeit folgte auf Gerichtssession und Gerichtssession auf Ferienzeit. Wir hörten manchmal vom Prozeß Jarndyce kontra Jarndyce, daß er auf der Liste stehe oder von der Liste gestrichen sei, daß er daran komme und auch daran kam und dann wieder vorbei war. Richard, der jetzt bei einem ihm Unterricht erteilenden Lehrer in London wohnte, konnte uns weniger häufig besuchen als früher. Mein Vormund beobachtete immer noch dieselbe Zurückhaltung, und so verging die Zeit, bis das Patent kam und Richard Ordre erhielt, sich zu seinem Regiment nach Irland zu begeben.

Er traf eines Abends mit dieser Nachricht in der größten Eile ein und hatte eine lange Konferenz mit meinem Vormund.

Über eine Stunde verging; dann steckte mein Vormund den Kopf in das Zimmer, wo Ada und ich saßen, und sagte: »Kommt einmal herein, liebe Kinder.« Wir traten ein und fanden Richard, den wir noch vor kurzem in bester Laune gesehen, mit gekränktem und erzürntem Gesicht am Kamin lehnen.

»Rick und ich, Ada«, erklärte uns Mr. Jarndyce, »sind nicht ganz einer Meinung. Komm, komm, Rick, mach ein freundlicheres Gesicht dazu.«

»Du bist sehr hart gegen mich«, sagte Richard. »Um so härter, als du doch in jeder andern Hinsicht so nachsichtig gewesen bist und für mich getan hast, was ich nie gebührend anerkennen kann. Ich wäre ohne dich nie in Ordnung gekommen.«

»Schon gut, schon gut«, sagte Mr. Jarndyce. »Ich möchte dich aber noch mehr in Ordnung bringen. Ich möchte dich mit dir selbst in Ordnung bringen.«

»Ich hoffe, du wirst entschuldigen, wenn ich sage, daß ich mir selbst das beste Urteil über mich zutraue«, erwiderte Richard sehr lebhaft, aber mit aller Ehrerbietung.

»Ich hoffe, du wirst entschuldigen, lieber Rick, wenn ich sage«, bemerkte Mr. Jarndyce mit größter Freundlichkeit und in bester Laune, »daß ich es ganz natürlich finde, wenn du dieser Meinung bist, daß ich aber anders denke. Ich muß meine Pflicht tun, Rick, sonst würdest du bei kaltem Blut keine gute Meinung von mir haben, und ich hoffe, du wirst stets gut von mir denken. Bei kaltem oder bei heißem Blut.«

Ada war so blaß geworden, daß er sie in seinen Lehnstuhl drückte und sich neben sie setzte.

»Es ist nichts, liebes Kind«, beruhigte er sie. »Es ist nichts. Rick und ich hatten nur in aller Freundschaft einen kleinen Meinungsaustausch, den wir dir mitteilen müssen, denn um dich handelt es sich. Es ist dir gewiß bange vor dem, was jetzt kommen soll?«

»Gewiß nicht, Vetter John«, entgegnete Ada lächelnd, »da es doch von dir kommt.«

»Ich danke dir, liebes Kind. Schenke mir eine Minute Aufmerksamkeit, ohne Rick anzusehen, und du, Mütterchen, tust desgleichen.«

»Mein liebes Kind«, er legte seine Hand auf die Adas auf der Armlehne des Stuhls, »erinnerst du dich noch des Gesprächs unter uns vieren? Als das Mütterchen mir etwas von einer gewissen kleinen Liebesgeschichte erzählte?«

»Es ist nicht gut möglich, daß Richard oder ich jemals vergessen könnten, wie gut du an jenem Tage zu uns warst, Vetter John.«

»Ich kann es nie vergessen«, rief Richard.

»Und ich auch nicht«, sagte Ada.

»So ist das, was ich zu sagen habe, desto leichter, und desto leichter werden wir uns verständigen.« Das Gesicht meines Vormunds strahlte vor Herzensgüte. »Ada, mein liebes Kind, du mußt wissen, daß Rick jetzt zum letzten Mal seinen Beruf gewählt hat. Das ganze Vermögen, das er zu bekommen hat, wird vollständig verbraucht sein, wenn er equipiert ist. Er hat damit alle seine Hilfsquellen erschöpft und ist von jetzt an an den Baum gebunden, den er gepflanzt hat.«

»Es ist ganz richtig, daß ich meine gegenwärtigen Hilfsquellen erschöpft habe, und ich bin ganz zufrieden, es zu wissen. Aber was ich zu bekommen habe«, sagte Richard, »ist nicht alles, was ich besitze.«

»Rick, Rick!« rief mein Vormund mit einer ganz veränderten Stimme und fuhr mit plötzlichem Entsetzen mit den Händen empor, als wollte er sich die Ohren zuhalten. »Um Gottes willen, erhoffe oder erwarte nichts von diesem Familienfluch! Was du immer auf dieser Seite des Grabes tun magst, niemals schenke diesem furchtbaren Phantom, das uns so viele Jahre verfolgt hat, auch nur einen einzigen sehnsüchtigen Blick. Viel besser zu borgen, betteln zu gehen oder zu sterben.«

Der leidenschaftliche Ton in seiner Warnung erschreckte uns alle. Richard biß sich in die Lippen und hielt den Atem an und sah mich an, als ob er wüßte, daß auch ich fühlte, wie sehr er der Warnung bedürfte.

»Meine liebe Ada«, sagte Mr. Jarndyce und gewann seinen fröhlichen Gleichmut wieder, »das sind starke Worte, aber ich lebe in Bleakhaus und habe hier manches mitansehen müssen. Genug davon. Alles, was Richard zur Begründung einer Laufbahn im Leben besitzt, steht jetzt auf dem Spiel. Ich empfehle ihm und dir, seinet- und deinetwillen, von uns mit der Gewißheit zu scheiden, daß euch keinerlei Verpflichtung mehr aneinander bindet. Ich muß noch weiter gehen. Ich will offen gegen euch beide sein. Ihr sollt mir rückhaltlos vertrauen, und ich will auch in euch rückhaltloses Vertrauen setzen. Ich bitte euch für jetzt, jedes andre Band als das eurer Verwandtschaft zu vergessen.«

»Sag doch lieber gleich heraus, daß du kein Vertrauen mehr zu mir hast und Ada rätst, deinem Beispiel zu folgen.«

»Ich kann das nicht sagen, weil ich es nicht meine.«

»Aber du denkst dir, ich hätte schlecht angefangen! Ich habe es, das weiß ich.«

»Wie ich hoffte, daß du anfangen und fortfahren mögest, sagte ich dir bereits damals, als wir zuletzt von diesen Dingen sprachen«, erwiderte Mr. Jarndyce in herzlichem und ermutigendem Tone. »Du hast diesen Anfang noch nicht gemacht; aber jedes Ding braucht seine Zeit, und deine ist noch nicht vorbei, oder vielmehr, sie ist noch gar nicht gekommen. Schlage eine neue Seite auf und beginne. Ihr beide seid noch sehr jung und seid Verwandte. Bis jetzt seid ihr euch weiter nichts. Was weiter kommen soll, muß eine Frucht deiner eignen Anstrengungen sein, Rick.«

»Du bist sehr hart gegen mich, Vetter, härter, als ich von dir erwartet hätte.«

»Mein lieber Junge, ich bin noch härter gegen mich selbst, wenn ich etwas tue, was dir Schmerz bereitet. Du hast das Heilmittel selbst in deiner Hand. Ada, es ist besser für ihn, daß er frei ist und daß du nicht mit ihm von Jugend auf verlobt bist. Rick, es ist besser für sie, viel besser. Du bist es ihr schuldig. Kommt! Ihr werdet doch beide tun, was das Beste für den andern ist!«

»Warum ist es so am besten?« wendete Richard hastig ein. »Als wir dir unser Herz ausschütteten, war es nicht so. Du sprachst damals anders.«

»Seitdem habe ich Erfahrungen gemacht. Ich tadle dich durchaus nicht, Rick, aber ich habe Erfahrungen gemacht.«

»Du meinst, in bezug auf mich?«

»Hm! Ja. In bezug auf euch beide«, sagte Mr. Jarndyce gütig.

»Die Zeit ist noch nicht gekommen, wo ihr euch einander versprechen sollt. Es ist nicht recht, und ich darf nicht damit einverstanden sein. Folgt mir, meine lieben Kinder, und fangt von neuem an. Laßt geschehen sein und wendet eine neue Seite um in euerm Leben.«

Richard betrachtete Ada gespannt, sagte aber kein Wort.

»Ich habe bis jetzt vermieden, gegen euch beide oder gegen Esther eine Silbe darüber zu äußern, damit wir so offen wie der Tag sein und auf gleichem Fuß miteinander stehen können. Ich rate euch nun auf das innigste und bitte euch aufs eindringlichste, so voneinander zu scheiden, wie ihr hierher gekommen seid. Überlaßt alles übrige der Zeit, der Treue und der Standhaftigkeit. Wenn ihr anders handelt, tut ihr Unrecht und verflechtet mich mit in das Unrecht. Denn ich war es, der euch zusammengebracht hat.«

Eine lange Pause folgte.

»Richard«, sagte Ada und sah ihn mit ihren blauen Augen zärtlich an.

»Nach dem, was unser Vetter vorhin gesagt hat, bleibt uns, glaube ich, keine Wahl. Meinetwegen kannst du ganz ruhig sein, denn du läßt mich hier unter seiner Obhut zurück und kannst überzeugt sein, daß mir nichts zu wünschen bleibt, wenn ich mich nach seinem Rate richte. Ich –ich bezweifle nicht, Vetter Richard«, sagte Ada ein wenig verwirrt, »daß du mich sehr lieb hast, und ich – ich glaube nicht, daß du dich in eine andre verlieben wirst. Aber ich möchte doch, du überlegtest dir es ordentlich, da ich dich vor allem glücklich zu sehen wünsche. Auf mich kannst du vertrauen, Vetter Richard. Ich bin ganz und gar nicht flatterhafter Natur, aber auch nicht unverständig, und würde dich niemals tadeln. Selbst Verwandten kann es leid tun, voneinander scheiden zu müssen, und in Wahrheit tut es mir sehr, sehr leid, Richard, wenn ich auch weiß, daß es nur zu deinem Besten geschieht. Ich werde immer mit Liebe an dich denken und oft von dir mit Esther sprechen, und – und vielleicht wirst du auch manchmal ein klein wenig an mich denken, Vetter Richard. Also«, sagte Ada, trat zu ihm und reichte ihm ihre zitternde Hand, »jetzt sind wir wieder bloß Kusin und Kusine, Richard. Vielleicht bloß für jetzt – und ich bete um Gottes Segen für meinen lieben Vetter Richard, wohin er auch gehen mag.«

Es kam mir seltsam vor, daß Richard nie imstande war, meinem Vormund zu verzeihen, daß dieser ganz dieselbe Meinung von ihm hegte, der er mir gegenüber doch selbst in viel stärkerem Maße Worte gegeben hatte. Mit großem Bedauern bemerkte ich, daß er von dieser Stunde an nie wieder so frei und offen Mr. Jarndyce entgegenkam wie früher. Er hätte jede Ursache gehabt, es zu sein, aber er war es nicht, und eine einseitige Entfremdung griff zwischen ihnen Platz.

Über den Reisevorbereitungen und was damit zusammenhing vergaß er bald sich selbst und sogar seinen Schmerz, von Ada zu scheiden, die in Hertfordshire zurückblieb, während er, Mr. Jarndyce und ich uns für eine Woche nach London begaben. Dann und wann gedachte er ihrer allerdings mit heißen Tränen, und zu solchen Zeiten schüttete er mir sein Herz aus und überhäufte sich mit schwersten Selbstanklagen. Aber schon ein paar Minuten später wieder baute er sich Luftschlösser, in denen sie beide immer reich und glücklich und so fröhlich wie möglich werden sollten. Es war eine geschäftige Zeit, und ich lief mit ihm den ganzen Tag herum, um eine Menge Sachen zu kaufen, die er notwendig brauchte. Von all den Dingen, die er angeschafft haben würde, wenn man ihn sich selbst überlassen hätte, will ich gar nicht sprechen. Er war voll Vertrauen zu mir und sprach oft so vernünftig und gefühlvoll von seinen Fehlern und seinem festen Entschluß und schöpfte soviel Mut aus diesen Gesprächen, daß ich ihrer nie müde geworden wäre, auch wenn ich es versucht hätte.

In jener Woche kam außerordentlich häufig ein Mann zu uns, der früher Kavallerist gewesen, und erteilte Richard Fechtunterricht. Er war ein hübscher, kräftig aussehender Mensch von offenem, freiem Wesen. Richard hatte schon seit einigen Monaten Lektionen bei ihm genommen. Ich hörte soviel von ihm, nicht bloß von Richard, sondern auch von meinem Vormund, daß ich absichtlich eines Morgens nach dem Frühstück zu Hause blieb, als er kam.

»Guten Morgen, Mr. George«, begrüßte ihn mein Vormund, der gerade mit mir allein im Zimmer war. »Mr. Carstone kommt gleich. Unterdessen wird es Miß Summerson hier ein großes Vergnügen machen, Sie kennenzulernen, wie sie mir sagt. Bitte nehmen Sie Platz.«

Der Mann setzte sich, ein wenig verlegen wegen meiner Anwesenheit, wie mir schien, und fuhr sich mit seiner schweren sonnenverbrannten Hand wiederholt über seine Oberlippe, ohne mich anzusehen.

»Sie sind so pünktlich wie die Sonne, Mr. George.«

»Militärisch, Sir, Sache der Gewohnheit. Eine reine Angewohnheit bei mir, Sir, kein Geschäftseifer.«

»Aber Sie haben ein großes Etablissement, wie ich höre.«

»Es ist nicht so schlimm, Sir. Nur einen Scheibenstand. Es ist nicht viel dahinter.«

»Und wie macht sich Mr. Carstone als Schütze und als Fechter?«

»Recht gut, Sir«, antwortete Mr. George und kreuzte die Arme auf seiner breiten Brust, was ihm ein riesenhaftes Aussehen verlieh. »Wenn Mr. Carstone sich der Sache mit ganzer Seele widmen wollte, könnte er sehr Tüchtiges leisten.«

»Aber das ist wohl nicht der Fall?«

»Anfangs tat er es, Sir, aber dann ließ er nach. Er ist nicht mehr recht bei der Sache. Vielleicht hat er etwas anderes auf dem Herzen, eine junge Dame vielleicht.« Seine glänzenden dunkeln Augen blickten mich jetzt zum ersten Mal an.

»Mich hat er nicht auf dem Herzen, das versichere ich Ihnen, Mr. George«, sagte ich lachend, »wenn Sie mich auch im Verdacht zu haben scheinen.«

Das sonnengebräunte Gesicht des Kavalleristen errötete ein wenig, und er machte mir eine militärische Verbeugung. »Nichts für ungut, Miß. Ich bin einer von den Ungehobelten.«

»Aber es ist doch nur ein Kompliment, Mr. George.«

Wenn er früher kaum aufgeblickt hatte, so sah er mich jetzt drei oder vier Mal rasch hintereinander aufmerksam an.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte er mit einer gewissen männlichen Art von Schüchternheit zu meinem Vormund. »Aber Sie erwiesen mir die Ehre, mir den Namen der jungen Dame zu nennen…«

»Miß Summerson.«

»Miß Summerson!« wiederholte er und sah mich wieder an.

»Kennen Sie den Namen?« fragte ich.

»Nein, Miß. Soviel ich weiß, habe ich ihn nie gehört. Ich glaube nur, Sie irgendwo gesehen zu haben.«

»Das kann nicht gut sein«, entgegnete ich, blickte von meiner Arbeit auf und sah ihn an. Es lag soviel Treuherzigkeit in seiner Rede und seinem Benehmen, daß mir die Gelegenheit ganz lieb war. »Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter.«

»Ich auch, Miß.«

Er wandte mir seine dunkeln Augen und seine breite Stirn zu. »Hm! Wie komme ich nur auf den Gedanken?«

Da sein braunes Gesicht wieder errötete und er sich vergeblich bemühte, in seiner Erinnerung zu suchen, entschloß sich mein Vormund, ihm herauszuhelfen.

»Haben Sie viele Schüler, Mr. George?«

»Manchmal ja, manchmal nicht, Sir. Meistens sind’s recht wenige, um davon zu leben.«

»Und was für Leute besuchen Ihre Galerie, um sich zu üben?«

»Leute aller Art, Sir. Hiesige und Fremde. Vom Gentleman herab bis zum Kommis. Sogar Französinnen habe ich schon unterrichtet, und sie haben sich als geschickte Pistolenschützen gezeigt. Natürlich auch eine Menge Verrückte, aber die gehen ja überallhin, wo eine Tür offen steht.«

»Ich will doch nicht hoffen, daß Leute mit Racheplänen, um Ihre Lektionen mit dem Schießen nach lebendigen Zielscheiben zu beendigen, zu Ihnen kommen?« fragte mein Vormund lächelnd.

»Das geschieht wohl selten, Sir, ist aber auch schon vorgekommen. Die meisten treiben’s bloß der Übung wegen oder aus Langeweile. Sechs von der einen und ein halbes Dutzend von der andern Sorte. Ich bitte um Verzeihung, Sir.« Er setzte sich aufrecht und stützte seine Hände, die Ellbogen nach außen gedreht, auf seine Knie. »Ich glaube, Sie haben einen Kanzleigerichtsprozeß, wenn ich recht gehört habe?«

»Es tut mir leid, die Frage bejahen zu müssen.«

»Mich hat auch einer Ihrer Leidensgenossen besucht, Sir.«

»Partei in einem Prozeß? Wie ging das zu?«

»Nun. Der Mann war so verfolgt, gepeinigt und gemartert, weil sie ihn von Pontius zu Pilatus und von Pilatus zu Pontius schickten«, sagte Mr. George, »daß er ein wenig verrückt wurde. Ich glaube nicht, daß er auf jemand Bestimmten schießen wollte, aber er war so voll Zorn und Wut manchmal, wenn er kam, daß er für fünfzig Schüsse bezahlte und drauflos feuerte, bis er förmlich glühte. Aber eines Tages, als ich mit ihm allein war und er mir ganz zornig von allem, was ihm Unrechtes geschehen, erzählt hatte, sagte ich zu ihm: ‚Wenn dieses Schießen für Sie eine Erleichterung bedeutet, Kamerad, ist’s ja gut, aber es will mir nicht besonders gefallen, daß Sie immer in Ihrem gegenwärtigen Gemütszustand so darauf versessen sind, Kamerad. Ich möchte Ihnen lieber raten, sich dann mit etwas anderm zu befassen !‘ Er wurde so leidenschaftlich, daß ich schon einen Schlag parieren wollte, aber er nahm es verhältnismäßig gut auf und ließ es gleich sein. Wir haben uns dann die Hände geschüttelt und sind so eine Art Freunde geworden.«

»Was war das für ein Mann?« fragte mein Vormund mit sichtlicher Teilnahme.

»Bevor sie einen wilden Stier aus ihm gemacht haben, war er ein kleiner Landwirt in Shropshire.«

»Hieß er Gridley?«

»Jawohl, Sir.«

Mr. George sah mich ein paar Mal rasch hintereinander aufmerksam an, während mein Vormund und ich, überrascht über das Zusammentreffen, ein paar Worte zusammen sprachen, und ich erklärte ihm daher, woher wir den Namen des Mannes kannten. Zum Dank für meine Herablassung, wie er es nannte, machte er mir wieder eine seiner militärischen Verbeugungen.

»Ich weiß nicht«, sagte er und sah mich an, »was mich wieder auf diese Gedanken bringt, aber – ba, wo mein Kopf nur wieder hinaus will.«

Er fuhr sich mit seiner schweren Hand über sein kurzgelocktes schwarzes Haar, als wollte er seine Gedanken wegwischen, und saß, ein wenig vorwärts gebeugt, den einen Arm in die Seite gestemmt, den andern auf seinen Schenkel gelegt, da und starrte, in dieses Sinnen verloren, auf den Fußboden.

»Ich habe zu meinem Bedauern gehört, daß Gridley infolge seiner Gemütsverfassung wieder in neuerliche Ungelegenheiten geraten ist und sich versteckt hält«, sagte mein Vormund.

»Ich habe es auch gehört, Sir«, bestätigte Mr. George, immer noch nachdenklich auf den Boden starrend. »Ich habe es auch gehört.«

»Wissen Sie nicht, wo er ist?«

»Nein, Sir«, antwortete der Kavallerist, erwachte jetzt aus seinem Brüten und blickte wieder auf. »Ich habe nichts mehr von ihm gehört. Ich fürchte, es wird bald aus mit ihm sein. Man kann viele Jahre an dem Herzen eines starken Mannes herumfeilen, aber endlich bricht es doch.«

Die Ankunft Richards brach das Gespräch ab. Mr. George stand auf, machte mir wieder eine militärische Verbeugung, wünschte meinem Vormund guten Tag und schritt gewichtig zur Tür hinaus.

Das war an dem Morgen des Tages, wo Richard abreisen sollte. Wir hatten keine Einkäufe mehr zu besorgen. Mit dem Einpacken war ich schon zeitig vormittags fertig geworden, und wir waren frei bis zum Abend, wo er über Liverpool nach Holyhead abreisen sollte. Da »Jarndyce kontra Jarndyce« wieder verhandelt werden sollte, schlug mir Richard vor, mit ihm den Gerichtshof zu besuchen und der Sitzung beizuwohnen. Da es sein letzter Tag war, ihm viel an dem Gange zu liegen schien und ich überdies niemals dort gewesen war, gingen wir zusammen nach Westminster, wo damals der Gerichtshof seine Versammlungen abhielt. Unterwegs unterhielten wir uns mit Verabredungen, wie oft wir uns schreiben wollten, und mit vielen hoffnungsvollen Plänen. Mein Vormund wußte, wo wir hingingen, und begleitete uns daher nicht.

Als wir den Gerichtshof erreichten, sahen wir den Lordkanzler – denselben, den ich damals in seinem Privatzimmer in Lincoln’s-Inn gesprochen hatte – in großem Ornat feierlich in einem Thronsessel sitzen, das Zepter und die Siegel auf einem roten Tisch unter sich und einen ungeheuren flachen Blumenstrauß daneben, der wie ein kleiner Garten den ganzen Gerichtssaal durchduftete. Vor dem Tisch zog sich eine lange Reihe von Solicitoren mit Aktenstößen auf dem Strohteppich zu ihren Füßen hin, und dann kamen die Herren vom Barreau mit Perücke und Talar. Einige schliefen, andre wachten, und gelegentlich sprach einer, ohne daß jemand dem, was er sagte, die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Der Lordkanzler saß in seinen bequemen Lehnstuhl zurückgelehnt, den Ellbogen auf die gepolsterte Armlehne und die Stirn auf die Hand gestützt. Einige der übrigen Anwesenden schlummerten, einige lasen Zeitungen, andre gingen auf und ab oder unterhielten sich flüsternd in Gruppen. Aber alle schienen sich sehr wohl zu fühlen und nicht die mindeste Eile zu haben, als ginge sie das Ganze überhaupt nichts an.

Zu sehen, wie alles so glatt verlief, und daran zu denken, wie rauh das Leben und Sterben der Prozessierenden war, all den Pomp und die Feierlichkeit zu sehen und an die Verschwendung und andererseits den Mangel und das bettelhafte Elend, um das es sich handelte, zu denken, – zu bedenken, daß, während bange Hoffnung in so vielen Herzen wühlte, dieses glänzende Schauspiel Tag für Tag und Jahr um Jahr wohlgeordnet und ruhevoll ungestört seinen Fortgang nahm, den Lordkanzler und die ganze Schar von Juristen um ihn herum zu sehen, die sich und die Zuschauer anblickten, als hätte keiner von ihnen je gehört, daß in ganz England das, in dessen Namen sie sich versammelten, bitterer Hohn sei, ein Gegenstand allgemeinen Abscheus, der Verachtung und Erbitterung, eine Institution, so offenkundig unwürdig, daß fast ein Wunder dazu gehörte, wenn es wirklich jemals irgend jemandem Nutzen brachte – das alles kam mir bei meiner Unerfahrenheit so merkwürdig und widerspruchsvoll vor, daß ich es anfangs gar nicht begreifen konnte und meinen Augen nicht traute.

Ich setzte mich auf den Platz, den Richard mir aussuchte, und versuchte zuzuhören und mich zurechtzufinden, aber es schien nichts Reales an dem ganzen Schauspiel zu sein als die kleine Miß Flite, die arme Verrückte, die auf einer Bank stand und immerwährend nickte.

Miß Flite erspähte uns bald und kam zu uns. Sie bewillkommnete mich huldvoll in ihrem Gebiet und machte mich mit vielem Behagen auf seine Hauptreize aufmerksam. Auch Mr. Kenge trat zu uns und machte uns die Honneurs fast in gleicher Weise und mit der freundlich bescheidenen Miene eines Hauseigentümers.

Die Gelegenheit sei für einen Besuch nicht sehr gut gewählt, sagte er, er würde den ersten Tag der Session vorgezogen haben, aber es sei ein imposantes, sehr imposantes Schauspiel.

Als wir ungefähr eine halbe Stunde dagewesen waren, schien die eben im Stadium der Verhandlung befindliche Rechtssache an ihrer eignen Nichtigkeit, ohne daß jemand übrigens ein Resultat zu erwarten schien, zu sterben.

Der Lordkanzler warf einen Stoß Papier von seinem Pult den Herren unter ihm zu, und irgend jemand rief: »Jarndyce kontra Jarndyce.« Dann hörte man ein Summen und Lachen und bemerkte eine allgemeine Flucht der Zuhörer und sah große Haufen und Stöße und Beutel um Beutel voller Akten hereingetragen werden.

Ich glaube, die Sache kam »wegen weiterer Verweisung wegen Kostenfestsetzung« zur Sprache, soviel mir trotz meiner Verwirrung klar wurde. Ich zählte dreiundzwanzig Herrn in Perücken, die sagten, sie hätten darin »zu vertreten«, und keiner derselben schien in der Sache mehr zu wissen als ich. Sie plauderten darüber mit dem Lordkanzler und stritten sich und erklärten einander das und jenes, und einige von ihnen behaupteten, es sei so, und andere, es sei anders, und einige schlugen scherzweise vor, ungeheure Folianten Zeugenaussagen verlesen zu lassen, und das Summen und Lachen nahm immer mehr zu, und allen, die in der Sache zu tun hatten, schien der Prozeß ein Feld müßiger Unterhaltung zu sein, und niemand wußte etwas damit anzufangen. Nach ungefähr einer Stunde und sehr viel begonnenen und wieder unterbrochenen Reden wurde sie »vorläufig zurückgestellt«, wie Mr. Kenge sagte, und die Akten wurden wieder hinausgeschafft, ehe die Schreiber noch mit dem Hereinbringen fertig waren.

Ich sah nach Schluß dieser hoffnungslosen Verhandlung Richard an und erschrak über den müden angegriffenen Ausdruck seines hübschen jungen Gesichtes. »Es kann nicht ewig dauern, Mütterchen. Das nächste Mal wird es besser gehen.« Das war alles, was er sagte.

Ich hatte Mr. Guppy Akten hereinbringen und von Mr. Kenge ordnen sehen. Er erkannte mich und machte mir eine melancholische Verbeugung, was in mir den Wunsch erweckte, den Gerichtssaal zu verlassen. Richard reichte mir den Arm und wollte mich hinausführen, da trat Mr. Guppy zu uns.

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Carstone«, sagte er flüsternd, »und auch Miß Summerson, aber es ist eine Dame hier, die ich kenne und die auch Miß Summerson kennt und das Vergnügen haben möchte, sie zu begrüßen.«

Noch während er sprach, sah ich Mrs. Rachael wie eine körperlich gewordene Erinnerung aus dem Haus meiner Patin vor mir auftauchen.

»Wie geht es Ihnen, Esther?« fragte sie. »Erinnern Sie sich meiner noch?«

Ich reichte ihr die Hand und bejahte und sagte, sie habe sich sehr wenig verändert.

»Ich wundere mich, daß Sie sich noch an diese Zeiten erinnern, Esther«, sagte sie mit ihrer alten Schroffheit. »Sie haben sich sehr verändert. Nun, ich freue mich, Sie zu sehen, und freue mich, daß Sie nicht zu stolz geworden sind, um mich noch zu kennen.« – In Wirklichkeit schien sie sich zu ärgern, daß ich es nicht war. –

»Stolz, Mrs. Rachael?«

»Ich bin verheiratet, Esther«, verbesserte sie kalt, »und heiße Mrs. Chadband. Ich wünsche Ihnen guten Tag und hoffe, daß es Ihnen auch weiter gut gehen wird.«

Mr. Guppy, der diesem kurzen Zwiegespräch aufmerksam zugehört hatte, seufzte hörbar und bahnte sich und Mrs. Rachael durch das Gewühl der kommenden und gehenden Menschen, in dessen Mitte wir uns befanden und das der Wechsel der Verhandlungen verursacht hatte, mit dem Ellbogen einen Weg. Richard und ich drängten uns ebenfalls durch, und das Fröstelgefühl bei diesem unerwarteten Zusammentreffen hatte mich noch nicht verlassen, als ich niemand anders als Mr. George auf uns zukommen sah. Er schritt gewichtig einher, kümmerte sich nicht um die Umstehenden und spähte über ihre Köpfe hinweg in den Gerichtssaal.

»Heda, George«, rief Richard, den ich auf ihn aufmerksam gemacht hatte.

»Das ist gescheit, daß ich Sie hier treffe«, antwortete der Kavallerist, »und auch Sie, Miß. Könnten Sie mir nicht eine Person im Saal zeigen, die ich suche? Ich kenne mich hier nicht aus.«

Er drehte sich um, schaffte mühelos Platz für uns und blieb, als wir sicher vor dem Gedränge waren, in einer Ecke hinter einem großen roten Vorhang stehen.

»Es ist hier eine kleine verrückte Alte«, fing er an, »die…« Ich hielt meinen Finger warnend empor, denn Miß Flite stand dicht neben uns. Sie hatte sich die ganze Zeit über in meiner unmittelbarsten Nähe gehalten und die Aufmerksamkeit verschiedener ihr bekannter Advokaten auf mich gelenkt und ihnen, wie ich in meiner Verwirrung bemerkte, in die Ohren geraunt: »Sst! Fitz-Jarndyce, hier links von mir.«

»Hm, Sie werden sich erinnern, Miß, daß wir diesen Morgen von einem gewissen – Gridley«, setzte er hinter der Hand flüsternd hinzu, »sprachen.«

»Ja.«

»Er hält sich bei mir versteckt. Ich durfte es heute früh nicht sagen. Hatte keine Erlaubnis. Er tritt seinen letzten Marsch an, Miß, und hat sich in den Kopf gesetzt, sie zu sehen. Er sagt, sie verstünden einander und sie wäre ihm hier fast wie eine Freundin gewesen. Ich kam her, um sie zu suchen, denn als ich heute nachmittag bei ihm saß, war mir’s, als hörte ich bereits den Schall der gedämpften Trommeln.«

»Soll ich es ihr sagen?« fragte ich.

»Würden Sie so gut sein!« Er warf einen fast ängstlichen Blick auf Miß Flite. »Es ist eine Schickung der Vorsehung, daß ich Sie treffe, Miß. Ich bezweifle, daß ich mit dieser Dame umzugehen verstanden hätte.« Und er steckte eine Hand in die Brust und stand militärisch gerade aufgerichtet da, während ich Miß Flite den Zweck seines freundlichen Kommens ins Ohr flüsterte.

»Mein temperamentvoller Freund aus Shropshire! Fast so berühmt wie ich!« rief sie aus. »Nein, wirklich! Gewiß, mein Kind, werde ich ihn mit dem größten Vergnügen besuchen.«

»Er hält sich bei Mr. George versteckt. Still! Dies ist Mr. George.«

»Soooo«, sagte Miß Flite. »Sehr geehrt. Ein Militär, wie ich sehe. Ein vollkommener General, nicht wahr?« flüsterte sie mir zu.

Die arme Miß Flite hielt es für unumgänglich notwendig, als Zeichen ihrer Hochachtung vor der Armee so höflich zu sein und soviel Knickse zu machen, daß es keine leichte Sache war, sie aus dem Gerichtssaal zu bugsieren. Als dies endlich geglückt war und sie Mr. George, den sie General anredete, zum großen Spaß verschiedner Maulaffen den Arm gab, verlor er dermaßen seine Fassung und bat mich so ehrerbietig, »ihn nicht zu verlassen«, daß ich es nicht übers Herz bringen konnte, es zu tun, zumal sich Miß Flite von mir immer gern leiten ließ und noch dazu sagte: »Meine liebe Fitz-Jarndyce, Sie werden doch natürlich mit uns kommen?« Da Richard ganz damit einverstanden war, entschlossen wir uns, sie zu begleiten.

Mr. George erzählte uns, daß Gridley den ganzen Nachmittag von Mr. Jarndyce gesprochen habe, und so schrieb ich schnell ein paar Zeilen an meinen Vormund, um ihm mitzuteilen, wohin wir gegangen seien und weshalb. Richard versiegelte den Brief in einem Kaffeehaus, damit nicht zufällig etwas herauskäme, und wir ließen ihn durch einen Dienstmann besorgen.

Dann nahmen wir eine Droschke und fuhren bis in die Nähe von Leicester-Square. Wir gingen durch einige enge Höfe und erreichten bald den Schießstand, dessen Eingang verschlossen war. Während Mr. George an einer an der Tür hängenden Klingel zog und auf das Öffnen wartete, redete ihn ein sehr respektabler alter Herr mit grauem Haar, Brille, schwarzem Spencer, Gamaschen und einem breitkrempigen Hut und einem dicken Stock mit goldnem Knopf in der Hand an:

»Ich bitte um Entschuldigung, guter Freund, ist das Georges Schießgalerie?«

»Jawohl, Sir«, antwortete Mr. George und sah hinauf zu den großen Buchstaben, mit denen die Firma auf die weiße Mauer gemalt war.

»Ah, ja«, sagte der alte Herr, der seinen Augen gefolgt war. »Danke Ihnen. Haben Sie geklingelt?«

»Mein Name ist George, Sir. Ich habe bereits geklingelt.«

»O, wirklich?« sagte der alte Herr, »Sie sind Mr. George? Dann bin ich, wie Sie sehen, ebenso rasch hier wie Sie. Sie haben nach mir geschickt.«

»Nein, Sir. Ich nicht.«

»So? Dann war es Ihr Diener. Ich bin Arzt und wurde vor fünf Minuten geholt, um zu einem Kranken in Georges Schießgalerie zu kommen.«

»Die gedämpften Trommeln«, sagte Mr. George zu Richard und mir und schüttelte ernst den Kopf. »Es ist schon richtig, Sir. Haben Sie die Güte, einzutreten.«

Die Türe wurde jetzt von einem sehr seltsam aussehenden kleinen Mann in einer grünwollenen Mütze und Schürze geöffnet, dessen Gesicht, Hände und Kleider über und über geschwärzt waren, und wir gingen durch einen öden Gang in ein großes Gebäude mit kahlen Ziegelwänden, wo Scheiben und Gewehre, Säbel und andere Dinge dieser Art herumhingen. Als wir dort angekommen waren, blieb der Arzt stehen, nahm seinen Hut ab und schien wie durch Zauberei verschwunden und durch einen andern von ihm ganz verschiednen Herrn ersetzt worden zu sein.

»Nun, sehen Sie mich mal an, George«, sagte er, drehte sich rasch gegen den Kavalleristen um und tippte ihm mit seinem langen Zeigefinger auf die Brust. »Sie kennen mich, und ich kenne Sie. Sie sind ein Mann von Welt, und ich bin ein Mann von Welt. Ich heiße Bucket, wie Sie wissen, und habe einen Vorführungsbefehl gegen Gridley. Sie haben ihn lange Zeit versteckt gehalten und es sehr schlau angefangen. Es macht Ihnen Ehre.«

Mr. George sah ihn bös an, biß sich in die Lippen und schüttelte den Kopf.

»Hören Sie, George, Sie sind ein verständiger Mann und unbescholten. Das sind Sie, darüber ist kein Zweifel. Und merken Sie wohl, ich spreche nicht zu Ihnen wie zu einem gewöhnlichen Menschen, denn Sie haben dem Vaterland gedient und wissen, daß man gehorchen muß, wenn die Pflicht ruft. Daher fällt es Ihnen auch gar nicht ein, Anstände zu machen. Wenn ich Beistand brauche, würden Sie ihn mir sogar leisten. Ja, das würden Sie tun. Phil Squod, schleichen Sie mir nicht so in der Galerie herum.« Der pulvergeschwärzte kleine Mann schob sich nämlich mit der Schulter an der Wand entlang und heftete sein Auge in höchst drohender Weise auf den Eindringling. »Ich kenne Sie, und es paßt mir nicht.«

»Phil!« rief Mr. George.

»Ja, Govneur.«

»Ruhig sein.«

Mit einem tiefen Brummen blieb der kleine Mann stehen.

»Meine Damen und Herren«, fuhr Mr. Bucket fort, »Sie müssen entschuldigen, wenn Ihnen alles das etwas peinlich ist, aber ich bin der Inspektor Bucket von der Geheimpolizei und muß meine Pflicht tun. George, ich weiß, wo mein Mann ist. Ich war vorige Nacht auf dem Dach und habe ihn durchs Deckenfenster gesehen und Sie bei ihm. Er ist dort drin. Sie wissen schon. Dort drin auf einem Sofa. Ich muß jetzt meinen Mann sehen und ihm sagen, daß er sich als verhaftet zu betrachten hat. Aber Sie kennen mich und wissen, daß ich keine peinlichen Maßregeln ergreifen werde. Sie geben mir Ihr Wort, wie es ein Mann dem andern gibt, und auch als alter Soldat, daß es eine Ehrensache zwischen uns ist, und ich will Ihnen, wie ich irgend kann, entgegenkommen.«

»Ich gebe es Ihnen«, war die Antwort. »Aber es war nicht schön von Ihnen, Mr. Bucket.«

»Dummes Zeug, George! Nicht schön?« sagte Mr. Bucket, tippte dem Kavalleristen wieder auf die breite Brust und schüttelte ihm die Hand. »Sage ich vielleicht, es sei nicht schön gewesen, daß Sie meinen Mann so versteckt gehalten haben? Machen Sie mir doch ein freundliches Gesicht, alter Junge, alter Wilhelm Tell! Alter Leibgardist! Wahrhaftig, er ist ganz für sich allein ein Muster der ganzen britischen Armee, meine Herrschaften. Ich gäbe eine Fünfzigpfundnote, wenn ich seine Finger hätte.«

Nachdem sich Mr. George die Sache ein wenig überlegt hatte, schlug er vor, er wolle zuerst zu seinem Kameraden, wie er ihn nannte, hineingehen und Miß Flite mitnehmen. Mr. Bucket gab seine Zustimmung, und sie gingen nach dem andern Ende der Galerie, während wir um den mit Gewehren bedeckten Tisch herumsaßen und – standen. Mr. Bucket nahm die Gelegenheit wahr, um in leichtem Konversationston eine Unterhaltung zu beginnen, fragte mich, ob ich mich vor Gewehren fürchte wie die meisten jungen Damen, fragte Richard, ob er ein guter Schütze sei, und Phil Squod, welche wohl die beste unter den Büchsen sei, und was sie neu kosten möge, und riet ihm im Laufe des Gesprächs, sich nie von seinem Temperament fortreißen zu lassen, zumal er doch von Natur so freundlich sei wie ein junges Mädchen.

