39. Kapitel


39. Kapitel

Advokat und Klient

Der Name »Mr. Vholes« unter der Überschrift »Parterre« ist an einem Türpfeiler von Symond’s-Inn in Chancery-Lane zu lesen. Es ist ein kleines, blasses, halbblindes, gramgebeugtes Inn und sieht wie ein großer Aschenkasten mit zwei Fächern und einem Sieb aus. Vielleicht ist Symond seinerzeit ein sparsamer Mann gewesen und hat sein altes Inn aus Baumaterialien errichtet, die eine Vorliebe für Schwamm, Schmutz und andre modrige faule Sachen hatten und jetzt Symonds Gedächtnis mit seelenverwandter Schäbigkeit bewahren. In die Tafelquadrate dieses verrosteten Erinnerungsschildes an Symond ist jetzt auch das juristische Wappen Mr. Vholes aufgenommen.

Mr. Vholes‘ Kanzlei, zurückgezogen gelegen und von ebensolchem Aussehen, ist in eine Ecke gequetscht und schielt eine kahle Mauer an. Drei Fuß astlöcherdurchflochtne Dielen bringen den Klienten durch einen finstern Gang nach Mr. Vholes‘ pechschwarzer Tür in einer selbst an den hellsten Sommermorgen stockfinstern Ecke mit einem dunkeln Vorbau an einer Kellertreppe, gegen den Klienten, wenn sie in Eile sind, meistens mit dem Kopf anzurennen pflegen.

Mr. Vholes‘ Kanzleizimmer sind so klein bemessen, daß ein Schreiber die Tür öffnen kann, ohne vom Stuhl hinunterzusteigen, und sein Nachbar an demselben Pult in gleicher Weise das Feuer zu schüren imstande ist. Ein Geruch wie von kranken Schafen, vermischt mit Moder- und Staubgeruch, liegt in der Luft und rührt von dem allabendlichen Verbrauch von Hammeltalg, in Form von Kerzen, und dem Hin- und Herschieben von Pergamentakten in schmierigen Schubladen her. Aber auch sonst ist die Luft dumpf und verdorben.

Die Zimmer sind seit Menschengedenken nicht mehr gemalt oder geweißt worden, die zwei Kamine rauchen, und alles ist mit einer lockeren Rußschicht überzogen. Die blinden zersprungnen Fenster in ihren plumpen Rahmen haben nichts als den Willen miteinander gemein, beständig schmutzig zu sein und immerwährend zuzufallen, wenn man sie nicht gewaltsam offen hält. Das erklärt auch das Phänomen, daß dem schwächeren der beiden Fenster gewöhnlich bei warmem Wetter ein Scheit Brennholz zwischen die Zähne gesteckt ist.

Mr. Vholes ist ein höchst respektabler Mann. Er hat kein großes Geschäft, aber er ist ein sehr respektabler Mann.

Die größeren Anwälte, die sich bereits ein bedeutendes Vermögen erworben haben oder noch erwerben, geben einstimmig zu, daß er ein sehr respektabler Mann sei. Er läßt nie eine Chance in seiner Praxis ungenützt vorübergehen, und das ist doch gewiß ein Zeichen von Respektabilität. Er leistet sich nie ein Vergnügen, und das ist schon wieder ein Zeichen von Respektabilität. Er ist schweigsam und ernst, und das ist abermals ein Zeichen von Respektabilität. Seine Verdauung hat gelitten, und das ist höchst respektabel. Er macht für seine drei Töchter Heu aus lebendigem Fleisch, und sein Vater im Tal von Taunton wird von ihm unterstützt.

Das erste Prinzip der englischen Justiz ist, für sich selbst Geschäfte zu machen. In all ihren engen verschlungenen Pfaden ist kein andres Prinzip so bestimmt, sicher und konsequent durchgeführt. Sieht man sie in diesem Lichte an, so wird sie sofort ein zusammenhängendes Ganzes und ist nicht mehr der maßlos verwirrte Knäuel, als den sie der Laie zu sehen pflegt. Wenn das Publikum nur ein einziges Mal klar erkennen wollte, daß das Hauptprinzip der Justiz ist, für sich selbst auf Unkosten der Parteien zu arbeiten, so würde es gewiß nicht mehr murren.

Aber die Laien sehen das eben nicht klar oder nur halb oder ungenau. Darum kommt ihnen Gemütsruhe und Geld abhanden, sie machen eine böse Miene zu dem lieblichen Spiel und murren. In solchen Fällen pflegt man ihnen die Respektabilität, deren sich auch Mr. Vholes erfreut, aufs nachdrücklichste vor Augen zu führen.

»Diesen Paragraphen abschaffen, bester Herr?« sagt zum Beispiel Mr. Kenge zu einem Klienten, dem übel mitgespielt wurde. »Abschaffen, werter Herr? Nie, solange ich etwas zu sagen habe. Stoßen Sie dieses Gesetz um, Sir, und was wird die Wirkung Ihres übereilten Vorgehens für eine Klasse von Anwälten sein, deren höchst ehrenwerter Repräsentant, erlaube ich mir, zu bemerken, der gegnerische Advokat, Mr. Vholes, ist? Sir, diese Klasse von Anwälten würde von der Erde verschwinden! Nun können wir aber nicht – ich möchte sagen, das soziale System kann es nicht – eine Klasse von Männern wie Mr. Vholes missen. Eine Klasse, fleißig, ausdauernd, solid und mit großem geschäftlichem Scharfsinn ausgestattet! Werter Herr, ich kann mir Ihre persönlichen Empfindungen hinsichtlich der existierenden Zustände recht gut denken und gestehe, daß sie Sie im gegebnen Fall ein wenig hart treffen, aber für die Vernichtung einer Klasse von Männer wie Mr. Vholes würde ich meine Stimme nie abgeben.«

Man hat die Respektabilität eines Mr. Vholes sogar schon mit vernichtender Wirkung vor Parlamentskomitees angeführt, wie aus folgenden Protokollen eines hervorragenden Rechtsanwalts hervorgeht: Frage Numero 517869: Wenn ich Sie recht verstehe, wirken also diese Normen in der Praxis unzweifelhaft verzögernd?

Antwort: Ja, allerdings verzögernd.

Frage: Und ziehen große Kosten nach sich?

Antwort: Natürlich können sie nicht umsonst sein.

Frage: Und unsäglichen Ärger?

Antwort: Das möchte ich nicht behaupten. Mir haben sie nie Ärger verursacht, ganz im Gegenteil.

Frage: Aber Sie glauben, ihre Abschaffung würde einer ganzen Klasse von Anwälten schaden?

Antwort: Ich zweifle nicht daran.

Frage: Können Sie einen Typus dieser Klasse anführen?

Antwort: Ja. Ich würde ohne Besinnen Mr. Vholes nennen. Er würde zum Beispiel dadurch ruiniert sein.

Frage: Mr. Vholes gilt bei seinen Kollegen als respektabler Mann?

Antwort, die weiteren Fragen für die Dauer von mindestens zehn Jahren ein Ende macht: Mr. Vholes gilt bei seinen Kollegen sogar als außerordentlich respektabler Mann.

So äußern auch gelegentlich bei allgemeinen Unterhaltungen nicht weniger uneigennützige Privatautoritäten, daß sie nicht wissen, wohin die Zeit eigentlich hinauswolle. Immer wünsche sie etwas zu stürzen oder etwas Bestehendes auszureißen. Solche Veränderungen bedeuteten für manche Leute den Tod – für Vholes zum Beispiel, einen Mann von unzweifelhafter Ehrenhaftigkeit, mit einem Vater im Tal von Taunton und drei Töchtern zu Hause. Noch ein paar Schritte dem Abgrund zu, sagen sie, und was soll dann aus Mr. Vholes‘ Vater werden? Soll er zugrunde gehen? Und aus Vholes‘ Töchtern? Sollen sie vielleicht Nähterinnen oder Gouvernanten werden?

– Gerade als ob Mr. Vholes und seine Verwandten untergeordnete Menschenfresserhäuptlinge wären, und entrüstete Fürsprecher auf den allgemeinen Vorschlag, den Kannibalismus abzuschaffen, sagen wollten: Erkläret das Menschenfressen für ungesetzlich, und die Vholes müssen durch Eure Schuld verhungern. –

Kurz und gut, Mr. Vholes mit seinen drei Töchtern und seinem Vater im Tale von Taunton wird beständig wie ein Stück Balken, ein morsches Gebäude, das ein Stein des Anstoßes geworden ist, zu stützen, benutzt. Und bei vielen Leuten handelt es sich in den meisten Fällen nicht um Feststellung von Recht und Unrecht, sondern lediglich darum, ob es der ehrenwerten Legion von Menschen à la Vholes zum Schaden oder Nutzen gereicht.

Der Kanzler ist vor zehn Minuten aufgestanden, und die langen Gerichtsferien haben begonnen. Mr. Vholes, sein junger Klient und verschiedne in Eile vollgestopfte blaue Beutel, die dadurch jede regelmäßige Form verloren haben wie vollgefressne große Schlangen, sind in ihre Höhle zurückgekehrt. Mr. Vholes, gelassen und unbewegt, wie es einem Mann von solcher Respektabilität geziemt, zieht seine engen schwarzen Handschuhe aus, als zöge er die Haut von seinen Fingern, nimmt seine enge Kappe vom Kopf, als skalpiere er sich, und setzt sich an sein Pult. Der Klient wirft Hut und Handschuhe irgendwohin, wirft sich selbst halb seufzend, halb stöhnend in einen Stuhl, läßt die brennende Stirn auf die Hand sinken und sieht aus wie das Bild jugendlicher Verzweiflung.

»Abermals nichts geschehen«, sagt Richard. »Nichts, nichts geschehen!«

»Sagen Sie nicht, es sei nichts geschehen, Sir«, entgegnet Vholes gleichmütig. »Das ist kaum gerecht, Sir, kaum gerecht.«

»Nun, was ist denn also geschehen?« fragt Richard mit düsterer Miene.

»Die Frage ist vielleicht nicht richtig gestellt. Juristisch gefaßt, müßte sie vielleicht lauten: Was geschieht?«

»Und was geschieht also?« fragt der Klient mürrisch.

Vholes, die Ellbogen auf das Pult gestützt, paßt ruhig die fünf Finger seiner rechten Hand auf die fünf Spitzen der Finger seiner linken, entfernt sie ebenso ruhig voneinander, sieht seinen Klienten fest und gelassen an und antwortet:

»Sehr viel geschieht, Sir! Wir haben uns mit der Schulter gegen das Rad gestemmt, Mr. Carstone, und das Rad dreht sich!«

»Ja, und Ixion ist darauf festgebunden. Wie soll ich mir durch die nächsten vier oder fünf verwünschten Monate durchhelfen!« ruft der junge Mann aus und geht erregt im Zimmer auf und ab.

»Mr. C.«, gibt Vholes zur Antwort und beobachtet Richard gespannt. »Sie sind von aufbrausendem Temperament, und das tut mir Ihretwegen leid. Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Ihnen empfehle, nicht so heftig zu sein, sich nicht zu ärgern und innerlich so aufzureiben. Sie sollten mehr Geduld haben – sich stärker zeigen!«

»Mit einem Wort, ich sollte Sie nachahmen, Mr. Vholes!« Richard nimmt wieder mit ungeduldigem Lachen Platz und trommelt mit dem Absatz auf dem ungemusterten Teppich des Teufels Zapfenstreich.

»Sir«, entgegnet Vholes und sieht dabei seinen Klienten unentwegt an, als verzehre er ihn langsam mit seinen Augen und seinem trefflichen Advokatenappetit. »Sir«, entgegnet Vholes mit seiner Art, in sich hineinzusprechen, und seiner blutlosen Gelassenheit, »ich würde mir gewiß nicht anmaßen, mich Ihnen, oder wem immer, als ein Muster vorzustellen. Ich strebe nach nichts weiter, als meinen drei Töchtern einen guten Namen zu hinterlassen, und bin nicht selbstsüchtig. – Aber da Sie sich so deutlich ausdrücken, will ich zugeben, daß ich gern sähe, Sie hätten etwas von meiner – nun ja, Sir, Sie sind geneigt, es Empfindungslosigkeit zu nennen, und ich habe weiter nichts dagegen – etwas von meiner Empfindungslosigkeit… Ja, ja, ein wenig von meiner Empfindungslosigkeit.«

»Mr. Vholes«, entschuldigt sich der Klient etwas beschämt, »ich hatte durchaus nicht die Absicht, Sie der Empfindungslosigkeit zu zeihen.«

»Sie taten es, Sir, ganz unwissentlich. Sehr natürlich. Es ist meine Pflicht, bei Wahrung Ihrer Interessen einen kühlen Kopf zu behalten, und ich kann gar wohl begreifen, daß ich bei solchen Gelegenheiten wie der jetzigen Ihnen gefühllos erscheine. Meine Töchter kennen mich vielleicht besser. Mein alter Vater kennt mich vielleicht besser. Aber sie kennen mich viel länger als Sie, und das Auge der Liebe ist nicht das mißtrauische Auge des Prozessierenden. Nicht, daß ich beklagte, Sir, daß das Auge des Prozessierenden mißtrauisch ist, ganz im Gegenteil. Gerade weil ich Ihre Interessen wahre, wünsche ich, daß man mich in jeder Weise kontrolliert. Das ist ganz in Ordnung. Ich selbst fordere dazu auf, daß man mich kontrolliert. Ihre Interessen nun verlangen, daß ich kalt und methodisch bin, Mr. Carstone. Und ich kann nicht anders sein. Nein, Sir, selbst nicht Ihnen zu Gefallen!«

Mr. Vholes beobachtet eine Weile die geduldig vor einem Mausloch lauernde Kanzleikatze, richtet dann seinen Zauberblick wieder auf den jungen Klienten und fährt mit seiner zugeknöpften, kaum hörbaren Stimme, die klingt, als ob ein unreiner Geist in ihm wäre, der weder entfliehen noch mit der Sprache heraus wollte, fort.

»Sie fragen, was Sie während der Gerichtsferien tun sollen. Ich sollte doch glauben, daß die Herren von der Armee nicht um Mittel, sich zu zerstreuen, verlegen sind! Wenn Sie mich gefragt hätten, was ich während der Ferienzeit tun sollte, hätte ich Ihnen kürzer antworten können: Ich werde Ihre Interessen wahren. Ich werde Tag für Tag hier zu finden sein, beschäftigt mit der Wahrung Ihrer Interessen. Das ist meine Pflicht, Mr. C., und Gerichtssession oder Ferien machen darin keinen Unterschied bei mir. Wenn Sie mich wegen Ihrer Interessen zu Rate zu ziehen wünschen, werden Sie mich jederzeit hier finden. Andre Herren von unserm Beruf gehen aufs Land. Ich tue das nicht. Nicht, daß ich jemand tadeln wollte. Ich sage bloß, ich tue es nicht. Dieses Pult ist Ihr Fels, Sir!«

Mr. Vholes schlägt darauf, und es klingt so hohl wie ein Sarg. Aber für Richards Ohren klingt es nicht so. Für ihn hat der Schall etwas Ermutigendes. Vielleicht weiß Mr. Vholes das.

»Ich weiß recht gut, Mr. Vholes«, sagt Richard vertrauensvoll und erleichtert, »daß Sie der allerverläßlichste Mann auf der Welt sind, und wer mit Ihnen zu tun hat, einen Advokaten vor sich hat, der sich kein Schnippchen schlagen läßt. Aber versetzen Sie sich in meine Lage. Schleppen Sie sich mit diesem aus dem Geleise gekommenen Leben hin, wo man jeden Tag tiefer und tiefer in Kalamitäten versinkt, beständig hofft und beständig enttäuscht wird, sich bewußt ist, daß es immer mehr mit einem bergab geht und mit nichts bergauf, und Sie würden auch manchmal finden, wie ich, daß es keine beneidenswerte Lage ist.«

»Sie wissen, daß ich nie Hoffnungen zu erwecken pflege«, erwidert Mr. Vholes. »Ich sagte Ihnen gleich anfangs, daß ich das prinzipiell nicht tue, vorzüglich nicht in einem Prozeß wie diesem, wo der größere Teil der Kosten aus dem strittigen Kapital gedeckt wird. Ich würde meinen guten Ruf außer acht lassen, wenn ich Hoffnungen gäbe.

Es müßte den Schein erwecken, als ob es mir um die Kosten zu tun wäre. Aber wenn Sie sagen, daß keine Veränderung zum Bessern zu bemerken ist, so muß ich das als nackte Tatsache in Abrede stellen.«

»Wirklich?« fragt Richard mit einem Hoffnungsschimmer. »Aber wie wollen Sie das begründen?«

»Mr. Carstone, Sie werden vertreten von…«

»Sie sagten es eben… Von einem Felsen!«

»Ja, Sir, von einem Felsen.« Mr. Vholes nickt leise mit dem Kopf und fährt über den Pultdeckel, daß es klingt, als ob Asche auf Asche fiele und Staub auf Staub. »Ist das nichts? Sie sind allein für sich vertreten und nicht mehr länger mit den Interessen andrer verquickt und verflochten. Das ist etwas. Der Prozeß schläft nicht. Wir wecken ihn auf, bringen ihn an die Luft, wir führen ihn spazieren. Das ist etwas. Es ist nicht bloß ‚Jarndyce‘, der Tatsache und dem Namen nach. Das ist etwas. Niemand kann jetzt willkürlich damit verfahren, Sir. Und das ist gewiß etwas.« Richard wird plötzlich rot im Gesicht und schlägt mit der geballten Faust auf das Pult.

»Mr. Vholes! Wenn mir jemand gesagt hätte, als ich zuerst John Jarndyces Haus betrat, er sei etwas andres als der selbstlose Freund, für den er sich gab, sondern das, als was er sich allmählich entpuppt hat, ich hätte nicht genug starke Worte finden können, um eine solche Verleumdung zurückzuweisen – ich hätte ihn nicht warm genug verteidigen können. So wenig kannte ich die Welt! Aber jetzt, sage ich Ihnen, kommt er mir vor wie der personifizierte Prozeß selbst. Der Rechtsstreit ist nichts Abstraktes mehr, er ist John Jarndyce selbst. Je mehr ich leide, desto mehr zürne ich über ihn, und jede neue Enttäuschung bedeutet einen neuen Schlag von John Jarndyces Hand.«

»Nein, nein«, sagt Vholes. »Sagen Sie das nicht. Wir alle müssen Geduld haben. Überdies rede ich nie jemandem Böses nach, Sir. Es ist ein Grundsatz von mir.«

»Mr. Vholes! Sie wissen so gut wie ich, daß er den Prozeß abgebrochen hätte, wenn es möglich gewesen wäre«, entgegnet Richard zornig.

»Er hat nicht direkt Schritte dagegen getan«, gibt Mr. Vholes anscheinend widerwillig zu. »Nicht direkt Schritte. Aber immerhin, er kann freundschaftliche Absichten dabei gehabt haben. Wer kann im Herzen der Menschen lesen, Mr. C.!?«

»Sie!«

»Ich, Mr. C.?«

»Immerhin gut genug, um zu wissen, was seine Absichten waren. Widerstreiten sich unsre Interessen, oder widerstreiten sie sich nicht? Sagen – Sie – selbst!« Richard begleitet die drei letzten Worte mit drei heftigen Schlägen auf den Fels seines Vertrauens.

»Mr. C.«, gibt Vholes, ohne sich zu bewegen und auch nur ein einziges Mal mit seinen hungrigen Augen zu zwinkern, zur Antwort:

»Ich würde meine Pflicht als Ihr Rechtsbeistand verletzen, Ihren Interessen untreu werden, wenn ich sie als identisch mit denen Mr. Jarndyces darstellte. Sie sind es nicht, Sir. Ich schiebe nie Motive unter. Ich habe einen Vater und bin selbst Vater und schiebe nie Motive unter, aber ich darf andererseits meine Pflicht als Anwalt nicht verletzen, selbst wenn dadurch Zwietracht in Familien gesät wird. Ich bin der Meinung, Sir, Sie ziehen mich jetzt doch in meiner Eigenschaft als Ihr Anwalt hinsichtlich Ihrer Interessen zu Rate? Ist es so? Also, dann antworte ich: Nein, sie sind nicht identisch mit denen Mr. Jarndyces.«

»Natürlich sind sie’s nicht!« ruft Richard. »Sie haben das schon längst herausgefunden.«

»Mr. C.«, fährt Vholes fort. »Über fremde Parteien möchte ich nicht mehr sagen, als unbedingt notwendig ist. Ich wünsche meinen Namen außer dem kleinen Vermögen, das ich mir vielleicht durch Fleiß und Ausdauer erwerbe, meinen Töchtern Emma, Jane und Karoline unbefleckt zu hinterlassen. Ich wünsche auch in brüderlicher Freundschaft mit meinen Berufskollegen zu leben. Als Mr. Skimpole mir die Ehre erwies, Sir – ich sage absichtlich nicht, die außerordentliche Ehre, denn ich lasse mich nie zu Schmeicheleien herab –, uns hier in der Kanzlei zusammenzubringen, da äußerte ich, daß ich hinsichtlich Ihrer Interessen keine Meinung abgeben und auch keinen Rat erteilen könnte, solange diese Interessen in den Händen eines Berufskollegen lägen, und ich sprach mich so anerkennend über die Firma Kenge & Carboy aus, wie sie es auch tatsächlich verdient.

Sie fanden sodann für gut, Ihre Vertretung diesen Herren zu entziehen und sie mir anzuvertrauen. Sie brachten sie mit reinen Händen, Sir, und ich nahm sie mit reinen Händen entgegen. Ihre Interessen gehen jetzt in meiner Kanzlei allen andern vor. Meine Verdauung, wie Sie mich vielleicht schon haben äußern hören, ist nicht im besten Zustand, und Ruhe könnte sie verbessern. Aber ich werde mir keine Ruhe gönnen, Sir, solange ich Sie vertrete. So oft Sie mich brauchen, werden Sie mich hier finden. Rufen Sie mich, wohin Sie wollen, und ich werde kommen. Während der langen Ferien, Sir, werde ich meine Mußestunden dazu benützen, Ihre Interessen noch gründlicher zu studieren und Anordnungen zu treffen, nach dem Michaelitermin Himmel und Erde (den Kanzler natürlich eingeschlossen) in Bewegung zu setzen, und wenn ich Ihnen dann endlich Glück wünschen kann, Sir«, sagt Mr. Vholes mit der ganzen sittlichen Strenge eines fest entschlossnen Mannes, »wenn ich Ihnen dann endlich von ganzem Herzen Glück wünschen kann, daß Sie zu Ihrem Vermögen gekommen sind – wenn es nicht in meinen Grundsätzen läge, niemals Hoffnungen zu erwecken, könnte ich mich darüber weiter auslassen –, werden Sie mir nichts schuldig sein als den kleinen Rest, der vielleicht noch von den zwischen Anwalt und Klienten erwachsenden Kosten außensteht. Abgesehen von den der Taxe unterliegenden Kosten, die von dem strittigen Kapital in Abzug kommen. Ich werde dann weiter keinen Anspruch an Sie erheben, Mr. Carstone, außer der Anerkennung der eifrigen und tätigen Erfüllung meiner Pflicht als Ihr Anwalt. Ich meine damit nicht die übliche und formelle Erfüllung, Sir.«

Vholes fügt als Nachwort zu dieser Darlegung seiner Grundsätze noch hinzu, Mr. Carstone werde vielleicht die Güte haben, da er jetzt zu seinem Regiment zurückgehe, ihm eine Anweisung auf zwanzig Pfund à conto auszustellen.

»Denn wir haben neuerdings viele kleine Konsultationen und Tagfahrten gehabt, Sir«, bemerkt Vholes und blättert in seinem Journal. »Und die Sachen summieren sich, und ich will mir nicht den Anschein geben, ein Kapitalist zu sein. Als wir unsre gegenwärtige Verbindung anknüpften, sagte ich Ihnen offen, – es ist mein Prinzip, daß Anwalt und Klient nie offen genug gegeneinander sein können –, daß ich kein Kapitalist bin, und wenn Sie auf den Kostenpunkt allein sehen wollten, Sie lieber Ihre Akten bei Kenge & Carboy lassen möchten. Nein, Mr. C., Sie werden hier weder die Vorteile noch die Nachteile eines kapitalkräftigen Vertreters finden. Dies hier« – Vholes schlägt wieder auf das hohlklingende Pult – »ist Ihr Fels, aber es gibt nicht vor, mehr zu sein.«

Der Klient, dessen Niedergeschlagenheit allmählich abgenommen hat und dessen vage Hoffnungen wieder wach geworden sind, nimmt Feder und Tinte und schreibt die Anweisung, nicht ohne längere Zeit zu überlegen und nachzurechnen, auf welches Datum er sie ausstellen solle. – Das verrät dem Advokaten, daß nur spärliche Deckung vorhanden ist. – Die ganze Zeit über sieht ihm Vholes, körperlich und geistig zugeknöpft, aufmerksam zu. Die ganze Zeit über lauert Vholes Kanzleikatze vor dem Mauseloch.

Schließlich ersucht ihn der Klient unter Händeschütteln, um Himmelswillen sein möglichstes zu tun, um ihn durch den Kanzleigerichtsprozeß durchzubringen. Mr. Vholes, der nie Hoffnungen gibt, legt sodann dem Klienten die Hand auf die Schulter und antwortet lächelnd: »Ich bin stets hier, Sir, persönlich oder brieflich werden Sie mich stets hier finden, Sir, die Schulter gegen das Rad gestemmt.«

So scheiden sie, und Vholes, jetzt allein gelassen, beschäftigt sich damit, verschiedne kleine Summen aus seinem Journal in sein Trattenbuch zum Besten seiner drei Töchter zu übertragen. So würde auch ein sorgsamer Fuchs oder Bär mit dem Nebengedanken an seine Jungen seine Rechnung über Hühner oder verirrte Wanderer abschließen, womit durchaus nichts Nachteiliges über die drei dürren und zugeknöpften Jungfrauen, die mit Vater Vholes in einem dumpfigen Landhaus mit feuchtem Garten in Kennington wohnen, gesagt sein soll.

Als Richard aus dem düstern Schatten von Symond’s-Inn in den Sonnenschein von Chancery-Lane heraustritt – dort ist heute zufällig Sonnenschein –, geht er gedankenvoll weiter, wendet sich nach Lincoln’s-Inn und tritt unter die Schatten der Bäume. Auf viele solcher Spaziergänger sind die fleckigen Schatten dieser Bäume schon gefallen, auf manches ebenso gebeugte Haupt, auf ebenso nervös zerbissene Nägel, umdüsterte Augen und ziellos träumerische Mienen, auf verschwindendes und verschwundenes Vermögen, auf ein verfehltes und verbittertes Leben.

Noch sieht dieser Spaziergänger nicht schäbig aus, aber das kann noch werden. Das Kanzleigericht kennt keine andre Weisheit als Präzedenzien und ist reich an solchen Präzedenzien. Und warum sollte sich ein einziger unterscheiden von Zehntausenden?

Aber es ist erst kurze Zeit her, daß Richard angefangen hat, im Treibsand zu versinken, wie er jetzt von dem Ort für mehrere Monate lang scheidet – zögernd scheidet, obgleich er ihn haßt. Sein Herz ist schwer von verzehrender Sorge, von Hangen und Bangen, von Mißtrauen und Zweifel, aber es hat vielleicht noch Platz für ein schmerzliches Staunen, wenn er sich erinnert, wie anders sein erster Besuch hier war, wie anders er selbst, wie anders das bunte Farbenspiel des Lebens. Aber Ungerechtigkeit muß Ungerechtigkeit gebären, und wer mit Schemen kämpft und von ihnen geschlagen wird, muß Wesenheiten zum Kampf ins Feld stellen.

Von dem ungreifbaren Prozeß, den kein Lebender verstehen kann, denn die Zeit dazu ist längst vorbei, wendet Richard sich in Gedanken mit trübem Trost zu der greifbaren Gestalt des Freundes, der ihn vor diesem Untergang hat retten wollen und in dem er einen Feind sieht. Richard hat Vholes die Wahrheit gesagt. Mag er bös oder weich gestimmt sein, stets schiebt er die Schuld seinem Vetter Jarndyce zu. An dessen Tür ist man ihm vorsätzlich in den Weg getreten, und der Zweck konnte nur dem Prozeß entspringen, der jetzt sein Dasein in sich auflöst. Richard hält es für eine Art Genugtuung, daß er einen Gegner von Fleisch und Blut hat.

Ist er deshalb ein Ungeheuer, oder ist das Kanzleigericht nicht auch an solchen Präzedenzien reich? Könnte man Engel zum Zeugen anrufen, sie würden es bestätigen!

Zwei an diese Art Leute nicht ungewöhnte Paar Augen sehen ihm jetzt nach, wie er, nervös an seinen Nägeln kauend und in Brüten verloren, über den Platz geht und im Schatten des südlichen Torwegs verschwindet. Mr. Guppy und Mr. Weevle sind die Besitzer dieser Augen. Sie lehnen sich im Gespräch an die niedrige steinerne Balustrade unter den Bäumen. Er geht knapp an ihnen vorüber und sieht nichts als die Erde.

»William«, meint Mr. Weevle und kräuselt sich den Backenbart. »Da findet eine Verbrennung statt. Es ist kein Fall von Selbstverbrennung, aber eine Art langsamer Röstung.«

»Hm«, sagt Mr. Guppy. »Er wollte sich nicht von Jarndyce fernhalten lassen, und ich glaube, er steckt bis über die Ohren in Schulden. Ich habe nie viel von ihm gewußt. Er war hochnäsig, als er bei uns praktizierte, wie das Monument dort. Ich bin froh, daß ich ihn los bin, sowohl als Praktikanten wie als Klienten. – Ja, Tony, also damit beschäftigen sie sich jetzt; – um wieder darauf zurückzukommen.«

Mr. Guppy verschränkt die Arme, lehnt sich an die Balustrade und fährt in seinem eben unterbrochnen interessanten Gespräch wieder fort.

»Damit beschäftigen sie sich immer noch! Sie nehmen immer noch Inventur auf, prüfen die Papiere und wühlen Tag für Tag die Lumpenhaufen durch. Wenn sie so fortfahren, werden sie noch sieben Jahre dazu brauchen.«

»Und Small hilft dabei?«

»Small verließ uns nach achttägiger Kündigung. Er sagte Kenge, das Geschäft nähme seinen Großvater zu sehr in Anspruch, und er selbst stünde sich besser, wenn er es übernähme. Zwischen mir und Small ist eine gewisse Spannung eingetreten. Er tat mir gar zu heimlich. Aber er sagte, du und ich hätten diesen Ton zuerst angeschlagen, und darin hat er eigentlich recht. Und deshalb haben wir uns wieder ausgesöhnt, und so habe ich erfahren, womit sie sich beschäftigen.«

»Einblick hast du weiter nicht bekommen?«

»Tony«, sagt Mr. Guppy ein wenig irritiert, »um dir nichts zu verschweigen, das Haus zieht mich nicht mehr so an, seit du nicht mehr dort bist, und deshalb bin ich nicht mehr hingegangen. Das war auch der Grund, weshalb ich dir dieses kleine Rendezvous vorschlug. Da, gerade schlägt die Turmuhr, Tony!« Mr. Guppy wird geheimnisvoll und zärtlich beredt. »Ich muß dir nochmals vor Augen führen, daß Verhältnisse, über die ich keine Macht habe, eine traurige Veränderung in meinen Lieblingsplänen und in dem Bilde, von dem ich dir früher im Vertrauen auf unsre Freundschaft erzählte, hervorgebracht haben. Das Bild ist zerschmettert und das Idol in Trümmer zerfallen. Mein einziger Wunsch hinsichtlich der Zwecke, die ich mit deiner Freundeshilfe in Cook’s Court zu verfolgen gedachte, ist nunmehr, sie liegen zu lassen und in Vergessenheit zu begraben. Hältst du es für möglich, hältst du es überhaupt für wahrscheinlich – ich lege dir diese Frage als Freund vor, Tony –, nach deiner Kenntnis des Charakters des schlauen und unberechenbaren Alten, der damals ein Opfer der Selbstverbrennung wurde, hältst du es überhaupt für möglich, bei näherer Überlegung, Tony, daß er jene Briefe, als ihr euch damals trenntet, anderswo hingetan hat, oder wurden sie in jener Nacht wirklich vernichtet?«

Mr. Weevle denkt eine Weile nach. Dann schüttelt er den Kopf.

»Tony«, fängt Mr. Guppy beim Weiterschlendern wieder an. »Noch einmal! Versteh mich gut. Als Freund. Ohne mich auf weitere Erklärungen einlassen zu können, wiederhole ich dir nur: Das Idol ist zerschmettert. Ich habe jetzt keinen andern Zweck, als alles in Vergessenheit zu begraben. Dazu habe ich mich verpflichtet. Ich bin es mir selbst schuldig, dem zerschmetterten Bild und auch den Verhältnissen, über die ich keine Macht habe. Wenn du mir durch einen Wink oder eine Gebärde verrietest, du habest in deiner früheren Wohnung irgendwo Papiere liegen sehen, die den fraglichen irgendwie ähnlich sind, würde ich sie jetzt auf meine eigne Verantwortung ins Feuer werfen.«

Mr. Weevle nickt. Mr. Guppy kommt sich sehr großartig vor, daß es ihm gelungen ist, seine Äußerungen mit halb juristischer, halb romantischer Miene vorgebracht zu haben. Er hat nun einmal eine Leidenschaft, allem die Form eines Verhörs, einer Rede oder eines Resumes zu geben.

Würdevoll begleitet er jetzt seinen Freund nach Cook’s Court.

Nie, seit er im Hof gewesen, hat es dort einen solchen Berg von Geklatsch gegeben wie nach den Vorfällen in Mr. Krooks Laden. Pünktlich um acht Uhr früh trägt man Mr. Smallweed senior, begleitet von Mrs. Smallweed, Judy und Bart, um die Ecke in das Haus. Regelmäßig, Tag für Tag, bleiben sie dort bis neun Uhr abends, stärken sich nach Zigeunerart durch nicht besonders reichliche Mittagsmahle aus der benachbarten Garküche und wühlen, suchen, graben und kratzen unter den Schätzen des vielbeweinten Verstorbenen. Welcher Art diese Kleinodien sind, halten sie so geheim, daß der ganze Hof in Verzweiflung gerät.

In seinem Delirium träumt der Hof von Guineen, die aus Teekannen gegossen werden, von Punschbowlen, die von Münzen überfließen, von mit Banknoten ausgestopften Stühlen und Matratzen. Man kauft für sechs Pence bunt illustrierte Geschichten von Mr. Daniel Dancer und seiner Schwester und Mr. Elwes aus Suffolk und überträgt alle Tatsachen aus diesen wirklich wahren Erzählungen auf Mr. Krook. Zweimal, als der Kehrichtmann hineingerufen wird, um eine Wagenladung altes Papier, Asche und Flaschenscherben fortzuschaffen, versammelt sich der ganze Hof und spürt neugierig in den Körben herum, wie sie herausgetragen werden. Rastlos schleichen die beiden Herren, die mit den gefräßigen kleinen Federn auf dünnes Papier schreiben, in der Nachbarschaft herum. Sie weichen einander scheu aus, denn ihre frühere Kompagnieschaft ist wieder in Brüche gegangen. Die »Sonne« spinnt geschickt einen Faden des allgemeinen Interesses durch die harmonischen Abendgesellschaften. Der kleine Swills wird, wenn er darauf anspielt, mit Applaus bedacht und weiß wie ein inspirierter Dichter überall Brocken davon anzubringen. Selbst Miß M. Melvilleson begleitet in der wieder aufgefrischten schottischen Melodie: »Wir nicken, wir nicken, wir nicken dazu« die letzte Strophe: »Die Hunden lieben den starken Saft« – ohne zu verraten, welcher Art dieser Saft sein mag – mit einer so schlauen Miene und einem so ausdrucksvollen Nicken des Kopfs nach dem Nachbarhaus, daß die Zuhörer auf der Stelle erraten, Mr. Smallweed habe eine Vorliebe für Geld. Und so wird sie allabendlich mit wiederholtem da capo beehrt.

Trotzdem entdeckt der Hof keine Spur, lebt aber, wie Mrs. Piper und Mrs. Perkins dem ehemaligen Mieter, dessen Erscheinen jetzt die lebhafteste Aufmerksamkeit des Publikums erregt, verraten, in beständiger Aufregung, irgend etwas und noch viel mehr zu entdecken.

Mr. Weevle und Mr. Guppy, von sämtlichen Augen im Hofe beobachtet, klopfen an die verschlossne Tür des vielbeweinten Toten. Sie sind sehr populär. Da sie aber wider Erwarten des Hofes Einlaß erhalten, gehen sie sofort der Volksgunst verlustig und geraten in Verdacht, Böses im Schilde zu führen.

Im ganzen Hause sind fast alle Läden vor den Fenstern geschlossen, und im Erdgeschoß ist es so finster, daß man Licht brennen muß. Eben aus dem Sonnenschein hereingetreten und von Mr. Smallweed junior in den rückwärtigen Laden geführt, sind die beiden Freunde fast blind und können anfangs nichts sehen als Finsternis und Schatten, bis sie allmählich Großvater Smallweed, in seinem Lehnstuhl am Rand eines Brunnens oder eines Grabes voll von altem Papier sitzend, unterscheiden. Die tugendstarke Judy wühlt darin wie eine Totengräberin, und Mrs. Smallweed sitzt in der Nähe auf der Diele, eingeschneit in einem Haufen von Papierfetzen, von Druck- und Schreibmakulatur – anscheinend die angehäuften Komplimente, die ihr im Lauf des Tages an den Kopf geflogen sind. Die ganze Gesellschaft, Small nicht ausgenommen, ist geschwärzt von Staub und Schmutz und trägt einen dämonischen Charakter, der den allgemeinen Eindruck des Zimmers keineswegs mildert.

Es ist mehr Gerümpel und Plunder darin als früher, und es sieht womöglich noch schmutziger aus. Die Spuren seines verstorbnen Inhabers und besonders die mit Kreide an die Wand gemalten Buchstaben verleihen ihm etwas Gespensterhaftes. Als der Besuch hereintritt, verschränken Mr. Smallweed und Judy sofort die Arme und hören auf zu suchen.

»Aha!« krächzt der alte Herr. »Wie geht’s, Gentlemen, wie geht’s? Sie kommen wohl, Ihre Sachen abzuholen, Mr. Weevle? Schön, schön. Ha! Ha! Wir hätten sie versteigern lassen müssen, Sir, wegen der Lagermiete, wenn sie noch länger hier geblieben wären. Sie fühlen sich wieder ganz zu Hause hier, hoffe ich? Freut mich, Sie zu sehen, freut mich, Sie zu sehen.«

Mr. Weevle dankt ihm und läßt seinen Blick rings in der Stube umherschweifen. Mr. Guppys Auge folgt seinem Blick. Mr. Weevles Auge kehrt zurück, ohne etwas erkundet zu haben. Mr. Guppys Auge kehrt ebenfalls zurück und begegnet Mr. Smallweeds Blick. Der gewinnende alte Herr murmelt immer noch wie ein aufgezognes Instrument: »Wie geht’s, Sir, wie geht’s… Wie…« Dann scheint das Uhrwerk abgelaufen zu sein, und er versinkt in zähnefletschendes Schweigen, da erschrickt plötzlich Mr. Guppy über den Anblick Mr. Tulkinghorns, der ihm, die Hände auf dem Rücken, in der Finsternis gegenübersteht.

»Der Herr ist so gütig, mir als Rechtsanwalt beizustehen«, erklärt Großvater Smallweed. »Ich bin eigentlich kein richtiger Klient für ihn, aber er ist trotzdem so liebenswürdig…«

Mr. Guppy gibt seinem Freund einen leisen Stoß, damit er sich noch einmal umsähe, und macht Mr. Tulkinghorn eine verlegne Verbeugung, die dieser mit einem leichten Nicken erwidert. Mr. Tulkinghorn sieht zu, als ob er weiter nichts zu tun habe und sich über das neuartige Schauspiel eher amüsiere.

»Eine sehr bedeutende Hinterlassenschaft, Sir, sollte ich meinen«, äußert Mr. Guppy zu Mr. Smallweed.

»Fast nur Lumpen und altes Gerumpel, mein lieber Freund! Ich und Bart und meine Enkelin Judy geben uns Mühe, ein Inventar von dem aufzunehmen, was des Verkaufens wert ist. Aber wir haben noch nicht viel gefunden, haben – noch – nicht… Ha…«

Mr. Smallweeds Uhrwerk ist wieder abgelaufen. Mr. Weevles Auge, begleitet von Mr. Guppys Auge, ist abermals im Zimmer umher- und zurückgeschweift.

»Nun, Sir«, sagt Mr. Weevle, »wir wollen Sie jetzt nicht stören, wenn Sie uns erlauben wollten, hinaufzugehen.«

»Überallhin, wohin Sie wollen, Sir! Sie sind zu Hause. Bitte, genieren Sie sich nicht.«

Wie sie die Treppe hinaufgehen, zieht Mr. Guppy fragend die Augenbrauen in die Höhe und sieht Tony an. Tony schüttelt den Kopf.

Das alte Zimmer ist womöglich noch ungemütlicher als früher, und auf dem Herd liegt noch die Asche des Feuers, das in jener denkwürdigen Nacht brannte. Sie fühlen sich sehr abgeneigt, etwas anzurühren, und blasen erst sorgfältig den Staub weg. Sie haben auch gar keine Lust, sich länger als nötig aufzuhalten, und packen die wenigen Sachen so schnell wie möglich zusammen, ohne lauter als flüsternd zu sprechen.

»Sieh nur«, sagt Tony plötzlich und fährt zurück. »Da kommt die abscheuliche Katze herein.«

Mr. Guppy flüchtet sich hinter seinen Stuhl. »Small hat mir von ihr erzählt. Sie ist in jener Nacht wie ein Drache herumgefahren, hat um sich gekratzt und sich dann vierzehn Tage lang auf den Dächern herumgetrieben und ist schließlich ganz abgemagert den Kamin heruntergekollert. Hast du je ein solches Vieh gesehen ? Sieht sie nicht aus, als ob sie in alles eingeweiht wäre? Sie sieht fast aus, als wäre sie Krook. Ksch, hinaus, du Kobold!«

Lady Jane steht in der Tür mit einem tigerartigen Fletschen von einem Ohr bis zum andern, den keulenförmigen Schweif aufgerichtet, und zeigt keine Lust, zu gehorchen. Mr. Tulkinghorn stolpert über sie, sie faucht wütend seine rostigen Beine an und schleicht dann mit krummem Rücken die Treppe hinauf. Wahrscheinlich, um sich wieder auf den Dächern herumzutreiben und durch den Schornstein zurückzukehren.

»Mr. Guppy«, fragt Mr. Tulkinghorn, »kann ich ein Wort mit Ihnen sprechen?«

Mr. Guppy nimmt eben die Prachtgalerie englischer Schönheiten von den Wänden und legt diese Kunstwerke in ihre alte unwürdige Hutschachtel. »Sir«, entgegnet er und wird rot, »es liegt mir außerordentlich daran, gegen jedes Mitglied der Advokatenkammer, und insbesondere gegen ein so wohlbekanntes und, wie ich wohl sagen darf, so ausgezeichnetes wie Sie, das größte Entgegenkommen zu beweisen, nur möchte ich es mir, Mr. Tulkinghorn, zur Bedingung machen, meinen Freund zuzuziehen, wenn Sie etwas mit mir sprechen wollen.«

»Hm«, meint Mr. Tulkinghorn.

»Ja, Sir. Meine Gründe sind durchaus nicht persönlicher Art, aber trotzdem für mich ausschlaggebend.«

»Die Sache ist nicht von solcher Wichtigkeit, daß Sie sich die Mühe hätten zu machen brauchen, Bedingungen zu stellen, Mr. Guppy.« Mr. Tulkinghorn hält inne und lächelt einen Augenblick, und sein Lächeln ist so glanzlos und rostig wie seine Beinkleider. »Man muß Ihnen übrigens gratulieren, Mr. Guppy. Sie sind ein glücklicher junger Mann, Sir.«

»So leidlich, Mr. Tulkinghorn. Ich kann nicht klagen.«

»Klagen? – Vornehme Freunde, freier Zutritt in großen Häusern und bei eleganten Damen. Mr. Guppy, es gibt Leute in London, die für so etwas ihre Ohren hergeben würden.«

Mr. Guppy sieht ganz so aus, als ob er seine immer röter werdenden Ohren gern hergeben würde, um lieber keinen Zutritt bei vornehmen Damen zu haben.

»Sir, wenn ich bei meinen Berufsgeschäften bleibe und bei Kenge & Carboy meinen Verpflichtungen nachkomme, geht es kein Mitglied der Advokatenkammer, nicht einmal Mr. Tulkinghorn von Lincoln’s-Inn-Fields, etwas an, wer meine Freunde und Bekannten sind. Ich fühle mich nicht verpflichtet, mich weiter zu erklären, und mit aller Achtung vor Ihnen, Sir, und ohne Sie beleidigen zu wollen –, ich wiederhole, ohne Sie im geringsten beleidigen zu wollen…«

»O, bitte sehr, Mr. Guppy.«

»Es liegt durchaus nicht in meiner Absicht…«

»Ich bin davon überzeugt«, sagt Mr. Tulkinghorn und nickt gelassen. »Schon gut. Ich sehe an diesen Porträts, daß Sie ein bedeutendes Interesse an der fashionablen Welt nehmen, Sir.«

– Er richtet diese Worte an Tony, der seine Schwäche nicht leugnen kann und ein ziemlich dummes Gesicht macht. –

»Eine Tugend, die wenigen Engländern mangelt«, bemerkt Mr. Tulkinghorn. Den Rücken dem verräucherten Kamin zugekehrt, hat er auf der Steinplatte vor dem Herd gestanden und sieht sich jetzt, mit dem Glas vor den Augen, um. »Wer ist das? Lady Dedlock! Ah! Eigentlich sehr ähnlich, aber es fehlt dem Bild die Charakteristik. Guten Tag, meine Herrn. Guten Tag.«

Als er zur Türe draußen ist, beeilt sich Mr. Guppy schweißgebadet, die Galerie der Schönheiten vollends herunterzunehmen, und macht mit Lady Dedlock den Schluß.

»Tony«, sagt er hastig zu seinem Freund, der bei Mr. Tulkinghorns Worten ein sehr erstauntes Gesicht gemacht hat, »wir wollen uns beeilen, die Sachen zusammenzupacken und den Ort zu verlassen. Es wäre vergeblich, dir länger verheimlichen zu wollen, Tony, daß zwischen mir und einem der Mitglieder unsrer schwanengleichen Aristokratie eine Verbindung bestanden hat. Es hätte eine Zeit kommen können, wo ich dir alles enthüllt haben würde. Sie wird jetzt nie mehr kommen. Ich habe es nicht nur geschworen, sondern bin es auch meinem zerschmetterten Idol und den Verhältnissen, über die ich keine Macht habe, schuldig, das Ganze in Vergessenheit zu begraben. Ich beschwöre dich als Freund bei dem Interesse, das du immer an den ‚fashionablen Nachrichten‘ genommen hast, und bei den kleinen Vorschüssen, mit denen ich dir auszuhelfen Gelegenheit gehabt habe, mich nicht weiter zu fragen und die Sache ein für allemal vergessen sein zu lassen.«

In einem Zustand, der einer Art juristischen Wahnwitzes gleicht, sprudelt Mr. Guppy diese Worte hervor, und wie verwirrt sein Freund darüber ist, verrät sich durch das Aussehen seines Haars und seines sorgfältig gepflegten Backenbartes.

4. Kapitel


4. Kapitel

Menschenliebe mit dem Fernrohr vor den Augen

Wir sollten die Nacht bei Mrs. Jellyby zubringen, sagte uns Mr. Kenge, als wir wieder in seinem Zimmer angekommen waren; und dann wendete er sich zu mir: »Ich setze voraus, daß Sie wissen, wer Mrs. Jellyby ist?«

»Nein, ich weiß es wirklich nicht, Sir«, gab ich zur Antwort. »Vielleicht weiß es Mr. Carstone – oder Miß Clare –«

Aber nein, auch sie wußten nichts von Mrs. Jellyby.