Nach einer Weile folgte er uns an das andre Ende der Galerie, und Richard und ich wollten uns eben ruhig entfernen, als Mr. George uns nachkam. Er sagte, wenn wir nichts dagegen hätten, seinen Kameraden zu sehen, so würde sich dieser gewiß sehr darüber freuen. Kaum hatte er ausgesprochen, da läutete es, und mein Vormund erschien. Auf die Möglichkeit hin, bemerkte er, einem armen Mann, der unter demselben Mißgeschick wie er selbst leide, einen kleinen Dienst erweisen zu können. Wir kehrten alle vier um und traten in den Verschlag, wo Gridley lag.

Es war ein kahler Raum, von der Galerie durch einen rohen Bretterverschlag abgeteilt. Da die Scheidewand nicht höher als acht oder zehn Fuß war und nicht bis zur Decke reichte, nahm man hoch oben die Dachbalken wahr und die Luke, durch die Mr. Bucket hineingesehen hatte. Die Sonne stand bereits tief und ging eben unter, und ihr Licht schien rot oben durchs Fenster, ohne den Boden zu erreichen. Auf einem einfachen, mit Leinwand überzogenen Sofa lag der Mann aus Shropshire, ziemlich so gekleidet, wie wir ihn zuletzt gesehen, aber so verändert, daß ich sein farbloses Gesicht anfangs gar nicht wiedererkannte.

Er hatte in seinem Versteck immer noch geschrieben und Stunde für Stunde über dem Gegenstand seines Kummers gebrütet. Ein Tisch und einige Regale waren mit Manuskripten, mit alten Federn und einem bunten Haufen ähnlicher Dinge bedeckt. In rührender und zugleich grauenerregender Freundschaft saßen er und die kleine Verrückte nebeneinander, sozusagen allein in ihrer Welt. Sie saß auf einem Stuhle und hielt seine Hand in der ihren, und keiner von uns trat näher an sie heran. Mit dem Verschwinden seines alten Gesichtsausdrucks, seiner Kraft, seines Zornes, seines Widerstandes gegen das Unrecht, das ihn zuletzt doch zu Boden geworfen hatte, war auch seine Stimme schwach geworden. Er war nur mehr der Schatten des Mannes aus Shropshire, den wir früher gekannt.

Er nickte Richard und mir müde zu und sagte zu meinem Vormund:

»Mr. Jarndyce, es ist sehr freundlich von Ihnen, mich besuchen zu kommen. Man wird mich nicht mehr oft besuchen kommen, glaube ich. Es macht mir Freude, Ihnen die Hand drücken zu können, Sir. Sie sind ein braver Mann, über Ungerechtigkeit erhaben, und Gott weiß, wie hoch ich Sie schätze.«

Sie schüttelten sich ernst die Hand, und mein Vormund sagte ihm einige Worte des Trostes.

»Es mag Ihnen vielleicht seltsam erscheinen, Sir, aber ich würde mich in meinem jetzigen Zustand hier nicht gerne von Ihnen haben sehen lassen, wenn wir uns nicht schon früher kennen gelernt hätten. Aber Sie wissen, daß ich gekämpft habe. Sie wissen, daß ich mich als einzelner gegen sie alle gestemmt habe. Sie wissen, daß ich ihnen bis zuletzt ins Gesicht gesagt habe, was sie sind und was sie mir angetan haben, drum mache ich mir nichts daraus, daß Sie mich jetzt als Wrack hier sehen.«

»Sie haben Ihren Mut oft genug bewiesen«, tröstete ihn mein Vormund.

»Ja, Sir, das habe ich«, Mr. Gridley lächelte schwach. »Ich sagte Ihnen, wie es kommen würde, wenn ich damit aufhörte, und schauen Sie her. Sehen Sie uns beide an.« Er zog Miß Flites Hand durch seinen Arm und brachte sie sich dadurch etwas näher.

»Das ist das Ende. Von allen meinen alten Bekannten, von allen meinen alten Hoffnungen und Bestrebungen, von der ganzen lebendigen und toten Welt ist diese arme Seele meine einzige natürliche Gefährtin, zu der ich passe. Zwischen uns besteht ein Band seit vielen leidensvollen Jahren, und es ist das einzige Band auf Erden, das das Kanzleigericht noch nicht zerrissen hat.«

»Nehmen Sie meinen Segen, Gridley!« sagte Miß Flite unter Tränen. »Nehmen Sie meinen Segen!«

»Ich brüstete mich damit, sie würden mir nie das Herz brechen können, Mr. Jarndyce. Ich war entschlossen, es sollte ihnen nicht gelingen. Ich glaubte, ich würde ihnen solange vorwerfen können, welch dummes Gaukelspiel sie trieben, bis ich an einer Krankheit des Körpers stürbe. Aber ich bin abgenutzt. Wie lang die Zerbröcklung gedauert hat, weiß ich nicht. Es war mir, als ob ich in einer einzigen Stunde zusammenbräche. Ich hoffe, sie werden es nie erfahren. Ich hoffe, Sie werden sie, alle die Sie hier sind, glauben machen, daß ich ihnen noch auf dem Totenbette getrotzt habe wie die langen Jahre hindurch.«

Hier kam ihm Mr. Bucket, der in einem Winkel in der Tür saß, gutmütig tröstend zu Hilfe.

»Ach, lassen Sie doch«, sagte er aus seiner Ecke heraus. »Reden Sie doch nicht so, Mr. Gridley. Sie sind ein wenig niedergedrückt. Das sind wir alle manchmal. Ich bin’s auch. Kopf hoch! Sie werden sich noch oft genug mit der ganzen Kohorte herumzanken, und ich werde noch ein paar Dutzend Vorführungsbefehle gegen Sie bekommen, wenn ich Glück habe.«

Gridley schüttelte den Kopf.

»Schütteln Sie nicht den Kopf. Nicken Sie. Das möchte ich von Ihnen sehen. O du mein Himmel, was haben wir alles zusammen erlebt! Habe ich Sie nicht immer und immer wieder in der Fleet gesehen wegen Beleidigung von Amtspersonen? Bin ich nicht zwanzig Nachmittage im Gerichtshof gewesen, bloß um zu sehen, wie Sie wie eine Bulldogge den Kanzler angingen? Wissen Sie nicht mehr, wie Sie zuerst die Advokaten zu bedrohen anfingen und jede Woche ein paar Mal ein Friedensbruch gegen Sie bezeugt wurde? Fragen Sie die kleine alte Dame da. Sie war immer dabei. Kopf hoch, Mr. Gridley! Kopf hoch, Mann!«

»Was wollen Sie mit ihm machen?« fragte George mit leiser Stimme.

»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Bucket ebenfalls flüsternd. Dann fuhr er mit seinem Zureden wieder laut fort:

»Abgenutzt, Mr. Gridley, nachdem Sie mich wochenlang an der Nase herumgeführt und gezwungen haben, wie eine Katze auf das Dach zu klettern und als Arzt verkleidet mich hereinzuschleichen? So sieht jemand, der fertig ist, nicht aus. Ich glaube das nicht. Ich will Ihnen sagen, was Sie brauchen. Sie brauchen Aufregung, verstehen Sie, um sich aufrecht zu erhalten. Das ist’s, was Sie brauchen. Sie sind daran gewöhnt und können ohne das nicht leben. Mir würde es gerade so gehen. Sehen Sie, hier ist der Vorführungsbefehl, erwirkt von Mr. Tulkinghorn in Lincoln’s-Inn-Fields und seitdem auf ein halb Dutzend Grafschaften ausgedehnt. Was meinen Sie dazu, wenn Sie mit mir kämen und sich mit dem Friedensrichter tüchtig herumzankten? Es würde Sie aufmuntern und Ihnen zu einem neuen Kampf mit dem Kanzler frische Kräfte geben. Fertig sein! Ich muß mich wirklich wundern, einen Mann von Ihrer Energie so etwas sagen zu hören. Das dürfen Sie doch gar nicht. Ohne Sie ist die Komödie im Kanzleigerichtshof nicht halb so fidel. George, reichen Sie Mr. Gridley die Hand und versuchen Sie, ob es ihm nicht besser täte, wenn er aufsteht.«

»Er ist zu schwach.«

»Wirklich?« fragte Bucket besorgt. »Ich möchte ihn irgendwie aufmuntern. Ich sehe nicht gern einen alten Bekannten so zusammenbrechen. Es würde ihn mehr als alles andere stärken, wenn ich ihn ein bißchen wütend auf mich machen könnte. Er soll nur über mich herfallen, soviel er mag. Ich werde es ihm wahrhaftig nicht nachtragen.«

Das Dach hallte von einem Schrei Miß Flites wider. Jetzt klingt er noch in meinen Ohren.

»Nein, nein, Gridley«, schrie sie, als der Kranke schwer und lautlos vor ihr zurücksank. »Nicht ohne meinen Segen nach so vielen Jahren!«

Die Sonne war untergegangen und das Licht allmählich von dem Dach verschwunden, und Schatten krochen die Wände empor. Für mich fiel der Schatten dieser zwei Personen, die eine lebendig, die andere tot, trüber auf Richards Abreise als die Finsternis der dunkelsten Nacht. Und durch Richards Abschiedsworte klangen mir die Worte in den Ohren:

»Von allen meinen alten Bekannten, von allen meinen alten Hoffnungen und Bestrebungen, von der ganzen lebendigen und toten Welt ist diese arme Seele meine einzige natürliche Gefährtin, zu der ich passe. Zwischen uns besteht ein Band seit vielen leidensvollen Jahren, und es ist das einzige Band auf Erden, das das Kanzleigericht noch nicht zerrissen hat.«

25. Kapitel


25. Kapitel

Mrs. Snagsby auf der Lauer

Mißstimmung herrscht in Cook’s Court, Cursitor Street. Schwarzer Verdacht wohnt in diesen friedlichen Regionen. Die Cook’s Courter sind wohl in ihrer gewöhnlichen Gemütsverfassung, aber Mr. Snagsby ist nicht mehr derselbe, und seine kleine Frau weiß es.

‚Toms Einöd‘ und Lincoln’s-Inn-Fields bleiben wie ein paar widerspenstige Durchgeher vor den Wagen von Mr. Snagsbys Phantasie gespannt. Mr. Bucket kutschiert, und drin sitzen Jo und Mr. Tulkinghorn, und das ganze Gefährt saust in wildem Jagen um das Zifferblatt herum. Selbst in der kleinen Küche auf die Gasse heraus, wo die Familie zu speisen pflegt, rasselt sie in scharfem Trab vom Eßtisch weg, wenn Mr. Snagsby im Anschneiden der Hammelkeule innehält und an die Küchenwand starrt.

Mr. Snagsby findet sich in seinem Kopf nicht mehr zurecht. Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Aber was daraus werden soll, wann und aus welchem Winkel es ungeahnt hervortreten wird, ist das verwirrende Rätsel seines Lebens. Seine dunklen Eindrücke von den Talaren und Krönchen, den Sternen und Ordensbändern, die durch die Stauboberfläche von Mr. Tulkinghorns Kanzlei schimmern, seine Ehrfurcht vor den Geheimnissen dieses besten und verschlossensten aller seiner Kunden, den sämtliche Inns, ganz Chancery-Lane und die juristische Nachbarschaft mit Scheu betrachten, seine Erinnerung an den Detektiv Mr. Bucket mit seinem langen Zeigefinger und seinem vertraulichen Getue, dem man weder entgehen noch etwas abschlagen kann, festigen in ihm die Überzeugung, daß er an einem gefährlichen Geheimnis teilhat, ohne zu wissen, was es ist.

Und es ist die schreckliche Eigentümlichkeit dieser Lage, daß zu jeder Stunde, bei jedem Aufgehen der Ladentür, bei jedem Klingeln, bei jeder Ankunft eines Boten oder eines Briefes das Geheimnis Feuer fangen, explodieren und irgend jemanden in die Luft sprengen kann. Wen, weiß Mr. Bucket allein.

Wenn daher ein Unbekannter, wie es doch oft geschieht, in den Laden tritt und fragt: Ist Mr. Snagsby da? oder sonst etwas Unschuldiges, so klopft Mr. Snagsbys Herz laut in seiner schuldbeladenen Brust. So sehr irritieren ihn solche Fragen, daß, wenn Knaben sie stellen, er über den Ladentisch hinweg ihnen eins hinter die Ohren gibt und die Schlingel fragt, was sie damit sagen wollen und warum sie nicht gleich mit allem herausrücken. Weniger irdisch greifbare Männer und Jungen stören beständig Mr. Snagsbys Schlummer und jagen ihn mit rätselhaften Fragen in Furcht, so daß, wenn sich der Hahn in der kleinen Milchwirtschaft in Cursitor Street in seiner gewohnten zwecklosen Weise über den Morgen ausläßt, Mr. Snagsby sich im Stadium des Alpdruckes befindet, bis seine kleine Frau ihn wachrüttelt und sagt: Was hat der Mann nur!

Die kleine Frau selbst trägt nicht wenig zu seiner Qual bei. Zu wissen, daß er immer ein Geheimnis vor ihr verbirgt, unter allen Umständen einen schmerzenden Zahn vor ihr zu verheimlichen hat, den sie ihm stets mit schlauer Begier herauszudrehen bereit ist, gibt Mr. Snagsby seiner Frau gegenüber ganz das Aussehen eines Hundes, der etwas angestellt hat und dem Auge seines Herrn ausweicht. Alle diese kleinen Anzeichen entgehen Mrs. Snagsbys scharfem Blick keineswegs. Snagsby hat etwas auf dem Herzen, sagt sie sich. Und so hält der Argwohn in Cook’s Court, Cursitor Street, seinen Einzug. Vom Argwohn zur Eifersucht findet Mrs. Snagsby den Weg so leicht wie von Cook’s Court nach Chancery-Lane. Und so hält die Eifersucht in Cook’s Court, Cursitor Street, ihren Einzug. Einmal dort – gelauert hat sie immer in der Gegend –, rumort sie rastlos in Mrs. Snagsbys Brust, treibt sie bei Nacht, Mr. Snagsbys Taschen zu untersuchen, Mr. Snagsbys Briefe heimlich zu lesen, im stillen das Hauptbuch und Journal, die kleine und die große Kasse und den Dokumentenschrank zu durchforschen, am Fenster zu lauern, hinter Türen zu horchen und beständig das und jenes mit den unrichtigen Enden zusammenzuknüpfen.

Mrs. Snagsby liegt so beständig auf der Lauer, daß das Haus vor lauter Dielenknistern und Kleiderrascheln einen ganz gespensterhaften Eindruck macht. Die »Stifte« glauben, es müsse jemand in alten Zeiten hier ermordet worden sein. In Gusters Kopf spuken Bruchstücke legendenhafter Ideen, daß unter dem Keller Geld vergraben sei und von einem weißbärtigen Alten bewacht werde, der vor siebentausend Jahren nicht erlöst werden könne, weil er das Vaterunser einmal rückwärts gebetet habe.

Wer war Nimrod? fragt sich Mrs. Snagsby immer wieder. Wer war die Dame – diese »Person« ? Und wer ist der Junge? Da Nimrod so tot ist wie der gewaltige Jägersmann, dessen Namen Mrs. Snagsby für ihre Zwecke mit Beschlag belegt hat, und die »Dame« nicht herbeizuschaffen ist, lenkt sich der Blick ihres Geistes vorderhand mit verdoppelter Wachsamkeit auf den Jungen.

Wer ist dieser Junge? fragt sich Mrs. Snagsby tausend und ein Mal. Wer ist dieser…? Und da geht ihr plötzlich ein Licht auf.

Er hat keinen Respekt vor Mr. Chadband! Nein, den hat er nicht und kann ihn auch nicht haben! Natürlich kann er keinen haben unter solchen ansteckenden Verhältnissen! Mr. Chadband hat ihn eingeladen – Mrs. Snagsby hat es mit eignen Ohren gehört –, wiederzukommen, um zu erfahren, wo Mr. Chadband predige. Und er ist nicht gekommen! Warum ist er nicht gekommen? Weil man es ihm verboten hat! Wer hat es ihm verboten? Wer? Haha! Mrs. Snagsby sieht plötzlich klar.

Aber zum Glück – und Mrs. Snagsby schüttelt grimmig den Kopf und lächelt grimmig – hat Mr. Chadband gestern den Knaben auf der Straße getroffen, und Mr. Chadband hat diesen Knaben, über den er zur Erbauung einer auserlesenen Gemeinde zu predigen wünscht, ergriffen und ihm gedroht, ihn der Polizei zu übergeben, wenn er nicht sage, wo er wohne, und sich nicht morgen seinem Versprechen gemäß in Cook’s Court einfinde. Mor-gen a-bend! wiederholt Mrs. Snagsby des Nachdrucks wegen mit grimmigem Lächeln und Kopfschütteln, und morgen abend wird der Junge kommen, und morgen abend wird Mrs. Snagsby ein Auge auf ihn und noch eine andere gewisse Person haben. O, du magst schon eine hübsche Weile deine Schleichwege gehen, sagt Mrs. Snagsby mit Stolz und Verachtung, aber mich betrügst du nicht!

Mrs. Snagsby hängt es nicht an die große Glocke, was sie sich denkt, sondern schweigt über ihre Pläne und behält ihr Geheimnis für sich.

Morgen kommt. Die schmackhaften Vorbereitungen für die Ölmühle kommen, und der Abend kommt. Es kommt Mr. Snagsby in seinem schwarzen Rock. Es kommen die Chadbands, wenn das »Gefäß« genügend leer ist. Es kommen die »Stifte« und Guster, um sich erbauen zu lassen. Es kommt endlich mit hängendem Kopf und schlottrigem Gang, in der schmutzigen Hand die Pelzmütze, die er rupft wie einen Vogel, den er roh verzehren will, Jo, der Schmier-Ober, den Mr. Chadband bessern will.

Mrs. Snagsby wirft einen wachsamen, aber verstohlenen Blick auf Jo, wie ihn Guster jetzt in das kleine Staatszimmer führt. Er sieht Mr. Snagsby beim Eintreten an. Aha! Warum sieht er Mr. Snagsby an ? – Mr. Snagsby sieht ihn an. Warum tut er das?

Mrs. Snagsby weiß sofort alles. Warum denn sonst wechseln diese beiden einen Blick miteinander, warum denn sonst ist Mr. Snagsby so verlegen und hustet einen Signalhusten hinter seiner Hand, als, weil es klar wie Kristall ist, daß Mr. Snagsby der – Vater dieses Knaben ist.

»Friede sei mit euch, meine Freunde!« salbadert Chadband, steht auf und wischt sich die Ölabsonderungen von seinem Reverendgesicht ab. »Friede sei mit uns! Meine Freunde, warum mit uns? Weil«, sagt er mit seinem fetten Lächeln, »weil er nicht gegen uns sein kann, weil er für uns ist; weil er nicht verhärtet, sondern weil er erweicht; weil er nicht Krieg führt wie der Habicht, sondern zu uns kommt wie die Taube. Deshalb, meine Freunde, sei Friede mit uns! Du, menschlicher Knabe, tritt vor!«

Mr. Chadband streckt die aufgedunsene Pfote aus, legt sie auf Jos Arm und überlegt sich, wo er ihn hinsetzen solle. Jo, sehr argwöhnisch in bezug auf die Absichten Seiner Ehrwürden und keineswegs sicher, ob man nicht etwa eine schmerzliche Operation an ihm vornehmen wolle, brummt: »Lassen S mi gehn. I hab Eahna nix tan. Lassen S mi gehn.«

»Nein, mein junger Freund«, sagt Chadband salbungsvoll. »Ich lasse dich nicht. Und warum? Weil ich einsammle die Ernte; weil ich mich mühe und plage; weil du mir überliefert bist und ein köstlich Werkzeug geworden in meiner Hand. Meine Freunde, möge ich mich dieses Werkzeugs bedienen zu eurem Besten, zu eurem Nutzen, zu eurem Gewinn, zu eurer Wohlfahrt, zu eurer Bereicherung! Mein junger Freund, setze dich auf diesen Stuhl.«

Sichtlich von dem Gedanken beherrscht, daß Seine Ehrwürden ihm die Haare schneiden wolle, schützt sich Jo den Kopf mit beiden Armen und läßt sich nur mit großer Mühe und unter vielem Sträuben hinsetzen.

Als man ihn endlich wie eine Modellpuppe zurechtgerückt hat, zieht sich Mr. Chadband hinter den Tisch zurück, hält seine Bärentatze empor und spricht:

»Meine Froinde!«

Das ist das Signal für die ganze Zuhörerschaft, die Ohren aufzumachen. Die »Stifte« kichern in sich hinein und stoßen sich mit den Ellbogen. Guster verfällt in einen Zustand leeren Vorsichhinstierens, zusammengesetzt aus atemloser Bewunderung Mr. Chadbands und Mitleid mit dem armen freundlosen Ausgestoßnen, dessen Lage sie tief ergreift.

Mrs. Snagsby legt schweigend Pulverminen.

Mrs. Chadband setzt sich mit finsterer Miene an den Kamin und wärmt sich die Knie. Sie findet, daß dies das Zuhören erleichtert.

Mr. Chadband hat die übliche Kanzelpredigergewohnheit, ein Mitglied der Gemeinde zu fixieren und mit fettigem Wohlwollen seine Argumente insbesondere an diese Person zu richten. Von dem Angeredeten wird in solchen Fällen gewöhnlich erwartet, daß er sich zu gelegentlichem Stöhnen, Seufzen, Ächzen oder andern hörbaren Äußerungen des Innenlebens aufschwingt. Diese Äußerung der Seele pflegt dann von einer ältlichen Dame im nächsten Kirchenstuhl zumeist wiederholt zu werden, geht dann wie beim Pfänderspiel im Kreise der leichter gärbaren Sünder unter den Anwesenden herum, erfüllt den Zweck des parlamentarischen »Hört, hört!« und erhält den Prediger in Volldampf.

Aus bloßer Gewohnheit also hat Mr. Chadband bei den Worten »Meine Froinde!« sein Auge auf Mr. Snagsby geheftet und richtet an den armen Schreibmaterialienhändler, dem die Sterne sichtlich übel wollen und der schon verlegen genug ist, unmittelbar seine Rede.

»Meine Freunde!« beginnt Chadband. »Wir haben hier unter uns einen Ungesalbten, einen Heiden, einen Bewohner der Zelte von ‚Toms Einöd‘, einen, der da herumschweift auf Erden. Meine Freunde, wir haben hier unter uns« – Mr. Chadband nestelt das Argument mit seinem schmutzigen Daumennagel auf, wirft ein öliges Lächeln auf Mr. Snagsby, als wolle er sagen, er werde ihn sofort logisch zu Fall bringen, wenn er nicht schon sowieso am Boden liege – »haben hier unter uns einen Bruder und einen Knaben. – Ohne Eltern, ohne Verwandte, ohne Vieh und Herden, ohne Gold und Silber und Edelgestein. Aber, meine Freunde, warum sage ich, daß er dieser Besitztümer ermangelt? Warum? Warum ermangelt er ihrer?« Mr. Chadband wirft die Frage auf, als lege er Mr. Snagsby ein ganz neues ungemein geistreiches Rätsel vor und bäte ihn, nur ja nicht an der Auflösung zu verzweifeln.

Mr. Snagsby, sehr verwirrt von dem Sphinxblick, den sein kleines Frauchen bei den Worten »ohne Eltern« auf ihn wirft, läßt sich zu der bescheidnen Bemerkung verleiten:

»Ich weiß es wirklich nicht, Sir.«

Diese Unterbrechung macht Mrs. Chadband finster aufblicken, und Mrs. Snagsby ruft: »Es ist eine Schande.«

»Ich höre eine Stimmö«, sagt Chadband. »Ist es eine demütige Stimmö, meine Freunde? Ich fürchte nicht, wiewohl ich es hoffen möchte.«

Hörbares Räuspern Mr. Snagsbys.

»…Die da saget, ich weiß es nicht. Und nun will ich euch sagen, warum. Ich sage, dieser Bruder, der da stehet vor uns, ermangelt der Eltern, ermangelt der Verwandten, ermangelt des Viehs und der Herden, ermangelt des Silbers, des Goldes und jeglichen Geschmeides, weil er des Lichtes entbehrt, das da niederscheinet auf einige von uns. Was ist das für ein Licht? Was ist es? Ich frage euch, was ist das für ein Licht?«

Mr. Chadband legt den Kopf zurück und hält inne, aber Mr. Snagsby geht nicht noch einmal auf den Leim.

Mr. Chadband lehnt sich über den Tisch hinüber und bohrt, was er noch zu sagen hat, mit dem bereits erwähnten Daumennagel in Mr. Snagsby hinein.

»Es ist«, erläutert Chadband, »der Strahl der Strahlen, die Sonne der Sonnen, der Mond der Monde, der Stern der Sterne. Es ist das Licht der Waharheit.«

Mr. Chadband richtet sich wieder auf und sieht Mr. Snagsby triumphierend an, als wolle er sich vergewissern, wie seinem Opfer jetzt zumute sei.

»Der Waharheit«, wiederholt Mr. Chadband mit einem neuen Lanzenstich. »Saget mir nicht, daß sie nicht sei die Leuchte der Leuchten. Ich sage euch, sie ist es. Ich sage euch millionenmal, sie ist es. Sie ist es. Ich sage euch, daß ich es euch verkündigen werde, ob ihr da wollet oder nicht. Ja, je weniger ihr wollet, desto lauter will ich es euch verkünden mit Drommetenzungen. Ich sage euch, locket ihr dagegen, werdet ihr fallen, werdet ihr stürzen, werdet ihr zerschlagen, werdet ihr zerbrochen, werdet ihr zermalmet zu Stahub.«

Der kühne Redeflug, von Mr. Chadbands Anhängern wegen seiner Gewaltigkeit ungemein bewundert, macht Seiner Ehrwürden nicht nur unangenehm warm, sondern stellt auch den unschuldigen Mr. Snagsby als einen entschiedenen Feind der Tugend, erzgestirnt und hartherzig, dar, und deshalb gerät der unglückliche Schreibmaterialienhändler noch mehr außer Fassung, als er ohnehin schon ist.

Und da gibt ihm Mr. Chadband zufällig den Gnadenstoß.

»Meine Freunde«, beginnt er wieder, nachdem er seine fette Stirn eine Weile betupft hat – und sie dampft so sehr, daß sein Taschentuch, das nach jedesmaligem Tupfen ebenfalls dampft, daran anzubrennen scheint –, »um den Gegenstand, an dem wir nach unsern bescheidenen Gaben uns zu erbauen trachten, weiter zu verfolgen, wollen wir im Geiste der Liebe fragen: Was ist die Waharheit, von der ich gesprochen habe? Denn, meine jungen Freunde«, wendet er sich an die »Stifte« und Guster, zu deren großer Bestürzung, »wenn mir der Arzt sagt, daß Calomel oder Kastoröl gut für mich seien, so werde ich natürlich fragen, was ist Calomel, und was ist Kastoröl? Ich werde mich darüber vergewissern, ehe ich eins der Mittel oder beide einnehme. Nun, meine jungen Freunde, was ist also diese Waharheit? Erstlich im Geiste der Liebe, was ist die gewöhnliche Art der Waharheit?… Die Werktagswaharheit – sozusagen –, meine jungen Freunde? Ist sie Hintergehung?«

Hörbares Räuspern Mr. Snagsbys.

»Ist sie Verheimlichung?«

Mrs. Snagsby erschauert förmlich vor stummer Verneinung.

»Ist sie heimliches Vorenthalten?«

Ein langes entschiedenes Kopfschütteln Mrs. Snagsbys.

»Nein, meine Freunde, sie ist keins von alledem. Keiner dieser Namen ist ihr echter. Als dieser jetzt unter uns weilende junge Heide, der jetzt, mit dem Siegel der Gleichgültigkeit und Verworfenheit auf seinen Augenlidern, schläft, meine Freunde (wecket ihn nicht, auf daß ich seinetwegen kämpfe und ringe und den Sieg gewinne), als dieser verstockte junge Heide uns eine Geschichte von einem Hahn und einem Stier und einer Dame und einem Sovereign erzählte, war das die Waharheit? Nein. Oder, wenn sie es zum Teil war, war sie es ganz vollständig? Nein, meine Freunde, nein!«

Mr. Snagsby müßte ganz anders beschaffen sein, wenn er den Blick seiner kleinen Frau aushalten sollte, wie er sich jetzt durch die Fenster seiner Seele in sein tiefstes Inneres bohrt.

»Oder, meine jungen Freunde«, fährt Mr. Chadband fort, klettert bis zum tiefsten Niveau der Auffassungskraft der »Stifte« herab und lächelt fett und demütig mit der Miene eines Mannes, der eine hohe Treppe hinuntersteigt, »wenn der Herr dieses Hauses in die Stadt ginge, einen Aal sähe und zurückkehrte, um die Herrin dieses Hauses zu sich zu berufen und ihr zu sagen: Sarah, freue dich mit mir, denn ich habe einen Elefanten gesehen! Wäre das die Waharheit?«

Mrs. Snagsby bricht in Tränen aus.

»Oder nehmen wir an, meine jungen Freunde, daß er einen Elefanten gesehen hätte und heimkehrte und sagte: Siehe, die Stadt ist öde, wahrlich, ich habe nur einen Aal gesehen! Wäre das die Waharheit?«

Mrs. Snagsby schluchzt laut.

»Oder nehmen wir an, meine jungen Freunde«, sagt Chadband, bei dem Tone angeregt, »daß die unnatürlichen Eltern dieses schlummernden Heiden – denn Eltern hat er ohne Zweifel gehabt –, nachdem sie ihn den Wölfen und den Geiern und den wilden Hunden und den jungen Gazellen und den Schlangen hingeworfen, in ihre Wohnung zurückkehrten und sich erfreuten an ihren Pfeifen und ihren Fleischtöpfen und ihrem Flötenspiel und ihren Tänzen und ihrem Gerstensaft und des Schlächters Fleisch und Geflügel – wäre das die Waharheit?«

Mrs. Snagsby antwortet damit, daß sie eine Beute von Krämpfen wird; nicht eine widerstandslose Beute, sondern eine weinende und schluchzende, so daß Cook’s Court von ihrem Jammergeschrei widerhallt. Endlich wird sie kataleptisch und muß die schmale Treppe umständlich wie ein Piano hinaufgetragen werden. Nach unaussprechlichen Leiden, die die größte Bestürzung hervorbringen, melden Eilboten aus dem Schlafzimmer, daß sie frei von Schmerzen, aber noch sehr angegriffen sei. Mr. Snagsby, den man bei diesem Klaviertransport an die Wand gedrückt und auf die Füße getreten und dadurch sehr verschüchtert hat, wagt sich jetzt wieder hinter der Tür des Staatszimmers hervor.

Die ganze Zeit über ist Jo dort, wo er aufgewacht ist, stehen geblieben, hat beständig seine Mütze gerupft und Pelzstückchen in den Mund gesteckt. Er spuckt sie mit reuevoller Miene aus, denn er begreift, daß er von Natur ein unverbesserliches verworfenes Geschöpf ist, dem jeder Versuch, wach zu bleiben, fehlschlägt.

Aber doch ist es möglich, Jo, daß es selbst für so vertierte Gemüter wie dich eine Geschichte gibt, die von Taten handelt, so ergreifend für das Menschenherz, daß sie selbst dich wach erhalten und belehren könnte, wenn sie dir die Chadbands nur ohne Schwulst und schlicht erzählen wollten.

Aber Jo hat nie von einer solchen Historie und solchen Büchern gehört. Seine Verfasser und Reverend Chadband gelten ihm gleich; nur, daß er Ehrwürden Chadband kennt und lieber eine Stunde weit weglaufen möchte, als ihn noch fünf Minuten länger reden zu hören.

»Es hat kan Zweck, no länger zwarten«, sagt Jo. »Mr. Snagsby redet eh nix heit abend.« Und er schlottert die Treppe hinunter.

Aber unten steht die mildtätige Guster, hält sich am Geländer der Küchentreppe fest, um gegen einen herannahenden Krampfanfall, den Mrs. Snagsbys Gekreisch geweckt hat, anzukämpfen. Sie reicht ihr eigenes Abendbrot – Butterschnitt und Käse – Jo hin und wagt ein paar Worte an ihn zu richten.

»Hier hast du was zum Essen, armer Bub.«

»Dank schön, Mum«, sagt Jo.

»Hast an Hunger?«

»Damisch«, sagt Jo.

»Was ist aus deinem Vater und deiner Mutter geworden?«

Jo hält mitten im Abbeißen inne und sieht ganz versteinert aus, denn der Waisenschützling des christlichen Heiligen, dessen Schrein in Tooting steht, hat ihm auf die Schulter geklopft. Das erste Mal in seinem Leben, daß eine anständige Hand ihn so berührt hat.

»I hab nie nix von ihnen ghört«, sagt Jo.

»Und ich von meinen auch nicht«, ruft Guster. Sie unterdrückt einige Krampfsymptome, da verscheucht sie plötzlich etwas, und sie entschwindet auf der Kellertreppe.

»Jo«, flüstert der Schreibmaterialienhändler leise, während der Junge noch zögernd auf der Treppe steht.

»Da bin i, Mr. Sangsby.«

»Ich wußte nicht, daß du schon fort bist… Hier hast du wieder eine halbe Krone, Jo. Du hast es gut gemacht, daß du nichts von der Dame von neulich abends sagtest. Es könnte Unannehmlichkeiten verursachen. Du kannst nicht verschwiegen genug sein, Jo.«

»I bin a Ghauter, Master.«

»Also gute Nacht.«

Ein geisterhafter Schatten in Unterrock und Nachtmütze folgt dem Papierhändler in das Zimmer, aus dem er gekommen ist, und gleitet höher hinauf. Und von nun an, mag Mr. Snagsby gehen, wohin er will, begleitet ihn noch ein andrer Schatten als sein eigner, kaum weniger fest an seine Fersen geheftet, kaum weniger ruhig, kaum weniger geräuschlos als sein eigner. Und in welche Geheimnisatmosphäre sein eigner Schatten auch treten mag, von nun an mögen sich alle an dem Geheimnis Beteiligten in acht nehmen. Die wachsame Mrs. Snagsby liegt auf der Lauer. Bein von seinem Bein, Fleisch von seinem Fleisch, Schatten von seinem Schatten.

26. Kapitel


26. Kapitel

Scharfschützen

Der Wintermorgen, der mit trüben Augen und fahlem Gesicht auf die Umgebung von Leicester-Square herabsieht, findet die Schläfer noch alle in ihren Betten. Viele von ihnen sind auch in der hellsten Jahreszeit keine Frühaufsteher, sind Nachtvögel, die schlafen, wenn hoch am Himmel die Sonne steht, sind wach und beutegierig, wenn die Sterne scheinen. Hinter schmutzig grauen Vorhängen im Obergeschoß und im Dachstübchen, mehr oder weniger unter falschem Namen, falschem Haar, falschen Titeln, falschem Schmuck und falschen Vorgeschichten, liegt eine Kolonie Briganten in ihrem ersten Schlaf.

Herren, die aus persönlicher Erfahrung von fremden Galeeren und heimischen Tretmühlen erzählen könnten, Spione starker Regierungen, die ewig vor Schwäche und elender Furcht zittern, Bankerottiers, Feiglinge, Renommisten, Spieler, Schwindler und falsche Zeugen, einige unter der schmutzigen Hülle mit der Brandmarke gezeichnet, alle mit mehr Grausamkeit im Herzen als Nero und mit mehr Verbrechen beladen, als im Kerker von Newgate zu finden sind. So schlecht der Teufel in Barchent und Fuhrmannskittel auch sein kann, schlauer, gefühlloser und unerträglicher ist er, wenn er eine Busennadel trägt, sich einen Gentleman nennt, auf eine Karte oder eine Farbe setzt, ein paar Partien Billard spielt oder etwas von Wechseln oder Schuldverschreibungen versteht. Und in dieser Gestalt findet ihn Mr. Bucket, wenn er will, überall in den Nebengassen von Leicester-Square.

Aber der Wintermorgen bedarf seiner nicht und weckt ihn nicht. Er weckt Mr. George in der Schießgalerie und seinen Gehilfen. Sie stehen auf, rollen ihre Matratzen zusammen und verstauen sie. Nachdem Mr. George sich vor einem winzig kleinen Spiegel rasiert hat, marschiert er barhäuptig und mit bloßer Brust hinaus an die Pumpe im kleinen Hof und kehrt bald zurück, glänzend vom Reiben, vom Regen, von gelber Seife und schneidend kaltem Wasser. Wie er sich mit einem großen Frottiertuch abreibt und dabei wie eine Art eben an die Oberfläche gekommener militärischer Tauchervogel prustet, lockt sich sein krauses Haar immer dichter an seinen sonnenverbrannten Schläfen, je mehr er es reibt, so daß es aussieht, als könne man es bestenfalls nur mehr mit einem eisernen Rechen oder einem Striegel in Ordnung bringen. Und wie er reibt und pustet und poliert und schnaubt und den Kopf von einer Seite auf die andre wendet, um sich besser die Kehle zu reinigen, und mit vorgebeugtem Körper dasteht, um keine Tropfen auf seine martialischen Beine kommen zu lassen, sieht sich Phil, der vor dem Kamin kniet, um Feuer zu machen, um, als wäre es für ihn Wäsche genug, wenn er dem allen bloß zusähe, und hinreichend Stärkung für einen Tag, die von seinem Herrn weggeworfene überflüssige Gesundheit magnetisch anzuziehen.

Als Mr. George trocken ist, beginnt er seinen Kopf mit zwei harten Bürsten zugleich so unbarmherzig zu bearbeiten, daß Phil, der, die Galerie auskehrend, mit der Schulter an der Wand entlangrutscht, vor Mitgefühl mit den Augen zwinkert.

Auf diese Abbürstung folgt der verschönernde Teil der Toilette, der bald zu Ende ist. Dann stopft sich Mr. George die Pfeife, zündet sie an und marschiert, wie er es gewohnt ist, rauchend auf und ab, während Phil in einem gewaltigen Dunstkreis von heißen Semmeln und Kaffee das Frühstück zurecht macht. Er raucht ernst und marschiert langsam auf und ab. Vielleicht ist diese Morgenpfeife dem Andenken Gridleys in seinem Grabe gewidmet.

»Also du hast diese Nacht vom Lande geträumt, Phil«, sagt der Inhaber der Schießgalerie, nachdem er einige Mal stumm auf und nieder geschritten ist. Phil hatte es nämlich im Tone der Überraschung, als er aus dem Bette stieg, erwähnt.

»Ja, Govner.«

»Wie hat’s ausgesehen?«

»Ich weiß nicht recht, wie’s ausgesehen hat, Govner«, sagt Phil nachdenklich.

»Woher wußtest du, daß es auf dem Lande war?«

»Von wegen dem Gras, glaub ich, und den Schwänen drauf«, sagt Phil nach weiterer Überlegung.

»Was haben die Schwäne auf dem Grase gemacht?«

»Haben’s gefressen vermutlich.«

Mr. George setzt seinen Marsch und der Diener die Bereitung des Frühstücks fort. Es bedürfte eigentlich keiner sehr langen Vorbereitung, denn es besteht bloß aus dem Auftragen sehr einfacher Frühstücksrequisiten für zwei Personen, dem Rösten einer Scheibe Schinken an dem Feuer des rostigen Herdes. Aber da Phil sich bei jedem Gegenstand, den er braucht, einen beträchtlichen Teil an der Galerie entlangschieben muß und nie zwei Sachen auf einmal bringt, dauert es ziemlich lange.

Endlich ist das Frühstück fertig, wie Phil meldet. Mr. George klopft die Pfeife an der Herdwand aus, stellt sie in eine Ecke und setzt sich zum Essen hin. Als er zugelangt hat, folgt Phil seinem Beispiel. Er sitzt am äußersten Ende des kleinen länglichen Tisches und hält den Teller auf den Knien. Entweder aus Bescheidenheit oder um seine pulvergeschwärzten Hände zu verstecken oder weil es seine natürliche Art ist, so zu essen.

»Auf dem Lande!« sagt Mr. George wieder und hantiert mit Messer und Gabel. »Ich glaube, du hast überhaupt noch nie das Land gesehen.«

»Ich hab die Sümpf ein Mal gsehn«, sagt Phil und verzehrt zufrieden sein Frühstück.

»Was für Sümpfe?«

»Die Sümpf, Kommandeur.«

»Wo sind sie?«

»Ich weiß nicht, wo sie sind, aber gsehn hab ich’s, Govner, flach sinds gwesn und neblig.«

Gouverneur und Kommandeur sind für Phil Worte von gleichem Wert, drücken beide dieselbe Achtung und Ehrerbietung aus und dürfen nur auf Mr. George angewendet werden.

»Ich bin auf dem Lande geboren, Phil.«

»Was S net sagen, Kommandeur!«

»Ja, und dort aufgewachsen.«

Phil zieht seine einzige Augenbraue in die Höhe und schlingt, nachdem er seinen Herrn ehrerbietig angestarrt hat, um sein Interesse auszudrücken, einen großen Schluck Kaffee hinunter.

»Es gibt keinen Vogel, den ich nicht an der Stimme kenne«, sagt Mr. George. »Es gibt wenig Blätter oder Beeren in England, deren Namen ich nicht wüßte. Nicht viele Bäume, auf die ich nicht heute noch klettern könnte, wenn es darauf ankäme. Ich war zu meiner Zeit ein echter Bursch vom Lande. Meine gute Mutter wohnte auf dem Lande.«

»Sie muß eine schöne alte Dame gewesen sein, Govner.«

»Jawohl. Und doch noch nicht besonders alt vor fünfunddreißig Jahren. Aber ich möchte wetten, daß sie mit neunzig Jahren sich fast noch so gerade halten und so breit über die Schultern sein würde wie ich.«

»Starb sie mit neunzig Jahren, Govner?«

»Nein!… Bah! Mag sie in Frieden leben, und Gott segne sie! Möcht wissen, was mich Bauernburschen und fortgelaufne Taugenichtse heut angehen! Du natürlich hast mich draufgebracht. Also du hast nie das Land gesehen, Sümpfe und Träume ausgenommen. Was?«

Phil schüttelt den Kopf.

»Möchtest du’s sehen?«

»N-nein. Ich glaub eigentlich nicht.«

»Die Stadt genügt dir, was?«

»Ja, sehen Sie, Kommandeur«, sagt Phil, »ich kenn weiter nichts und weiß nicht, ob ich nicht für Neuheiten zu alt bin.«

»Wie alt bist du eigentlich, Phil?« fragt der Kavallerist und hebt die rauchende Untertasse zum Munde.

»Es ist etwas mit einem Achter drin. Achtzig kann’s nicht sein, achtzehn auch nicht. Es muß so zwischen beiden sein.«

Mr. George setzt langsam die Tasse hin, ohne einen Schluck getan zu haben, und will gerade zu lachen anfangen, da sieht er, daß Phil an seinen schmutzigen Fingern zählt.

»Was, zum Donnerwetter, Phil…«

»Ich war gerade acht Jahre«, erklärt Phil, »nach der Gemeindehausrechnung, als ich mit dem Kesselflicker fortlief. Ich sollte was holen und sah ihn vor einem alten Haus ganz behaglich allein an einem Feuer sitzen, und er sagte: ‚Du gingst wohl gern mit mir, Bürschchen ?‘ Ich sag ja, und er und ich und das Feuer sind zusammen nach Clerkenwell gegangen. Das war am ersten April. Ich konnte bis zehn zählen, und als der erste April wiederkam, sagte ich zu mir: Na, alter Bursche, jetzt bist du eins und eine Acht darin. Als wieder der erste April kam, sagte ich: Jetzt, alter Junge, bist du zwei und eine Acht dann. Mit der Zeit kam ich zu zehn und eine Acht darin und dann zu zwei Zehnern und eine Acht darin. Höher hinauf konnte ich’s nicht mehr bewältigen, aber ich weiß immer, daß eine Acht darin war.«

»So!« sagt Mr. George und macht sich wieder über sein Frühstück her. »Und wo ist der Kesselflicker?«

»S Trinken hat ihn ins Spital gebracht, Govner, und das Spital in – einen Glaskasten, hab ich mir sagen lassen«, gibt Phil geheimnisvoll zur Antwort.

»Auf diese Weise bist du avanciert – hast das Geschäft übernommen, Phil?«

»Ja, Kommandeur, das Geschäft übernommen. So, wie’s eben war. Es war nicht viel daran. Um Saffronhill, Hattongarden, Clerkenwell, Smiffield und daherum gibt’s nur arme Leut, die die Kessel abnützen, bis nichts mehr dran zu flicken ist. Die meisten der herumziehenden Kesselflicker kamen zu uns und wohnten bei uns. Das war der Hauptverdienst von meinem Meister. Aber zu mir kamen sie nicht. Ich war nicht wie er. Er hat ihnen so schön vorgsungen. Ich konnte das nicht. Er konnte ihnen etwas vorspielen auf jedem Topf, ob er jetzt aus Eisen oder Zinn war. Ich konnte nie etwas andres mit einem Topf anfangen, als ihn flicken oder drin kochen – ich hab nie einen Ton Musik in mir gehabt. Und dann war ich zu häßlich, und ihre Weiber beschwerten sich über mich.«

»Die haben’s nötig gehabt! In der Herde wärst du schon auch noch mit durchgerutscht, Phil«, sagt der Kavallerist mit einem freundlichen Lächeln.

»Nein, Govner«, entgegnet Phil mit Kopfschütteln. »O nein, bestimmt nicht. Ich war noch so ziemlich passabel, als ich zum Kesselflicker kam, wenn ich mich damit auch nicht brüsten konnte, aber ich mußte immer schon als Junge das Feuer anblasen und verdarb mir die Haut und versengte mir das Haar und mußte den Rauch schlucken. Und dann hatte ich von Natur aus Pech, hab mich immer an heißem Eisen verbrannt und mich auf die Art gezeichnet, und dann hab ich immer, als ich älter wurde, mit dem Kesselflicker Streit gehabt, so oft er betrunken war, und mich herumprügeln müssen. Und besoffen war er immer. Daher hat es mit meiner Schönheit schon damals sehr windig ausgesehen. Und seitdem bin ich ein Dutzend Jahre in einer dunkeln Schmiede beschäftigt gewesen, wo die Leute Schindluder mit mir getrieben haben, und bei einem Unglücksfall in einer Gasanstalt verbrannt worden und bei einem Feuerwerksgeschäft beim Böllerfüllen zum Fenster hinausgeflogen. Jetzt bin ich so häßlich, daß man mich auf dem Jahrmarkt zeigen könnte.«

Phil sieht trotz dieses Zustandes ganz zufrieden aus und fragt um Erlaubnis, ob er noch eine Tasse Kaffee trinken dürfe. Während er sie schlürft, sagt er: »Nach der Explosion bei dem Feuerwerker hab ich Sie das erste Mal gesehen, Kommandeur. Erinnern Sie sich noch?«

»Gewiß, Phil, du gingst im Sonnenschein spazieren.«

»Schob mich an der Wand hin, Govner.«

»Jawohl, Phil, mit der Schulter…«

»In einer Nachtmütze!« ruft Phil ganz aufgeregt aus.

»In einer Nachtmütze…«

»Und humpelte an ein paar Krücken!« ruft Phil noch aufgeregter.

»Mit ein paar Krücken – da…«

»Da blieben Sie stehen, erinnern Sie sich!« ruft Phil aus, setzt seine Tasse hin und nimmt hastig den Teller vom Knie. »Und sagten zu mir: ‚Was, Kamerad, du bist im Krieg gewesen !‘ Ich sagte nicht viel zu Ihnen, Kommandeur, denn ich war ganz überrascht, daß ein so starker und gesunder Mann wie Sie stehen blieb und einen hinkenden Knochenhaufen wie mich ansprach. Aber Sie fragten mich und sagten es so herzlich heraus, daß es grad war wie ein Glas von was Heißem: ‚Was ist dir zugestoßen? Du bist bös dabei weggekommen. Was fehlt dir, alter Knabe? Kopf hoch und alles frisch erzählt!‘

Kopf hoch! Mich frischte es ordentlich auf, und dann haben Sie etwas gesagt, und ich hab etwas gesagt, und dann haben wir lang miteinander gesprochen, und so bin ich jetzt hier, Kommandeur. Hier bin ich, Kommandeur!« ruft Phil, der von seinem Stuhl aufgesprungen ist und jetzt anfängt, sich auf ganz unerklärliche Weise seitwärts fortzubewegen. »Wenn man ein Ziel braucht oder es dem Geschäft von Nutzen ist, sollen die Kunden mich nur ruhig als Scheibe verwenden. Meiner Schönheit können sie weiter nicht mehr schaden. Mir ist alles gleich. Nur heran! Wenn sie einen brauchen, um auf ihn loszuboxen, sollen sie losboxen. Sie können mir ruhig auf den Kopf hauen. Mir ist’s gleich. Wenn sie einen Leichtgewichtler brauchen, um ihn nach Cornwall-, Devonshire- oder Lancashire-Weise zu werfen, sollen sie mich werfen. Macht nichts. Ich bin mein ganzes Leben lang auf jede Weise geworfen worden.«

Mit dieser unerwarteten Rede, die er sehr energisch vorbringt, und mit den verschiednen Leibesübungen angepaßten Gebärden begleitet, schiebt sich Phil Squod mit der Schulter an drei Seiten der Galerie herum und wendet sich dann plötzlich gegen seinen Kommandeur und vollführt mit dem Kopf einen Stoß nach ihm, um damit seine volle Hingebung im Dienst anzudeuten. Dann fängt er an, das Frühstück wegzuräumen.

Mr. George hat heiter gelacht und ihm auf die Schulter geklopft. Jetzt hilft er ihm beim Wegräumen und bringt dann mit ihm die Galerie für das Geschäft in Ordnung. Er macht ein paar Übungen mit Hanteln durch. Dann wiegt er sich, schließt daraus, daß er zuviel Fleisch ansetze, und schreitet mit großem Ernst an eine Übung im Säbelschwingen. Unterdessen hat sich Phil an seinen Arbeitstisch gesetzt, schraubt Gewehre auseinander und zusammen, putzt und feilt und bläst in kleine Löcher und wird immer schwärzer dabei und hantiert aufs emsigste mit allen möglichen Waffenbestandteilen.

Herr und Diener hören endlich im Gange, wo es so stark hallt, Tritte, die die Ankunft seltener Gäste verraten. Die Schritte kommen der Galerie immer näher, und endlich tritt eine Gruppe auf die Schwelle, die auf den ersten Anblick zu keinem andern Tag im Jahr als dem fünften November, dem Datum der großen Verschwörung, zu passen scheint.

Sie besteht aus einer hinfälligen und häßlichen Gestalt auf einem von zwei Trägern getragnen Stuhl und einem daneben hergehenden hagern Frauenzimmer mit einem Gesicht wie eine halbverhungerte Maske. Sie sieht aus, daß man jeden Augenblick von ihr die Verse zur Erinnerung an die Zeit, wo sie ganz England in die Luft sprengen wollten, zu hören erwarten würde, wenn sie die Lippen nicht so fest und trotzig zusammenbisse. Der Stuhl wird hingesetzt, und die darin liegende Gestalt, die bis jetzt nur gekeucht hat: »O Gott, o Gott!« fügt hinzu: »Wie geht’s, mein lieber Freund, wie geht’s?« und Mr. George erkennt in der Prozession den auf einer Spazierfahrt begriffenen würdigen Mr. Smallweed, begleitet von seiner Enkelin Judy als Leibwache.

»Mr. George, mein lieber Freund«, ruft Großvater Smallweed und nimmt seinen rechten Arm von dem Halse eines seiner Träger, den er auf dem Herweg fast erwürgt hat. »Wie geht’s? Sie sind wohl sehr überrascht, mich zu sehen, mein lieber Freund?«

»Ich würde über Ihren Freund in der City kaum weniger überrascht sein.«

»Ich gehe sehr selten aus«, keucht Mr. Smallweed. »Ich bin seit vielen Monaten nicht herausgekommen. Es ist unbequem und teuer. Aber ich sehnte mich so sehr, Sie zu sehen, lieber Mr. George. Wie geht es Ihnen?«

»Recht gut«, sagt Mr. George. »Ich hoffe, Ihnen auch?«

»Es kann Ihnen nie zu gut gehen, mein lieber Freund.« Mr. Smallweed ergreift seine beiden Hände. »Ich habe meine Enkelin Judy mitgebracht. Sie ließ sich’s nicht nehmen. Sie sehnte sich auch so sehr, Sie zu sehen.«

»Hm! Anmerken tut man ihr nichts«, brummt Mr. George.

»So nahmen wir also eine Droschke und setzten einen Stuhl hinein, und unten an der Straßenecke hoben sie mich aus dem Wagen und in den Stuhl und trugen mich hierher, damit ich meinen lieben Freund in seinem eignen Geschäft besuchen könnte! Das ist der Kutscher«, sagt Großvater Smallweed und deutet auf den Mann, der der Gefahr des Erwürgens ausgesetzt war und sich, seine Luftröhre befühlend, jetzt entfernt.

»Er bekommt nichts extra. Es ist im Fahrgeld mit einbegriffen. Den andern Mann da nahmen wir auf der Straße für eine Finte Bier. Das kostet zwei Pence. Judy, gib dem Mann zwei Pence. Ich wußte nicht, daß Sie selbst einen Gehilfen hier haben, lieber Freund, sonst hätten wir den Mann gespart.«

– Großvater Smallweed richtet dabei einen ziemlich erschrockenen Blick auf Phil und läßt ein halbunterdrücktes »O Gott, o Gott!« hören. Seine Besorgnis ist anscheinend nicht grundlos, denn Phil, der die Erscheinung in dem schwarzen Samtkäppchen noch nie gesehen hat, steht mit einer Flinte in der Hand starr da wie ein Jäger, der Mr. Smallweed wie einen häßlichen alten Vogel vom Krähengeschlecht soeben herunterzuschießen im Begriff steht. –

»Judy, mein Kind, gib dem Mann seine zwei Pence. Es ist schrecklich viel für die kleine Arbeit.«

Der Mann, eines jener merkwürdigen Exemplare menschlicher Pilze, die in den westlichen Straßen Londons ganz plötzlich aus dem Boden schießen können, in alte rote Jacken gekleidet sind und sich mit der Mission, Pferde zu halten und Kutscher zu holen, mit Vorliebe betrauen lassen, nimmt seine zwei Pence ohne besonderes Entzücken in Empfang, wirft das Geld in die Luft, fängt es wieder auf und entfernt sich.

»Mein lieber Mr. George«, sagt Großvater Smallweed, »möchten Sie nicht so gut sein und mich ans Feuer tragen helfen? Ich bin an Wärme gewöhnt und bin ein alter Mann und fröstle leicht. – O Gott!«

Der Ausruf entfährt dem würdigen Herrn infolge der Plötzlichkeit, mit der Mr. Squod wie ein diensteifriger Gnom ihn samt dem Stuhl in die Höhe hebt und dicht am Herd niedersetzt.

»O Gott«, sagt Mr. Smallweed keuchend. »O mein Gott! O Gott im Himmel! Mein lieber Freund, Ihr Gehilfe ist furchtbar stark und – so rasch. O Gott, ist der rasch! Judy, zieh mich ein bißchen zurück. Es verbrennt mir die Beine.«

Das stimmt, wie alle Anwesenden an dem Geruch der versengten Wollstrümpfe des alten Herrn merken.

Nachdem ihn die sanfte Judy ein wenig vom Feuer weggezogen, wie gewöhnlich zurechtgeschüttelt und sein Auge von dem schwarzsamtenen Lichtauslöscher befreit hat, sagt er abermals: »O Gott, o Gott!«, sieht sich um, begegnet Mr. Georges Blick und streckt ihm wieder seine beiden Hände hin.

»Mein lieber Freund, wie froh bin ich, Sie zu sehen! Und das ist Ihr Geschäftslokal? Ein entzückender Ort! Ein wahres Bild! – Es kommt doch nicht vor, daß hier manchmal etwas zufällig losgeht, mein lieber Freund?« setzt Großvater Smallweed plötzlich sehr besorgt hinzu.

»Nein, nein, haben Sie keine Angst.«

»Und Ihr Gehilfe? Er – o Gott – läßt doch nichts losgehen, auch nicht unabsichtlich. Wie, mein lieber Freund?«

»Er hat noch niemanden verletzt als sich selbst«, sagt Mr. George lächelnd.

»Aber es könnte doch geschehen, wissen Sie. Er scheint sich sehr oft verletzt zu haben und könnte doch auch andre verletzen«, wendet der alte Herr ein. »Er braucht es ja nicht mit Absicht zu tun. Oder vielleicht gelegentlich doch mit Absicht. Was kann man wissen. Mr. George, möchten Sie ihm nicht befehlen, diese höllischen Feuerwaffen liegenzulassen und wegzugehen?«

Einem Wink des Kavalleristen gehorsam, begibt sich Phil mit leeren Händen an das andre Ende der Galerie. Mr. Smallweed ist jetzt beruhigt und fängt an, sich die Schenkel zu reiben.

»Und Sie befinden sich also wohl, Mr. George?« fragt er den Kavalleristen, der mit dem Säbel in der Hand Front vor ihm macht. »Das Geschäft geht gut, so Gott will?«

Mr. George antwortet mit einem kühlen Nicken und setzt hinzu: »Also los endlich! Um das zu sagen, sind Sie doch nicht hergekommen.«

»Sie sind so spaßig, Mr. George«, entgegnet der ehrwürdige Greis. »Sie sind so ein guter Gesellschafter.«

»Haha! Aber los endlich.«

»Mein lieber Freund!… Aber das Schwert funkelt schrecklich und sieht so scharf aus. Es könnte jemanden zufällig schneiden. Es macht mich schaudern, Mr. George. Verflucht soll er sein«, sagt der vortreffliche alte Herr heimlich zu Judy, als der Kavallerist ein paar Schritte weggeht, um den Säbel aufzuhängen. »Er ist mir Geld schuldig und könnte auf den Einfall kommen, seine Rechnung in diesem Mörderloch zu begleichen. Ich wollte, deine Höllengroßmutter wäre hier und er rasierte ihr den Kopf ab.«

Mr. George kommt zurück, verschränkt die Arme, sieht auf den Alten herab, der mit jedem Augenblick tiefer in seinen Stuhl versinkt, und sagt ruhig: »Nun also?«

»Ha!« ruft Mr. Smallweed und reibt sich die Hände mit schlauem Kichern. »Ja. Nun also. Nun also, was jetzt, mein lieber Freund?«

»Eine Pfeife«, sagt Mr. George, setzt sich höchst gelassen in seinen Stuhl in der Kaminecke, nimmt seine Pfeife vom Rost, stopft sie und zündet sie an und beginnt friedlich zu rauchen.

Das bringt Mr. Smallweed aus der Fassung. Er findet es so schwer, auf sein Thema zu kommen, und gerät darüber so in Aufregung, daß er mit seinen klauenartigen Fingern mit ohnmächtiger Rachgier, als wolle er Mr. Georges Gesicht zerfleischen, in der Luft herumfährt. Die Nägel des vortrefflichen alten Herrn sind lang und bleifarben, seine Hände mager und dickaderig und seine Augen grün und wäßrig. Und da er außerdem, während er so in der Luft herumfuchtelt, immer tiefer in seinem Stuhl zu einem gestaltlosen Bündel zusammensinkt, bietet er selbst den abgehärteten Augen Judys ein so scheußliches Schauspiel dar, daß diese Jungfrau, wenn auch nicht mit der Glut kindlicher Liebe, auf ihn zustürzt und ihn so aufrüttelt und ihm am Körper herumklopft und ihn pufft, daß er in seinem Jammer Töne wie die Ramme eines Pflasterers hören läßt.

Als Judy ihn durch diese Mittel wieder in seinem Stuhl, in dem er jetzt mit weißem Gesicht und blauer Nase, aber immer noch in die Luft krallend, dasitzt, aufgerichtet hat, streckt sie ihren dünnen Zeigefinger aus und sticht damit Mr. George in den Rücken. Als der Kavallerist aufblickt, sticht sie auf dieselbe Weise nach ihrem geschätzten Großvater und starrt, nachdem sie so die Unterhaltung eingeleitet hat, streng ins Feuer.

»Ui, ui! O, o! U-u-uff«, schnattert Großvater Smallweed, seine Wut in sich hineinschlingend. »Mein lieber Freund.«

»Ich will Ihnen was sagen, wenn Sie mit mir reden wollen, müssen Sie geradeheraus sprechen. Ich bin einer von den Ungehobelten und nicht gewohnt, wie die Katze um den Brei herumzugehen. Ich bin das nicht gewohnt. Ich bin nicht gescheit genug dazu. Es paßt mir nicht. Wenn Sie mich so umschlängeln«, sagt der Kavallerist und steckt die Pfeife wieder zwischen die Zähne, »verdammt, ob es mir nicht vorkommt, als ob ich ersticken müßte.«

Und er dehnt seine breite Brust aus, so weit er kann, als wolle er sich versichern, daß er noch nicht erwürgt ist.

»Wenn Sie gekommen sind, um mir einen freundschaftlichen Besuch zu machen, bin ich Ihnen dafür verbunden. Wie befinden Sie sich? Wenn Sie gekommen sind, um nachzusehen, wie’s mit meinem Besitz steht, dann sehen Sie sich um: Sie sind willkommen. Wenn Sie was zu sagen haben, dann reden Sie.«

Die rosige Judy versetzt, ohne ihren Blick vom Feuer abzuwenden, ihrem Großvater einen gespensterhaften Stoß.

»Sie sehen, es ist auch ihre Meinung. Aber warum zum Teufel setzt sich das Mädchen nicht wie jeder andre Christenmensch?« fragt Mr. George, die Augen nachdenklich auf Judy geheftet. »Ich kann’s nicht begreifen.«

»Sie bleibt neben mir, um auf mich acht zu geben«, erklärt Großvater Smallweed. »Ich bin ein alter Mann, mein lieber Mr. George, und brauche Beistand. Ich kann meine Jahre noch tragen. Ich bin kein Höllenteufelplapperpapagei.« Er knurrt und sieht sich unwillkürlich nach dem Kissen um. »Aber ich brauche Beistand, mein lieber Freund.«

»Gut«, entgegnet der Kavallerist und dreht seinen Stuhl so, daß er dem Alten ins Gesicht sieht. »Nun, also?«

»Mein Freund in der City, Mr. George, hat ein kleines Geschäftchen mit einem Schüler von Ihnen gemacht.«

»Hat er das? Tut mir leid zu hören.«

»Ja, Sir.« Großvater Smallweed reibt sich die Schenkel. »Er ist ein hübscher junger Soldat jetzt, Mr. George, und heißt Carstone. Freunde sind für ihn eingesprungen und haben alles ehrlich bezahlt.«

»So, taten sie das! – Meinen Sie, Ihr Freund in der City würde einen guten Rat annehmen?«

»Ich glaube wohl, mein lieber Freund. Von Ihnen?«

»Dann rate ich ihm, keine weiteren Geschäfte mehr in dieser Richtung zu machen. Es schaut nichts mehr dabei heraus. Der junge Herr ist, soviel ich weiß, mit der Nase an der Wand angekommen.«

»Nein, nein, mein lieber Freund, o nein, Mr. George. Nein, nein, nein, Sir«, wendet Großvater Smallweed ein und reibt sich listig seine dürren Schenkel. »Noch nicht ganz, glaube ich. Er hat gute Freunde und ist gut für seine Gage und ist gut für den Verkaufspreis seines Patents und ist gut für seine Aussichten in einem Prozeß und ist gut für seine Chancen auf eine Heirat und… O, wissen Sie, Mr. George, ich glaube, mein Freund würde den jungen Herrn noch immerhin für ganz gut halten«, sagt Großvater Smallweed, schiebt das Sammetkäppchen in die Höhe und kratzt sich hinter dem Ohr wie ein Affe.

Mr. George, der die Pfeife weggelegt hat und einen Arm auf der Stuhllehne ruhen läßt, trommelt mit dem rechten Fuß auf den Fußboden, als fände er keinen besondern Gefallen an der Wendung, die das Gespräch genommen hat.

»Aber, um von einem Thema auf das andre überzugehen, um die Unterhaltung avancieren zu lassen, wie ein Spaßvogel wie Sie sagen würde, um von dem Fähnrich auf den Kapitän zu kommen, Mr. George…«

»Was meinen Sie damit?« fragt Mr. George und hält mit gerunzelter Stirn inne, sich in der Erinnerung seinen Schnurrbart zu streichen. »Auf was für einen Kapitän?«

»Auf unsern Kapitän. Auf den Kapitän, den wir kennen. Kapitän Hawdon.«

»So, so. Um den handelt sich’s!« Mr. George läßt ein leises Pfeifen hören, während Großvater und Enkelin ihn scharf ansehen. »Das ist’s also. Nun, was ist’s damit? Los. Ich habe nicht Lust, mich länger ersticken zu lassen. Reden Sie!«

»Mein lieber Freund«, entgegnet der Alte, »man wendete sich gestern an mich – Judy, schüttle mich ein bißchen auf –, man hat sich gestern an mich wegen des Kapitäns gewendet, und ich bin immer noch der Ansicht, daß der Kapitän nicht tot ist.«

»Blech!« bemerkt Mr. George.

»Was sagten Sie, lieber Freund?« forscht der Alte, die Hand am Ohr.

»Blech!«

»Ho!« sagt Großvater Smallweed. »Mr. George, Sie können selbst meine Meinung nach den mir gestellten Fragen und den dafür angegebnen Gründen beurteilen. Also was, meinen Sie, will der Advokat denn dann, der immer bei mir nachforscht?«

»Ein Geschäft machen.«

»Nichts derart.«

»Dann kann er kein Advokat sein«, sagt Mr. George und verschränkt die Arme mit einer Miene größter Entschlossenheit.

»Mein lieber Freund, er ist Advokat, und zwar ein sehr berühmter. Er wünscht Kapitän Hawdons Handschrift zu sehen. Er will sie nicht behalten. Er wünscht sie bloß zu sehen und mit einer in seinem Besitz befindlichen Handschrift zu vergleichen.«

»Nun, und?«

»Nun, Mr. George, da er sich zufällig an die Zeitungsnotiz, die Kapitän Hawdon betraf, erinnerte, forschte er nach und kam zu mir – gerade wie Sie, mein lieber Freund. Geben Sie mir die Hand. Ich freute mich so sehr an jenem Tag, daß Sie kamen. Wir hätten nie Freundschaft geschlossen, wenn Sie mich nicht damals besucht hätten.«

»Nun, und, Mr. Smallweed?« fragt Mr. George wiederum und tut die Zeremonie des Händeschüttelns mit einer gewissen Steifheit ab.

»Ich besaß kein Schreiben von ihm. Ich hatte nichts als eine Unterschrift. Hölle, Pest und Hungersnot, Schlacht, Mord und Schlagfluß sollen über ihn kommen«, sagt der Alte und macht einen Fluch aus seinen bruchstückweisen Erinnerungen an ein Gebet und zaust sein Samtkäppchen wütend zwischen den Händen. »Ich glaube, ich habe eine halbe Million von seinen Unterschriften. Aber Sie«, fährt er fort und gewinnt atemlos seinen milderen Ton wieder, wie ihm Judy das Käppchen wieder auf seinen kahlen Kopf setzt, »aber Sie, mein lieber Mr. George, besitzen wahrscheinlich einen Brief oder ein Papier, das unsern Zweck erfüllt. Alles wäre geeignet. Nur muß es von seiner Hand geschrieben sein.«

»Etwas von seiner Hand Geschriebenes?« überlegt der Kavallerist. »Möglich, daß ich etwas habe.«

»Mein lieber, lieber Freund!«

»Vielleicht auch nicht.«

»Ho!« sagt Großvater Smallweed entmutigt.

»Aber wenn ich auch ganze Scheffel davon hätte, würde ich nicht soviel zeigen, als zu einer Patrone reicht, ohne zu wissen, wozu?«

»Sir, ich habe Ihnen doch gesagt, wozu! Mein lieber Mr. George, ich habe Ihnen doch gesagt, wozu!«

»Das ist nicht genug.« Der Kavallerist schüttelt den Kopf. »Ich muß mehr wissen und damit einverstanden sein.«

»Wollen Sie dann mit zu dem Advokaten kommen? Mein lieber Freund, kommen Sie mit, und besuchen wir den Herrn«, drängt Großvater Smallweed und zieht eine verhungerte alte Uhr heraus mit Zeigern wie die Beine eines Skeletts. »Ich sagte ihm, ich würde ihn zwischen zehn und elf heute vormittag besuchen, und es ist jetzt halb elf. Wollen Sie mich zu dem Herrn begleiten, Mr. George?«

»Hm«, überlegt der Kavallerist ernst. »Mir ist’s gleich. Ich möchte nur wissen, warum Ihnen gar soviel daran liegt.«

»Mir liegt an allem, was mir die Möglichkeit gibt, etwas über den Kapitän zu erfahren. Hat er uns nicht alle eingetunkt? Ist er uns nicht allen ohne Ausnahme ungeheure Summen schuldig? Mich angehen? Wen kann es mehr angehen als mich? Nicht etwa, mein lieber Freund«, sagt Großvater Smallweed mit ruhigerem Ton, »daß ich Ihnen zumute, etwas zu verraten. Weit entfernt davon. Sind Sie bereit, mitzukommen, mein lieber Freund?«

»Na ja! Ich komme. Aber ich verspreche nichts, verstanden!«

»Nein, mein lieber Mr. George, nein.«

»Und Sie wollen mich doch nicht glauben machen, daß Sie mich in Ihrem Wagen mitfahren lassen, ohne etwas dafür zu berechnen?« höhnt Mr. George und holt seinen Hut und seine dicken waschledernen Handschuhe.

Dieser Spaß gefällt Mr. Smallweed so sehr, daß er lange und leise vor dem Feuer lacht. Aber selbst während er lacht, blickt er über seine gelähmte Schulter nach Mr. George und belauert mit gierigen Augen, wie er das Vorhängschloß vor einem einfachen Schrank am hintern Ende der Galerie öffnet, in den obern Fächern herumsucht und schließlich etwas herausnimmt, das wie Papier raschelt, es zusammenfaltet und in die Brusttasche steckt. Dabei stößt Judy Mr. Smallweed an, und Mr. Smallweed stößt Judy an.

»Ich bin bereit«, sagt der Kavallerist und kommt zurück.

»Phil, du kannst diesen alten Herrn an seinen Wagen tragen. Gib aber acht!«

»O Gott, o Gott! Warten Sie einen Augenblick«, sagt Mr. Smallweed. »Sie sind schrecklich schnell. Wissen Sie auch sicher, daß nichts geschieht, mein Bester?«

Phil gibt keine Antwort, packt den Stuhl und stürzt seitwärts, von dem jetzt sprachlosen Mr. Smallweed krampfhaft umklammert, durch den Gang, als hätte er den freundlichen Auftrag, den alten Ehrenmann nach dem nächsten Vulkan zu tragen. Da sein Ziel jedoch schon der Wagen ist, setzt er ihn dort hinein, die schöne Judy nimmt daneben Platz, und der Stuhl verziert das Dach.

Mr. George setzt sich auf den Bock.

Mr. George ist ganz verblüfft von dem Schauspiel, das sich ihm bietet, wenn er von Zeit zu Zeit durch das Fenster zurück in den Wagen blickt, wo die grimme Judy regungslos sitzt, während der alte Herr, das Käppchen über einem Auge, von dem Sitz in das Stroh hinuntergerutscht ist und mit dem freien Auge in hilfloser Klage, daß ihn das Rütteln so in den Rücken stoße, zu ihm hinaufschaut.

27. Kapitel


27. Kapitel

Schachzüge

Nicht lange braucht Mr. George, die Arme verschränkt, auf dem Bock zu sitzen, denn das Ziel ist Lincoln’s-Inn-Fields. Als der Kutscher hält, steigt er herunter, sieht zum Fenster hinein und fragt:

»Was, Mr. Tulkinghorn ist Ihr Gewährsmann?«

»Ja, lieber Freund. Kennen Sie ihn denn, Mr. George?«

»Ich habe von ihm gehört –, ihn auch schon gesehen, glaube ich. Aber ich kenne ihn nicht und er mich auch nicht.«

Zuerst muß Mr. Smallweed die Treppe hinaufgetragen werden, was mit des Kavalleristen Hilfe leicht vonstatten geht. Man bringt ihn in Mr. Tulkinghorns großes Zimmer und setzt ihn auf den türkischen Teppich neben den Kamin. Mr. Tulkinghorn ist momentan nicht anwesend, wird aber gleich wieder zurück sein. Der Inhaber des Pultes im Vorzimmer meldet dies, schürt das Feuer und überläßt es dem Kleeblatt, sich zu wärmen.

Mr. George sieht neugierig im Zimmer umher, zu der gemalten Decke hinauf, betrachtet die alten juristischen Bücher, die Porträts der vornehmen Klienten und liest laut die Namen auf den Kasten.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet«, buchstabiert er gedankenvoll. »Ha! Rittergut Chesney Wold. Hm!« Er steht eine Weile vor diesen Kasten wie vor Gemälden und tritt wieder an den Kamin und wiederholt dabei die Worte: »Sir Leicester Dedlock, Baronet«, und »Rittergut Chesney Wold. Hm!«

»Hat schrecklich viel Geld, Mr. George«, flüstert Großvater Smallweed und reibt sich die Schenkel. »Fürchterlich reich.«

»Wen meinen Sie? Diesen alten Herrn oder den Baronet?«

»Diesen Herrn, diesen Herrn.«

»Hab es auch schon gehört. Hat auch so manchen im Sack, möchte wetten. Kein schlechtes Quartier übrigens«, sagt Mr. George und sieht sich wieder um. »Schauen Sie mal die eiserne Kasse dort.«

Mr. Tulkinghorns Ankunft schneidet die Antwort ab. Er sieht natürlich aus wie immer. Sein Anzug ist stumpf schwarz. Die Brille trägt er in der Hand, und sogar ihr Futteral ist abgeschabt. Sein Benehmen ist verschlossen und abweisend, die Stimme tonlos und gedämpft. Sein Gesicht ist wach, aber wie hinter einem Vorhang. Wer weiß, vielleicht ist er ein Misanthrop oder ein Weltverächter. Der hohe Adel könnte nach allem vielleicht wärmere Verehrer haben und treuere Anhänger als Mr. Tulkinghorn.

»Guten Morgen, Mr. Smallweed, guten Morgen«, sagt er beim Hereintreten. »Sie haben den Sergeanten mitgebracht, wie ich sehe. Setzen Sie sich, Sergeant.«

Während Mr. Tulkinghorn die Handschuhe auszieht und sie in seinen Hut legt, wirft er unter den Lidern hinweg einen Blick auf die andre Seite des Zimmers, wo der Kavallerist steht, und sagt leise, wahrscheinlich zu sich selbst: »Du könntest mir so passen, mein Freund.«

»Setzen Sie sich, Sergeant«, wiederholt er laut, tritt an den Tisch neben dem Kamin und nimmt in seinem Lehnstuhl Platz. »Kalt und rauh heute morgen, kalt und rauh…« Mr. Tulkinghorn wärmt sich vor dem Kamingitter abwechselnd Innen- und Außenseite seiner Hände und betrachtet hinter seinem Gesichtsvorhang, der immer heruntergelassen ist, hervor das im Halbkreis herumsitzende Kleeblatt.

»Nun, ich möchte jetzt wissen, woran ich bin, Mr. Smallweed.«

Der alte Herr wird von Judy zurechtgeschüttelt, um an der Unterhaltung teilnehmen zu können.

»Sie haben den Sergeanten mitgebracht, wie ich sehe.«

»Ja, Sir«, antwortet Mr. Smallweed und liegt auf dem Bauch vor dem Reichtum und Einfluß des Advokaten.

»Und was meint der Sergeant zu der Sache?«

»Mr. George«, sagt Großvater Smallweed und streckt seine runzelige Hand zitterig aus. »Dies ist der Herr, Mr. George.«

Mr. George begrüßt den Herrn, sitzt aber dabei steif aufrecht und in tiefstem Schweigen auf der Vorderkante seines Stuhls, als ob er seine ganze feldmäßige Adjustierung anhätte.