»Wirklich? – Mrs. Jellyby«, erklärte Mr. Kenge, mit dem Rücken zum Kamin gekehrt und die Augen auf den staubigen Fußteppich geheftet, als ob dort Mrs. Jellybys Biographie geschrieben stünde, »ist eine Dame von höchst bemerkenswerter Charakterstärke, die sich ganz den öffentlichen Angelegenheiten widmet. Sie hat sich schon zu verschiedenen Zeiten einer großen Anzahl öffentlicher Fragen zugewendet und ist augenblicklich mit Afrika beschäftigt, in der Absicht, die allgemeine Pflege des Kaffeestrauchs und der Eingebornen und die glückliche Ansiedlung des Überschusses unserer vaterländischen Bevölkerung an den Ufern der afrikanischen Flüsse zu fördern. Mr. Jarndyce, der immer bereit ist, ein Werk, das mit der Zeit Gutes zu schaffen verspricht, zu unterstützen, und Philanthropen sehr hochschätzt, hat, glaube ich, eine sehr hohe Meinung von Mrs. Jellyby.«

Mr. Kenge zupfte seine Halsbinde zurecht und sah uns an.

»Und Mr. Jellyby, Sir?« fragte Richard.

»Oh! Mr. Jellyby ist – hm – ich kann ihn nicht besser beschreiben, als wenn ich sage, er ist der Gatte der Mrs. Jellyby.«

»Eine Null, Sir?« fragte Richard mit einem komischen Blick.

»Das will ich nicht behaupten«, entgegnete Mr. Kenge ernst, »denn ich weiß gar nichts von Mr. Jellyby. Soviel ich mich erinnern kann, habe ich niemals das Vergnügen gehabt. Er mag ein sehr ausgezeichneter Mann sein, aber er ist sozusagen in den glänzenden Eigenschaften seiner Gattin – verschwunden, rein verschwunden.«

Mr. Kenge erklärte uns dann, daß eine Fahrt nach Bleakhaus an einem solchen Abend sehr langweilig und unangenehm sein würde und Mr. Jarndyce, da wir ohnedies heute schon eine Reise hinter uns hätten, selbst dieses Arrangement vorgeschlagen habe. Zeitig am nächsten Morgen sollte uns ein Wagen bei Mrs. Jellyby abholen. Er schellte sodann, und der junge Mann, Guppy hieß er, trat ein. Gefragt, ob mein Gepäck bereits besorgt worden wäre, bejahte er und fügte hinzu, ein Wagen stünde unten für uns bereit.

»So bleibt mir nichts weiter übrig«, sagte Mr. Kenge und schüttelte uns die Hände, »als meine lebhafte Befriedigung – guten Tag, Miß Clare – über die heute getroffene Anordnung auszusprechen, sowie meine lebhafte – leben Sie wohl, Miß Summerson! – Hoffnung, daß sie zum Glück, zur Wohlfahrt – sehr erfreut gewesen, Mr. Carstone! – und zum Vorteil für alle Beteiligten in jeder Hinsicht ausschlagen möge. Guppy, Sie fahren mit hin.«

»Wo ist ‚hin‘, Mr. Guppy?« fragte Richard, als wir die Treppe hinabgingen.

»Es ist ein Katzensprung«, erklärte Mr. Guppy. »Nach Thavies-Inn, Sie wissen.«

»Ich könnte nicht sagen, daß ich es wüßte, denn ich komme von Winchester und bin fremd in London.«

»Gleich um die Ecke! Wir schneiden die Chancery-Lane in Holborn durch und sind in vier Minuten auf die Sekunde dort. Das ist ein Londoner Echter jetzt, was, Miß?«

Mr. Guppy schien sich meinetwegen darüber sehr zu freuen.

»Der Nebel ist wirklich furchtbar«, gab ich zu.

»Aber er scheint Ihnen nicht zu schaden«, sagte Mr. Guppy und ließ den Wagentritt herunter. »Er scheint Ihnen im Gegenteil gut zu tun, Miß. Nach Ihrem Aussehen zu urteilen.«

Ich wußte, es war ein harmloses Kompliment, und lachte mich selbst aus, daß ich darüber rot geworden war. Er warf dann den Wagenschlag zu und setzte sich auf den Bock, und wir lachten alle und scherzten über unsere Unerfahrenheit und die Seltsamkeit Londons, bis wir endlich durch einen Torweg einfuhren und an unserm Bestimmungsort landeten, einer engen Straße mit hohen Häusern, die wie eine längliche Zisterne für den Nebel aussah.

Vor dem Hause, an dem wir hielten und an dessen Tür sich eine blind gewordene Messingplatte mit der Inschrift: »Jellyby« befand, stand eine kleine Gruppe Menschen, meistens Kinder.

»Erschrecken Sie nicht«, rief Mr. Guppy zum Kutschenfenster herein. »Einer der kleinen Jellybys ist mit dem Kopf im Hausflurgitter stecken geblieben.«

»Das arme Kind!« sagte ich. »Bitte, lassen Sie mich hinaus.«

»Nehmen Sie sich in acht, Miß! Die kleinen Jellybys sind ein bißchen merkwürdig!« warnte Mr. Guppy.

Ich drängte mich zu dem armen Kind, das über die Maßen schmutzig und ganz erhitzt und vor Angst laut schreiend mit dem Kopf zwischen zwei Gitterstäben stak, während ein Milchmann und ein Kirchspieldiener in der besten Absicht sich bemühten, es bei den Beinen wieder herauszuziehen, wahrscheinlich in der Meinung, daß der Kopf sich von selbst der Weite der Öffnung anbequemen würde.

Ich beruhigte das Kind, und als ich fand, daß es sehr klein war und nur einen sehr großen Kopf hatte, dachte ich mir, wo der Kopf durchgekommen ist, muß auch der Körper durchgehen, und äußerte, der beste Weg, das Kind herauszubringen, sei, es vorwärts zu schieben. Der Milchmann und der Kirchspieldiener führten mit solchem Eifer meinen Vorschlag aus, daß sie den Kleinen auf der Stelle in das Kellergeschoß geschoben haben würden, wenn ich ihn nicht noch beim Röckchen erwischt hätte. Richard und Mr. Guppy liefen in die Küche hinab, um ihn drinnen in Empfang zu nehmen. Wir erlösten ihn glücklich aus der Klemme, und sein erstes war, daß er mit einem Reifen wie besessen auf Mr. Guppy losschlug.

Von den Hausbewohnern hatte sich niemand gezeigt mit Ausnahme einer Person in Pantoffeln, die von unten mit einem Besen nach dem Kinde gestoßen hatte, – zu welchem Zwecke, weiß ich nicht und sie wahrscheinlich ebensowenig. Ich vermutete daher, Mrs. Jellyby sei nicht zu Hause, und war ganz überrascht, als uns die Person in dem Gange ohne Holzschuhe empfing, vor Ada und mir her nach dem rückwärtigen Zimmer des Erdgeschosses ging und anmeldete:

»Die beiden jungen Damen sind hier, Missis Jellyby.«

Wir kamen unterwegs an mehreren Kindern vorbei, über die man im Finstern zu stolpern kaum vermeiden konnte, und als wir vor Mrs. Jellyby erschienen, fiel eins der armen Kleinen gerade mit großem Lärm die Treppe hinab; eine ganze Stiege, wie es mir klang.

Mrs. Jellyby, deren Gesicht nichts von der Unruhe zeigte, die wir nicht verbergen konnten, als wir den Kopf des armen Kindes bei jeder Stufe hohl aufschlagen hörten – Richard sagte uns später, er habe sieben gezählt, den Treppenabsatz nicht mit eingerechnet –, empfing uns mit vollkommenem Gleichmut. Sie war eine hübsche, sehr kleine und wohlbeleibte Frau zwischen vierzig und fünfzig Jahren mit schönen Augen, die immer in weite Ferne zu blicken schienen, als ob sie – mit Richards Worten zu reden – nichts Näheres als Afrika sehen könnten.

»Es freut mich außerordentlich«, sagte Mrs. Jellyby mit einer angenehmen Stimme, »das Vergnügen zu haben, Sie bei mir zu sehen. Ich schätze Mr. Jarndyce ungemein, und niemand, an dem er Anteil nimmt, kann mir gleichgültig sein.«

Wir drückten unsern Dank aus und setzten uns hinter die Tür auf einen lahmen Invaliden von einem Sofa. Mrs. Jellyby hatte sehr hübsches Haar, war aber von ihren afrikanischen Pflichten zu sehr in Anspruch genommen, um es haben kämmen zu können. Der Schal, der sie lose umhüllte, fiel auf den Stuhl, als sie uns entgegenkam; und als sie sich umdrehte, um ihren Platz wieder einzunehmen, konnte es uns nicht entgehen, daß ihr Kleid hinten offen stand und in der Mitte einen Zwischenraum mit einem Gitterwerk von Korsettschnüren sehen ließ – gleich einer Sommerlaube. Das Zimmer, von einem großen mit einem Wust von Schriften bedeckten Schreibtisch fast ausgefüllt, sah im höchsten Grade schmutzig aus, und der Fußboden war mit Papier belegt. Während alles dies unsern Gesichtssinn angenehm in Anspruch nahm, erquickte unser Ohr wiederum das Geräusch eines draußen die Treppe hinunterkollernden Kindes, dessen Geschrei dann jemand unten in der Küche zu ersticken schien.

Was mir am meisten auffiel, war ein abgearbeitet und ungesund aussehendes, wenn auch keineswegs häßliches Mädchen, das am Schreibtisch saß, am Ende seiner Feder kaute und uns anstarrte.

So mit Tinte imprägniert ist, glaube ich, noch nie ein Mensch gewesen. Von ihrem wirren Haar angefangen bis zu ihren zierlichen Füßen herunter, die ausgefranste, zerschlissene und hinten niedergetretene Atlasschuhe entstellten, schien sie, von der kleinsten Nadel an, kein Kleidungsstück an sich zu haben, das in gehöriger Ordnung gewesen wäre oder am richtigen Fleck gesessen hätte.

»Sie sehen mich wie gewöhnlich sehr beschäftigt«, sagte Mrs. Jellyby und schneuzte die beiden großen, in zinnernen Leuchtern steckenden Kerzen, die einen starken Geruch von warmem Unschlitt im Zimmer verbreiteten. Das Feuer war ausgegangen und im Kamin nichts als Asche, ein Bündel Holz und ein Schüreisen.

»Sie finden mich wie gewöhnlich sehr beschäftigt, aber Sie werden das entschuldigen. Das afrikanische Projekt nimmt gegenwärtig meine ganze Zeit in Anspruch. Es hat mich in Briefverkehr mit vielen für das Allgemeinwohl begeisterten öffentlichen Körperschaften und Privatpersonen im ganzen Lande gebracht. Es freut mich, sagen zu können, daß es einen bedeutenden Aufschwung nimmt. Wir hoffen, nächstes Jahr um diese Zeit hundertfünfzig bis zweihundert rüstige Familien mit Kaffeeanbau und der Erziehung der Eingeborenen von Borriobula-Gha am linken Nigerufer beschäftigen zu können.«

Da Ada nichts sagte und mich nur hilfesuchend ansah, bemerkte ich, daß das außerordentliche Befriedigung gewähren müsse.

»Es gewährt große Befriedigung«, bestätigte Mrs. Jellyby. »Freilich erfordert es die Anspannung aller meiner Kräfte, aber das hat nichts zu sagen; wenn es nur gelingt. Und ich glaube von Tag zu Tag mehr an den Erfolg. Wissen Sie, Miß Summerson, ich wundere mich eigentlich, daß Sie niemals Ihre Blicke auf Afrika gerichtet haben?«

Diese Wendung des Gesprächs kam mir so unerwartet, daß ich nicht recht wußte, was darauf antworten. Ich machte die Einwendung, das Klima sei –

»Das schönste Klima der Welt«, unterbrach Mrs. Jellyby.

»Wirklich, Maam?«

»Gewiß! Bei der nötigen Vorsicht. Sie können nach Holborn gehen und überfahren werden, wenn Sie die nötigen Vorsichtsmaßregeln außer acht lassen. Dagegen können Sie nach Holborn gehen und brauchen durchaus nicht, wenn Sie acht geben, überfahren zu werden. Genau so verhält es sich mit Afrika.«

Ich sagte: »Natürlich« – ich dachte dabei an Holborn.

»Wenn Sie vielleicht über diesen Punkt« – Mrs. Jellyby schob uns einen Stoß Papiere hin – »und über das Thema im allgemeinen nachlesen wollen, während ich einen Brief zu Ende diktiere – hier meiner ältesten Tochter, die mir als Amanuensis dient –« Das Mädchen am Tisch hörte auf, an der Feder zu kauen, und erwiderte unsere Begrüßung mit einer Verbeugung, die halb verschämt, halb trotzig war. »– so werde ich vorderhand fertig sein«, fuhr Mrs. Jellyby mit süßem Lächeln fort, »obgleich meine Arbeit nie zu Ende geht. Wo sind wir stehen geblieben, Caddy?«

»– entbietet Mr. Swallow ihre Empfehlungen und bittet –«

»– und bittet um Erlaubnis«, diktierte Mrs. Jellyby, »ihn in Beantwortung seiner Anfrage, das afrikanische Projekt betreffend, informieren zu dürfen. – Nein, Peepy! unter keinen Umständen!«

Peepy war das unglückliche Kind, das die Treppe hinuntergefallen war und jetzt das Diktat durch sein Erscheinen unterbrach, ein Pflaster auf der Stirn kleben hatte und auf seine verwundeten Knie zeigte, an denen Ada und ich nicht wußten, was wir am meisten bedauern sollten – die Beulen oder den Schmutz. Mrs. Jellyby sagte mit der ihr in allen Lagen eigenen ruhigen Fassung: »Geh hinaus, du Nichtsnutz!« und wendete ihre schönen Augen wieder Afrika zu.

Da sie mit ihrem Diktat sogleich wieder fortfuhr und ich sie dadurch nicht störte, wagte ich in aller Stille, den armen Jungen, als er hinausgehen wollte, aufzuhalten und ihn auf den Schoß zu nehmen. Er machte darüber und daß Ada ihn küßte, ein ganz verwundertes Gesicht, schlief aber bald in meinen Armen ein, in immer längeren Zwischenräumen schluchzend, bis er endlich ganz still wurde.

Ich war zu sehr mit Peepy beschäftigt, als daß ich auf die Einzelheiten des Briefes hätte acht geben können. Ich empfing nur einen allgemeinen Eindruck von der hohen Wichtigkeit Afrikas im Gegensatz zur Nichtigkeit aller andern Länder und Dinge, daß ich mich wirklich schämte, bisher so wenig darüber nachgedacht zu haben.

»Sechs Uhr«, sagte Mrs. Jellyby endlich. »Unsere Speisestunde ist nominell, denn wir speisen zu allen Stunden. Eigentlich um fünf Uhr! Caddy, zeige Miß Clare und Miß Summerson ihre Zimmer. Sie wollen sich vielleicht ein wenig umkleiden? Sie werden mich gewiß entschuldigen, aber ich bin sehr beschäftigt. O das garstige Kind! Bitte, setzen Sie es doch hin, Miß Summerson.«

Ich bat um Erlaubnis, den Kleinen bei mir behalten zu dürfen, da er mir gar nicht lästig falle, trug ihn hinauf und legte ihn auf mein Bett.

Ada und ich hatten zwei Zimmer im ersten Stock, die durch eine Tür verbunden waren. Sie sahen ungemein kahl und unordentlich aus, und als Gardinenhalter an meinem Fenster diente eine Gabel.

»Sie hätten vielleicht gern warmes Wasser?« fragte Miß Jellyby und sah sich vergeblich nach einem Henkelkrug um.

»Wenn es keine Umstände macht.«

»Ach, daran läge nichts«, entgegnete Miß Jellyby. »Die Frage ist nur, ob welches da ist.«

Der Abend war so kalt, und die Zimmer rochen so dumpfig, daß es uns wirklich recht unbehaglich wurde und Ada fast geweint hätte. Wir lachten jedoch bald wieder und waren eifrig mit Auspacken beschäftigt, als Miß Jellyby mit der Nachricht zurückkehrte, sie bedauere sehr, aber warmes Wasser sei nicht zu haben; sie könnte den Teekessel nicht finden und der Waschkessel in der Küche sei zerbrochen.

Wir baten sie, sich doch nicht weiter zu inkommodieren, und beeilten uns soviel wie möglich, um wieder hinunter in die geheizte Stube zu kommen.

Aber alle kleinen Kinder standen draußen an der Treppe vor der Tür, um das seltene Schauspiel des auf meinem Bette schlafenden Peepy zu genießen, und in einem fort störte uns das beständige Erscheinen von Nasen und Fingern in höchst gefährlichen Lagen zwischen Tür und Angel. Es war unmöglich, auch nur eines der beiden Zimmer zu verschließen, denn mein Türschloß, an dem die Klinke fehlte, sah aus, als wenn es erst mit einem großen Uhrschlüssel aufgezogen werden müßte; und obgleich Ada den Griff an ihrem Schloß mit der größten Leichtigkeit um und um drehen konnte, so übte das doch nicht die geringste Wirkung auf die Tür selbst aus.

Deshalb schlug ich den Kindern vor, hereinzukommen und an meinem Tisch recht brav zu sein, und versprach, ihnen die Geschichte vom kleinen Rotkäppchen zu erzählen, während ich mich anzöge. Das taten sie auch und waren so still wie die Mäuschen, mit Einschluß Peepys, der noch zur rechten Zeit erwachte, ehe der Wolf auftrat.

Als wir hinuntergingen, sahen wir eine aus einem Trinkbecher mit der Aufschrift »Andenken an den Tunbridge-Brunnen« improvisierte Lampe auf dem Treppenabsatz blaken, und ein Mädchen, das geschwollene Gesicht mit Flanell verbunden, blies das Feuer im »Salon«, der mit Mrs. Jellybys Zimmer durch eine jetzt offene Tür in Verbindung stand, an und erstickte fast dabei. Der Kamin rauchte dermaßen, daß wir eine halbe Stunde lang hustend und tränenden Auges am offenen Fenster sitzen mußten, während Mrs. Jellyby mit unerschütterlich freundlichem Gleichmut Briefe über Afrika diktierte.

Es war ganz gut, daß sie so beschäftigt war, denn Richard erzählte uns unterdessen, daß er sich die Hände in einer Pastetenschüssel habe waschen müssen und daß sie den so emsig gesuchten Teekessel endlich auf seinem Toilettentisch gefunden hätten; und darüber mußte Ada so lachen, daß auch ich mich nicht mehr zurückhalten konnte.

Kurz nach sieben Uhr gingen wir hinunter zum Essen, vorsichtig auf Miß Jellybys Rat, denn die Treppenteppiche saßen nicht fest und waren so zerrissen, daß sie die reinsten Fußangeln bildeten.

Wir hatten einen schönen Schellfisch, Roastbeef, Koteletten und einen Pudding; ein vortreffliches Diner, wenn nicht alles fast roh gewesen wäre. Das Mädchen mit dem verbundenen Gesicht bediente und ließ alles auf den Tisch fallen, wo es gerade hinfiel, und rührte es nicht eher wieder an, bis sie es am Schluß auf die Treppe setzte. Die Person mit den Pantoffeln – wahrscheinlich die Köchin – erschien ebenfalls häufig und focht mit dem Mädchen an der Tür Scharmützel aus; und es schien ein großer Haß zwischen beiden zu herrschen.

Während des ganzen Mahles, das sehr lange dauerte, weil sich unvorhergesehene Zwischenfälle ereigneten, wie zum Beispiel, daß die Schüssel mit den Kartoffeln irrtümlich im Kohlenkasten abgesetzt und vergessen worden war und der Griff des Korkziehers abging und dem Dienstmädchen an das Kinn flog, behielt Mrs. Jellyby ihren Gleichmut unbeirrbar bei. Sie erzählte uns viel Interessantes von Borriobula-Gha und den Eingeborenen und nahm selbst bei Tisch so viele Briefe in Empfang, daß Richard, der neben ihr saß, vier Kuverts auf einmal in der Bratensauce schwimmen gesehen haben wollte.

Einige der Briefe enthielten Berichte von Damenkomitees oder Beschlüsse von Frauenversammlungen, die sie uns vorlas, – andere Anfragen von Leuten, deren Leidenschaften über gewisse, die Pflege des Kaffeestrauchs und der Eingebornen betreffende Fragen heftig erregt waren; wieder andere verlangten umgehend Antwort, und um diese auf der Stelle geben zu können, schickte Mrs. Jellyby ihre älteste Tochter drei oder vier Mal vom Essen weg zum Schreibtisch. Sie hatte unendlich viel zu tun und ging ohne Zweifel, wie sie uns gesagt hatte, in der Sache ganz auf.

Ich hätte gerne gewußt, wer der sanfte bebrillte Herr mit einer Glatze sein könnte, der sich auf einen freien Stuhl setzte, als der Fisch weggenommen war, ruhig und widerstandslos Borriobula-Gha über sich ergehen ließ, aber selbst nicht Farbe bekannte. Da er nicht ein Sterbenswörtchen sprach, hätte man ihn für einen Eingeborenen halten können, aber dem stand seine Gesichtsfarbe im Wege.

Erst als wir vom Tisch aufstanden und er allein mit Richard zurückblieb, fiel mir die Möglichkeit ein, es könne Mr. Jellyby sein.

Es war wirklich Mr. Jellyby.

Ein geschwätziger junger Mann namens Mr. Quale, mit großen, glänzenden Beulen anstatt Schläfen und zurückgebürstetem Haar, der abends zu Besuch kam, erklärte Ada, er sei Philantrop, und nannte das Ehebündnis zwischen Mrs. und Mr. Jellyby die Vereinigung von Geist und Stoff.

Dieser junge Mann wußte viel von Afrika und seinem Plane, die Kaffeeansiedler zu lehren, die Eingebornen im Drechseln von Pianofortebeinen zu unterrichten und damit einen Exporthandel zu treiben, zu erzählen. Es bereitete ihm ein besonderes Vergnügen, Mrs. Jellyby von sich sprechen zu machen, indem er sie z. B. fragte: »Ich glaube wirklich, Mrs. Jellyby, Sie haben schon an einem Tage hundertfünfzig bis zweihundert Briefe über Afrika empfangen, nicht wahr?« Oder: »Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, Mrs. Jellyby, so erwähnten Sie einmal, Sie hätten einmal fünftausend Zirkulare auf einen Sitz abgeschickt.« Mrs. Jellybys Antwort wiederholte er dann wie ein Dolmetscher stets noch einmal.

Den ganzen Abend saß Mr. Jellyby in einer Ecke, den Kopf gegen die Wand gelehnt, als ob er sehr niedergeschlagen wäre. Er habe mehrere Male den Mund geöffnet, erzählte uns Richard, als er mit dem Essen mit ihm allein gewesen, als hätte er etwas auf dem Herzen, aber jedes Mal habe er ihn zu Richards großer Verwirrung wortlos wieder zugemacht.

Mrs. Jellyby, in einem wahren Nest umhergestreuter Papiere sitzend, trank den ganzen Abend Kaffee und diktierte zwischendurch ihrer ältesten Tochter. Sie hatte auch eine Disputation mit Mr. Quale, die sich, soweit ich verstehen konnte, über die allgemeine Verbrüderung der Menschheit drehte, und gab einige wunderschöne Sentenzen zum besten.

Ich war keine so aufmerksame Zuhörerin, als ich hätte wünschen mögen, denn Peepy und die andern Kinder drängten sich in einer Ecke des Zimmers um Ada und mich und baten, wir möchten ihnen noch eine Geschichte erzählen. So setzten wir uns denn unter sie und erzählten ihnen flüsternd das Märchen vom gestiefelten Kater und ich weiß nicht, was sonst noch, bis sich Mrs. Jellyby ihrer zufällig erinnerte und sie zu Bett schickte. Da Peepy zu weinen anfing und nur von mir zu Bett gebracht werden wollte, so trug ich ihn hinauf, wo das Dienstmädchen mit dem verbundenen Gesicht wie ein Drache unter die kleine Schar fuhr und sie in ihre Krippen jagte.

Nachher bemühte ich mich, unser Zimmer ein bißchen hübsch zu machen und ein recht eigensinniges Feuer, das man im Kamin angezündet hatte, zum Brennen zu überreden, bis es schließlich wirklich hell aufloderte.

Als ich wieder herunterkam, bemerkte ich, daß Mrs. Jellyby mich etwas geringschätzig ansah, offenbar, weil ich so unbedeutend war.

Es war fast Mitternacht, ehe wir Gelegenheit fanden, zu Bett zu gehen, und selbst da blieb Mrs. Jellyby noch unter ihren Papieren und trank Kaffee, und ihre Tochter kaute an der Feder.

»Ein merkwürdiges Haus«, meinte Ada, als wir oben waren. »Wie seltsam von meinem Vetter Jarndyce, uns hierher zu schicken.«

»Liebe Ada«, sagte ich, »ich bin auch ganz verwirrt. Ich möchte gern daraus klug werden, aber es will mir nicht gelingen.«

»Woraus?« fragte Ada mit ihrem reizenden Lächeln.

»Aus alldem, was wir hier sehen. Es ist gewiß sehr verdienstlich von Mrs. Jellyby, sich soviel Mühe zum besten der Eingebornen zu geben – und doch – Peepy und überhaupt der Haushalt!«

Ada lachte und schlang ihren Arm um meinen Nacken, als ich vor dem Feuer stand und hineinblickte, sagte mir, ich sei ein stilles, gutes Wesen und hätte ihr Herz gewonnen. »Sie denken an alles, Esther«, sagte sie, »und sind doch so heiter. Und Sie legen überall Hand an, und so anspruchslos! Sie würden selbst dieses Haus wohnlich und gemütlich machen.«

Das einfache liebe Geschöpf! Sie war sich so gar nicht bewußt, daß sie nur sich selbst pries und vor lauter Herzensgüte soviel aus mir machte.

»Darf ich Sie etwas fragen, Ada?« sagte ich, als wir eine kleine Weile vor dem Feuer gesessen hatten.

»Aber soviel Sie wollen!«

»Wegen Ihres Vetters Mr. Jarndyce. Ich verdanke ihm soviel! Möchten Sie ihn mir nicht beschreiben.«

Ada schüttelte ihr blondes Haar aus dem Gesicht und sah mich so verwundert lachend an, daß ich selbst ganz erstaunt war – zum Teil über ihre Schönheit, zum Teil über ihre Überraschung.

»Esther!« rief sie.

»Liebe Ada?«

»Ich soll Ihnen meinen Vetter Jarndyce beschreiben?«

»Nun ja, ich habe ihn niemals gesehen.«

»Aber ich doch auch nicht«, lachte Ada.

»Das ist aber merkwürdig!«

Nein, sie hatte ihn wirklich niemals gesehen. So jung sie gewesen war, als sie eine Waise wurde, erinnerte sie sich doch, daß ihrer Mutter jedes Mal die Tränen in die Augen traten, wenn sie von ihm und der Hochherzigkeit seines Charakters sprach, auf die man mehr als auf alles andre in der Welt vertrauen könne. Deshalb hielt Ada auf ihren Vetter Jarndyce große Stücke. Er hätte ihr vor einigen Monaten geschrieben, erzählte sie, einen einfachen, ehrlichen Brief, in dem er ihr das jetzt zustande gekommene Arrangement vorschlug und ihr sagte, »daß sie mit der Zeit einige der Wunden heilen könnte, die der unselige Kanzleigerichtsprozeß geschlagen habe«.

Sie hatte den Vorschlag dankbar angenommen, ebenso wie Richard, der einen ähnlichen Brief erhalten. Richard hatte Mr. Jarndyce einmal gesehen. Aber nur ein einziges Mal vor fünf Jahren in Winchester in der Schule. Er erinnere sich seiner als eines »derben, blühenden Gesellen«, mehr konnte er Ada nicht sagen.

Ich machte mir darüber soviel Gedanken, daß ich noch vor dem Feuer sitzen blieb, als Ada schlafen gegangen war, und mir allerlei seltsame Vorstellungen von Bleakhaus machte. Wie weit alles seit gestern morgen in der Vergangenheit zurückzuliegen schien! Ich weiß nicht, wohin meine Gedanken noch abgeschweift wären, hätte mich nicht ein Klopfen an der Tür geweckt.

Ich öffnete leise und sah Miß Jellyby fröstelnd draußen stehen, eine geknickte Kerze in einem zerbrochnen Leuchter in der einen Hand und einen Eierbecher in der andern.

»Gute Nacht«, sagte sie höchst mißgelaunt.

»Gute Nacht!«

»Darf ich hereinkommen?« fragte sie kurz und unvermittelt in demselben übelgelaunten Ton.

»Gewiß. Wecken Sie nur Miß Clare nicht auf!«

Sie wollte nicht Platz nehmen, sondern blieb am Feuer stehen, tauchte ihren Tintenbeklecksten Mittelfinger in den Eierbecher, in dem sich Essig befand, und bestrich sich damit die Tintenflecke in ihrem Gesicht. Sie runzelte dabei die Stirn und sah sehr böse drein.

»Ich wollte, Afrika wäre tot«, sagte sie auf einmal.

Ich wollte einige Einwendungen machen.

»Ja, das ist mein Wunsch«, sagte sie. »Reden Sie nichts, Miß Summerson. Ich hasse und verabscheue es. Es ist eine Viecherei.«

Ich tröstete, sie sei müde, und bedauerte sie. Ich legte die Hand auf ihre Stirn und sagte, sie sei jetzt heiß, werde aber morgen gewiß wieder kühler geworden sein.

Sie stand immer noch grollend und stirnrunzelnd vor mir, dann setzte sie den Eierbecher hin und wendete sich leise nach dem Bett, wo Ada schlummerte.

»Sie ist sehr hübsch«, sagte sie mit demselben bösen Gesicht und in ihrer barschen Weise.

Ich nickte lächelnd.

»Eine Waise, nicht wahr?«

»Ja.«

»Weiß aber wahrscheinlich sehr viel? Kann tanzen, Klavier spielen und singen? Französisch und Geographie und den Globus und nähen und alles mögliche?«

»Jedenfalls.«

»Ich kann es nicht. Ich kann kaum etwas anderes als schreiben. Ich schreibe in einem fort für Mama. Mich wundert nur, daß ihr euch beide nicht geschämt habt, heute nachmittag hereinzukommen, wo ihr gesehen habt, daß ich weiter nichts kann. Das sieht eurer Bosheit ähnlich. Ihr haltet euch natürlich für sehr feine Damen!«

Ich konnte sehen, daß das arme Mädchen das Weinen ankam, und setzte mich, ohne ein Wort zu entgegnen, wieder auf meinen Stuhl und sah sie so sanft ich konnte an.

»Es ist eine Schmach«, fuhr sie fort. »Sie wissen es ganz gut. Das ganze Haus ist eine Schmach. Die Kinder sind eine Schmach. Papa ist unglücklich, und es ist kein Wunder. Priscilla trinkt – trinkt unaufhörlich. Es ist eine wahre Schande und eine Erfindung, wenn Sie sagen würden, Sie hätten es heute nicht gerochen. Wie sie heute bei Tisch bediente, roch es wie in einer Schenke; Sie wissen das ganz gut.«

»Mein liebes Kind, ich weiß es nicht.«

»Sie wissen es!« wies sie mich kurz ab. »Sie sollen nicht sagen, Sie wüßten es nicht. Sie wissen es ja doch.«

»Aber liebes Kind, wenn Sie mich nicht sprechen lassen wollen –«

»Aber Sie sprechen doch jetzt. Oder nicht? Erzählen Sie mir keine Geschichten, Miß Summerson!«

»Liebes Kind, wenn Sie mich nicht anhören wollen –«

»Ich brauche Sie nicht anzuhören.«

»O doch! Sie sollten es wenigstens tun! Ich kann doch das nicht wissen, was Sie vorhin von dem Mädchen sagten, denn es kam bei Tisch gar nicht in meine Nähe; übrigens bezweifle ich gar nicht, was Sie mir sagen, und es tut mir leid, es zu hören.«

»Sie brauchen sich kein Verdienst daraus zu machen.«

»Gewiß nicht, liebes Kind«, sagte ich. »Das wäre sehr töricht von mir.«

Das Mädchen stand immer noch neben dem Bett und beugte sich jetzt nieder, immer noch mit demselben unzufriedenen Gesicht, und küßte Ada. Dann kam sie leise wieder zurück und stellte sich neben meinen Stuhl. Ihre Brust hob sich krampfhaft; ich bemitleidete sie sehr, hielt es aber für besser, zu schweigen.

»Ich wollte, ich wäre tot«, brach sie endlich los. »Ich wollte, wir wären alle tot. Es wäre viel besser für uns.«

Im nächsten Augenblick kniete sie vor mir auf dem Fußboden, verbarg ihr Gesicht in meinem Kleid, bat mich leidenschaftlich um Verzeihung und weinte. Ich tröstete sie und wollte sie aufheben. Aber sie rief: »Nein, nein!« und duldete es nicht.

»Sie haben Mädchen unterrichtet«, schluchzte sie. »Wenn Sie mir hätten Unterricht geben können, hätte ich von Ihnen lernen können! Ich bin so unglücklich und liebe Sie so sehr!«

Ich konnte sie nicht überreden, sich neben mich zu setzen. Das einzige war, daß sie sich einen Schemel nahm und sich darauf kniete, immer noch dabei mein Kleid festhaltend.

Allmählich schlief das arme, müde Mädchen ein, und ich hob leise ihren Kopf in die Höhe, daß er auf meinem Schoße zu ruhen kam, und deckte uns beide mit Schals zu. Das Feuer ging aus, und die ganze Nacht schlummerte sie so vor dem erkaltenden Kamin.

Anfangs konnte ich nicht einschlafen und versuchte vergeblich, mich mit geschlossenen Augen in den Szenen des Tages zu verlieren. Langsam, sehr langsam wurden sie undeutlich und verwirrt. Ich fing an, über die Identität der auf meinem Schoße Schlummernden unklare Vorstellungen zu bekommen. Jetzt war es Ada, denn wieder eine meiner alten Freundinnen aus Reading, und es kam mir unglaubhaft vor, daß sie vor so kurzer Zeit erst Abschied von mir genommen hätten. Dann war es die kleine verrückte Alte, müde vom Knicksen und Lächeln; dann wieder eine Autoritätsperson in Bleakhaus. Zuletzt war es niemand, und auch ich war niemand.

Der stockblinde Tag kämpfte mühsam mit dem Nebel, als ich die Augen öffnete und dem starr auf mich gehefteten Blick eines schmutzigen kleinen Gespenstes begegnete. Peepy war aus seinem Bettchen gestiegen und in seinem Nachtjäckchen und Mützchen zu mir gekrochen und fror so sehr, daß ihm die Zähne klapperten.

40. Kapitel


40. Kapitel

Häusliche und Staats-Angelegenheiten

England ist seit einigen Wochen in einer schrecklichen Lage gewesen. Lord Coodle wollte demissionieren, Sir Thomas Doodle das Portefeuille nicht annehmen, und da in ganz Großbritannien außer Coodle und Doodle niemand nennenswerter war, gab es keine Regierung! Es war ein Segen des Himmels, daß aus dem eine Zeitlang unvermeidlich scheinenden Duell zwischen den beiden großen Männern nichts wurde. Angenommen, Coodle und Doodle hätten einander totgeschossen: England wäre ohne Regierung dagestanden und hätte warten müssen, bis der junge Coodle und der junge Doodle, die zur Zeit noch in Röckchen gingen, groß geworden wären. Dies unabsehbare Nationalunglück wurde Gott sei Dank dadurch abgewendet, daß Lord Coodle rechtzeitig entdeckte, daß, wenn er auch in der Hitze der Debatte behauptet habe, er verabscheue und verachte die ganze ehrlose Laufbahn Sir Thomas Doodles, er nur habe sagen wollen, daß ihn Parteistreitigkeiten nie verleiten würden, seinem Gegner den Tribut in offizieller wärmster Bewunderung vorzuenthalten. Ebenso rechtzeitig entdeckte man auf der andern Seite, daß Sir Thomas Doodle innerlich Lord Coodle für ein mustergültiges Beispiel von Mannesmut und Ehrenhaftigkeit halte.

Aber trotz alledem ist England doch einige Wochen lang von dem schrecklichen Verhängnis betroffen gewesen, keinen Lotsen zu haben, »um dem Sturme zu trotzen«, wie Sir Leicester Dedlock so schön zu bemerken pflegt. Das Wunderbare an der Sache ist nur, daß sich England darum gar nicht besonders gekümmert zu haben schien, denn es hat gegessen und getrunken und geheiratet wie die alte Welt in den Tagen vor der Sintflut. Aber Coodle erkannte die Gefahr, und Doodle desgleichen, und alle ihre Parteigenossen und Wähler erkannten die Gefahr auf das allerdeutlichste. Endlich hat sich Sir Thomas Doodle nicht nur herabgelassen, in das Ministerium einzutreten, sondern sich dabei sehr nobel benommen und alle seine Neffen, seine Vettern und seine Schwäger mitgebracht. So ist also wieder Hoffnung für das alte Schiff.

Doodle hat gefunden, daß er an das Land appellieren muß, besonders mit Sovereigns und Bier. Da Britannia sehr darauf brennt, Kandidat Doodle, fleischgeworden, in der Gestalt von Sovereigns in die Tasche zu stecken und ihn, geistgeworden, in Form von Bier hinunterzuschlucken und dabei falsch zu schwören, sie tue keines von beiden – offenbar zur Vermehrung ihres Ruhms und ihrer Moralität –, so nimmt die Londoner Saison ein plötzliches Ende, und alle Doodlianer und Coodlianer zerstreuen sich über ganz England, um Britannia bei diesen religiösen Feierlichkeiten zu unterstützen.

Daher sieht Mrs. Rouncewell, trotzdem sie noch keine Instruktionen empfangen hat, genau voraus, daß die Familie, begleitet von einem großen Schwarm von Vettern und andern Leuten, die in irgendeiner Weise bei dem großen politischen Werk mithelfen können, in Bälde zu erwarten ist. So nimmt die stattliche alte Dame die Zeit beim Schopf, geht die Treppen auf und ab, die Korridore und Treppen entlang, durch die Zimmer und Säle, um ohne Verzug und eignen Auges sich zu überzeugen, ob die Parkette gewichst sind, Teppiche gelegt, Vorhänge ausgeschüttelt, Betten geklopft und glatt gestrichen, Vorratskammer und Küche aufgeräumt ist und jedes Ding so hergerichtet, wie es das Ansehen der Dedlocks erfordert.

Als an diesem Sommerabend die Sonne untergeht, ist bereits alles fix und fertig. Öde und feierlich sieht das alte Haus aus, so wohnlich hergerichtet und noch von niemandem bewohnt, mit Ausnahme der gemalten Gestalten an den Wänden.

»So wie ich sind auch die andern gekommen und gegangen«, hätte der jeweilig herrschende Dedlock sagen können, als er durch die Zimmer schritt. »So sahen sie diese Galerie, trüb und verlassen, wie ich sie jetzt sehe. So wie ich jetzt, dachten sie an die Lücke, die ihr Scheiden einst in diesem Reiche verursachen würde. So wie mir jetzt wurde ihnen zu glauben schwer, daß es ohne sie bestehen könnte. Sie verließen meine Welt, wie ich jetzt die ihre verlasse, wenn ich die Tür dumpfhallend ins Schloß werfe.«

Durch einige der unverhangnen, im Sonnenuntergang glühenden Fenster in dem Hause, das in dieser Stunde nicht mehr aus dunklem grauem Stein, sondern aus glitzerndem Gold zu bestehen scheint, strömt das Licht herein, voll, reich, im Überfluß, wie alles im Sommer auf dem Lande. Jetzt tauen die gefrornen Dedlocks auf. Ein seltsames Leben tritt auf ihre Züge, wie die Schatten der Blätter darauf spielen. Ein ernster Richter in einer Ecke läßt sich zu einem Augenzwinkern verführen. Ein glotzäugiger Baronet mit einem Feldherrnstab bekommt ein Grübchen in der Wange. In den Busen einer steinharten Schäferin stiehlt sich ein Strahl Licht und Wärme, der ihr schon vor hundert Jahren gut getan haben würde. Eine Ahne Volumnias auf hohen Absätzen und ihr sehr ähnlich – sie wirft den Schatten ihres jungfräulichen Daseins volle zwei Jahrhunderte voraus – verschmilzt in einen Glorienschein und wird zu einer Heiligen. Eine Hofdame Karls II. mit runden Augen und andern dazu passenden Reizen scheint sich in einer leuchtenden, sich kräuselnden Wasserflut zu baden.

Aber bald erstirbt die Flammenpracht der Sonne. Schon ist der Fußboden dunkel, und Schatten steigen langsam die Wände hinauf und suchen die Dedlocks heim wie Alter und Tod. Jetzt fällt auf das Bild von Mylady über dem großen Kamin ein unheimlicher Schatten von einem alten Baum, der ihm die Farben raubt und es aufgeregt aussehen macht. Wie ein großer Arm scheint es eine dunkle Decke in die Höhe zu halten, auf eine Gelegenheit wartend, sie ihr über das Haupt zu werfen. Höher und dunkler kriecht der Schatten die Wand hinauf, läßt nur noch eine Weile an der Decke eine rote Glut, und dann ist die Flamme ganz erloschen.

Die Landschaft, die von der Terrasse so nahe aussah, hat sich feierlich in die Ferne zurückgezogen und ist zu einem unerreichbaren Phantom geworden wie so manches, das anfangs so nahe aussieht und dann weit, weit weg liegt. Leichte Nebel erheben sich, der Tau fällt, und die Düfte des Gartens hängen in der Luft. Die Wälder werden zu einer dichten Masse – wie zu einem einzelnen, riesenhaften Baum. Und jetzt steigt der Mond empor, um sie wieder aufzulösen und da und dort schimmernde Streifen hinter ihren Stämmen hervorzuwerfen und die Allee zu einem Pfade des Lichts und einer hohen phantastisch geformten Kathedrale zu machen.

Jetzt steht er hoch am Himmel, und das große Haus gleicht einem Körper ohne Leben. Man kann nur mit Bangen, wenn man sich durch die Korridore stiehlt, an die Lebendigen denken, die in den einsamen Schlafzimmern gelegen haben. Von den Toten ganz zu schweigen. Das ist die Stunde für das wachsende Dunkel, wo jeder Winkel eine kleine Höhle ist und jede Stufe eine Fußangel, wo sich die gemalten Glasscheiben mit blassen Farben auf dem Fußboden widerspiegeln und man in den schweren Balken der Decke alles sehen kann, nur ihre wirkliche Form nicht. Auf den Rüstungen blinken trübe Lichter, die es einem scheinen machen, als herrsche hier eine leise, kaum merkliche, gespenstische Beweglichkeit, und beim Anblick der Helme mit den herabgelassenen Visieren muß man voll Grauen an Köpfe denken, die darin stecken könnten.

Aber von allen Schatten in Chesney Wold fällt der Schatten in dem großen Salon auf Myladys Bild zuerst und verschwindet zuletzt. Um diese Stunde und bei diesem Lichtschein wird er zu dräuend erhobenen Händen, die dem schönen Antlitz nahendes Unheil künden bei jedem Hauch, der sich regt.

»Sie ist unpäßlich, Maam«, sagt ein Stallknecht in Mrs. Rouncewells Sprechzimmer.

»Mylady unpäßlich? Was fehlt ihr?«

»Nun, ich meine, sie hat sich schon, als sie zuletzt hier war, nicht besonders wohl befunden… Ich meine nicht, wie sie mit der Familie hier war, Maam, sondern wie sie durchkam wie ein Zugvogel. Mylady ist gegen sonst nicht viel ausgewesen und hat hübsch lange ihr Zimmer gehütet.«

»Chesney Wold«, entgegnet die Haushälterin mit Stolz und Befriedigung, »wird Mylady bald wieder zu Kräften bringen, Thomas. Es gibt keine schönere Luft und keinen gesünderen Ort auf der ganzen Welt.«

Thomas mag so seine besondere Meinung darüber haben, deutet sie vielleicht dadurch an, wie er sich seinen runden Kopf vom Nacken nach den Schläfen zu streichelt, aber er hütet sich, noch mehr zu sagen, und zieht sich in das Bedientenzimmer zurück, um sich an kalter Fleischpastete und Ale gütlich zu tun.

Dieser Stallknecht ist der Lotsenfisch, der vor dem edlen Hai einherschwimmt. Morgen abend kommen Sir Leicester und Mylady mit ihrem ganzen Troß und Gefolge. Es kommen die Vettern und Basen aus allen Strichen der Windrose. Von jetzt an, manche Woche, eilen geheimnisvolle Personen ohne Namen hin und her und fliegen in allen Orten des Landes herum, wo sich Doodle gerade in einem Gold- oder Bierregen zeigt, aber sie sind weiter nichts als Leute von ruhelosem Charakter, die nirgends etwas Besonderes zu tun haben.

Bei solchen nationalen Veranlassungen findet Sir Leicester die Vettern ganz nützlich. Einen bessern Jagdgesellschafter bei Tisch als Bob Stahles, Hochwohlgeboren, kann es in der Welt nicht geben. Besser angezogne Herren als die andern Vettern, um da und dort mit ihnen zu den Wahlbühnen zu reisen, um sich an Englands rechter Seite zu zeigen, würden schwer zu finden sein. Volumnia ist zwar ein bißchen verblaßt, aber von direkter Abstammung, und es gibt viele, die ihre sprühende Unterhaltung, ihre französischen Wortspiele, die so alt sind, daß sie fast schon wieder neu sind, und die Ehre, eine Dedlock zu Tisch führen zu dürfen, und gar erst das Privilegium, mit ihr zu tanzen, sehr zu würdigen wissen. Bei solchen nationalen Veranlassungen kann das Tanzen geradezu zu einer patriotischen Pflicht werden, und ununterbrochen kann man Volumnia herumhopsen sehen zum Besten eines undankbaren und pensionskargen Vaterlandes.

Mylady gibt sich nicht viel Mühe, die zahlreiche Schar der Gäste in Chesney Wold zu unterhalten, und da sie immer noch unpäßlich ist, erscheint sie auch selten früh. Aber bei all den melancholischen Diners, den bleiernen Frühstücken, den basiliskenhaften Bällen und andern trübseligen Festlichkeiten ist ihre bloße Erscheinung schon ein Trost. Was Sir Leicester betrifft, so hält er es für ganz und gar unmöglich, daß sich irgend jemand, der das große Glück hat, in diesem Haus empfangen zu werden, noch unbehaglich fühlen könne. Und er bewegt sich in einem Zustand sublimer Selbstzufriedenheit in der Gesellschaft umher wie eine großartige Kühlmaschine.

Täglich traben die Vettern durch den Staub und galoppieren über den Rasen an der Landstraße zu den Wahlbühnen hinüber – mit dänischen Handschuhen und Hetzpeitschen für die Grafschaften und Glacehandschuhen und Reitstöcken für die Landstädte –, und täglich bringen sie Berichte zurück, über die dann Sir Leicester nach dem Essen Reden hält. Täglich täuschen diese unruhigen Menschen, die im Leben nichts zu tun haben, vor, viel beschäftigt zu sein. Täglich plaudert Kusine Volumnia vertraulich über die Lage der Nation, woraus Sir Leicester zu schließen geneigt ist, daß Volumnia eine weitblickendere Frau ist, als er geglaubt hätte.

»Wie steht es mit uns?« fragt Miß Volumnia und klatscht in die Hände. »Sind wir sicher?«

– Das gewaltige Geschäft nähert sich nämlich jetzt seinem Ende, und Doodle wird in wenigen Tagen aufhören, an das Land zu appellieren. Sir Leicester ist nach dem Diner soeben in den großen Salon getreten. Ein heller Stern ersten Ranges, von Wolken von Vettern umgeben. –

»Volumnia«, entgegnet Sir Leicester, der ein Verzeichnis in der Hand hat. »Es steht ganz leidlich.«

»O, nur leidlich!«

Obgleich es warmes Sommerwetter ist, läßt sich Sir Leicester doch stets abends seinen eignen Kamin heizen. Er nimmt seinen gewohnten durch einen Ofenschirm geschützten Platz nicht weit davon ein und wiederholt mit großer Bestimmtheit, wenn auch ein wenig unzufrieden, als wolle er sagen, ich bin doch kein gewöhnlicher Mensch, und wenn ich das Wort »leidlich« gebrauche, so darf man das nicht für einen gewöhnlichen Ausdruck auffassen:

»Volumnia, es geht leidlich.«

»Wenigstens haben Sie keine Opposition?« klopft Volumnia zuversichtlich auf den Busch.

»Nein, Volumnia. Unser schwergeprüftes Land hat in mancher Hinsicht den Verstand verloren, muß ich leider sagen, aber ganz von Sinnen ist es denn doch noch nicht.«

»Es freut mich, das zu hören.«

Die letzten Worte Volumnias setzen sie wieder in Gunst bei Sir Leicester. Er neigt gnädig das Haupt und scheint damit sagen zu wollen: Im großen ganzen ein recht verständiges Frauenzimmer, wenn auch mitunter etwas vorlaut.

In der Tat war die Frage der schönen Dedlock nach der Opposition ganz überflüssig, denn wenn Sir Leicester kandidiert, so ist das dasselbe, als wenn er eine Engrosbestellung einschickte, die augenblicklich auszuführen ist. Zwei andre kleine Parlamentssitze, auf die er Anspruch hat, pflegt er als Detailbestellung von geringerer Wichtigkeit zu behandeln, indem er bloß seine Leute hinschickt und den Wählern zu verstehen gibt wie Schneidern: Machen Sie mir aus diesem Stoff zwei Parlamentsmitglieder und schicken Sie sie mir zu, wenn sie fertig sind.

»Ich bedaure, konstatieren zu müssen, Volumnia, daß an vielen Orten das Volk eine schlechte Gesinnung bewiesen hat und die Opposition gegen die Regimentspartei auf das entschiedenste und unversöhnlichste aufgetreten ist.«

»Schurrrken«, sagt Volumnia.

»Selbst«, fährt Sir Leicester mit einem Blick auf die ringsum auf Sofas und Ottomanen verstreuten Vettern fort, »selbst in vielen – das heißt, in den meisten – der Wahldistrikte, wo das Ministerium gegen eine Faktion durchgedrungen ist…«

– Die Coodlianer sind nämlich in den Augen der Doodlianer stets eine Faktion, und umgekehrt. –

«… selbst in solchen Distrikten – zur Schande Englands sei es gesagt – hat die Partei nicht ohne enorme Unkosten gesiegt. Hundert, äh«, sagt Sir Leicester und sieht die Wände mit steigendem Selbstgefühl und wachsender Entrüstung an, »Hunderttausende von Pfunden!«

– Wenn Volumnia einen Fehler hat, so ist es der, ein klein wenig unschuldig zu sein. Es würde recht gut zu einer hellblauen Schärpe und einem Schürzchen passen, harmoniert aber nicht besonders mit der Schminke und dem Perlenhalsband. –

In einem solchen Unschuldsanfall fragt sie jetzt:

»Wofür?«

»Volumnia!!« mahnt Sir Leicester mit äußerster Strenge. »Volumnia!«

»Nein, nein, ich meine nicht, wofür«, verbessert sich Volumnia mit ihrem kleinen Lieblingsschrei. »Wie gedankenlos von mir. Ich meine, wie schade!«

»Es freut mich, daß Sie meinen, wie schade«, entgegnet Sir Leicester.

Volumnia beeilt sich, die Meinung auszusprechen, das abscheuliche Volk solle wegen Landesverrats vor Gericht gestellt und direkt gezwungen werden, die Partei zu unterstützen.

»Es freut mich, Volumnia«, wiederholt Sir Leicester, ohne ihre Beschwichtigungsäußerungen zu beachten, »es freut mich, daß Sie meinen, wie schade. Es ist eine Schande für die Wähler. Aber da Sie, wenn auch unabsichtlich, mich fragten, wofür, so möchte ich Ihnen darauf antworten: Zu notwendigen Ausgaben! Ich traue Ihrem richtigen Gefühl zu, Volumnia, daß Sie hier wie anderswo dieses Thema nicht weiter verfolgen werden.«

Sir Leicester hält es für seine Pflicht, Volumnia gegenüber eine zermalmende Miene aufzusetzen, geht doch sowieso schon das Gerücht, solche notwendigen Ausgaben in etwa zweihundert Wahldistrikten könnten gar leicht mit dem Wort Bestechung in Einklang gebracht werden. Ein paar freche Witzbolde haben bereits vor einiger Zeit den Rat gegeben, aus dem Kirchengebet die das Parlament betreffende Stelle wegzulassen und statt dessen eine Bitte um Genesung für sechshundertachtundfünfzig notleidende Herren einzuschalten.

»Ich vermute«, bemerkt Volumnia, nachdem sie eine Weile gebraucht hat, um sich von der letzten Zurechtweisung wieder zu erholen, »ich vermute, daß Mr. Tulkinghorn sich zu Tode gearbeitet hat.«

»Ich wüßte nicht«, sagt Sir Leicester mit erstaunten Augen, »warum. Mr. Tulkinghorn hat mit den Wahlen nichts zu schaffen. Er ist nicht Kandidat.«

Volumnia hatte geglaubt, er habe vielleicht irgend etwas dabei zu tun und sei von irgend jemandem beschäftigt. Sir Leicester scheint wissen zu wollen, von wem und wozu. Abermals beschämt, meint Volumnia: »Nun, von irgend jemandem, um Rat zu erteilen und Arrangements zu treffen.« Sir Leicester wüßte nicht, welcher Klient von Mr. Tulkinghorn darin irgendeines Beistandes bedürft hätte.

Lady Dedlock, die an einem offnen Fenster sitzt, den Arm auf das Polster gelegt und auf die den Park einhüllenden Abendschatten hinaussehend, scheint bei Nennung des Namens aufmerksam zu werden.

Ein entfernter Vetter mit einem Schnurrbart und von äußerst hinfälligem Aussehen lispelt von seinem Ruhebett aus, jemand habe gestern gesagt, Mr. Tulkinghorn sei nach Eisenhütten jereist, um wejen irjendwas ’n Rechtsjutachten, äh, erteilen, äh, und daß es recht hübsch wäre, wenn heute, wo Wahl vorüber, Tulkinghorn mit Nachricht käme, äh, Gegner von Coodle unterlegen.

Einen Augenblick später teilt der den Kaffee servierende Merkur Sir Leicester mit, daß Mr. Tulkinghorn angekommen sei und soeben diniere. Mylady wendet einen Augenblick das Gesicht ins Zimmer und sieht dann wieder hinaus wie vorher.

Volumnia ist entzückt, zu hören, daß ihr Herzblatt angekommen ist. »Er ist so originell, ein so närrischer Kauz, der alles mögliche weiß und nichts verrät!« Volumnia ist überzeugt, daß er Freimaurer ist, wahrscheinlich Meister vom Stuhl, kleine Schürzchen trägt und sich mit Kerzen und Kellen zu einem wahren Götzenbild herausstaffiert.

Diese geistreichen Bemerkungen äußert die schöne Dedlock in jugendlicher Naivität und häkelt dabei an einer Börse.

»Seit meiner Ankunft ist er nicht ein einziges Mal hier gewesen«, setzt sie hinzu. »Ich dachte schon, seine Unbeständigkeit würde mir das Herz brechen. Ich machte mich schon fast damit vertraut, er wäre tot.«

»Mr. Tulkinghorn«, sagt Sir Leicester, »ist hier immer willkommen – und immer diskret, wo er sich auch befindet. Ein wirklich wertvoller Mensch und verdientermaßen geachtet.«

Der hinfällig aussehende Vetter vermutet, daß er ein scheußlich bejüterter Jeselle sei.

»Ich bezweifle nicht, daß ihn materielle Interessen an die Sache des Landes fesseln. Er wird selbstverständlich ausgezeichnet bezahlt und verkehrt mit der vornehmsten Gesellschaft fast wie gleichberechtigt.«

Plötzlich fahren alle auf. Dicht vor den Fenstern ist ein Schuß gefallen.

»O Gott, was ist das!« schreit Volumnia mit ihrem dünnen verwelkten Kreischen.

»Eine Ratte«, sagt Mylady. »Sie haben sie totgeschossen.«

Mr. Tulkinghorn tritt ein, gefolgt von einigen Merkuren mit Lampen und Lichtern.

»Nein, nein, noch kein Licht«, sagt Sir Leicester. »Ich glaube wenigstens. Ist Mylady die Dämmerstunde unangenehm?«

Im Gegenteil, Mylady hat sie gern.

»Und Ihnen, Volumnia?«

O, nichts erscheint Volumnia so köstlich, als im Dunkeln zu sitzen und zu plaudern.

»Tragen Sie alles wieder hinaus«, befiehlt Sir Leicester. »Tulkinghorn, ich bitte um Verzeihung. Wie geht es Ihnen?«

Mr. Tulkinghorn ist mit seiner gewohnten gemessenen Ruhe eingetreten, hat im Vorübergehen Mylady seine Huldigung dargebracht, schüttelt Sir Leicester jetzt die Hand und setzt sich in einen Stuhl an der andern Seite des kleinen Zeitungstisches, der neben dem Baronet steht. Sir Leicester fürchtet, Mylady könne sich, da sie sich noch nicht ganz wohl befinde, an dem offnen Fenster erkälten. Mylady dankt ihm, möchte aber der frischen Luft wegen lieber dort sitzen bleiben. Sir Leicester steht auf, richtet ihr den Umhang zurecht und kehrt auf seinen Platz zurück. Mr. Tulkinghorn hat unterdessen eine Prise genommen.

»Nun«, fragt Sir Leicester, »wie ist die Wahl verlaufen?«

»Ach, faul von Anfang an. Aussichtslos. Sie haben ihre beiden Kandidaten durchgebracht. Sie sind aussichtslos geschlagen. Drei zu eins!«

Es liegt in Mr. Tulkinghorns System, nie Meinungen zu haben, geschweige denn gar politische. Deshalb sagt er: »Sie« sind geschlagen, und nicht: »Wir«.

Sir Leicesters Zorn ist majestätisch. Volumnia traut ihren Ohren nicht. Der hinfällig aussehende Vetter ist der Meinung, daß so etwas stets jeschehen müsse, solange Pöbel, äh, Stimmrecht.

»Es ist der Distrikt, Sie wissen, wo man Mrs. Rouncewells Sohn als Kandidaten aufstellen wollte«, erklärt Mr. Tulkinghorn, als die andern wieder schweigen.

– Die Dunkelheit nimmt rasch zu. –

»Ein Vorschlag, den zurückzuweisen er Takt und Schicklichkeitsgefühl genug hatte, wie Sie damals ganz richtig sagten«, bemerkt Sir Leicester. »Ich kann nicht sagen, daß ich die Meinungen, die Mr. Rouncewell einmal während eines halbstündigen Besuches hier aussprach, irgendwie billige, aber in seinem Vorgehen bewies er ein Schicklichkeitsgefühl, das ich gern anerkenne.«

»Na!« sagt Mr. Tulkinghorn. »Es hielt ihn aber doch nicht ab, bei der Wahl sehr tätig einzugreifen.«

Sir Leicester schnappt deutlich nach Luft. Er kann kaum Worte finden.

»Verstehe ich Sie recht? Sagten Sie, Mr. Rouncewell habe bei der Wahl tätig eingegriffen?«

»Ungemein tätig.«

»Gegen…«

»Natürlich gegen Sie! Er ist ein vorzüglicher Redner. Er spricht einfach und mit Nachdruck, Seine Rede wirkte vernichtend, und er hat großen Einfluß. In der Auseinandersetzung des geschäftlichen Teils der Sache schlug er alle aus dem Felde.«

Die ganze Gesellschaft weiß genau, wenn sie es auch nicht sehen kann, daß Sir Leicester flammende Augen macht.

»Und sein Sohn leistete ihm vielen Beistand«, setzt Mr. Tulkinghorn als Schlußeffekt hinzu.

»Sein Sohn, Sir?« wiederholt Sir Leicester mit Bangen erregender Höflichkeit.

»Sein Sohn.«

»Der Sohn, der Myladys Kammerjungfer heiraten wollte?«

»Derselbe. Er hat bloß einen.«

»Dann, auf Ehre«, sagt Sir Leicester nach einer beängstigenden Pause, während der man ihn schnauben hörte, »dann, auf Ehre, bei meinem Leben, bei meinem Ruf, bei meinen Grundsätzen, dann sind wirklich die Dämme der Gesellschaft gebrochen, und die Wogen haben – uff – den Fuß des Gerüstes, das die Welt zusammenhält, unterspült.«

Allgemeiner Entrüstungsausbruch bei den Vettern. Volumnia meint, es sei denn doch wahrhaftig höchste Zeit, daß jemand, der die Gewalt in der Hand habe, eingreife und etwas Entscheidendes tue. Der hinfällig aussehende Vetter meint –, Vaterland, jehe, zum Deubel – mit Flachrennenjeschwindichkeit.

»Nur kein Kommentar gefälligst«, verbittet sich Sir Leicester noch ganz atemlos. »Nur kein weiterer Kommentar über diesen Vorfall! Kommentar ist überflüssig. Mylady, erlauben Sie mir, in bezug auf die Kammerjungfer zu sagen…«

»Ich beabsichtige nicht, mich von ihr zu trennen«, kommt ihm Mylady von ihrem Fenster her in leisem, aber entschiednem Ton zuvor.

»Das wollte ich nicht sagen«, entschuldigt sich Sir Leicester. »Im Gegenteil, es freut mich, das zu hören. Ich meinte nur, Sie sollten Ihren Einfluß auf das Mädchen geltend machen, um so mehr, als Sie es Ihrer Gunst für wert halten, Ihren Einfluß darauf wenden, sie nicht in so gefährliche Hände fallen zu lassen… Sie könnten ihr vor Augen führen, wie man in solcher Umgebung ihren Pflichten und Prinzipien Gewalt antun würde, und sie für ein besseres Schicksal aufsparen. Sie könnten ihr vielleicht Winke geben, daß sie wahrscheinlich auch in Chesney Wold einen Gatten finden würde, einen Gatten, der sie nicht…« – fügt Sir Leicester nach einem Augenblick Besinnen hinzu – »von den Altären ihrer Ahnen wegreißen würde.«

Diese Bemerkungen bringt er mit der stets sich gleichbleibenden Höflichkeit und Ehrerbietung vor, die er an den Tag legt, wenn er mit seiner Gemahlin redet. Sie neigt als Antwort nur den Kopf. Der Mond geht auf, und wo sie sitzt, fällt ein schmaler Streifen kaltes bleiches Licht herein auf ihr Gesicht.

»Es ist vielleicht erwähnenswert«, mischt sich Mr. Tulkinghorn ein, »daß diese Leute in ihrer Art sehr stolz sind.«

»Stolz!?« Sir Leicester glaubt sich verhört zu haben.

»Es sollte mich nicht wundern, wenn sie alle freiwillig das Mädchen aufgeben würden – ja, der Bräutigam und alle übrigen, anstatt umgekehrt –, vorausgesetzt, daß das Mädchen unter solchen Umständen überhaupt in Chesney Wold bliebe.«

»Nun«, sagt Sir Leicester mit zitternder Stimme. »Nun! Sie müssen es wissen, Mr. Tulkinghorn. Sie haben sich unter ihnen bewegt.«

»Ja, ja, Sir Leicester, ich spreche nur von Tatsachen«, entgegnet der Advokat. »Ich könnte Ihnen sogar darüber eine Geschichte erzählen –, wenn es Lady Dedlock erlaubt.«

– Mit einer Neigung ihres Kopfes erteilt sie die Bewilligung, und Volumnia ist entzückt. Eine Geschichte! O, endlich will er etwas erzählen! Ein Gespenst wird darin vorkommen, hofft Volumnia. –

»Nein, nur Fleisch und Bein.« Mr. Tulkinghorn hält einen Augenblick inne und wiederholt mit etwas mehr Nachdruck, als er sonst anzuwenden pflegt: »Wirklichkeit, Fleisch und Bein, Miß Dedlock! – Sir Leicester, ich habe erst vor kurzem die Einzelheiten erfahren. Es ist in wenig Worten erzählt. Die Geschichte ist eine Erläuterung zu dem, was ich eben sagte. Ich verschweige für jetzt die Namen. Lady Dedlock wird mich deshalb nicht der Unhöflichkeit zeihen, hoffe ich.«

– Beim Schimmer des Feuers, das nur schwach brennt, kann man ihn nach dem Mondlichtstreif blicken sehen. Vollkommen ruhig sitzt Lady Dedlock dort. –

»Ein Mitbürger dieses Mr. Rouncewell, ein Mann in ebensolchen Verhältnissen wie er, wie ich hörte, hatte das Glück, eine Tochter zu besitzen, die die Beachtung einer vornehmen Dame auf sich zog.

Ich spreche von einer wirklich vornehmen Dame, nicht bloß vornehm in seinen Augen, sondern vermählt mit einem Gentleman Ihres Standes, Sir Leicester.«

Sir Leicester sagt herablassend: »Ich verstehe, Mr. Tulkinghorn«, und deutet damit an, wie groß erst die Dame in den Augen eines Hüttenbesitzers erscheinen müßte.

»Die Dame war reich und schön, hatte eine Vorliebe für das Mädchen, behandelte es mit großer Güte und ließ es nicht von ihrer Seite. Nun behütete diese Dame trotz ihrer hohen Stellung ein Geheimnis seit vielen Jahren. Sie war nämlich in früher Jugend mit einem jungen Roué verlobt gewesen, einem Kapitän in der Armee, der jeden, der sich mit ihm einließ, ins Unglück brachte. Sie war nie mit ihm verheiratet, aber sie gebar ein Kind, dessen Vater er war.«

– Beim Schein des Feuers kann man Mr. Tulkinghorn nach dem Mondlichtstreifen blicken sehen. Das Profil Lady Dedlocks ist regungslos wie aus Stein gehauen. –

»Als der Kapitän gestorben war, hielt sie sich für sicher. Aber eine Verkettung von Umständen, mit denen ich Sie nicht zu behelligen brauche, führte eine Entdeckung herbei. Sie soll mit einer Unvorsichtigkeit ihrerseits angefangen haben, als sie sich einmal bei einer überraschten Miene ertappen ließ, und das zeigt wieder, wie schwer es selbst für den Festesten von uns ist – und sie hatte einen sehr festen Charakter –, stets auf der Hut zu sein. Sie können sich denken, welches Entsetzen im Hause herrschte, und sich selbst ausmalen, Sir Leicester, wie groß der Schmerz ihres Gatten war. Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Als Mr. Rouncewells Mitbürger von der Entdeckung hörte, duldete er ebensowenig, daß das Mädchen von der Dame weiter patronisiert werde, wie er geduldet hätte, daß man sie vor seinen Augen mit Füßen getreten haben würde. Sein Stolz war so groß, daß er sie entrüstet wegnahm, wie um sie vor der Ansteckung, von Befleckung und Schande zu bewahren. Er hatte kein Verständnis für die Ehre, die ihm und seiner Tochter durch die Herablassung der vornehmen Dame zuteil geworden war. Die Stellung des Mädchens kam ihm entehrend vor, gerade so, als ob die Dame nicht vornehm, sondern eine der allergewöhnlichsten Frauen gewesen wäre. Das ist die Geschichte. Ich hoffe, Lady Dedlock wird ihren peinlichen Charakter entschuldigen.«

Es werden verschiedne Meinungen über die Geschichte laut, die alle mehr oder weniger von Volumnias Ansicht abweichen. Diese schöne Jungfrau kann nämlich durchaus nicht glauben, daß es jemals eine solche Dame gegeben haben könne, und verweist von vornherein die ganze Geschichte in das Gebiet der Fabel. Die Majorität schließt sich dem Urteil des hinfällig aussehenden Vetters an, das in wenigen Worten abgetan ist: »Jeht lediglich blödsinnigen Mitbürger Rouncewells an.« Sir Leicester denkt im stillen an Wat Tyler bösen Angedenkens und malt sich aus, wie alles sein müßte, wenn es nach ihm ginge.

Die Unterhaltung stockt, denn man ist in Chesney Wold schon seit einiger Zeit lang aufgeblieben.

Es ist zehn Uhr vorüber, als Sir Leicester Mr. Tulkinghorn bittet, um Kerzen zu klingeln. Der Streifen Mondlicht ist inzwischen zu einem See angeschwollen, und Lady Dedlock reckt sich jetzt zum erstenmal. Sie steht auf und tritt an einen Tisch, um ein Glas Wasser zu trinken. Blinzelnde Vettern, im Kerzenschein wie Fledermäuse anzusehen, drängen sich um sie, um es ihr zu reichen. Volumnia, stets bereit, etwas zu nehmen – um so lieber, je wertvoller es ist –, nimmt ebenfalls ein Glas Wasser und nippt daran. Lady Dedlock, anmutig und vollkommen gefaßt, geht, von bewundernden Augen verfolgt, ruhevoll die lange Treppenflucht mit der lieblichen Nymphe, die sich im Gegensatz zu ihr keineswegs schöner ausnimmt als allein, hinab.

41. Kapitel


41. Kapitel

In Mr. Tulkinghorns Zimmer

Mr. Tulkinghorn tritt in sein Turmzimmer, etwas außer Atem vom Treppensteigen, obgleich er langsam gegangen ist. Auf seinem Gesicht liegt ein Ausdruck, als habe er seinen Geist von einer wichtigen Sache befreit und sei, soweit das möglich ist, zufrieden. Von einem stets so gelassnen Mann zu sagen, er triumphiere, wäre ebenso ungerecht, als ihm zuzutrauen, er ließe sich von Liebe oder Gefühl oder einer andern romantischen Schwäche aus dem Geleise bringen. Vielleicht empfindet er ein etwas erhöhtes Gefühl der Macht, wie er jetzt, die Hände auf dem Rücken, geräuschlos auf und ab geht. Im Zimmer steht ein großer Schreibtisch, auf dem sich ziemlich viele Papiere angesammelt haben. Die grünbeschirmte Lampe brennt. Die Lesebrille liegt auf dem Tisch, der Lehnstuhl ist herangerollt, und es könnte fast scheinen, als beabsichtige Mr. Tulkinghorn, vor dem Zubettgehen sich ein paar Stunden mit Geschäften zu befassen. Aber er ist heute zufällig nicht in seiner Arbeitslaune. Nach einem Blick auf die seiner harrenden Dokumente, mit tief auf den Tisch gebeugtem Kopf – er kann als alter Mann abends Gedrucktes oder Geschriebenes nicht gut lesen –, öffnet er die Fenstertür und tritt hinaus auf das flache Dach. Hier geht er wieder auf und ab und erholt sich. Wenn ein so gefühlloser Mann sich überhaupt nach der unten im Salon erzählten Geschichte zu erholen braucht.

Es gab einmal Zeiten, wo mindestens ebenso gescheite Leute wie Mr. Tulkinghorn bei Sternenlicht auf Türme stiegen und zum Himmel hinaufsahen, um dort ihr Schicksal zu lesen. Legionen von Sternen sind sichtbar dort oben, obgleich der Glanz des Mondes ihren Schimmer verdunkelt. Wenn Mr. Tulkinghorn seinen eignen Stern sieht, während er gleichmäßig auf dem Bleidach auf und ab schreitet, muß es ein ziemlich blasser sein, nach dem Aussehen seines rostigen Vertreters auf Erden zu schließen. Wenn er sein Schicksal lesen will, kann er das vielleicht aus andern Zeichen in seiner Nähe leichter tun.

Während er auf dem platten Dach auf und ab geht, die Gedanken in weite Fernen gerichtet, halten ihn plötzlich bei einem Fenster zwei Augen fest, die den seinen begegnen. Die Decke seines Zimmers ist ein wenig niedrig, und der obere Teil der Türe, die dem Fenster gegenüberliegt, ist aus Glas. Es ist auch noch eine innere, mit grünem Tuch beschlagne Tür vorhanden, aber da die Nacht warm ist, hat er sie beim Heraufkommen nicht zugemacht. Die Augen, die jetzt den seinen begegnen, sehen durch die Glasscheibe von dem Korridor draußen herein. Er kennt sie gut. Seit langen Jahren ist ihm das Blut nicht so heiß ins Gesicht geschossen wie jetzt, wo er Lady Dedlock erkennt.

Er tritt in das Zimmer, und auch sie kommt herein und schließt beide Türen hinter sich. Eine wilde Verstörung – ist es Furcht oder Zorn? –hegt in ihren Augen, aber in ihrer Haltung und auch sonst sieht sie genau so aus wie vor zwei Stunden im Salon.

Ist es jetzt Furcht oder Zorn? Er kann es nicht sicher wissen. Beide können so blasse und gespannte Mienen erzeugen.

»Lady Dedlock?«

Sie spricht anfangs nicht, selbst nicht, nachdem sie sich langsam in den Lehnstuhl am Tisch hat sinken lassen.

Sie sehen einander an wie zwei Bilder.

»Warum haben Sie meine Geschichte so vielen Personen erzählt?«

»Lady Dedlock, ich mußte Sie wissen lassen, daß ich sie kenne.«

»Seit wie lange kennen Sie sie?«

»Geargwöhnt habe ich sie schon seit langer Zeit… Vollkommen kennengelernt erst seit kurzem.«

»Seit Monaten?«

»Seit Tagen.«

Er steht vor ihr, die eine Hand auf einer Stuhllehne und die andre in seiner altmodischen Weste und dem Busenstreif. Genau so hat er schon tausendmal, seit sie sich verheiratete, vor ihr gestanden. Dieselbe förmliche Höflichkeit, dieselbe gefaßte Ehrerbietung, die geradesogut Mißtrauen sein könnte – der ganze Mann, derselbe dunkle Gegenstand wie je –, immer in derselben Distanz, die nie etwas hat verringern können.

»Ist das, was Sie von dem armen Mädchen erzählten, wahr?«

Er neigt ein wenig den Kopf und streckt ihn vor, als verstünde er die Frage nicht ganz.

»Was Sie vorhin erzählten. Ist es wahr? Kennen ihre Freunde meine Geschichte ebenfalls ? Ist sie schon Stadtgespräch ? Steht sie an den Wänden geschrieben und schreit man sie auf der Straße aus?«

– Also Zorn und Furcht und Scham. Alle drei kämpfen miteinander. Welche Kraft dieses Weib doch besitzt, ihre rasenden Leidenschaften niederzuhalten! Diese Gedanken schießen Mr. Tulkinghorn durch den Kopf, während er Mylady anblickt, seine struppigen grauen Augenbrauen ein Haar breit mehr zusammengezogen als gewöhnlich. –

»Nein, Lady Dedlock. Es war nur eine Hypothese, die ich anführte, weil Sir Leicester einen so hochmütigen Ton anschlug, wahrscheinlich, ohne es selbst zu wissen. Aber es würde wirklich so kommen, wenn sie wüßten, was wir wissen.«

»Also wissen sie es noch nicht?«

»Nein.«

»Kann ich das arme Mädchen vor Leid bewahren, ehe sie es erfahren?«

»Wahrhaftig, Lady Dedlock«, entgegnet Mr. Tulkinghorn, »darüber kann ich keine genügende Antwort geben.«

Und er denkt voll Interesse und Neugier, während er den Kampf in ihrem Herzen beobachtet: Macht und Kraft dieser Frau sind erstaunlich.

»Sir«, sagt sie, für den Augenblick gezwungen, das Zucken ihrer Lippen mit aller Energie zu bekämpfen, um deutlicher sprechen zu können. »Ich will mich klarer ausdrücken. Ich will nicht über die Möglichkeit Ihrer Hypothese streiten. Ich fühlte ihre Wahrheit so stark wie Sie, als ich damals Mr. Rouncewell hier sah. Ich wußte recht gut, daß er es für eine Schmach für das arme Mädchen gehalten hätte, wäre er imstande gewesen, mich so zu sehen, wie ich bin. Aber ich interessiere mich für sie oder, besser gesagt, da ich nicht mehr hierher gehöre, ich interessierte mich für sie. Und wenn Sie soviel Rücksicht auf die Frau nehmen können, die Sie jetzt unter Ihre Füße getreten haben, das im Auge zu behalten, so würden Sie sie dadurch sehr verpflichten.«

Mr. Tulkinghorn, mit tiefster Aufmerksamkeit zuhörend, lehnt mit einem bescheidnen Achselzucken ab und zieht seine Augenbrauen noch etwas mehr zusammen.

»Sie haben mich auf meine Bloßstellung vorbereitet, und ich danke Ihnen auch dafür. Verlangen Sie sonst noch etwas von mir? Ist noch eine Schuld von mir zu tilgen, die ich tilgen könnte, oder bin ich imstande, irgendeine Unannehmlichkeit meinem Gatten zu ersparen, indem ich ihn freimache, dadurch, daß ich die Richtigkeit Ihrer Entdeckung schriftlich bestätige? Ich bin bereit und zu diesem Zweck hier, um alles zu schreiben, was Sie diktieren.«

– Sie würde es wahrhaftig tun, denkt der Advokat, als er sieht, wie sie mit fester Hand die Feder ergreift. –

»Ich will Sie nicht bemühen, Lady Dedlock. Bitte, schonen Sie sich.«

»Ich habe das alles, wie Sie wissen, schon lange kommen sehen. Ich wünsche mich weder zu schonen noch von Ihnen schonen zu lassen. Schlimmeres, als Sie mir schon zugefügt haben, können Sie nicht tun. Verfahren Sie jetzt, ganz wie es Ihnen beliebt.«

»Lady Dedlock, es handelt sich um nichts dergleichen. Ich werde mir erlauben, ein paar Worte zu sprechen, wenn Sie zu Ende sind.«

Die beiden hätten eigentlich nicht mehr nötig, einander zu beobachten, aber sie tun es ohne Unterlaß, und die Sterne beobachten sie beide durch das offne Fenster herein. Draußen im Mondlicht liegt friedlich das Waldland, und das weite Haus des Lebens ist so still wie das enge des Todes. Das enge! Wo sind in dieser stillen Nacht der Totengräber und der Spaten, bestimmt, das letzte große Geheimnis zu den vielen Geheimnissen des Tulkinghornschen Daseins zur Ruhe zu bestatten? Ist der Mann schon geboren, der Spaten schon geschmiedet? Seltsame Frage, darüber nachzudenken. Seltsamer vielleicht noch, nicht darüber nachzudenken unter den beobachtenden Sternen der Sommernacht.

»Von Reue oder Gewissensbissen oder jedem andern Gefühl meines Herzens sage ich kein Wort«, fährt Lady Dedlock fort. »Wenn ich nicht stumm wäre, würden Sie taub sein. Lassen wir das. Es paßt nicht für Ihre Ohren.«

Er macht eine protestierende Bewegung, aber sie weist ihn verächtlich mit der Hand zurück. »Ich bin hier, um über ganz andre Dinge mit Ihnen zu sprechen. Meine Juwelen liegen an ihrem gewöhnlichen Aufbewahrungsort. Man wird sie dort finden. Meine Kleider ebenfalls. Alle meine Wertsachen ebenso. Ein wenig bares Geld habe ich bei mir, aber nicht viel. Ich trage nicht meine eignen Kleider, um nicht erkannt zu werden. Ich bin gegangen, um von heute an verschwunden zu sein. Berichten Sie das. Weiter lasse ich Ihnen keinen Auftrag zurück.«

»Entschuldigen Sie, Lady Dedlock«, sagt Mr. Tulkinghorn unbewegt. »Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe. Sie sind gegangen?…«

»Um für alle hier verloren zu sein. Ich verlasse heute nacht Chesney Wold. Ich gehe diese Stunde.«

Mr. Tulkinghorn schüttelt den Kopf. Sie steht auf. Aber er, ohne die Hand von der Stuhllehne zu nehmen und ohne sonst seine Stellung zu ändern, schüttelt den Kopf.

»Was? Ich soll nicht gehen, wie ich gesagt habe?«

»Nein, Lady Dedlock«, antwortet er sehr ruhig.

»Wissen Sie denn nicht, welche Erleichterung für alle mein Verschwinden sein wird? Haben Sie denn vergessen, wer der einzige Schandfleck dieses Schlosses ist?«

»Nein, Lady Dedlock, durchaus nicht.«

Ohne ihn eines weiteren Wortes zu würdigen, geht sie zu der inneren Tür und faßt die Klinke, da sagt er zu ihr, ohne Hand oder Fuß zu bewegen oder auch nur seine Stimme zu erheben:

»Lady Dedlock, haben Sie die Gewogenheit, zu bleiben und mich anzuhören, oder ich bin gezwungen, ehe Sie noch die Treppe erreichen, die Alarmglocke zu ziehen und das Haus zusammenzurufen. Und dann müßte ich vor jedem Gast und jedem Bedienten, Mann oder Frau, frei heraussprechen.«

Er hat sie bezwungen.

Sie wankt, zittert und legt die Hand verwirrt an die Stirn. Bei jeder andern wären das unwichtige Zeichen, aber wenn ein so geübtes Auge wie das Mr. Tulkinghorns nur eine Spur von Schwanken in einer solchen Frau sieht, so weiß er, woran er ist.

Er wiederholt rasch: »Haben Sie die Gewogenheit, mich anzuhören, Lady Dedlock«, und deutet nach dem Stuhl, von dem sie eben aufgestanden ist. Sie zaudert, aber er wiederholt die Handbewegung, und sie setzt sich.

»Unsre Stellung zueinander ist unerquicklicher Natur, Lady Dedlock, aber da ich sie nicht dazu gemacht habe, brauche ich mich deshalb nicht zu entschuldigen. Die Stellung, die ich Sir Leicester gegenüber einnehme, ist Ihnen so gut bekannt, daß ich Ihnen wohl längst als die für eine solche Entdeckung berufenste Person erscheinen mußte.«

Lady Dedlock heftet ihre Augen auf den Boden und blickt nicht mehr auf. »Sir, es wäre besser, ich wäre gegangen. Es wäre viel besser gewesen, Sie hätten mich nicht zurückgehalten. Ich habe nichts zu erwidern.«

»Entschuldigen Sie mich, Lady Dedlock, wenn ich Ihnen noch etwas zu bedenken geben muß.«

»Dann wünsche ich, es am Fenster zu hören. Ich kann hier nicht atmen.«

– Sein argwöhnischer Blick, wie sie ans Fenster geht, verrät einen bangen Zweifel, ob sie sich nicht mit dem Plane tragen könnte, sich hinauszustürzen und unten auf der Terrasse zu zerschmettern. Aber ein nur Sekunden dauerndes Betrachten ihrer Gestalt, wie sie, ohne sich zu stützen, am Fenster steht und hinaus auf die Sterne blickt, die tief unten am Horizonte funkeln, beruhigt ihn wieder. Er dreht sich zu ihr herum und steht jetzt ein paar Schritte hinter ihr. –

»Lady Dedlock. Ich bin noch nicht imstande gewesen, über das, was ich zu tun habe, einen richtigen Entschluß zu fassen. Ich bin mir noch nicht über das klar, was ich zunächst zu tun habe.«

– Er macht eine Pause, aber sie gibt ihm keine Antwort. –

»Verzeihen Sie, Lady Dedlock. Es ist das sehr wichtig. Schenken Sie mir auch die Ehre Ihrer Aufmerksamkeit?«

»Ich höre.«

»Ich danke Ihnen. Ich hätte es wissen können, nach dem, was ich von Ihrer Charakterstärke gesehen habe. Ich hätte die Frage nicht zu stellen brauchen, aber es ist meine Gewohnheit, das Terrain schrittweise zu prüfen. In diesem unglücklichen Fall ist lediglich Sir Leicester zu berücksichtigen.«

»Also, warum halten Sie mich dann in seinem Haus zurück?« fragt sie mit gedämpfter Stimme und ohne ihren Blick von den fernen Sternen wegzuwenden.

»Weil er zu berücksichtigen ist! Lady Dedlock, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie stolz Sir Leicester ist und wie unbedingt er sich auf Sie verläßt. Wenn der Mond vom Himmel fiele, würde ihn das nicht mehr in Erstaunen versetzen als Ihr Fall von Ihrer so hohen Stellung als seine Gattin herab.«

– Sie atmet rasch und schwer, steht aber so erhobenen Hauptes da, wie er sie jemals mitten in der größten Gesellschaft hat stehen sehen. –

»Ich erkläre Ihnen unumwunden, Lady Dedlock, daß ich leichter mit bloßen Händen den ältesten Baum auf diesem Grundstück würde haben entwurzeln können, als es mir möglich gewesen wäre, das starke Band, das Sir Leicester an Sie fesselt, zu lösen oder sein Vertrauen in Sie zu erschüttern. Und selbst jetzt, wo ich die Sache in der Hand habe, zögere ich noch. Nicht, daß er zweifeln könnte, denn das ist selbst bei ihm unmöglich, sondern weil ihn nichts auf den Schlag vorbereiten könnte.« »Meine Flucht auch nicht? Bedenken Sie es noch ein Mal!« »Ihre Flucht, Lady Dedlock, würde die Wahrheit und hundert Mal mehr als die Wahrheit weit und breit ruchbar machen. Es wäre unmöglich, den Ruf der Familie auch nur einen Tag lang zu retten. Daran ist nicht zu denken.«

– In seiner Antwort liegt eine ruhige Entschiedenheit, die keine Einwendung zuläßt. –

»Wenn ich sage, daß meine Rücksicht einzig und allein Sir Leicester gilt, so betrachte ich ihn und das Ansehen der Familie als eins. Sir Leicester und die Baronetschaft, Sir Leicester und Chesney Wold, Sir Leicester und seine Ahnen und sein Majorat«, – Mr. Tulkinghorn sagt das sehr trocken – »sind, wie ich Ihnen wohl nicht weiter zu erläutern brauche, Lady Dedlock, voneinander nicht zu trennen.«

»Und weiter?«

»Deshalb muß ich viele Punkte berücksichtigen«, fährt Mr. Tulkinghorn in seinem Alltagsstil fort. »Die Sache muß vertuscht werden, wenn es möglich ist. Und wie könnte das sein, wenn Sir Leicester darüber wahnsinnig oder krank würde? Wenn ich ihm morgen früh den Schlag beibrächte, wie könnte man sich die plötzliche Veränderung in ihm erklären? Was könnte Sie beide getrennt haben? Lady Dedlock, was Sie vorhin sagten: ‚Steht die Geschichte an den Wänden geschrieben, schreit man sie auf der Straße aus‘, alles das würde auf der Stelle eintreten. Und Sie dürfen nicht vergessen, daß es nicht bloß Sie treffen würde, die ich in dieser Sache durchaus nicht berücksichtigen kann, sondern auch Ihren Gemahl, Lady Dedlock, Ihren Gemahl!«

– Er wird klarer und deutlicher, wie er fortfährt, aber nicht ein Atom bewegter oder herzlicher. –

»Die Sache stellt sich noch unter einem andern Gesichtspunkt dar. Sir Leicester hängt an Ihnen fast bis zur Verblendung. Er könnte vielleicht nicht imstande sein, diese Verblendung zu überwinden, selbst wenn er das wüßte, was wir wissen. Ich nehme damit einen extremen Fall an, aber es könnte immerhin so sein. Wenn es so wäre, ist es besser, daß er nichts weiß. Besser für die Allgemeinheit, besser für ihn, besser für mich. Ich muß alles dies in Erwägung ziehen, und es trägt mit dazu bei, mir den Entschluß außerordentlich schwer zu machen.«

– Mylady steht immer noch da und betrachtet dieselben Sterne, ohne ein Wort zu sagen. Sie scheinen jetzt langsam zu verbleichen, und sie sieht aus, als ob ihre Kälte sie erstarren machte. –

»Die Erfahrung lehrt mich«, sagt Mr. Tulkinghorn, der unterdessen die Hände in die Tasche gesteckt hat und in seiner geschäftsmäßigen Darlegung des Falles fortfährt wie eine gefühllose Maschine, »meine Erfahrung lehrt mich, Lady Dedlock, daß die meisten Leute, die ich kenne, besser nicht geheiratet hätten. Die Ehe ist der Grund von Dreivierteilen ihrer Sorgen. So dachte ich, als Sir Leicester heiratete, und so habe ich seitdem immer gedacht. Sprechen wir nicht mehr davon. Ich muß mich jetzt von den Umständen leiten lassen. Unterdessen muß ich Sie bitten, zu schweigen, und ich werde es ebenfalls tun.«

»Ich soll also mein gegenwärtiges Leben hinschleppen und seine Qualen Tag für Tag, solange es Ihnen belieben wird, tragen?« fragt sie und wendet keinen Blick von dem fernen Horizont.

»Ja, ich fürchte, Lady Dedlock.«

»Sie meinen, es ist notwendig, daß ich so auf dem Scheiterhaufen festgebunden bleibe.«

»Ich bin überzeugt, daß das, was ich Ihnen anrate, notwendig ist.«

»Ich soll also auf dieser bunt aufgeputzten Bühne, auf der ich unter meiner Maske so lange gespielt habe, bleiben, und sie soll unter mir zusammenbrechen, wenn Sie das Signal geben!« sagt sie langsam.

»Ich werde es nicht tun, ohne Sie vorher zu benachrichtigen, Lady Dedlock. Ich werde keinen Schritt tun, ohne Sie vorher zu warnen.«

»Und wir sehen uns wie gewöhnlich?«

»Ganz so wie gewöhnlich, wenn Sie gestatten.«

– Sie legt ihm ihre Fragen fast geistesabwesend vor, als ob sie sie im Gedächtnis wiederholte oder im Schlaf hersagte. –

»Und ich muß meine Schuld verbergen, wie ich es so viele Jahre lang getan habe?«

»Wie Sie es so lange Jahre getan haben. Ich hätte es nicht gern selbst erwähnt, Lady Dedlock, aber ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihr Geheimnis Sie jetzt wohl nicht schwerer bedrücken kann als früher. Ich glaube, besser gesagt, ich weiß, wir haben einander nie ganz getraut.«

– In derselben erstarrten Weise wie früher steht sie noch eine kleine Weile tief in Gedanken versunken da und sagt:

»Bleibt heute nacht noch etwas zu besprechen übrig?«

»Nun«, entgegnet Mr. Tulkinghorn gleichmütig und reibt sich leise die Hände dabei, »ich würde allerdings gern von Ihnen hören, ob Sie meinen Anordnungen beistimmen, Lady Dedlock?«

»Sie können dessen versichert sein.«

»Gut. Und ich möchte der Klarheit wegen Sie zum Schluß noch daran erinnern, daß ich einzig und allein Sir Leicesters Gefühle und Ehre und den Ruf der Familie schone. Ich sage das, für den Fall ich bei einer gelegentlichen Mitteilung an Sir Leicester auf die Tatsache wieder zurückkommen müßte. Ich hätte mich glücklich geschätzt, auch auf Lady Dedlock Rücksicht haben nehmen zu können; leider erlaubt es der Fall nicht.«

»Oh, ich kenne Ihre Pflichttreue, Sir.«

Bisher ist Mylady, ohne sich zu rühren, in Gedanken versunken dagestanden, aber endlich bewegt sie sich und wendet sich unerschüttert in ihrer natürlichen oder erzwungnen Fassung zum Gehen. Mr. Tulkinghorn öffnet beide Türen genauso, wie er es gestern oder vor zehn Jahren getan hätte, und macht ihr seine altmodische Verbeugung, wie sie hinausgeht. Es ist nicht der Blick wie sonst, den ihm das schöne Gesicht, das jetzt in der Dunkelheit verschwindet, zuwirft, als sie ihm für seine Höflichkeit kaum merklich dankt.

Die Frau erlegt sich einen ungewöhnlichen Zwang auf, denkt er sich, als er wieder allein ist.

Er wüßte das noch genauer, wenn er sähe, wie sie in ihren Gemächern verstört, die Hände hinter dem Haupt gefaltet und wie von Schmerz krampfhaft durchzuckt, auf und ab geht; wüßte es noch genauer, wenn er sie sähe, wie sie stundenlang ohne Ermüdung und ohne Rast, verfolgt von den getreuen Schritten auf dem Geisterweg, durch die Zimmer irrt. Aber er schließt das Fenster vor der kalt werdenden Nachtluft, zieht die Vorhänge zu, geht zu Bett und schläft ein. Und wie die Sterne verlöschen und der bleiche Tag in das Turmzimmer lugt und ihn mit seiner greisenhaftesten Miene daliegen findet, da sieht er aus, als hätten der Totengräber und der Spaten schon ihren Auftrag und würden bald zu graben anfangen. Und derselbe blasse Tag sieht zu, wie im Traum Sir Leicester majestätisch dem reuigen Vaterland verzeiht, wie die Vettern verschiedne öffentliche Ämter annehmen, deren Hauptpflichten im Beziehen von Gehalt bestehen, und wie die keusche Volumnia einem häßlichen alten General mit einem Mund voll falscher Zähne, gleich einem mit Tasten übersäten Klavier, der lange die Bewunderung von Bath und der Schrecken aller andern Ortschaften ist, eine Mitgift von fünfzigtausend Pfund einbringt.

Er sieht auch in Zimmer hinein, hoch oben im Dach, und in Kammern, in Höfe und Ställe, wo bescheidenere Wünsche von Seligkeiten im Portierhäuschen und im heiligen Ehestand zwischen Hänsel und Gretel träumen. Und dann steigt die glänzende Sonne empor und zieht alles mit sich hinauf – die Hänsel und Gretel, den in der Erde verborgnen Dunst, die schlummernden Blätter und Blumen, die Tiere, die da gehen, fliegen und kriechen, den Gärtner, der den tauglänzenden Rasen kehrt und smaragdenen Samt werden läßt, wo die Walze geht, und läßt den Rauch des Küchenfeuers gerade und hoch in die dünne Morgenluft sich emporkräuseln. Endlich steigt auch das Banner über Mr. Tulkinghorns in Schlummer ruhendem Haupte empor als freudige Kunde, daß Sir Leicester und Lady Dedlock in ihrem glücklichen Heim weilen und Gastfreundschaft auf dem Schlosse in Lincolnshire geübt wird.

42. Kapitel


42. Kapitel

In Mr. Tulkinghorns Wohnung

Mr. Tulkinghorn verläßt die grünen Abhänge und breitästigen Eichen des Dedlockschen Herrschaftssitzes und vertauscht sie mit der brütenden Hitze und der staubigen Luft Londons. Die Art, wie er zwischen den beiden Orten kommt und geht, ist eines seiner undurchdringlichen Privatgeheimnisse. Er erscheint in Chesney Wold, als läge es unmittelbar neben seiner Wohnung, und taucht in seiner Kanzlei auf, als habe er Lincoln’s-Inn-Fields nie verlassen. Er zieht sich weder vor der Reise anders an, noch spricht er darüber vor- oder nachher.

Diesen Morgen schmolz er wie ein Stück Eis aus seinem Turmzimmer hinweg, genauso, wie er jetzt in der späten Abenddämmerung in sein Stadtquartier hineingefriert.

Gleich einem rauchgeschwärzten Londoner Vogel unter seinen Artgenossen, die in diesen lieblichen Gefilden hausen, wo die Schafe zu Pergament, die Ziegen zu Perücken, das Weideland zu Häcksel verarbeitet werden, zieht der vertrocknete und verwelkte Advokat, der unter den Menschen wohnt und nicht mit ihnen verkehrt und alterte, ohne je eine heitere Jugend gekannt zu haben, und so lange gewohnt gewesen ist, sein ödes Nest in Höhlen und Winkeln des menschlichen Gemütes aufzuschlagen, daß er die geräumigeren und besseren Regionen darüber ganz vergessen hat, gemächlich in seinem Hause ein. In dem Brutofen, den das glühende Pflaster und die heißen Gebäude bilden, hat es ihm die Kehle mehr als gewöhnlich ausgedörrt, und er denkt durstig an seinen milden, ein halbes Jahrhundert alten Portwein.

Der Laternenmann klimmt auf Mr. Tulkinghorns Häuserseite der Inn-Fields, wo dieser Oberpriester adliger Geheimnisse jetzt in seinen düstern stillen Hof tritt, die Leiter auf und ab.

Der Advokat geht gerade die Türstufen hinauf, um in seine dämmrig dunkle Halle zu gehen, als er auf der obersten Stufe einem sich verbeugenden, lächelnden kleinen Mann begegnet.

»Sind Sie es, Snagsby?«

»Ja, Sir. Ich hoffe, Sie befinden sich wohl, Sir? Ich hatte eben die Hoffnung aufgegeben, Sir, Sie zu treffen, und wollte nach Hause gehen.«

»So? Was gibt’s? Was wünschen Sie von mir?«

»Ach, Sir«, sagt Mr. Snagsby und hält vor lauter Ehrerbietung vor seinem besten Kunden den Hut neben dem Kopf. »Ich hätte gern ein Wort mit Ihnen gesprochen, Sir.«

»Kann es hier geschehen?«

»O gewiß, Sir.«

»Also sprechen Sie.« Der Advokat dreht sich um, legt die Arme auf das eiserne Treppengeländer und sieht dem Laternenmann unten zu, wie er die Lichter im Hof anzündet.

»Es handelt sich«, beginnt Mr. Snagsby in geheimnisvollem, leisem Ton, »es handelt sich – um nicht durch die Blume zu sprechen – um die Fremde.«

Mr. Tulkinghorn sieht ihn erstaunt an. »Was für eine Fremde?«

»Die fremde Frauensperson, Sir. Französin, wenn ich nicht irre. Ich meinerseits kenne ihre Sprache nicht, aber ich möchte nach ihrem Wesen und ihrem Aussehen meinen, es sei eine Französin. Jedenfalls ist sie eine Ausländerin. Die oben im Zimmer war, Sir, als Mr. Bucket und ich an jenem Abend die Ehre hatten, Ihnen mit dem Gassenkehrerjungen unsre Aufwartung zu machen.«

»Ja, so, Mademoiselle Hortense.«

»So. Hm. Heißt sie so, Sir?« Mr. Snagsby hüstelt seinen Unterwürfigkeitshusten hinter dem Hut. »Mir sind im allgemeinen Namen von Ausländern nicht allzu geläufig, aber ich bezweifle durchaus nicht, daß man die Worte so ausspricht.« Mr. Snagsby scheint diese Antwort mit einem verzweifelten Ansatz, den Namen nachzusprechen, begonnen zu haben, aber bei näherer Überlegung beschränkt er sich lieber auf das Hüsteln.