Mr. Tulkinghorn fährt fort: »Nun, George, ich glaube, Ihr Name ist doch George?«

»So ist’s, Sir.«

»Was sagen Sie dazu, George?«

»Entschuldigen Sie, Sir«, entgegnet der Kavallerist, »aber ich möchte wissen, was Sie dazu sagen.«

»Meinen Sie hinsichtlich Bezahlung?«

»Ich meine in jeder Hinsicht.«

Das stellt Mr. Smallweeds Geduld derartig auf die Probe, daß er plötzlich herausfährt: »Du Höllenhundsbestie!« Ebenso schnell bittet er Mr. Tulkinghorn um Entschuldigung, indem er sich damit herausredet, daß er zu Judy sagt: »Mir ist deine Großmutter eingefallen, mein Kind.«

»Ich glaubte, Mr. Smallweed hätte Ihnen bereits die Sache genügend auseinandergesetzt, Sergeant«, beginnt Mr. Tulkinghorn von neuem, lehnt sich in den Stuhl zurück und schlägt die Beine übereinander. »Sie ist übrigens bald erklärt. Sie haben unter Kapitän Hawdon gedient, ihn in seiner Krankheit gepflegt, ihm manchen kleinen Dienst geleistet und waren sein Vertrauter, wie ich hörte. Verhält es sich so?«

»Ja, Sir, so verhält es sich«, bestätigt Mr. George mit militärischer Kürze.

»Sie besitzen daher vielleicht etwas – gleichgültig was –, Rechnungen, Instruktionen, Befehle, einen Brief oder sonst etwas von Kapitän Hawdons Hand? Ich wünsche seine Handschrift mit einem in meinem Besitz befindlichen Schriftstück zu vergleichen. Wenn Sie mir das ermöglichen, werde ich Sie für Ihre Mühe entschädigen. Drei, vier, fünf Guineen würden wohl anständig bezahlt sein, schätze ich.«

»Nobel, mein lieber Freund!« ruft Großvater Smallweed und drückt die Augen halb zu.

»Wenn es Ihnen nicht genug ist, so sagen Sie auf Ihr Gewissen als Soldat, wieviel mehr es sein soll. Sie brauchen die Schrift nicht aus der Hand zu geben, wenn es Ihnen widerstrebt, obgleich es mir lieber wäre, wenn sie in meinen Besitz überginge.«

Mr. George sitzt unbeweglich stramm, blickt auf den Boden, auf die gemalte Decke hinauf und spricht kein Wort. Mr. Smallweed kratzt wütend in der Luft herum.

»Die Frage ist«, sagt Mr. Tulkinghorn in seiner methodischen, gedämpften, teilnahmslosen Weise, »erstens, ist etwas von Kapitän Hawdons Handschrift in Ihrem Besitz?«

»Erstens, ist etwas von Kapitän Hawdons Handschrift in meinem Besitz, Sir?« wiederholt Mr. George.

»Zweitens, was wollen Sie für Ihre Mühe haben?«

»Zweitens, was will ich für meine Mühe haben, Sir?« wiederholt Mr. George.

»Drittens können Sie selbst urteilen, ob dies der Handschrift irgendwie ähnlich sieht«, sagt Mr. Tulkinghorn und gibt dem Kavalleristen plötzlich einige zusammengebundene Bogen beschriebenen Papiers in die Hand.

»Ob sie dieser irgendwie ähnlich sieht, Sir. Ich verstehe«, wiederholt Mr. George.

Alle drei Sätze spricht Mr. George ganz mechanisch nach und sieht Mr. Tulkinghorn unverwandt an und wirft auch nicht den flüchtigsten Blick auf das Affidavit in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce, das ihm der Advokat, um ihn zu überrumpeln, gegeben hat, sondern sieht Mr. Tulkinghorn mit einer Miene unruhigen Grübelns an.

»Nun?« fragt Mr. Tulkinghorn. »Was meinen Sie dazu?«

»Nun, Sir«, antwortet Mr. George, richtet sich straff auf und sieht wie ein Riese aus. »Sie entschuldigen schon, aber ich möchte lieber nichts mit der Sache zu tun haben.«

Äußerlich nicht im mindesten erregt, fragt Mr. Tulkinghorn: »Warum nicht?«

»Warum nicht, Sir? Ich habe wohl militärische Disziplin, bin aber sonst kein Geschäftsmann. Unter Zivilisten bin ich, was man so sagt, das fünfte Rad am Wagen. Ich habe schriftliche Sachen nicht gern, Sir. Ich kann jedes Feuer besser aushalten als ein Feuer von Kreuzfragen. Ich erwähnte erst vor einer Stunde zu Mr. Smallweed, daß, wenn man mir von derlei Dingen zu reden anfängt, mir ist, als müßte ich ersticken. Und so ist mir jetzt wieder zumut«, sagt Mr. George und sieht die Anwesenden der Reihe nach an.

Dann macht er drei Schritte vorwärts, um die Papiere wieder auf den Tisch zu legen, und drei Schritte rückwärts zu seinem frühern Platz. Und dort bleibt er aufrecht stehen, blickt auf den Boden und dann wieder auf die gemalte Decke und versteckt die Hände auf dem Rücken, wie um kein Dokument mehr annehmen zu müssen.

Das reizt Mr. Smallweed dermaßen, daß er sein Lieblingsschimpfwort wieder mit »Höllenschwefel…« beginnt, aber noch rechtzeitig verschluckt, »mein lieber Freund«, sagt und eine Pause macht.

Dann aber fängt er an, seinen lieben Freund aufs zärtlichste zu ermahnen, nicht starrköpfig zu sein, sondern zu tun, was so ein hervorragender Gentleman wünsche, und zwar bereitwillig und unbedenklich, da es ebenso tadellos sei wie gewinnbringend. Nur gelegentlich flicht Mr. Tulkinghorn einen Satz ein wie: »Sie müssen am besten wissen, wie hoch Sie es veranschlagen, Sergeant. – Denken Sie selbst nach, ob es Ihnen Schaden bringt. – Ganz, wie es Ihnen beliebt, ganz wie es Ihnen beliebt. – Wenn Sie wissen, was Sie wollen, so genügt das vollkommen.« Er spricht die Sätze anscheinend mit vollkommener Gleichgültigkeit, kramt dabei unter den Papieren auf seinem Tisch herum und trifft Vorbereitungen, einen Brief zu schreiben.

Mr. George blickt mißtrauisch von der gemalten Decke auf den Boden, von dem Boden auf Mr. Smallweed, von Mr. Smallweed auf Mr. Tulkinghorn und von Mr. Tulkinghorn wieder auf die gemalte Decke und läßt in seiner Verlegenheit seinen Körper bald auf dem einen, bald auf dem andern Bein ruhen.

»Ich versichere Ihnen, Sir«, sagt er, »ohne Sie beleidigen zu wollen, daß ich mich zwischen zwei solchen Leuten wie Ihnen und Mr. Smallweed wahrhaftig fünfzig Mal hintereinander ersticken fühle. Tatsächlich, Sir! Ich kann es mit zwei solchen Gentlemen nicht aufnehmen. Darf ich fragen, warum Sie des Kapitäns Handschrift zu sehen wünschen, falls ich eine Probe davon finden sollte?«

Mr. Tulkinghorn schüttelt ruhig den Kopf. »Nein! Wenn Sie Geschäftsmann wären, Sergeant, so würde ich Ihnen nicht erst zu sagen brauchen, daß es in meinem Beruf Vertrauenssache ist, auch Gründe, die an und für sich ganz harmlos sind, geheim zu halten. Aber wenn Sie fürchten, Kapitän Hawdon vielleicht irgendwie zu schaden, so können Sie in dieser Hinsicht beruhigt sein.«

»Das glaube ich ohne weiteres. Er ist ja tot, Sir.«

»So?« Mr. Tulkinghorn setzt sich ruhig zum Schreiben hin.

»Es tut mir leid, Sir«, sagt der Kavallerist und sieht nach einer neuerlichen Verlegenheitspause in seinen Hut, »daß ich Ihrem Wunsch nicht mehr habe entsprechen können. Wenn es gewünscht wird, daß ich in meiner Ansicht, lieber nichts mit der Sache zu tun zu haben, noch von einem Freund bestärkt werde, der einen bessern Kopf für Geschäftssachen hat als ich und auch ein alter Soldat ist, so will ich ihn gern zu Rate ziehen. Die – die Kehle ist mir gegenwärtig so vollkommen zugeschnürt«, sagt Mr. George und fährt sich mit der Hand hoffnungslos über die Stirn, »daß ich nicht weiß, ob es nicht eine Befriedigung für mich wäre.«

Als Mr. Smallweed vernimmt, daß die Autorität ein alter Soldat ist, rät er, so lebhaft er kann, ihn zuzuziehen und ihm vor allem zu sagen, daß es sich um fünf Guineen oder mehr handelt. Mr. George verspricht schließlich, hinzugehen und seinen Freund um Rat zu fragen. Mr. Tulkinghorn sagt nichts dafür und nichts dagegen.

»Wenn Sie wünschen, Sir, werde ich also meinen Freund zu Rate ziehen«, sagt der Kavallerist, »und mir die Freiheit nehmen, im Lauf des Tages mit einer endgültigen Antwort wieder vorzusprechen. Mr. Smallweed, wenn Sie jetzt die Treppe hinuntergetragen zu werden wünschen…«

»Einen Augenblick, mein lieber Freund, einen Augenblick. Möchten Sie mich noch ein Wort mit diesem Herrn unter vier Augen sprechen lassen?«

»Gewiß, Sir. Übereilen Sie sich meinetwegen nicht.«

Der Kavallerist zieht sich in einen entfernten Winkel des Zimmers zurück und besichtigt wieder neugierig den Geldschrank und die Kasten.

»Wenn ich nicht so schwach wie ein kleines Höllenschwefelkind wäre, Sir«, flüstert Großvater Smallweed, während er den Advokaten an der Rockklappe zu sich herunterzieht und in seinen zornigen Augen ein halberloschnes grünes Feuer glimmt, »so würde ich ihm das Schreiben entreißen. Er hat es in seine Brusttasche eingeknöpft. Ich habe gesehen, wie er es einsteckte. Judy hat’s auch gesehen. Sprich doch, du ausgetrocknetes Bild für das Schild eines Spazierstockladens, und sag, daß du es ihn hast einstecken sehen!«

Diese vehemente Beschwörung begleitet der alte Ehrenmann mit einem solchen Stoß nach seiner Enkelin, daß es seine Kräfte übersteigt und er aus seinem Stuhl herausrutscht, Mr. Tulkinghorn nachziehend, bis Judy ihn aufhält und zurechtschüttelt.

»Mit Gewaltmaßregeln will ich nichts zu tun haben, mein Freund«, lehnt Mr. Tulkinghorn kühl ab.

»Nein, nein, ich weiß, ich weiß, Sir, aber ärgerlich und verdrießlich ist’s… s ist noch viel schlimmer als deine schnatternde plappernde Elster von einer Großmutter«, sagt Großvater Smallweed zu der undurchdringlichen Judy, die immer nur ins Feuer sieht. »Zu wissen, daß er hat, was wir brauchen, und es nur nicht herausgeben will. Er es nicht herausgeben ! Er! Ein Vagabund! Aber tut nichts, Sir. Tut nichts. Schlimmstenfalls hat er nur eine kleine Weile seinen Willen. Ich habe ihn von Zeit zu Zeit im Schraubstock. Ich werd ihn schon mürb machen, Sir. Ich werde die Schraube schon zuziehen, Sir. Wenn er nicht freiwillig tut, was ich will, werde ich ihn schon zwingen, Sir. – Nun, mein lieber Mr. George«, sagt Großvater Smallweed, läßt den Advokaten los und zwinkert ihm häßlich zu. »Wenn ich jetzt Ihre Hilfe in Anspruch nehmen darf, mein vortrefflicher Freund…«

Mr. Tulkinghorn, durch dessen Selbstbeherrschung ein leichtes Licht dringt, das verrät, daß ihn der Auftritt sehr amüsiert, steht mit dem Rücken gegen das Feuer auf dem Kaminteppich, sieht dem Entschwinden Mr. Smallweeds zu und erwidert den Gruß des Kavalleristen mit einem leichten Nicken.

Mr. George findet, daß es schwerer ist, den alten Herrn loszuwerden als ihn die Treppen hinuntertragen zu helfen, denn als dieser wieder im Wagen sitzt, zeigt er sich so geschwätzig über die Guineen und hält »seinen lieben Freund« so zärtlich am Knopf fest – von dem heimlichen Verlangen beseelt, ihm den Rock aufzureißen und das Papier zu entwenden –, daß Mr. George beinahe Gewalt anwenden muß, um von ihm loszukommen. Endlich gelingt es, und er macht sich allein auf den Weg zu seinem Ratgeber.

Er schreitet am klösterlichen »Tempel« und bei Whitefriars vorbei –nicht ohne einen Blick auf Hanging-Sword-Alley, die ihm einigermaßen am Weg zu sein scheint – und über die Blackfriarsbrücke und durch die Blackfriars-Road gelassen nach einer Straße voll kleiner Läden in jenem Gewirr von Wegen aus Kent und Surrey und Straßen von den Londoner Brücken her, die in dem allbekannten Elefanten zusammenlaufen, der sein Kastell, aus tausend vierspännigen Kutschen geformt, an ein noch stärkeres eisernes Ungeheuer, das ihn an jedem beliebigen Tag zu Wurstfleisch zu zerhacken bereit ist, abgetreten hat. Nach einem der kleinen Läden in dieser Straße, einem Instrumentenladen mit einigen Violinen, ein paar Panpfeifen, einem Tambourin, einem Triangel und ein paar Noten in der Auslage lenkt Mr. George seine wuchtigen Schritte. Kurz davor bleibt er stehen, als er eine soldatenmäßig aussehende Frau mit aufgeschürztem Kleid und einem kleinen Holzzuber heraustreten und auf dem Trottoirrand zu waschen anfangen sieht, und murmelt: »Sie wäscht Grünzeug wie gewöhnlich. Ich habe sie noch nie gesehen, außer auf einem Bagagewagen, ohne daß sie nicht Grünzeug wusch.«

Der Gegenstand seiner Reflexionen ist jedenfalls mit dem Grünzeugwaschen so eifrig beschäftigt, daß er von seiner Annäherung nichts ahnt, bis er das Wasser in den Rinnstein geschüttet hat, mit dem Zuber aufsteht und ihn vor sich sieht. Ihr Empfang ist nicht besonders schmeichelhaft.

»George, ich sehe Sie nie, ohne daß ich Sie nicht hundert Meilen weit weg wünschte.«

Ohne ein Wort auf diese Begrüßung zu erwidern, folgt der Kavallerist der Dame in den Instrumentenladen, wo sie ihr Gemüsefäßchen auf den Ladentisch setzt, ihm die Hand schüttelt und die Hüften stemmt.

»Ich halte Matthew Bagnet keine Minute für sicher, wenn Sie in der Nähe sind, George. Sie sind ein ruheloser, landstreicherischer…«

»Ja, ja! Ich weiß schon, Mrs. Bagnet. Ich weiß schon.«

»Wenn Sie’s auch wissen, was hilft das? Warum sind Sie so?«

»Wahrscheinlich ein animalischer Zug«, entschuldigt sich der Kavallerist gutmütig.

»Ach!« ruft Mrs. Bagnet mit ein wenig schriller Stimme. »Was hab ich von dem animalischen Zug, wenn das Tier meinen Mat vom Musikgeschäft weg nach Neuseeland oder Australien gelockt haben wird.«

Mrs. Bagnet ist keineswegs häßlich. Etwas derbknochig zwar und von grobem Wuchs und gebräunt von Sonne und Wind, die ihr das Haar auf der Stirne gebleicht haben, aber gesund und frisch und mit muntern Augen. Eine kräftige rührige tätige Frau mit ehrlichem Gesicht, von fünfundvierzig oder fünfzig Jahren. Reinlich, einfach und so ökonomisch, obgleich nicht ärmlich gekleidet, daß ihr einziger Schmuck ihr Trauring zu sein scheint, der ihr nicht mehr vom Finger geht, bis er sich dereinst mit ihrem Staub vermischt.

»Mrs. Bagnet«, sagt der Kavallerist, »Sie haben mein Wort. Mat soll meinethalben keinen Schaden nehmen. Insofern können Sie sich auf mich verlassen.«

»Nun, dann will ich’s glauben. Aber schon Ihr Aussehen macht einen unruhig. Ach, George, George! Wären Sie nur gesetzter geworden und hätten Joe Pouchs Witwe geheiratet, als er in Nordamerika starb! Sie hätte sich die Hände abgearbeitet für Sie.«

»Diese Gelegenheit habe ich allerdings versäumt«, entgegnet der Kavallerist halb lachend, halb im Ernst. »Aber jetzt werde ich kein solider Ehemann mehr werden. Joe Pouchs Witwe hätte mir helfen können – es war etwas an ihr –, aber ich konnte mich nicht dazu entschließen. Ja, wenn ich das Glück gehabt hätte, so eine Frau, wie Mat eine hat, zu finden.«

Mrs. Bagnet, die in ehrbarer Weise einem guten Kerl gegenüber wenig Zurückhaltung zu kennen scheint, sondern in dieser Hinsicht selbst eine Art guter Kerl ist, bedankt sich für dieses Kompliment, indem sie Mr. George mit einem Bund Grünzeug ins Gesicht spritzt. Dann trägt sie ihren Zuber in das kleine Zimmer hinter dem Laden.

»Nun, Quebec, mein Püppchen«, sagt George, der ihr auf ihre Einladung in die Stube folgt. »Was, und die kleine Malta auch? Kommt und küßt euern Wauwau.«

Die angeredeten jungen Damen, die nicht wirklich so getauft sind, aber in ihren Familien stets so nach ihren Geburtsorten in den Militärstationen genannt werden, sind beide auf dreibeinigen Stühlchen beschäftigt. Die jüngere, fünf oder sechs Jahre alt, mit Buchstabierenlernen aus einer Pennyfibel, die ältere, acht oder neun Jahre alt, als ihre Lehrerin und dabei fleißig nähend.

Beide jubeln Mr. George als altem Freund zu und setzen nach einigem Küssen und Balgen ihre Stühle neben ihn.

»Was macht der kleine Woolwich?« fragt Mr. George.

»Ach ja! Hören Sie nur!« ruft Mrs. Bagnet aus und sieht mit lebhaft gerötetem Gesicht – denn sie kocht eben das Mittagessen – von ihrer Pfanne auf. »Man sollte es nicht glauben. Hat eine Anstellung im Theater neben dem Vater, um in einem Militärstück die Querpfeife zu blasen.«

»Bravo, mein Patenkind«, ruft Mr. George und schlägt sich auf die Schenkel.

»Glaub’s Ihnen«, sagt Mrs. Bagnet. »Er ist ein Brite. Ja, das ist Woolwich. Ein echter Brite.«

»Und Mat bläst sein Fagott, und ihr seid alle samt und sonders ehrbare Zivilisten«, nickt Mr. George. »Familienvolk, den Stall voll Kinder, und Mats alte Mutter in Schottland und Ihr alter Vater irgendwo daherum bekommen Briefe und ein bißchen Unterstützung und… Gut, gut! Freilich weiß ich nicht, warum man mich nicht hundert Meilen weit weg wünschen sollte, denn was gehen mich solche Sachen an.«

Mr. George wird nachdenklich, wie er am Kamin in der weißgetünchten Stube sitzt, deren Fußboden mit Sand bestreut ist. Kasernengeruch herrscht, und nichts Überflüssiges ist zu sehen, von den Anzügen Quebecs und Maltas bis zu den glänzenden weißblechernen Töpfen und Pfannen auf den Simsen. Nirgends liegt Staub und Schmutz. – Mr. George grübelt, während Mrs. Bagnet kocht, und dann kommen Mr. Bagnet und der junge Woolwich pünktlich nach Hause.

Mr. Bagnet ist ein ehemaliger Artillerist, hochgewachsen und kerzengerade, mit zottigen Augenbrauen und einem Backenbart wie aus Kokosfasern, kein einziges Haar auf dem kahlen Kopf und von rotglühender Gesichtsfarbe. Seine kurze, tiefe und hallende Stimme klingt dem Instrument, das er spielt, nicht unähnlich. Überhaupt ist alles an ihm von straffem, unnachgiebigem, messingbeschlagnem Wesen, als ob er selbst das Fagott des ganzen großen Menschenorchesters wäre. Der kleine Woolwich ist der Typus eines kleinen Trommlerknaben.

Vater und Sohn begrüßen den Kavalleristen gleich herzlich. Später, als er erklärt, er sei gekommen, um Mr. Bagnet um Rat zu fragen, erklärt dieser gastfreundschaftlich, nicht eher etwas von Geschäften hören zu wollen, ehe nicht sein Freund an dem Schweinefleisch mit Gemüse teilgenommen habe. Da der Kavallerist die Einladung annimmt, gehen beide, um die häuslichen Vorbereitungen nicht zu stören, hinaus, machen einen kleinen Spaziergang auf der Straße und marschieren mit gemessenem Schritt, die Arme verschränkt, auf und ab, als befänden sie sich auf einer Schanze.

»George«, sagt Mr. Bagnet, »du kennst mich. Meine Alte erteilt die Ratschläge. Sie ist der Kopf. Aber ich gestehe es vor ihr nicht ein. Disziplin muß sein. Warte, bis sie ihre Sorge um das Gemüse los ist. Dann wollen wir beraten. Was die Alte sagt, das tue. Tue das ja!«

»Das ist auch meine Absicht, Mat. Ich frage lieber sie um Rat als ein ganzes Kollegium.«

»Kollegium!« entgegnet Mr. Bagnet in kurzen Sätzen, ganz fagottartig. »Was für ein Kollegium würde ganz allein aus einem andern Weltteil, mit nichts als einem grauen Mantel und einem Regenschirm, nach Europa heimreisen! Die Alte würde es morgen tun. Hat es schon einmal getan.«

»Da hast du Recht«, sagt Mr. George.

»Welches Kollegium könnte sich mit zwei Pence Kalk – für einen Penny Walkererde – einen halben Penny Sand – und dem Rest, der noch von einem Sixpence an Bargeld bleibt, etablieren? Und damit hat die Alte angefangen. In diesem Geschäft hier.«

»Es freut mich, zu hören, daß es gedeiht, Mat.«

»Die Alte spart«, sagt Mr. Bagnet zustimmend. »Hat irgendwo einen Strumpf. Mit Geld drin. Habe ihn nie gesehen. Aber ich weiß, daß sie einen hat. Warte nur, bis sie die Sorge mit dem Gemüse los ist. Dann wird sie dir gut raten.«

»Sie ist ein wahrer Schatz!« ruft Mr. George aus.

»Mehr noch! Aber ich sage das nie, wenn sie’s hören könnte. Disziplin muß sein. Meine Alte war’s, die meine musikalischen Fähigkeiten entdeckt hat. Ich stünde noch heute bei der Artillerie ohne die Alte. Sechs Jahre lang habe ich die Violine mißhandelt. Die Alte sagte, das ginge nicht! – Wille gut, aber Mangel an Biegsamkeit. Sollte Fagott versuchen. Die Alte borgte sich ein Fagott vom Kapellmeister beim Schützenregiment. Ich übte mich in den Laufgräben. Machte Fortschritte, bekam selbst ein Fagott. Lebe jetzt davon.«

George sagt, sie sähe so frisch aus wie eine Rose und so gesund wie ein Apfel.

»Die Alte ist durch und durch eine schöne Frau«, gibt Mr. Bagnet zu. »Daher gleicht sie einem durch und durch schönen Tage. Wird schöner, je älter sie wird. Habe nie ihresgleichen gesehen. Sage es aber nie, wenn sie’s hören könnte. Disziplin muß sein.«

Sie fangen jetzt an, von gleichgültigen Dingen zu sprechen, und gehen in Schritt und Takt die kleine Straße auf und ab, bis Quebec und Malta sie zum Schweinefleisch mit Gemüse hereinrufen, über das Mrs. Bagnet dann wie ein Regimentskaplan ein kurzes Tischgebet spricht.

Bei der Verteilung dieser Speisen hält sich Mrs. Bagnet wie bei jeder andern Wirtschaftspflicht an ein strenges System, setzt jedes Gericht vor sich hin, mißt jeder Portion Fleisch ihr Maß Brühe, Grünzeug, Kartoffeln und Senf zu und teilt sie dann aus. Nachdem sie auf die Art auch das Bier aus einer Kanne eingeschenkt und verteilt hat, befriedigt sie ihren eignen Hunger, der recht zufriedenstellend ist. Das Tischgerät besteht hauptsächlich aus Horn und Zinn und hat schon in verschiednen Weltteilen Dienste geleistet. Namentlich des kleinen Woolwichs Messer, von Austernart und mit einer starken Neigung behaftet, zuzuklappen, wodurch es häufig dem Appetit des jungen Musikers den Dienst verweigert, hat, wie man bei Tisch erfährt, bereits in verschiednen Händen den Dienst in allen Kolonien mitgemacht.

Nach beendeter Mahlzeit macht Mrs. Bagnet mit Hilfe der Jüngern Familienmitglieder, die ihre Becher und Teller, Messer und Gabeln selbst reinigen, das ganze Tischgerät so glänzend wie zuvor und räumt alles weg, kehrt aber zuerst den Herd, damit Mr. Bagnet und der Gast nicht behindert sind, ihre Pfeifen zu rauchen. Diese Wirtschaftssorgen sind mit vielem Hin- und Zurückklappern von Holzschuhen im rückwärtigen Hof verbunden und mit reichlicher Inanspruchnahme eines Wassereimers, der schließlich das Glück hat, zur Abwaschung von Mrs. Bagnet selbst zu dienen.

Bald erscheint die Alte ganz frisch wieder und setzt sich mit ihrer Näharbeit hin, und erst jetzt, wo ihre Sorgen um das Gemüse als ganz und gar beendet zu betrachten sind, fordert Mr. Bagnet den Kavalleristen auf, seine Sache vorzutragen.

Mr. George tut das mit größter Diskretion, indem er zu Mr. Bagnet zu sprechen scheint, aber während der ganzen Zeit wie dieser selbst sein Auge auf die Alte gerichtet hat. Sie, ebenso diskret, beschäftigt sich mit ihrer Näherei. Als die Sache vollständig auseinandergesetzt ist, nimmt Mr. Bagnet, um die Disziplin aufrecht zu erhalten, zu seiner altgewohnten List seine Zuflucht.

»Das ist die ganze Geschichte, was, George?« fragt er.

»Die ganze Geschichte.«

»Und du willst meinem Rate folgen?«

»Ich werde mich ganz nach ihm richten.«

»Alte«, sagt Mr. Bagnet, »sag ihm meine Meinung. Du kennst sie. Teile sie ihm mit.«

Der Rat lautet, daß man nicht wenig genug mit Leuten, die zu schlau für einen sind, zu tun haben und sich nicht genug hüten kann, sich in Dinge zu mischen, die man nicht versteht. Die einfache Regel lautet, nichts heimlich zu tun, an nichts Verstecktem oder Geheimnisvollem teilzunehmen und den Fuß nirgendshin zu setzen, wo man den Weg nicht sieht. Das ist dem Wesen nach Mrs. Bagnets Meinung. Und sie erleichtert Mr. George, der darin seine eigne Meinung bestätigt und seine Zweifel schwinden sieht, so sehr, daß er die seltne Gelegenheit benutzt, noch eine Pfeife raucht und mit der ganzen Familie Bagnet Lebenserfahrungen austauscht und von alten Zeiten plaudert.

So kommt es, daß Mr. George sich in dieser Stube nicht eher zu seiner vollen Höhe erhebt, als bis die Zeit naht, wo das englische Publikum im Theater das Fagott und die Querpfeife nicht länger mehr missen kann. Und selbst dann braucht Mr. George noch geraume Zeit, um in seiner Stellung als Wauwau Abschied von Quebec und Malta zu nehmen und einen Patenschilling in die Tasche des jungen Woolwich gleiten zu lassen, mit Glückwünschen über seine Erfolge im Leben. Erst als es finster wird, wendet Mr. George wieder sein Gesicht Lincoln’s-Inn-Fields zu.

Eine Häuslichkeit, spricht er zu sich selbst auf dem Heimweg, macht, so klein sie auch sein mag, daß ein Mann wie ich sich einsam fühlt. Aber es ist gut, daß ich das Manöver des Heiratens nie ausgeführt habe. Ich hätte nicht dafür gepaßt. Ich bin heute noch ein solcher Vagabund, daß ich sogar meine Schießgalerie nicht einen Monat lang führen könnte, wenn es ein regelmäßiges Geschäft wäre oder ich nicht nach Zigeunerart kampieren könnte. Und was ist schließlich daran! Ich mache niemandem Schande und falle niemandem zur Last. Das ist immerhin etwas. Das habe ich seit vielen Jahren nicht getan.

Dann pfeift er sich’s aus dem Sinn und marschiert weiter.

In Lincoln’s-Inn-Fields und an Mr. Tulkinghorns Treppe angekommen, findet er die Saaltür abgesperrt und die Kanzlei geschlossen. Aber da er als Kavallerist wenig von Saaltüren versteht, tastet er, in der Hoffnung, einen Klingelzug zu finden oder die Tür öffnen zu können, noch herum, da kommt Mr. Tulkinghorn – selbstverständlich leise – die Treppe herauf und fragt unwirsch:

»Wer ist da? Was machen Sie da?«

»Entschuldigen Sie, Sir. Ich bin George. Der Sergeant.«

»Und George, der Sergeant, konnte nicht sehen, daß meine Tür verschlossen ist?«

»Nun, nein, Sir. Konnte ich nicht. Jedenfalls hab ich es nicht gesehen«, antwortet der Kavallerist ein wenig gereizt.

»Haben Sie sich anders besonnen oder sind Sie noch derselben Ansicht?« Mr. Tulkinghorn fragt, aber er sieht auf den ersten Blick, woran er ist.

»Ich bin noch derselben Ansicht, Sir.«

»Ich habe mir’s gedacht. Das genügt. Sie können gehen. – Sie sind doch der Mann«, sagt Mr. Tulkinghorn und sperrt seine Tür auf, »in dessen Versteck Mr. Gridley gefunden wurde?«

»Ja, ich bin der Mann«, bestätigt der Kavallerist und bleibt zwei oder drei Stufen tiefer unten stehen. »Warum, Sir?«

»Warum? Ihr Umgang gefällt mir nicht. Ich hätte Sie heute morgen nicht vorgelassen, wenn ich gewußt hätte, daß Sie der Betreffende sind. Gridley!! Ein gefährlicher mörderischer Kerl!«

Mr. Tulkinghorn geht mit diesen für ihn ungewöhnlich laut gesprochnen Worten in seine Wohnung und wirft die Tür hinter sich zu. Mr. George ärgert sich sehr über diese Manier, sich zu verabschieden. Und umsomehr, als ein die Treppe heraufkommender Schreiber die letzten Worte gehört hat und sie offenbar auf ihn bezieht.

»Hübsche Sachen muß man sich da gefallen lassen«, brummt er und steigt mit einem Fluch die Treppe hinunter. Und als er hinaufblickt, sieht er den Schreiber herunterschauen und ihn, wie er an einer Lampe vorbeigeht, beobachten. Das steigert seinen Ärger so sehr, daß er fünf Minuten lang schlechter Laune ist.

Aber er pfeift sich auch das aus dem Sinn und marschiert durch die Straßen in seine Schießgalerie.

28. Kapitel


28. Kapitel

Der Hüttenbesitzer

Sir Leicester Dedlock hat für diesmal die Familiengicht überstanden und ist abermals in wörtlichem wie figürlichem Sinn auf den Beinen. Er weilt auf seinem Edelsitz in Lincolnshire, aber das Wasser steht wieder in den Niederungen, und die Kälte und Feuchtigkeit dringen trotz der besten Schutzmaßregeln in Chesney Wold ein und in Sir Leicesters Knochen.

Die hellen Feuer von Holz und Steinkohlen – Dedlock-Holz und vorsintflutlicher Wald –, die in den breiten geräumigen Kaminen lodern und im Zwielicht den finster blickenden Wäldern zuzwinkern, die grollend zusehen, wie ihre Bäume geopfert werden, können den Feind nicht vertreiben. Die Röhren mit heißem Wasser, die sich durch das ganze Haus schlängeln, die Polsterung der Türen und Fenster und die Vorhänge und Jalousien ersetzen nicht die Unzulänglichkeit der Feuer und genügen Sir Leicesters Bedürfnissen nicht. Daher verkünden die fashionablen Nachrichten eines Morgens dem lauschenden Erdenrund, daß Lady Dedlock binnen kurzem auf einige Wochen in die Stadt zurückkehren wird.

Es ist eine traurige aber wahre Tatsache, daß selbst große Männer arme Verwandte haben. Ja, große Männer haben oft mehr als den ihnen gebührenden Anteil an armen Verwandten. Und blaues Blut der feinsten Qualität ebenso wie geringes unrechtmäßig vergossenes schreien zum Himmel und wollen gehört sein. Sir Leicesters Vettern bis in den fernsten Grad sind in ihrer Art Mordtaten, die um jeden Preis ans Tageslicht wollen. Unter ihnen sind Vettern von so großer Armut, daß man fast denken könnte, es wäre für sie ein größeres Glück gewesen, sie wären niemals plattierte Glieder an der Dedlock-Goldkette geworden, sondern gleich von Anfang an von gemeinem Eisen und gewöhnlichen Diensten gewidmet gewesen.

Dienen dürfen sie, mit einigen sehr beschränkten, aber auch da keinen Nutzen bringenden Ausnahmen, wegen ihrer hohen Dedlock-Abstammung keinesfalls. Daher besuchen sie ihre reichen Vettern und machen Schulden, wenn sie können, und leben ziemlich schäbig, wenn es ihnen nicht gelingt. Als Frauen finden sie keine Männer und als Männer keine Frauen. Sie fahren in geborgten Wagen und sitzen bei Gastmählern, die sie selbst nie geben, und schlagen sich so durchs Leben. In die große Familiensumme haben sich allzuviele Zahlen geteilt, und sie sind der kleine Rest, mit dem niemand weiß, was anfangen.

Jeder von Sir Leicester Dedlocks Überzeugung und Denkungsart scheint mehr oder weniger sein Vetter zu sein. Von Lord Boodle und Herzog von Woodle bis herab zu Noodle spinnt Sir Leicester wie eine glorreiche Spinne seine Verwandtschaftsfäden. Aber während er großartig jedermanns von seinesgleichen Vetter ist, ist er in seiner würdevollen Weise gütig und großmütig gegen die kleinen Vettern, und gegenwärtig erträgt er trotz der Feuchtigkeit den Besuch mehrerer solcher Verwandten in Chesney Wold mit dem Opfermut eines Märtyrers.

Zu diesen gehört in erster Linie Volumnia Dedlock, eine junge Dame von sechzig Jahren, die in zwiefacher Hinsicht eine vornehme Verwandte ist. Hat sie doch die Ehre, mütterlicherseits mit einer andern großen Familie verschwägert zu sein. Da Miß Volumnia in ihrer Jugend ein hübsches Talent besaß, allerlei nette Ornamente aus buntem Papier auszuschneiden, zur Guitarre spanische Lieder zu singen und auf Herrschaftssitzen französische Wortspiele zum besten zu geben, so verbrachte sie die zwei Dezennien ihres Lebens zwischen dem zwanzigsten und vierzigsten auf eine hinreichend angenehme Art. Als sie dann aus der Mode kam und ihre spanischen Lieder der Menschheit langweilig wurden, zog sie sich nach Bath zurück, wo sie bescheiden von einem jährlichen Geschenk Sir Leicesters lebt und gelegentlich in den Herrschaftssitzen ihrer Vettern aufersteht. In Bath erfreut sie sich einer ausgedehnten Bekanntschaft unter entsetzlich alten Herrn mit dürren Beinen und Nankinghosen und nimmt in dieser öden Stadt eine hohe Stellung ein. Aber anderwärts fürchtet man sie ein wenig wegen einer gewissen indiskreten Verschwendung von roter Schminke und eines ewigen altmodischen Perlenhalsbandes, das ihr wie ein Rosenkranz aus kleinen Vogeleiern um den Hals hängt.

In jedem Lande mit gesunden Zuständen hätte Volumnia berechtigte Ansprüche auf eine Pension. Man hat Versuche gemacht, sie in die Liste zu bringen, und als William Buffy das Ministerium übernahm, rechnete man sicher darauf, daß ihr Name mit ein paar hundert Pfund jährlich bedacht werden würde. Aber wider alles Erwarten entdeckte William Buffy irgendwie, daß das in solchen Zeitläuften nicht anginge, und das war für Sir Leicester Dedlock das erste deutliche Zeichen von dem bevorstehenden Untergang Englands.

Ferner ist da Bob Stables, Hochwohlgeboren, der mit der Geschicklichkeit eines Veterinärarztes warme Umschläge machen kann und ein besserer Schütze ist als die meisten Hegereiter. Er hat seit einiger Zeit eifrigst gewünscht, seinem Vaterland in einem bezahlten Amt ohne weitere Mühe und Verantwortlichkeit zu dienen. In einem gut geordneten Staatswesen wäre dieser natürliche Wunsch eines strebsamen jungen Mannes von so hohen Beziehungen rasch befriedigt worden. Aber William Buffy entdeckte, als er Minister wurde, daß er in solchen Zeitläuften auch diese kleine Sache nicht deichseln könnte. Und das war für Sir Leicester Dedlock das zweite Zeichen von Englands bevorstehendem Untergang.

Die übrigen Verwandten sind Damen und Herren von verschiedenen Fähigkeiten und Altersstufen. Der größere Teil ist liebenswürdig und verständig und besteht aus Leuten, die aller Wahrscheinlichkeit nach ganz gut im Leben vorwärts gekommen wären, wenn sie sich nur ihre Vetterschaft hätten aus dem Kopf schlagen können. So aber sind sie fast alle deswegen schlechter daran und schlendern auf zweck- und ziellosen Pfaden dahin und stehen sich und andern im Wege.

In dieser Gesellschaft, wie überall, herrscht Lady Dedlock unumschränkt. Schön, elegant, gebildet und tonangebend in ihrer kleinen Welt, trägt sie durch ihren Einfluß in Sir Leicesters Haus, so hochmütig und gleichgültig auch ihre Art ist, nicht wenig dazu bei, den Ton zu heben und zu verfeinern. Die Vettern und Basen, selbst die altern, die ganz erstarrt waren, als Sir Leicester Mylady heiratete, sind ihre Vasallen geworden, und Bob Stahles, Hochwohlgeboren, wiederholt täglich zwischen Frühstück und Lunch gelegentlich seine Lieblingsbemerkung, daß sie die bestgestriegelte Frau im ganzen Gestüt sei.

Das sind die Gäste in dem großen Salon in Chesney Wold an diesem unfreundlichen Abend, wo der Schritt auf dem Geisterweg, der nicht bis hierher hörbar ist, gerade so gut der Schritt eines in die Kälte hinausgestoßenen verstorbenen Vetters sein könnte.

Es ist fast Schlafenszeit. Die Schlafzimmerfeuer schimmern hell durch das ganze Haus und beschwören Gespenster grotesker Möbel an Wand und Decke. Schlafzimmerleuchter stehen auf dem Tisch in der Ecke drüben an der Tür, und Vettern und Basen gähnen auf Ottomanen. Vettern und Basen am Piano, Vettern und Basen am Sodawasser-Tablett. Vettern und Basen stehen vom Spieltisch auf, Vettern und Basen sind am Kamin versammelt. Auf der einen Seite seines eigenen Feuers, denn es sind deren zwei im Salon, steht Sir Leicester, und an der andern Kaminseite sitzt Mylady an ihrem Tisch. Volumnia, als eine der begünstigteren Verwandten, ruht in einem üppigen Lehnstuhl zwischen ihnen. Sir Leicester blickt mit vornehmem Mißvergnügen auf die rote Schminke und das Perlenhalsband.

»Zuweilen treffe ich hier auf der Treppe eines der hübschesten Mädchen, das mir jemals vorgekommen ist«, sagt Volumnia gedehnt, deren Gedanken nach dem langen Abend höchst zerfahrner Unterhaltung schon zu Bett hüpfen wollen.

»Eine Protege von Mylady«, bemerkt Sir Leicester.

»Das dachte ich mir. Ich war überzeugt, daß ein ungewöhnlicher Blick das Mädchen ausgewählt haben müßte. Die Kleine ist wirklich ein Wunder. Vielleicht von etwas puppenhafter Schönheit«, sagt Volumnia, sich ihre Eigenart vorbehaltend. »Aber in ihrer Weise vollkommen. Eine solche blühende Frische ist mir noch nie vorgekommen.«

Sir Leicester mit seinem mißvergnügten Blick auf die Schminke scheint ebenfalls dieser Meinung zu sein.

»O«, bemerkt Mylady gelangweilt, »wenn jemand eine ungewöhnliche Hand in der Sache bewiesen hat, so ist es Mrs. Rouncewell gewesen und nicht ich. Sie hat Rosa entdeckt.«

»Rosa ist Ihre Zofe, nicht wahr?«

»Nein, sie ist alles für mich. Liebling – Sekretär – Bote… Ich weiß nicht, was alles.«

»Sie haben sie um sich, wie Sie gern eine Blume oder einen Vogel, ein Bild oder einen Pudel – aber nein, einen Pudel nicht – oder sonst etwas Hübsches um sich sehen würden«, sagt Volumnia verständnisinnig. »Ach, wie reizend das ist, und wie gesund diese liebe alte Mrs. Rouncewell aussieht. Sie muß außerordentlich alt sein, und doch ist sie so rührig und hübsch. Ich bin ihr wirklich von Herzen gut.«

Sir Leicester findet es recht und schicklich, daß die Haushälterin von Chesney Wold eine bemerkenswerte Person ist. Abgesehen davon hat er wirklich Achtung vor Mrs. Rouncewell und hört sie gern loben. Deshalb sagt er: »Sie haben recht, Volumnia«, – was zu vernehmen Volumnia außerordentlich freut.

»Sie selbst hat keine Tochter?«

»Mrs. Rouncewell? Nein, Volumnia. Sie hat einen Sohn. Eigentlich zwei.«

Mylady, deren chronische Langweile diesen Abend durch Volumnia sehr verstärkt wurde, blickt müde nach den Leuchtern und seufzt innerlich.

»Und es ist ein merkwürdiges Beispiel des Verfalles, dem das gegenwärtige Zeitalter entgegengeht, des Verwischens aller Grenzen, des Öffnens der Schleusen und der Mißachtung aller Distinktionen«, sagt Sir Leicester mit vornehmer Melancholie, »daß ich von Mr. Tulkinghorn höre, man habe Mrs. Rouncewells Sohn zur Kandidatur ins Parlament aufgefordert.«

Miß Volumnia läßt ein halblautes Aufkreischen hören.

»Ja, wirklich«, wiederholt Sir Leicester. »Ins Parlament!«

»Da hört sich denn doch alles auf! Gütiger Himmel, was ist denn der Mann?«

»Er ist… Man nennt es, glaube ich, einen Hüttenmeister.« Sir Leicester sagt das langsam und mit ernstem Zweifel, als könne der Mann gerade so gut ein Bleigießer sein oder irgend etwas anderes Rätselhaftes.

Volumnia läßt wieder ein Kreischen vernehmen.

»Er hat den Vorschlag abgelehnt, wenn die mir von Mr. Tulkinghorn mitgeteilte Nachricht richtig ist, was ich nicht im mindesten bezweifle, denn Mr. Tulkinghorn ist stets richtig informiert, aber das vermindert das Ungehörige der Sache durchaus nicht«, sagt Sir Leicester. »Man könnte die sonderbarsten und, wie mir scheint, erschreckendsten Betrachtungen darüber anstellen.«

Da Miß Volumnia mit einem leuchterwärts gerichteten Blick aufsteht, macht Sir Leicester höflich die »große Tour«, das heißt, er geht im Bogen im Salon herum, holt eine Kerze und zündet das Licht an Myladys Lampe an.

»Ich möchte Mylady bitten, noch ein paar Augenblicke zu bleiben«, sagt er dabei. »Denn der Mann, von dem ich sprach, ist heute abend kurz vor dem Essen angekommen und hat – in einem sehr schicklichen Briefe« – schaltet Sir Leicester mit seiner gewohnten Wahrheitsliebe ein – »in einem sehr schicklichen und gut verfaßten Briefe, muß ich sagen – um die Gunst einer kurzen Unterredung mit Mylady und mir wegen dieses jungen Mädchens gebeten. Da es schien, als ob er diesen Abend noch abzureisen wünschte, antwortete ich ihm, daß wir ihm noch vor dem Schlafengehen Audienz geben wollten.«

Miß Volumnia entflieht mit einem dritten leisen Schrei, indem sie ihren Wirten, o Gott, glückliche Befreiung von dem – was ist er? – Hüttenmeister wünscht.

Die andern Vettern und Basen verlieren sich ebenfalls bald. Sir Leicester klingelt.

»Empfehlen Sie mich Mr. Rouncewell unten bei der Haushälterin und sagen Sie ihm, daß ich ihn jetzt empfangen kann.«

Mylady, die all dem äußerlich nur mit geringer Aufmerksamkeit zugehört hat, wirft einen Blick auf Mr. Rouncewell, als er ins Zimmer tritt. Er ist dem Anschein nach ein wenig über fünfzig, gut gewachsen wie seine Mutter, hat eine sonore Stimme, eine breite Stirn, von der das dunkle Haar schon ein wenig zurückgewichen ist, und ein gescheites und offenes Gesicht. Er sieht in seinem schwarzen Rock behäbig aus, aber kräftig und beweglich, wie jemand, der eine gewisse verantwortliche Tätigkeit gewohnt ist. Er benimmt sich vollkommen natürlich und unbefangen und ist nicht im mindesten verlegen.

»Sir Leicester und Lady Dedlock, da ich wegen der Belästigung bereits um Verzeihung gebeten habe, so kann ich nichts Besseres tun, als mich sehr kurz zu fassen. – Ich danke Ihnen, Sir Leicester.«

– Das Familienoberhaupt der Dedlocks hat nämlich mit der Hand auf ein Sofa zwischen sich und Mylady gewiesen. –

Mr. Rouncewell nimmt ruhig Platz.

»In diesen geschäftigen Zeiten, wo so große Unternehmungen im Gange sind, haben Leute wie ich eine solche Menge Arbeiter an so vielen Orten, daß wir beständig unterwegs sind.«

Sir Leicester paßt es, daß der Hüttenbesitzer fühlt, daß hier nichts eilt, hier, in diesem uralten Hause, festgewurzelt in dem stillen Park, wo der Efeu und das Moos Zeit gefunden haben, sich auszubreiten, und die zackigen warzigen Ulmen und die schattigen Eichen tief in hundertjährigem Farnkraut und Laub stehen, wo die Sonnenuhr auf der Terrasse seit Generationen stumm die Zeit gezeigt hat, die ebensosehr das Eigentum jedes Dedlocks war – für Lebenszeit – wie das Haus und die Ländereien. Sir Leicester nimmt in einem Lehnstuhl Platz und setzt seine Ruhe und die ganz Chesney Wolds dem Ungestüm des Eisenwerkbesitzers entgegen.

»Lady Dedlock ist so gütig gewesen«, fährt Mr. Rouncewell mit einem Blick und einer Verbeugung voll Ehrerbietung vor der Dame des Hauses fort, »eine junge Schönheit namens Rosa in ihre Dienste zu nehmen. Nun hat sich mein Sohn in Rosa verliebt und meine Einwilligung verlangt, ihr seine Hand antragen und sich mit ihr verloben zu dürfen, wenn sie ihn haben will, was ich nämlich voraussetze.

Ich habe Rosa heute das erste Mal gesehen, aber ich vertraue auf meines Sohnes richtigen Blick, selbst in der Liebe.

Nach meinem Dafürhalten ist sie wirklich so, wie er sie schildert, und auch meine Mutter ist voll des Lobes über sie.«

»Sie verdient es in jeder Hinsicht«, bestätigt Mylady.

»Es freut mich, daß Sie das auch sagen, Lady Dedlock, und ich brauche wohl nicht erst auseinanderzusetzen, welchen Wert für mich Ihre Meinung über Rosa hat.«

»Das wäre wohl auch ganz unnötig«, bemerkt Sir Leicester unsäglich würdevoll, denn der Eisenwerkbesitzer kommt ihm ein wenig zu zungenfertig vor.

»Ganz unnötig, Sir Leicester. Gewiß. – Nun ist mein Sohn ein sehr junger Mann und Rosa ein sehr junges Mädchen. Wie auch ich mich emporarbeiten mußte, so muß auch mein Sohn es tun, und jetzt zu heiraten, ist für ihn ausgeschlossen. Aber vorausgesetzt, ich gäbe meine Einwilligung zu seiner Verlobung, wenn sich die kleine Schönheit überhaupt mit ihm verloben will, so halte ich es für meine Pflicht, von vornherein aufrichtig zu sagen – und ich bin überzeugt, Sir Leicester und Lady Dedlock, Sie werden mich verstehen und entschuldigen, – daß ich es zur Bedingung machen müßte, daß Rosa nicht in Chesney Wold bleibt. Deshalb, ehe ich die Sache weiter mit meinem Sohn bespreche, nehme ich mir die Freiheit, zu versichern, daß, wenn Ihnen Rosas Entfernung nicht passen sollte oder irgendwie unangenehm wäre, ich die Sache auf einen beliebigen vernünftigen Termin hinausschieben und sie so lassen würde, wie sie gegenwärtig steht.«

Nicht in Chesney Wold bleiben? Es zur Bedingung machen?

Alle alten bösen Ahnungen Sir Leicesters in bezug auf Wat Tyler und die Leute in den Eisendistrikten, die immerwährend bei Fackelschein ausziehen, erwachen wieder in seinem Kopf, so daß sich sein schönes graues Haar samt dem Backenbart vor Entrüstung sträubt.

»Soll ich darunter verstehen, Sir, und soll Mylady darunter verstehen …« – Sir Leicester erwähnt sie erstens aus Galanterie und zweitens aus Klugheit, da er sehr viel von ihrem Verstand hält – »soll ich darunter verstehen, Mr. Rouncewell, und soll Mylady darunter verstehen, Sir, daß Sie das junge Mädchen für zu gut für Chesney Wold halten, oder meinen Sie, ihr Hierbleiben könne ihr vielleicht schaden?«

»Durchaus nicht, Sir Leicester.«

»Es freut mich, das zu hören.« Sir Leicester sieht sehr erhaben drein.

»Bitte, Mr. Rouncewell«, sagt Mylady und scheucht Sir Leicester mit einem leisen Wink ihrer hübschen Hand weg wie eine Fliege. »Erklären Sie mir, was Sie wollen.«

»Mit größter Bereitwilligkeit, Lady Dedlock. Nichts könnte mir erwünschter sein.«

Mylady kehrt ihr unbewegliches Gesicht, dessen Geist jedoch zu rasch und lebendig ist, um sich durch eine einstudierte, wenn auch noch so sehr zur Gewohnheit gewordene Teilnahmslosigkeit verbergen zu lassen, den kräftigen angelsächsischen Zügen des Gastes, der ein Bild von Entschlossenheit und Ausdauer ist, zu, lauscht aufmerksam seinen Worten und neigt gelegentlich ein wenig ihr Haupt.

»Ich bin der Sohn Ihrer Haushälterin, Lady Dedlock, und habe meine Kindheit in diesem Hause verbracht. Meine Mutter hat hier ein halbes Jahrhundert gelebt und wird hier wohl auch sterben. Sie ist eins von den Beispielen – vielleicht eines der besten – von Liebe, Anhänglichkeit und Treue, auf die England wohl stolz sein kann, aber deren Ehre oder Verdienst sich kein Stand allein anmaßen darf, weil ein solches Beispiel hohen Wert auf beiden Seiten voraussetzt. Auf der Seite der Herrschaft gewiß, aber auf der des Untergebenen nicht minder.«

Sir Leicester rümpft ein wenig die Nase, die Tatsachen so ausgelegt zu hören, aber in seiner Ehrenhaftigkeit und Wahrheitsliebe gibt er, wenn auch stumm, die Richtigkeit der Behauptung des Eisenwerkbesitzers zu.

»Verzeihen Sie, daß ich erwähne, was so selbstverständlich ist, aber ich wollte nicht Anlaß zu einer Vermutung geben, als ob ich mich etwa der Stellung meiner Mutter hier schäme oder es sonstwie an gerechter Ehrerbietung vor Chesney Wold und seiner Familie irgendwie fehlen ließe. Gewiß hätte ich wünschen dürfen und habe es auch gewünscht, Lady Dedlock, daß sich meine Mutter nach so vielen Jahren zurückziehe und ihr Leben bei mir beschließen möge. Aber da ich fand, daß die Trennung von hier ihr das Herz brechen würde, habe ich den Gedanken längst aufgegeben.«

Sir Leicester sieht wieder sehr großartig drein bei dem Gedanken, man könne Mrs. Rouncewell ihrer natürlichen Heimat entführen, damit sie ihre Tage bei einem Eisenwerkbesitzer beschließe.

»Ich bin Lehrling und Arbeiter gewesen«, fährt der Besuch in schlichter, klarer Weise fort, »habe viele Jahre lang von meinem Arbeitslohn gelebt und mich bis zu einem gewissen Punkte selbst erziehen müssen. Meine Frau war als die Tochter eines einfachen Werkführers aufgewachsen. Wir haben drei Töchter außer diesem Sohn, den ich bereits erwähnte, und da wir glücklicherweise imstande waren, ihnen günstigere Lebensbedingungen zu schaffen, als wir sie selbst gehabt, so haben sie eine gute, sogar sehr gute Erziehung genossen. Es ist eine unsrer Hauptsorgen und Hauptfreuden gewesen, sie jeder Lebensstellung würdig zu machen.«

Ein wenig Stolz klingt durch seinen väterlichen Ton, als ob er innerlich hinzusetzte: »Würdig selbst für die Chesney-Wold-Stellung.« Deshalb mildert Sir Leicester die Großartigkeit seiner Miene nicht ein bißchen.

»Alles dieses kommt in meiner Gegend und in der Gesellschaftsklasse, zu der ich gehöre, so häufig vor, Lady Dedlock, daß das, was man so landläufig ungleiche Heiraten nennt, nicht so selten ist wie anderswo. Ein junger Mann sagt manchmal seinem Vater, daß er sich in ein Mädchen in der Fabrik verliebt habe. Der Vater, der früher selbst Arbeiter gewesen, wird anfangs ein wenig unzufrieden sein. Sehr möglich. Vielleicht hat er mit seinem Sohn andre Absichten. Wahrscheinlicher aber ist, daß er zu seinem Sohn sagt, nachdem er sich vergewissert hat, daß das Mädchen einen tadellosen Ruf besitzt: Ich muß erst sicher sein, daß es dir ernst ist. Es ist eine wichtige Angelegenheit für euch beide. Deshalb werde ich dieses Mädchen zwei Jahre lang unterrichten lassen oder soundso lange mit deinen Schwestern in ein und dieselbe Schule schicken, und du gibst mir dein Ehrenwort, daß du sie während dieser Zeit nur soundsooft siehst. Wenn das Mädchen nach Verlauf dieser Zeit die Gelegenheit entsprechend wahrgenommen hat, so daß ihr hinsichtlich Bildung auf dem richtigen Fuß miteinander steht, und wenn ihr dann immer noch desselben Sinnes seid, so will ich das Meine tun, um euch glücklich zu machen. Ich kenne mehrere Fälle dieser Art, Mylady, und ich glaube, sie zeigen mir, welchen Weg ich einzuschlagen habe.«

Sir Leicesters Großartigkeit kommt jetzt zum Ausbruch. Ruhig, aber schrecklich.

»Mr. Rouncewell«, sagt er, die rechte Hand in der Brust seines blauen Fracks – die Staatsstellung, in der sein Bild in der Galerie hängt. »Ziehen Sie einen Vergleich zwischen Chesney Wold und einer« – er unterdrückt einen Erstickungsanfall – »einer Fabrik?«

»Ich brauche wohl nicht zu versichern, Sir Leicester, daß die zwei Orte sehr verschieden von einander sind, aber zum Zweck der Beurteilung des vorliegenden Falles glaube ich einen gewissen Vergleich zwischen ihnen immerhin ziehen zu dürfen.«

Sir Leicester läßt seinen majestätischen Blick die eine Seite des langen Salons hinab und die andre heraufschweifen, ehe er glauben kann, daß er wach ist.

»Ist es Ihnen bekannt, Sir, daß dieses junge Mädchen, das Mylady-Mylady! – in ihre Dienste genommen hat, in der Dorfschule draußen erzogen worden ist?«

»Sir Leicester, das ist mir wohl bekannt. Es ist eine sehr gute Schule, und sie wird von Ihrer Familie in nicht genug anzuerkennender Weise unterstützt.«

»Dann muß ich gestehen, Mr. Rouncewell, daß mir Ihre Äußerungen vollkommen unverständlich sind.«

»Werden sie Ihnen begreiflicher sein, Sir Leicester, wenn ich Ihnen sage«, entgegnet der Eisenwerksbesitzer, und das Blut steigt ihm ein wenig ins Gesicht, »daß ich nicht der Meinung bin, die Dorfschule könne alles lehren, was der Gattin meines Sohnes zu wissen wünschenswert ist?«

»Von dem Unterfangen, die bis zu dieser Minute sakrosankt gewesene Dorfschule von Chesney Wold herabzusetzen, bis zu dem ganzen sozialistischen Lattenbau mit seinen Übergriffen, Menschen über ihren Stand zu erziehen und dadurch die Grenzen zu verwischen, die Schleusen zu öffnen und alles andre Übel anzurichten, ist nur ein Schritt.« Das ist der rasche Ideengang im Geiste des Dedlockhauptes.

»Mylady, bitte um Verzeihung! Gestatten Sie mir nur noch einen Augenblick!« – Sie hatte ein leises Zeichen gegeben, daß sie sprechen wollte. – »Mr. Rouncewell, unsere Ansichten von Pflicht und unsere Ansichten von gesellschaftlicher Stellung, unsere Ansichten von Erziehung und unsere Ansichten von… Kurz, alle unsere Ansichten stehen in so entschiednem Gegensatz zueinander, daß eine Verlängerung dieser Unterhaltung Ihre Gefühle ebenso verletzen müßte wie die meinen. Dieses junge Mädchen wird mit Myladys Beachtung und Gunst beehrt. Wenn sie sich dieser Beachtung und Gunst zu entziehen wünscht oder es vorzieht, sich unter den Einfluß jemandes zu begeben, der infolge seiner eigentümlichen Ansichten – Sie werden mir den Ausdruck eigentümliche Ansichten gestatten, wenn ich auch gern zugestehe, daß ich keinerlei Rechtfertigung derselben zu fordern habe –, der sie infolge seiner eigentümlichen Ansichten dieser Beachtung und Gunst zu entziehen wünscht, so steht das dem Mädchen jeder Zeit frei. Wir sind Ihnen verbunden für die Offenheit, mit der Sie sich ausgesprochen haben. Sie wird an sich in keiner Weise die Stellung des jungen Mädchens hier beeinflussen. Zu etwas weiterem können wir uns nicht verstehen und bitten Sie – wenn Sie so gut sein wollen –, das Thema fallen zu lassen.«

Der Besuch schweigt einen Augenblick, um Mylady Gelegenheit zu geben, das Wort zu ergreifen, aber sie sagt nichts. Dann steht er auf und entgegnet:

»Sir Leicester und Lady Dedlock, erlauben Sie mir, Ihnen für das Gehör, das Sie mir geschenkt haben, zu danken und nur zu bemerken, daß ich meinem Sohn angelegentlichst raten werde, seiner Herzensneigung Herr zu werden. Gute Nacht!«

»Mr. Rouncewell«, sagt Sir Leicester mit dem ganzen Glanz eines vollendeten Gentlemans, »es ist spät, und die Wege sind finster. Ich hoffe, Ihre Zeit ist nicht so kostbar, daß Sie nicht Mylady und mir erlauben würden, Ihnen wenigstens für heute nacht ein gastliches Obdach in Chesney Wold anzubieten.«

»Ich hoffe es ebenfalls«, setzt Mylady hinzu.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, aber ich muß die ganze Nacht durchreisen, um pünktlich morgen früh einen ziemlich weit entlegnen Ort zur festgesetzten Stunde zu erreichen.«

Damit verabschiedet sich der Hüttenbesitzer. Sir Leicester klingelt, und Mylady erhebt sich, als er den Saal verlassen hat.

Als Mylady in ihr Boudoir kommt, setzt sie sich gedankenvoll an den Kamin und beobachtet, ohne auf die Schritte auf dem Geisterweg zu achten, Rosa, die in einem Nebenzimmer schreibt. Nach einer Weile ruft sie das Mädchen:

»Komm herein, Kind! Sag mir offen, bist du verliebt?«

»O Mylady!«

Mylady betrachtet das errötende Gesicht und die niedergeschlagnen Augen und sagt lächelnd:

»Wer ist es? Ist es Mrs. Rouncewells Enkel?«

»Ja, wenn Sie erlauben, Mylady. Aber ich weiß nicht, ob ich ihn – schon liebe.«

»Schon? Du närrisches kleines Ding! Weißt du, daß er dich – schon liebt?«

»Ich glaube, er hat mich ein wenig gern, Mylady.« Rosa bricht in Tränen aus.

Ist das Lady Dedlock, die jetzt neben der ländlichen Schönheit steht, ihr mit mütterlicher Hand das dunkle Haar zurückstreicht und sie mit Augen so voll nachdenklichen Interesses betrachtet? Ja, wahrhaftig, sie ist es.

»Hör mich an, mein Kind. Du bist jung und treu und hängst, wie ich glaube, an mir.«

»Unendlich, Mylady. Es gibt gewiß nichts in der Welt, was ich nicht tun würde, um zu beweisen, wie sehr.«

»Und ich glaube nicht, daß du mich jetzt schon zu verlassen wünschtest, Rosa, selbst nicht um eines Liebhabers willen.«

»Nein, Mylady, o nein!« Rosa blickt zum ersten Mal auf, ganz erschrocken bei diesem Gedanken.

»Vertraue auf mich, mein Kind! Hab keine Scheu vor mir. Ich wünsche dich glücklich zu sehen und will dich glücklich machen, wenn ich noch jemanden auf dieser Erde glücklich machen kann.«

Mit Tränen in den Augen kniet Rosa vor ihr nieder und küßt ihr die Hand. Mylady nimmt die Hand, mit der das Mädchen die ihre gefaßt hat, und legt sie, ins Feuer starrend, in nachdenklichem Spiel abwechselnd in die linke und rechte und läßt sie dann sinken. Da Rosa sie so vertieft sieht, entfernt sie sich leise. Myladys Augen blicken immer noch ins Feuer.

Was sieht sie dort? Eine Hand, die nicht mehr ist oder nie war, oder eine, deren Berührung wie mit Zauberkraft ihr Leben hätte anders machen können? Oder lauscht sie auf den Schall auf dem Geisterweg und grübelt, was für einem Schritt er am meisten gleicht. Dem eines Mannes? Einer Frau? Dem Trippeln eines kleinen Kindes, das immer näher kommt, näher und näher? Eine melancholische Stimmung beherrscht sie. Oder warum sonst brauchte eine so stolze Dame selbst die Türen zuzumachen und einsam am Kamin zu sitzen?

Volumnia ist am nächsten Morgen abgereist, und alle Vettern und Basen haben sich vor dem Essen verflüchtigt. Alle, ohne Ausnahme, sind erstaunt, bereits beim Frühstück Sir Leicester davon sprechen zu hören, wie sich die Grenzen verwischen, die Schleusen öffnen und die Grundfesten der Gesellschaft ins Wanken kommen, wie das Beispiel des Sohnes von Mrs. Rouncewell zeige. Alle, ohne Ausnahme, sind wirklich entrüstet und schreiben es der Schwäche William Buffys als Minister zu und fühlen sich ihres Rechtes auf das Vaterland – oder einer Pension oder sonst eines Privilegiums – durch Trug und Unrecht beraubt.

Was Volumnia betrifft, geleitet Sir Leicester sie die große Treppe hinab und spricht dabei so beredt über das Thema, als wäre im Norden Englands ein allgemeiner Aufstand ausgebrochen, um ihr den Schminktopf und das Perlenhalsband zu entreißen. Und dann zerstreuen sich die Vettern und Basen unter einem großen Hin- und Herrennen von Zofen und Kammerdienern – denn es ist eine charakteristische Eigenschaft ihrer Vetter- und Basenschaft, stets Zofen und Kammerdiener halten zu müssen, so schwer ihnen auch der eigne Unterhalt werden mag – nach allen vier Himmelsrichtungen, und der Winterwind fegt einen Blätterschauer von den Bäumen an dem verlassnen Hause vorbei, als ob sich sämtliche Vettern und Basen in dürres Laub verwandelt hätten.

29. Kapitel


29. Kapitel

Der junge Mann

Chesney Wold ist zugeschlossen. Teppiche stehen zusammengerollt in den Ecken der ungemütlich aussehenden Zimmer, und der Damast tut Buße in Leinwandüberzügen. Holzschnitzerei und Vergoldung ergeben sich der Abtötung des Fleisches, und die Ahnen der Dedlocks ziehen sich wieder aus dem Tageslicht zurück. Dicht fallen die Blätter rings ums Haus. Dicht und langsam schweben sie mit einer toten melancholischen Leichtigkeit in Kreisen nieder. Der Gärtner mag die Rasenplätze noch so rein fegen und die Blätter in volle Schiebkarren drücken und wegfahren, immer noch liegt das Laub knöcheltief. Der schrille Wind heult um Chesney Wold. Der Regen schlägt scharf ans Haus, die Fenster rasseln, und es saust in den Schornsteinen. Nebel verstecken die Alleen, verschleiern die Aussicht und bewegen sich wie Leichenzüge über die Anhöhen im Park. Im ganzen Hause herrscht ein kalter nichtssagender Geruch, wie der Geruch in der kleinen Kirche, nur etwas trockener. Er erweckt die Vermutung, daß die toten und begrabenen Dedlocks in den langen Nächten hier umherwandern und den Hauch ihrer Gräber zurücklassen.

Aber das Haus in der Stadt, das meist andern Sinnes ist als Chesney Wold und sich freut, wenn jenes trauert – außer wenn ein Dedlock stirbt –, und trauert, wenn jenes sich freut, das Haus in der Stadt ist wieder zum Leben erwacht. So warm und hell, wie Prunk es sein kann, so süß durchzogen von angenehmen Gerüchen, die so wenig an den Winter erinnern, wie Treibhausblumen es nur vermögen. Still und ruhig, daß nur das Ticken der Uhren und das Prasseln des Feuers das allgemeine Schweigen stören, scheint es die fröstelnden Beine Sir Leicesters in regenbogenfarbene Watte zu wickeln.

Und Sir Leicester ist froh, in würdevoller Befriedigung vor dem großen Kamin in der Bibliothek zu ruhen, herablassend die Rücken seiner Bücher zu lesen oder den Kindern der schönen Künste einen billigenden Blick zuzuwerfen. Er besitzt Gemälde, alte und neue. Einige von der Kostümballschule, in der sich die Kunst gelegentlich herabläßt, ein Meister zu werden, und die sich am besten in Kataloge, wie Auktionsartikel, einteilen lassen. Etwa so: Drei Stühle mit hohen Lehnen, ein Tisch mit Decke, langhalsige Flaschen mit Wem, ein Krug, ein spanisches Frauenkleid, Dreiviertelporträt von Miß Jogg, eine Rüstung, Don Quixote enthaltend. Oder: eine steinerne Terrasse (zersprungen), eine Gondel in der Ferne, ein vollständiger Ornat eines venezianischen Senators, ein reichgestickter weißer Atlasanzug mit dem Profil Miß Joggs, ein Scimetar, reich mit Gold und Juwelen ausgelegt, ein kompletter maurischer Anzug (sehr selten) und Othello.

Mr. Tulkinghorn kommt und geht ziemlich häufig, denn es sind Gutsgeschäfte abzuschließen, Pachtverträge zu erneuern und anderes mehr. Er sieht auch Mylady ziemlich oft. Und er und sie sind so ruhig und gleichgültig und geben so wenig acht aufeinander wie je. Aber es könnte doch sein, daß Mylady diesen Mr. Tulkinghorn fürchtet und daß er es weiß. Es könnte möglich sein, daß er sie mit zäher Beharrlichkeit verfolgt, ohne einen Funken von Mitleid, Gewissensbissen oder Erbarmen. Es könnte sein, daß ihm ihre Schönheit und all die Pracht und der Staat ihrer Umgebung nur noch ein größerer Ansporn sind zu dem, was er vorhat, und ihn nur noch unbeugsamer und beharrlicher machen. Mag er nun kalt oder grausam sein oder unerschütterlich in dem, was er zu seiner Pflicht gemacht hat, oder verzehrt von Liebe zur Macht, oder entschlossen, nichts in den Gebieten verborgen sein zu lassen, in denen er sein ganzes Leben lang unter Geheimnissen gewühlt hat, oder mag er in seinem Herzen den Glanz verachten, von dem er selbst einen Strahl im Hintergrunde bildet; oder mag er beständig Vernachlässigung und Kränkung aus der Leutseligkeit seiner prunkvollen Klienten herauslesen und sie heimlich sammeln; mag er eins von diesen oder alles sein, jedenfalls wäre es für Mylady besser, wenn fünftausend Paar fashionable Augen mit argwöhnischer Wachsamkeit sie belauerten, als die beiden Augen dieses rostigen Advokaten mit dem dürftigen Halstuch und den mit Bändern zugebundenen glanzlosen schwarzen Kniehosen.

Sir Leicester sitzt in Myladys Zimmer, in demselben Zimmer, wo Mr. Tulkinghorn das Affidavit in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce gelesen hat, in ganz besonders selbstzufriedner Stimmung. Wie damals sitzt Mylady wieder vor dem Kamin mit ihrem Handschirm. Sir Leicester ist ganz besonders gut aufgelegt, weil er in seiner Zeitung einige Bemerkungen eines Gleichgesinnten über Dämmeeinreißen und sozialistisches Lattenwerk gelesen hat. Sie passen so vortrefflich auf den kürzlich erlebten Fall, daß Sir Leicester aus der Bibliothek eigens zu dem Zweck in Myladys Zimmer gekommen ist, um sie ihr vorzulesen.

»Der Mann, der diese Artikel schrieb«, bemerkt er als Vorrede und nickt das Feuer an, als nicke er dem Autor von Bergeshöhen herab zu, »hat einen sehr gesunden Menschenverstand.«

Der Menschenverstand des Verfassers ist aber nicht so gesund, um nicht Mylady zu langweilen, die nach einem matten Versuch, zuzuhören, oder vielmehr nach einem matten Sichfügen mit dem Anschein, als höre sie zu, sich ganz zerstreut in die Betrachtung des Feuers versenkt, als wäre es ihr Feuer in Chesney Wold und sie sei noch dort.

Ohne das zu merken, liest ihr Sir Leicester weiter durch sein zusammengelegtes Augenglas vor und hält gelegentlich inne, um es wegzunehmen und seine Beistimmung auszudrücken: »Wahrhaftig wahr, sehr gut gesagt, ich habe selbst oft diese Bemerkung gemacht.« Und jedes Mal verliert er die Stelle und muß die Spalten auf- und absuchen, um sie wieder zu finden.

Sir Leicester liest gerade wieder, unendlich ernst und würdevoll, als die Tür aufgeht und der gepuderte Merkur die seltsame Meldung macht:

»Der junge Mann, Mylady, namens Guppy.«

Sir Leicester hält inne, reißt die Augen auf und wiederholt mit verweisender Stimme:

»Der junge Mann namens Guppy?«

Sich umsehend, erblickt er den jungen Mann namens Guppy, der, ganz außer Fassung, durch sein Benehmen sowohl wie durch seine Erscheinung einen keineswegs empfehlenswerten Eindruck macht.

»Bitte, was soll das heißen«, sagt Sir Leicester zu dem Merkur, »daß Sie ohne alle Umstände einen jungen Mann namens Guppy anmelden?«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir Leicester, aber Mylady sagte, sie wolle den jungen Mann sprechen; sowie er käme. Ich wußte nicht, daß Sie im Zimmer sind, Sir Leicester.«

Mit dieser Entschuldigung wirft der Merkur einen zornigen und ärgerlichen Blick auf den jungen Mann namens Guppy, der offenbar besagt: Was kommst du hierher und bringst mich in Ungelegenheiten.

»Es ist schon richtig, ich habe es ihm befohlen«, bestätigt Mylady. »Der junge Mann soll warten.«

»Durchaus nicht, Mylady. Da Sie ihn bestellt haben, will ich nicht stören.«

Sir Leicester entfernt sich galant und möchte am liebsten beim Hinausgehen eine Verbeugung des jungen Mannes übersehen, den er in seiner Großartigkeit für irgend einen zudringlichen Schuster hält.

Lady Dedlock blickt gebieterisch ihren Besuch an, als der Bediente das Zimmer verlassen hat, und mustert ihn von Kopf bis Fuß. Sie läßt ihn an der Tür stehen und fragt, was er wünsche.

»Daß Euer Gnaden die Gewogenheit haben mögen, mir eine kurze Unterredung zu gewähren«, antwortet Mr. Guppy verlegen.

»Sie sind natürlich die Person, die mir so viele Briefe geschrieben hat?«

»Verschiedne, Euer Gnaden. Verschiedne, ehe Euer Gnaden mich mit einer Antwort zu beehren geruhten.«

»Und können Sie jetzt nicht wieder dasselbe Mittel wählen, um eine Unterredung unnötig zu machen? Können Sie sich nicht darauf beschränken?«

Mr. Guppy verzieht seine Lippen zu einem stummen Nein und schüttelt den Kopf.

»Sie sind merkwürdig zudringlich gewesen. Wenn es sich nach allem zeigen sollte, daß das, was Sie mir zu sagen haben, mich gar nichts angeht – und ich wüßte auch nicht, wie es mich etwas angehen sollte –, so werden Sie schon gestatten, daß ich die Unterredung ohne weitere Umstände abbreche. Sagen Sie also, was Sie zu sagen haben.«

Mylady bewegt gleichgültig ihren Handschirm, kehrt sich wieder dem Feuer zu und dreht dem jungen Mann namens Guppy beinahe den Rücken.

»So will ich denn mit Euer Gnaden Erlaubnis gleich mit dem Geschäft beginnen«, sagt der junge Mann. »Ehem! Ich bin, wie ich Euer Gnaden in meinem ersten Briefe mitteilte, von der Rechtsbranche. In dieser Eigenschaft habe ich die Gewohnheit angenommen, mich schriftlich nicht bloßzustellen, und erwähnte daher nicht gegen Euer Gnaden den Namen der Firma, bei der ich angestellt bin und bei der meine Position, und ich möchte auch hinzufügen, mein Einkommen, ziemlich gut ist. Ich kann jetzt Euer Gnaden im Vertrauen mitteilen, daß die Firma Kenge & Carboy, Lincoln’s-Inn, lautet. Ein Name, der Euer Gnaden vielleicht in Verbindung mit dem Kanzleigerichtsprozeß Jarndyce kontra Jarndyce nicht ganz unbekannt ist.«

In Myladys Haltung verraten sich Spuren von Aufmerksamkeit. Sie bewegt nicht mehr den Handschirm und scheint sogar zuzuhören.

»Nun kann ich Euer Gnaden wohl auch offen heraussagen«, fährt Mr. Guppy, ein wenig kühner werdend, fort, »daß es keine mit ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ in Verbindung stehende Angelegenheit ist, die mich so sehr wünschen ließ, mit Euer Gnaden zu sprechen und mich im Lichte der Zudringlichkeit, fast der Flegelhaftigkeit, erscheinen ließ und teilweise noch erscheinen läßt.«

Nachdem Mr. Guppy einen Augenblick vergeblich gewartet hat, um eine Versicherung des Gegenteils zu vernehmen, fährt er fort:

»Hätte es sich um ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ gehandelt, so wäre ich gleich zu Euer Gnaden Solicitor, Mr. Tulkinghorn in Lincoln’s-Inn-Fields, gegangen. Ich habe das Vergnügen, mit Mr. Tulkinghorn bekannt zu sein – wenigstens grüßen wir uns, wenn wir einander begegnen –, und hätte es sich um etwas Derartiges gehandelt, wäre ich gleich zu ihm gegangen.«

Mylady wendet sich ein bißchen vom Kamin weg und sagt: »Setzen Sie sich doch nieder!«

»Danke, Euer Gnaden!« Mr. Guppy nimmt einen Stuhl.

»Also, Euer Gnaden«, – Mr. Guppy wirft einen Blick auf einen kleinen Zettel, auf den er sich offenbar vorher Notizen gemacht hat und der ihn in die tiefste Finsternis zu stürzen scheint, so oft er ihn anblickt… »Also – ich – richtig, ja – gebe mich ganz in die Hand Euer Gnaden. Wenn Euer Gnaden sich bei Kenge & Carboy oder bei Mr. Tulkinghorn wegen meines heutigen Besuches beschweren sollten, käme ich in eine sehr unangenehme Lage. Ich sag’s, wie es ist. Ich verlasse mich also ganz auf die Ehrenhaftigkeit der Allergnädigsten.«

Mylady versichert ihm mit einer geringschätzigen Handbewegung, daß sie ihn einer Beschwerde nicht für wert halte.