»Und was haben Sie mir in bezug auf sie zu sagen, Snagsby?« fragt Mr. Tulkinghorn.

»Ja, sehen Sie, Sir«, antwortet der Papierhändler bescheiden in seinen Hut hinein, »es trifft mich etwas hart. Mein häusliches Glück ist sehr groß – wenigstens immerhin so groß, als es die Umstände erlauben –, aber meine kleine Frau neigt ein wenig zur Eifersucht. Um nicht durch die Blume zu sprechen, sie ist sogar außerordentlich eifersüchtig. Und sehen Sie, da kommt nun ein ausländisches Frauenzimmer von noblem Aussehen in den Laden herein, treibt sich in Cook’s Court herum – ich wäre gewiß der letzte, einen starken Ausdruck zu gebrauchen, wenn ich es vermeiden könnte –, aber sie treibt sich wirklich im Hof herum – wissen Sie –, aber sagen Sie selbst, ist es nicht so? Ich bin im voraus ganz Ihrer Meinung, Sir.«

– Nachdem Mr. Snagsby das in einer sehr kläglichen Weise vorgebracht hat, läßt er eine Art Gemeinplatzhusten hören, um alle etwa noch leergelassnen Lücken in seiner Schilderung damit auszufüllen. –

»Nun, und was wünschen Sie denn eigentlich?« fragt Mr. Tulkinghorn.

»Das ist es ja eben, Sir. Ich war überzeugt, Sie würden es selbst mitempfinden und meine Gefühle entschuldigen, wenn Sie die bekannte Reizbarkeit meiner kleinen Frau bedenken wollten. Sehen Sie, die ausländische Frauensperson – deren Namen Sie soeben nannten –schnappte an jenem Abend das Wort Snagsby auf – denn sie faßt ungewöhnlich rasch auf – und forschte weiter nach, erfuhr meine Adresse und platzte zum Mittagessen herein. Nun, wissen Sie, ist Guster, unser Mädchen, sehr furchtsam und überdies Krämpfen unterworfen, und richtig bekommt sie beim Anblick der ausländischen Person und infolge der höhnischen Manier, mit der sie spricht und sie sehr erschreckt, ihre Anfälle und stürzt die Küchentreppe hinab. Zum Glück war meine Frau damit beschäftigt, sie wieder zum Leben zurückzubringen, und außer mir weilte niemand im Laden. Die Ausländerin sagte mir, da sich Mr. Tulkinghorn beständig vor ihr verleugnen ließe, wollte sie sich solange das Vergnügen machen, in meinen Laden zu kommen, bis sie vorgelassen würde… Seit dieser Zeit hat sie sich unablässig in Cook’s Court herumgetrieben«, wiederholt Mr. Snagsby mit rührendem Nachdruck. »Die Folgen dieses Benehmens sind nicht auszudenken. Es würde mich nicht wundern, wenn es selbst in den Köpfen der Nachbarn, von meiner kleinen Frau gar nicht zu reden, bereits zu den peinlichsten Mißverständnissen Anlaß gegeben hätte. Und ich habe doch, der Himmel weiß es, nie im Leben von einem ausländischen Frauenzimmer auch nur geträumt, außer höchstens als Kind in Verbindung mit einem Bund Ruten oder einem Sack Nüsse. Das versichere ich Ihnen, Sir.«

Mr. Tulkinghorn hat das Herzeleid des Papierhändlers mit ernstem Gesicht bis zu Ende angehört und fragt jetzt: »Nun, und das ist alles, Snagsby?«

»Gewiß, Sir, das ist alles.« Mr. Snagsby fügt ein Hüsteln hinzu, das deutlich sagen soll: Ich dächte wirklich, daß das für meine Verhältnisse gerade genug ist.

»Ich weiß wirklich nicht, was Mademoiselle Hortense verlangen oder wollen mag, sie müßte denn verrückt geworden sein«, sagt der Advokat.

»Aber auch für diesen Fall, Sir«, fällt Mr. Snagsby ein, »wäre es kein großer Trost, fürchten zu müssen, eines Tages eine ausländische Waffe in Gestalt eines fremdländischen Dolches im Herzen seiner Familie stecken zu sehen.«

»Nein«, gibt Mr. Tulkinghorn zu. »Gut, gut! Dem soll ein Ende gemacht werden. Es tut mir leid, daß Sie Ungelegenheiten deswegen gehabt haben. Wenn sie wieder kommt, schicken Sie sie zu mir.«

Mit vielen Bücklingen und einem kurzen um Verzeihung bittenden Hüsteln empfiehlt sich Mr. Snagsby erleichterten Herzens. Mr. Tulkinghorn geht die Treppe hinauf und murmelt vor sich hin: »Ob nicht diese Weiber geschaffen sind, auf der ganzen Welt den Frieden zu stören. Ich habe noch nicht genug mit der Herrin zu tun, da kommt mir noch die Kammerzofe in die Quere! Aber mit dieser Dirne will ich mich wenigstens kurz fassen.«

Mit diesen Worten sperrt er seine Türe auf, tastet sich seinen Weg in das dunkle Zimmer, zündet seine Kerzen an und blickt um sich. Es ist zu dunkel, um viel von der Allegorie an der Decke zu sehen, aber der aufdringliche Römer, der beständig aus den Wolken fällt und mit dem Finger nach abwärts deutet, ist unentwegt in dieser Beschäftigung tätig. Mr. Tulkinghorn schenkt ihm weiter keine Aufmerksamkeit, zieht einen kleinen Schlüssel aus der Tasche, öffnet damit eine kleine Schublade, in der wieder ein Schlüssel liegt. Dieser erst paßt zu dem Kästchen, in dem der Schlüssel liegt, der den Aufenthaltsort des Kellerschlüssels aufsperrt.

Mit dem Licht in der Hand geht Mr. Tulkinghorn, in der Absicht, in die Regionen des Portweins hinabzusteigen, zur Türe, da klopft es.

»Wer ist da? – Aha, Mistreß. Sie sind es. Sie kommen mir gerade recht. Ich habe eben von Ihnen gehört. Nun! Was wollen Sie?« Er stellt das Licht auf den Kamin im Wartezimmer und klopft sich die dürre Wange mit dem Schlüssel, wie er Mademoiselle Hortense so bewillkommt.

Die katzenhafte Zofe mit ihren schmalen Lippen schließt, den Advokaten aus den Augenwinkeln ansehend, geräuschlos die Tür.

»Ich habe große Mühe gehabt, Sie zu finden, Sir«, sagt sie mit französischem Akzent. »So. Ich bin sehr oft hier gewesen, Sir. Immer hat es geheißen, er nicht zu Haus, er beschäftigt, er dies und das, er nicht bei sich.«

»Stimmt schon.«

»Stimmt nicht. Lügen!«

– Manchmal kann in Mademoiselle Hortenses Wesen etwas Rasches sein, das einem plötzlichen Sprung beängstigend ähnlich sieht. Der, den es angeht, pflegt in solchen Augenblicken unwillkürlich zu erschrecken und zurückzubeben. So geht es gegenwärtig Mr. Tulkinghorn, obgleich Mademoiselle Hortense mit fast geschlossnen Augen ruhig dasteht und nur verachtungsvoll lächelt. –

»Nun, Mistreß«, sagt der Advokat und klopft mit dem Schlüssel ungeduldig auf das Kaminsims, »wenn Sie etwas zu sagen haben, genieren Sie sich nicht.«

»Sir, Sie aben mich behandelt nicht gut. Sie sind gewesen gemein und schäbig.«

»Gemein und schäbig, oho!« Mr. Tulkinghorn reibt sich mit dem Schlüssel die Nase.

»Ja. Was ist es sonst? Sie aben mich drangekriegt – mich gefangen, um sich zu verschaffen Information. Sie mich haben lassen anziehen das Kleid, das Mylady muß getragen haben diesen Abend, haben mich gebeten, zu kommen ier und zu sehen den Knaben… Sprechen Sie!« Mademoiselle Hortense macht wieder einen Sprung.

»Zänkische Bestie!« scheint sich Mr. Tulkinghorn zu denken, wie er sie mißtrauisch mustert. Dann gibt er zur Antwort: »Gut, Dirne. Habe ich Sie denn nicht bezahlt?«

»Sie, mich bezahlt«, wiederholt sie verächtlich voller Wut. »Zwei Sovereign. Ich habe sie nicht gewechselt. Ich ver-achte sie, ich wer-fe sie von mir, ich will sie nicht.«

Sie nimmt die Goldstücke bei diesen Worten aus ihrem Busen und wirft sie mit solcher Gewalt auf den Fußboden, daß sie klingend wieder in die Höhe springen, dann in die Ecke kollern und sich dort langsam klirrend beruhigen.

»Nun!« sagt Mademoiselle Hortense und schließt ihre großen Augen wieder halb. »Sie mich aben bezahlt? Mon dieu, o ja?«

Mr. Tulkinghorn kratzt sich amüsiert mit dem Schlüssel den Kopf und lächelt sarkastisch dabei.

»Sie müssen reich sein, meine schöne Freundin«, bemerkt er gleichmütig, »wenn Sie Geld auf diese Weise wegwerfen können.«

»Ich bin reich. Ich bin reich an Haß. Ich hasse Mylady aus tiefster Seele. Sie wissen das.«

»Wissen? Woher soll ich es wissen?«

»Weil Sie es gewußt aben ganz gut, ehe Sie mich baten, Ihnen zu geben diese Information. Weil Sie aben gewußt ganz gut, daß ich war voll Zorrn.«

Mademoiselle scheint das »r« nicht wütend genug schnarren zu können, trotzdem sie schon energisch genug beide Hände ballt und mit den Zähnen knirscht.

»So! Wußte ich es? Wirklich?« sagt Mr. Tulkinghorn und besieht sich den Bart des Schlüssels.

»Ja, gewiß. Ich bin nicht blind. Sie haben mich umgarnt, weil Sie das wußten. Sie hatten recht. Ich verabscheue sie.« Mademoiselle Hortense verschränkt ihre Arme und wirft ihm ihre Bemerkung über die Schulter hin zu.

»Haben Sie außerdem noch etwas zu sagen, Mademoiselle?«

»Ich abe noch keine Stellung. Verschaffen Sie mir eine gute Stellung. Wenn Sie das nicht können oder nicht wollen, stellen Sie mich an, sie zu verfolgen, sie in Schmach und Schande zu hetzen. Ich will Ihnen helfen gut und mit gutem Willen. Sie wollen das doch. Glauben Sie, ich weiß es nicht?«

»Sie scheinen überhaupt sehr viel zu wissen«, entgegnet Mr. Tulkinghorn.

»Weiß ich nicht viel? Bin ich etwa so dumm, zu glauben, wie ein Kind, daß ich bin hierhergekommen in dem Kleid, um den Knaben zu sehen, nur wegen einer kleinen Wette? Mon dieu, o ja.«

– Anfangs hat Mademoiselle, ironisch höflich, liebenswürdig gesprochen, dann ist sie plötzlich zum bittersten Hohn übergegangen, und ihre schwarzen Augen, eben noch fast ganz geschlossen, sind jetzt weit aufgerissen. –

»Wollen mal sehen, wie die Sachen stehen«, sagt Mr. Tulkinghorn, klopft sich mit dem Schlüssel an das Kinn und macht ein höchst gleichmütiges Gesicht.

»Ja! Wollen mal sehen«, stimmt Mademoiselle mit lebhaftem und zornigem Kopfnicken ein.

»Sie kommen zu mir mit dem merkwürdig bescheidnen Verlangen, das Sie eben ausgesprochen haben, und wollen wahrscheinlich, wenn ich Ihnen nicht willfahre, wiederkommen?«

»Wiederkommen«, bestätigt Mademoiselle und nickt abermals zornig. »Und wieder. Und immer wieder. Und immer und immer wieder, ja, ewig.«

»Und nicht nur hierher wollen Sie kommen, sondern auch, wenn das keinen Erfolg hat, zu Mr. Snagsby? Immer und immer wieder?«

»Immer wieder«, knirscht Mademoiselle verbissen. »Und immer wieder. Und immer wieder.«

»Sehr gut. Jetzt, Mademoiselle Hortense, möchte ich Ihnen empfehlen, das Licht zu nehmen und Ihr Geld aufzulesen. Wenn ich nicht irre, liegt es hinter dem Pult des Schreibers dort in der Ecke.«

Sie schleudert ihm nur über die Schulter eine Lache ins Gesicht und bleibt, die Arme verschränkt, unbeweglich stehen.

»Sie wollen nicht?«

»Nein, ich will nicht.«

»Nun, dann sind Sie um zwei Sovereigns ärmer und ich um diese Summe reicher. Sehen Sie einmal, Mistreß, das ist der Schlüssel zu meinem Weinkeller. Ein hübsch großer Schlüssel, aber die Schlüssel von den Gefängnissen sind noch größer. In dieser Stadt gibt es Zwangsanstalten mit Tretmühlen – auch für Frauen –, deren Kerkertüren sehr dick und schwer sind, und wahrscheinlich auch die Schlüssel. Ich fürchte, einer Dame von Ihrem Temperament und Ihrer Lebhaftigkeit würde es kaum angenehm sein, sich von einem solchen Schlüssel auch nur ein paar Stunden einsperren zu lassen. Was meinen Sie dazu?«

»Ich meine«, entgegnet Mademoiselle, ohne sich zu rühren, in einem klaren verbindlichen Ton, »daß Sie sind – ein elender Schuft.«

»Schon möglich!« Mr. Tulkinghorn schneuzt sich ruhig. »Aber ich frage nicht, was Sie von mir denken, sondern was Sie vom Gefängnis halten.«

»Nichts. Was geht es mich an!«

»Nun, es geht Sie insoweit an, Mistreß«, sagt der Advokat, steckt langsam das Taschentuch ein und zupft sich den Busenstreif zurecht, »daß das Gesetz hierzulande so ungeniert ist, sich energisch einzumischen, um unsere guten englischen Bürger gegen ungebetne Besuche, selbst wenn sie von Damen kommen, zu schützen. Wenn sich jemand beschwert, daß ihn ein solcher Besuch belästigt, so nimmt das Gesetz die betreffende Dame beim Kragen und steckt sie hinter Schloß und Riegel. Ja, es dreht sogar den Schlüssel hinter ihr um, Mistreß.« Mr. Tulkinghorn macht mit dem Kellerschlüssel die entsprechende Bewegung.

»Nein, wirklich?« höhnt Mademoiselle in demselben verbindlichen Ton. »Wie drollig! Aber – meiner Treu – was geht das mich an!«

»Meine schöne Freundin«, sagt Mr. Tulkinghorn, »kommen Sie nur noch einmal hierher oder zu Mr. Snagsby, und Sie werden es erfahren.«

»Dann würden Sie mich vielleicht ins Gefängnis schicken?«

»Vielleicht.«

Mademoiselle macht Miene, mit schäumendem Mund tigerhaft die Zähne zu fletschen, bezwingt sich aber, denn es hätte nicht zu ihrer scherzhaften Stimmung gepaßt.

»Kurz und gut, Mistreß«, sagt Mr. Tulkinghorn, »es würde mir leid tun, unhöflich sein zu müssen, aber wenn Sie noch ein Mal uneingeladen hierher kommen oder zu Mr. Snagsby, übergebe ich Sie der Polizei. Sie ist sonst sehr galant gegen Damen, aber lästig fallende Personen läßt sie auf eine gewisse unangenehme Weise, auf ein Brett geschnallt, durch die Straßen tragen, mein Dämchen.«

»Ich werde Sie beim Wort nehmen«, flüstert Mademoiselle und streckt ihre Hand ganz seltsam aus. »Ich will sehen, ob Sie es wagen.«

»Und wenn ich Ihnen diese gute Stelle im Kerker einmal verschafft habe«, fährt der Advokat gelassen fort, »wird es einige Zeit dauern, ehe ich Sie wieder in Freiheit sehen darf.«

»Ich werde Sie auf die Probe stellen«, wiederholt Mademoiselle mit ihrem früheren Flüstern.

»Und jetzt«, fährt der Advokat fort, immer noch ohne sie zu beachten, »täten Sie am besten, Sie gingen. Überlegen Sie es sich zwei Mal.«

»Und überlegen Sie sich zweihundert mal zwei Mal Ihren Schritt«, gibt sie zur Antwort.

»Sie wissen, Ihre Herrin hat Sie entlassen, weil Sie so unduldsam und unlenkbar wie nur möglich waren«, bemerkt Mr. Tulkinghorn, während er sie hinausbegleitet. »Schlagen Sie jetzt ein andres Blatt auf und seien Sie gewarnt. Was ich sage, das meine ich auch. Und was ich drohe, das tue ich, Mistreß.«

Sie geht die Treppe hinunter, ohne ein Wort zu erwidern oder sich umzusehen. Als sie fort ist, geht auch er hinunter und kehrt mit einer bestaubten, bespinnwebten Flasche zurück und setzt sich hin, um in aller Muße seinen Portwein zu schlürfen.

Dann und wann, wenn er sich im Stuhl zurücklehnt, fällt ihm der mit hartnäckiger Ausdauer auf ihn weisende Römer an der Decke in die Augen.

43. Kapitel


43. Kapitel

Esthers Erzählung

Es gehört nicht hierher, wie oft ich an meine Mutter dachte, die mich gebeten hatte, ihrer wie einer Toten zu gedenken. Ich durfte nicht wagen, mich ihr zu nähern oder ihr zu schreiben, denn ich mußte fürchten, die Gefahr, in der sie beständig schwebte, dadurch nur noch zu vermehren. Mir stets bewußt, daß mein bloßes Dasein für sie eine ungeahnte Gefahr auf ihrer Lebensbahn bedeutete, konnte ich mich manchmal kaum erwehren, wieder von dem Entsetzen befallen zu werden, das mich damals das erste Mal ergriffen hatte, als ich von ihr das Geheimnis erfuhr. Niemals getraute ich mich, ihren Namen auszusprechen. Es war mir, als dürfte ich nicht einmal wagen, ihn nennen zu hören. Wenn das Gespräch gelegentlich in meiner Gegenwart auf sie kommen zu wollen schien, zwang ich mich, so gut es ging, nicht hinzuhören, oder ich zählte oder sagte innerlich etwas her oder verließ das Zimmer.

Wie oft rief ich mir die Stimme meiner Mutter ins Gedächtnis zurück und grübelte darüber nach, ob ich sie jemals wieder hören würde. Ich sehnte mich so nach ihr und mußte daran denken, wie seltsam und traurig es war, daß sie mir so neu und fremd klang.

Es kommt jetzt wenig darauf an, daß ich oftmals an der Tür ihres Hauses in der Stadt vorüberging und sie so gern angesehen hätte und mich davor fürchtete –, daß ich einmal im Theater war, als sich auch meine Mutter darin befand und mich sah und wir so weit getrennt waren – in jeder Hinsicht –, daß mir die Möglichkeit, zwischen uns könne überhaupt ein Band existieren, wie ein Traum erschien. Es ist jetzt doch alles, alles vorüber.

Mein Lebensweg ist so mit Freude und Segen bestreut gewesen, daß ich nur wenig von mir berichten kann, was nicht von der Güte und dem Edelmut andrer Zeugnis ablegte. So kann ich recht gut mein Leid übergehen und fortfahren.

Als wir uns wieder zu Hause eingewöhnt hatten, sprachen Ada und ich oft und viel mit meinem Vormund über Richard. Meinen Liebling schmerzte es tief, daß er meinem Vormund so unrecht tat, aber sie hielt so treu zu Richard, daß sie trotzdem kein tadelndes Wort über ihn hätte ertragen können. Mein Vormund wußte das recht gut und verband seinen Namen nie mit einem Wort des Vorwurfs.

»Rick ist nur im Irrtum, liebes Kind«, pflegte er immer wieder zu ihr zu sagen. »Nun, wir alle haben schon oft geirrt. Wir müssen seine Belehrung dir und der Zeit überlassen.«

Wir erfuhren später, was wir damals nur argwöhnten. Mr. Jarndyce tat alles mögliche, um Richard die Augen zu öffnen, schrieb an ihn, war zu ihm gegangen, um ihm zuzureden und es mit allen Mitteln zu probieren, die nur sein gutes Herz hätte ersinnen können. Aber unser armer Richard war für alles taub und blind. Wenn er unrecht hätte, sagte er, wollte er sein Unrecht wieder gut machen, sobald der Kanzleigerichtsprozeß vorüber sei. Wenn er im Dunkeln tappen müsse, so wolle er eben sein möglichstes tun, um die verfinsternden Wolken zu zerstreuen. Im Argwohn und im Mißverstehen andrer lägen die Fehler des Prozesses? Gut, dann solle man den Prozeß zu Ende führen, schon der Wahrheit wegen. So lautete stets seine Antwort. Jarndyce kontra Jarndyce« hatte ihn so gefangen genommen, daß es unmöglich war, ihm irgend etwas plausibel zu machen. Aus allem drehte er sich einen neuen Strick zugunsten dessen, was er sich ausgeklügelt hatte.

»Je mehr man dem armen Jungen Vorstellungen macht, desto mehr schadet man ihm«, sagte einmal mein Vormund zu mir. »Es ist vielleicht das Beste, man überläßt ihn sich selbst.«

Ich benutzte einmal eine Gelegenheit, meinen Zweifeln Ausdruck zu geben, ob Mr. Skimpole ein guter Ratgeber für Richard sei.

»Ratgeber?« lachte mein Vormund. »Aber, liebe Esther, wem würde es einfallen, sich von Skimpole einen Rat geben zu lassen!«

»Anstifter wäre vielleicht das bessre Wort«, sagte ich.

»Anstifter, Esther? Wer könnte sich denn von Mr. Skimpole zu irgend etwas aufmuntern oder anstiften lassen?«

»Nicht Richard?«

»Nein. Ein so unweltlich gesinntes, unberechnendes und immer in Wolken schwebendes Geschöpf kann ihm vielleicht ein Spaß oder zu Zeiten ein Trost sein. Von einem Kind wie Skimpole kann man nicht annehmen, daß er irgend jemand aufmuntere, anstifte oder irgend etwas überhaupt ernst nähme.«

»Bitte, Vetter John«, fragte Ada, die eben hereingetreten war und jetzt über meine Schulter blickte, »was hat ihn denn eigentlich zu einem solchen Kind gemacht?«

»Was ihn zu einem solchen Kind gemacht hat?« Mein Vormund rieb sich ein wenig ratlos den Kopf.

»Ja, Vetter John.«

»Nun«, antwortete langsam und zögernd Mr. Jarndyce und fuhr sich durch die Haare, »er ist ganz Gefühl und – Empfänglichkeit und – Sensibilität – und – und Einbildungskraft. Alle diese Eigenschaften sind bei ihm, ich weiß nicht, wieso, nicht gehörig geregelt. Ich vermute, die Leute, die ihn deswegen in seiner Jugend vielleicht bewunderten, haben auf sie zuviel Wert gelegt und zuwenig auf ihre Erziehung. Und so ist er schließlich zu dem geworden, was er ist. Wie?« Mein Vormund brach kurz ab und sah uns erwartungsvoll an. »Was haltet ihr beide davon?«

Ada warf mir einen Blick zu und meinte, es sei jedenfalls bedauerlich, daß er Richard soviel Geld koste.

»Das ist richtig. Das ist richtig«, fiel mein Vormund hastig ein. »Das darf nicht sein. Das muß anders werden. Das darf ich nicht dulden. Das geht durchaus nicht.«

Ich sagte, ich hielte es für beklagenswert, daß Mr. Skimpole wegen eines Geschenkes von fünf Pfund Richard überhaupt bei Mr. Vholes eingeführt habe.

»So? Tat er das?« Ein Schatten des Verdrusses flog rasch über das Gesicht meines Vormundes. »Da habt ihr ihn wieder. Das sieht ihm ähnlich. Bei ihm liegt darin aber trotzdem nicht die mindeste Habgier. Er hat einfach keinen Begriff von dem Werte des Geldes. Er führt Rick ein, und dann wird er gut Freund mit Mr. Vholes und borgt sich von ihm fünf Pfund. Er denkt sich nicht das geringste dabei. Ich möchte wetten, er hat es dir selbst gesagt, liebes Kind.«

»Allerdings.«

»Na also!« rief mein Vormund triumphierend. »Da haben wir’s wieder. Wenn er etwas Unrechtes damit beabsichtigt hätte, würde er dir doch nicht selbst alles erzählt haben. Er spricht so, wie er handelt, in reiner kindlicher Einfalt. Aber ihr müßt ihn einmal in seiner Wohnung sehen. Dann werdet ihr ihn besser verstehen. Wir müssen ihm einen Besuch machen und ihm wegen des erwähnten Punktes Vorstellungen machen. Ja, ja, meine Lieben, er ist ein Kind, ein reines Kind.«

So kam es, daß wir uns wenige Tage später in London befanden und bald vor Mr. Skimpoles Türe standen. Seine Wohnung lag im sogenannten Polygon in Somerstown, wo sich damals viele arme spanische Flüchtlinge aufhielten und, in Mäntel gehüllt, kleine Papierzigarren rauchend, umherschlenderten. Ob er ein besserer Mieter war, als man hätte annehmen sollen, oder weil Freund »Jemand« zuletzt immer doch den Zins bezahlte, oder ob sein Mangel an Geschäftssinn seine endgültige Entfernung aus dem Logis vielleicht schwierig gestaltete, weiß ich nicht, jedenfalls bewohnte er das Haus schon seit mehreren Jahren.

Es war in einer Weise verfallen, die unsern Erwartungen ganz entsprach. Zwei oder drei Vorgartengitter fehlten ganz, das Wasserfaß war zerbrochen, der Klopfer locker, der Klingelgriff, nach dem verrosteten Zustand des Drahtes zu urteilen, längst abgerissen, und nur schmutzige Fußtapfen auf der Treppe verrieten, daß es überhaupt bewohnt war.

Ein schlampiges üppiges Mädchen, das aus den geplatzten Nähten ihres Kleides und den Rissen in ihren Schuhen wie eine überreife Beere herauszuquellen schien, öffnete auf unser Klopfen die Tür ein wenig und versperrte die Öffnung mit ihrem Körper. Als sie Mr. Jarndyce erkannte – Ada und mir schwante es, als ob er mit ihrer monatlichen Entlohnung in einer gewissen Verbindung stünde –, schwand sofort ihre Besorgnis, und sie ließ uns eintreten.

Da das Schloß verdorben war, machte sie die Türe mit einer Kette zu, die ebenfalls nicht besonders gut erhalten war, und fragte uns, ob wir wirklich hinaufgehen wollten.

Wir stiegen in den ersten Stock, und das einzige Zeichen von Bewohntsein bildeten immer noch die schmutzigen Fußstapfen. Ohne weitere Zeremonie trat Mr. Jarndyce in ein Zimmer, und wir folgten. Es war arg verräuchert und keineswegs sauber, aber möbliert in einer wunderlichen Art von schäbigem Luxus. Ich sah einen großen Fußschemel, ein Sofa, eine Menge von Polstern, einen Lehnstuhl, wieder mit einem Überfluß von Kissen, ein Piano, Bücher, Zeichenmappen, Musikalien, Zeitungen, einige Skizzen und Gemälde. Eine zerbrochne Glasscheibe in einem der schmutzigen Fenster war mit Papier und Oblaten verklebt, aber auf dem Tisch standen ein Teller mit Treibhauspfirsichen, einer mit Trauben und ein dritter mit Kuchen. Eine Flasche mit leichtem Wein daneben. Mr. Skimpole selbst ruhte im Schlafrock auf dem Sofa, schlürfte duftenden Kaffee aus einer alten Porzellantasse, obwohl es ungefähr Mittag war, und betrachtete eine Sammlung Mauerblumen auf dem Balkon.

– Unser Kommen brachte ihn nicht im mindesten außer Fassung. Er stand auf und empfing uns in seiner gewohnten unbefangnen Weise. –

»Hier lebe ich, wie Sie sehen«, sagte er, als wir uns – nicht ohne Schwierigkeit, denn der größte Teil der Stühle war zerbrochen – gesetzt hatten. »Hier ist mein Heim. Dies ist mein frugales Frühstück. Manche Leute bestehen auf Rinds- und Hammelkeule zum Frühstück. Ich nicht. Wenn ich meine Pfirsiche, meine Tasse Kaffee und meinen Claret habe, bin ich zufrieden. Ich genieße sie nicht ihrer Geschmacksvorzüge wegen, sondern nur, weil sie mich an die Sonne erinnern. In Rinds- und Hammelkeulen liegt nichts Sonnenhaftes. Reiner tierischer Genuß.«

»Das ist das Sprechzimmer unsres Freundes, das heißt, wenn er praktizierte, würde es das sein – sein Allerheiligstes –, sein Studierzimmer«, erklärte uns mein Vormund.

»Ja«, sagte Mr. Skimpole und sah sich mit strahlender Miene um. »Das ist der Käfig des Vogels. Hier wohnt und singt der Vogel. Dann und wann rupfen sie ihm die Federn aus und schneiden ihm die Flügel. Aber er singt.«

Er reichte uns die Trauben hin und ergänzte in seiner strahlenden Weise: »Er singt kein anspruchsvolles Lied, aber er singt.«

»Die Trauben sind vorzüglich«, sagte mein Vormund. »Ein Geschenk, Harold?«

»Nein. Irgendein liebenswürdiger Gärtner hat sie zu verkaufen gehabt. Als ein Gehilfe sie gestern abend brachte, fragte er, ob er auf das Geld warten solle. ‚Ich dächte nicht, mein Freunds riet ich ihm, ‚wenn Ihnen Ihre Zeit etwas wert ist.‘ Und das mußte wahrscheinlich der Fall sein, denn er ging fort.«

Mein Vormund sah uns lächelnd an, als wolle er sagen: »Ist es überhaupt möglich, mit diesem Kind von praktischen Sachen zu sprechen?«

»Das ist heute ein Tag, dessen man sich hier ewig erinnern wird«, sagte Mr. Skimpole und nahm aus seinem großen Glas einen kleinen Schluck Claret. »Wir werden ihn den St. Clare und St. Summersonntag taufen. Sie müssen meine Töchter sehen. Ich habe eine blauäugige Tochter, das ist meine Schönheitstochter, dann eine Gefühlstochter und außerdem eine Komödientochter. Sie müssen sie alle sehen – Sie werden entzückt sein.«

– Er wollte sie holen gehen, aber mein Vormund hielt ihn ab und bat ihn, noch einen Augenblick zu warten, da er erst ein paar Worte mit ihm sprechen möchte. –

»Soviel Augenblicke wie Sie wollen, mein lieber Jarndyce.« Mr. Skimpole setzte sich wieder auf sein Sofa. »Auf Zeit kommt es uns hier nie an. Wir wissen nie, wie spät es ist, und kümmern uns auch nicht darum. Das ist nicht der Weg, im Leben vorwärts zu kommen, werden Sie sagen. Gewiß nicht. Wollen wir denn überhaupt im Leben vorwärtskommen? Wir beanspruchen es doch gar nicht.«

– Mein Vormund warf uns wieder einen lustigen Blick zu. –

»Nun, Harold«, fing er an, »was ich Ihnen zu sagen habe, betrifft Rick.«

»Er ist mein teuerster Freund auf der Welt«, fiel Mr. Skimpole herzlich ein. »Er soll wahrscheinlich nicht mein teuerster Freund sein, da er mit Ihnen nicht auf bestem Fuß steht? Aber er ist es nun einmal, und ich kann nichts dafür. Er ist voll jugendfrischer Poesie, und ich liebe ihn. Wenn Sie das nicht gerne sehen, so kann ich mir nicht helfen. Ich liebe ihn.«

Seine gewinnende Offenheit machte wirklich einen uneigennützigen Eindruck, entzückte meinen Vormund und jedenfalls auch Ada.

»Sie können ihn lieben, soviel Sie wollen«, versicherte Mr. Jarndyce. »Aber seine Tasche müssen wir schonen, Harold.«

»O«, sagte Mr. Skimpole, »seine Tasche? Jetzt fangen Sie schon wieder von Dingen an, die ich nicht verstehe.« Er schenkte sich wieder ein Glas Claret ein, tunkte seinen Kuchen hinein, schüttelte den Kopf und lächelte Ada und mich mit einer naiven Vorahnung, daß er uns niemals würde verstehen können, an.

»Wenn Sie in seiner Begleitung sind«, sagte mein Vormund offen heraus, »dürfen Sie ihn nicht für Sie mitbezahlen lassen.«

»Mein lieber Jarndyce«, entgegnete Mr. Skimpole, und sein durchgeistigtes Gesicht strahlte, so komisch schien ihm der Gedanke vorzukommen. »Was soll ich denn anderes tun? Wenn er mich irgendwohin mitnimmt, muß ich doch gehen. Und wie kann ich für mich bezahlen? Ich habe doch nie Geld. Und wenn ich Geld hätte, was hülfe es. Ich verstehe nichts davon. Nehmen wir an, daß ich jemanden fragte: Wieviel kostet das? Und ich bekäme zur Antwort: Sieben Schilling und sechs Pence, so ist es mir einfach unmöglich, daraus die nötigen praktischen Konsequenzen zu ziehen. Ich laufe nicht bei Geschäftsleuten herum, um sie zu fragen, was sieben Schilling und sechs Pence auf arabisch heißt. Ich verstehe es ja doch nicht. Warum soll ich dann herumlaufen, was sieben Schilling und sechs Pence in der Geldsprache heißt, die ich ebenfalls nicht verstehe.«

»Nun«, sagte mein Vormund, dem diese naive Antwort durchaus nicht mißfiel, »wenn Sie wieder einmal mit Rick reisen, müssen Sie sich das Geld von mir borgen – aber Sie dürfen es nicht verraten – und ihm das Rechnen überlassen.«

»Mein lieber Jarndyce«, beteuerte Mr. Skimpole, »ich will alles tun, was Ihnen Vergnügen macht, aber es erscheint mir als eine leere Formsache, ein Aberglauben. Außerdem gebe ich Ihnen mein Wort, Miß Clare und meine liebe Miß Summerson, ich glaubte, Mr. Carstone sei ungeheuer reich. Ich dachte, er brauchte bloß ein Papier oder einen Wechsel zu unterschreiben oder auf einen Knopf zu drücken, um einen Regen von Geld vom Himmel fallen zu lassen.«

»Das ist durchaus nicht der Fall, Sir«, sagte Ada. »Er ist arm.«

»So, wirklich?« Mr. Skimpole lächelte fröhlich. »Da staune ich wirklich.«

»Und da er überdies dadurch nicht reicher wird, daß er sich auf ein morsches Rohr stützt«, – mein Vormund legte ernst seine Hand auf den Ärmel von Mr. Skimpoles Schlafrock – »so müssen Sie sich hüten, daß Sie ihn in seinen Hoffnungen bestärken.«

»Mein lieber guter Freund«, entgegnete Mr. Skimpole, »und meine liebe Miß Summerson und meine liebe Miß Clare, wie soll ich das anfangen? Es handelt sich um Geschäfte, und ich verstehe doch nichts von Geschäften. Er bestärkt mich vielmehr. Er kommt nach großen Geschäftstaten zu mir, zeigt mir als ihr Resultat die glänzendsten Aussichten und fordert mich auf, sie mit ihm zu bewundern. Ich bewundere sie – als glänzende Aussichten –, aber mehr verstehe ich nicht davon, und ich sage ihm das auch.«

Die hilflose Aufrichtigkeit, mit der er uns das erklärte, die leichtherzige Weise, mit der er uns durch seine Unschuld ergötzte, und die phantastische Art, wie er sich selbst in Schutz nahm, verbunden mit seiner gewinnenden Unbefangenheit, bestätigten nur das Urteil meines Vormundes. Je mehr ich ihn kennenlernte, desto unwahrscheinlicher erschien es mir in seiner Anwesenheit, daß er absichtlich einen bösen Einfluß ausüben könnte. Aber desto wahrscheinlicher kam es mir vor, wenn ich nicht mit ihm beisammen war, und um so mehr quälte mich der Gedanke, er könne mit irgend jemandem, dessen Wohl mir am Herzen lag, etwas zu tun haben.

Da er jetzt vernahm, daß sein Verhör – wie er es nannte – vorüber sei, verließ er fröhlich das Zimmer, um seine Töchter zu holen – seine Söhne waren zu verschiednen Zeiten bereits davongelaufen-, und ließ meinen Vormund ganz entzückt über die Art, wie er seinen kindlichen Charakter gerechtfertigt hatte, zurück. Er kam bald wieder herein mit drei jungen Damen und Mrs. Skimpole, die früher eine Schönheit gewesen sein mußte, aber jetzt eine kränkliche hochnäsige Dame war, die an allen möglichen Krankheiten litt.

»Dies«, stellte Mr. Skimpole vor, »ist meine Schönheitstochter Arethusa, sie spielt und singt alles durcheinander wie ihr Vater. Hier meine Gefühlstochter Laura, musiziert ein wenig, singt aber nicht. Und das ist meine Komödientochter Kitty, singt ein bißchen, musiziert aber nicht. Wir zeichnen alle ein wenig und komponieren ein bißchen, und keins von uns hat einen Begriff von Zeit oder Geld.«

– Mrs. Skimpole seufzte, kam mir vor, als hätte sie recht gern auf diesen Teil der Familienfertigkeiten verzichtet. –

Mir schien auch, als ob ihr Seufzer ein wenig auf meinen Vormund gemünzt sei und sie gern jede Gelegenheit ergriffen haben würde, einen zweiten hören zu lassen.

»Es ist erfreulich«, sagte Mr. Skimpole und sah uns mit seinen munteren Augen der Reihe nach an, »und es ist komisch interessant, ererbten Eigentümlichkeiten in Familien nachzugehen. In dieser Familie sind wir alle Kinder, und ich bin das jüngste.«

– Den Töchtern, die ihn sehr lieb zu haben schienen, machte diese wunderliche Tatsache großen Spaß, besonders der Komödientochter. –

»Ist es nicht wahr, meine Lieben? So ist es, und so muß es sein, weil es, wie es im Liede von den Hunden heißt, unsre Natur ist. Hier haben wir zum Beispiel Miß Summerson, ausgestattet mit einem schönen Administrationstalent und einem wahrhaft erstaunlichen Auffassungsvermögen für Details. Es wird Miß Summersons Ohr vielleicht seltsam klingen, aber wir wissen in diesem Hause zum Beispiel nicht das mindeste von Koteletten. Wir können nicht das Geringste kochen. Nadel und Zwirn verstehen wir nicht zu gebrauchen. Wir bewundern die Leute, die das praktische Wissen besitzen, das uns abgeht, aber wir zanken uns deshalb nicht mit ihnen. Warum sollten sie sich dann mit uns zanken? Leben und leben lassen, sagen wir zu ihnen. Lebt ihr von eurer praktischen Wissenschaft und laßt uns von euch leben!«

– Er lachte und schien wie immer aufrichtig von dem, was er sagte, überzeugt zu sein. –

»Wir haben Sympathien, meine Rosen, für alles. Nicht wahr?«

»O ja, Papa!« riefen die drei Töchter.

»Das ist unser Fach. In unserm Durcheinander von Leben. Wir sind imstande, mit Interesse zuzusehen, und tun das. Was wollen wir mehr? Hier meine Schönheitstochter ist seit drei Jahren verheiratet. Ich muß gestehen, daß sie wieder ein erwachsenes Kind heiratete und zwei kleine dazu bekam, ist vielleicht in nationalökonomischer Hinsicht ein Unrecht, aber es war sehr angenehm. Wir hielten unsre kleinen Festlichkeiten bei diesen Gelegenheiten ab und tauschten soziale Ideen aus. Sie brachte eines Tages ihren Gatten nach Hause, und sie und ihre junge Brut haben ihr Nest oben. Gemüt und Komödie werden wahrscheinlich auch eines Tages ihre Gatten nach Hause bringen und ihr Nest oben bauen. So leben wir. Wir wissen nicht, wie, aber wir leben.«

Arethusa sah für eine Mutter von zwei Kindern sehr jung aus, und ich mußte sie und auch ihre Sprößlinge innerlich bemitleiden. Es war klar, daß die drei Töchter aufgewachsen waren, wie es eben gekommen war, und nicht mehr Bildung besaßen, als sich zufällig ergeben hatte, wenn sie ihrem Vater in seinen Träumereien als Spielzeug gedient hatten. Auf seinen malerischen Geschmack nahmen sie, wie ich bemerkte, in ihren verschiednen Arten, ihr Haar zu tragen, Rücksicht. Die Schönheitstochter trug das ihre klassisch, die Gemütstochter war üppig und wallend und die Komödientochter kokett und mit lebhaften kleinen Löckchen an den Augenwinkeln ihrer heiteren Stirn frisiert. Ihre Kleider waren dementsprechend, aber unsauber und sehr vernachlässigt.

Ada und ich unterhielten uns mit den jungen Damen und fanden sie ihrem Vater außerordentlich ähnlich. Mr. Jarndyce, der sich den Kopf sehr viel gerieben und von einer Veränderung der Windrichtung gesprochen hatte, unterhielt sich unterdessen mit Mrs. Skimpole in einer Ecke, und wir hörten gelegentlich Geld klimpern. Mr. Skimpole hatte sich vorher entfernt, um sich umzukleiden, denn er wollte uns später nach Hause begleiten.

»Meine Rosen«, sagte er, als er zurückkam, »pflegt mir die Mama. Sie ist angegriffen heute. Ich gehe auf ein paar Tage auf Besuch zu Mr. Jarndyce, werde die Lerchen singen hören und will mir meine fröhliche Laune bewahren. Ihr wißt, Mama hat wieder manches ausstehen müssen, und es würde wieder so kommen, wenn ich zu Hause bliebe.«

»Der schlechte Mann«, sagte die Komödientochter.

»Und gerade zu der Zeit kam er, wo er wußte, daß Papa sich neben seine Mauerblumen legen und den blauen Himmel betrachten wollte«, klagte Laura.

»Und als Heugeruch die Luft durchduftete«, fügte Arethusa hinzu.

»Es verrät einen Mangel an Poesie in dem Mann«, stimmte Mr. Skimpole gutgelaunt bei. »Es war roh. Es verriet das Fehlen der feinen Züge der Menschlichkeit. Meine Töchter haben sich nämlich sehr geärgert«, erklärte er uns, »über einen ehrlichen Mann…«

»Nicht ehrlich, Papa. Unmöglich!« protestierten alle drei.

»Über einen rauhen Burschen – eine Art zusammengerollten menschlichen Igel. Einen Bäcker hier in der Nähe, von dem wir uns ein paar Lehnstühle geborgt hatten. Wir brauchten ein paar Lehnstühle, besaßen keine und sahen uns daher natürlich nach einem Mann um, der welche hätte. Der mürrische Mensch lieh sie uns, und wir nutzten sie ab. Als sie abgenutzt waren, wollte er sie wieder zurück haben. Wir gaben sie ihm zurück. Er war befriedigt, werden Sie glauben. Durchaus nicht! Er beklagte sich darüber, daß sie abgenutzt waren. Ich machte ihm Vorstellungen und bemühte mich, ihm seinen Irrtum aufzuklären. Ich sagte: ‚Können Sie in Ihrem Alter wirklich so kurzsichtig sein, mein Freund, und behaupten, ein Lehnstuhl sei ein Ding, das man auf den Schrank stellt und ansieht? Oder ist es vielleicht ein Gegenstand zum Anschauen? Wissen Sie denn nicht, daß wir uns diese Armstühle borgten, um uns darauf zu setzen ?‘

Aber er nahm keine Vernunft an, war nicht zu überzeugen und wurde heftig. Ich blieb so ruhig, wie ich jetzt bin, und machte ihm weitere Vorstellungen. ‚Mein guter Mann‘, sagte ich, ’so verschieden auch unsere Fähigkeiten sein mögen, so sind wir doch alle Kinder einer großen Mutter, der Natur. An diesem herrlichen Sommermorgen sehen Sie mich hier auf dem Sofa liegen, mit Blumen vor mir, Früchten auf dem Tisch, den wolkenlosen Himmel über mir, die Luft voll Wohlgerüchen, versunken in die Betrachtung der Natur. Ich beschwöre Sie bei unsrer gemeinsamen Mutter, nicht zwischen mich und einen so erhabnen Anblick die lächerliche Gestalt eines zornigen Bäckers zu drängen.‘ Aber er tat es«, sagte Mr. Skimpole mit erstaunt in die Höhe gezognen Augenbrauen. »Er tat es und wird es wieder tun. Deshalb bin ich froh, ihm aus dem Wege gehen und meinen Freund Jarndyce nach Hause begleiten zu können.«

Daß Mrs. Skimpole und die Töchter zurückbleiben und es mit dem Bäcker allein würden aufnehmen müssen, schien er nicht weiter zu bedenken. Es war ihnen allen eine so alte Geschichte, daß sie es offenbar für ganz selbstverständlich hielten. Dann nahm er mit großer Zärtlichkeit, anmutig und liebenswürdig wie immer, von seiner Familie Abschied und fuhr in vollster Seelenharmonie mit uns fort. Durch einige offne Türen konnten wir, wie wir die Treppe hinuntergingen, sehen, daß sein Zimmer im Vergleich zu den übrigen Räumen des Hauses ein wahrer Palast war.

Ich ahnte nicht im entferntesten, daß noch an diesem Tage etwas mich für den Augenblick sehr Erschütterndes und mir in seiner Tragweite für immer Denkwürdiges vorfallen sollte. Unser Gast war auf dem Wege zu uns so heiterer Laune, daß ich weiter nichts tun konnte, als ihm zuzuhören und mich immer wieder über ihn zu wundern. Ada schien unter demselben Zauber zu stehen. Was meinen Vormund betraf, so war der Wind wieder vollständig umgesprungen, ehe noch eine Stunde hinter uns lag. Konnte Mr. Skimpoles Kindlichkeit in andern Dingen vielleicht auch noch so zweifelhaft sein, daß er sich über Ortsveränderungen und schönes Wetter freute wie ein Kind, –war sicher. In keiner Weise ermüdet durch die lustige Unterhaltung unterwegs, war er früher im Salon als wir, und ich hörte ihn am Piano Dutzende von Refrains von Barkarolen und deutschen und italienischen Trinkliedern singen, noch während ich mit meinen Wirtschaftsschlüsseln beschäftigt war.

Wir saßen vor dem Essen alle im Salon beisammen, und er, immer noch am Piano, schwelgte in kurzen Melodien und sprach davon, er wolle morgen Skizzen von der alten verfallnen Mauer von Verulam, die er vor ein paar Jahren angefangen und wieder liegen gelassen hatte, beenden, als man eine Karte hereinbrachte und mein Vormund mit erstauntem Ton laut las:

»Sir Leicester Dedlock!«

Das Zimmer drehte sich mit mir, und ich hatte nicht die Kraft, mich zu bewegen, sonst wäre ich rasch zu dem draußen wartenden Besuch hinausgegangen. In meinem Zustand von Schwindel hatte ich nicht einmal die Geistesgegenwart, mich an das Fenster zu Ada zurückzuziehen; konnte sie überhaupt kaum sehen. Ich hörte meinen Namen nennen und begriff, daß mich mein Vormund vorstellte, noch ehe ich mich nach einem Stuhl begeben konnte.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Sir Leicester.«

»Mr. Jarndyce«, sagte Sir Leicester mit einer Verbeugung und setzte sich, »ich erweise mir die Ehre, Sie zu besuchen…«

»Sie erweisen mir die Ehre, Sir Leicester.«

»Ich danke Ihnen. Auf… Auf meiner Reise nach Lincolnshire, Sie hier zu besuchen, um Ihnen mein Bedauern auszudrücken, daß Ursachen zur Beschwerde, die ich gegen einen Herrn habe, den Sie kennen und bei dem Sie wohnten und auf den ich daher nicht weiter anspielen werde, nicht nur Sie, sondern auch die unter Ihrer Obhut stehenden Damen verhindert haben, das Wenige zu besichtigen, was in meinem Hause in Chesney Wold einem feinen und gebildeten Geschmack gefallen kann.«

»Sie sind außerordentlich liebenswürdig, Sir Leicester. In dem Namen dieser Damen – Sie sehen sie hier –, und für mich selbst danke ich Ihnen auf das verbindlichste.«

»Wäre es möglich, Mr. Jarndyce, daß der Herr, auf den ich aus den bereits angedeuteten Gründen keine weiteren Anspielungen machen kann, wäre es möglich, Mr. Jarndyce, daß dieser Herr meinen Charakter so falsch aufgefaßt haben könnte, daß er Sie vielleicht zu dem Glauben verleitet hat, man würde Sie auf meinem Landsitz in Lincolnshire nicht mit der Höflichkeit und Courtoisie empfangen, die meinen Leuten gegenüber allen Damen und Herren, die sich mein Haus ansehen wollen, aufs strengste aufgetragen ist? Ich möchte für einen solchen Fall nur zu bemerken bitten, Sir, daß Sie des Gegenteils versichert sein dürfen.«

– Mein Vormund hörte taktvoll zu, gab aber keine Antwort. –

»Es hat mir unendlich leid getan, Mr. Jarndyce«, fuhr Sir Leicester wichtig fort, »ich versichere Ihnen, Sir, es hat – mir unendlich leid getan, von der Haushälterin in Chesney Wold haben hören zu müssen, daß auch ein Herr, der damals dort in Ihrer Gesellschaft war und einen sehr feinen Geschmack und gebildeten Kunstsinn zu besitzen scheint, sich von einer ähnlichen Ursache abhalten ließ, die Familienbilder mit der Muße der Aufmerksamkeit und der Sorgfalt, die er Ihnen vielleicht sonst zu widmen gewünscht haben würde, zu besichtigen!« Er zog bei diesen Worten eine Karte heraus und las mit großem Ernst und einiger Anstrengung durch sein Augenglas: »Mr. Hirrold – Herald – Harold –Skampling – Skumpling – Pardon – Skimpole.«

»Hier, dieser Herr ist Mr. Skimpole«, sagte mein Vormund, sichtlich überrascht.