»Ich danke Euer Gnaden«, sagt Mr. Guppy.

»Nun – also… Ich – verdammter Zettel – ich habe mir nämlich die einzelnen Punkte, die ich berühren wollte, hier in Abkürzungen aufgeschrieben und kann jetzt nicht recht herausbringen, was sie bedeuten. Wenn Euer Gnaden mir erlauben wollen, einen Augenblick ans Fenster zu treten, so…«

Mr. Guppy geht ans Fenster und stört dabei ein paar Inseparables in einem Käfig, zu denen er in seiner Verlegenheit stammelt: »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, was die Lesbarkeit seiner Notizen nicht gerade vergrößert. Er murmelt vor sich hin. Es wird ihm heiß. Er errötet, hält den Zettel manchmal dicht an die Augen und dann wieder weit weg von sich. »C. S. Was bedeutet C. S.? Ach ja, so: E. S. Weiß schon! Ja, natürlich!« Und er geht erleuchtet wieder zu seinem Sessel zurück.

»Ich weiß nicht«, sagt er und bleibt zwischen Mylady und seinem Stuhl stehen, »ob Euer Gnaden vielleicht jemals von einer jungen Dame namens Miß Summerson gehört oder sie vielleicht schon gesehen haben.«

Myladys Augen blicken ihn plötzlich fest an:

»Ich sah eine junge Dame dieses Namens vor nicht langer Zeit. Vergangnen Herbst.«

»Nun, und fiel es Euer Gnaden nicht auf, daß sie jemandem ähnlich sieht?« fragt Mr. Guppy, verschränkt die Arme, neigt den Kopf auf die Seite und kratzt sich mit seinem Notizzettel am Mundwinkel.

Mylady wendet keinen Blick mehr von ihm.

»Nein.«

»Nicht Euer Gnaden Familie ähnlich?«

»Nein.«

»Ich glaube, Euer Gnaden werden sich schwerlich an Miß Summersons Gesicht erinnern können.«

»Ich erinnere mich der jungen Dame sehr gut. Aber was hat das mit mir zu tun?«

»Euer Gnaden, ich versichere, daß ich – ich erwähne im tiefsten Vertrauen, daß Miß Summersons Bild in meinem Herzen eingeprägt ist –, als ich während eines kurzen Ausflugs nach Lincolnshire mit einem Freunde nach Chesney Wold kam und die Ehre hatte, Euer Gnaden Landsitz zu besichtigen, eine solche Ähnlichkeit zwischen Miß Esther Summerson und dem Porträt Euer Gnaden fand, daß es mich ordentlich umwarf. Ich habe mir seit jener Zeit oft die Freiheit genommen, Euer Gnaden bei der Ausfahrt in den Park anzusehen, ohne daß es Euer Gnaden wahrscheinlich bemerkt haben, aber jetzt, wo ich die Ehre habe, die Allergnädigste in der Nähe zu sehen, ist die Ähnlichkeit noch überraschender als damals.«

Junger Mann namens Guppy! Es hat Zeiten gegeben, wo Damen in festen Burgen lebten und erbarmungslosen Dienern gebieten konnten, wo dein armseliges Leben, wenn dich schöne Augen so angesehen hätten, wie dich jetzt diese ansehen, keine Minute mehr sicher gewesen wäre!

Mylady, die ihren kleinen Handschirm langsam wie einen Fächer gebraucht, fragt abermals, was das denn sie anginge.

»Euer Gnaden«, entgegnet Mr. Guppy und wirft wieder einen Blick auf seinen Zettel, »ich komme sogleich darauf – verdammt, diese Notizen –, richtig, ja, Mrs. Chadband! Ja, richtig!« Mr. Guppy zieht seinen Stuhl ein wenig weiter vor und setzt sich. Mylady lehnt sich ruhig zurück, wenn auch vielleicht mit ein bißchen weniger graziöser Unbefangenheit als gewöhnlich, aber ihr fester Blick wird niemals unsicher. »Ah, wart ein bissel.« Mr. Guppy zieht wieder den Zettel zu Rate. »E. S. Zwei Mal? Ja, richtig! Jetzt weiß ich schon.«

Er rollt den Zettel zusammen, um ihn als Instrument, seiner Rede Nachdruck zu verleihen, zu benützen, und fährt fort:

»Euer Gnaden, Miß Esther Summersons Geburt und Erziehung sind in Dunkel gehüllt. Ich kenne diese Tatsache, weil – ich erwähne es im Vertrauen – weil sie mir auf geschäftlichem Wege bei Kenge & Carboy zur Kenntnis kam. Es ist nun, wie ich Euer Gnaden bereits bemerkt habe, Miß Summersons Bild tief in meinem Herzen eingegraben. Wenn ich dieses Geheimnis für sie aufklären oder nachweisen könnte, daß sie von guter Familie ist, oder fände, daß sie als Verwandte von Euer Gnaden Familie einen Anspruch auf den Prozeß Jarndyce kontra Jarndyce hätte, so könnte ich sie in gewisser Hinsicht vielleicht bewegen, meine Anträge günstiger, als sie es bisher eigentlich getan hat, aufzunehmen. Genau genommen hat sie sie eigentlich bisher überhaupt nicht begünstigt.«

Eine Art zürnenden Lächelns dämmert über Myladys Gesicht.

»Nun ist es ein seltsames Zusammentreffen, Euer Gnaden, obgleich solche Sachen bei uns von der Rechtsbranche zuweilen vorkommen, zu der ich mich rechnen darf – denn, wenn ich auch noch nicht inskribiert bin, so wollen mir doch Kenge & Carboy meinen Lehrbrief schenken, da meine Mutter von ihrem kleinen Kapital die beträchtlichen Stempelkosten erlegt hat –, nun ist es ein seltsamer Zufall, daß ich mit der Person zusammenkam, die bei der Dame diente, die Miß Summerson erzog, ehe Mr. Jarndyce sie unter seine Obhut nahm. Diese Dame war eine gewisse Miß Barbary, Euer Gnaden.«

Hat die Totenfarbe in Myladys Gesicht ihren Grund in dem Widerschein des grünseidnen Handschirms, oder überzieht wirklich eine schreckliche Blässe ihr Gesicht?

»Haben Euer Gnaden jemals von einer gewissen Miß Barbary gehört?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, ja.«

»War Miß Barbary irgendwie mit der Familie Euer Gnaden verwandt?«

Myladys Lippen bewegen sich, sprechen aber nicht. Sie schüttelt den Kopf.

»Nicht verwandt?« fragt Mr. Guppy. »O! Vielleicht wissen es Euer Gnaden nur nicht? So! Aber es könnte doch der Fall sein? Ja.«

Bei jeder dieser Fragen hat Mylady das Haupt geneigt.

»Sehr gut. Nun war diese Miß Barbary merkwürdig verschlossen – sie scheint für eine Frauensperson außergewöhnlich verschwiegen gewesen zu sein, denn Frauen im allgemeinen, wenigstens im bürgerlichen Leben, sprechen gern –, und meine Zeugin hatte nie eine Ahnung, ob sie auch nur eine einzige Verwandte besitze. Bei einer gewissen Gelegenheit und nur ein Mal scheint sie sich zu meiner Zeugin über einen einzigen Punkt vertraulich geäußert zu haben. Sie sagte damals: Des kleinen Mädchens wahrer Name ist nicht Esther Summerson, sondern Esther Hawdon.«

»Mein Gott!«

Mr. Guppy reißt die Augen auf. Lady Dedlock sitzt vor ihm, sieht ihn mit durchbohrendem Blick an, mit demselben grünen Schatten auf ihrem Gesicht, erstarrt selbst die Hand, die den Schirm hält, die Lippen ein wenig geöffnet, die Stirn ein wenig gerunzelt, sieht sie aus wie scheintot.

Er sieht ihr Bewußtsein zurückkehren, ein Zittern über ihre Gestalt laufen, wie ein Kräuseln über eine Wasserfläche, sieht ihre Lippen zuhalten und sich gewaltsam wieder zusammenpressen und sieht, wie sie sich zum Bewußtsein seiner Gegenwart und alles dessen, was er gesagt hat, zurückzwingt. Alles dieses geschieht so rasch, daß ihr Ausruf und ihr scheintoter Zustand verflogen zu sein scheinen, wie die Züge gewisser in Gräbern gefundener Leichen an der Luft, wie von einem Blitz getroffen, sich im Nu verändern.

»Euer Gnaden kennen den Namen Hawdon?«

»Ich habe ihn früher gehört.«

»Ist es der Name eines entfernten Zweigs der Familie Euer Gnaden ?«

»Nein.«

»Nun, Euer Gnaden«, fährt Mr. Guppy fort, »komme ich zu dem letzten Punkt dieser Angelegenheit, soweit ich sie bis jetzt kenne. Sie ist noch in ihrer Entwicklung begriffen, und ich werde mehr und mehr von ihr erfahren, je weiter sie sich entwickelt. Gnädigste müssen wissen – wenn es nicht Euer Gnaden vielleicht schon durch Zufall erfahren haben –, daß man vor einiger Zeit in dem Hause eines gewissen Krook in der Nähe von Chancery-Lane einen Schreiber in den ärmlichsten Umständen tot auffand. Wegen dieses Schreibers tagte eine Totenschau, und dieser Mann war eine anonyme Person, deren Namen niemand wußte. Ich habe nun, Euer Gnaden, vor ganz kurzer Zeit entdeckt, daß der Name des Verstorbenen Hawdon war.«

»Aber was geht das mich an?«

»Ja, Euer Gnaden, das ist es eben! Gnädigste müssen wissen, daß sich nach dem Tod dieses Mannes etwas sehr Sonderbares ereignete. Eine Dame tauchte auf, eine verkleidete Dame, Euer Gnaden, die sich die Orte ansah, wo Hawdon gelebt und wo er begraben liegt. Sie mietete als Führer einen Jungen, der einen Straßenübergang kehrt. Wenn ihn Euer Gnaden zum Beweis der Richtigkeit meiner Angaben zu sehen wünschen, so kann ich ihn jeder Zeit stellig machen.«

Der arme Junge ist Mylady ganz gleichgültig, und sie wünscht nicht, ihn zu sehen.

»O, ich versichere Euer Gnaden, es ist das eine sehr seltsame Geschichte. Wenn Sie ihn erzählen hören könnten von den Ringen, die an den Fingern der Dame funkelten, als sie den Handschuh auszog, würde es Ihnen ganz romantisch vorkommen.«

Es funkeln Diamanten an der Hand, die den Schirm hält. Mylady spielt mit dem Schirm und läßt sie noch mehr funkeln, wieder mit dem Ausdruck im Gesicht, der in alten Zeiten für den jungen Mann namens Guppy hätte den Tod bedeuten können.

»Man glaubt, Euer Gnaden, er habe keinen Fetzen Papier und keinen einzigen Zettel hinterlassen, auf Grund dessen man ihn hätte möglicherweise identifizieren können. Ich meine Hawdon. Aber es war doch der Fall. Er hinterließ ein Bündel alter Briefe.«

Der Handschirm bewegt sich immer noch wie vorhin. Die ganze Zeit über wendet Mylady keinen Blick von Mr. Guppy.

»Es hat sie jemand an sich genommen und sie versteckt. Aber morgen abend werden sie in meinem Besitz sein.«

»Ich frage Sie abermals, was geht das alles mich an?«

»Euer Gnaden, ich habe weiter nichts zu sagen.« Mr. Guppy steht auf. »Wenn Sie glauben, daß in dieser geschlossenen Kette von Umständen, in der unzweifelhaft großen Ähnlichkeit der jungen Dame mit Euer Gnaden, was eine Tatsache in Augen von Geschworenen sein müßte, in dem Umstand, daß Miß Barbary sie erzogen hat – daß Miß Barbary angab, Miß Summersons wirklicher Name sei Hawdon –, daß Euer Gnaden die beiden Namen sehr gut kennen und daß Hawdon so gestorben ist, wie er starb, noch nicht genug Veranlassung für Euer Gnaden liegt, aus Familieninteresse die Angelegenheit genauer zu prüfen, so will ich die Papiere hierher bringen. Ich weiß weiter nichts von ihnen, als daß es alte Briefe sind. Ich habe sie noch nie in Händen gehabt. Ich will diese Papiere herbringen, sowie sie in meinen Besitz kommen, und sie mit Euer Gnaden zum ersten Mal durchgehen. Ich habe Euer Gnaden den Zweck meines Hierseins mitgeteilt. Ich habe Euer Gnaden gesagt, daß ich in eine sehr unangenehme Lage kommen würde, wenn man sich über mich beschwerte, und alles in tiefstem Vertrauen berichtet.«

Ist das der ganze Zweck des jungen Mannes namens Guppy, oder hat er noch einen andern?

Enthüllen seine Worte den ganzen Umfang des Zweckes oder Verdachtes, die ihn hierher geführt haben, oder verbergen sie noch etwas? Das zu erraten, ist Sache Myladys. Sie kann ihn ansehen, aber er kann den Tisch anblicken, ohne in seinem Gesicht etwas zu verraten.

»Sie können die Briefe bringen«, sagt Mylady, »wenn Sie wollen.«

»Euer Gnaden drücken sich nicht sehr ermutigend aus, mein Ehrenwort!« sagt Mr. Guppy ein wenig verletzt. »Aber es soll geschehen. Ich wünsche Euer Gnaden guten Tag.«

Auf einem Tisch in der Nähe steht ein reichverziertes Kästchen, beschlagen und verriegelt wie eine alte Geldkassette. Ohne den Blick von Mr. Guppy zu wenden, nimmt es Lady Dedlock und schließt es auf.

»O, ich versichere Euer Gnaden, Motive dieser Art haben mich durchaus nicht bestimmt«, wehrt Mr. Guppy ab. »Und ich könnte nicht das mindeste dieser Art annehmen. Ich empfehle mich Euer Gnaden und bin Ihnen auch trotzdem sehr verpflichtet.«

Der junge Mann verbeugt sich und geht die Treppe hinab, wo sich der Merkur mit dem geringschätzigen Blick nicht im geringsten berufen fühlt, seinen Olymp am Kaminfeuer in der Vorhalle zu verlassen, um dem Besuch die Tür zu öffnen.

Geht nicht etwas, während Sir Leicester sich in seiner Bibliothek dehnt und über seiner Zeitung dröselt, durch das Haus, das ihn aufschreckt? Etwas, das selbst die Bäume in Chesney Wold veranlassen könnte, ihre knorrigen Arme gen Himmel zu strecken, ja, selbst die Ahnenbilder zürnen und die Rüstungen rasseln machen könnte?

Nein. Worte, Seufzer und Wehgeschrei sind nur Luft. Und Luft ist im ganzen Stadthaus so ein- und ausgeschlossen, daß Mylady in ihrem Zimmer mit Posaunenzungen rufen müßte, ehe ein schwacher Widerhall davon zu Sir Leicesters Ohren dränge. Und dennoch vibriert ein Jammerruf im Hause, den eine verzweifelte Gestalt auf ihren Knien zum Himmel sendet.

»O mein Kind, mein Kind! Also nicht gestorben in der ersten Stunde seines Lebens, wie meine grausame Schwester mir sagte, sondern in finsterer Strenge von ihr auferzogen, nachdem sie mich und meinen Namen von sich gestoßen! O mein Kind, o mein Kind!«

3. Kapitel


3. Kapitel

Die Geschichte einer Jugend

Es wird mir sehr schwer, den Anfang zu finden, um meinen Teil der Geschichte niederzuschreiben, denn ich weiß, daß ich nicht besonders gescheit bin. Ich wußte das immer. Schon als ganz kleines Mädchen pflegte ich zu meiner Puppe zu sagen, wenn wir allein beisammen waren: Liebe Puppe, ich bin nicht klug, du weißt es selbst und mußt mit mir Geduld haben, Herzchen. Und dann saß sie in einen großen Armstuhl gelehnt mit dem rot und weißen Gesicht und den rosigen Lippen da und starrte mich an – oder vielmehr ins Leere –, während ich emsig nähte und ihr alle meine Geheimnisse erzählte.

Meine liebe alte Puppe!

Ich war als Kind so in mich gekehrt und scheu, daß ich selten den Mund auftat und niemandem mein Herz auszuschütten wagte. Ich muß fast weinen, wenn ich daran denke, welcher Trost es für mich war, wenn ich aus der Schule nach Hause kam, hinauf in mein Kämmerchen laufen und sagen konnte: »O du gute treue Puppe, ich wußte, daß du mich erwartest.« Und dann setzte ich mich auf den Boden, stützte den Ellbogen auf ihren großen Lehnstuhl und erzählte ihr alles, was ich erlebt hatte, seit wir uns nicht gesehen.

Von jeher besaß ich einen Hang zu beobachten, aber ich faßte nicht rasch auf. Durchaus nicht. Ich beobachtete still, was vorging, und wünschte nur, ich könnte es besser verstehen. Ich war keineswegs scharfsinnig. Wenn ich jemanden gern habe, scheint mein Verstand klarer zu werden. Aber vielleicht ist das nur Eitelkeit und Einbildung von mir.

Mein Patin erzog mich, soweit ich mich zurückerinnern kann, wie eine der Prinzessinnen in den Feenmärchen; nur daß ich nicht so schön war. Ich wußte bloß, daß sie meine Patin war und eine gute, gute Frau. Sie ging dreimal am Sonntag in die Kirche und Mittwochs und Freitags zur Frühmesse und in die Betstunden, so oft welche gehalten wurden. Sie hatte ein schönes Gesicht, und wenn sie nur einmal gelächelt haben würde, so hätte sie wie ein Engel aussehen müssen; – aber sie lächelte nie. Sie war immer ernst und streng, aber immer so außerordentlich gütig, daß wohl nur die Schlechtigkeit anderer Menschen die Schuld trug, daß sie ihr ganzes Leben so finster war.

Ich kam mir so ganz anders geartet vor als sie, selbst wenn ich den Unterschied zwischen Kind und Erwachsener in Abzug brachte, kam mir so unbedeutend und armselig und ihr so fernstehend vor, daß ich niemals rechtes Vertrauen zu ihr fassen, ja, sie nicht einmal so lieben konnte, wie ich gewünscht hätte. Mir machte der Gedanke viel Schmerz, wie gut sie und wie unwürdig ich ihrer sei; und ich nährte in meinem Innern eine inbrünstige Hoffnung, mein Herz möge mit der Zeit besser werden. Und ich sprach darüber sehr oft mit meiner lieben Puppe. Aber ich liebte meine Patin eben doch nie so, wie ich hätte sollen und müssen, wenn ich ein besseres Kind gewesen wäre.

Da ich mir dies beständig vorhielt, wurde ich noch schüchterner und stiller, als ohnehin schon in meiner Natur lag; und meine einzige Freundin war die Puppe, bei der allein ich mich wohl fühlte. Aber, als ich noch ein ganz kleines Ding war, geschah außerdem noch etwas, was mich darin noch bestärkte.

Ich hatte nie von meiner Mutter sprechen hören. Ebensowenig von meinem Vater; aber meine Mutter interessierte mich sehr. Ich konnte mich nicht entsinnen, je ein Trauerkleid getragen zu haben. Man hatte mir niemals meiner Mutter Grab gezeigt und mir nie gesagt, wo es sei, mich auch nie für eine andere Verwandte als für meine Patin beten gelehrt. Mehr als einmal erwähnte ich diesen Gegenstand meines beständigen Grübelns gegen Mrs. Rachael, die immer mein Licht fortnahm, wenn ich zu Bette gegangen, und unsere einzige Dienerin war. Aber sie sagte jedes Mal nur: »Esther, gute Nacht!« und ging fort und ließ mich allein.

Obgleich sich sieben Mädchen in der nahen Schule befanden, wo ich Unterricht erhielt, und sie mich die kleine Esther Summerson nannten, so war ich doch bei keinem von ihnen je zu Besuch gewesen. Alle waren weitaus älter als ich, aber es schien noch eine andere Scheidewand zwischen uns zu bestehen außer dem Umstande, daß sie, älter und klüger als ich, mehr wußten. Eine von ihnen lud mich in der ersten Woche meiner Schulzeit, wie ich mich noch genau erinnere, zu meiner großen Freude zu einem kleinen Fest ein. Aber meine Patin schrieb einen steifen Absagebrief, und ich durfte nicht hingehen. Ich kam nie auf Besuch in andere Häuser.

Mein Geburtstag war wieder gekommen. Den andern bedeuteten Geburtstage Feiertage – mir niemals; die andern hatten bei solchen Gelegenheiten Festlichkeiten zu Hause, wie ich sie einander erzählen hörte; – ich niemals. Mein Geburtstag war die langen Jahre hindurch der trübste Tag meines Lebens.

Wenn mich meine Eitelkeit nicht täuscht, was wohl der Fall sein kann, denn so etwas weiß man nicht selber, so wird meine Fassungskraft mit meiner Zuneigung geweckt. Ich habe ein liebebedürftiges und weiches Gemüt, und vielleicht würde ich noch heute eine solche Wunde, wie ich sie damals an meinem Geburtstag empfing, wenn man sie mehr als einmal überhaupt erleiden kann, ebenso tief fühlen wie zu jener Zeit.

Das Mittagessen war vorüber, und meine Patin und ich saßen am Tisch vor dem Feuer. Die Uhr tickte, das Feuer knisterte, und kein anderer Ton war hörbar im Zimmer und im Hause –, ich weiß nicht, wie lange Zeit schon. Ich erhob zufällig die Augen schüchtern von meiner Näharbeit und sah, wie mich meine Patin über den Tisch hinweg trübe anblickte, als wollte sie sagen: Es wäre viel besser, kleine Esther, wenn du niemals einen Geburtstag gehabt hättest und niemals geboren worden wärest.

Ich fing an zu schluchzen und zu weinen: »Ach liebe Patin, sage mir, bitte, sage mir, starb Mama an meinem Geburtstag?«

»Nein«, war die Antwort. »Frage mich nicht weiter, Kind.«

»Bitte, sage mir etwas von ihr! Nur ein Wort! Ich bitte dich, liebe Patin! Was hab ich ihr getan? Wie hab ich sie verloren? Warum bin ich so verschieden von andern Kindern, und was kann ich dafür, liebe Patin? Nein, nein, nein, geh nicht fort! O sag es mir!«

Eine Angst, die größer war als mein Schmerz, hatte mich befallen, und ich hielt meine Patin am Kleide fest und kniete vor ihr nieder.

Bis jetzt hatte sie fortwährend gesagt: »Laß mich gehen«, aber plötzlich blieb sie stehen.

Der finstere Ausdruck ihres Gesichtes übte eine solche Gewalt auf mich aus, daß ich mitten in meiner Verzweiflung innehielt. Ich wollte mit meiner zitternden Hand die ihre fassen und von ganzer Seele um Verzeihung bitten, zog sie aber bei ihrem Blick schnell wieder zurück, und das Herz klopfte mir. Sie hob mich auf, setzte sich in ihren Stuhl und sprach in kaltem gedämpftem Ton zu mir – ich sehe sie mit gerunzelter Stirn und strafend erhobenem Finger noch heute vor mir –:

»Deine Mutter, Esther, ist deine Schande, und du warst ihre. Die Zeit wird früh genug kommen, wo du das besser verstehen und auch fühlen wirst, wie es nur ein Weib kann. Ich habe ihr verziehen« – das Gesicht meiner Patin zeigte nicht den geringsten Zug von Versöhnlichkeit- »ich habe ihr verziehen, was sie mir Böses getan hat, und spreche nicht mehr davon, obgleich ihr Unrecht größer war, als du jemals erfahren wirst oder irgend jemand außer mir, die ich davon betroffen wurde, ahnen kann. Was dich betrifft, unglückliches Kind, warst du verwaist und beschimpft vom ersten unseligen Geburtstag an; bete du täglich, daß die Sünden anderer nicht auf dein Haupt kommen mögen, wie es geschrieben steht. Vergiß deine Mutter und hindere nicht, daß die Menschen es tun; deinetwegen. Jetzt geh.«

Sie hielt mich, als ich wortlos gehen wollte – so bis ins Innere erstarrt war ich – noch einmal fest und setzte hinzu:

»Unterwürfigkeit, Selbstverleugnung, Fleiß sind die Wegzeichen für ein Leben, das mit einem solchen Flecken begonnen hat. Du bist anders als die andern Kinder, Esther, weil du nicht wie sie in gemeinsamer Sündhaftigkeit und im Zorne geboren bist. Du bist gezeichnet.«

Ich schlich in mein Kämmerchen hinauf und kroch ins Bett und legte das Gesicht meiner Puppe an meine tränennasse Wange, und mit dieser einzigen Freundin an der Brust weinte ich mich in Schlaf. So wenig ich mir auch über meinen Schmerz klar werden konnte, so wußte ich doch, daß ich zu keiner Zeit jemand eine Freude gewesen, und niemand auf Erden mich so lieb hatte wie ich meine Puppe.

Ach Gott, ach Gott, wie oft und lange wir später allein miteinander verbrachten und ich der Puppe die Geschichte meines Geburtstages erzählte und ihr anvertraute, wie sehr ich mich bemühen wollte, den Fehler, der mir mit meiner Geburt anhaftete, wieder gutzumachen und mich zu bestreben, mit den Jahren fleißig, zufrieden und freundlichen Herzens zu werden und mir eines Menschen Liebe zu gewinnen, wenn es mir gelingen sollte, und ihm alles nur mögliche Gute zu tun! Vielleicht ist es selbstgefällig, wenn ich bei dem Gedanken daran jetzt noch Tränen vergießen muß. Ich denke mit großer Dankbarkeit zurück und bin fröhlich, aber doch kann ich nicht verhindern, daß sie mir in die Augen treten.

– So! Jetzt hab ich sie weggewischt und kann wieder fortfahren.

Ich war mir der großen Kluft zwischen meiner Patin und mir seit jenem Geburtstag nur noch mehr bewußt und empfand so sehr, in ihrem Hause einen Platz einzunehmen, der leer hätte sein sollen, daß es mir schwerer wurde, mich ihr zu nähern als je, so innig verpflichtet ich mich ihr im Herzen auch fühlte.

Genau so empfand ich gegen meine Mitschülerinnen und gegen Mrs. Rachael, die Witwe war, und gegen ihre Tochter, auf die sie sehr stolz war und die sie einmal alle vierzehn Tage besuchte. Ich blieb sehr schüchtern und still und bemühte mich nach Kräften, fleißig zu sein.

An einem sonnigen Nachmittag, als ich eben mit meiner Mappe ans der Schule gekommen war und den langen Schatten neben mir beobachtete und wie gewöhnlich die Treppe hinauf in mein Kämmerchen eilen wollte, öffnete meine Patin die Wohnzimmertür und rief mich hinein. Bei ihr saß ein Fremder, was etwas sehr Ungewöhnliches war: ein behäbiger, wichtig aussehender Herr, ganz schwarz gekleidet, mit einer weißen Halsbinde, großen goldnen Petschaften an der Uhrkette, einer goldnen Brille und einem großen Siegelring am kleinen Finger.

»Das ist das Kind«, sagte meine Patin mit verhaltener Stimme zu ihm. Dann setzte sie mit ihrem gewöhnlichen ernsten Ton hinzu:

»Das ist Esther, Sir.«

Der Herr setzte seine Brille auf, sah mich an und sagte:

»Komm zu mir, liebes Kind!«

Er reichte mir die Hand und hieß mich den Hut abnehmen und betrachtete mich unablässig dabei. Als ich seinen Wunsch erfüllt hatte, sagte er: »Ah! Ja!« nahm seine Brille ab, steckte sie in ein rotes Futteral, lehnte sich in den Armstuhl zurück und nickte meiner Patin zu und spielte mit dem Etui. Darauf fing meine Patin wieder an:

»Du kannst hinaufgehen, Esther.« Ich machte dem Herrn meinen Knicks und ging.

Es muß zwei Jahre später gewesen sein, und ich war fast vierzehn Jahre alt, als ich an einem Abend, an den ich voll Entsetzen zurückdenken muß, mit meiner Patin vor dem Kamine saß. Ich las ihr vor. Ich war, wie immer, um neun Uhr heruntergekommen, um ihr aus der Bibel vorzulesen, und hielt gerade bei der Stelle im Evangelium Johannis, wo es heißt, daß unser Erlöser sich niederbückte und mit dem Finger auf die Erde schrieb, als sie die Ehebrecherin vor ihn brachten: Als sie nun anhielten, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.

Ich hielt inne, denn meine Patin stand auf, legte ihre Hand an die Stirn und rief mit schrecklicher Stimme den Satz aus der Bibel: So wachet nun, auf daß er nicht schnell komme und finde euch schlafend. Was ich aber euch sage, das sage ich euch allen: wachet.

Sie stand vor mir und wiederholte diese Worte. Dann brach sie plötzlich zusammen. Ich brauchte nicht um Hilfe zu rufen; ihre Stimme war durch das ganze Haus gedrungen und bis auf die Straße gehört worden.

Man legte sie auf ihr Bett. Länger als eine Woche lag sie dort, äußerlich nur wenig verändert. Das alte schöne entschlossene Stirnrunzeln, das ich so gut kannte, war auf ihrem Gesicht erstarrt. Viele, viele Male bei Tag und bei Nacht legte ich meinen Kopf auf das Kissen neben sie, damit sie mein Flüstern besser verstünde, und küßte sie und dankte ihr, betete für sie, bat sie um ihren Segen und ihre Verzeihung und flehte sie an, mir nur ein einziges Zeichen zu geben, daß sie mich erkenne oder höre. Nichts, nichts, nichts! Ihr Gesicht blieb unbeweglich. Bis zuletzt. Und selbst dann wich der finstere Ausdruck nicht von ihrer Stirn.

Am Tag nach dem Begräbnis meiner guten Patin stellte sich der schwarze Herr mit dem weißen Halstuch wieder ein. Mrs. Rachael schickte nach mir, und ich fand ihn auf derselben Stelle, als wäre er niemals weggegangen.

»Ich heiße Kenge«, sagte er. »Merk dir den Namen, liebes Kind; Kenge & Carboy, Lincoln’s-Inn.«

Ich gab zur Antwort, daß ich mich erinnerte, den Herrn schon früher einmal gesehen zu haben.

»Bitte, setz dich – hier neben mich. Weine nicht, es nützt nichts. Mrs. Rachael! Ich brauche Ihnen, die Sie mit der seligen Miß Barbary Angelegenheiten bekannt waren, nicht erst zu sagen, daß ihr Einkommen mit ihrem Leben zu Ende ging und daß diese junge Dame jetzt nach dem Tode ihrer Tante -«

»Meiner Tante, Sir?«

»Es hat ja doch keinen Zweck, eine Täuschung aufrecht zu erhalten, die keinen Sinn mehr hat«, sagte Mr. Kenge besänftigend. »Tatsächlich war sie deine Tante, wenn auch nicht vor dem Gesetze. Aber weine doch nicht. Weine nicht! Beruhige dich! – Mrs. Rachael, unsere junge Freundin hat zweifellos gehört – von – der – hm – Sache Jarndyce kontra Jarndyce?«

»Nie«, sagte Mrs. Rachael.

»Ist es denn möglich«, fuhr Mr. Kenge fort und setzte seine Brille auf, »daß unsere junge Freundin – aber geh, weine doch nicht – niemals von ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ gehört hat?«

Ich schüttelte den Kopf und hatte nicht die leiseste Ahnung, worum es sich handelte.

»Nichts von ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘?« wiederholte Mr. Kenge, blickte mich über die Brille hinweg an und liebkoste das Futteral mit den Händen. »Nichts von einem der größten aller bekannten Kanzleigerichtsprozesse, nichts von dem Fall ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘, – der für sich schon – hm – ganz für sich allein ein Denkmal in der Kanzleigerichtspraxis bedeutet? – In dem, möchte ich sagen, jede Schwierigkeit, jede Möglichkeit, jede Rechtsfiktion, jede Prozeßform, die bei diesem Gerichtshof bekannt ist, sich immer und immer wieder verkörpert? Es ist ein Rechtsfall, der nirgends als in unserm großen und freien Lande existieren könnte! Ich möchte behaupten, daß die Gesamtkosten in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce – Mrs. Rachael – ich fürchte –« er wendete sich von mir ab, weil ich mich unaufmerksam zeigte – »sich gegenwärtig auf sechzig- bis siebzigtausend Pfund belaufen«, ergänzte Mr. Kenge, in seinen Stuhl zurückgelehnt.

Der Gegenstand war mir so gänzlich unbekannt, daß ich damals auch nicht das Allergeringste davon verstand.

»Und sie hat wirklich nie etwas von der Sache gehört? Höchst erstaunlich!«

»Miß Barbary, Sir«, erklärte Mrs. Rachael, »die jetzt unter den Seraphim weilt –«

»Das hoffe ich zuversichtlich«, unterbrach Mr. Kenge höflich.

»– wünschte, daß Esther nur lerne, was ihr von Nutzen sein könne. Und sie ist hier auch weiter nichts gelehrt worden.«

»Hm«, sagte Mr. Kenge. »Das ist im großen ganzen sehr richtig. Aber jetzt zur Sache!« fuhr er zu mir gewendet fort. »Miß Barbary, deine einzige Verwandte – tatsächlich nämlich – denn ich muß dir bemerken, daß du von Gesetzes wegen keine Verwandten hast –, ist jetzt tot, und da man natürlich von Mrs. Rachael nicht erwarten kann –«

»O Gott nein«, fiel Mrs. Rachael schnell ein.

»Sehr richtig!« – daß sie die Sorge für deinen Lebensunterhalt auf sich nimmt, so sehe ich mich veranlaßt, ein Anerbieten zu erneuern, das ich schon vor ungefähr zwei Jahren Miß Barbary zu machen beauftragt war und das damals abgelehnt wurde. Wir hatten uns jedoch dahin geeinigt, daß es für den Fall des Todes deiner Tante wiederholt werden sollte. Ich glaube nun, nicht im geringsten gegen die in meinem Berufe übliche Reserve zu verstoßen, wenn ich verrate, daß ich in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce und auch in anderer Hinsicht einen sehr menschenfreundlichen, wenn auch zugleich sehr eigentümlichen Mann vertrete.« Mr. Kenge lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück und sah uns beide ruhig an.

Der Klang seiner eigenen Stimme schien ihn über die Maßen zu freuen. Ich sah darin nichts Wunderbares, denn sie war weich und wohlklingend und verlieh jedem Worte, das er aussprach, den Anschein großer Wichtigkeit. Er hörte sich mit sichtlicher Befriedigung zu und schlug manchmal zu seiner eigenen Musik mit dem Kopfe den Takt oder rundete einen Satz mit einer gefälligen Handbewegung ab. Selbst damals schon, als ich noch gar nicht wußte, daß er sich nach dem Muster des hohen Lords, der sein Klient war, herangebildet hatte und allgemein »Konversationskenge« genannt wurde, machte er einen großen Eindruck auf mich.

»Da Mr. Jarndyce«, fuhr er fort, »von der – ich möchte sagen, verzweifelten – Lage unserer jungen Freundin unterrichtet ist, so bietet er ihr an, sie in einer Anstalt ersten Ranges unterbringen zu wollen, wo ihre Erziehung vollendet, ihr gutes Auskommen gesichert, für alle ihre Bedürfnisse, soweit sie vernünftig und nötig sind, gesorgt und sie selbst endlich befähigt werden soll, ihre Pflicht in der Lebensstellung zu erfüllen, die ihr anzuweisen – darf ich wohl sagen, der Vorsehung – gefallen hat.«

Mein Herz war so tief ergriffen von dem, was er sagte, wie auch von der liebreichen Weise, in der er es tat, daß ich beim besten Willen kein Wort sprechen konnte.

»Mr. Jarndyce stellt keinerlei Bedingungen und spricht nur die Erwartung aus, daß unsere junge Freundin die fragliche Anstalt ohne sein Wissen und Zutun nicht verlassen und sich mit Fleiß der Erwerbung der Kenntnisse und Fertigkeiten widmen werde, durch deren Anwendung und Ausübung sie sich später soll erhalten können – und daß sie auf dem Pfade der Tugend und Ehre bleiben möge und – daß – hm – und so weiter.«

Ich konnte noch weniger sprechen als vorher.

»Nun, was sagt unsere junge Freundin?« fuhr Mr. Kenge fort. »Laß dir Zeit, laß dir Zeit. Ich warte auf deine Antwort. Laß dir nur Zeit.«

Was ich zu diesem Anerbieten zu sagen versuchte, brauche ich nicht zu wiederholen. Was ich wirklich sagte, ist kaum des Erzählens wert. Und was ich fühlte und bis zu meiner letzten Stunde fühlen werde, das könnte ich nicht in Worte bringen.

Diese Unterredung fand in Windsor statt, wo ich mein ganzes Leben zugebracht hatte, soweit ich zurückdenken konnte. Acht Tage später verließ ich, reichlich mit allem Notwendigen versehen, den Ort, um mit der Landkutsche nach Reading zu fahren.

Mrs. Rachael war zu gut, um beim Abschied bewegt zu sein. Aber ich war nicht so gut und weinte bitterlich. Ich dachte, daß ich sie nach so vielen Jahren eigentlich besser kennen und mich bei ihr so in Gunst gesetzt haben sollte, daß ihr der Abschied weh tun müsse.

Als sie mir einen so kalten Abschiedskuß auf die Stirne drückte, als ob ein großer Tropfen von dem Eise oben an dem steinernen Torgewölbe niedertaute, fühlte ich mich so elend und schuldbewußt, daß ich sie umarmte und ihr sagte, ich wisse wohl, es sei meine Schuld, daß ihr der Abschied von mir so leicht werde.

»Nein, Esther«, entgegnete sie. »Dein Unglück ist schuld daran.«

Die Kutsche stand vor der kleinen Gartenpforte – wir waren erst aus dem Hause getreten, als wir sie hatten kommen hören –, und so verließ ich Mrs. Rachael mit bekümmertem Herzen. Sie ging hinein, ehe noch mein Koffer auf die Kutsche gehoben worden, und machte die Türe zu.

Solange ich das Haus sehen konnte, blickte ich mit Tränen in den Augen aus dem Fenster zurück. Meine Patin hatte Mrs. Rachael ihr ganzes kleines Vermögen vermacht, und es sollte Auktion sein; ein alter Kaminteppich mit Rosen darauf, der mir immer als das Schönste auf Erden vorgekommen war, hing draußen in Frost und Schnee. Ein oder zwei Tage vorher hatte ich meine liebe Puppe in ihren Schal gewickelt und sie – fast schäme ich mich, es zu erzählen – im Garten unter dem Baum begraben, der das Fenster meines Kämmerchens beschattete. Ich hatte keinen Freund als einen Vogel, und den trug ich in seinem Käfig bei mir.

Als ich das Haus aus dem Gesicht verlor, setzte ich mich, den Käfig vor mir im Stroh, auf den niedrigen Vordersitz, um durch das Fenster hinauszuschauen auf die bereiften Bäume, die wie schöne Stücke Kalkspat aussahen. Die Felder hatte der Schnee in der Nacht glatt und weiß gemacht. Rot und kalt stand die Sonne am Himmel, und das Eis lag schwarz wie poliertes Eisen da, von den Schlittschuhläufern und Schlittenfahrern reingefegt.

Mir gegenüber saß ein Herr, der in einer Menge Umhüllungen sehr umfangreich aussah; aber er blickte zum andern Fenster hinaus und nahm keine Notiz von mir.

Ich dachte an meine tote Patin – an den Abend, wo ich ihr vorgelesen, an das erstarrte, zürnende Gesicht, mit dem sie auf dem Bette gelegen, an den fremden Ort, dem ich entgegenfuhr, an die Leute, die ich dort finden sollte, und wie sie wohl aussehen und zu mir sein würden, da machte mich eine Stimme in der Kutsche vor Schrecken auffahren.

»Warum, zum Teufel, weinst du denn!«

Ich erschrak so sehr, daß mir die Stimme versagte, und ich nur flüsternd fragen konnte:

»Ich, Sir?«

Natürlich konnte nur der Herr in den vielen Umhüllungen gesprochen haben, obgleich er immer noch zum Fenster hinaussah.

»Ja, du«, sagte er und drehte sich um.

»Ich wußte nicht, daß ich weinte, Sir«, stammelte ich.

»Aber du weinst. Sieh selbst.«

Er rutschte aus der andern Ecke des Wagens auf den Platz mir gegenüber, fuhr mir mit einem seiner großen Pelzaufschläge sanft über die Augen und zeigte mir dann, daß er naß war.

»Da! Jetzt weißt du’s. Nicht wahr?«

»Ja, Sir.«

»Und warum weinst du? Gehst du nicht gern dorthin?«

»Wohin, Sir?«

»Wohin? Nun dahin, wohin du eben gehst.«

»Ich gehe sehr gern hin, Sir.«

»Nun also! Mach doch ein freundliches Gesicht!«

Der Herr kam mir höchst sonderbar vor; wenigstens was ich von ihm sehen konnte, war sehr merkwürdig. Bis ans Kinn eingehüllt, verschwand sein Gesicht fast unter einer Pelzmütze mit breiten Pelzohrklappen. Ich hatte mich wieder gefaßt und fürchtete mich nicht mehr vor ihm. Ich sagte ihm, ich hätte wegen des Todes meiner Patin geweint, und weil Mrs. Rachael der Abschied von mir so leicht geworden sei.

»Der Kuckuck soll Mrs. Rachael holen!« brummte der Herr. »Soll sie beim nächsten Sturmwind auf einem Besenstiel wegfliegen!«

Ich fing jetzt an, mich doch wieder vor ihm zu fürchten, und betrachtete ihn mit größter Verwunderung. Aber er hatte freundliche Augen, wenn er auch fortfuhr, ärgerlich vor sich hinzubrummen und auf Mrs. Rachael zu schimpfen.

Nach einer kleinen Weile öffnete er seine oberste Hülle, die groß genug zu sein schien, um die ganze Kutsche damit zu bedecken, und fuhr mit dem Arm tief in seine Seitentasche.

»Da schau einmal!« sagte er. »In diesem Papier ist ein Stück von der besten Pflaumentorte, die für Geld zu haben ist – mit einem Zuckerüberguß, zolldick wie Fett auf einer Hammelkeule. Hier ist ein Pastetchen, ein Juwel an Größe und Beschaffenheit, aus Frankreich. Und woraus glaubst du wohl, ist es gemacht? Aus Leber von fetten Gänsen! Das ist eine Pastete! Wollen mal sehen, wie sie dir schmeckt.«

»Ich danke Ihnen bestens, Sir«, gab ich zur Antwort. »Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden, aber, – ich hoffe, Sie nehmen es nicht übel – es ist zu schwer für mich.«

»Wieder einmal abgefahren!« sagte der Gentleman – ich verstand nicht, was er damit meinte – und warf beides zum Fenster hinaus.

Er sprach kein Wort mehr mit mir, bis er kurz vor Reading die Kutsche verließ und mir sagte, ich solle ein gutes Mädchen sein und recht fleißig lernen. Dann schüttelte er mir die Hand. Ich muß gestehen, ich fühlte mich erleichtert, als er ausstieg. Wir ließen ihn an einem Meilenstein zurück. Oft später ging ich an dieser Stelle vorüber und mußte dabei noch lange Zeit an ihn denken, und immer erwartete ich so halb und halb, ihn wieder dort zu treffen. Aber er erschien nie, und so verschwand er allmählich aus meiner Erinnerung.

Als der Wagen anhielt, blickte eine sehr nette Dame zum Fenster herein und sagte:

»Miß Donny.«

»Nein, Maam. Esther Summerson.«

»Ja, ja, schon richtig«, sagte die Dame, »Miß Donny.«

Ich erriet jetzt, daß sie sich unter diesem Namen vorstellte, und entschuldigte mich wegen meines Irrtums. Auf ihren Wunsch zeigte ich ihr mein Gepäck. Unter der Leitung eines sehr saubern Dienstmädchens wurden meine Koffer auf eine winzige grüne Kutsche gepackt, und dann stiegen Miß Donny, das Mädchen und ich hinein und fuhren fort.

»Alles ist für Sie bereit, Esther«, wandte sich Miß Donny an mich, »und Ihr Stundenplan ist genau nach den Wünschen Ihres Vormunds Mr. Jarndyce festgesetzt.«

»Meines – wie sagten Sie, Maam?«

»Ihres Vormunds Mr. Jarndyce.«

Ich war so verwirrt, daß Miß Donny wahrscheinlich glaubte, die Kälte sei für mich zu groß gewesen, und mir ihr Riechfläschchen anbot.

»Kennen sie Mr. Jarndyce, meinen – Vormund, Maam?« fragte ich nach ziemlich langem Zögern.

»Nicht persönlich, Esther, nur durch seine Rechtsanwälte, die Herren Kenge & Carboy in London. Ein wirklich ausgezeichneter Gentleman, der Mr. Kenge. Diese Beredsamkeit! Sein Satzbau ist wahrhaft majestätisch.«

Ich wußte vollkommen die Wahrheit dieser Bemerkung zu würdigen, war aber zu verwirrt, um zu antworten. Unsere schnelle Ankunft an unserm Bestimmungsort, ehe ich Zeit hatte, mich zu fassen, vermehrte noch meine Verwirrung, und nie werde ich vergessen, welch unwirklichen und traumhaften Eindruck an jenem Nachmittage alles in Greenleaf – Miß Donnys Haus – auf mich machte.

Aber bald lebte ich mich ein und war in Greenleafs Stundenplan bald so zu Hause, als ob ich schon lange dort gewesen wäre. Mein altes Leben bei meiner Patin kam mir wie ein Traum vor. Alles ging hier nach dem Glockenschlag. Um das ganze Zifferblatt herum hatte alles seine festgesetzte Zeit und wurde genau in dem festgesetzten Augenblick verrichtet.

Wir waren zwölf Schülerinnen, und zwei Misses Donny – Zwillinge – standen uns vor. Man setzte voraus, daß ich später von meinen Kenntnissen als Gouvernante werde leben müssen, und ich wurde nicht nur in allem unterrichtet, was man in Greenleaf lehrte, sondern mußte auch sehr bald selbst Unterricht erteilen.

Obgleich man mich in jeder andern Hinsicht wie die übrigen Schülerinnen behandelte, so machte man diesen einzigen Unterschied doch von allem Anfang an. Je mehr ich selbst lernte, desto mehr gab ich Unterricht und bekam dadurch im Lauf der Zeit sehr viel zu tun. Das machte mir große Freude, und die Mädchen gewannen mich lieb. So oft eine neue Schülerin niedergeschlagen ankam und sich unglücklich fühlte, erwählte sie mich so sicher – die Ursache weiß ich nicht – zu ihrer Freundin, daß schließlich alle neuen Ankömmlinge mir anvertraut wurden. Sie sagten, ich sei so gut gegen sie, aber eigentlich waren sie gut gegen mich. Ich dachte oft an den an meinem Geburtstag gefaßten Entschluß, fleißig, zufrieden und freundlichen Herzens zu sein. Gutes zu tun und mir Liebe zu erwerben, wo ich könnte; und wahrhaftig, ich schämte mich fast, so wenig getan und soviel gewonnen zu haben.

Ich verlebte in Greenleaf sechs glückliche stille Jahre. Dort las ich, Gott sei Dank, an meinem Geburtstag in keinem Gesicht, daß es besser gewesen, wenn ich nie geboren worden wäre. So oft der Tag erschien, brachte er mir soviel Zeichen liebreicher Aufmerksamkeit, daß mein Zimmer geschmückt war vom Neujahrstag bis zu Weihnachten.

In diesen sechs Jahren war ich nie von Hause weggewesen außer auf Besuchen in der Nachbarschaft während der Feiertage.

Nach dem Schluß des ersten halben Jahres hatte ich Miß Donny um Rat gefragt, ob es schicklich sei, an Mr. Kenge zu schreiben, daß ich glücklich und voll Dankes wäre, und verfaßte dann mit ihrer Billigung einen solchen Brief. Ich erhielt eine formelle Antwort, die mit den Worten schloß:

»Wir notierten den Inhalt Ihres Geschätzten, den wir seinerzeit unserm Klienten mitzuteilen nicht verabsäumen werden.«

Hie und da hörte ich Miß Donny und ihre Schwester davon sprechen wie regelmäßig meine Rechnungen bezahlt würden, und ungefähr zweimal des Jahres wagte ich einen ähnlichen Brief zu schreiben. Ich empfing stets umgehend genau dieselbe Antwort mit derselben Kanzlistenschrift, unterschrieben »Kenge & Carboy« von einer andern Hand, von der ich annahm, sie müßte Mr. Kenges Handschrift sein.

Es kommt mir so seltsam vor, daß ich alles dieses von mir erzähle, als ob diese Geschichte die Geschichte meines Lebens wäre! Aber mein unbedeutendes Ich wird jetzt bald in den Hintergrund treten.

Sechs stille Jahre verlebte ich in Greenleaf, wie ich schon sagte, und wuchs mit meinen Freundinnen auf, als ich an einem Novembermorgen folgenden Brief empfing:

»Old Square Lincoln’s Inn.
In Sachen Jarndyce kontra Jarndyce.
Madam!

Unser Klient, Mr. Jarndyce, der im Begriff steht, in Verfolg eines Dekretes des Kanzleigerichtshofs ein Mündel dieses Gerichts in schwebender Sache in sein Haus aufzunehmen, für das er eine passende Gesellschafterin wünscht, beauftragt uns, Sie zu benachrichtigen, daß er sich freuen würde, von Ihren Diensten in der gedachten Eigenschaft Gebrauch machen zu können.

Wir haben beordert, daß Sie franko Reisespesen nächsten Montag morgens mit der Achtuhrkutsche von Reading nach dem »Weißen Roß«, Piccadilly, London, befördert werden, wo einer unserer Schreiber Sie erwarten wird, um Sie nach unserer oben bezeichneten Kanzlei zu begleiten.

Wir empfehlen uns, Madam,
als Ihre gehorsamsten Diener
Kenge & Carboy
An Miß Esther Summerson.«

O nie, nie, nie werde ich vergessen, welche Aufregung dieser Brief im Hause verursachte! Es war so gut von ihnen, daß sie sich soviel mit mir befaßten, – so liebevoll von der Hand des Schicksals, meinen verwaisten Lebensweg so zu ebnen und mir so viele junge Herzen zugeneigt zu machen, daß ich es kaum ertragen konnte. Nicht, daß ich gewünscht hätte, es möchte ihnen weniger leid getan haben – das fürchte ich, war nicht der Fall –, aber Wonne und Schmerz, Stolz und Freude darüber und das Leid zugleich waren so miteinander verwoben, daß es mir fast das Herz brach, während es voller Entzücken überfloß.

Der Brief ließ mir nur fünf Tage Frist. Jede Minute in diesen fünf Tagen häufte neue Beweise von Liebe und Zuneigung auf mein Haupt, und als endlich der Morgen des Abschieds kam, da begleiteten mich meine Freundinnen durch alle Zimmer, der Erinnerung wegen.

»Liebste Esther, sage mir Lebewohl hier an diesem Bett, wo du mir zum ersten Mal so freundlich zusprachst!« bat mich eine Freundin, und einer andern mußte ich auf ein Blatt Papier ihren Namen schreiben und darunter: »In Liebe, Deine Esther.«

Und alle umringten mich mit ihren Abschiedsgeschenken, hingen weinend an mir und jammerten: »Was sollen wir nur anfangen, wenn unsere liebe, liebe Esther fort ist?« und ich versuchte, ihnen zu sagen, wie dankbar ich ihnen sei für ihre Güte und Nachsicht gegen mich und wie ich sie alle segnete.

Wie ergriff es mich, als ich sah, wie bekümmert die beiden Miß Donnys mich scheiden ließen und die Dienstmädchen sagten: »Gott behüte Sie, Miß, wohin Sie auch immer gehen mögen.«

Und der häßliche lahme Gärtner, von dem ich gar nicht glaubte, daß er mich überhaupt kenne oder mich jemals gesehen habe, kam hinter der Kutsche nachgekeucht, um mir ein Geraniumsträußchen zu geben und zu sagen, ich sei das Licht seiner Augen gewesen. – Wirklich und wahrhaftig, der alte Mann sagte das.

Ich war in meiner Kutsche förmlich erdrückt vor Glück von alledem, und als ich an der Kinderschule vorbeikam und die Kleinen ihre Hüte schwenkten und ein grauköpfiger Herr und eine Dame, deren Tochter ich hatte unterrichten helfen und in deren Hause ich auf Besuch gewesen – sie galten für die stolzesten Leute in der ganzen Gegend –, immer und immer wieder riefen: »Leben Sie wohl, Esther, mögen Sie immer glücklich sein!« da mußte ich viele, viele Male sagen: »Oh, ich bin so dankbar, so von Herzen dankbar.«

Aber bald sah ich ein, daß ich nach allem, was man für mich getan, an den Ort, wohin ich gehen sollte, keine Tränen mitbringen dürfe. Deshalb bezwang ich mich und redete mir selbst zu: Esther, du mußt dich fassen, das geht so nicht! Ich kühlte mir die Augen mit Lavendelwasser, und es war höchste Zeit, wie ich dachte, denn wir mußten meiner Ansicht nach jede Minute in London sein.

Ich war vollständig überzeugt, wir seien bereits dort, als wir noch zehn Meilen Weges vor uns hatten, und daß wir niemals hinkommen würden, als wir bereits mitten drin waren. Wie wir über das Steinpflaster holperten und, wie ich immerwährend fürchtete, alle Augenblicke mit andern Wagen zusammenstoßen mußten, fing ich endlich an zu glauben, wir näherten uns dem Ende unserer Reise. Bald darauf hielten wir.

Ein tintenbespritzter junger Mann redete mich auf dem Trottoir mit den Worten an:

»Ich bin von Kenge & Carboy, Miß, von Lincoln’s Inn.«

»Sie erwarten mich wohl, Sir?«

Der junge Mann war sehr höflich, und als er mir in einen Fiaker half und die Besorgung meines Gepäcks veranlaßt hatte, fragte ich ihn, ob in der Nähe ein großes Feuer sei, denn die Straßen waren so voll von dickem braunem Qualm, daß man kaum etwas erkennen konnte.

»O nein, Miß.Das ist Londoner ‚Echter‘.«

Ich hatte diesen Ausdruck noch nie gehört.

»Nebel, Miß.«

Wir fuhren langsam durch die schmutzigsten und dunkelsten Straßen, die es meiner Meinung nach in der Welt geben konnte, und durch ein so lärmendes Gewühl, daß ich mich wunderte, wie die Leute ihre fünf Sinne beisammenhalten konnten, bis wir durch einen alten Torweg über einen stillen Platz in eine sonderbare Ecke kamen, wo breite steile Stufen zu einem Tor führten wie zu einer Kirchentür. Und wirklich war auch daneben ein Friedhof hinter Klostergebäuden; ich konnte die Grabsteine durch das Treppenfenster sehen.

Hier war Kenge & Carboys Kanzlei. Der junge Mann führte mich durch die Schreibstube in Mr. Kenges Privatzimmer – es war niemand drin – und rückte mir höflich einen Lehnstuhl an den Kamin. Dann machte er mich auf einen kleinen Wandspiegel aufmerksam.

»Im Falle Sie nach der Reise einmal hineinzuschauen wünschten, Miß, ehe Sie vor dem Kanzler erscheinen. Nicht daß es im geringsten nötig wäre«, setzte er höflich hinzu.

»Vor dem Kanzler erscheinen?« sagte ich, einen Augenblick ganz erschrocken.

»Eine bloße Formsache, Miß! Mr. Kenge ist jetzt bei Gericht. Er läßt sich Ihnen empfehlen, und wenn Sie vielleicht etwas genießen wollen: – Backwerk und eine Karaffe mit Wein stehen dort auf dem kleinen Tischchen, und hier ist die Zeitung –« der junge Mann überreichte sie mir. Dann schürte er das Feuer und ließ mich allein.

Alles war so seltsam – um so seltsamer, da bei Tag die Lichter brannten mit weißer Flamme und trotz des Feuers eine fröstelnde Temperatur herrschte –, daß ich die Worte in der Zeitung las, ohne sie zu erfassen, und mich dabei ertappte, daß ich dieselben Sätze immer wieder von vorn anfing.

Ich legte die Zeitung hin, sah in den Spiegel, ob mein Hut noch in Ordnung sei, betrachtete das nur halb erhellte Zimmer, die schlechten staubigen Tische und die Aktenstöße und einen Bücherschrank voll von so ausdruckslos aussehenden Büchern, als ob gar nichts in ihnen stünde. Und dann dachte ich weiter und weiter und weiter, und das Feuer brannte und brannte, und die Lichter qualmten und flackerten – und es war keine Lichtschere da –, bis der junge Mann endlich eine sehr schmutzige brachte, wohl zwei volle Stunden lang.

Endlich erschien Mr. Kenge. Er sah ganz aus wie früher, aber er wunderte sich, mich so verändert zu finden, und schien sich darüber zu freuen.

»Da Sie die Gesellschafterin der jungen Dame werden sollen, die sich jetzt im Privatzimmer des Kanzlers befindet, Miß Summerson«, sagte er, »so glaubten wir, es sei gut, wenn Sie ebenfalls da wären. Sie werden sich doch vor dem Lordkanzler nicht fürchten, hoffe ich?«

»Nein, Sir«, sagte ich. »Ich glaube nicht.«

Bei einiger Überlegung sah ich auch wirklich nicht ein, warum ich mich hätte fürchten sollen.

Mr. Kenge reichte mir seinen Arm, und wir gingen um die Ecke herum unter einer Kolonnade zu einer Seitentür hinein. Durch einen Korridor kamen wir in ein behagliches Zimmer, wo eine junge Dame und ein junger Herr an einem großen Kamin standen, in dem das Feuer laut prasselte. Ein Schirm stand zwischen ihnen und dem Kamin, und sie lehnten sich daran und plauderten miteinander.

Sie sahen beide auf, als ich eintrat. Die junge Dame war ein sehr schönes Mädchen mit reichem goldblondem Haar, sanften blauen Augen und einem heitern, unschuldigen, vertrauensvollen Gesicht.

»Miß Ada«, stellte mich Mr. Kenge vor, »hier ist Miß Summerson!«

Die junge Dame streckte mir mit freundlichem Lächeln die Hand entgegen, schien aber im Augenblick andern Sinnes zu werden, kam auf mich zu und küßte mich; kurz, sie hatte ein so natürliches und gewinnendes Wesen, daß wir nach wenigen Minuten im Schein des Feuers zusammen am Fenster saßen und so ungeniert und heiter wie nur möglich miteinander plauderten.

Eine Last war von meinem Herzen genommen. Ich fühlte mich so glücklich, daß sie Vertrauen zu mir fassen und Gefallen an mir finden konnte.

Es war so gut von ihr und so ermutigend für mich.

Der junge Herr, ein entfernter Vetter von ihr, wie sie mir sagte, hieß Richard Carstone. Er war ein hübscher junger Mann mit einem intelligenten Gesicht und einem sehr gewinnenden Lachen; und nachdem sie ihn zu uns ans Fenster gerufen hatte, plauderte er so lustig wie ein leichtherziger Knabe. Er mußte sehr jung sein, höchstens neunzehn, war aber fast zwei Jahre älter als sie. Beide waren sonderbarerweise Waisen und hatten sich vorher nie gesehen. Daß wir uns alle drei zum ersten Mal an diesem ungewöhnlichen Orte trafen, war allein schon wert, daß man davon redete, und wir unterhielten uns darüber. Das Feuer hatte aufgehört, so laut zu prasseln, und zwinkerte uns mit seinen roten Augen zu – wie sich Richard ausdrückte – wie ein schläfriger alter Gerichtslöwe.

Wir unterhielten uns ziemlich leise, weil ein Herr in Kniehosen und Schuhen und einer Zopfperücke häufig ins Zimmer kam, wobei wir beim Aufgehen stets ein schläfriges Summen in der Ferne hörten. Es stammte, wie er uns sagte, von einem Advokaten, der gerade in unserer Sache vor dem Lordkanzler plädierte.

Fast gleich darauf öffnete er wieder die Tür und ließ Mr. Kenge eintreten. Sodann begaben wir uns alle in das nächste Zimmer: voran Mr. Kenge mit – meinem Liebling; der Ausdruck ist mir so natürlich geworden, daß er mir von selbst in die Feder kommt.

Dort saß, einfach in Schwarz gekleidet, in einem Lehnstuhl vor einem Tisch am Kamin Seine Lordschaft. Sein Gerichtstalar, mit schönen Goldtressen besetzt, lag auf einem Stuhl daneben. Er warf einen forschenden Blick auf uns, als wir eintraten, aber sein Benehmen war höflich und gütig.

Der Herr mit der Perücke legte Akten auf den Tisch, und Seine Lordschaft suchte schweigend ein Heft heraus und blätterte darin.

»Miß Clare«, begann der Lordkanzler, »Miß Ada Clare?«

Mr. Kenge stellte sie vor, und Seine Lordschaft bat sie, neben ihm Platz zu nehmen. Daß er sie bewunderte und großes Interesse an ihr nahm, konnte sogar ich auf den ersten Blick sehen.

Es tat mir weh, daß eine kahle trockene Beamtenstube das Vaterhaus eines so schönen und jungen Geschöpfes sein sollte. Der Lord-Oberkanzler erschien mir trotz seines guten Willens ein armseliger Ersatz für liebende Eltern zu sein.

»Der in Frage kommende Jarndyce«, fragte der Lordkanzler, immer noch in dem Hefte blätternd, »ist Jarndyce von Bleakhaus?«

»Jarndyce von Bleakhaus, Mylord«, bestätigte Mr. Kenge.

»Ein trauriger Name, Mr. Kenge.«

»Aber jetzt kein trauriger Ort mehr, Mylord.«

»Und Bleakhaus«, sagte Seine Lordschaft, »liegt in –?«

»Hertfordshire, Mylord.«

»Mr. Jarndyce von Bleakhaus ist unverheiratet?«

»Ja, Mylord.«

Eine Pause.

»Der junge Mr. Richard Carstone ist anwesend?« warf der Lordkanzler einen Blick auf den jungen Mann.

Richard verbeugte sich und trat vor.

»Hm«, sagte der Lordkanzler und blätterte weiter.

»Mr. Jarndyce von Bleakhaus, Mylord«, erklärte Mr. Kenge mit leiser Stimme, »sucht, wenn ich mir erlauben darf, Ew. Lordschaft daran zu erinnern, eine geeignete Gesellschafterin für –«

»Für Mr. Richard Carstone?« glaubte ich den Lordkanzler mit einem Lächeln sagen zu hören.

»Für Miß Ada Clare! Hier ist die junge Dame! Miß Summerson!«

Seine Lordschaft schenkte mir einen freundlich herablassenden Blick und erwiderte meine Verbeugung sehr gnädig.

»Miß Summerson ist, glaube ich, mit keiner der Parteien in dieser Sache verwandt?«

»Nein, Mylord.«

Mr. Kenge beugte sich, ehe er dies sagte, ein wenig vor und flüsterte etwas. Der Kanzler hörte zu, die Augen auf seine Akten geheftet, nickte zwei oder dreimal, blätterte um und blickte mich nicht wieder an, bis wir uns verabschiedeten.

Mr. Kenge trat jetzt mit Richard wieder zurück zu mir in die Nähe der Tür und ließ Ada neben dem Lordkanzler sitzen. Seine Lordschaft sprach mit ihr eine Weile allein, fragte sie, wie sie mir später erzählte, ob sie den Schritt, den sie zu tun im Begriffe stehe, sich auch wohl überlegt habe und glaube, sie werde sich bei Mr. Jarndyce von Bleakhaus glücklich fühlen, und weshalb sie das denke. Gleich darauf erhob er sich höflich grüßend und sprach ein paar Minuten lang mit Richard Carstone im Stehen und mit viel mehr Ungeniertheit und weniger Förmlichkeit, als ob er trotz seines Ranges als Lordkanzler immer noch wüßte, wie man den geraden Weg zu dem Herzen eines jungen Mannes findet.

»Sehr gut«, sagte er dann laut. »Ich werde das Dekret ausfertigen lassen. Mr. Jarndyce von Bleakhaus hat, soweit ich beurteilen kann«, – er sah mich dabei an – »eine sehr gute Gesellschafterin für die junge Dame gefunden, und das erscheint mir als das beste, was unter den gegebenen Umständen geschehen kann.«

Er entließ uns freundlich, und wir alle waren ihm für seine Leutseligkeit und Höflichkeit, durch die er gewiß nichts an Würde verloren, sondern nur gewonnen hatte, sehr verbunden.

Als wir in den Säulengang kamen, erinnerte sich Mr. Kenge, daß er noch einmal zurück müsse, um sich nach etwas zu erkundigen, und ließ uns in dem Nebel stehen, wo des Lordkanzlers Wagen und Bediente warteten.

»Nun, das wäre überstanden«, sagte Richard Carstone. »Und wo gehen wir jetzt hin, Miß Summerson?«

»Wissen Sie es nicht?«

»Nicht im mindesten.«

»Und Sie auch nicht, liebe Ada?« fragte ich.

»Nein, wenn Sie es nicht wissen, Miß Summerson.«

»Ich durchaus nicht.«

Wir sahen einander an und lachten, daß wir dastanden wie Kinder, die sich im Walde verirrt haben, als eine seltsame kleine Alte mit einem zerdrückten Hut und einem großen Strickbeutel knicksend und lächelnd sich uns mit höchst feierlicher Miene näherte.

»Oh«, sagte sie. »Die Mündel in Sachen Jarndyce! Schätze mich sehr glücklich, die Ehre zu haben. Ein gutes Omen für Jugend, Hoffnung und Schönheit, an diesem Ort zusammenzukommen und nicht zu wissen, was daraus werden soll.«

»Verrückt!« flüsterte uns Richard zu, in dem Glauben, sie könne es nicht hören.

»Sehr richtig! Verrückt, junger Herr!« antwortete die Alte so rasch, daß Richard wie begossen dastand. »Ich war selbst einst ein Mündel. Damals war ich nicht verrückt«, setzte sie mit einer tiefen Verbeugung und einem Lächeln nach jedem kleinen Satz hinzu. »Ich war jung und voll Hoffnung. Ich glaube, ich war auch schön. Darauf kommt es jetzt aber sehr wenig an. Weder Jugend noch Hoffnung noch Schönheit halfen mir etwas. Ich habe die Ehre, den Gerichtssitzungen regelmäßig beizuwohnen. Mit meinen Dokumenten. Ich erwarte ein Urteil. Binnen kurzem. Am Tage des Jüngsten Gerichts. Ich habe entdeckt, daß das sechste Siegel in der Offenbarung das Große Siegel ist. Es ist schon seit langer Zeit geöffnet. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen Glück wünsche.«

Da Ada etwas erschrocken war, sagte ich, um der armen Alten nicht weh zu tun, daß wir ihr sehr verbunden wären.

»Ja-a!« antwortete sie geziert. »Das glaube ich. Und hier kommt ‚Konversationskenge‘. Mit seinen Dokumenten. Wie geht es Ew. Würden?«

»Danke, danke. Aber bitte, belästigen Sie uns nicht, gute Frau«, sagte Mr. Kenge, indem er uns zurückgeleitete.

»O gewiß nicht«, entschuldigte sich die arme Alte, neben Ada und mir hergehend. »Will durchaus nicht belästigen. Ich werde beiden Güter schenken; was doch gewiß keine Belästigung ist. Ich erwarte ein Urteil. Am Tage des Jüngsten Gerichts. Ein gutes Omen für Sie. Nehmen Sie meinen Glückwunsch entgegen.«

Sie blieb unten an der steilen, breiten Treppe stehen, und als wir uns beim Hinaufgehen umsahen, stand sie immer noch da und sagte immer noch mit einem Knicks und einem Lächeln bei jedem kleinen Satz:

»Jugend! Und Hoffnung! Und Schönheit! Und Kanzleigericht! Und Konversationskenge! Ha! Bitte, nehmen Sie meinen Glückwunsch entgegen!«

30. Kapitel


30. Kapitel

Esthers Erzählung

Richard war bereits einige Zeit fort, da bekamen wir für ein paar Tage Besuch. Von einer ältlichen Dame. Es war Mrs. Woodcourt aus Wales, die während eines Besuches bei Mrs. Bayham Badger, »auf Wunsch ihres Allan«, an meinen Vormund geschrieben hatte, sie habe Nachricht von ihrem Sohn erhalten und er befände sich wohl »und lasse uns allen seine freundlichsten Grüße senden«. Mein Vormund hatte sie daraufhin nach Bleakhaus eingeladen, und sie blieb fast drei Wochen bei uns. Sie schloß sich sehr an mich an, und so ausnehmend vertraulich, daß es mich manchmal in eine recht unbehagliche Stimmung versetzte. Ich wußte ganz gut, ich hatte kein Recht, mich darüber unbehaglich zu fühlen, und es war unverständig von mir, aber trotz aller Bemühungen konnte ich mir nicht helfen.

Sie war eine so lebhafte kleine Dame, pflegte, die Hände gefaltet, mich oft so aufmerksam zu beobachten beim Sprechen, daß mir vielleicht das etwas lästig wurde. Vielleicht war es auch ihre Gewohnheit, immer so aufrecht dazusitzen, aber ich glaube, das konnte nicht gut die Ursache sein, denn es kam mir manchmal recht drollig und nett vor. Auch kann es nicht an ihrem Gesichtsausdruck gelegen haben, der für eine alte Dame sehr lebendig und hübsch war. Ich weiß nicht, woran es lag. Oder wenigstens wußte ich es damals nicht. Oder wenigstens… Aber darauf kommt es nicht an.

Manchmal, wenn ich hinauf zu Bett gehen wollte, lud sie mich in ihr Zimmer ein, setzte sich in einen großen Lehnstuhl an den Kamin und erzählte mir – o Gott, o Gott – von Morgan ap Kerrig, bis ich ganz tiefsinnig wurde. Manchmal sagte sie eine Anzahl Verse aus Crumlinwallinwer und Mewlinwillinwodd, wenn das wirklich die Namen waren, her und wurde ordentlich leidenschaftlich dabei. Ich verstand ihre Bedeutung nicht, denn sie waren in welscher Sprache, und wußte nur, daß sie das Geschlecht Morgan ap Kerrig in den Himmel hoben.

»Sie sehen, Miß Summerson, wie groß das Erbe meines Sohnes ist«, pflegte sie triumphierend zu mir zu sagen. »Überall, wohin er auch kommt, kann er sich auf seine Abstammung von Morgan ap Kerrig berufen. Er wird vielleicht nie ein Vermögen haben, aber stets wird er besitzen, was so unendlich viel mehr wert ist, nämlich Familie, mein Kind.«

Ich hatte so meine Zweifel, ob sie sich in Indien und China drüben besonders um Morgan ap Kerrig kümmern würden, aber natürlich sprach ich es nicht aus. Ich sagte gewöhnlich nur, es sei eine große Sache, von so hoher Abkunft zu sein.

»Es ist auch wirklich eine große Sache, liebes Kind«, pflegte in solchen Fällen Mrs. Woodcourt zur Antwort zu geben. »Sie hat allerdings ihre Nachteile. So ist zum Beispiel mein Sohn in der Wahl einer Gattin sehr dadurch beschränkt. Aber auch die ehelichen Verbindungen der königlichen Familie sind schließlich in ähnlicher Weise beeinträchtigt.«

Dann klopfte sie mir wohl auf den Arm und strich mir das Kleid glatt, als wolle sie mir versichern, daß sie trotz des Abstandes zwischen uns beiden eine gute Meinung von mir habe.

»Mein armer seliger Mann, Mr. Woodcourt, liebes Kind«, sagte sie auch oft nicht ohne Rührung, denn neben ihrem vornehmen Stammbaum besaß sie ein sehr gefühlvolles Herz, »stammte von einer großen hochländischen Familie ab, den Mac Courts von Mac Court. Er diente seinem Könige und seinem Vaterlande als Offizier bei den königlichen Highlanders und fiel auf dem Schlachtfeld. Mein Sohn ist einer der letzten Repräsentanten zweier alter Familien. So Gott will, wird er sie wieder zur Geltung in der Welt bringen und sie mit einer andern alten Familie vereinigen.«

Vergebens in solchen Fällen versuchte ich dem Gespräch eine andre Richtung zu geben – nur der Abwechslung wegen – oder vielleicht, weil… Aber ich brauche mich nicht so in Einzelheiten zu verlieren. Kurz, Mrs. Woodcourt wollte nie von etwas anderm sprechen.

»Liebes Kind«, sagte sie eines Abends. »Sie sind so verständig und sehen die Welt mit so ruhigen und für Ihre Jahre so überlegnen Augen an, daß es für mich eine wahre Erleichterung ist, mit Ihnen diese Familienverhältnisse zu besprechen. Sie wissen nicht viel von meinem Sohn, mein Kind, aber Sie kennen ihn, möchte ich sagen, doch genug, um sich seiner erinnern zu können?«

»Gewiß, Maam, erinnere ich mich seiner.«

»Gut, liebes Kind. Und nun, mein Kind, muß ich Ihnen sagen, daß ich Ihnen viel Menschenkenntnis zutraue und gerne wissen möchte, was Sie von ihm halten.«

»O, Mrs. Woodcourt, das ist so schwer.«

»Warum sollte es schwer sein, liebes Kind? Ich sehe dann keine Schwierigkeit.«

»Ein Urteil abzugeben…«

»Nach so oberflächlicher Bekanntschaft, liebes Kind? Das ist allerdings wahr.«

Das meinte ich nicht, denn Mr. Woodcourt war im großen ganzen ziemlich viel in unserm Haus gewesen und mit meinem Vormund sehr vertraut geworden. Ich äußerte das und setzte hinzu, daß er sehr talentvoll in seinem Beruf zu sein scheine, und beispielsweise seine Güte und Freundlichkeit gegen Miß Flite über allem Lobe stünden.

»Sie lassen ihm Gerechtigkeit widerfahren«, sagte Mrs. Woodcourt und drückte mir die Hand. »Sie schildern ihn wirklich treffend. Allan ist ein lieber Junge und in seinem Beruf ohne Tadel. Ich gebe es zu, wenn ich auch seine Mutter bin. Dennoch muß ich gestehen, daß er nicht frei von Fehlern ist, meine Liebe.«

»Das ist keiner von uns«, sagte ich.

»Ja! Aber seine Fehler sind von der Art, daß er sie ablegen könnte und sollte«, erwiderte die muntere alte Dame und schüttelte lebhaft den Kopf. »Ich habe Sie so gern, daß ich Ihnen, liebes Kind, als einer dritten unbeteiligten Person in allem Vertrauen sagen kann, daß er die Unbeständigkeit selbst ist.«

Ich bemerkte, ich könnte es bei dem Ruf, den er sich erworben, kaum für möglich halten, daß er in seinem Beruf nicht beständig und nicht von jeher eifrig auf seine Ausbildung bedacht gewesen sei.

»Da haben Sie wieder Recht, liebes Kind; aber ich spreche nicht von seinem Beruf, müssen Sie wissen.«

»O!«

»Nein. Ich meine sein Benehmen in gesellschaftlicher Beziehung, mein Kind. Er macht stets jungen Damen harmlos den Hof und hat es seit seinem achtzehnten Jahr getan. Aber, liebes Kind, er hat sich dabei niemals etwas Ernstes gedacht und auch nichts Böses damit gemeint. Er hat nie etwas andres als Höflichkeit und Freundlichkeit damit ausdrücken wollen, aber dennoch ist es nicht recht, nicht wahr?«

»Nein«, sagte ich, da sie diese Antwort zu erwarten schien.

»Und es könnte leicht zu Irrtümern führen, sehen Sie.«

Ich gab das zu.

»Deshalb habe ich ihm oft gesagt, er solle sich sowohl aus Rücksicht gegen sich selbst wie gegen andre wirklich mehr in acht nehmen. Und stets hat er versprochen: ‚Mutter, das will ich. Aber du kennst mich am besten von allen Menschen und weißt, daß meine Absichten ganz harmlos sind, wenn ich mir überhaupt etwas dabei denke.‘ Alles das ist ja recht hübsch, mein Kind, kann sein Benehmen jedoch nicht rechtfertigen. Da er aber jetzt so weit von uns und auf unbestimmte Zeit weggegangen ist und es ihm drüben an guten Gelegenheiten und Bekanntschaften nicht fehlen wird, können wir das ja als vorbei und abgemacht betrachten. Und nun, liebes Kind«, sagte die alte Dame und wurde plötzlich ganz Nicken und Lächeln, »was nun Sie selbst betrifft, liebes Kind…«

»Mich, Mrs. Woodcourt?«

»Um nicht immer selbstsüchtigerweise von meinem Sohn zu sprechen, der uns verlassen hat, um sein Glück zu versuchen und eine Gattin zu finden, wann gedenken Sie Ihr Glück zu versuchen und einen Gatten zu finden, Miß Summerson? Ah, sehen Sie! Jetzt werden Sie rot.«

Ich glaube nicht, daß ich rot wurde – jedenfalls hatte es nichts zu bedeuten, wenn es geschah –, und ich sagte, daß ich mit meinem gegenwärtigen Los vollkommen zufrieden sei und mir kein besseres wünsche.