»O«, rief Sir Leicester, »ich schätze mich glücklich, mit Mr. Skimpole zusammenzutreffen und eine Gelegenheit zu haben, ihm mein persönliches Bedauern aussprechen zu können. Ich hoffe, Sir, wenn Sie wieder in meine Gegend kommen, werden Sie sich nicht mehr durch ähnliche Beweggründe abhalten lassen.«

»Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Sir Leicester Dedlock. So ermutigt, werde ich mir gewiß nicht das Vergnügen eines abermaligen Besuchs Ihres schönen Hauses versagen. Die Besitzer solcher Schlösser wie Chesney Wold«, sagte Mr. Skimpole in seiner gewohnten fröhlichen und leichtherzigen Weise, »sind die Wohltäter des Publikums. Sie sind so gütig, eine Menge der herrlichsten Gegenstände zur Bewunderung und Freude von uns armen Leuten bereitzuhalten; und nicht alle Freuden ihres Anblicks zu genießen, hieße Undankbarkeit für unsre Wohltäter an den Tag legen.«

– Sir Leicester schien diese Worte sehr zu billigen. –

»Sie sind Künstler, Sir?«

»Nein«, antwortete Mr. Skimpole. »Ich bin ein Mann ohne jeden Beruf, ein bloßer Amateur.«

Sir Leicester schien das sogar noch mehr zu gefallen. Er hoffte, so glücklich zu sein, sagte er, in Chesney Wold anwesend zu sein, wenn Mr. Skimpole das nächste Mal nach Lincolnshire kommen werde, und Mr. Skimpole fühlte sich dadurch sehr geschmeichelt und geehrt.

»Mr. Skimpole«, fuhr Sir Leicester, wieder zu meinem Vormund gewendet, fort, »erwähnte gegen die Haushälterin, die, wie er vielleicht bemerkt hat, eine alte und treue Dienerin der Familie ist –«

»Es war, als ich mir neulich, wie ich Miß Summerson und Miß Clare besuchte –« erklärte Mr. Skimpole in seiner unbefangnen Weise.

»– daß der Freund, mit dem er früher dort gewesen, Mr. Jarndyce sei.« Sir Leicester machte meinem Vormund eine Verbeugung. »Und dadurch erfuhr ich den Umstand, wegen dessen ich mein Bedauern ausgesprochen habe. Daß es gerade einen Gentleman betraf, Mr. Jarndyce, einen Gentleman, der Lady Dedlock früher gekannt hat und sogar ihr entfernter Verwandter ist und den sie, wie ich von Mylady selbst weiß, außerordentlich hochschätzt, das, versichere ich Ihnen, tut mir ganz be–son-ders leid.«

»Bitte, sprechen Sie nicht weiter davon, Sir Leicester«, erwiderte mein Vormund. »Wir alle sind Ihnen sehr verpflichtet für Ihre Liebenswürdigkeit. In Wirklichkeit lag der Irrtum ganz auf meiner Seite, und ich sollte um Entschuldigung bitten.«

– Ich hatte nicht ein einziges Mal aufgeblickt, den Besuch nicht gesehen, und es schien mir sogar, als habe ich nicht einmal das Gespräch gehört. Es wundert mich, daß ich es mir überhaupt ins Gedächtnis zurückrufen kann, denn es schien damals an meinem Ohr spurlos vorübergegangen zu sein. Ich hörte wohl sprechen, aber der Kopf war mir so wirr, und die instinktive Scheu vor Sir Leicester Dedlock machte mir seine Anwesenheit so schmerzlich, daß ich wegen des Brausens in den Ohren und vor Herzklopfen nichts zu verstehen glaubte. –

»Ich erwähnte den Vorfall gegen Lady Dedlock«, sagte Sir Leicester aufstehend, »und Mylady erzählte mir, daß sie das Vergnügen gehabt habe, mit Mr. Jarndyce und seinen Mündeln gelegentlich eines zufälligen Zusammentreffens während ihres dortigen Aufenthalts ein paar Worte auszutauschen. Erlauben Sie mir, Mr. Jarndyce, Ihnen und Ihren Damen die Versicherung zu wiederholen, die ich bereits Mr. Skimpole gegeben habe. Verhältnisse gestatten mir allerdings nicht, zu sagen, ich würde mit Vergnügen hören, daß Mr. Boythorn mein Haus mit seinem Besuch beehrt habe, aber das bezieht sich ausschließlich auf diesen Herrn und dehnt sich auf keine andre Person aus.«

»Sie wissen, was ich von jeher von ihm gedacht habe«, sagte Mr. Skimpole leichthin, indem er sich dabei an uns wendete. »Ein liebenswürdiger Stier, der jede Farbe scharlachrot sieht.«

– Sir Leicester Dedlock hustete, als ob er um keinen Preis noch ein Wort in Bezug auf ein solches Individuum anhören könne, und verabschiedete sich sehr zeremoniell und höflich. Ich zog mich so schnell wie möglich auf mein Zimmer zurück und blieb dort, bis ich meine Fassung wiedergewonnen hatte. Sie hatte einen großen Stoß bekommen, aber ich danke Gott, daß sie nichts gemerkt hatten und mich nur wegen meines schüchternen und stummen Wesens vor dem großen Lincolnshirer Baronet neckten, als ich wieder hinunterkam. –

Ich fühlte klar, daß die Zeit gekommen war, wo ich mein Geheimnis meinem Vormund mitteilen müßte. Die Möglichkeit, mit meiner Mutter in Berührung zu kommen, ihr Haus betreten zu müssen, ja, sogar daß Mr. Skimpole, wenn er auch in noch so entfernter Beziehung zu mir stand, von ihrem Gatten Gefälligkeiten annehmen könne und werde, alles das war so peinlich, daß ich fühlte, ich könne seinen väterlichen Beistand nicht länger entbehren. Als wir uns für die Nacht zurückgezogen und Ada und ich wie gewöhnlich in unserm hübschen gemeinsamen Zimmer geplaudert hatten, suchte ich meinen Vormund wieder bei seinen Büchern auf. Ich wußte, daß er stets um diese Stunde noch las, und beim Näherkommen sah ich das Licht seiner Studierlampe auf den Korridor hinausscheinen.

»Darf ich herein, Vormund?«

»Gewiß, kleines Frauchen. Was gibt’s denn?«

»Nichts Besonderes. Ich möchte nur gern diese stille Stunde benutzen, um mit dir ein Wort über meine Angelegenheiten zu sprechen.«

Er schob mir einen Stuhl hin, legte sein Buch weg und wendete mir sein gütiges Gesicht aufmerksam zu. Es konnte mir nicht entgehen, daß es wieder denselben seltsamen Ausdruck zeigte, den ich schon einmal darauf gesehen hatte – an jenem Abend, als er gesagt, er fühle keinen Kummer, den ich so leicht verstehen könnte.

»Was dich angeht, liebe Esther, geht uns alle an«, sagte er. »Du kannst nicht mehr bereit sein zu sprechen als ich zu hören.«

»Das weiß ich, Vormund. Aber ich bedarf deines Rates und deines Beistandes wirklich dringend. Du ahnst gar nicht, wie sehr ich ihrer heute nacht bedarf.« – Mein Ernst schien ihn zu überraschen und ein wenig zu beunruhigen. – »Oder wie sehr ich mich gesehnt habe, dich zu sprechen, seit der heutige Besuch fort war.«

»Der Besuch, mein Kind? Sir Leicester Dedlock?«

»Ja.«

Er verschränkte die Arme und saß in Erwartung dessen, was ich ihm zu sagen hätte, mit einer Miene tiefsten Staunens da. Ich wußte nicht recht, wie ich ihn vorbereiten sollte.

»Unser heutiger Besuch und du, Esther«, sagte er und fing an zu lächeln, »sind wirklich die beiden letzten Personen auf der Welt, die ich miteinander hätte in Verbindung bringen können.«

»Gewiß, Vormund. Das weiß ich. Und ich dachte es auch noch bis vor ganz kurzer Zeit.«

Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht, und er wurde ernster als vorher. Er ging nach der Türe, um zu sehen, ob sie zu sei – aber ich selbst hatte es schon getan –, und nahm seinen Platz vor mir wieder ein.

»Vormund«, begann ich, »erinnerst du dich noch, damals, als uns das Gewitter überraschte, daß Lady Dedlock mit dir von ihrer Schwester sprach?«

»Natürlich, natürlich.«

»Und dich erinnerte, daß sie und ihre Schwester sich entzweit hätten und jede ihre eignen Wege gegangen wäre.«

»Natürlich.«

»Warum haben sie sich getrennt, Vormund?«

– Der Ausdruck seines Gesichtes änderte sich plötzlich. –

»Mein Kind, was sind das für Fragen! Ich habe es nie erfahren. Ich glaube, niemand, sie selbst ausgenommen, hat es je erfahren. Wer könnte sagen, welcher Art die Geheimnisse dieser beiden schönen und stolzen Frauen waren! Du hast Lady Dedlock gesehen. Hättest du nur ein einziges Mal ihre Schwester gesehen, so wüßtest du, daß sie ebenso halsstarrig und stolz war wie jene.«

»Ach, Vormund, ich habe sie viele, viele Male gesehen.«

»Sie gesehen?« Er hielt eine Weile inne und biß sich in die Lippen.

»Dann sag mir, Esther, als du vor mir vor langer Zeit von Boythorn sprachst und ich dir erzählte, er sei einmal schon so gut wie verheiratet gewesen und die Dame sei zwar nicht gestorben, aber für ihn tot, und daß diese Zeit einen großen Einfluß auf sein späteres Leben gehabt habe, wußtest du damals schon alles, oder wußtest du, wer die Dame war?«

»Nein, Vormund«, gab ich zur Antwort, voller Bangen vor dem Licht, das plötzlich in mir aufdämmerte. »Auch jetzt weiß ich es noch nicht.«

»Lady Dedlocks Schwester.«

»Und warum«, konnte ich nur mit Mühe über die Lippen bringen, »warum trennten sie sich von einander?«

»Sie bestand darauf und begrub ihre Gründe tief in ihrem unbeugsamen Herzen. Er vermutete später – aber es war eine bloße Vermutung –, irgendein Schimpf, den ihre stolze Seele gelegentlich eines Streites mit ihrer Schwester erlitten, müsse sie bis zum Wahnsinn verletzt haben. Sie schrieb ihm, daß sie von dem Tag dieses Briefes an für ihn tot sei und diesen Entschluß gefaßt habe, weil sie seinen stolzen Charakter und sein fast übertriebnes Ehrgefühl kenne und ihm darin nicht nachstehen wolle. Mit Rücksicht auf diese beiden, seine ganze Seele erfüllenden Eigenschaften und darauf, daß sie nicht um ein Haar anders sei, bringe sie das Opfer und wolle so leben und sterben. Ich fürchte, sie tat beides. Jedenfalls sah und hörte er von ihr nichts wieder seit jener Stunde. Und auch kein andrer Mensch.«

»Oh, Vormund, was habe ich getan!« rief ich aus und ließ meinem Schmerz freien Lauf. »Welches Leid habe ich unschuldigerweise verursacht!«

»Du, verursacht, Esther?«

»Ja, Vormund. Unschuldigerweise, aber ohne jeden Zweifel. Jene verschwundene Schwester Lady Dedlocks ist meine erste Erinnerung.«

»Nein, nein«, fuhr er auf.

»Ja, Vormund, ja! Und ihre Schwester ist meine Mutter!«

Ich würde ihm den ganzen Inhalt des Briefes meiner Mutter erzählt haben, aber er wollte jetzt nichts hören. Er sprach so zärtlich und klug zu mir und stellte mir alles so deutlich vor Augen, daß ich, wie sehr ich auch schon seit vielen Jahren von innigster Dankbarkeit gegen ihn durchdrungen war, ihn doch noch nie so wahrhaft geliebt und ihm in meinem Herzen so innig gedankt hatte wie diese Nacht. Er brachte mich an meine Tür, küßte mich, und als ich endlich im Bette lag, sagte ich mir, daß ich wohl kaum jemals hoffen, jemals tätig und selbstlos genug sein könnte, um ihm zu zeigen, wie hoch ich ihn hielt.

34. Kapitel


34. Kapitel

Unter der Schraube

»Was mag das sein, möchte ich gern wissen?« sagt Mr. George. »Eine Platzpatrone oder eine scharfe? Brennt’s nur auf der Pfanne oder ist es ein Schuß?«

Ein Brief beschäftigt den Kavalleristen und scheint ihm gewaltiges Kopfzerbrechen zu machen. Er hält ihn mit ausgestrecktem Arm vor sich hin, hält ihn dicht vor die Augen, nimmt ihn in die rechte Hand, nimmt ihn in die linke Hand, liest ihn, den Kopf auf die Seite gelegt, liest ihn, den Kopf auf die andre Seite gelegt, zieht die Augenbrauen zusammen, zieht sie in die Höhe und kann doch nicht ins klare kommen. Er streicht den Brief mit seiner schweren Hand auf dem Tisch glatt, geht gedankenvoll in der Galerie auf und ab und steht dann und wann still, um das Schreiben abermals anzusehen. Selbst das nützt nichts. Ist es eine Platzpatrone oder eine scharfe? überlegt Mr. George immer noch.

Phil Squod ist mit einem Pinsel und einem Farbtopf im Hintergrund beschäftigt, die Schießscheiben weiß anzustreichen. Er pfeift sich dabei im Geschwindschrittempo eins.

»Phil!« Der Kavallerist winkt.

Phil kommt in seiner gewohnten Art näher und schiebt sich seitlich an der Wand entlang, wie wenn er vorhätte, anderswo hinzugehen, um dann wie zu einem Bajonettangriff auf seinen Kommandeur loszustürzen. Einzelne Spritzer weißer Farbe stechen grell von seinem schmutzigen Gesicht ab, und er kratzt sich seine einzige Augenbraue mit dem Stiel des Pinsels.

»Gib acht, Phil. Hör mal zu!«

»Zu Befehl, Kommandeur.«

»Sir. Ich erlaube mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, obgleich ich, wie Sie wohl wissen, gesetzlich dazu nicht verpflichtet bin, daß der Wechsel über 97 £ 4 sh. und 9 d. auf zwei Monate Ziel, von Mr. Matthew Bagnet auf Sie gezogen und von Ihnen akzeptiert, morgen fällig ist, und bitte Sie, die Tratte bei Vorkommen pünktlich zu honorieren.

Ihr
Josua Smallweed.«

»Was soll das bedeuten, Phil?«

»Unheil, Govner!«

»Wieso?«

»Ich glaube«, entgegnet Phil und folgt mit dem Pinselstiel nachdenklich einer Querfalte auf seiner Stirn, »daß allemal Unheil im Zuge ist, wenn einer Geld will.«

»Schau mal, Phil«, sagt der Kavallerist und setzt sich auf den Tisch. »Erstens und letztens habe ich, kann ich wohl sagen, die Hälfte mehr an Zinsen nach und nach, als das Kapital beträgt, bezahlt.«

Phil tritt ein paar Schritte seitlich zurück und schneidet ein saures Gesicht und gibt dadurch zu verstehen, daß ihm durch diesen Einwand die Sache nicht hoffnungsvoller zu werden scheint.

»Und zweitens, schau, Phil«, sagt der Kavallerist und weist solche voreiligen Schlüsse mit einer Handbewegung zurück. »Es war immer stillschweigend ausgemacht, daß der Wechsel prolongiert werden sollte, wie sie’s nennen, und er ist oft genug prolongiert worden. Was sagst du jetzt dazu?«

»Ich sage, ich glaube, damit ist’s jetzt aus.«

»So, meinst du? Hm! Ich bin so ziemlich derselben Meinung.«

»Josua Smallweed ist wohl der, den sie damals im Stuhl hierher getragen haben, Govner?«

»Jawohl.«

»Govner«, sagt Phil außerordentlich ernst, »er ist ein Blutegel von Natur, eine Schraube und ein Schraubstock in seinen Taten, eine Schlange, was seine Umschlingungen, und ein Hummer, was die Scheren betrifft.«

Nachdem Mr. Squod so ausdrucksvoll seine Ansichten geäußert und ein wenig gezögert hat, um zu sehen, ob man noch weiteres von ihm erwarte, begibt er sich wieder zu seiner Scheibe und deutet auf seine frühere musikalische Art kraftvoll an, daß er:
Kehret heim aus dem Feld,
Kehret heim aus dem Feld,
Heim zum Mädchen, das er verla-ha-ssen.

George hat den Brief zusammengelegt und tritt zu ihm.

»Es gibt schon einen Weg, die Sache abzumachen, Kommandeur«, sagt Phil und sieht seinen Herrn schlau an.

»Das Geld bezahlen, was? Ja, wenn ich das könnte.«

Phil schüttelt den Kopf. »Nein, Govner, nein. Etwas Besseres. Es gibt einen Weg. Sehen Sie: so«, sagt Phil mit einer hochkünstlerischen Schwenkung seines Pinsels.

»Einen Strich drüber machen?«

Phil nickt.

»Das wäre mir ein hübscher Ausweg! Weißt du, was dann aus den Bagnets werden würde? Weißt du, daß sie dann meine Schulden bezahlen müßten und zugrunde gerichtet wären. Du bist mir ein netter Kerl«, sagt der Kavallerist und sieht Phil entrüstet an. »Meiner Seel, ein netter Kerl, Phil!«

Phil, seine Scheibe auf dem Knie, will gerade ernstlich protestieren, wenn es auch nicht ohne viele allegorische Schwenkungen seines Pinsels und Glätten des weißen Randes mit dem Daumen abgeht, und beteuern, er habe die Bagnets ganz vergessen und würde keinem Mitglied dieser würdigen Familie auch nur ein Haar krümmen, als man draußen im Einlaß Schritte kommen und eine muntere Stimme fragen hört, ob George zu Hause sei. Mit einem Blick auf seinen Herrn humpelt Phil ein paar Schritte weit und sagt: »Hier ist der Govner, Mrs. Bagnet! Hier.«

Begleitet von ihrem Mann, erscheint die Alte.

Ist Mrs. Bagnet marschbereit, so ist sie immer mit einem grauen groben, und wenn auch sehr reinlichen, so doch sehr abgetragnen Tuchmantel ausgerüstet – demselben Kleidungsstück, von dem Mr. Bagnet damals sagte, es habe mit Mrs. Bagnet und einem Regenschirm zusammen die Reise aus fremden Weltteilen nach Hause gemacht.

Der Schirm ist ebenfalls ein unzertrennlicher Begleiter der guten Frau, wenn sie sich auf die Straße begibt. Er ist von keiner in diesem Leben bekannten Farbe und hat einen runzligen hölzernen Haken als Griff mit einem Stück Blech daran. Er ist bauchig und scheint sehr eines Schnürleibs zu bedürfen, eine Eigentümlichkeit, die wahrscheinlich daher kommt, daß er eine Reihe von Jahren zu Hause als Vorratskammer und auf Reisen als Handtasche gedient hat. Sie spannt ihn niemals auf, da sie das größte Zutrauen auf ihren schwergeprüften Mantel und seine geräumige Kapuze hat, und gebraucht ihn nur als Stock, um damit beim Einkaufen auf Fleischstücke oder Gemüsebündel zu deuten oder durch einen freundschaftlichen Stich die Aufmerksamkeit der Höker zu erregen. Auch ohne ihren Marktkorb, eine Art geflochtenen Brunnen mit zwei großen Deckeln, geht sie nie aus. Von diesen beiden getreuen Gefährten begleitet und das ehrliche sonnenverbrannte Gesicht unter einen großen Strohhut gebunden, erscheint jetzt Mrs. Bagnet, frisch und munter aussehend, in Georges Schießgalerie.

»Nun, George, alter Bursche«, sagt sie, »wie geht’s an diesem schönen Morgen?«

Sie schüttelt dem Galeriedirektor freundlich die Hände, holt tief Atem und setzt sich hin, um sich auszuruhen. Gewöhnt, auf Bagagewagen oder auf ähnlich bequemen Lagerstätten zu ruhen, hockt sie sich auf eine schmale Holzbank, schiebt den Hut zurück, löst seine Bänder, verschränkt die Arme und befindet sich dem Anschein nach höchst behaglich.

Unterdessen hat Mr. Bagnet seinem alten Kameraden und Mr. Squod die Hand geschüttelt. Mrs. Bagnet hat Phil bereits mit einem freundlichen Nicken und Lächeln bedacht.

»Na, George«, sagt Mrs. Bagnet heiter, »hier sind wir, Lignum und ich.« Sie gibt ihrem Mann oft diesen Namen, wahrscheinlich, weil sein Spitzname: »lignum vitae« im Regiment war, als sie ihn kennenlernte – wegen der besondern Härte und Zähigkeit seiner Physiognomie. – »Wir kommen bloß, um alles wegen der Bürgschaft in Ordnung zu bringen. Geben Sie den neuen Wechsel zum Unterschreiben her, George.«

»Ich wollte diesen Morgen zu euch kommen«, bemerkt der Kavallerist zögernd.

»Ja, wir dachten es uns, aber wir sind zeitig ausgegangen und ließen Woolwich zum Schutz seiner Schwestern zurück und zogen es vor, selber zu Ihnen zu kommen, wie Sie sehen. Lignum ist jetzt so angebunden und hat so wenig Bewegung, daß ein Spaziergang ihm nur gut tun kann. Aber was ist denn los, George?« unterbricht Mrs. Bagnet ihre fröhliche Rede. »Was machen Sie denn für ein Gesicht?«

»Ich – ich«, entgegnet der Kavallerist, »ich habe Verdruß gehabt, Mrs. Bagnet.«

Ihr rasches helles Auge errät augenblicklich die Wahrheit.

»George«, sagt sie und hält den Zeigefinger in die Höhe, »sagen Sie mir nicht, daß etwas mit der Bürgschaft Lignums nicht in Ordnung ist? Sagen Sie das nicht, George, von wegen unsrer Kinder!«

Der Kavallerist sieht sie mit verstörtem Gesicht an.

»George«, sagt Mrs. Bagnet, bewegt unruhig die Arme und schlägt sich gelegentlich mit der flachen Hand auf die Knie, »wenn Sie mit dieser Bürgschaft irgend etwas haben geschehen lassen oder Lignum im Stich gelassen haben oder uns der Gefahr aussetzen, gepfändet zu werden – und ich lese so etwas wie Pfändung auf Ihrem Gesicht, George, als ob es deutlich drauf geschrieben stünde –, so haben Sie etwas Schändliches getan und uns grausam enttäuscht. Ich sage Ihnen, grausam, George! So. Jetzt wissen Sie’s.«

Mr. Bagnet, für gewöhnlich unbeweglich wie ein Pumpenstock oder ein Laternenpfahl, legt seine breite rechte Hand auf seine Glatze, als ob er sie vor einem Regenguß schützen wolle, und sieht Mrs. Bagnet mit großer Unruhe an.

»George«, fährt die Alte fort, »ich hätte das nicht von Ihnen geglaubt. George, ich schäme mich für Sie! George, ich hätte nie geglaubt, Sie wären zu so etwas imstande. Ich wußte immer, daß Sie ein rollender Stein sind, der kein Moos ansetzt, aber ich hätte nie gedacht, daß Sie auch noch das bißchen Moos wegnehmen würden, von dem Bagnet und die Kinder leben sollen. Sie wissen, was für ein fleißiger solider Kerl er ist. Sie wissen, wie Quebec und Malta und Woolwich sind, und ich hätte nie gedacht, daß Sie das Herz haben könnten, uns das anzutun. Ach, George!« – Mrs. Bagnet nimmt ihren Mantel zusammen, um sich ihre Augen zu wischen, – »wie konnten Sie uns das antun?«

Als Mrs. Bagnet aufgehört hat, nimmt Mr. Bagnet die Hand vom Kopf, als sei jetzt der Regenguß vorüber, und sieht Mr. George an, der, kreideweiß geworden, mit schmerzlichem Gesicht den grauen Mantel und den Strohhut anstarrt.

»Mat«, sagt der Kavallerist mit gedämpfter Stimme zu seinem Kameraden, kann aber keinen Blick von dessen Frau wenden. »Es tut mir leid, daß ihr es euch so zu Herzen nehmt, denn ich hoffe, es wird nicht so schlimm ausgehen. Allerdings habe ich heute früh diesen Brief bekommen«, – er liest ihn vor – »aber ich hoffe, die Sache läßt sich noch in Ordnung bringen. Was Sie da von einem rollenden Stein sagen, so haben Sie freilich recht. Ich bin ein rollender Stein, und ich glaube wahrhaftig, ich bin nie jemandem in den Weg gerollt, um ihm den mindesten Nutzen zu bringen, aber es ist mir altem Vagabunden unmöglich, mehr von deiner Frau und deiner Familie zu halten, als ich es tue, Mat, und ich hoffe, ihr werdet mich mit Nachsicht beurteilen. Glaubt nicht, daß ich euch etwas verheimlicht habe. Ich habe den Brief erst vor einer Viertelstunde bekommen.«

»Alte«, murmelt Mr. Bagnet nach einer kurzen Pause, »willst du ihm nicht meine Meinung sagen?«

»Ach, warum hat er nicht Joe Pouchs Witwe in Nordamerika geheiratet! Dann wäre er nicht in alle diese Ungelegenheiten gekommen«, ruft Mrs. Bagnet halb lachend, halb weinend.

»Die Alte hat ganz recht«, nickt Mr. Bagnet. »Warum hast du’s nicht getan?«

»Ich hoffe, sie hat jetzt einen bessern Mann«, entgegnet der Kavallerist. »So oder so. Jedenfalls steh ich hier und bin nicht mit Joe Pouchs Witwe verheiratet. Was soll ich tun? Du siehst hier alles, was ich habe. Es gehört nicht mir, es gehört dir. Sag nur ein Wort, und ich verkaufe jedes Stück. Hätte ich hoffen können, dafür nur annähernd die Summe, die ich brauche, zu bekommen, hätte ich längst alles verklopft. Glaub nicht, daß ich dich oder die Deinigen in der Tinte lasse, Mat. Eher würde ich mich selbst verkaufen. Ich wünschte nur«, sagt der Kavallerist und schlägt sich verächtlich auf die Brust, »ich wüßte jemanden, der so einen alten abgelegten Kerl kaufte.«

»Alte«, murmelt Mr. Bagnet, »sag ihm weiter meine Meinung!«

»George«, lenkt die Alte ein. »Sie sind bei reiflicher Überlegung nicht so sehr zu tadeln. Außer, daß Sie überhaupt das Geschäft ohne Mittel angefangen haben.«

»Das hat mir übrigens ganz ähnlich gesehen«, bemerkt bußfertig der Kavallerist. »Ganz ähnlich. Das weiß ich.«

»Ruhig! Die Alte«, sagt Mr. Bagnet, »hat recht, in ihrer Art meine Meinung zu sagen. Hör weiter.«

»Und damals hätten Sie nie die Bürgschaft verlangen sollen, George, und auch nicht bekommen dürfen, wenn man sich alles jetzt ordentlich überlegt. Aber was einmal geschehen ist, läßt sich nicht mehr ändern. Sie handeln immer wie ein ehrenhafter und rechtschaffner Kerl, soweit es in Ihrer Macht liegt, wenn auch ein bißchen unüberlegt. Andererseits müssen Sie zugeben, daß es ganz natürlich ist, wenn wir mit einer solchen Sorge auf dem Hals ängstlich sind. Wollen wir also sagen, vergeben und vergessen, George! Kommen Sie, vergeben und vergessen!«

Mrs. Bagnet reicht ihm eine ihrer ehrlichen Hände und ihrem Gatten die andre. Mr. George erfaßt sie und hält sie fest und sagt:

»Ich versichere euch beiden, ich würde alles tun, um diese Verpflichtung loszuwerden. Aber was ich habe zusammenscharren können, habe ich gebraucht, um alle zwei Monate die Zinsen für den Wechsel zu zahlen. Phil und ich haben hier einfach genug gelebt. Aber die Galerie trägt nicht soviel, wie wir erwarteten, und ist –kurz, ist kein Eldorado. War es unrecht von mir, sie zu übernehmen? Ja, allerdings! Aber ich wurde gewissermaßen zu dem Schritt gedrängt und glaubte, es würde mich gesetzter machen und mir im Leben forthelfen. Wenn ihr versucht, zu vergessen, daß ich mich mit solchen Erwartungen trug, bin ich euch wirklich sehr dankbar – und recht, recht beschämt.«

Mit diesen Worten schüttelt Mr. George den beiden die Hände und macht dann in militärischer Haltung ein paar Schritte zurück, als habe er sein letztes Bekenntnis abgelegt und solle sofort mit allen militärischen Ehren erschossen werden.

»George, hör mich zu Ende an«, sagt Mr. Bagnet mit einem Blick auf seine Frau. »Alte, sprich weiter!«

Mr. Bagnet, der sich auf diese eigentümliche Weise zu Ende anhören läßt, hat nur zu bemerken, daß der Brief unverzüglich beantwortet werden müsse und es das ratsamste sei, wenn George und er selbst auf der Stelle zu Mr. Smallweed gingen, um in erster Linie allen Schaden vom Hause Bagnet, das das Geld nicht habe, fernzuhalten. Mr. George stimmt dem vollständig bei, setzt seinen Hut auf und ist bereit, mit Mr. Bagnet in das feindliche Lager zu marschieren.

»Sie dürfen das vorschnelle Wort einer Frau nicht übelnehmen«, sagt Mrs. Bagnet und klopft ihm auf die Schulter. »Ich vertraue Ihnen meinen alten Lignum an und bin überzeugt, daß Sie ihn heil durchbringen werden.«

Der Kavallerist entgegnet, das sei freundlich von ihr gesprochen und er werde Lignum auf irgendeine Weise schon durchbringen. Darauf geht Mrs. Bagnet mit ihrem Mantel, Korb und Regenschirm wieder mit fröhlichen Augen zu ihrer Familie nach Haus, und die Kameraden treten die hoffnungsreiche Sendung an, Mr. Smallweed zu erweichen.

Ob es in ganz England noch zwei Leute gibt, die mit weniger Aussicht auf Erfolg eine Verhandlung mit Mr. Smallweed zu Ende zu führen imstande wären, als Mr. George und Mr. Matthew Bagnet, ist mehr als fraglich. Auch, ob es trotz ihres kriegerischen Aussehens, ihrer breiten Schultern und ihres gewichtigen Schrittes im Reich zwei in Smallweedschen Geschäften ungeübtere und unschlauere Kinder geben könnte.

Wie sie mit großem Ernst durch die Straßen nach Mount-Pleasant schreiten, glaubt Mr. Bagnet, da er seinen Begleiter so nachdenklich dreinschauen sieht, in freundlicher Weise auf Mrs. Bagnets letzte Attacke zurückkommen zu müssen.

»George, du kennst die Alte. Sie ist so sanft und mild wie Milch. Aber rühr ihre Kinder an – oder mich –, und sie geht in die Luft – wie Schießpulver.«

»Das macht ihr nur Ehre, Mat.«

»George«, sagt Mr. Bagnet und blickt geradeaus, »die Alte kann nichts tun, was ihr nicht Ehre macht. Mehr oder weniger. Ich sage es nicht vor ihr. Disziplin muß sein.«

»Sie ist ihr Gewicht in Gold wert«, entgegnet der Kavallerist.

»In Gold? Ich will dir was sagen, George. Die Alte wiegt – hundertsechsundsiebzig Pfund. Ob ich dieses Gewicht – egal, in welchem Metall – für die Alte nähme? Nein. Warum nicht? Weil die Alte aus einem viel kostbareren Metall ist. Sie ist besser als alles Metall.«

»Du hast recht, Mat.«

»Als sie mich nahm – und den Ring annahm –, ließ sie sich bei mir und den Kindern anwerben – mit Herz und Kopf fürs Leben. Und sie hält treu zu ihrer Fahne, so daß, wenn einer gegen uns auch nur den Finger rührt, sie gleich bei der Hand ist – und unters Gewehr tritt. Wenn die Alte einmal übers Ziel schießt – so gelegentlich, aus Pflichteifer –, muß man ihr das verzeihen, George. Denn sie meint’s gut.«

»Gott behüte sie, Mat! Ich denke nur um so besser von ihr.«

»Da hast du recht«, sagt Mr. Bagnet enthusiastisch, aber ohne dabei auch nur einen Muskel seines Gesichts zu verziehen. »Denk dir die Verdienste der Alten – so hoch wie den Felsen von Gibraltar –, und du wirst immer noch zu niedrig von ihren Verdiensten denken. Aber ich erwähne es nie vor ihr. Disziplin muß sein.«

Unter solchen Lobeshymnen gelangen sie endlich nach Mount-Pleasant und an Großvater Smallweeds Haus. Die ewig unveränderliche Judy öffnet die Tür, mustert die beiden mit nicht besondrer Freundlichkeit, wohl aber mit einem boshaften Lächeln von Kopf bis Fuß, läßt sie draußen stehen und fragt das Orakel, ob sie sie einlassen soll. Das Orakel scheint seine Einwilligung gegeben zu haben, denn sie kehrt mit den Worten auf ihren Honiglippen zurück, sie könnten hereinkommen – wenn sie Lust hätten.

So huldreich empfangen, treten sie also ein und finden Mr. Smallweed, mit den Füßen im Schubkasten seines Lehnstuhls ruhend wie in einem Papierfußbad, und Mrs. Smallweeds Gesicht, von dem Kissen verdunkelt wie ein Vogel, der nicht singen soll.

»Mein lieber Mr. George«, sagt Großvater Smallweed und streckt seine beiden magern Arme sehnsüchtig aus. »Wie geht’s Ihnen? Wie geht’s Ihnen? Und wer ist unser Freund hier?«

»Das hier ist«, entgegnet George mit recht wenig versöhnlichem Ton, »ist Matthew Bagnet, der für mich, wie Sie wissen, gebürgt hat.«

»Oh, Mr. Bagnet? Ja, richtig!« Der Alte beschattet sich die Augen mit der Hand und sieht ihn an. »Hoffe, Sie befinden sich wohl, Mr. Bagnet! Ein schöner Mann, Mr. George. Militärisches Aussehen, Sir.«

Da man ihnen keine Stühle anbietet, holt Mr. George selbst einen für Bagnet und einen für sich. Sie setzen sich. Mr. Bagnet, als ob er nur in den Hüften ein Gelenk hätte.

»Judy«, sagt Mr. Smallweed, »bring die Pfeife.«

»Ich glaube, die junge Dame braucht sich die Mühe nicht zu machen«, unterbricht ihn Mr. George, »denn, um die Wahrheit zu sagen, ich bin heute zum Rauchen nicht aufgelegt.«

»So. Nicht?… Judy, bring die Pfeife!«

»Die Sache ist die, Mr. Smallweed, daß ich mich in einer nicht besonders angenehmen Gemütsverfassung befinde. Es scheint mir, Sir, als ob Ihr Freund in der City dumme Streiche machen will.«

»O Gott, nein«, sagt Großvater Smallweed. »Das tut er nie.«

»Wirklich nicht? Nun, das freut mich. Ich glaubte schon, es sei sein Werk. Das da. Dieser Brief hier.«

Großvater Smallweed lächelt scheußlich, als er den Brief erblickt.

»Was hat das zu bedeuten?« fragt Mr. George.

»Judy, hast du die Pfeife? Gib sie mir. – Sie fragen, was der Brief zu bedeuten hat, mein lieber Freund?«

»Ja. Hören Sie einmal, Mr. Smallweed«, drängt der Kavallerist und zwingt sich, dabei so ruhig und vertrauensvoll wie nur möglich auszusehen. Er hält den Brief in der Linken und läßt seine Faust auf dem Schenkel ruhen. »Es ist viel Geld zwischen uns hin- und hergegangen, und wir sitzen jetzt einander gegenüber und wissen beide recht gut, wie die Sache stillschweigend vereinbart war. Ich bin bereit, zu tun, was ich bisher immer getan habe und was regelmäßig geschehen ist, damit die Sache im Gang bleibt. Ich habe bisher noch nie einen Brief wie diesen von Ihnen bekommen, und es hat mich diesen Morgen etwas außer Fassung gebracht, weil mein Freund hier, Matthew Bagnet, der, wie Sie wissen, das Geld nicht hat…«

»Ich weiß es nicht«, sagt der Alte ruhig.

»Hol Sie der… Er hat es nicht –, ich sag es Ihnen doch.«

»O ja, Sie sagen es«, entgegnet Großvater Smallweed. »Aber ich weiß es nicht.«

»Na«, sagt der Kavallerist, seinen Ärger hinunterschluckend, »aber ich weiß es.«

»Ah, das ist ganz etwas andres«, meint Mr. Smallweed gut gelaunt. »Aber das ändert nichts an Mr. Bagnets Lage.«

Der unglückliche George machte die größten Anstrengungen, die Sache in Frieden abzutun, und geht auf Mr. Smallweeds Launen ein, bloß, um ihn freundlich zu stimmen.

»Das meine ich eben. Ganz wie Sie sagen, Mr. Smallweed. Hier ist Matthew Bagnet, und Sie können ihn beim Schopf packen, ob er das Geld nun hat oder nicht. Das nimmt sich nun seine gute Frau sehr zu Herzen, und ich leide auch drunter, denn während ich ein leichtsinniger Taugenichts bin, der mehr Schläge als Halfpence verdient, ist er ein solider Familienvater. Ich weiß nun recht gut, Mr. Smallweed«, der Kavallerist wird, wie er auf diese soldatische Weise von dem Geschäft spricht, immer zuversichtlicher, »daß ich von Ihnen nicht verlangen kann, obgleich wir in einer gewissen Art ganz gut miteinander stehen, meinen Freund Bagnet ganz aus dem Spiel zu lassen.«

»Mein Gott, Sie sind zu bescheiden. Verlangen können Sie alles, Mr. George.« Großvater Smallweed zeigt eine gewisse menschenfresserhafte Neigung zur Spaßhaftigkeit.

»Und Sie können es abschlagen, meinen Sie, nicht? Oder vielleicht nicht so sehr Sie als Ihr Freund in der City. Hahaha!«

»Hahaha!« lacht auch Großvater Smallweed in so hartem Ton und mit so ganz besonders grünen Augen, daß Mr. Bagnets natürliche Ernsthaftigkeit sich beim Anblick des verehrungswürdigen alten Herrn sehr vertieft.

»Kommen Sie«, sagt der sanguinische Mr. George. »Es freut mich, daß wir so gut aufgelegt sind. Ich möchte gern alles in Frieden abmachen. Hier sitzt mein Freund Bagnet, und hier bin ich. Wir wollen die Sache auf der Stelle in der gewohnten Weise abmachen, nicht wahr, Mr. Smallweed? Und Sie werden meinem Freund Bagnet und seiner Familie das Herz um vieles erleichtern, wenn Sie ihm sagen wollen, daß wir uns darüber verständigt haben.«

Hier ruft ein Gespenst mit schriller Stimme höhnisch aus: »Ach, du lieber Gott!« – wenn es nicht etwa gar die spaßhafte Judy ist, die zwar ganz stumm dasteht, als die Gäste sich erschrocken nach ihr umsehen, deren Lippen aber eben erst vor Hohn und Verachtung gezuckt haben.

Mr. Bagnets Ernsthaftigkeit vertieft sich noch mehr.

»Ich glaube, Sie fragten mich doch, Mr. George« – Großvater Smallweed, der die ganze Zeit über die Pfeife in der Hand gehalten hat, ist jetzt der Sprecher – »ich glaube, Sie fragten mich, was der Brief zu bedeuten habe?«

»Nun ja, das wollte ich wissen«, entgegnet der Kavallerist sorglos. »Aber es liegt mir nicht so gar viel daran, wenn nur jetzt alles in Ordnung ist.«

Mr. Smallweed tut, als ziele er nach dem Kopf des Kavalleristen, und zerschmettert die Pfeife dann plötzlich auf dem Boden in tausend Stücke.

»Das hat er zu bedeuten, mein lieber Freund. Zerschmeißen will ich Sie. Ich will Sie vernichten. Zu Staub. Scheren Sie sich zum Teufel!«

Die beiden Freunde springen auf und sehen einander an. Mr. Bagnets Ernsthaftigkeit hat jetzt ihren Höhepunkt erreicht.

»Scheren Sie sich zum Teufel!« wiederholt der Alte. »Ich mag nichts mehr von Ihrem Pfeifenrauchen und Ihrem Schwadronieren hören. Was, Sie wollen ein freier unabhängiger Dragoner sein? Sie? Gehen Sie zu meinem Advokaten – Sie wissen, wo er wohnt, Sie sind schon einmal dort gewesen – und beweisen Sie jetzt Ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Vielleicht, mein lieber Freund, haben Sie da noch eine Aussicht. Mach die Tür auf, Judy, und geleite diese Prahlhänse schön sanft hinaus. Ruf die Polizei, wenn sie nicht freiwillig gehen… Hinaus mit euch!«

Er kreischt die letzten Worte so laut, daß Mr. Bagnet seinem Kameraden die Hände auf die Schultern legt und ihn, ehe er sich noch von seinem Staunen erholen kann, eilig hinausschiebt. Triumphierend wirft Judy die Haustür zu. Ganz verwirrt bleibt Mr. George eine Weile davor stehen und starrt den eisernen Klopfer an. Mr. Bagnet geht, das Urbild der Ernsthaftigkeit, vor dem kleinen Wohnstubenfenster auf und ab wie eine Schildwache und wirft jedes Mal einen Blick hinein, als ob er sich irgend etwas überlege.

»Komm, Mat«, sagt endlich Mr. George, als er sich erholt hat. »Wir müssen es bei dem Advokaten versuchen. Nun, was sagst du zu diesem Schurken?«

Mr. Bagnet bleibt stehen, wirft einen Abschiedsblick in die Wohnstube und brummt mit einem Kopfnicken, das denen drin gelten soll: »Wenn meine Alte hier gewesen wäre, hätte ich ihm meine Meinung gesagt.«

Auf diese Art die Ursache seiner Nachdenklichkeit losgeworden, tritt er an des Kavalleristen Seite und marschiert mit ihm in gleichem Schritt, Schulter an Schulter, fort.

Als sie sich in Lincoln’s-Inn-Fields melden, ist Mr. Tulkinghorn beschäftigt und nicht zu sprechen. Er scheint durchaus nicht geneigt, sie vorzulassen. Und als sie eine volle Stunde gewartet haben und der Schreiber, als ihn die Klingel ruft, die Gelegenheit benützt, zu erwähnen, daß sie schon sehr lange draußen warteten, bringt er keine ermutigendere Botschaft zurück, als daß Mr. Tulkinghorn ihnen nichts zu sagen habe. Sie warten jedoch mit militärischer Ausdauer, und endlich schellt die Klingel, und der Klient, der so lange drin gewesen ist, tritt aus Mr. Tulkinghorns Zimmer.

Der Klient ist eine hübsche alte Dame. Niemand anders als die Haushälterin von Chesney Wold, Mrs. Rouncewell. Sie verläßt das Sanktuarium mit einem hübschen altmodischen Knicks und macht leise die Tür zu. Sie wird hier mit einer gewissen Auszeichnung behandelt, und der Schreiber tritt hinter seinem Pult hervor, um sie durch das Vorzimmer zu geleiten. Die alte Dame dankt ihm für seine Aufmerksamkeit und bemerkt dabei die beiden wartenden Kameraden.

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir, aber sind diese Herren nicht vom Militär?«

Da der Schreiber die beiden fragend ansieht und Mr. George, vertieft in einen Wandkalender über dem Kamin, sich nicht umsieht, antwortet Mr. Bagnet:

»Ja, Maam. Gewesen.«

»Hab mir’s gleich gedacht. Auf den ersten Blick. Das Herz geht mir auf, wie ich Sie so sehe, meine Herren. Es geht mir immer so. Gott behüte Sie, Gentlemen. Sie werden es einer alten Frau nicht übelnehmen, aber ich hatte einmal einen Sohn, der unter die Soldaten gegangen ist, einen hübschen prächtigen Jungen und gutherzig in seiner kecken Weise, wenn auch so manche Leute ihn bei seiner armen Mutter herabsetzen wollten. Ich bitte Sie um Entschuldigung, wenn ich Sie gestört habe, Sir. Gott behüte Sie, Gentlemen!«

»Gott behüte Sie ebenfalls, Maam«, erwidert ihr Mr. Bagnet in herzlichem Ton.

Es liegt etwas Rührendes in den Worten der alten Dame und in dem Zittern, das ihre ehrwürdige alte Gestalt durchläuft, aber Mr. George ist so vertieft in den Wandkalender, daß er sich erst umsieht, als sie fort und die Tür hinter ihr geschlossen ist.

»George«, flüstert ihm Mr. Bagnet mit seinem Baß zu, als er sich endlich von dem Kalender losreißt. »Nur nicht niedergeschlagen! Soldatenblut ist fröhlich Blut. Kopf hoch, mein Junge!«

Der Schreiber ist wiederum hineingegangen, um zu melden, daß sie noch immer da sind, und Mr. Tulkinghorn hat so laut, daß sie es hören können, in gereiztem Ton geantwortet: »Also sollen sie meinetwegen hereinkommen!« Darauf treten sie in das große Zimmer mit der gemalten Decke und sehen ihn vor dem Kamin stehen.

»Nun, was wollt Ihr denn eigentlich? Sergeant, ich sagte Ihnen schon neulich, daß mir Ihre Gesellschaft nicht paßt.«

Der Sergeant gibt zur Antwort – er ist in den letzten Minuten in seiner Redeweise und seiner ganzen Haltung viel schüchterner geworden als sonst –, daß er diesen Brief empfangen habe, deshalb bei Mr. Smallweed gewesen und von diesem hierher gewiesen worden sei.

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen«, entgegnet Mr. Tulkinghorn. »Wenn Sie Schulden machen, müssen Sie sie bezahlen oder die Folgen auf sich nehmen. Müssen Sie, um sich das sagen zu lassen, eigens hierherkommen?«

Der Sergeant muß leider gestehen, daß er das Geld nicht hat.

»Sehr gut! Dann muß der andre, dieser Mann da, wenn er es ist, für Sie bezahlen.«

Der Sergeant muß leider hinzufügen, daß der andre das Geld ebenfalls nicht habe.

»Nun gut, dann müssen Sie beide es zusammen bezahlen oder Sie werden beide verklagt und müssen die Folgen auf sich nehmen. Sie haben das Geld bekommen und müssen es wieder zurückzahlen. Sie können nicht andrer Leute Pfunde, Schillinge und Pence in die Tasche stecken und dann sich mir nichts dir nichts drücken.«

Der Advokat setzt sich in seinen Lehnstuhl und schürt das Feuer.

Mr. George hofft, er werde doch die Güte haben, zu…

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, Sergeant, daß mich das nichts angeht. Mir gefällt Ihr Umgang nicht, und ich will Sie nicht hier haben. Die Sache schlägt nicht in mein Fach, und ich habe nichts damit zu tun. Mr. Smallweed beliebt es, mir die Sache zuzuschieben, aber sie geht mich nichts an. Gehen Sie zu Melchisedek in Clifford’s-Inn.«

»Ich muß Sie um Entschuldigung bitten«, sagt Mr. George, »daß ich mich Ihnen noch so aufdränge. Es ist mir so unangenehm, wie es Ihnen nur sein könnte. Aber wollen Sie mir ein Wort unter vier Augen gestatten?«

Mr. Tulkinghorn steht, die Hände in den Taschen, auf und tritt in eine Fensternische.

»Also sprechen Sie. Ich habe nicht lange Zeit.«

Trotz seiner Maske vollkommener Gleichgültigkeit beobachtet er scharf den Kavalleristen und trägt Sorge, daß er mit dem Rücken gegen das Fenster steht und das Licht auf das Gesicht des andern fällt.

»Sehen Sie, Sir«, sagt Mr. George, »der Mann dort ist der andre, der in meine Angelegenheit unglücklicherweise mit verwickelt ist, nur nominell – nur nominell –, und ich muß vor allem verhindern, daß er meinetwegen in Ungelegenheit kommt. Er ist ein höchst ehrenwerter Mann und hat Frau und Kinder. Er stand früher bei der königlichen Artillerie…«

»Lieber Freund, die ganze königliche Artillerie ist mir höchst gleichgültig – Offiziere, Mannschaften, Protzkästen, Wagen, Pferde, Kanonen und Munition!«

»Schon möglich, Sir, aber mir liegt es sehr am Herzen, daß Bagnet und seine Frau und Familie nicht meinetwegen zu Schaden kommen. Wenn ich sie damit heil aus dieser Klemme herausbringen könnte, würde ich ohne weitere Bedingung das, was Sie neulich von mir haben wollten, herausgeben.«

»Haben Sie es mitgebracht?«

»Ich habe es bei mir, Sir.«

»Sergeant«, fährt der Advokat in seiner trocknen leidenschaftslosen Weise fort, die viel mehr als die größte Heftigkeit jede Hoffnung vernichtet. »Fassen Sie Ihren Entschluß, noch während ich mit Ihnen rede, denn es ist das letzte Mal. Wenn ich aufgehört haben werde, zu sprechen, ist die Sache abgetan, und ich will nichts weiter davon hören. Merken Sie sich das wohl. Wenn Sie wollen, können Sie auf einige Tage hier lassen, was Sie bei sich haben, wie Sie sagen. Sie können es auch gleich wieder mitnehmen, wenn Sie wollen. Im Fall Sie es hier lassen, kann ich soviel für Sie tun, daß die Angelegenheit wieder wie früher geregelt wird. Ich kann außerdem noch so weit gehen, Ihnen eine schriftliche Zusicherung zu geben, daß dem Bagnet dort nichts geschehen soll, bis man gegen Sie bis auf das Äußerste verfahren ist, daß alle Ihre Zahlungsmöglichkeiten erschöpft sein sollen, ehe der Gläubiger sich an ihn hält. Das heißt fast soviel, wie ihn ganz aus dem Spiel lassen. Sind Sie jetzt entschlossen?«

Der Kavallerist steckt die Hand in die Brusttasche und antwortet mit einem tiefen Seufzer:

»Ich muß es wohl sein, Sir.«

Sodann setzt Mr. Tulkinghorn die Brille auf, setzt sich hin und schreibt das Dokument, liest es Bagnet, der die ganze Zeit über die Decke angestarrt hat, langsam vor und erklärt es ihm. Der Artillerist legt wieder die Hand bei jedem neuen Regenbad von Worten auf seine Glatze und scheint die Alte sehr nötig zu haben, um eine Meinung zu äußern. Dann nimmt Mr. George aus der Brusttasche ein zusammengefaltetes Papier und legt es widerstrebend neben den Ellbogen des Advokaten.

»Es ist nur ein Brief mit Instruktionen, Sir. Der letzte, den ich von ihm bekam.«

Ein Mühlstein könnte sich ebensowenig verändern wie die Miene Mr. Tulkinghorns, als er jetzt den Brief aufmacht und ihn liest. Mit einem Gesicht, undurchdringlich wie der Tod selbst, faltet er ihn wieder zusammen und legt ihn in sein Pult.

Weiter hat er nichts zu sagen oder zu tun, nickt nur noch ein einziges Mal in seiner früheren kalten und unhöflichen Weise und sagt kurz:

»Sie können gehen. – Heda! Führen Sie die Leute hinaus!«

Der Schreiber öffnet ihnen die Tür, und sie begeben sich nach Mr. Bagnets Wohnung zum Essen.

Gekochtes Fleisch mit grünem Gemüse tritt heute an die Stelle von Schweinefleisch mit grünem Gemüse. Mrs. Bagnet verteilt wieder wie damals das Mahl und würzt es mit der besten Laune. Sie gehört zu der seltnen Art alter Frauen, die das Gute hinnehmen, ohne sich etwas Besseres zu wünschen, und aus jeder kleinen Stelle Dunkelheit noch Licht zu ziehen verstehen. Die dunkle Stelle ist dieses Mal die finstre Stirn Mr. Georges. Er ist ungewöhnlich nachdenklich und niedergeschlagen. Zuerst überläßt Mrs. Bagnet seine Aufheiterung den vereinigten Anstrengungen Quebecs und Maltas. Aber als sie merkt, daß die jungen Damen in dem heutigen Wauwau nicht den lustigen Wauwau von damals finden, gibt sie ihrer leichten Infanterie ein stummes Zeichen, sich zurückzuziehen, und gibt George Gelegenheit, sich auf dem offnen Terrain des häuslichen Herdes in aller Muße frei zu entwickeln.

Aber er tut es nicht. Er bleibt in geschlossener Schlachtordnung und ist umwölkt und bedrückt. Während des ganzen langen Reinigungsprozesses und Hin- und Herklapperns, wo er und Mr. Bagnet ihre Pfeifen bekommen, wird es nicht besser als während des Essens. Er vergißt zu rauchen, starrt ins Feuer, läßt die Pfeife ausgehen und erfüllt die Brust Mr. Bagnets dadurch, daß er zeigt, der Tabak mache ihm keine Freude, mit Unruhe und Schrecken.

Als daher Mrs. Bagnet endlich erscheint, gerötet von dem kalten Wasser, und sich zur Arbeit niedersetzt, gibt ihr ihr Gatte einen Wink, sie möge versuchen, der Sache auf den Grund zu kommen.

»Aber George«, sagt Mrs. Bagnet und fädelt ruhevoll ihre Nadel ein, »wie Sie heute wieder verstimmt sind!«

»Bin ich das? Keine gute Gesellschaft? Ja, ja. Ich fürchte wirklich, ich bin’s nicht.«

»Er ist gar nicht der Bluffy wie sonst, Mutter«, ruft die kleine Malta.

»Weil ihm nicht wohl ist, glaub ich«, setzt Quebec hinzu.

»Gewiß ist das ein schlechtes Zeichen, nicht wie sonst zu sein«, entgegnet der Kavallerist und küßt die Mädchen. »Aber es ist leider wahr. Die Kleinen haben immer recht.«

»George«, sagt Mrs. Bagnet und wendet keinen Blick von ihrer Arbeit. »Wenn ich denken sollte, Sie könnten etwas übelgenommen haben, was einer Soldatenfrau über die Zunge gerutscht ist – ich hätte sie mir gleich darauf am liebsten abgebissen –, so wüßte ich nicht, was ich jetzt sagen sollte.«

»Liebe gute Seele«, entgegnet der Kavallerist. »Schlagen Sie sich doch das aus dem Kopf.«

»Ich habe wirklich und wahrhaftig nur sagen wollen, daß ich Ihnen Lignum anvertraue und überzeugt sei, Sie würden ihn heil durchbringen. Und Sie haben ihn durchgebracht, und fein!«

»Ich danke Ihnen«, sagt George. »Es freut mich, daß Sie so eine gute Meinung von mir haben.«

Er schüttelt Mrs. Bagnets mit der Arbeit beschäftigte Hand am Gelenk und sieht ihr aufmerksam ins Gesicht. Sie näht ruhig weiter, und sein Blick fällt auf den jungen Woolwich, der auf seinem Stuhl in der Ecke sitzt.

Er winkt ihn heran. »Schau mal, mein Junge«, sagt er und streicht der Alten sanft das Haar aus der Stirn. »Siehst du, da ist eine Stirn voll Güte und voll Liebe zu dir! Strahlend vor Liebe zu dir, mein Junge. Ein wenig gebräunt von der Sonne und dem Wetter, weil sie deinem Vater überall hin gefolgt ist und für dich hat sorgen müssen, aber so frisch und gesund wie ein reifer Apfel auf dem Baum.«

Mr. Bagnets Züge drücken, soweit es das sein hölzernes Gesicht erlaubt, die größte Billigung und Beistimmung aus.

»Die Zeit wird kommen, mein Junge«, fährt der Kavallerist fort, »wo das Haar deiner Mutter ergraut ist und die Stirn voller Runzeln und Falten. Eine schöne alte Frau wird sie dann sein. Trag Sorge, solang du noch jung bist, daß du in jenen fernen Tagen sagen kannst: Ich bin nicht schuld, daß nur ein einziges Haar auf ihrem geliebten Haupt weiß geworden ist, und ich habe nicht eine einzige Gramesfalte in ihr Gesicht gezeichnet. Denn von all den vielen Dingen, an die du als Mann denken kannst, ist das eins der besten, Woolwich!«

Mr. George steht von seinem Stuhle auf und setzt den Knaben hinein. Dann sagt er hastig etwas, das so klingt wie:

»Ich will lieber meine Pfeife auf der Straße draußen rauchen.«

35. Kapitel


35. Kapitel

Esthers Erzählung

Ich lag mehrere Wochen krank darnieder, und mein gewohntes Tagewerk war mir eine weit in der Vergangenheit liegende Erinnerung geworden. Das war weniger der Wirkung der Zeit als vielmehr den Veränderungen infolge meiner Hilflosigkeit und der Untätigkeit im Krankenzimmer zuzuschreiben. Schon nach wenigen Tagen schien alles in eine weite Ferne gerückt zu sein, in der die verschiedenen Abschnitte meines Lebens, in Wirklichkeit durch Jahre voneinander getrennt, sich wenig oder gar nicht voneinander abhoben. Ich schien durch mein Kranksein über ein dunkles Meer gefahren zu sein und meine sämtlichen Erlebnisse, durch die große Entfernung wie in eins verschwommen, auf der Küste der gesunden Tage zurückgelassen zu haben.

Der Gedanke, meine Wirtschaftspflichten jetzt versäumen zu müssen, machte mir anfangs wohl große Sorge, trat aber dann soweit in den Hintergrund meiner Erinnerung wie die Zeiten in Greenleaf oder die Sommernachmittage, wo ich als Kind mit der Mappe unter dem Arm, begleitet von dem Schatten an meiner Seite, nach Hause zu meiner Patin ging.

Ich hatte vorher nie gewußt, wie kurz in Wirklichkeit das Leben ist und in welch kleinen Raum man es zusammendrängen kann.

Während ich gefährlich krank war, quälte dies Ineinanderschwimmen der Lebensabschnitte mein Gemüt außerordentlich. Zu gleicher Zeit ein Kind, ein heranwachsendes Mädchen und die kleine Hausfrau, als die ich so glücklich gewesen war, bedrückten mich nicht nur die Sorgen jeder einzelnen dieser Epochen, sondern auch das unaufhörliche vergebliche Bestreben, sie miteinander in Einklang zu bringen. Ich glaube, daß nur wenige, die nicht in einer solchen Lage gewesen sind, vollkommen verstehen können, was ich sagen will, oder sich von der quälenden Unruhe in mir eine Vorstellung machen können.

Aus demselben Grund fürchte ich mich fast, von der Zeit meiner Krankheit zu sprechen, wo ich mir einbildete, ich kletterte riesige Treppen hinauf, beständig bemüht, oben anzukommen, und stets von einem Hindernis daran verhindert, wie ein Wurm an einem Gartenzaun, und gezwungen, immer wieder von vorn anfangen zu müssen. Zuweilen wußte ich ganz genau, daß ich im Bett lag, sprach mit Charley, fühlte ihre Berührung und erkannte sie genau. Und doch hörte ich mich klagen : »O diese unendlichen Treppen, Charley – immer mehr und mehr –, bis zum Himmel hinauf in die Höhe getürmt.« Und dann fing ich wieder an zu klettern.

Ich fürchte mich, von jener schlimmen Zeit zu sprechen, wo sich irgendwo im unendlichen schwarzen Raum ein feuriges Band oder ein Flammenring oder ein Kreis von Sternen bewegte, von dem ich ein kleiner Teil war –; wo mein einziges Gebet war, von den übrigen getrennt zu werden, und es für mich eine so unbeschreibliche Qual und ein so unsägliches Elend bedeutete, ein Teil dieses grauenhaften Dinges zu sein.

Vielleicht werde ich um so weniger langweilig und verständlicher, je weniger ich von diesen Krankheitserinnerungen spreche. Ich rufe sie nicht zurück, um andre zu verstimmen oder weil es mich jetzt im mindesten angriffe, daran zurückzudenken. Es könnte nur sein, daß wir besser imstande wären, Linderung zu schaffen, wenn wir mehr von diesen seltsamen Heimsuchungen wüßten.

Die nun folgende Ruhe, der lange köstliche Schlaf, der selige Frieden, als ich vor Mattigkeit mich nicht mehr selbst quälen konnte und sogar die Nachricht von dem Herannahen des Todes mit keinem andern Gefühl aufgenommen hätte als dem des Mitleids mit den Zurückbleibenden – dieser Zustand ist vielleicht allgemeiner verständlich. Und in ihm befand ich mich, als ich vor dem Licht mit Schrecken zurückbebte, das mir eines Tages wieder in die Augen schimmerte, dann aber mit einer grenzenlosen Freude, die sich mit Worten nicht schildern läßt, begriff, daß ich wieder würde sehen können.

Ich hatte Ada Tage und Nächte an der Tür jammern hören und mir zurufen, ich sei grausam und habe sie nicht lieb. Ich hatte sie bitten und flehen hören, man möge sie hereinlassen, damit sie mich pflegen und trösten könnte, und wiederholt Charley daran erinnert, daß sie meinem Liebling nicht öffnen dürfe, selbst nicht, wenn ich im Sterben läge. Und Charley mit ihrer kleinen Hand und ihrem großen Herzen hat in dieser Zeit der Not treu bei mir ausgeharrt und standhaft die Tür verschlossen gehalten. Wie meine Augen besser wurden und das herrliche Licht jeden Tag herrlicher und voller auf mich schien, konnte ich allmählich selber die Briefe lesen, die mein Liebling mir jeden Morgen und Abend schrieb, konnte sie an meine Lippen drücken und an meine Wange legen. – Ich sah meine liebreiche sorgsame kleine Zofe im Zimmer herumgehen und alles aufräumen und hörte, wie sie wieder heiter durch das offne Fenster mit Ada sprach. Ich verstand jetzt, warum es so still im Hause war, und begriff die zarte Rücksicht, die mir alle dadurch bewiesen. Ich konnte wieder in der Seligkeit meines Herzens weinen und fühlte mich in meiner Mattigkeit so glücklich wie vielleicht noch niemals, während ich gesund und stark gewesen.

Allmählich kehrten meine Kräfte zurück. Ich mußte nicht mehr ruhig daliegen und zusehen, was für mich geschah, sondern war imstande, hie und da ein wenig mitzuhelfen, bis ich mich wieder nützlich machen und dem Leben wieder ein Interesse abgewinnen konnte. Wie deutlich erinnere ich mich noch an den herrlichen Nachmittag, als ich mit Kissen gestützt zum ersten Mal im Bett aufrecht saß, um mit Charley einen Freudentee zu trinken. Die Kleine, von frühester Kindheit an wie dazu auf die Welt gekommen, den Schwachen und Kranken zu helfen, war so glücklich und so geschäftig und unterbrach sich so oft in ihren Vorbereitungen, um ihren Kopf an meiner Brust ruhen zu lassen und mich zu liebkosen und unter Freudentränen auszurufen, sie sei so froh, so froh, daß ich endlich sagen mußte: »Charley, wenn du nicht aufhörst, muß ich mich wieder hinlegen, liebes Kind, denn ich bin schwächer, als ich dachte.«

So wurde denn Charley so ruhig wie ein Mäuschen und bewegte sich mit ihrem heitern Gesicht emsig in den beiden Zimmern hin und her, aus dem Schatten in den göttlichen Sonnenschein und aus dem Sonnenschein wieder in den Schatten, während ich ihr friedvoll zusah. Als alle ihre Vorbereitungen fertig waren und der hübsche Teetisch mit seinen kleinen delikaten Speisen, die meinen Appetit reizen sollten, seinem weißen Tischtuch und seinen Blumen – alles von Ada unten liebevoll und schön für mich arrangiert – neben meinem Bett stand, fühlte ich mich standhaft genug, Charley etwas zu sagen, das mich schon lange beschäftigt hatte.

Erst belobte ich sie wegen der Ordnung im Zimmer und machte ihr Komplimente wegen seines Aussehens. Es war so frisch, luftig, fleckenlos und sauber, daß ich kaum glauben konnte, ich hätte darin so lange krank gelegen. Das freute Charley, und ihr Gesicht glänzte noch mehr als vorher.

»Und doch, Charley«, sagte ich und sah mich um, »vermisse ich irgend etwas, an das ich gewohnt war.«

Die arme kleine Charley sah sich ebenfalls um, schüttelte schüchtern den Kopf und tat, als ob sie nichts entdecken könne.

»Hängen die Bilder alle wie früher?«

»Jawohl, alle, Miß.«

»Stehen die Möbel anders, Charley?«

»Außer, wo ich sie weggerückt habe, um mehr Platz zu haben, stehen sie noch alle wie früher, Miß.«

»Und doch vermisse ich irgend etwas Altgewohntes«, sagte ich. »Ah, jetzt weiß ich es, Charley. Es ist der Spiegel.«

Charley sprang vom Tisch auf, als ob sie etwas vergessen hätte, ging in das nächste Zimmer, und ich hörte sie draußen schluchzen.

Ich hatte schon oft daran gedacht und war jetzt meiner Sache gewiß. Ich konnte Gott danken, daß es mich jetzt nicht mehr erschütterte. Ich rief Charley zurück, und als sie kam – anfangs mit einem gezwungnen Lächeln, aber, wie sie näher trat, mit bekümmerter Miene –, schloß ich sie in meine Arme und sagte:

»Es liegt wenig daran, Charley. Ich glaube, ich kann auch ohne mein altes Gesicht recht gut auskommen.«

Ich erholte mich bald soweit, daß ich das Bett verlassen, im Lehnstuhl sitzen oder sogar, auf Charley gelehnt, schwindlig in das nächste Zimmer gehen konnte. Auch in diesem fehlte der Spiegel, aber was ich zu tragen hatte, war deshalb nicht schwerer zu tragen.

Mein Vormund hatte beständig darauf gedrungen, mich zu besuchen, und jetzt war kein Grund mehr, daß ich mir dieses Glück noch länger hätte versagen sollen. Er kam eines Morgens und wollte mich anfangs gar nicht aus seinen Armen lassen. Immer und immer wieder rief er: »Mein liebes, liebes Mädchen!«

Ich hatte längst gewußt, wie hätte es auch anders sein können, welchen tiefen Quell von Liebe und Edelsinn sein Herz barg, und mußte nicht all das geringfügige Leid bei dem Gedanken, eine Stelle in einem solchen Herzen einnehmen zu dürfen, in den Hintergrund treten? Sicherlich! sagte ich mir. Er hat mein Gesicht gesehen und ist sogar noch zärtlicher gegen mich als früher. Er hat mich gesehen und hat mich trotzdem noch lieber als ehedem. Worüber sollte ich da noch traurig sein!

Er setzte sich neben mich aufs Sofa und schlang seinen Arm um mich. Eine kleine Weile saß er so, mit der Hand vor dem Gesicht; aber als er sie sinken ließ, verrieten seine Mienen keine Erregung. Er sah fröhlich aus wie immer.

»Mein kleines Mütterchen«, sagte er, »was war das doch für eine traurige Zeit. Und noch dazu ist das Mütterchen unerbittlich gewesen.«

»Das hat so sein müssen, Vormund.«

»Sein müssen ?« wiederholte er liebreich. »Natürlich. Ja, du hast recht. Aber erstlich waren Ada und ich ganz und gar einsam und unglücklich, und dann ist deine Freundin Caddy beständig zu allen Zeiten gekommen, und alle im Haus waren elend und traurig, und sogar der arme Rick hat geschrieben – und noch dazu an mich – aus Sorge um dich.«

Ich hatte in Adas Briefen von Caddy gehört, aber nichts von Richard. Ich sagte ihm das.

»Nun ja, liebes Kind«, erklärte er mir. »Ich habe es für das Beste gehalten, ihr nichts zu sagen.«

»Du legtest Nachdruck darauf, daß er an dich geschrieben hat. Es ist doch ganz natürlich von ihm. Er hätte keinem bessern Freund schreiben können.«

»Er ist vielleicht andrer Meinung«, entgegnete mein Vormund. »Die Wahrheit ist, daß er an mich scheinbar nur widerwillig schrieb, und zwar nur in der Hoffnung, über dich Nachricht zu bekommen. Er schrieb kalt, stolz und gereizt. Aber wir müssen da Nachsicht üben, kleines Frauchen. Er ist nicht zu tadeln. ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ hat eben zu sehr auf ihn eingewirkt und läßt mich ihm in einem andern Licht erscheinen. Ich habe erfahren, wie oft der Prozeß so Schlimmes und noch viel Schlimmeres angerichtet hat. Wenn zwei Engel darein verwickelt wären, glaube ich, würde es sogar ihrem Charakter schaden.«

»Deinen Charakter, Vormund, hat es jedenfalls nicht verändert.«

»O doch, liebes Kind«, sagte er lachend. »Er hat aus Südwind Ostwind gemacht, ich weiß nicht, wie oft. Rick hegt Mißtrauen und Argwohn gegen mich, geht zu Advokaten, die ihn lehren, mir mit Verdacht zu begegnen. Er hört von einander widerstreitenden Interessen reden und Ansprüchen, die sich mit den seinen angeblich nicht vertragen, und was sonst noch alles. Weiß der Himmel, wenn ich sie für meinen Teil aufgeben könnte, aus diesem Wust von Zopfflechterei, der meinen unglücklichen Namen seit so langer Zeit trägt, herauskommen oder alles dadurch ein für alle Mal beseitigen könnte, ich würde es, weiß Gott, diese Stunde noch tun. Und lieber möchte ich dem armen Rick seinen ursprünglichen Charakter wiedergeben, als all das Geld zu besitzen, das die toten Prozessierenden, denen auf dem Rad des Kanzleigerichts Herz und Seele gebrochen worden sind, bei dem Generalrechnungsführer haben liegen lassen müssen, ohne auch nur einen Pfennig davon gehabt zu haben. Und glaube mir, liebes Kind, das wäre Geld genug, um eine Pyramide zum Andenken an die himmelschreiende Verkommenheit des Kanzleigerichts damit anzufüllen.«

»Ist es denn wirklich möglich, Vormund?« fragte ich erstaunt, »daß Richard argwöhnisch gegen dich sein kann?«

»Ach, meine Liebe, meine Liebe! Das schleichende Gift dieser Mißbräuche hat leider die Eigenschaft, solche Krankheiten wieder zu erzeugen, Richards Blut ist infiziert, und alles verliert in seinen Augen sein natürliches Aussehen. Nein, ihn trifft keine Schuld.«

»Aber es ist ein schreckliches Unglück, Vormund.«

»Es ist ein schreckliches Unglück, Mütterchen, in den Kreis der Einflüsse eines Prozesses wie ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ zu geraten. Ich kenne kaum ein größeres. Schritt für Schritt hat er sich verleiten lassen, sich auf dieses gebrechliche Rohr zu stützen, das seine Fäulnis seiner ganzen Umgebung mitteilt. Ich sage abermals aus ganzem Herzen, wir müssen mit dem armen Rick Geduld haben und dürfen ihm keinen Vorwurf machen. Was für eine Unzahl fröhlich schlagender Herzen gleich dem seinen habe ich nicht schon zu meiner Zeit unter demselben unheilvollen Einfluß anders werden sehen.«

Ich mußte dennoch meine Verwunderung und mein Bedauern aussprechen, daß meines Vormunds wohlwollende und uneigennützige Absichten so wenig Erfolg gehabt hatten.

»So dürfen wir heute noch nicht sprechen, Mütterchen«, erwiderte er heiter. »Ada ist, hoffe ich, glücklicher jetzt, und das ist schon viel. Ich glaubte, diese beiden jungen Leute und ich könnten Freunde sein, anstatt einander mißtrauende Feinde, und imstande, den Folgen des Prozesses die Stirn zu bieten und zu zeigen, wir wären zu stark für ihn. Aber das war zuviel verlangt, ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ war der Vorhang an Ricks Wiege.«

»Können wir denn nicht hoffen, Vormund, daß ihm ein wenig Erfahrung beweist, auf was für eine trügerische und elende Sache er baut?«

»Wir wollen das hoffen, liebe Esther, und wollen auch hoffen, daß die Lehre nicht zu spät kommt. Aber keinesfalls dürfen wir zu hart über ihn urteilen. Es gibt heutzutage sicherlich nur wenig erwachsne und gereifte und gewiß auch gute Menschen auf Erden, die, wenn sie als Klienten in diesen Gerichtshof kämen, nicht binnen drei Jahren, nein, binnen zwei, vielleicht sogar in einem Jahr ihren guten Charakter einbüßten. Wie können wir uns da über den armen Rick wundern?«

Ein so unglücklicher junger Mann kann anfangs nicht glauben – wie könnte es denn auch anders sein –, daß das Kanzleigericht wirklich so verkommen ist. Voll Aufregung und ewig hin und her geworfen, erwartet er von ihm, daß es etwas für seine Sache tue und zu einem Abschluß bringen werde. Es verschleppt, enttäuscht, martert und quält ihn, zerreibt stückweise seine sanguinischen Hoffnungen und seine Geduld, Faden um Faden, aber immer noch hofft er und klammert sich daran und findet die ganze übrige Welt trügerisch und hohl. »Ja, so ist es leider! Doch genug davon jetzt, liebes Kind!«

Mein Vormund war mir die ganze Zeit über und schon in meiner Kindheit eine Stütze gewesen, und sein liebreiches Wesen ergriff mich jetzt so sehr, daß ich meinen Kopf an seine Schulter legte, voll Liebe, als wäre er mein Vater. Ich faßte innerlich den Entschluß, Richard aufzusuchen, sobald ich wieder kräftig genug dazu sein würde, und mich zu bemühen, ihm die Augen zu öffnen.

»Wir haben, dächte ich, bessere Unterhaltungsthemen als dieses«, sagte mein Vormund, »bei so einem Freudenfest, wie es die Genesung meines geliebten Mütterchens ist. Und ich hatte den Auftrag, gleich mit dem ersten Wort eines derselben zu erwähnen. Wann soll dich Ada besuchen, liebes Kind?«

Ich hatte auch schon daran gedacht. Ein wenig in Verbindung mit dem Gedanken an den Spiegel, aber nicht viel –, wußte ich doch, daß mein Liebling durch mein entstelltes Gesicht nicht anders zu mir sein würde.

»Da ich Ada so lang habe entbehren müssen«, fing ich nach einer Weile an, »glaube ich, wäre es das beste, wenn ich noch ein bißchen auf meinem alten Entschluß beharrte und das Haus hier auf einige Zeit verließe, ehe ich sie wiedersehe. Wenn Charley und ich eine Wohnung auf dem Lande bezögen und ich eine Woche vorläufig dort wohnen könnte, um mich in der frischen Luft ein wenig zu erholen, glaube ich, würde es besser für uns sein.«

Ich hoffe, es war kein kleinlicher Wunsch von mir, daß ich mich selbst erst etwas mehr an mein verändertes Äußeres gewöhnen wollte, bevor ich dem lieben Kind, das ich mit so heißer Sehnsucht wiederzusehen wünschte, vor die Augen träte. Aber es ist die Wahrheit. Ich hegte wirklich diesen Wunsch und war überzeugt, daß mein Vormund mich verstehen werde.

»Unser verzognes kleines Frauchen«, sagte er, »soll, wenn sie schon so versessen drauf ist, ihren Willen haben, wenn es auch Tränen kosten wird. Da hätten wir zum Beispiel Boythorn. Der ritterliche Bursche hat mit so leidenschaftlichen Gelübden, wie sie vielleicht noch kein Papier je aufgenommen hat, bei Himmel und Erde geschworen, wenn du nicht zu ihm kämest und sein ganzes Haus bezögest, das er übrigens nur zu diesem Zweck bereits geräumt hat, wolle er es niederreißen und keinen Stein auf dem andern lassen.«

Und mein Vormund legte einen Brief in meine Hand, der nicht wie gewöhnlich mit: »Mein lieber Jarndyce« begann, sondern anfing:

»Ich schwöre, daß, wenn Miß Summerson nicht zu mir kommt und mein Haus bezieht, das ich heute um ein Uhr mittags für sie räume, usw. usw.«

und dann mit der größten Ernsthaftigkeit und den nachdrücklichsten Worten dieselbe Erklärung wiederholte. Wir mußten herzlich über den Brief lachen, so sehr wir auch Mr. Boythorns liebenswürdigen Vorschlag zu schätzen wußten, und kamen überein, daß ich ihm morgen früh einen Dankbrief schreiben und sein Anerbieten annehmen sollte. Es war mir höchst angenehm, denn von allen Orten, die ich mir hätte ausdenken können, war mir keiner so erwünscht als Chesney Wold.

»Nun, kleine Hausfrau«, sagte mein Vormund und sah auf die Uhr, »meine Zeit wurde mir, ehe ich heraufkam, genau zugemessen und ist jetzt bis zur letzten Minute verstrichen. Du mußt dir vorläufig noch Ruhe gönnen. Ich habe nur noch eine Bitte. Die kleine Miß Flite faßte nämlich auf das Gerücht, daß du krank wärest, auf der Stelle den Entschluß, hierher zu wandern – zwanzig Meilen in Tanzschuhen, die arme Alte –, um sich nach dir zu erkundigen. Ein wahres Glück, daß wir zu Hause waren, sonst hätte sie unverrichteter Dinge wieder umkehren müssen.«

Die alte Verschwörung, mich glücklich zu machen! Jedermann schien dabei beteiligt zu sein!

»Wenn es dir nun nicht unangenehm ist, die harmlose kleine Alte einmal nachmittags vorzulassen, ehe du Boythorns sonst dem Untergang geweihtes Haus vor Zerstörung bewahren gehst, glaube ich, würdest du sie stolzer und zufriedener damit machen, als ich – trotzdem ich den ausgezeichneten Namen Jarndyce führe – in meinem ganzen Leben imstande wäre.«

Ich bezweifle nicht, daß er wußte, wie besänftigend und heilsam der Anblick des armen unglücklichen Geschöpfs zu jener Zeit auf mein Gemüt wirken werde. Ich fühlte es, noch während er mit mir sprach. Ich konnte ihm nicht herzlich genug versichern, wie bereit ich sei, sie zu empfangen. Ich hatte sie immer bemitleidet; vielleicht niemals so sehr wie jetzt. Ich war stets froh gewesen, sie in ihrem Unglück wenigstens einigermaßen trösten zu können; aber nie, nie halb so sehr wie jetzt.

Wir verabredeten also einen Tag, wo Miß Flite mit der Landkutsche zu uns kommen und mein Rekonvaleszentenmittagessen mit mir teilen sollte.

Als mein Vormund mich verließ, wendete ich auf meinem Lager mein Gesicht ab und betete zu Gott um Verzeihung, daß ich meine kleine Prüfung, von solchen Segnungen umgeben, nicht leichter trug. Die kindliche Bitte an jenem längst vergangnen Geburtstag, wo ich gelobt hatte, zufrieden, fleißig und treuen Herzens zu sein und Gutes zu erweisen, wann immer ich könnte, und mir Liebe zu erwerben, wenn es mir gelänge, kehrte mit einem vorwurfsvollen Gedanken an alles seitdem genoßne Glück und all die mir erwiesne Liebe in meine Seele zurück. Wenn ich jetzt schwach werden sollte, was hätten mir alle diese gnädigen Schickungen genützt? Ich wiederholte das alte kindische Gebet in seinen alten kindischen Worten und fand, daß es mir Frieden gab wie damals.

Mein Vormund besuchte mich von da an jeden Tag. Nach Verlauf einer Woche konnte ich in den beiden Zimmern herumgehen und hinter dem Vorhang hervor lange mit Ada sprechen. Aber ich zeigte mich ihr nie, denn ich hatte noch nicht den Mut dazu.

An dem festgesetzten Tag kam Miß Flite. Die arme kleine Alte eilte, ihr gewöhnliches würdevolles Benehmen ganz beiseite lassend, in mein Zimmer und rief, aus tiefstem Herzen schluchzend: »Meine liebe Fitz-Jarndyce!«, fiel mir um den Hals und küßte mich wohl zwanzig Mal.

»Mein Gott!« sagte sie und fuhr mit der Hand in ihren Strickbeutel. »Ich habe hier nichts als Dokumente, meine liebe Fitz-Jarndyce. Sie müssen mir ein Taschentuch leihen.«

Charley gab ihr eins, und das gute Geschöpf machte den reichlichsten Gebrauch davon, denn sie hielt es mit beiden Händen vor die Augen und weinte so die nächsten zehn Minuten lang.

»Aus Freude, meine liebe Fitz-Jarndyce«, versicherte sie dabei unaufhörlich. »Nicht etwa vor Schmerz. Vor Freude, Sie wieder gesund zu sehen. Vor Freude, die Ehre zu haben, Sie besuchen zu dürfen. Ich habe Sie noch viel lieber als den Kanzler. Obgleich ich regelmäßig den Gerichtssitzungen beiwohne. Übrigens, meine Liebe, da wir gerade von Taschentüchern sprechen…«

Sie fing einen Blick von Charley auf, die sie vorher von der Kutsche abgeholt hatte. Charley sah mich an und schien ein wenig beunruhigt.

»Ja, richtig«, sagte Miß Flite, »ja, richtig. Wahrhaftig! Im höchsten Grade indiskret von mir, darauf zu sprechen zu kommen. Meine liebe Miß Fitz-Jarndyce, unter uns gesagt, ich fürchte, ich bin manchmal ein wenig – zerstreut, wissen Sie.« – Sie deutete auf ihre Stirn – »Es ist weiter nichts.«

»Was wollten Sie mir denn sagen?« fragte ich lächelnd, denn ich sah, daß sie gern fortfahren wollte. »Sie haben mich neugierig gemacht, und ich lasse mich jetzt nicht so ohne weiteres abspeisen.«

Miß Flite sah in ihrem Dilemma Charley hilfesuchend an und freute sich dann über die Maßen, als Charley sagte: »Wenn Sie erlauben, Maam, aber es ist wohl am besten, Sie erzählen es selber.«

»Wie klug unsre junge Freundin ist«, sagte sie zu mir in ihrer geheimnisvollen Weise. »Winzig klein. Aber s-eh-r klug. Also, meine Liebe, eine hübsche kleine Anekdote. Weiter nichts. Aber ich halte sie für reizend. Wer, glauben Sie wohl, kam hinter uns her in der Landkutsche? Eine arme Person in einem höchst unmodischen Hut…«

»Jenny, wenn Sie erlauben, Miß«, erklärte Charley.

»Ganz richtig«, stimmte Miß Flite lebhaft bei. »Jenny. Jawohl. Und was erzählt sie unsrer jungen Freundin? Daß sich in ihrer Hütte eine verschleierte Dame nach dem Befinden meiner lieben Fitz-Jarndyce erkundigte und als kleines Andenken ein Taschentuch mitgenommen hat, bloß, weil es meiner liebenswürdigen Fitz-Jarndyce gehörte. Bloß deswegen nahm es die verschleierte Dame mit.«

»Wenn Sie erlauben, Miß«, erklärte mir Charley, als ich sie verwundert anblickte, »Jenny sagte, als ihr Kind starb, hätten Sie ein Taschentuch zurückgelassen. Sie hat es aufgehoben mit den andern kleinen Sachen. Ich glaube, wenn Sie erlauben, Miß, nicht nur, weil es das tote Kind zugedeckt hat, sondern weil es von Ihnen stammt.«

»Winzig klein«, flüsterte Miß Flite und machte allerhand merkwürdige Gesten vor ihrer Stirn, um auszudrücken, wie gescheit Charley sei. »Aber ausnehmend klug! Und so klar! Meine Liebe, sie drückt sich klarer aus als der beste Advokat, den ich jemals gehört habe.«

»Ja, Charley«, entgegnete ich. »Ich erinnere mich. Und weiter?«

»Ja, Miß, dies Taschentuch hat die Dame mitgenommen. Und Jenny wünscht, Sie wissen zu lassen, daß sie es nicht für einen Haufen Geld weggegeben hätte, aber die Dame hat es einfach genommen und Geld dafür hingelegt. Jenny kennt sie gar nicht, wenn Sie erlauben, Miß.«

»Wer mag das nur gewesen sein?«

»Meine Liebe«, meinte Miß Flite und brachte mit ihrer geheimnisvollen Miene ihre Lippen ganz nahe an mein Ohr. »Meiner Meinung nach – verraten Sie es unsrer kleinen Freundin nicht – war es des Lordkanzlers Gemahlin. Er ist verheiratet, müssen Sie wissen. Und wie ich höre, hat er ein Höllenleben bei ihr auszuhalten. Sie wirft Seiner Lordschaft Akten ins Feuer, meine Liebe, wenn er den Juwelier nicht bezahlen will.«

Ich machte mir damals nicht viel Gedanken über die unbekannte Dame und glaubte, es könnte vielleicht Caddy gewesen sein. Außerdem wurde meine Aufmerksamkeit ganz von meinem Besuch in Anspruch genommen. Von der Fahrt ganz durchgefroren und ausgehungert, hatte sie, als das Mittagessen aufgetragen wurde, einigen Beistand nötig, um sich zu ihrer Befriedigung mit einer jämmerlichen alten Schärpe und einem Paar sehr abgenutzter und oft geflickter Handschuhe, die, in Papier eingeschlagen, die Reise mitgemacht hatten, herauszuputzen. Ich hatte ihr außerdem bei dem Mahl, das aus einem Gericht Fisch, einem gebratenen Huhn, Gemüse, Madeira und Mehlspeise bestand, vorzulegen, und es war so hübsch anzusehen, wie sie es sich schmecken ließ und mit welchem Anstand und welcher Feierlichkeit sie sich dabei benahm, daß ich bald an weiter nichts dachte.

Als wir fertig waren und unser bescheidenes Dessert vor uns stand, mit Blumen geschmückt von den Händen meines Lieblings, war Miß Flite so heiter gestimmt und gesprächig, daß ich auf den Einfall kam, sie auf ihre eigne Lebensgeschichte zu bringen, denn ich wußte, daß sie immer gern von sich sprach.

Ich fing mit der Frage an: »Sie haben den Lordkanzler wohl schon viele Jahre besucht, Miß Flite?«

»Oh, viele, viele, viele Jahre, meine Liebe. Aber ich erwarte ein Urteil. Binnen kurzem.«

Selbst aus ihrem hoffnungsfreudigen Wesen blickte jetzt eine schmerzliche Spannung durch und ließ mich zweifeln, ob ich recht getan hätte, die Sache erwähnt zu haben. Ich nahm mir vor, lieber nicht mehr davon anzufangen.

»Mein Vater erwartete schon ein Urteil«, fuhr Miß Flite nach einer Weile fort. »Mein Bruder, meine Schwester, sie alle erwarteten ein Urteil. Dasselbe, das ich erwarte.«

»Sie sind alle…«

»Jaaaa. Tot natürlich, meine Liebe.«

Da ich sah, daß sie durchaus fortfahren wollte, hielt ich es für das Beste, doch auf das Thema einzugehen, anstatt ihm auszuweichen.

»Wäre es nicht vielleicht klüger«, sagte ich, »nicht länger auf dieses Urteil zu warten?«

»Natürlich, meine Liebe«, antwortete sie auf der Stelle, »wäre es das.«

»Und den Gerichtshof nicht länger mehr zu besuchen.«

»Ebenso natürlich. Es ist sehr aufreibend, immer auf etwas zu warten, das nie kommt, meine liebe Fitz-Jarndyce! Aufreibend bis auf die Knochen, versichere ich Ihnen.«

Sie zeigte mir einen Augenblick ihren Arm, der wirklich schrecklich abgezehrt aussah.

»Aber, meine Liebe«, fuhr sie geheimnisvoll fort, »der Ort übt eine schreckliche Anziehungskraft aus. Still! Erwähnen Sie nichts davon gegen unsre kleine Freundin, wenn sie hereinkommt. Es könnte sie erschrecken. Mit gutem Grund. Der Ort übt eine grausame Anziehungskraft aus. Sie können ihn nicht verlassen. Sie müssen auf etwas warten.«

Ich versuchte, ihr das auszureden. Sie hörte mich geduldig und lächelnd an, war aber gleich mit ihrer Antwort zur Hand.

»Jajaja! Sie denken so, weil ich etwas zerstreut bin. Seh-r absurd, so zerstreut zu sein, nicht wahr? Und seh-r konfus. Im Kopf. Es kommt mir so vor. Aber, meine Liebe, ich bin seit vielen Jahren dort und habe scharf acht gegeben. Es geht von dem Szepter und dem Siegel auf dem Tisch aus.«

»Wieso von dem Szepter und dem Siegel?« fragte ich.

»Sie saugen und ziehen! Sie ziehen die Leute an, meine Liebe. Ziehen den Frieden aus ihrer Seele. Den Verstand. Das gute Aussehen. Die guten Eigenschaften ziehen sie heraus. Ich habe gefühlt, wie sie mir sogar in der Nacht die Ruhe entzogen. Kalte und glitzernde Teufel.«

Sie tippte verschiedne Male auf meinen Arm und nickte mir gutmütig zu, als liege ihr wohl viel daran, mich zu überzeugen, daß ich aber keine Ursache habe, mich vor ihr zu fürchten, wenn sie mir so düstere und schreckliche Geheimnisse anvertraute.

»Warten Sie «, sagte sie, »ich will Ihnen meine eigne Geschichte erzählen. Ehe sie mich anzogen, die glitzernden Teufel, womit beschäftigte ich mich da? – Mit Tambourinspielen? Nein, Tambourarbeit allerdings. Ich und meine Schwester machten nämlich Tambourierstickerei. Unser Vater und unser Bruder waren Baumeister. Wir wohnten alle zusammen. Seh-r respektabel, meine Liebe. Zuerst zogen sie meinen Vater weg. Langsam. Die ganze Häuslichkeit zog es mit ihm. In wenigen Jahren war er ein mürrischer, verbitterter, bankrotter Mann, der für niemanden ein gutes Wort oder einen freundlichen Blick mehr hatte.

Früher war er so ganz anders gewesen, Fitz-Jarndyce! Es zog ihn ins Schuldgefängnis. Dort starb er. Dann zog es unsern Bruder – rasch – zur Trunksucht und Herabgekommenheit. Und Tod. Dann zog es meine Schwester. Still. Fragen Sie mich nicht, zu was. Dann wurde ich krank. Und darbte. Und ich hörte, wie schon oft vorher, daß all das das Werk des Kanzleigerichts sei. Als ich mich erholte, sah ich mir das Ungeheuer an. Und dann entdeckte ich, wie es war, und es zog mich, dort zu bleiben.«

Nach und nach, wie sie mit der kurzen Schilderung ihres Lebens fertig wurde, mit unterdrückter gepreßter Stimme sprechend, als stünde all das Leiden noch in frischer Erinnerung vor ihr, und zu Ende kam, nahm sie ihre gewohnte Miene liebenswürdiger Wichtigtuerei wieder an.

»Sie schenken mir nicht vollen Glauben, meine Liebe. Gut, gut. Eines Tages werden Sie es schon tun. Ich bin ein wenig zerstreut. Aber ich habe beobachtet. Ich habe manches neue Gesicht arglos in den Bereich des Einflusses des Szepters und des Siegels kommen sehen in diesen vielen Jahren. Meinen Vater. Meinen Bruder. Meine Schwester. Mich selbst. Ich höre Konversationskenge und alle übrigen zu den neuen Gesichtern sagen: Das ist die kleine Miß Flite. Oh, Sie sind zum ersten Mal hier? Da müssen wir Ihnen doch die kleine Miß Flite vorstellen! Sehr gut! Und ich bin über die Ehre natürlich sehr stolz. Und wir alle lachen. Aber, Fitz-Jarndyce, ich weiß, was vor sich geht. Ich weiß viel besser als sie, wann die Anziehungskraft zu wirken begonnen hat. Ich kenne die Zeichen, meine Liebe. Ich sah den Anfang bei Gridley. Und ich sah das Ende. Meine liebe Fitz-Jarndyce«, sagte sie wieder mit leiserer Stimme, »ich sah, wie es anfing bei unserm Freund, dem Mündel in Sachen Jarndyce. Sagen Sie doch, man solle ihn zurückhalten. Oder es wird ihn ins Verderben ziehen.«

Einige Augenblicke lang sah sie mich schweigend an, dann wurde ihre Miene langsam wieder ein Lächeln. Sie schien zu fürchten, sie habe mir zu trübe Dinge erzählt, und schien gleichzeitig den Zusammenhang zu verlieren, denn sie sagte höflich und nippte dabei an ihrem Glas Wein: »Ja, meine Liebe, wie ich schon sagte, ich erwarte ein Urteil. Binnen kurzem. Dann schenke ich meinen Vögeln die Freiheit wieder, wie Sie wissen, und verteile Güter.«

Ihre Anspielung auf Richard ergriff mich tief. Ihre verkümmerte Gestalt war trotz des unzusammenhängenden Sinns ihrer Rede ein furchtbares und trauriges Beispiel. Zum Glück für sie war sie jetzt wieder seelenvergnügt und wurde wieder ganz Lächeln und Nicken.

»Aber, meine Liebe«, sagte sie heiter und legte ihre Hand auf die meine, »Sie haben mir noch nicht wegen meines Arztes gratuliert. Wirklich, noch nicht ein einziges Mal.«

Ich mußte gestehen, daß ich nicht recht wußte, was sie meinte.

»Wegen meines Arztes, Mr. Woodcourt, meine Liebe, der so außerordentlich aufmerksam zu mir war! Obgleich er mir seine Dienste gratis zur Verfügung stellte. Bis der Tag des Gerichts kommt. Ich meine den Tag des Urteils, der den Zauber vernichtet, den Szepter und Siegel auf mich ausüben.«

»Mr. Woodcourt ist jetzt so weit weg«, sagte ich, »daß ich glaubte, eine solche Gratulation käme verspätet, Miß Flite.«

»Aber, mein Kind«, entgegnete sie, »ist es denn möglich, daß Sie nicht wissen, was geschehen ist?«

»Was denn? Ich weiß von nichts.«

»Es war doch in jedermanns Munde, meine liebe Fitz-Jarndyce. Und Sie wissen es wirklich nicht?«

»Nein. Sie vergessen, wie lange ich hier krank lag.«

»Sehr wahr. Meine Liebe, wirklich, sehr wahr. Ich muß mich selbst tadeln. Aber mein Gedächtnis ist mit allem andern aus mir herausgezogen worden von… Sie wissen schon. Seh-r starker Einfluß, nicht wahr? Ja, ja, meine Liebe. Dort im indischen Ozean hat ein schrecklicher Schiffbruch stattgefunden.«

»Mr. Woodcourt ist untergegangen!!!«

»Regen Sie sich nicht auf, meine Liebe. Er ist gerettet. Eine grauenerregende Szene. Der Tod in allen Gestalten. Hunderte von Toten und Sterbenden. Feuer, Sturm und Finsternis. Eine Menge von Ertrinkenden auf einen Felsen geworfen. Dort, und die ganze Zeit über, war mein lieber Arzt ein Held. Ruhig und tapfer in jeder Gefahr. Rettete vielen das Leben, klagte nie über Hunger und Durst, hüllte Nackte in seine eignen Kleider, übernahm die Führung, riet ihnen, was sie tun sollten, pflegte die Kranken, begrub die Toten und brachte die armen Überlebenden endlich in Sicherheit. Meine Liebe, die armen ausgehungerten Geschöpfe beteten ihn fast an. Sie fielen vor ihm auf die Knie und segneten ihn, als sie endlich gerettet wurden. Das ganze Land spricht davon. Warten Sie. Wo ist mein Dokumentenbeutel? Ich hab es mit. Und Sie sollen es lesen, Sie sollen es lesen.«

Und ich las die ganze herrliche Geschichte.