»Soll ich Ihnen sagen, was ich immer von Ihnen und Ihrem zukünftigen Schicksal denke, meine Liebe?«

»Wenn Sie glauben, eine gute Prophetin zu sein.«

»Nun, ich glaube, daß Sie einen sehr reichen und sehr würdigen Mann heiraten werden, der viel älter als Sie – vielleicht fünfundzwanzig Jahre älter ist. Und Sie werden eine vortreffliche Gattin sein, auf den Händen getragen werden und sich sehr glücklich fühlen.«

»Das ist ein sehr beneidenswertes Los«, sagte ich. »Aber warum soll es mir zufallen?«

»Liebes Kind, weil es eben ganz für Sie paßt. Sie sind so häuslich und sauber und im übrigen in so einer ganz besondern Lage, daß es bestimmt so kommen wird. Und niemand, liebes Kind, wird Ihnen aufrichtiger zu einer solchen Heirat Glück wünschen als ich.«

Es war merkwürdig, daß mich diese Rede in eine unbehagliche Stimmung versetzte, aber ich glaube, es war tatsächlich der Fall. Ich weiß es sogar. Es verstimmte mich einen Teil der Nacht lang außerordentlich. Ich schämte mich meiner Torheit so sehr, daß ich sie selbst nicht Ada bekennen mochte, und das vermehrte meine Mißstimmung noch. Ich hätte etwas darum gegeben, wenn mich die lebhafte alte Dame nicht so sehr ins Vertrauen gezogen hätte. Es verleitete mich zu den widersprechendsten Urteilen über sie. Manchmal erschien sie mir als geschwätzig und aufschneiderisch, manchmal wieder als ein Muster von Wahrheitsliebe. Kaum hatte ich sie im Verdacht, listig und verschlagen zu sein, erschien mir im nächsten Augenblick wieder ihr ehrliches welsches Herz vollkommen unschuldig und schlicht. Und was im Grunde kümmerte es mich und warum kümmerte es mich etwas! Warum sollte ich, wenn ich mit meinem Schlüsselkorb abends hinauf in mein Zimmer ging, nicht ein bißchen bei ihr vorsprechen, mich mit ihr ans Feuer setzen und mich eine kurze Zeit lang in ihre kleinen Eigenheiten fügen, wie ich es bei jedem andern machte, und warum sollte ich mich wegen der harmlosen Dinge, die sie mir erzählte, verstimmen lassen? Da es mich nun ein Mal, wie es der Fall war, zu ihr hinzog, denn es lag mir außerordentlich viel daran, ihre Neigung zu gewinnen, und es machte mir große Freude, daß ich ihr gefiel, warum sollte ich mich nachher mit wirklichem Schmerz und Leid über jedes ihrer Worte zergrübeln und es aber- und abermals auf der Goldwaage abwägen ? Warum war es mir so peinlich, sie als Gast bei uns zu haben und jeden Abend mit ihrem Vertrauen beschenkt zu werden? Das waren Verwicklungen und Widersprüche, die ich mir nicht erklären konnte. Wenigstens, wenn ich’s gekonnt hätte… Aber ich werde nach und nach alles erzählen, und es ist ganz überflüssig, jetzt sich damit abzugeben.

Es tat mir wirklich ehrlich leid, als Mrs. Woodcourt uns verließ, aber ich fühlte mich zugleich wie befreit. Und dann besuchte uns Caddy Jellyby und brachte einen solchen Stoß häuslicher Neuigkeiten mit, daß wir reichlich beschäftigt waren.

Erstens erklärte Caddy, und wollte anfangs überhaupt nichts anderes erzählen, daß ich die beste Ratgeberin von der Welt sei. Mein Liebling meinte, das sei durchaus nichts Neues, und ich sagte natürlich, es sei Unsinn. Dann teilte uns Caddy mit, daß sie sich nächsten Monat verheiraten werde und sich für das glücklichste Mädchen unter der Sonne halte, wenn Ada und ich ihre Brautjungfern sein wollten. Das war allerdings eine große Neuigkeit, und ich glaube, wir hätten am liebsten nie aufgehört, darüber zu reden, soviel hatte Caddy uns und wir ihr zu erzählen.

Wie es schien, war Caddys unglücklicher Vater dank der Nachsicht und der mitleidigen Teilnahme aller seiner Gläubiger durch den Bankrott »hindurchgerutscht«, wie Caddy sich ausdrückte – als ob es ein Tunnel wäre –, und war auf irgendeine segensreiche Weise seine Angelegenheiten losgeworden, ohne jemals Einsicht in sie erlangt zu haben. Er hatte alles, was er besaß – nach dem Zustand der Möbel zu urteilen, konnte das nicht sehr viel gewesen sein –, hergegeben und jedem Gläubiger nachgewiesen, daß er nicht mehr tun könne. Der Arme. So hatte man ihm in Ehren seine Schulden erlassen und ihn seinem Bureau zurückgegeben, damit er das Leben von neuem beginne. Was er in seinem Bureau eigentlich tat, habe ich nie erfahren. Caddy sagte, er sei Zollhaus- und Generalagent, und das einzige, was ich jemals von diesem Geschäft erfuhr, war, daß er immer in die Docks ging, wenn er Geld noch notwendiger als gewöhnlich brauchte, um welches auf zutreiben, daß es ihm aber kaum jemals gelang.

Sobald er ein solch geschorenes Lamm geworden und damit seine Seelenruhe verhältnismäßig wieder gewonnen hatte und die Familie in eine möblierte Wohnung in Hatton-Garden übersiedelt war, wo ich bei einem spätem Besuch die Kinder beschäftigt fand, das Roßhaar aus den Stuhlsitzen zu schneiden, um sich gegenseitig damit den Mund zu verstopfen, brachte Caddy zwischen ihm und dem alten Mr. Turveydrop eine Zusammenkunft zustande, und der arme Mr. Jellyby hatte sich in seiner Demut und Bescheidenheit vor Mr. Turveydrops Allüren so unterwürfig gebeugt, daß sie vortreffliche Freunde geworden waren. Der alte Mr. Turveydrop, auf diese Weise mit dem Gedanken an seines Sohnes Verheiratung vertraut gemacht, hatte allmählich seine väterlichen Gefühle bis zu der Höhe gesteigert, daß er sich das Ereignis als nahe bevorstehend denken konnte und dem jungen Paare seine gnädige Erlaubnis erteilte, in der Akademie der Newmanstreet zu wirtschaften anzufangen, sobald sie wollten.

»Und dein Papa, Caddy? Was sagt er dazu?«

»Ach, der arme Papa weinte nur und sagte, er hoffe, wir würden glücklicher miteinander sein als er und Ma. Er sagte das nicht vor Prince, sondern bloß zu mir und setzte hinzu: ‚Mein armes Kind, man hat dich zu Hause nicht besonders gut unterwiesen, wie du deinem Gatten eine Häuslichkeit bereiten sollst, aber wenn du nicht mit ganzem Herzen bestrebt bist, es zu tun, so ermorde ihn lieber, als daß du ihn heiratest, wenn du ihn wirklich gern hast.’«

»Und hast du ihn beruhigt, Caddy?«

»Ach, es war natürlich sehr schmerzlich, den armen Papa so niedergeschlagen zu sehen und ihn so schreckliche Dinge sagen zu hören, und ich mußte selbst mitweinen. Ich sagte ihm, daß es mein aufrichtigster Herzenswunsch sei und daß ich hoffte, unser Haus werde für ihn ein Ort werden, wo er des Abends eine gemütliche Umgebung finden könnte, und daß ich hoffte und glaubte, ich werde ihm dort eine bessere Tochter sein können als daheim. Dann erwähnte ich, daß Peepy zu mir kommen würde, und da fing Papa wieder an zu weinen und sagte, die Kinder wären Indianer.«

»Indianer, Caddy?«

»Ja, wilde Indianer. Und Papa sagte, er sehe ein, das Beste, was ihnen geschehen könnte, wäre, wenn man sie allesamt mit dem Tomahawk erschlüge.«

Ada meinte, es sei ein Trost, zu wissen, daß es Mr. Jellyby mit seinen Zerstörungsgelüsten nicht ernst sei.

»Natürlich weiß ich, daß Papa nicht wünscht, seine Familie sich in ihrem Blut wälzen zu sehen«, sagte Caddy. »Aber er meint, daß es ein Unglück für die Kinder ist, eine solche Mutter zu haben, und ein Unglück für ihn, Mas Gatte zu sein. Und das ist gewiß wahr, wenn es auch unnatürlich klingt, daß ich es bestätige.«

Ich fragte Caddy, ob Mrs. Jellyby wisse, daß der Hochzeitstag bereits festgesetzt sei.

»Ach, du weißt, wie Ma ist, Esther«, antwortete sie. »Es ist rein unmöglich zu sagen, ob sie es weiß oder nicht. Man hat es ihr oft genug erzählt, aber so oft man darauf zu sprechen kommt, wirft sie nur einen friedlichen Blick auf mich, als wäre ich – ich weiß nicht was – ein Kirchturm in der Ferne. Und dann schüttelt sie den Kopf und sagt: ‚O Caddy, o Caddy, wie du mich quälst!‘ und arbeitet an ihren Borriobula-Briefen weiter.«

»Und wie steht’s mit deiner Garderobe, Caddy?« – Sie brauchte sich uns gegenüber ja nicht zu genieren. –

»Ach, liebe Esther«, entgegnete sie und trocknete sich die Augen, »ich muß es machen, so gut ich kann, und meinem lieben Prince vertrauen, er werde nie unfreundlich daran zurückdenken, daß ich so schäbig zu ihm gekommen bin. Wenn es sich um eine Ausstattung für Borriobula-Gha handelte, so würde Ma alles ganz genau wissen und im höchsten Grad aufgeregt darüber sein. Aber so weiß sie nichts und kümmert sich um nichts.«

Es fehlte Caddy durchaus nicht an natürlicher Liebe zu ihrer Mutter, und sie erwähnte nur die nackte Tatsache mit Tränen in den Augen. Uns tat das arme gute Mädchen so leid, und wir mußten ihre gute natürliche Veranlagung, die trotz so entmutigender Verhältnisse nicht zugrunde gegangen war, so bewundern, daß wir beide zugleich, nämlich Ada und ich, einen kleinen Plan in Vorschlag brachten, der Caddy in größte Freude versetzte. Er bestand darin, daß sie uns auf drei Wochen und ich sie auf eine Woche besuchen sollte und daß wir uns alle drei bemühen wollten, durch Schneidern, Ausbessern, Nähen und dergleichen unser möglichstes für ihre Garderobe zu tun.

Da mein Vormund sich über den Plan ebenso freute wie Caddy, begleiteten wir sie der nötigen Vorbereitungen wegen am nächsten Tag schon nach London und brachten sie im Triumph mit ihren Schachteln und all den Einkäufen für eine Zehnpfundnote, die Mr. Jellyby vermutlich in den Docks gefunden hatte, ihr aber jedenfalls schenkte, zurück.

Was mein Vormund ihr erst alles geschenkt hätte, wenn wir ihn dazu aufgemuntert hätten, wäre schwer zu sagen, aber wir hielten es für recht, ihm nicht mehr als ein Hochzeitskleid und einen Hut zu gestatten. Er ging auf den Vergleich ein, und Caddy war überglücklich, als wir uns zur Arbeit hinsetzten.

Sie war anfangs ungeschickt genug mit der Nadel, das arme Kind, und stach sich jetzt so oft in die Finger, wie sie sich früher mit Tinte beschmiert hatte. Sie wurde dann meistens ein wenig rot, teils vor Schmerz, teils aus Verdruß über ihre Ungeschicklichkeit, gewöhnte sich das aber bald ab und machte rasche Fortschritte. So saßen sie und mein Liebling, meine kleine Zofe Charley und eine Putzmacherin aus der Stadt und ich Tag für Tag in eifriger Arbeit und so gemütlich wie möglich beisammen.

Außerdem war Caddy sehr besorgt, »wirtschaften zu lernen«, wie sie es nannte. Nun war aber, gütiger Himmel, der Gedanke, sie könnte von einer Person von meiner unermeßlichen Erfahrung wirtschaften lernen, ein solcher Spaß, daß ich lachte und rot wurde und über ihren Vorschlag in Verlegenheit geriet. Ich sagte: »Caddy, gewiß will ich dich alles lehren, was du von mir lernen kannst, liebes Kind«, und ich zeigte ihr alle meine Bücher und Methoden und alle meine kleinen Einrichtungen. Wie sie zuhörte und zusah, hätte man meinen können, ich offenbarte ihr die wundervollsten Erfindungen, und wer sie hätte jedes Mal aufstehen und mit mir kommen sehen, so oft ich mit meinen Wirtschaftsschlüsseln klingelte, hätte gewiß gedacht, daß es nie einen größeren Charlatan gegeben als mich und einen blindem Anhänger als Caddy Jellyby.

So vergingen mit Arbeiten und Wirtschaften, Unterrichtsstunden für Charley und dem Pochbrettspielen abends mit meinem Vormund und Duetten mit Ada die drei Wochen schnell genug. Dann begleitete ich Caddy nach Hause, um zu sehen, was sich dort tun lasse, und Ada und Charley blieben zurück, um für meinen Vormund zu sorgen.

Wenn ich sage, ich begleitete Caddy nach Hause, so meine ich damit die möblierte Wohnung in Hatton-Garden. Wir gingen zwei oder drei Mal nach Newmanstreet, wo ebenfalls allerlei Vorbereitungen im Gange waren. Ziemlich viel, wie ich bemerkte, um die Behaglichkeit des alten Mr. Turveydrop zu vermehren, und einige wenige, um das junge Paar billig im obersten Stock des Hauses unterzubringen. Unser Hauptziel jedoch war, die möblierte Wohnung für das Hochzeitsfrühstück anständig herzurichten und Mrs. Jellyby vorher ein schwaches Bewußtsein von der kommenden Feier einzuimpfen.

Letzteres war das schwerste von beiden, weil Mrs. Jellyby und ein kränklicher, blasser Knabe das vordere Wohnzimmer inne hatten – das rückwärtige war bloß eine Kammer. Der Fußboden war mit einer dichten Schicht von Papierfetzen und Borriobula-Dokumenten bedeckt wie ein liederlich gehaltner Stall mit Streu. Mrs. Jellyby saß hier den ganzen Tag, trank starken Kaffee, diktierte und hielt Borriobula-Konferenzen ab. Der kränkliche blasse Knabe, der im ersten Stadium der Schwindsucht zu stehen schien, aß außer Hause.

Wenn Mr. Jellyby heim kam, stöhnte er gewöhnlich und ging hinab in die Küche. Dort bekam er etwas zu essen, wenn die Köchin ihm etwas gab, und dann fühlte er, daß er im Wege war, und ging draußen in der Nässe in Hatton-Garden spazieren. Die armen Kinder kletterten und purzelten im Hause herum, wie sie es von jeher gewohnt gewesen.

Die armen kleinen Opfer in der kurzen Frist einer Woche in einen nur irgend präsentablen Zustand zu versetzen, war einfach unmöglich, und ich schlug Caddy daher vor, sie an ihrem Hochzeitsmorgen in der Dachkammer – wo sie alle schliefen – so glücklich wie möglich zu machen und unser Hauptaugenmerk auf ihre Mama und deren Zimmer und die Vorbereitungen für ein reinliches Hochzeitsfrühstück zu beschränken. Wirklich erforderte Mrs. Jellyby ziemlich viel Aufmerksamkeit, denn das Gitterwerk auf ihrem Rücken hatte sich seit dem Tag unsrer ersten Bekanntschaft erheblich vergrößert und ihr Haar sah aus wie die Mähne eines Kehrichtwagenpferdes. Da mir eine allgemeine Besichtigung von Caddys Garderobe das beste Mittel zu sein schien, mich dem Thema auf Schleichwegen zu nähern, lud ich Mrs. Jellyby eines Abends, als der kränkliche Knabe fortgegangen war, ein, sich die Sachen, die auf Caddys Bett ausgebreitet waren, anzusehen.

»Meine liebe Miß Summerson«, sagte sie und stand mit ihrer gewohnten freundlichen Gelassenheit vom Schreibtisch auf, »das sind wahrhaft lächerliche Vorbereitungen, wenn es auch ein Beweis Ihrer Güte ist, daß Sie sich so sehr darum bemühen. Es liegt für mich etwas unaussprechlich Absurdes in dem Gedanken, daß Caddy heiratet. O Caddy, du törichtes, törichtes, törichtes Gänschen!«

Nichtsdestoweniger begleitete sie mich hinauf und besah sich die Kleider in ihrer gewohnten geistesabwesenden Art. Sie gaben ihr sogar einen bestimmten Gedanken ein, denn sie sagte mit ihrem friedlichen Lächeln kopfschüttelnd: »Meine gute Miß Summerson, mit dem halben Gelde hätte man ein Kind für Afrika ausstatten können.«

Wir gingen dann wieder hinunter, und Mrs. Jellyby fragte mich, ob das störende Geschäft des Heiratens wirklich nächsten Mittwoch stattfinden sollte. Als ich bejahte, sagte sie: »Wird man mein Zimmer brauchen, liebe Miß Summerson? Es ist mir ganz unmöglich, meine Papiere wegzuschaffen.«

Ich nahm mir die Freiheit, zu bemerken, daß wir das Zimmer jedenfalls brauchen würden und die Papiere irgendwohin schaffen müßten.

»Nun, Sie müssen es am besten wissen, liebe Miß Summerson«, sagte Mrs. Jellyby. »Aber dadurch, daß mich Caddy genötigt hat, einen Knaben aufzunehmen, hat sie mich bei meiner Überbürdung mit Geschäften für das öffentliche Wohl so in Verlegenheit gebracht, daß ich nicht weiß, wohin ich mich wenden soll. Wir haben überdies Mittwoch nachmittag Zweigvereinsversammlung, und die Störung durch die Hochzeit kommt daher recht ungelegen.

»Es wird so leicht nicht wieder vorkommen«, tröstete ich sie lächelnd. »Caddy wird sich wahrscheinlich nur ein Mal verheiraten.«

»Das ist richtig«, gab Mrs. Jellyby zu. »Das ist richtig, liebes Kind. Wir müssen uns also wohl, so gut es eben geht, hinein schicken.«

Die nächste Frage war, was Mrs. Jellyby zu der Feierlichkeit anziehen sollte. Es war so seltsam, wie sie von ihrem Schreibtisch herüber uns so heiter und ruhig anblickte, während Caddy und ich darüber zu Rate gingen, und gelegentlich mit einem vorwurfsvollen Lächeln den Kopf schüttelte wie ein überlegner Geist, der langmütig solche Tändeleien duldet.

Der Zustand, in dem sich ihre Kleider befanden, und das außerordentliche Durcheinander, in dem sie sie aufbewahrte, vermehrten nicht wenig die Schwierigkeit unsres Unternehmens. Aber schließlich brachten wir doch etwas zustande, was dem, was eine Durchschnittsmutter bei einer solchen Veranlassung getragen haben würde, nicht direkt unähnlich sah.

Die Geistesabwesenheit, mit der Mrs. Jellyby sich ihr Kleid von der Putzmacherin anprobieren ließ, und die Freundlichkeit, mit der sie sodann zu mir äußerte, wie leid es ihr tue, daß ich meine Gedanken nicht lieber Afrika gewidmet habe, paßten so recht zu ihrem ganzen übrigen Benehmen.

Die Wohnung war hinsichtlich Raum ziemlich beschränkt; aber ich glaube, die St. Pauls- oder St. Peterskirche in ihrer ganzen gewaltigen Größe hätte für Mrs. Jellybys Haushalt höchstens auch nur dazu ausgereicht, um darin mehr Schmutz entfalten zu können. Ich glaube nicht, daß irgend etwas überhaupt Zerbrechliches aus dem Familienbesitz zur Zeit dieser Hochzeitsvorbereitungen noch nicht zerbrochen war. Nichts, was irgendwie verderben konnte, war unverdorben. Kein häuslicher Gegenstand, vom Knie eines lieben Kindes an bis zu einem Türschild, der überhaupt schmutzig werden konnte, war ohne soviel Schmutz, als sich nach physikalischen Gesetzen darauf ansammeln konnte.

Der arme Mr. Jellyby, der sehr selten sprach und zu Hause fast stets mit dem Kopf an die Wand gelehnt dasaß, faßte ein lebhaftes Interesse, als er Caddy und mich bemüht sah, einigermaßen Ordnung inmitten dieser Verwirrung und Zerrüttung herzustellen, und zog seinen Rock aus, um mitzuhelfen. Aber so wunderbare Dinge kamen in den Schränken zum Vorschein –verschimmelte Stückchen von Pasteten, versäuerte Flaschen, Mrs. Jellybys Mützen, Briefe, Tee, Gabeln, einzelne Kinderstiefel und Schuhe, Unterzünder, Oblaten, Topfdeckel, naßgewordner Zucker in einer Anzahl Papiertüten, Fußschemelbestandteile, Stiefelbürsten, Brot, Damenhüte, Bücher, auf deren Einband Butter klebte, – Lichtstümpfe, die man verkehrt in zerbrochne Leuchter gesteckt hatte, um sie auszulöschen, – Nußschalen, Köpfe und Schwänze von Krebsen, Tischdecken, Handschuhe, Kaffeesatz, Regenschirme –, daß er ein erschrockenes Gesicht machte und es aufgab. Aber regelmäßig kam er jeden Abend herein und setzte sich in Hemdsärmeln, den Kopf an die Wand gelehnt, hin, als hätte er uns gern geholfen und wüßte nur nicht, wie.

»Armer Papa«, sagte Caddy am Abend vor dem großen Tag zu mir, als wirklich ein wenig Ordnung hergestellt war. »Es ist eigentlich grausam, ihn zu verlassen, Esther. Aber was könnte ich tun, wenn ich bliebe? Seit ich dich kennen gelernt habe, habe ich immer und immer wieder aufgeräumt und geputzt, aber es half nichts. Ma vereint mit Afrika stellt das ganze Haus auf den Kopf. Wir haben nie einen Dienstboten, der nicht tränke. Ma verdirbt alles.«

Mr. Jellyby konnte nicht gehört haben, was sie sagte, aber er war sehr niedergeschlagen und weinte, wie mir schien.

»Mir tut das Herz weh, wenn ich an ihn denke, wahrhaftig!« schluchzte Caddy. »Ich kann mich heute abend des Gedankens nicht erwehren, wo ich doch von ganzer Seele hoffe, mit Prince glücklich zu werden, daß gewiß auch Papa einst wähnte, mit Ma glücklich zu sein. Was für ein Leben voller Enttäuschungen!«

»Meine liebe Caddy«, sagte Mr. Jellyby und kehrte uns langsam sein Gesicht von der Wand her zu. Ich glaube, es war das erste Mal, daß ich drei zusammenhängende Worte von ihm hörte.

»Ja, Papa?« rief Caddy, ging zu ihm hin und umarmte ihn liebreich.

»Meine liebe Caddy, nimm niemals…«

»Niemals Prince, Pa?« stotterte Caddy. »Niemals…«

»Doch, liebes Kind«, sagte Mr. Jellyby. »Nimm ihn jedenfalls. Aber nimm niemals…«

Ich erinnerte mich, daß schon bei unserm ersten Besuch in Thavies Inn Richard von Mr. Jellyby behauptet hatte, er pflege häufig den Mund aufzumachen, ohne etwas zu sagen. Es war wirklich seine Gewohnheit. Er machte jetzt viele Male den Mund auf und schüttelte trübsinnig den Kopf.

»Was soll ich niemals nehmen, was denn, lieber Papa?« fragte Caddy und hing liebkosend an seinem Hals.

»Nimm nie eine Mission auf dich, mein liebes Kind.«

Er stöhnte und lehnte den Kopf wieder an die Wand. Es war das erste Mal, daß ich von ihm eine Meinungsäußerung über die Borriobula-Frage hörte. Ich glaube, er muß in früheren Zeiten gesprächig und lebhaft gewesen sein, aber er schien es lange, bevor ich ihn kennen lernte, ganz und gar aufgegeben zu haben.

Ich glaubte, Mrs. Jellyby wollte diese Nacht überhaupt nicht aufhören, mit heiter ruhigem Blick ihre Papiere durchzusehen und dabei Kaffee zu trinken. Es schlug zwölf Uhr, ehe wir von dem Zimmer Besitz ergreifen konnten, und das Aufräumen war so entmutigend, daß Caddy, sowieso schon ganz erschöpft, sich mitten in den Staub hinsetzte und weinte. Aber sie wurde bald wieder fröhlich, und wir verrichteten wahre Wunder in der Stube, ehe wir zu Bett gingen.

Des Morgens früh sah es mit Hilfe einiger Blumen, eines großen Aufwandes von Seife und Wasser und ein bißchen Aufräumens ganz freundlich aus. Der einfache Frühstückstisch nahm sich recht hübsch aus, und Caddy war wirklich entzückend. Aber als mein Liebling kam, glaubte ich und glaube es noch jetzt, noch nie etwas Schöneres als Ada gesehen zu haben.

Für die Kinder machten wir ein kleines Festmahl zurecht, übergaben Peepy den Vorsitz an der Tafel und zeigten ihnen Caddy in ihrem Brautkleid. Und sie klatschten in die Hände und riefen: »Hurra!« Nur Caddy weinte bei dem Gedanken, sie jetzt verlassen zu müssen, und drückte sie immer und immer wieder ans Herz, bis wir Prince heraufkommen ließen, um sie abzuholen. Leider, wie ich gestehen muß, biß ihn Peepy bei dieser Gelegenheit.

Unten fanden wir den alten Mr. Turveydrop in unbeschreiblich vornehmer Haltung. Er segnete Caddy huldreich und gab meinem Vormund zu verstehen, daß seines Sohnes Glück sein väterliches Werk sei und er persönliche Rücksichten ganz aus dem Spiel lasse, um es zu sichern.

»Wertgeschätzter Herr«, sagte er, »die jungen Leute werden bei mir wohnen. Mein Haus ist groß genug für sie. Und es soll ihnen nicht an Schutz und Obdach unter meinem Dache fehlen. Ich hätte es gerne gesehen – Sie werden die Andeutung verstehen, Mr. Jarndyce, denn Sie erinnern sich noch meines hohen Gönners, des Prinzregenten –, ich hätte es gerne gesehen, daß mein Sohn in eine Familie mit vornehmeren Allüren geheiratet hätte, aber der Wille des Himmels geschehe!«

Mr. und Mrs. Pardiggle waren ebenfalls eingeladen. – Mr. Pardiggle, ein eigensinnig aussehender Mann mit einer langen Weste und struppigem Haar, sprach beständig mit tiefer Baßstimme von seinem Scherflein, Mrs. Pardiggles Scherflein und seiner fünf Knaben Scherflein. Mr. Quale, das Haar wie gewöhnlich zurückgebürstet und die Beulen an den Schläfen glänzend wie immer, war gleichfalls gekommen, nicht als enttäuschter Liebhaber, sondern als Erklärter einer jungen – besser gesagt, unverheirateten – Dame, einer gewissen Miß Wisk. Miß Wisks Mission war, der Welt zu zeigen, daß die Mission des Weibes die Mission des Mannes sei und daß die einzig echte Mission von Mann und Weib sei, in öffentlichen Versammlungen über allgemeine Grundsätze rastlos erklärende Behauptungen aufzustellen.

Es waren nur wenig Gäste, aber sie widmeten sich sämtlich, wie man nicht anders erwarten konnte, der öffentlichen Wohlfahrt. Außer den bereits erwähnten war eine außerordentlich schmutzige Dame anwesend mit ganz schiefem Hut, den Preiszettel noch am Kleid, deren Haus, wie mir Caddy erzählte, die reinste Wildnis sei. Ein sehr streitsüchtiger Herr, dessen Mission, wie er sagte, war, jedermanns Bruder zu sein, was ihn aber nicht hinderte, mit seiner ganzen großen Weltfamilie auf gespanntem Fuß zu stehen, vervollständigte die Gesellschaft. Eine weniger zu einer solchen Festlichkeit passende Gästeschar hätte selbst das größte Genie nicht zusammenstellen können. Eine so gewöhnliche Mission wie die Mission der Häuslichkeit war das allerletzte, was sie hätten ertragen können, und Miß Wisk äußerte mit größter Empörung vor dem Frühstück, daß die Zumutung, die Mission des Weibes läge hauptsächlich in der engen Sphäre der Häuslichkeit, eine niederträchtige Herabwürdigung von seiten der Tyrannen, nämlich der Männer, bedeute. Eine andre Eigentümlichkeit war, daß kein mit einer Mission behafteter – außer Mr. Quale, dessen Mission, wie bereits früher erwähnt, war, von der anderer begeistert zu sein – sich auch nur im mindesten um die Mission seines Nebenmenschen bekümmerte.

Mrs. Pardiggle war genau so davon durchdrungen, daß der einzig unfehlbare Beruf der ihre sei, über Arme herzufallen und ihnen Wohltaten zu applizieren wie eine Zwangsjacke, wie Miß Wisk überzeugt war, daß das einzig richtige für die Welt die Emanzipation der Frau von dem Joche ihres Tyrannen, des Mannes, sei. Mrs. Jellyby lächelte die ganze Zeit über die Beschränktheit eines Blickes, der etwas anderes als Borriobula-Gha sehen konnte.

Aber ich spreche schon von unsrer Unterhaltung auf der Heimfahrt.

Vorher gingen wir alle in die Kirche, und Mr. Jellyby gab Caddy das Geleit. Von der Grazie, mit der der alte Mr. Turveydrop seinen Zylinder unter dem linken Arm trug, das Innere dem Geistlichen wie eine Kanonenmündung zugekehrt, und mit Augen, die fast unter seiner Perücke verschwanden, steif und hochschultrig während der Feierlichkeit hinter uns Brautjungfern stand und uns nachher küßte, werde ich nie entsprechend schildern können. Miß Wisk, von der ich nicht behaupten kann, daß ihr Äußeres besonders anziehend gewesen wäre, hörte der Zeremonie als einem neuen Beweis der Sklaverei des Weibes mit verachtungsvoller Miene zu. Mrs. Jellyby mit ihrem ruhigen Lächeln und ihren heitern Augen war sichtlich die Unbeteiligste von der ganzen Gesellschaft.

Wir fuhren zum Frühstück wieder in die Wohnung zurück, und Mr. und Mrs. Jellyby setzten sich an die beiden Schmalenden der Tafel. Caddy hatte sich vorher hinauf geschlichen, um die Kinder nochmals zu umarmen und ihnen zu sagen, sie heiße jetzt Turveydrop. Aber diese Nachricht verursachte Peepy, anstatt auf ihn wohltätig zu wirken, einen derartigen Schmerz, daß er sich auf den Rücken warf und mit den Beinen strampelte. Als man mich zu Hilfe holte, konnte ich auch nichts weiter tun, als dem Vorschlag, ihn mit zur Frühstückstafel zu nehmen, beizustimmen. So kam er denn herunter und setzte sich auf meinen Schoß, und Mrs. Jellyby war, nachdem sie in bezug auf den Zustand seines Lätzchens gesagt hatte: »Du nichtsnutziger Peepy, was für ein abscheuliches kleines Schwein du bist!« nicht im mindesten aus der Fassung gebracht. Er benahm sich im allgemeinen sehr gut, nur bestand er darauf, daß er den Noah – aus seiner Arche, die ich ihm vor dem Kirchgang gekauft – in die Weingläser tunken und dann in den Mund stecken durfte.

Mein Vormund verstand es mit seiner guten Laune, seinem feinen Takt und seinem liebenswürdigen Benehmen, selbst aus der ungemütlichsten Gesellschaft etwas Angenehmes zu machen. Keiner der Gäste schien von etwas anderm als von seiner eignen Mission sprechen zu können, aber mein Vormund wußte alles in heiterer Weise zu Ehren der Feier und zur Aufmunterung Caddys zu drehen und steuerte uns sicher durch die Gefahren des Frühstücks. Was wir ohne ihn gemacht hätten, fürchte ich mich fast auszudenken, denn da jeder auf Braut und Bräutigam von oben herabsah und sich der alte Mr. Turveydrop infolge seines vornehmen Anstandes und seiner Allüren der ganzen Gesellschaft unendlich überlegen hielt, war es ein geradezu verzweifelter Fall.

Endlich kam die Zeit, wo die arme Caddy Abschied nehmen mußte und ihr ganzes Hab und Gut auf den gemieteten Zweispänner, der sie und ihren Gatten nach Gravesend bringen sollte, gepackt wurde.

Es war rührend, wie sie sich jetzt gar nicht von dem Vaterhaus, das ihr so jämmerlich wenig geboten, trennen konnte und mit der größten Zärtlichkeit am Halse der Mutter hing.

»Es tut mir so leid, daß ich nicht länger diktando schreiben konnte, Ma«, schluchzte sie. »Ich hoffe, du verzeihst mir jetzt.«

»Ach Caddy, Caddy«, seufzte Mrs. Jellyby. »Ich habe dir doch oft genug gesagt, daß ich einen Knaben aufgenommen habe, und damit ist’s abgemacht.«

»Bist du auch ganz gewiß nicht ein bißchen böse mehr auf mich, Ma? Sage, daß du’s nicht bist, ehe ich weggehe, Ma!«

»Du närrische Caddy«, entgegnete Mrs. Jellyby. »Sehe ich böse aus oder neige ich überhaupt zum Bösesein? Oder habe ich Zeit dazu?«

»Gib ein bißchen auf Papa acht, wenn ich fort bin, Ma!«

Mrs. Jellyby lachte geradezu über diesen Einfall. »Du romantisches Kind!« sagte sie und klopfte Caddy auf den Rücken. »Geh nur. Es liegt nicht der geringste Schatten zwischen uns. Jetzt leb wohl, Caddy, und sei recht glücklich.«

Dann umarmte Caddy ihren Vater und legte seine Wange an ihre, als wäre er ein krankes Kind, und konnte sich gar nicht von ihm losreißen.

Alles dies spielte sich in der Vorhalle ab. Der Vater ließ sie los, zog sein Taschentuch heraus, setzte sich auf die Treppe und lehnte den Kopf an die Wand. Ich hoffe, daß ihn das einigermaßen getröstet hat. Ich glaube es sogar.

Und dann nahm Prince ihren Arm und wandte sich in großer Ergriffenheit und Verehrung zu seinem Vater, dessen Anstand und Allüren in diesem Augenblick sich in geradezu überwältigender Weise entfalteten.

»Ich danke dir aber- und abermals, Vater«, sagte Prince und küßte ihm die Hand. »Ich bin dir unendlich dankbar für all deine Güte und deine Rücksicht betreffs unsrer Heirat. Und dasselbe, kann ich dir versichern, fühlt auch Caddy.«

»Sehr«, schluchzte Caddy, »seh-e-r.«

»Mein lieber Sohn«, antwortete Mr. Turveydrop, »und du, meine liebe Tochter, ich habe meine Pflicht getan. Wenn der Geist der Verewigten über uns schwebt und jetzt herabblickt, so ist das und eure beständige Liebe mein Dank, mein Sohn. Ihr werdet euere Pflicht, mein Sohn und meine Tochter, doch niemals vergessen?«

»Teurer Vater, nie!« rief Prince.

»Nie, nie, lieber Mr. Turveydrop!« beteuerte auch Caddy.

»So sei es! Meine Kinder, mein Haus gehört euch, mein Herz ist euer. Und alles, was mein ist. Ich will euch nie verlassen, und nur der Tod soll uns scheiden. Mein lieber Sohn, gedenkst du wirklich, eine ganze Woche wegzubleiben?«

»Eine Woche, lieber Vater. Wir kommen heute über acht Tage wieder nach Hause.«

»Mein liebes Kind, ich muß dir selbst unter den gegenwärtigen Ausnahmeverhältnissen strengste Pünktlichkeit empfehlen. Es ist von höchster Wichtigkeit, mit der Kundschaft in Fühlung zu bleiben. Wenn man Schulen auch nur im mindesten vernachlässigt, so rächt sich das leicht.«

»Heute über acht Tage, Vater, sind wir gewiß zum Mittagessen wieder zu Hause.«

»Gut«, sagte Mr. Turveydrop. »Euer Zimmer wird geheizt sein, liebe Caroline, und das Essen in meinem eignen Appartement bereit stehen. Ja, ja, Prince«, kam er einem bescheidnen Einwand von Seiten seines Sohns mit einer großartigen Geste zuvor, »Du und unsre Caroline werden sich im obern Teil des Hauses noch nicht heimisch fühlen, und ich will deshalb, daß ihr für diesen Tag in meinem Appartement diniert. Und nun behüt euch Gott!«

Sie fuhren fort. Ob ich mich mehr über Mrs. Jellyby oder über Mr. Turveydrop wundern sollte, wußte ich nicht. Mein Vormund und Ada sprachen darüber, und es ging ihnen ebenso.

Ehe wir uns empfahlen, machte mir Mr. Jellyby ein höchst unerwartetes und beredtes Kompliment. Er kam im Vorzimmer auf mich zu, ergriff meine beiden Hände, drückte sie und machte zwei Mal den Mund auf und zu.

Ich wußte so genau, was er meinte, daß ich ganz verlegen abwehrte: »Bitte, sprechen Sie nicht davon, Sir.«

»Ich hoffe, diese Heirat fällt gut aus, Vormund«, sagte ich, als wir drei nach Hause fuhren.

»Ich hoffe, Mütterchen! Geduld. Wir werden sehen!«

»Ist heute Ostwind?« wagte ich zu fragen.

Er lachte herzlich und verneinte.

»Aber diesen Morgen muß Ostwind gewesen sein, glaube ich?«

Er verneinte wieder, und dieses Mal sagte auch mein Liebling ganz zuversichtlich nein und schüttelte das hübsche Köpfchen, das mit den Blumen in dem blonden Haar wie der Lenz selbst aussah.

»Was weißt du denn von Ostwind, mein häßlicher Liebling«, sagte ich und mußte sie in meiner Bewunderung küssen – ich konnte mir nicht helfen.

Ach, ich weiß gar wohl, daß nur die Liebe der beiden zu mir die Ursache war, daß sie mir das sagten. Ich muß es hinschreiben, selbst wenn ich es wieder ausstreichen sollte, weil es mir soviel Freude macht: Sie sagten mir, es könne kein Ostwind sein, wo ein gewisser Jemand sei. Wo Mütterchen Hubbart sei, da sei Sonnenschein und Sommerluft.