Wenn auch nur sehr langsam und unvollkommen damals, denn meine Augen waren so getrübt, daß ich die Worte nur schwer unterscheiden konnte, und ich weinte soviel, daß ich oft den langen Zeitungsausschnitt weglegen mußte. Ich fühlte mich so glücklich, den Mann gekannt zu haben, der so edle und tapfere Taten vollbracht, sein Ruhm erfüllte mich mit solcher Begeisterung, und ich bewunderte ihn so sehr wegen dessen, was er getan, daß ich die sturmgepeitschten Unglücklichen, die vor ihm auf die Knie gesunken waren und ihn als ihren Retter gesegnet hatten, beneidete. Ich selbst hätte vor ihm niederknien und ihn segnen mögen in meinem Entzücken, daß er sich so wahrhaft edel und tapfer benommen. Ich fühlte, daß niemand – weder Mutter, Schwester noch Gattin – ihn höher halten könnte als ich. Ja, als ich, das fühlte ich.

Die arme kleine Miß Flite schenkte mir den Bericht, und als sie bei herannahendem Abend aufstand, um sich zu verabschieden, um nicht die Rückfahrt mit der Landkutsche zu versäumen, sprach sie noch immer von dem Schiffbruch. Ich war meinerseits noch zu sehr außer Fassung, um ihn in allen seinen Einzelheiten zu begreifen.

»Meine Liebe«, sagte sie, als sie Schärpe und Handschuhe sorgfältig eingewickelt hatte, »mein wackerer Arzt sollte einen Titel bekommen. Jedenfalls wird das auch geschehen. Sie sind doch auch der Meinung?«

»Daß er gewiß einen verdiente, ja. Daß er einen bekommen wird, nein.«

»Warum nicht, Fitz-Jarndyce?« fragte sie etwas gereizt.

Ich erklärte ihr, es sei in England nicht Sitte, für verdienstvolle Taten in Friedenszeiten, wie bedeutend sie auch immer wären, Titel zu verleihen. Außer, gelegentlich, wenn diese Taten in der Aufhäufung irgendeiner großen Summe Geldes bestünden.

»Aber, Gott im Himmel«, sagte Miß Flite, »wie können Sie so etwas sagen! Sie wissen doch, meine Liebe, daß die größten Zierden Englands in Wissenschaft, Kunst, Humanität und Fortschritten aller Art adlig geworden sind. Blicken Sie um sich, meine Liebe. Jetzt müssen Sie ein wenig zerstreut sein, glaube ich, wenn Sie nicht wissen, daß das allein der Grund ist, weshalb in England der Adel nie aussterben wird.«

Ich fürchte, sie glaubte wahrhaftig, was sie sagte. Es gab Augenblicke, wo sie wirklich ganz verrückt war.

Und jetzt muß ich wohl das kleine Geheimnis verraten, das ich bis jetzt für mich zu behalten versucht habe. Ich hatte mir manchmal gedacht, Mr. Woodcourt liebe mich und würde, wenn er reicher gewesen wäre, es mir vielleicht vor seiner Abreise gesagt haben. Ich dachte mir manchmal, ich würde mich gefreut haben, wenn er es mir gesagt hätte. Aber wieviel besser war es jetzt, daß es nicht der Fall gewesen! Was hätte ich leiden müssen, wenn ich ihm hätte schreiben und sagen müssen, daß die armseligen Gesichtszüge, die er als die meinen gekannt, jetzt so verändert seien und daß ich ihn freiwillig seiner Verpflichtung gegen eine, die er nie gesehen, so verändert habe sie sich, entbinde. Oh, wieviel besser war es so! Nichts war jetzt ungeschehen zu machen, für mich keine Kette zu lösen, für ihn keine Kette zu schleppen, und ich konnte, so es Gott gefiel, meinen einfachen Weg auf dem Pfade der Pflicht verfolgen und er seinen besseren Weg auf der breiteren Straße gehen.

36. Kapitel


36. Kapitel

Chesney Wold

Charley und ich traten unsre Reise nach Lincolnshire nicht allein an. Mein Vormund hatte es sich nicht nehmen lassen, mich im Auge zu behalten bis zu unsrer sichern Ankunft in Mr. Boythorns Haus. So begleitete er uns, und wir waren zwei Tage unterwegs. Mir erschien jeder Lufthauch, jeder Duft, jede Blume und jedes Blatt, jeder Grashalm und jede vorüberziehende Wolke und alles in der Natur schöner und wunderbarer als je. Das war mein erster Gewinn, den ich aus meiner Krankheit zog. Wie wenig hatte ich verloren, wenn die ganze weite Welt so voller Wonnen für mich war!

Da mein Vormund gleich wieder zurückreisen wollte, vereinbarten wir bereits auf der Hinfahrt einen Tag, wo mein Liebling mich besuchen kommen sollte. Ich schrieb ihr einen Brief, den er ihr zu geben versprach, und er schied von uns eine halbe Stunde nach unsrer Ankunft an unserm Reiseziel. Es war ein schöner Frühsommerabend.

Hätte eine gute Fee für mich das Haus mit einem Wink ihres Zauberstabes gebaut und wäre ich eine Prinzessin und ihr Patenkind gewesen, hätte man mich darin nicht mehr ehren können. So viele Vorbereitungen hatte man für mich getroffen und überall eine so liebevolle Erinnerung an all die Kleinigkeiten, die ich liebte, an den Tag gelegt, daß ich mich wohl ein Dutzend Mal, von Rührung überwältigt, hätte hinsetzen können, ehe noch die Hälfte der Zimmer besichtigt war. Ich tat jedoch etwas Vernünftigeres. Ich führte nämlich Charley überall herum. Charleys Entzücken beruhigte mich, und nachdem wir einen Spaziergang im Garten gemacht und Charley ihr ganzes Vokabularium von Bewunderungsausdrücken erschöpft hatte, fühlte ich mich wieder stillglücklich. Es war mir ein großer Trost, nach dem Tee zu mir sagen zu können: Liebe Esther, ich glaube, du bist jetzt verständig genug, um dich hinzusetzen und einen Dankesbrief an deinen liebenswürdigen Wirt zu schreiben. Er hatte einen Bewillkommnungsbrief an mich zurückgelassen, der so sonnig war wie sein eignes Gesicht, und seinen Vogel meiner Obhut anvertraut, worin ich das höchste Zeichen seines Vertrauens sah. Ich schrieb ihm ein Billett nach London, erzählte ihm, was alle seine Lieblingspflanzen und Bäume machten und wie der wunderbarste aller Vögel mir mit seinem Gezirp auf gastfreundschaftlichste Weise die Honneurs des Hauses gemacht habe und jetzt, nachdem er zum unsäglichen Entzücken meiner kleinen Zofe auf meiner Schulter gesungen, in der gewöhnlichen Ecke seines Käfigs schlafen gegangen sei. Ob er dabei träume oder nicht, sei ich außerstande zu berichten.

Nachdem ich meinen Brief beendet und auf die Post geschickt hatte, blieb mir viel mit dem Auspacken und Ordnen meiner Sachen zu tun, und ich schickte deshalb Charley zeitig zu Bett, da ich ihrer diesen Abend nicht weiter bedürfe.

Ich hatte nämlich noch nicht in den Spiegel gesehen und auch meinen eignen nicht zurückverlangt. Deshalb wollte ich allein sein und sagte mir, wie ich jetzt in meinem Zimmer ungestört war: Esther, wenn du glücklich sein und ein Recht haben willst, zu beten, treu und wahr zu bleiben, mußt du jetzt Wort halten. Ich war fest entschlossen, es zu halten, aber ich setzte mich erst eine Weile hin, um mir all das Gute, das mir widerfahren, nochmals vor Augen zu führen.

Das Haar hatte man mir nicht abgeschnitten, obgleich es mehr als einmal gefährdet gewesen war. Es war noch lang und stark. Ich löste es, ließ es herunterfallen und trat vor den Toilettenspiegel. Man hatte ihn mit einem Musselinevorhang verhüllt. Ich zog die Gaze zurück. Ich hatte mich sehr verändert – ach, sehr, sehr. Anfangs war mir mein Gesicht so fremd, daß ich es fast mit den Händen bedeckt und wahrscheinlich zurückgefahren wäre, wenn ich vorher meine Gedanken nicht gesammelt hätte. Bald aber gewöhnte ich mich mehr daran und lernte dadurch die Größe der Veränderung nur noch genauer kennen.

Sie war nicht von der Art, wie ich sie erwartete. Ich war nie schön gewesen und hatte mich nie dafür gehalten, aber ich hatte doch ganz anders ausgesehen. Jetzt war alles verschwunden. Es gelang mir mit ein paar durchaus nicht bittern Tränen, mich damit abzufinden, und ich band mir das Haar für die Nacht auf und konnte mit wirklich dankbarem Herzen vor dem Spiegel stehen.

Eine Sache beunruhigte mich, und ich mußte lange darüber nachdenken, ehe ich einschlief. Ich hatte den Blumenstrauß von Mr. Woodcourt aufgehoben, die Blumen getrocknet und in ein Buch, das mir teuer war, gelegt. Niemand wußte das, selbst Ada nicht. Ich schwankte, ob ich recht täte, ein Geschenk aufzubewahren, das er früher einer andern gegeben – ob es edel gegen ihn war. Ich wollte selbst in den heimlichsten Tiefen meiner Seele edel gegen ihn sein, weil ich ihn einst hätte lieben und ihm mein Herz ganz widmen können. Endlich kam ich zu dem Schluß, daß ich es behalten dürfte, wenn auch nur als eine Erinnerung an etwas, das unwiderruflich vorüber war.

Ich stand absichtlich am nächsten Morgen zeitig auf, um vor dem Spiegel sitzen zu können, wenn Charley wie gewöhnlich auf den Zehenspitzen hereinkäme.

»O Gott, Miß!« rief sie und fuhr zurück, als sie mich so sah.

»Ja, Charley«, sagte ich und steckte mir ruhig das Haar auf. »Ich befinde mich ganz wohl dabei und fühle mich vollkommen glücklich.«

Ich sah, welche Last ihr von der Seele fiel. Aber bei mir war die Erleichterung noch bei weitem größer. Ich kannte jetzt das Schlimmste und hatte mein seelisches Gleichgewicht wiedergewonnen.

Von dem Wunsch erfüllt, noch vor Adas Ankunft ganz wieder bei Kräften und guter Laune zu sein, entwarf ich mit Charley eine Reihe von Plänen, die uns ermöglichen sollten, den ganzen Tag im Freien zu sein. Wir wollten vor dem Frühstück spazieren gehen und zeitig zu Mittag essen und dazwischen uns ebenfalls im Freien und nach dem Tee im Garten aufhalten, uns zeitig schlafen legen, jeden Hügel der Nachbarschaft besteigen und jeden Weg durch Gebüsch und Feld durchforschen. Was kräftigende Speisen und kleine Stärkungsmittel betraf, war Mr. Boythorns gutherzige Haushälterin beständig mit etwas zu essen oder zu trinken bei der Hand, und wenn es ihr zu Ohren kam, daß ich im Park ausruhe, gleich kam sie mir mit einem Korb nachgetrabt, und ihr freundliches Gesicht glänzte bei ihren Vorlesungen über die Wichtigkeit häufigen Essens. Dann war ein ausdrücklich für mich bestimmtes Pony da, ein dickes kleines Ding mit einem kurzen Hals und einer dicht über die Augen fallenden Mähne, das, wenn es wollte, so leicht und ruhig galoppieren konnte, daß es eine wahre Freude war. Schon nach ein paar Tagen kam es auf mich zu, wenn ich es rief, fraß mir aus der Hand und lief mir nach. Wir lernten uns so gut verstehen, daß, wenn es träge und etwas trotzköpfig mit mir einen schattigen Heckengang entlang trabte und ich ihm auf den Hals klopfte und sagte: »Stubbs, ich wundre mich, daß du nicht galoppierst, wo du doch weißt, wie gern ich das habe; mir scheint gar, du willst einschlafen«, es den Kopf komisch ein paar Mal schüttelte und sogleich in Galopp verfiel, wobei Charley immer stehen blieb und vor Freude in die Hände klatschte. Ich weiß nicht, wer dem Pony den Namen »Stubbs« gegeben hatte, aber er schien so natürlich zu ihm zu gehören wie sein zottiges Fell.

Einmal spannten wir es vor einen kleinen Wagen und fuhren triumphierend fünf Meilen weit die grünen Hecken entlang, aber plötzlich, gerade als wir es in den Himmel hoben, schien es übelzunehmen, daß es ein Kreis von Mücken, die schon auf dem ganzen Weg seine Ohren umschwirrten, so weit begleitet hatte, und es blieb stehen, offenbar, um darüber nachzudenken. Wie ich vermute, kam es zu der Ansicht, die Lage sei unerträglich, denn es weigerte sich standhaft, sich von der Stelle zu rühren, bis ich Charley die Zügel übergab, ausstieg und zu Fuß weiterging. Und da folgte es mir mit einer gewissen trotzigen Art von guter Laune, steckte mir den Kopf unter den Arm und rieb sich das Ohr an meinem Ärmel. Es nützte nichts, daß ich sagte: »Stubbs, ich bin, wie ich dich kenne, überzeugt, du wirst weitergehen, wenn ich mich in den Wagen setze.« Aber kaum war ich auch nur einen Schritt von ihm weg, blieb es wie eingewurzelt stehen, und wieder mußte ich wie zuerst vor ihm hergehen. Und in diesem Aufzug kehrten wir zur großen Freude der Dorfbevölkerung wieder nach Hause zurück.

Charley und ich hatten wirklich allen Grund, Chesney Wold das freundschaftlichste aller Dörfer zu nennen. Schon nach Verlauf einer Woche freuten sich die Leute so sehr, wenn wir vorbeikamen – und das geschah häufig genug im Lauf des Tages –, daß uns aus jeder Hütte freundliche Gesichter grüßten. Ich hatte schon früher viele von den Erwachsenen und fast alle Kinder kennengelernt, aber jetzt schien sogar der Kirchturm ein vertrautes und liebevolles Aussehen anzunehmen.

Unter meinen neuen Freundinnen befand sich auch eine uralte Frau, die in einem so kleinen Hüttchen, strohbedeckt und weißgetüncht, wohnte, daß der Fensterladen, wenn er aufgeklappt wurde, die ganze Vorderseite des Hauses bedeckte.

Diese Alte hatte einen Enkel auf der See, und ich schrieb einen Brief für sie an ihn und zeichnete oben drüber die Kaminecke, in der er aufgewachsen war und wo sein Stuhl noch auf seinem alten Fleck stand. Das ganze Dorf hielt das für das größte Kunstwerk der Welt, und als eine Antwort von Plymouth kam, worin er äußerte, daß er das Bild mit nach Amerika hinübernehmen und von dort wieder schreiben wollte, rechnete man mir all das Gute, das von rechtswegen dem Postamt gebührte, hoch an und schrieb alle Verdienste des ganzen Beförderungssystems mir zu. Das viele Spazierengehen in frischer Luft, das Spielen mit den Kindern, das Plaudern mit so vielen Leuten, die Besuche in den vielen Hütten, dazu noch der Unterricht für Charley und das tägliche Briefschreiben an Ada ließen mir kaum Zeit übrig, an den kleinen Verlust, den ich erlitten, zu denken. Und so war ich fast immer heiter. Wenn ich zuweilen doch daran denken mußte, ging es immer bald vorüber. Ich fühlte es tiefer, als ich hätte hoffen dürfen, als einmal ein Kind vor mir zu seiner Mutter sagte: »Warum ist die Dame jetzt nicht mehr so hübsch wie früher?« Aber als ich merkte, daß das Kind mich deshalb nicht weniger gern hatte und mit einer Art mitleidiger Zärtlichkeit mit seiner weichen Hand über mein Gesicht strich, war ich bald wieder beruhigt.

Die Luft wehte mich so frisch und erquickend an wie nur je, und die Farbe der Gesundheit kam nach und nach wieder. Charley sah prächtig aus, strahlend und rosig, und wir freuten uns beide, so lange der Tag war, und schliefen gesund die Nächte hindurch.

Einen Platz im Park von Chesney Wold, mit einer lieblichen Aussicht von einer erhöht stehenden Bank aus, hatte ich besonders gern. Die Waldung war dort gelichtet und ausgehauen, um den Ausblick zu verschönern, und die helle sonnige Landschaft dahinter schimmerte so wundervoll in der Ferne, daß ich wenigstens einmal des Tages dort rastete. Ein malerischer Teil des Herrschaftssitzes, der »Geisterweg« genannt, nahm sich von dieser Höhe herab sehr schön aus, und der unheimliche Name und die damit zusammenhängende alte Familiensage der Dedlocks, die mir Mr. Boythorn schon früher einmal erzählt hatte, verliehen der Landschaft neben ihren wirklichen Reizen etwas seltsam Geheimnisvolles. Nicht weit davon lag ein Abhang, auf dem die herrlichsten Veilchen wuchsen, und da es Charleys tägliches Vergnügen war, Blumen zu pflücken, gewann sie die Stelle so lieb wie ich selbst.

Ich kam nie in die Nähe des Hauses und hatte auch keine Veranlassung dazu. Die Familie war nicht anwesend, wie ich schon bei meiner Ankunft gehört hatte, und wurde auch nicht erwartet. Immerhin empfand ich eine gewisse Neugierde und ein Interesse für das Gebäude. Ich saß oft auf der Bank, malte mir aus, wie wohl das Haus eingerichtet wäre, und hätte gern gewußt, ob wirklich, wie die Sage erzählt, ein menschlichen Tritten ähnlicher Schall auf dem einsamen Geisterweg widerhalle. Das unbeschreibliche Gefühl, das Lady Dedlock in mir erweckt hatte, mag wohl dazu beigetragen haben, daß ich mich selbst während ihrer Abwesenheit von dem Hause fern hielt. Ich weiß es nicht gewiß, glaube aber, daß das der Grund war, der mich abschreckte, in die Nähe des Hauses zu gehen.

Eines Tages nun, nach einem langen Spaziergang, ruhte ich wieder auf meinem Lieblingsplatz aus, und Charley suchte Veilchen in meiner Nähe. Ich richtete wie gewöhnlich meinen Blick auf den sich in weiter Ferne in tiefem Schatten von Mauerwerk hinziehenden Geisterweg und malte mir die weibliche Gestalt aus, die dort angeblich spuken sollte, als ich wahrnahm, daß sich mir in Wirklichkeit eine Gestalt durch das Gehölz näherte. Der Ausblick war so von Laub verfinstert, und die auf dem Erdboden sich abmalenden Schatten der Zweige wirkten auf das Auge so verwirrend, daß ich sie anfangs nicht erkennen konnte, aber ganz allmählich zeigte es sich, daß es eine Dame war. – Und zwar Lady Dedlock! Sie war allein und näherte sich der Bank, wie ich mit Erstaunen bemerkte, in viel rascherem Schritt, als ich sie sonst je hatte gehen sehen.

Ihr unerwartetes Näherkommen versetzte mich in große Aufregung, und ich wäre gern aufgestanden, um meinen Spaziergang fortzusetzen, aber ich konnte nicht. Ich war wie gebannt. Nicht so sehr durch ihre aufgeregt flehende Gebärde, ihr rasches Näherkommen, ihre ausgestreckten Hände und die ganze Veränderung in ihrem sonst so stolzen selbstbeherrschten Wesen, als durch ein Etwas in ihrem Gesicht, nach dem ich geschmachtet und von dem ich geträumt hatte, als ich noch ein kleines Kind gewesen – von einem Etwas, das ich noch in keinem Gesicht gesehen.

Mir wurde ganz bang und schwach, und ich rief Charley. Lady Dedlock blieb sofort stehen und zeigte augenblicklich wieder ihre alte Haltung und ihre eisige Miene.

»Miß Summerson, ich fürchte, ich habe Sie erschreckt«, sagte sie und kam jetzt langsamer auf mich zu. »Sie können wohl kaum schon wieder bei Kräften sein. Ich weiß, daß Sie sehr krank gewesen sind. Es ist mir sehr zu Herzen gegangen, als ich es hörte.«

Ich hätte meine Augen ebensowenig von ihrem bleichen Gesicht wegwenden als von der Bank aufstehen können. Sie reichte mir ihre Hand, deren Eiseskälte mit der gezwungnen Fassung in ihrem Gesicht so im Widerspruch stand, daß mich der Bann noch mehr überwältigte. Ich kann nicht sagen, was für Gedanken mir durch den Kopf wirbelten.

»Aber Sie erholen sich jetzt wieder?« fragte sie freundlich.

»Vor einem Augenblick war mir noch ganz wohl, Lady Dedlock.«

»Ist dies Ihre junge Begleiterin?«

»Ja.«

»Möchten Sie sie nicht vorausschicken und mit mir Ihren Heimweg machen?«

»Charley«, sagte ich, »trag deine Blumen nach Hause. Ich werde gleich nachkommen.«

Mit ihrem besten Knicks band sich Charley errötend ihren Hut fest und entfernte sich. Als sie fort war, setzte sich Lady Dedlock neben mich auf die Bank.

Ich habe keine Worte, um meinen Gemütszustand zu beschreiben, als ich in ihrer Hand mein Taschentuch sah, mit dem ich die Leiche des Kindes in der Zieglerhütte zugedeckt hatte.

Ich blickte sie an. Aber ich konnte sie nicht sehen, ich konnte nicht Atem holen. So wild und ungestüm klopfte mein Herz, daß es mir vorkam, als wolle sich mein Leben von mir losreißen. Aber als sie mich an ihre Brust riß, mich mit heißen Tränen küßte, mich bedauerte, mich wieder zu mir selber brachte, dann vor mir auf die Knie fiel und mir zurief: »Mein Kind, mein Kind, ich bin deine verworfne unglückselige Mutter, oh, versuche mir zu vergeben…« als ich sie so zu meinen Füßen in ihrer großen Seelenqual liegen sah, fühlte ich mitten durch den Strom all dieser Gefühle ein Jauchzen der Dankbarkeit gegen die göttliche Vorsehung, daß ich jetzt so verändert war und durch keine Spur von Ähnlichkeit ihre Schande verraten konnte, gehen. Niemand hätte jetzt auch nur entfernt an einen nahen Verwandtschaftsgrad zwischen uns denken können.

Ich hob meine Mutter auf und bat und flehte sie an, sich nicht solcher Betrübnis hinzugeben und sich so vor mir zu demütigen. Ich tat es in gebrochenen, unzusammenhängenden Worten, denn außer daß ich furchtbar aufgeregt war, erschreckte es mich, sie vor mir knien zu sehen. Ich sagte ihr oder versuchte es vielmehr, daß, wenn mir, ihrem Kinde, es überhaupt zukäme, von Verzeihen zu reden, ich ihr schon viele, viele Jahre vergeben hätte. Ich sagte ihr, daß mein Herz vor Liebe zu ihr überströme, vor einer natürlichen Liebe, die nichts längst Vergangenes verändert habe oder irgend etwas je verändern könne. Es käme nicht mir, die ich jetzt zum ersten Mal an der Brust meiner Mutter läge, zu, sie dafür zur Rechenschaft zu ziehen, daß sie mir das Leben gegeben, sondern daß es meine Pflicht sei, sie zu segnen und sie aufzunehmen, ob auch die ganze Welt sich von ihr abwende, und daß ich sie nur um Erlaubnis bitten könne, das tun zu dürfen.

Ich hielt meine Mutter umarmt und sie mich, und in der schweigenden Waldung, in der stillen Ruhe des Sommertags schien es außer unser beider stürmisch klopfenden Herzen nichts zu geben, was nicht von Frieden erfüllt war.

»Mich zu segnen und mich aufzunehmen!« stöhnte meine Mutter. »Dazu ist es viel zu spät! Ich muß meinen dunkeln Weg allein gehen, und er wird mich führen, wohin er will. Von Tag zu Tag, manchmal von Stunde zu Stunde, sehe ich nicht den nächsten Schritt vor meinen schuldigen Füßen. Das ist die irdische Strafe, die ich auf mich geladen habe. Ich muß sie tragen und sie verbergen.«

Wie sie jetzt daran dachte, hüllte sie sich unwillkürlich wieder in die Miene stolzer Gleichgültigkeit wie in einen Schleier, aber nur einen Augenblick.

»Ich muß dieses Geheimnis verbergen, wenn es überhaupt möglich ist, nicht bloß um meinetwillen. Ich habe einen Gatten, ich unglückliches und Schande bringendes Geschöpf!«

Sie sprach diese Worte fast mit einem unterdrückten Schrei der Verzweiflung, der schrecklicher war, als wenn sie ihrer Leidenschaft freien Lauf gelassen hätte. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, schauderte in meiner Umarmung zusammen, als wollte sie vermeiden, daß ich sie berühre. Ich konnte sie mit all meiner Überredungskunst und meinen Liebkosungen nicht bewegen, aufzustehen. »Nein, nein, nein«, sagte sie, nur so könne sie mit mir sprechen, überall sonst müsse sie stolz und hochmütig sein. Hier in den einzigen natürlichen Minuten ihres Lebens wolle sie sich demütigen und sich schämen.

Sie erzählte mir, sie sei während meiner Krankheit fast wahnsinnig geworden. Erst vor nicht langer Zeit habe sie erfahren, daß ihr Kind noch lebe. Vorher habe sie nicht ahnen können, daß ich ihre Tochter sei. Sie wäre mir hierher gefolgt, um nur ein einziges Mal in ihrem Leben mit mir zu sprechen. Wir könnten nie zusammen kommen, nie miteinander verkehren, vielleicht von dieser Zeit an nie wieder auf Erden ein Wort miteinander sprechen. Sie übergab mir einen Brief, den sie nur für mich geschrieben hatte, und sagte mir, wenn ich ihn gelesen haben würde und vernichtet – nicht sowohl um ihretwegen, denn sie verlange für sich nichts mehr, als um ihres Gatten und meinetwillen –, müßte ich sie für immer als gestorben betrachten. Wenn ich glauben könnte, daß sie in der Seelenqual, in der ich sie jetzt sähe, mich mit der Liebe einer Mutter umfange, so bäte sie mich, es zu tun. Denn dann würde ich bei der Erinnerung daran, was sie gelitten, mit größerer Barmherzigkeit an sie denken können. Sie habe sich selbst über alle Hoffnung und Hilfe hinausbegeben. Ob sie ihr Geheimnis bis zum Tode bewahren könne oder ob es entdeckt und damit Schmach und Schande auf den Namen, den sie angenommen, bringen werde, sei ihr beständiger Gedanke in ihrer seelischen Einsamkeit. Keine Liebe könne sich ihr nahen und kein menschliches Geschöpf ihr die mindeste Hilfe leisten.

»Aber ist das Geheimnis vorläufig sicher?« fragte ich. »Ist es jetzt sicher, liebste Mutter?«

»Nein. Es war schon dicht daran, entdeckt zu werden. Durch einen Zufall nur wurde es noch gerettet. Ein andrer Zufall kann es verraten –morgen –, jeden Tag.«

»Fürchtest du eine bestimmte Person?«

»Still! Zittre und weine nicht so meinetwegen. Ich bin diese Tränen nicht wert«, sagte meine Mutter und küßte mir die Hände. »Ja, eine Person fürchte ich sehr.«

»Einen Feind?«

»Mein Freund ist er nicht. Er ist zu leidenschaftslos, um das eine oder das andre zu sein. Es ist Sir Leicester Dedlocks Advokat – mechanisch treu, ohne Anhänglichkeit und sehr erpicht auf den Gewinn, das Privilegium und den Ruf, der Herr der Geheimnisse großer Häuser zu sein.«

»Hat er Verdacht geschöpft?«

»Sogar sehr.«

»Aber nicht gegen dich?« fragte ich voll Unruhe.

»Ja. Er ist immer wachsam und beständig in meiner Nähe. Ich kann ihn vielleicht auf einem Punkt festhalten, aber ihn nie abschütteln.«

»Hat er so wenig Erbarmen oder Mitleid?«

»Er kennt weder das, noch Haß. Ihm ist alles gleichgültig, außer seinem Beruf. Sein Beruf ist die Entdeckung von Geheimnissen und der unumschränkte Besitz der Macht, die sie ihm verleihen.«

»Kannst du dich ihm nicht anvertrauen?«

»Ich werde es nie versuchen. Der finstre Weg, den ich seit so vielen Jahren gegangen bin, mag führen, wohin er will. Ich folge ihm bis zum Ende, was es auch immer sein mag. Es kann nahe, es kann entfernt liegen. So lange der Weg dauert, wird mich nichts davon abbringen.«

»Liebe Mutter, so entschlossen bist du?«

»Ich bin entschlossen. Ich habe lange Torheit mit Torheit, Hochmut mit Hochmut, Verachtung mit Verachtung, Trotz mit Trotz überboten und viele Eitelkeiten mit noch größeren überlebt und will auch diese Gefahr überleben und übersterben, wenn ich kann. Sie hat mich fast so grauenhaft eingeschlossen, wie diese Waldungen von Chesney Wold das Haus dort ringsum, aber mein Weg durch sie bleibt derselbe. Ich habe bloß einen. Ich kann bloß einen haben.«

»Mr. Jarndyce…«, fing ich an, aber meine Mutter unterbrach mich heftig.

»Hegt er Argwohn?«

»Nein. Nein, gewiß nicht. Verlaß dich darauf, er ahnt nichts.« Und ich teilte ihr mit, wieweit er meine Jugendgeschichte kenne und was er mir von ihr erzählt hatte. »Aber er ist so gut und verständig«, setzte ich hinzu, »daß er vielleicht, wenn er wüßte…«

Meine Mutter, die bis dahin ihre Stellung nicht im mindesten verändert hatte, unterbrach mich und legte mir die Hand auf den Mund.

»Vertraue ihm ganz«, sagte sie nach einer kleinen Weile. »Du hast meine Erlaubnis dazu – eine armselige Mitgift von einer solchen Mutter für ihr schwer gekränktes Kind –, aber sage mir nichts davon. Selbst jetzt besitze ich noch eine Spur von Stolz.«

Meine Aufregung und mein Schmerz waren so groß, daß ich meine Worte kaum selbst verstehen konnte, und jeder Satz, den meine Mutter gesprochen, hatte einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, daß ich ihr auseinandersetzte oder es wenigstens versuchte, ich habe nur gehofft, Mr. Jarndyce, der wie der beste Vater an mir gehandelt, könne vielleicht imstande sein, ihr einigermaßen mit Rat und Hilfe beizustehen. Aber meine Mutter sagte, es sei unmöglich. Niemand könne ihr helfen. Durch die Wüste, die vor ihr läge, müsse sie ganz allein gehen.

»Mein Kind, mein Kind!« sagte sie. »Jetzt zum letzten Mal! Ich küsse dich zum letzten Mal, umarme dich zum letzten Mal. Wir werden uns nie wiedersehen. Um die Hoffnung aufrecht zu erhalten, das tun zu können, wonach ich strebe, muß ich so bleiben, wie ich schon so lange gewesen bin. Das ist mein Lohn und mein Verhängnis. Wenn du von Lady Dedlock hörst, von der glänzenden, beneideten, umschmeichelten Lady, so denke daran, daß deine unglückliche, schuldbeladne Mutter sich unter dieser Maske verbirgt. Denke, daß sie in Wirklichkeit leidet und in nutzloser Reue den Rest von Zärtlichkeit und Wahrheit, dessen sie noch fähig ist, in ihrer Brust ersticken muß. Dann verzeihe ihr, wenn du kannst, und flehe den Himmel an, ihr zu vergeben.«

Wir hielten uns noch eine kleine Weile in den Armen, aber sie war so stark, daß sie meine Hände wegnehmen, wieder auf meine Brust legen, sich mit einem letzten Kuß von mir losreißen und wieder zurück durch den Wald gehen konnte.

Ich war allein. Ruhig und still unter mir in Sonnenschein und Schatten lag das alte Haus mit seinen Terrassen und Türmchen, das, wie ich es zum ersten Mal gesehen, ein so ruhevoller Frieden zu umschweben schien, das aber jetzt wie ein erbarmungsloser Zeuge des Jammers meiner Mutter aussah. In meiner Betäubung und einer Schwäche und Hilflosigkeit, wie ich sie kaum in der schlimmsten Zeit meiner Krankheit empfunden, kam mir die Notwendigkeit, mich gegen die Gefahr einer Entdeckung und selbst des leisesten Verdachtes sichern zu müssen, zu Hilfe. Ich tat mein möglichstes, um Charley zu verbergen, daß ich geweint hatte, und zwang mich, an die Verpflichtung, vorsichtig und gesammelt zu erscheinen, wie an ein mir anvertrautes heiliges Gut zu denken. Es bedurfte einiger Zeit, ehe es mir gelang, meine Schmerzensausbrüche zurückzudrängen, aber nach ungefähr einer Stunde befand ich mich besser und fühlte, daß ich heimkehren könnte.

Ich ging sehr langsam auf unser Haus zu und sagte Charley, die an der Gartenpforte nach mir Ausschau hielt, ich hätte mich verleiten lassen, meinen Spaziergang, nachdem mich Lady Dedlock verlassen, fortzusetzen, fühlte mich jetzt sehr müde und wolle mich hinlegen.

In der Stille meines Zimmers las ich den Brief und ersah daraus aufs deutlichste – und das tat mir wohl –, daß meine Mutter mich wissentlich nie verlassen hatte. Ihre ältere und einzige Schwester, meine Patin, hatte, als man mich als tot auf ein Bett gelegt, wahrscheinlich Lebenszeichen in mir entdeckt, mich in ihrem finster strengen Pflichtgefühl, ohne mein Lebenbleiben weiter zu wünschen oder zu wollen, insgeheim auferzogen und seit dem Tag meiner Geburt das Antlitz meiner Mutter nie wiedergesehen.

Welch seltsame Stellung nahm ich in dieser Welt ein. Meine Mutter hatte bis vor kurzer Zeit noch gewähnt, ich habe nie geatmet, sei längst begraben, habe nie zu den Lebenden gezählt und nie einen Namen getragen.

Als sie mich das erste Mal in der Kirche erblickt, wäre ich ihr aufgefallen, und sie hätte an das kleine Wesen denken müssen, das jetzt wohl so ähnlich wie ich hätte aussehen müssen. Was der Brief mir weiter sagte, will ich vorläufig nicht niederschreiben.

Meine erste Sorge war, ihn zu verbrennen und sogar die Asche zu vernichten. Dabei beschlich mich der Gedanke, es sei besser, ich wäre überhaupt nie am Leben geblieben – besser für viele Leute, wenn ich nie geatmet hätte. Es flößte mir Schrecken ein, daß ich meiner Mutter und einem stolzen Familiennamen möglicherweise Gefahr und Schande bringen könnte. Ich fühlte mich so verwirrt und erschüttert, daß ich zu glauben anfing, es sei vom Schicksal bestimmt gewesen, daß ich bei meiner Geburt hätte sterben sollen, und, daß ich noch lebe, sei unrecht.

So waren die Gefühle, die mich erfüllten.

Erschöpft schlief ich ein und weinte beim Aufwachen, bei dem Gedanken, mit meiner Last von Sorgen wieder in der Welt sein zu müssen. Es flößte mir ein Grauen ein, wenn ich wieder an die dachte, gegen die ich ein lebendiges Zeugnis war, und an den Besitzer von Chesney Wold – und an die neue schreckliche Bedeutung der alten Worte, die jetzt wie eine am Ufer zerschellende Woge in mein Ohr klangen: »Deine Mutter, Esther, ist deine Schande, und du bist die ihre. Die Zeit wird kommen, und früh genug, wo du das besser verstehen und auch fühlen wirst, wie es ein Weib nur fühlen kann.«

Und wieder erwachten die Worte in meinem Hirn: »Bete täglich, daß die Sünden anderer nicht auf dein Haupt kommen mögen.«

Das, was mich umfing, vermochte ich nicht mehr zu entwirren, und es kam mir vor, als ob alle Schmach und Schande an mir läge und jetzt die Heimsuchung über mich gekommen sei.

Der Tag verschwamm in einen düstern, trüben Abend, und immer noch kämpfte ich mit meinem Gram. Ich ging allein aus, ging eine kleine Weile im Park spazieren und beobachtete die dunkeln, auf die Bäume fallenden Schatten und den flatternden Flug der Fledermäuse, die mich manchmal fast streiften. Zum ersten Mal fühlte ich mich nach dem Schlosse hingezogen. Vielleicht wäre ich nicht in seine Nähe gekommen, wenn ich gefaßter gewesen wäre. Aber so lenkte ich in den Pfad ein, der dicht daran vorbeiführte.

Ich wagte nicht, stehen zu bleiben oder aufzublicken, aber ich ging an dem Terrassengarten mit seinen reichen Düften und seinen breiten Gängen, den wohlgepflegten Beeten und dem geschornen Rasen vorüber. Ich sah, wie schön und ernst er war, wie an den alten steinernen Balustraden und Brustlehnen und den breiten Treppen mit den niedrigen Stufen Zeit und Wetter genagt hatten, wie Moos und Efeu sie und das alte steinerne Piedestal der Sonnenuhr umwucherten, und ich hörte das Plätschern der Springbrunnen. Dann führte mich der Weg an langen Reihen dunkler Fenster vorüber, unterbrochen von bezinnten Türmen und Pforten in exzentrischen Formen, wo alte steinerne Löwen und groteske Ungeheuer vor dunkeln schattigen Höhlen sich aufbäumten und, mit Wappenschildern in den Klauen, das Abendgrauen anfletschten. Von da ging der Pfad unter einem Torweg hinweg über einen Hof mit dem Haupteingang und an den Stallungen vorbei. Tiefe Stimmen lebten im Rauschen des Windes auf, in der dicken, sich an einer hohen roten Ziegelmauer hinaufschlingenden Efeudecke, in dem leisen Ächzen des Wetterhahns, im Bellen der Hunde und in dem langsamen Dröhnen einer Uhr. Ein süßer Geruch von den rauschenden Linden traf mich, und ich wendete mich, wie der Pfad sich dahinwand, nach der Südfront, und über mir erblickte ich die Balustrade des Geisterwegs und ein helles Fenster. Vielleicht war es das meiner Mutter.

Der Weg war hier gepflastert wie die über mir befindliche Terrasse, und meine Schritte, bisher unhörbar gewesen, hallten jetzt laut auf den steinernen Platten wider. Ich blieb nirgends stehen, um mir etwas zu betrachten, aber ich sah alles beim Vorübergehen. Ich eilte rasch weiter und wäre in wenigen Augenblicken an dem erhellten Fenster vorbeigekommen, da brachte mich der Widerhall meiner Schritte plötzlich auf den Gedanken, in der Sage vom »Geisterweg« könne eine schreckliche Wahrheit liegen. Ich selbst könne bestimmt sein, Unglück über das stolze Haus zu bringen, und meine eignen warnenden Schritte spukten jetzt darin. Von einem Grauen vor mir selbst erfaßt, das mein Blut gerinnen machte, entfloh ich vor mir selbst und eilte auf dem Weg zurück, den ich gekommen, und schöpfte erst wieder Atem, als ich das Haus des Pförtners erreichte und in schweren schwarzen Massen der Park hinter mir lag.

Erst als ich in meinem Zimmer wieder für die Nacht allein war, bekümmert und unglücklich, wurde mir klar, wie unrecht und undankbar ich war. Ein Brief von meinem Herzensliebling, der morgen kommen wollte, wurde mir übergeben. Ein heiterer Brief voll so liebreicher Vorfreude, daß ich hätte von Stein sein müssen, wenn er mich nicht gerührt hätte. Auch mein Vormund schrieb, er bäte das Mütterchen, wenn ich es vielleicht irgendwo treffen sollte, zu grüßen und ihm zu sagen, wie jämmerlich sie sich ohne mich befunden hätten. Die Wirtschaft ginge aus allen Fugen, und niemand sonst könne die Schlüssel führen – jeder im Hause erkläre, es sei ganz verändert, und alle drohten mit Rebellion, wenn ich nicht bald zurückkäme. Die beiden Briefe führten mir vor Augen, wieweit über Verdienst man mich liebe und wie glücklich ich mich fühlen müsse. Das brachte mich darauf, über mein ganzes vergangenes Leben nachzudenken, und – was schon längst hätte geschehen sollen –ich kam in eine bessere Stimmung.

Ich sah recht gut ein, daß es nicht meine Bestimmung hatte sein können, zu sterben, sonst hätte ich nicht gelebt – um nicht zu sagen, sonst wäre ich nie für ein so glückliches Leben aufgespart worden. Ich erkannte, wieviel Umstände für mein Wohlergehen zusammen gewirkt hatten, und daß, wenn die Sünden der Väter manchmal an ihren Kindern heimgesucht würden, dies Wort nicht die Bedeutung haben könnte, die ich ihm heute morgen unterlegt. Ich begriff, daß ich an meiner Geburt ebensowenig schuld war wie die Königin an der ihren und von dem Vater im Himmel nicht für meine Geburt bestraft worden sein könnte, ebensowenig wie eine Königin dafür belohnt werden würde. Die erschütternden Ereignisse des heutigen Tages müßten mich belehren, daß ich sogar so bald schon einen mildernden Trost in der über mich gekommenen Veränderung finden könnte. Ich fühlte mich bestärkt in meinen alten Entschlüssen und flehte um Kraft und schüttete mein Herz aus in einer Bitte für meine unglückliche Mutter und mich und fühlte, daß der finstere Schatten von heute morgen zu schwinden begann. Er quälte mich nicht im Schlaf, und als das Licht des kommenden Tages mich weckte, war er verschwunden.

Mein Liebling sollte um fünf Uhr nachmittags ankommen. Ich wußte die Zwischenzeit nicht besser zu verbringen, als durch einen langen Spaziergang die Straße entlang, die sie kommen mußte. So machten denn Charley und ich und Stubbs – Stubbs diesmal gesattelt, denn nach unsern Erfahrungen spannten wir ihn nie wieder ein – einen langen Ausflug auf diesem Weg und wieder zurück. Dann hielten wir große Umschau in Haus und Garten, um nachzusehen, ob alles in bestem Zustand sei, und hielten den Vogel als wichtigen Bewohner des Hauses bereit. Es mußten noch mehr als zwei Stunden vergehen, ehe sie ankommen konnte, und die Zwischenzeit erschien mir sehr lang, da ich wegen meines veränderten Aussehens voll banger Unruhe war. Ich liebte mein Herzenskind so sehr, daß ich in großer Sorge war, welchen Eindruck es auf sie machen würde.

Wird sie wohl vorbereitet sein? dachte ich. Bei meinem Anblick nicht erschrecken und sich abgestoßen fühlen? Wird sie sich nicht vielleicht erst wieder von neuem an mich gewöhnen müssen?

Ich kannte das offenherzige reizende Gesicht meines Lieblings zu gut, als daß ich nicht schon im voraus hätte gewiß sein müssen, sie würde den ersten Eindruck nicht vor mir verbergen können. Und ich überlegte mir, ob ich dann ganz für mich würde einstehen können, wenn es, wie es doch so wahrscheinlich war, wechselnde Empfindungen verraten sollte.

Ja! Ich glaubte, ich werde es imstande sein. Nach der letzten Nacht glaubte ich es. Aber warten und warten und hoffen und harren und denken und grübeln sind eine schlimme Sache, und so beschloß ich denn, ihr wieder auf der Straße entgegenzugehen.

Daher sagte ich zu Charley: »Charley, ich gehe allein auf der Straße spazieren, bis sie kommt.« Und da Charley stets im höchsten Maße alles billigte, was ich für gut fand, blieb sie zu Hause und ließ mich gehen.

Aber als ich an den zweiten Meilenstein kam, hatten mich die öfters in der Ferne aufsteigenden Staubwolken so wiederholt in Aufregung versetzt, trotzdem ich mir sagte, es könne die Kutsche noch nicht sein, daß ich wieder umzukehren und nach Hause zu gehen beschloß. Und dann war mir so bange, die Kutsche möchte am Ende hinter mir herkommen, daß ich den größten Teil des Weges lief, um mich nicht einholen zu lassen.

Wieder sicher zu Hause, hielt ich mir vor, was für Dummheiten ich gemacht hatte. Jetzt war ich ganz erhitzt, und die Situation war schlimmer anstatt besser.

Endlich – ich glaubte, es sei noch mindestens eine Viertelstunde Zeit –rief mir Charley plötzlich zu: »Da kommt sie, Miß! Da ist sie schon!«

Fast ohne es zu wollen, lief ich die Treppe hinauf in mein Zimmer und versteckte mich hinter der Tür. Und da stand ich zitternd, selbst noch, als ich meinen Liebling die Treppe heraufkommen und rufen hörte: »Esther, meine liebe gute Esther, wo steckst du denn? Mütterchen! Kleines altes Mütterchen!«

Sie kam hereingerannt und wollte wieder hinauslaufen, als sie mich erblickte. Ach, mein Engel, mein Liebling! Der alte teuere Blick! Lauter Liebe, Zärtlichkeit und Zuneigung. Nichts sonst darin, nein, nichts, nichts.

Ach, wie glücklich fühlte ich mich, wie ich auf dem Fußboden saß und neben mir mein süßes liebes Kind, das seine liebliche Wange an mein durch Narben entstelltes Gesicht schmiegte, es mit Tränen und Küssen bedeckte, mich hin- und herwiegte wie ein Baby, mich bei jedem erdenklichen Kosenamen rief und an ihr zärtliches Herz drückte.

37. Kapitel


37. Kapitel

Jarndyce kontra Jarndyce

Wenn das Geheimnis, das ich zu bewahren hatte, nur mich betroffen hätte, würde ich es Ada anvertraut haben, bevor wir noch lange beisammen gewesen wären, so aber fühlte ich mich nicht einmal berechtigt, es meinem Vormund mitzuteilen, außer im äußersten Notfall. Es war eine schwere Bürde für mich, es so allein tragen zu müssen, aber meine Verpflichtung stand klar vor mir, und glücklich in der Liebe meines Herzenskindes, bedurfte ich keiner Ermutigung, stark zu bleiben. Oft, wenn sie schlief und alles ruhig war, erhielt mich die Erinnerung an meine Mutter wach, und ich fühlte mich tief bekümmert. Aber nie mehr wurde ich ein zweites Mal schwach, und Ada fand mich, wie sie sagte, so wie je. Sie berührte die Veränderung nicht, von der ich genug gesagt habe, und wenn ich es vermeiden kann, auch weiter nicht mehr zu erwähnen gedenke.

Sehr schwer wurde es mir, an diesem Abend ganz gefaßt zu erscheinen. Ada fragte mich, während wir arbeiteten, ob die Familie auf ihrem Landsitz sei, und als ich antworten mußte, ja, ich glaubte es, denn Lady Dedlock habe vorgestern mit mir im Park gesprochen, war es mir noch schwerer, auf die Frage, was sie denn gesagt habe, nur zur Antwort zu geben, sie wäre sehr gütig und teilnehmend gewesen. Ada gab zu, daß sie schön und elegant sei, machte aber einige Bemerkungen über ihr stolzes Wesen und ihre hochmütige abweisende Miene. Ohne es zu wissen, kam mir Charley zu Hilfe, indem sie uns erzählte, Lady Dedlock habe nur zwei Nächte auf dem Landsitz verbracht, um bei einer andern großen Familie in der nächsten Grafschaft einen Besuch zu machen, und sei zeitig am andern Morgen, nachdem sie mit mir an unserm Lieblingsplatz gesprochen, wieder weitergereist. Charley machte das Sprichwort, daß kleine Eimer stets große Ohren haben, zur Wahrheit, denn sie erfuhr immer an einem Tag mehr als ich in einem Monat.

Wir sollten vier Wochen in Mr. Boythorns Haus bleiben. Mein Liebling war kaum acht schöne Tage dagewesen, soweit ich mich erinnere, als eines Abends, nachdem wir dem Gärtner beim Blumenbegießen geholfen hatten und gerade die Lichter angezündet worden waren, Charley mit höchst wichtiger Miene hinter Adas Stuhl auftauchte und mir geheimnisvoll winkte, hinauszukommen.

»O, wenn Sie erlauben, Miß«, flüsterte sie mit so runden und großen Augen wie nur möglich. »Es verlangt Sie jemand im Wirtshaus zu sprechen.«

»Wer kann mich denn im Wirtshaus sprechen wollen, Charley?«

»Ich weiß nicht, Miß«, entgegnete Charley, streckte den Kopf vor und faltete ihre Hände über ihrem kleinen Schürzenbund, was sie stets tat, wenn sie im Hochgenuß eines Geheimnisses oder einer vertraulichen Mitteilung schwelgte. »Aber es ist ein Herr, Miß. Er läßt sich Ihnen empfehlen und Sie bitten, zu kommen, ohne jemandem etwas davon zu sagen.«

»Wer läßt sich empfehlen, Charley?«

»Er tut’s, Miß«, entgegnete Charley, deren grammatikalische Kenntnisse gewiß Fortschritte, aber nicht allzuschnelle, machten.

»Und wie kommst du dazu, die Botschaft zu überbringen, Charley?«

»Ich bin nicht der Bote, wenn Sie erlauben, Miß«, rechtfertigte sich meine kleine Zofe. »Es war W. Grubble, Miß.«

»Und wer ist denn W. Grubble, Charley?«

»Mister Grubble, Miß. Kennen Sie ihn denn nicht, Miß? ‚Gasthaus zum Dedlock-Wappen, ausgeübt von W. Grubble‘.«

Charley sagte die Worte her, als ob sie die Firmatafel langsam abbuchstabierte.

»Ah, der Wirt, Charley?«

»Ja, Miß. Wenn Sie erlauben, Miß, seine Frau ist eine sehr schöne Dame, aber sie hat sich einmal den Knöchel gebrochen und ist nie mehr wieder grade geworden. Ihr Bruder ist der Sägemüller, den sie eingesteckt haben, Miß, und sie glauben, er wird sich mit Bier noch einmal ganz und gar zu Tode trinken«, sagte Charley.

Da ich nicht wußte, um was es sich handeln könne, und jetzt sehr leicht in Schrecken zu versetzen war, hielt ich es für das Beste, sogleich selbst hinzugehen. Ich ließ mir von Charley rasch Hut, Schleier und meinen Schal holen und ging dann die kleine holprige Straße hinab, wo ich ebenso zu Hause war wie in Mr. Boythorns Garten.

Mr. Grubble stand in Hemdsärmeln an der Tür seines äußerst saubern kleinen Gasthauses und wartete auf mich. Als er mich kommen sah, nahm er seinen Hut mit beiden Händen ab und trug ihn wie ein schweres eisernes Gefäß vor mir her durch den sandbestreuten Garten in sein bestes Zimmer, eine hübsche, mit Teppichen belegte Stube mit mehr Blumenstöcken darin, als gerade nötig gewesen wären, einem kolorierten Kupferstich, die Königin Karoline darstellend, verschiednen Muscheln und einer ziemlichen Anzahl Teebretter, zwei ausgestopften Fischen in Glaskästen und einem seltsamen Ei oder Kürbis – oder was es sonst war, was da von der Ecke herabhing. Ich kannte Mr. Grubble vom Ansehen recht gut, denn er pflegte oft an seiner Haustür zu stehen. Er war ein freundlich aussehender untersetzter Mann von mittleren Jahren und schien sich einzubilden, ohne Hut und Stulpenstiefel nie passend angezogen zu sein. Einen Rock dagegen trug er nur in der Kirche.

Er putzte den Docht der Kerze, trat ein paar Schritte zurück, um zu sehen, ob sie gut brenne, und verschwand aus dem Zimmer, mir ganz unerwartet, denn ich wollte ihn gerade fragen, wer nach mir geschickt habe. Die Tür der gegenüberliegenden Stube ging jetzt auf, und ich hörte einige Stimmen, die mir bekannt vorkamen, aber sogleich verstummten. Ein rascher leichter Schritt näherte sich dem Zimmer, in dem ich wartete, und wer stand vor mir?

Richard!

»Meine liebe Esther!« rief er. »Meine Herzensfreundin!«

Er war so zärtlich und innig, daß ich in der ersten Überraschung, erfreut über seine brüderliche Begrüßung, kaum Atem genug finden konnte, ihm zu sagen, daß sich Ada wohl befinde.

»Sie erraten immer meine innersten Gedanken – sind immer dasselbe liebe Mädchen.« Er führte mich zu einem Stuhl und setzte sich neben mich.

Ich schlug meinen Schleier ein wenig zurück.

»Immer dasselbe liebe Mädchen«, wiederholte er genau so herzlich wie vorhin.

Ich schlug den Schleier ganz zurück, legte meine Hand auf seinen Arm, sah ihn an und sagte ihm, wie dankbar ich ihm für sein freundliches Willkommen sei und wie sehr es mich freue, ihn wiederzusehen; –innerlich froh auch wegen des in meiner Krankheit gefaßten Entschlusses, den ich ihm sogleich mitteilte.

»Meine Liebe«, sagte Richard, »auch für mich gibt es niemanden, mit dem es mich mehr zu sprechen verlangte, als Sie, denn ich möchte, daß Sie mich ganz verstehen.«

»Und ich möchte, Richard«, sagte ich und schüttelte den Kopf, »daß Sie vor allem noch eine andre Person verstehen lernten.«

»Da Sie so direkt auf John Jarndyce anzuspielen scheinen«, sagte Richard, »kann ich wohl annehmen, daß Sie niemand anderen meinen?«

»Natürlich meine ich ihn.«

»Dann kann ich gleich sagen, daß mich das freut, denn gerade in dieser Hinsicht liegt es mir am meisten am Herzen, verstanden zu werden. Von Ihnen, verstehen Sie recht: von Ihnen, liebe Esther. Mr. Jarndyce oder Mr. Sonstjemand bin ich keine Rechenschaft schuldig.«

Es schmerzte mich, daß er diesen Ton anschlug, und äußerte mich in diesem Sinne.

»Gut, gut, liebe Esther. Wir wollen davon jetzt nicht weiter sprechen«, sagte Richard. »Ich möchte mit Ihnen am Arm in Ihrem Landhaus hier erscheinen und meine reizende Kusine überraschen. Ich hoffe, Ihre Gewissenhaftigkeit John Jarndyce gegenüber verbietet Ihnen das nicht?«

»Lieber Richard, Sie wissen, Sie würden in seinem eignen Haus ebenso herzlich willkommen sein. Es würde Ihnen ein Vaterhaus sein, wenn Sie es nur so betrachten wollten. Und Sie sind hier wie dort gleich herzlich willkommen.«

»Sie sprechen wie die beste aller kleinen Hausfrauen!« rief Richard heiter.

Ich fragte ihn, wie ihm sein neuer Beruf gefalle.

»Ganz gut, danke«, sagte er. »Nichts auszusetzen. Vorderhand ist er so gut wie jeder andre. Ich weiß nicht, ob ich mich sehr um ihn kümmern werde, wenn ich erst einmal im reinen bin, aber dann kann ich ja mein Patent verkaufen und… Aber sprechen wir jetzt nicht von dem ganzen Trödel.«

So jung und schön, in jeder Hinsicht so das vollkommene Gegenteil von Miß Flite und doch ihr so schrecklich ähnlich, als jetzt ein gequälter, von Ungeduld verzehrter Ausdruck sein Gesicht überflog.

»Ich bin soeben auf Urlaub in London, Esther.«

»Nein, wirklich?«

»Ja! Ich bin herübergereist wegen meiner – Kanzleigerichtsangelegenheit, ehe die langen Ferien anfangen, um nachzusehen, wie sie steht«, sagte Richard mit einem gezwungen unbefangnen Lächeln. »Ich versichere Ihnen, wir fangen jetzt wirklich an, mit dem langwierigen Prozeß vorwärts zu kommen.«

Ich schüttelte bedenklich den Kopf.

»Sie meinen, es ist kein angenehmes Gesprächsthema?« Wieder flog derselbe Schatten wie vorhin über sein Gesicht. »Wir wollen für heute abend die Sache ganz und gar fallen lassen… Weg damit. Wen, denken Sie wohl, habe ich mitgebracht?«

»War das Mr. Skimpoles Stimme vorhin?«

»Erraten! Das ist der richtige Mann für mich! Er tut mir wohler als jeder andre Mensch. Was für ein bezauberndes Kind er doch ist.«

Ich fragte Richard, ob jemand wisse, daß sie beide zusammen hierhergereist wären.

»Nein, niemand.« Richard hätte einen Besuch bei dem lieben alten Knaben gemacht – so nannte er Mr. Skimpole –, und der »liebe alte Knabe« hätte ihm unsern Aufenthalt mitgeteilt, es sich in den Kopf gesetzt, uns zu besuchen, und Lust bekommen, ihn zu begleiten, und so sei er denn hier.

»Er ist – ohne die nicht unbedeutenden Kosten, die er einem macht, einzubeziehen – dreifach sein Gewicht in Gold wert. Er ist so ein fideler Kerl. Kein Funken Eigennutz in ihm. Ein frisches jugendliches Herz.«

Ich sah zwar gerade keinen Beweis von Mr. Skimpoles Uneigennützigkeit in dem Umstand, daß er sich seine Reisekosten von Richard bezahlen ließ, aber ich machte weiter keine Bemerkung darüber.

Er kam jetzt selbst herein, und das gab unserm Gespräch eine andere Wendung. Er war entzückt, mich zu sehen, sagte, er hätte meinetwegen zuweilen während sechs Wochen Tränen der Freude und Teilnahme vergossen, wäre nie so glücklich gewesen, als wie er von meiner Genesung gehört habe, und finge jetzt an, einzusehen, warum in der Welt Gutes mit Schlimmem gemischt sei. Er fühle, daß er die Gesundheit um so höher schätze, wenn jemand anders krank sei, und sagte, er wisse durchaus nicht, ob es nicht im Schöpfungsplan läge, daß A. schielen müsse, um B. wegen seines eignen geraden Blickes glücklich zu machen, oder daß C. ein hölzernes Bein habe, um D. zufriedener mit seinem eignen aus Fleisch und Blut in einem seidnen Strumpf zu machen.

»Meine liebe Miß Summerson. Hier haben Sie unsern Freund Richard zum Beispiel. Er ist erfüllt von herrlichen Zukunftsträumen, die er aus der Nacht des Kanzleigerichtshofs heraufbeschwört. Ist das nicht herrlich, begeisternd und voller Poesie? In alten Zeiten wurden die Wälder und Einöden für den Schäfer durch die Pfeifen des Pan und den Tanz der Nymphen belebt und erhellt. Unser idyllischer Richard, dieser Schäfer der Gegenwart, bringt heitere Fröhlichkeit in die schläfrigen Advokatenkanzleien, indem er die Nymphe Fortuna und ihr Gefolge nach den melodischen Noten eines Urteils vor dem Richterstuhl tanzen läßt. Das ist doch wirklich erfreulich, das müssen Sie doch selbst sagen! Irgendein bärbeißiger, sauertöpfischer Kerl wird vielleicht einwenden: Was, einen Nutzen sollen alle diese Mißbräuche unsrer Gerichtshöfe auch noch haben? Wie können Sie so etwas verteidigen! Und ich antworte darauf: Mein bärbeißiger Freund, ich verteidige sie nicht, aber sie sind mir sehr angenehm. Ich habe einen Freund, einen jungen Schäfer, der sie in etwas für meine Einfalt geradezu Faszinierendes verwandelt. Ich sage nicht, daß sie erwiesenermaßen zu diesem Zweck existieren – aber es könnte vielleicht doch sein… Sie müssen bedenken, daß ich unter euch weltgesinnten Brummbären ein Kind bin und mich überdies nicht verpflichtet fühle, euch oder mir wegen irgend etwas Rechenschaft zu geben.«

Es wurde mir sofort klar, daß Richard kaum irgendeinen schlimmeren Freund hätte finden können als gerade diesen. Es machte mir große Sorge, daß er noch dazu zu einer Zeit, wo er eines festen Vorsatzes und Zieles am meisten bedurft hätte, diesen gewinnenden Leichtsinn, dieses jederzeit bereite Wegschieben unangenehmer Dinge vor Augen hatte. Ich glaubte mir wohl erklären zu können, warum ein fester Charakter wie der meines Vormunds – in der Welt erfahren und überdies gezwungen gewesen, die unglückseligen Verschleppungen des Familienunglücks mit anzusehen – einen so großen Trost in Mr. Skimpoles Offenherzigkeit hinsichtlich seiner Schwächen und seines Zurschautragens harmloser Aufrichtigkeit fand, aber ich konnte doch nicht so ganz davon durchdrungen sein, daß Mr. Skimpoles Wesen vollständig uneigennützig sei.

Sie gingen beide mit mir nach Hause, und nachdem Mr. Skimpole uns am Gartentor verlassen hatte, trat ich leise mit Richard ein und sagte:

»Liebe Ada, ich habe einen Herrn mitgebracht, der dich besuchen will.«

Es war nicht schwer, in ihrem errötenden erschrockenen Gesicht zu lesen. Sie liebte ihn innig, und er wußte es, und ich wußte es. Es war eine durchsichtige Sache, dieses »Einander-nur-Vetter-und-Kusine-Sein«.

Ich machte mir fast Vorwürfe, in meinem Argwohn engherzig zu sein, aber ich fühlte mich doch nicht so ganz sicher, ob Richard Ada ebenso innig liebte wie sie ihn. Er bewunderte sie sehr – das hätte jeder tun müssen – und würde, glaube ich wohl sagen zu dürfen, sein jugendliches Verlöbnis mit Stolz und Freude erneuert haben, wenn er nicht gewußt hätte, wie fest sie das ihrem Vormund gegebne Versprechen gehalten haben würde.

Dennoch quälte mich der Gedanke, daß der ihn beherrschende Einfluß sich sogar bis hierher erstreckte, daß er hier wie in allem andern das Beste aufschöbe, bis ihm ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ nicht mehr auf der Seele liege. Was Richard ohne diesen geistigen Mehltau hätte sein können, entzieht sich wohl für immer meinen Blicken.

Er sagte Ada in seiner offensten Weise, er sei nicht gekommen, um die mit Mr. Jarndyce – wie er sagte, zu blind und vertrauensvoll – vereinbarten Bedingungen heimlich zu verletzen, sondern sei öffentlich gekommen, um sie und mich zu sehen und sich wegen seiner gegenwärtigen Stellung zu Mr. Jarndyce zu rechtfertigen. Da das alte Kind uns gleich stören kommen werde, bäte er mich, für morgen eine Stunde, wo er ohne Rückhalt mit mir sprechen und sich rechtfertigen könne, zu bestimmen. Ich schlug ihm einen Spaziergang im Park für sieben Uhr früh vor, und er ging darauf ein.

Mr. Skimpole erschien bald darauf und erheiterte uns eine Stunde lang. Er legte ein besonderes Verlangen an den Tag, die kleine Coavinses, wie er Charley nannte, zu sehen, und erzählte ihr mit der Miene eines Patriarchen, daß er ihrem seligen Vater soviel Beschäftigung, wie nur in seiner Macht gestanden, gegeben habe, und wenn einer ihrer kleinen Brüder sich beizeiten demselben Beruf zuwenden würde, er immer noch imstande zu sein hoffe, ihm ziemlich viel zu tun zu geben.

»Denn man fängt mich stets mit den gleichen Netzen«, sagte er und sah uns über ein Glas Wein mit Wasser mit strahlendem Gesicht an. »Und ich werde jedesmal wieder ausgelöst. Irgend jemand zahlt immer für mich. Ich selbst kann es nicht, das wissen Sie, denn ich habe nie Geld. Durch irgend jemandes Hilfe komme ich immer wieder frei. Wenn Sie mich aber fragen, wer der Jemand ist, könnte ich es Ihnen auf mein Wort nicht sagen. Wir wollen auf dieses Jemands Gesundheit trinken. Gott segne ihn!«

Richard verspätete sich ein wenig am Morgen, aber ich hatte nicht lange auf ihn zu warten, und wir gingen zusammen in den Park. Die Luft war hell und taufrisch, und kein Wölkchen stand am Himmel. Die Vögel sangen entzückend, die funkelnden Tropfen im Farnkraut, auf Gras und Laub, waren herrlich anzusehen, und der Reichtum des Waldes schien sich seit gestern verzwanzigfacht zu haben, als ob die Natur in der stillen Nacht emsiger als je für die Herrlichkeit des Tages vorgesorgt hätte.

»Es ist ein reizender Ort«, sagte Richard und sah sich um. »Nichts von dem Streit und dem Unfrieden von Prozessen.«

– Aber andrer Kummer war hier! –

»Ich will Ihnen was sagen, liebes Mütterchen. Wenn ich meine Angelegenheiten erst einmal in Ordnung gebracht habe, glaube ich, ich ziehe hierher und setze mich zur Ruhe.«

»Wäre es nicht besser, sich jetzt zur Ruhe zu setzen?«

»Jetzt zur Ruhe zu kommen oder überhaupt etwas Definitives zu tun, ist nicht so leicht. Kurz, es ist unmöglich. Mir wenigstens.«

»Warum?«

»Sie wissen, warum, Esther. Wenn Sie in einem unausgebauten Hause wohnten, das jeden Tag ein neues Dach bekommen oder vom Giebel bis zum Grund eingerissen und wieder neu aufgebaut werden kann – morgen, übermorgen, nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr –, würde es Ihnen auch schwerfallen, sich zur Ruhe zu setzen oder ins Geleise zu kommen. So geht es mir. Jetzt!! Es gibt kein Jetzt für uns Prozeßparteien.«

Ich hätte fast an die Anziehungskraft glauben können, von der meine arme geisteskranke Freundin in Bleakhaus gesprochen hatte, als ich jetzt wieder Richards verfinsterten Blick von gestern abend sah. Schrecklicher Gedanke, aber es lag auch etwas darin von dem Schatten des unglücklichen Gridley.

»Mein lieber Richard«, wendete ich ein, »das ist ein schlechter Anfang für unsre Unterredung.«

»Ich wußte, daß Sie das sagen würden, Mütterchen.«

»Und nicht ich allein, lieber Richard, war es, die Sie einmal warnte, nie eine Hoffnung oder eine Erwartung auf diesen Familienfluch zu gründen!«

»Da kommen Sie wieder auf John Jarndyce zurück«, unterbrach mich Richard ungeduldig. »Nun gut. Früher oder später müssen wir sowieso darauf kommen, denn auf ihn bezieht sich alles, was ich zu sagen habe, und es ist vielleicht am besten, wir sprechen gleich davon. Meine liebe Esther, wie können Sie nur so blind sein! Sehen Sie denn nicht, daß er als Mitbeteiligter ein Interesse daran haben muß, daß ich nichts von dem Prozesse weiß und mich möglichst wenig darum kümmere?«

»Richard!« drang ich in ihn. »Ist es denn möglich, daß Sie Mr. Jarndyce jemals gesehen, ihn sprechen gehört haben, jemals in seinem Hause gewohnt und ihn gekannt haben und es dennoch über sich bringen können, selbst mir gegenüber und an diesem einsamen Ort, wo uns niemand hört, einen so unwürdigen Verdacht auszusprechen!«

Er errötete tief, als ob er in seiner angebornen natürlichen Hochherzigkeit einen Gewissensbiß empfinde. Er schwieg eine kleine Weile, ehe er mit gepreßter Stimme zur Antwort gab:

»Esther, ich bin überzeugt, Sie halten mich nicht für einen niedrig denkenden Menschen und wissen, ich fühle wie Sie, daß Argwohn und Mißtrauen schlimme Eigenschaften in so jungen Jahren wie den meinen sind.«

»Gewiß«, versicherte ich, »gewiß.«

»Sie sind ein liebes Mädchen, wie immer, und trösten mich. Ich hätte überhaupt in dieser ganzen Angelegenheit ein bißchen Trost nötig, denn sie ist selbst im besten Fall eine schlimme Sache, wie ich Ihnen nicht erst zu sagen brauche.«

»Das weiß ich, Richard, das weiß ich so gut – was soll ich nur sagen –so gut wie Sie.«

»Kommen Sie, Schwester«, sagte Richard ein wenig heiterer. »Seien Sie jetzt unparteiisch. Wenn ich das Unglück habe, unter dem Einfluß des Prozesses zu stehen, so hat er’s doch auch. Wenn es mich ein wenig durcheinander gebracht hat, so ist es doch bei ihm ebenso der Fall. Ich sage ja nicht, daß er – abgesehen davon – nicht ein ehrenwerter Mann sei. Ich bin überzeugt, daß er es ist. Aber es steckt jedermann an. Sie wissen selbst, daß es jedermann ansteckt. Sie haben das fünfzigmal von ihm selber gehört. Warum sollte denn gerade er davon frei sein.«

»Weil«, sagte ich, »weil er ein ungewöhnlicher Charakter ist und sich mit Festigkeit außerhalb des Zauberkreises gehalten hat, Richard.«

»Ach, weil und weil!« entgegnete Richard in seiner lebhaften Weise. »Ich weiß wirklich nicht, mein liebes Mütterchen, ob es nicht bloße Klugheit und Vorsichtigkeit von ihm ist, die Maske solcher Gleichgültigkeit aufzusetzen. Andre dabei beteiligte Parteien werden vielleicht dadurch gleichgültiger gegen ihre eignen Interessen. Leute können wegsterben und Einzelheiten in Vergessenheit geraten – kurz, viele Dinge ruhig geschehen, die recht gelegen kommen.«

Richard tat mir so leid, daß ich ihm keinen Vorwurf mehr machen konnte, selbst nicht mit einem Blick. Ich erinnerte mich daran, wie nachsichtig und ohne Bitterkeit mein Vormund von ihm gesprochen hatte.

»Esther«, fing Richard wieder an, »Sie dürfen nicht etwa glauben, ich sei hierher gekommen, um John Jarndyce heimlich anzuklagen. Ich bin nur gekommen, um mich zu rechtfertigen. Was ich sage, ist: Alles war recht gut und schön, und wir kamen aufs beste miteinander aus, solange ich noch ein Knabe war und mich um den Prozeß ganz und gar nicht kümmerte. Kaum aber fing ich an, ein Interesse daran zu finden und ihm nachzugehen, wurde die Sache anders. Da entdeckte John Jarndyce, Ada und ich müßten unser Verhältnis lösen und paßten nicht für einander, wenn ich meinen höchst tadelnswerten Weg nicht verließe. Und das zu tun, fällt mir nun, liebe Esther, nicht ein. Ich will John Jarndyces Gunst nicht unter diesen unbilligen Bedingungen genießen, die er durchaus kein Recht hat, mir vorzuschreiben. Aber ob es ihm nun gefallen oder mißfallen mag, jedenfalls werde ich meine und Adas Rechte aufrecht erhalten. Ich habe viel darüber nachgedacht und bin endlich zu diesem Schluß gekommen.«

Armer lieber Richard! Allerdings hatte er darüber sehr viel nachgedacht. Sein Gesicht, seine Stimme und sein ganzes Benehmen verrieten das deutlich.

»Ich sage offen und ehrlich und habe ihm bereits darüber geschrieben, daß wir uneins sind und daß es besser ist, wir sind es offen als heimlich. Ich danke ihm für seinen guten Willen und seinen Schutz, und er geht seinen Weg und ich den meinen. Tatsache ist nun einmal, daß unsre Wege nicht dieselben sind. Nach einem der strittigen Testamente soll ich viel mehr bekommen als er. Ich will nicht behaupten, daß gerade dieses Testament gerichtlich bestätigt werden müsse, aber es hat gerade soviel Aussicht darauf wie die andern.«

»Lieber Richard. Ich habe schon von Ihrem Brief an ihn gehört. Er erwähnte ihn ohne ein böses oder erzürntes Wort.«

»Wirklich?« entgegnete Richard, ein wenig besänftigt. »Da freut es mich, daß ich sagte, er sei ein ehrenhafter Mann, außerhalb dieser ganzen unglückseligen Geschichte. Ich sagte das immer und habe nie daran gezweifelt. Ich weiß wohl, liebe Esther, meine Ansichten werden Ihnen ungerecht erscheinen und auch Ada, wenn Sie ihr erzählen, was wir miteinander gesprochen haben, aber wenn Sie die Prozeßakten so durchgenommen hätten, wie ich bei Kenge, wenn Sie wüßten, was für eine Unmasse von Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen, Verdächtigungen und Gegenverdächtigungen in ihnen steckt, so würden Sie mich in meiner jetzigen Ansicht geradezu für gemäßigt halten.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Aber glauben Sie denn, daß in diesem Wust von Papieren viel Wahrheit und Gerechtigkeit steckt, Richard?«

»Wahrheit und Gerechtigkeit steckt irgendwo in dem Prozeß, Esther –«

»– oder war vor langer Zeit einmal darin«, sagte ich.

»Ist – ist darin – muß doch irgendwo darin stecken«, fuhr Richard ungeduldig fort, »und endlich einmal an den Tag kommen. Aber Ada mir als Lockvogel hinzustellen, um mich abzulenken, ist nicht der richtige Weg, die Wahrheit an den Tag zu bringen. Sie sagen, der Prozeß habe mich verändert. John Jarndyce sagt, er verändere jeden, der daran teil hat, habe es getan und werde es immer tun. Ein um so größeres Recht habe ich dann, alles aufzubieten, was ich nur kann, um ihn zu Ende zu bringen.«

»Alles, was Sie können, Richard! Aber glauben Sie nicht, daß in diesen vielen Jahren andre nicht auch schon getan haben, was sie konnten? Sind die Schwierigkeiten geringer geworden, bloß, weil es so vielen fehlgeschlagen ist?«

»Es kann nicht ewig dauern«, rief Richard mit einer heftig aufflammenden Wildheit, die wieder die traurige Erinnerung an Gridley in mir wachrief. »Ich bin jung, und es ist mir ernst. Und Energie und festes Wollen haben schon manches Wunder getan. Andre haben sich nur mit halber Kraft darauf geworfen. Ich widme mich der Sache mit Leib und Seele. Ich mache sie zu meinem Lebenszweck.«

»Um so schlimmer, lieber Richard, ach, nur um so schlimmer.«

»Nein, nein, nein, haben Sie keine Angst um mich!« antwortete er mit großer Innigkeit. »Sie sind ein liebes, gutes, kluges, ruhiges, prächtiges Mädchen, aber Sie sind in Vorurteilen befangen. Ich komme damit wieder auf John Jarndyce. Ich sage Ihnen, meine gute Esther, als wir miteinander auf dem Fuß standen, den er für so angemessen fand, standen wir nicht auf dem natürlichen Fuß.«

»Halten Sie denn Zwist und Feindschaft für natürliche Verhältnisse, Richard?«

»Nein, das sage ich nicht. Ich meine nur, daß die ganze Angelegenheit uns in eine schiefe Lage drängt, in der natürliche Verhältnisse ein Unding sind. Wieder ein Grund mehr, die Sache nach Möglichkeit zu beschleunigen. Wenn alles vorbei sein wird, entdecke ich vielleicht, daß ich mich in John Jarndyce geirrt habe. Mein Kopf wird möglicherweise klarer sein, wenn ich den Prozeß einmal los bin, und dann stimme ich vielleicht dem bei, was Sie mir heute gesagt haben. – Sehr gut. Dann werde ich das mit Freude anerkennen und ihm Abbitte leisten.«

– Also alles in eine phantastische Ferne gerückt, und bis dahin Verwirrung und Unklarheit! –

»Vertrauteste meiner Seele! Meine liebe, liebe Esther, ich wünsche, daß meine Kusine Ada einsieht, daß ich hinsichtlich John Jarndyce nicht voreingenommen, launenhaft oder trotzköpfig bin, sondern zielbewußt vorgehe und die Vernunft auf meiner Seite habe. Ich möchte gern, daß Sie bei ihr für mich sprechen. Sie hat eine große Verehrung für ihren Vetter John, und ich weiß, Sie werden den von mir gewählten Weg in milderem Licht darstellen, selbst, wenn Sie ihn nicht billigen, und – kurz – ich möchte mich einem so vertrauensvollen Herzen wie dem Adas nicht im Lichte eines streitsüchtigen und argwöhnischen Charakters zeigen.«

Ich sagte ihm, er sei in diesen letzten Äußerungen mehr wieder der alte Richard gewesen als in all dem, was er vorher geäußert habe.

»Nun ja«, gestand Richard, »da mögen Sie recht haben, Esther. Es kommt mir fast selbst so vor. Aber ich werde mit der Zeit imstande sein, mich offen zu geben. Dann wird alles ins Geleise kommen, haben Sie keine Angst.«

Ich fragte, ob das alles sei, was ich Ada sagen sollte.

»Nicht ganz. Es ist meine Pflicht, ihr nicht zu verschweigen, daß John Jarndyce meinen Brief in seiner gewohnten Art beantwortet hat, mich als ‚lieber Rick‘ angeredet, mir meine Meinungen auszureden versucht und mir gesagt hat, daß er deshalb zu mir nicht anders sein werde. Das alles ist recht schön und gut, ändert aber die Sache selbst nicht. Ich wünsche auch, Ada wissen zu lassen, daß ich für ihre Interessen so gut wie für die meinen sorge – denn ihr und mein Interesse decken sich –, und hoffe, sie werde mich, wenn vielleicht unbestimmte Gerüchte ihr zu Ohren kommen sollten, nicht für leichtsinnig oder unbedacht halten. Ich richte im Gegenteil mein ganzes Augenmerk auf die Beendigung des Prozesses und arbeite stets auf dieses Ziel hin. Da ich inzwischen mündig geworden bin und diesen Schritt nun einmal getan habe, so halte ich mich jeder Verantwortlichkeit gegenüber John Jarndyce zwar für ledig, aber da Ada immer noch Kanzleigerichtsmündel ist, verlange ich die Erneuerung unsres Verlöbnisses vorläufig noch nicht von ihr. Wenn sie frei und selbständig handeln kann, werde ich wieder mir selbst gehören, und ich glaube, wir werden dann in ganz andern materiellen Verhältnissen sein.

Wenn Sie ihr das alles in Ihrer rücksichtsvollen Weise sagen wollten, würden Sie mir einen großen Freundschaftsdienst erweisen, liebe Esther, und ich werde mich mit ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ mit noch größerer Energie herumschlagen. Natürlich verlange ich nicht, daß in Bleakhaus etwas geheimgehalten wird.«

»Richard«, sagte ich, »Sie schenken mir großes Vertrauen, und doch, fürchte ich, werden Sie keinen Rat von mir annehmen?«

»In dieser Angelegenheit unmöglich, meine liebe Esther. In jeder andern mit der größten Bereitwilligkeit.«

– Als ob in seinem Leben noch eine andre existierte! Als ob seine ganze Laufbahn und sein Charakter nicht eine einzige Farbe angenommen hätten! –

»Aber eine Frage darf ich Ihnen doch vorlegen, Richard?«

»Ich dächte ja«, sagte er lachend. »Ich wüßte nicht, wer es sonst tun könnte, wenn nicht Sie.«

»Sie sagten vorhin, daß Sie kein geordnetes Leben führten.«

»Wie kann ich denn das, liebe Esther, wenn nichts im Geleise ist?«

»Haben Sie wieder Schulden gemacht?«

»Natürlich«, sagte Richard, ganz erstaunt über meine Einfalt.

»Ist das so natürlich?«

»Gewiß, liebes Kind. Ich kann mich einer Sache ohne Geldkosten doch nicht vollständig widmen. Sie vergessen oder vielmehr wissen nicht, daß, mag jetzt dieses oder jenes Testament bestätigt werden, Ada und ich jedenfalls etwas bekommen müssen. Es kann sich nur um die größere oder die kleinere Summe handeln. Ganz durchzufallen ist ausgeschlossen. Beruhigen Sie sich, meine prächtige Esther«, sagte Richard, dem ich wirklich Spaß zu machen schien, »ich werde schon gut durchkommen! Ich werde mir schon einen Weg bahnen, meine Liebe.«

Ich sah die Gefahr, in der er schwebte, so deutlich, daß ich ihn in Adas und meines Vormunds und meinem eignen Namen aufs dringendste beschwor, ihn warnte und ihm einige seiner Irrtümer klar zu machen versuchte. Alles, was ich ihm sagte, hörte er mit Geduld und Sanftmut an, aber es prallte von ihm ab, ohne den mindesten Eindruck hervorzubringen. Nach der Art, wie er meines Vormundes Brief aufgenommen hatte, konnte ich mich darüber eigentlich nicht wundern, aber jedenfalls beschloß ich, auch noch Adas Einfluß auf ihn wirken zu lassen.

Als wir daher auf unserm Spaziergang das Dorf erreichten und ich zum Frühstück nach Hause kam, bereitete ich Ada auf alles, was ich ihr mitzuteilen hatte, vor, und stellte ihr vor Augen, wie sehr wir zu befürchten hätten, daß Richard sich selbst verlieren und sein ganzes Leben zwecklos vergeuden könnte. Natürlich machte sie das sehr bekümmert, aber sie hoffte, viel zuversichtlicher als ich, daß er seine Irrtümer rechtzeitig einsehen werde.

– Es war so natürlich und liebevoll von meinem Herzensschatz. –

Dann setzte sie sich hin und schrieb ihm folgenden Brief:

Liebster Vetter!

Esther hat mir alles mitgeteilt, was Du ihr diesen Morgen gesagt hast. Ich schreibe Dir jetzt, um auf das dringlichste alles, was sie Dir vorgehalten hat, selbst zu wiederholen und Dich wissen zu lassen, wie fest ich überzeugt bin, daß Du früher oder später in unserm Vetter John ein Muster von Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Herzensgüte erkennen wirst. Es wird Dir noch einmal bitter leid tun, ihm, wenn auch unabsichtlich, so unrecht getan zu haben.

Ich weiß nicht recht, wie ich das, was ich Dir jetzt sagen möchte, schreiben soll, aber ich hoffe, Du wirst es so auffassen, wie ich es meine. Ich fürchte fast, liebster Vetter, daß Du Dir zum Teil meinetwegen für die Zukunft so viel Sorge machst – und damit natürlich auch mir. Im Falle das so sein sollte, bitte ich Dich auf das ernstlichste und flehentlichste, davon abzulassen. Du könntest nichts für mich tun, was mich halb so glücklich machen würde, als daß Du dem unheilvollen Schatten, in dem wir beide geboren sind, auf ewig den Rücken kehrtest. Sei mir nicht böse, daß ich Dir das sage. Bitte, bitte, lieber Richard, tue es um meinet – und um deinetwillen. Schon aus natürlicher Abneigung gegen die Sorgenquelle, die mit schuld war, daß wir schon in frühester Jugend Waisen wurden, bitte, bitte, sage Dich auf ewig davon los. Wir haben wahrhaftig Grund, zu wissen, daß nichts Gutes und keine Hoffnung aus dieser Quelle kommt. Nur Kummer und Sorgen.

Liebster Vetter, ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß Du selbstverständlich ganz frei bist. Aller Wahrscheinlichkeit nach wirst Du einmal ein Mädchen finden, das Du viel mehr lieben wirst als Deine erste flüchtige Jugendneigung. Laß mich Dir sagen, daß ich Deinem Schicksal viel lieber in die weite Welt folgen – und wäre es noch so bescheiden und armselig – und Dich in der Erfüllung Deiner Pflicht und im Verfolgen des von Dir erwählten Weges glücklich sehen, als hoffen würde, mit Dir auf Kosten öder Jahre martervollen Wartens und gleichgültig gegen jedes andre Lebensziel dereinst reich zu sein, wenn das überhaupt möglich wäre. Du wirst Dich vielleicht wundern, daß ich das bei meiner geringen Lebenserkenntnis und Erfahrung so zuversichtlich ausspreche, aber im innersten Herzen fühle ich, daß ich recht habe.

Stets verbleibe ich, liebster Vetter,
Deine Dich zärtlich liebende
Ada.

Dieses Briefchen brachte Richard sehr bald zu uns. Aber es machte nur einen sehr geringen, wenn überhaupt einen Eindruck auf ihn.

»Wir wollen unparteiisch versuchen«, sagte er, »wer recht und wer unrecht hat.« Er wollte es uns zeigen – wir sollten schon sehen. Er war begeistert und voller Glut, als ob Adas Zärtlichkeit ihn ansporne, aber ich konnte nur seufzend hoffen, der Brief möchte, wenn er ihn später nochmals läse, einen stärkeren Eindruck auf ihn machen, als es offenbar jetzt der Fall gewesen.

Da er den Tag über bei uns bleiben wollte und für den nächsten Morgen Plätze in der Landkutsche bestellt hatte, suchte ich Gelegenheit, mit Mr. Skimpole zu sprechen. Da wir uns viel im Freien aufhielten, ergab sich das leicht, und ich deutete ihm zart an, es sei eine Sache der Verantwortlichkeit, Richard vor unnötigen Ausgaben zurückzuhalten.

»Verantwortlichkeit, meine liebe Miß Summerson?« griff Mr. Skimpole das Wort mit seinem gewinnendsten Lächeln auf. »Ich bin für so etwas der allerungeeignetste Mensch auf der Welt. Ich war nie in meinem Leben verantwortlich. Ich kann es nicht sein.«

»Ich fürchte, jedermann ist verpflichtet, es zu sein«, wendete ich schüchtern ein, da er soviel älter und gescheiter war als ich.

»Wirklich?« sagte Mr. Skimpole mit drolligem Erstaunen über meinen lichtvollen Einwand. »Aber jedermann ist doch nicht verpflichtet, zahlungsfähig zu sein? Ich bin es zum Beispiel nicht. Ich war es nie. Sehen Sie her, meine liebe Miß Summerson.« Er nahm eine Handvoll loses Kupfer- und Silbergeld aus der Tasche. »Hier ist soundsoviel Geld. Ich habe keine Idee, wieviel es ist. Ich bin in der Kunst des Zählens nicht bewandert. Sagen wir vier Schilling und neun Pence – sagen wir vier Pfund und neun Schilling. Jemand behauptet nun, ich wäre viel mehr schuldig als das. Ich glaube das gern. Ich glaube, ich bin soviel schuldig, als gutmütige Leute mir borgen wollen. Wenn sie nicht aufhören, das zu tun, warum sollte ich mich weigern. Da haben Sie Harold Skimpole im kleinen. Wenn das Verantwortlichkeit ist, so bin ich verantwortlich.«

Die vollkommene Unbefangenheit, mit der er das Geld wieder einsteckte und mich mit einem Lächeln auf seinem geistvollen Gesicht ansah, als ob er mir eine Anekdote von irgendeinem andern erzählt hätte, machte auf mich fast den Eindruck, als ob ihn wirklich die Sache nicht das geringste anginge.

»Wenn Sie schon von Verantwortlichkeit sprechen«, fing er wieder an, »so möchte ich Ihnen sagen, daß ich noch nie das Glück gehabt habe, jemanden zu kennen, der so erfrischend verantwortlich ist wie Sie. Sie erscheinen mir wie der wahre Probierstein der Verantwortlichkeit. Wenn ich Sie, meine liebe Miß Summerson, so beschäftigt sehe, das ganze kleine geordnete System, dessen Mittelpunkt Sie selbst sind, tadellos in Gang zu erhalten, so fühle ich eine Neigung, mir zu sagen – und sage es wirklich sehr oft –: das ist wahres Verantwortlichkeitsgefühl.«

Nach solchen Äußerungen fiel es mir schwer, ihm zu erklären, was ich meinte, aber ich ging doch so weit zu sagen, daß wir alle hofften, er werde Richard in seiner jetzigen falschen Lebensansicht nicht bestärken, sondern eher davon abzubringen suchen.

»Wie gern täte ich’s, wenn ich könnte«, gab er zur Antwort. »Aber, meine liebe Miß Summerson, mir liegt alle Künstelei und Verstellung fern. Wenn er mich bei der Hand nimmt und nach einer lustigen Jagd nach dem Glück durch Westminster-Hall führt, muß ich ihm doch folgen. Wenn er sagt: ‚Skimpole, schließen Sie sich dem Tanz an‘, muß ich mich ihm anschließen. Der gesunde Menschenverstand würde das nicht tun, ich weiß. Aber ich habe keinen gesunden Menschenverstand.«

»Es ist ein großes Unglück für Richard«, gab ich ihm zu bedenken.

»Sind Sie wirklich der Meinung?« entgegnete Mr. Skimpole. »Sagen Sie das nicht! Nehmen wir an, er trifft auf der Straße den leibhaftigen gesunden Menschenverstand, einen vortrefflichen Mann, Runzeln im Gesicht, fürchterlich praktisch. Kleingeld für eine Zehnpfundnote in jeder Tasche, ein liniertes Rechenbuch in der Hand, kurz, sagen wir gleich, in jeder Hinsicht einem Steuereinnehmer gleichend. Unser lieber Richard, sanguinisch, enthusiastisch, Hindernisse überspringend, von Poesie übervoll wie eine junge Knospe, sagt zu diesem höchst respektablen Gefährten: ‚Ich sehe eine goldne Aussicht vor mir, sie ist heiter, wunderschön und freudig. Ich springe einfach über die öde Landschaft, die dazwischen liegt, hinweg, um die goldne Aussicht zu erreichen.‘ Der respektable Gefährte schlägt ihn sofort mit dem linierten Rechenbuch zu Boden, sagt ihm in seiner prosaischen Weise, er sehe nichts derart, beweist ihm, daß es nichts ist als Advokatenhonorare, Betrug, Roßhaarperücken und schwarze Talare. Sie müssen zugeben, daß das eine schmerzliche Enthüllung ist, allerdings verständig in letzter Linie, was ich gar nicht bezweifle, aber unangenehm. So etwas liegt mir nicht. Ich besitze kein liniertes Rechenbuch und habe kein steuereinsammelndes Element in der Zusammensetzung meiner Seele. Ich bin in keiner Hinsicht respektabel und verlange es nicht zu sein. Sonderbar vielleicht, aber es ist so.«

Es war unnütz, darüber noch ein Wort zu verlieren, und so schlug ich denn vor, uns Ada und Richard, die ein wenig vorausgegangen waren, anzuschließen, und gab Mr. Skimpole verzweifelt auf.

Er hatte im Lauf des Morgens sich das Schloß angesehen und beschrieb während unsres Spaziergangs sehr launig die Familienporträts. Es befänden sich unter den seligen Ladies Dedlock, erzählte er uns, so schauderhafte Schäferinnen, daß die friedlichen Hirtenstäbe in ihren Händen wie Angriffswaffen aussähen. Sie hüteten ihre Herden in Steifleinen und Puder und legten sich, nur um das Bürgervolk zu erschrecken, Schönheitspflästerchen auf, wie sich die Häuptlinge wilder Stämme für den Kriegspfad bemalten. Unter den Bildern befände sich eines von Sir Dedlock, Numero Soundsoviel, mit einer Schlacht im Hintergrund, einer auffliegenden Mine, Rauchwolken, flammenden Blitzen, einer brennenden Stadt und einem erstürmten Fort. Alles das sei zwischen den Hinterbeinen seines Pferdes zu sehen, wahrscheinlich um zu zeigen, wie wenig sich ein Dedlock aus solchen Kleinigkeiten mache. Das ganze Geschlecht, sagte er, sei im Leben das gewesen, was er ausgestopfte Menschen nenne – eine zahlreiche Kollektion mit Glasaugen, in der jeweilig modernsten Haltung auf verschiedenen Zweigen und Stengeln des Stammbaumes sitzend, sehr korrekt, ganz ohne Leben und immer in Glaskästen. Der Name Dedlock und jede Anspielung darauf bedrückte mich, und ich fühlte mich förmlich erleichtert, als Richard das Thema unterbrach, indem er mit einem Ausruf des Erstaunens einem Fremden entgegeneilte, der langsam auf uns zukam.

»Mein Gott!« rief Mr. Skimpole. »Vholes.«

Wir fragten, ob der Herr ein Freund Richards sei.

»Freund und juristischer Beirat«, erklärte Mr. Skimpole. »Ich versichere Ihnen, liebe Miß Summerson, wenn Sie gesunden Menschenverstand, Verantwortlichkeitssinn und Respektabilität in einem Mann vereinigt haben wollen, kurz, wenn Sie einen Mustermenschen haben wollen, dann ist Vholes der Mann.«

Wir sagten, wir hätten nicht gewußt, daß Richard den Rechtsbeistand eines Herrn dieses Namens genieße.

»Als er seine juristischen Kinderschuhe austrat«, entgegnete Mr. Skimpole, »machte er sich von unserm Freund, dem Konversationskenge, los und schloß sich, glaube ich, Vholes an. Das heißt, ich weiß es, denn ich führte ihn bei Vholes ein.«

»Kannten Sie ihn schon lange?« fragte Ada.

»Vholes? Meine liebe Miß Clare, ich war mit ihm auf dieselbe Weise wie schon mit mehreren Herren seines Fachs bekannt geworden. Er hat mich einmal in sehr gewinnender höflicher Weise behandelt. Ich glaube, er beantragte eine Exekution, wie es die Leute nennen, gegen mich. Irgend jemand war so gut, zu vermitteln und das Geld zu bezahlen. – Irgendeine Summe plus vier Pence war der Betrag –, ich habe vergessen, wieviel Pfund und Schillinge, aber ich weiß noch, die Summe endete mit vier Pence, und es kam mir damals noch so komisch vor, daß ich jemand vier Pence schuldig sein sollte. Kurz nach diesem Vorfall machte ich sie miteinander bekannt. Vholes bat mich darum, und ich tat es. Jetzt, wo ich weiter darüber nachdenke« – er sah uns mit seinem offenherzigsten Lächeln an, als ob er eine große Entdeckung gemacht habe – »frage ich mich, hat mich Vholes vielleicht bestochen? Er gab mir etwas und nannte es Provision. War es eine Fünfpfundnote? Ich glaube fast, es war eine Fünfpfundnote.«

Von weiteren Äußerungen über diesen Punkt hielt ihn Richards Rückkunft ab, der jetzt aufgeregt wieder zu uns trat und hastig Mr. Vholes vorstellte, einen blassen Mann mit schmalen Lippen, die aussahen, als seien sie eiskalt, hie und da einen roten Pickel auf dem Gesicht, von langer dürrer Gestalt, ungefähr fünfzig Jahre alt, engbrüstig und von gebückter Haltung. Ganz schwarz gekleidet, sogar die Handschuhe schwarz, und bis ans Kinn zugeknöpft, war an ihm nichts so merkwürdig wie sein lebloses Wesen und eine gewisse langsame starre Art, Richard anzublicken.

»Ich hoffe, ich störe Sie nicht, meine Damen«, sagte Mr. Vholes, und dabei bemerkte ich, daß er noch etwas Seltsames an sich hatte, nämlich eine merkwürdige Angewohnheit, in sich hineinzusprechen. »Ich habe mit Mr. Carstone verabredet, ihn stets auf dem laufenden zu erhalten, wenn der Lordkanzler seinen Prozeß auf die Tagesordnung setzt, und da mich nun einer meiner Schreiber gestern abend nach Postschluß benachrichtigte, der Fall werde unerwarteterweise morgen drankommen, nahm ich heute in aller Frühe einen Platz in der Landkutsche, um mit ihm in konferieren.«

»Ja«, sagte Richard mit gerötetem Gesicht und warf einen triumphierenden Blick auf Ada und mich. »Wir betreiben diese Sachen jetzt nicht mehr in der alten langsamen Weise. Jetzt heißt’s vorwärts. – Mr. Vholes, wir müssen ein Fuhrwerk mieten, um zur Poststation hinüberzufahren, damit wir heute abend die Kutsche noch treffen und in die Stadt kommen.«

»Ganz wie Sie wünschen, Sir«, entgegnete Mr. Vholes. »Ich stehe ganz zur Verfügung.«

»Warten Sie mal«, – Richard sah auf die Uhr, »Wenn ich jetzt zum Wirtshaus hinunterlaufe und meinen Mantelsack schnüren lasse, ein Gig oder eine Chaise bestelle oder was wir sonst bekommen können, bleibt uns noch eine ganze Stunde. Ich bin zum Tee wieder da. Ada und Sie, Esther, würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein, Mr. Vholes während meiner Abwesenheit zu bewirten?«

In seiner Hast war er schon fort, und wir verloren ihn bald in der Abenddämmerung aus dem Gesicht und gingen mit Mr. Vholes dem Hause zu.

»Ist Mr. Carstones Anwesenheit morgen notwendig, Sir?« fragte ich. »Kann sie von Nutzen sein?«

»Nein, Miß«, entgegnete Mr. Vholes. »Ich wüßte nicht, wie.«

Ada und ich sprachen unser Bedauern aus, daß Richard uns also nur verlassen sollte, um sich morgen enttäuscht zu sehen.

»Mr. C. hat es sich zum Prinzip gemacht, selbst seine Interessen überwachen zu wollen«, erklärte Mr. Vholes. »Und wenn ein Klient ein Prinzip aufstellt, und es ist nicht unmoralisch, so ist es meine Pflicht, danach zu handeln. Ich wünsche im Geschäft exakt und offen zu sein. Ich bin Witwer mit drei Töchtern – Emma, Jane und Karoline – und habe nur den Wunsch, meinen Lebenspflichten so zu genügen, daß ich ihnen einen geachteten Namen hinterlasse. – Übrigens, das ist wirklich ein sehr hübscher Aussichtspunkt hier, Miß.«

Da die Bemerkung mir galt, denn er ging neben mir, stimmte ich bei und wies noch auf andre Hauptreize der Landschaft hin.

»Es liegt mir ob«, sagte Mr. Vholes, »einen greisen Vater im Tal von Taunton zu unterstützen, seiner Heimat, und bin ein großer Bewunderer von Landschaften. Ich hatte keine Ahnung, daß die Gegend hier so reizvoll ist.«

Um die Konversation im Gang zu erhalten, fragte ich Mr. Vholes, ob er wohl gern auf dem Lande leben würde.

»Da berühren Sie eine zarte Saite in meinem Herzen, Miß. Meine Gesundheit ist nicht besonders gut – meine Verdauung hat sehr gelitten –, und wenn ich nur auf mich Rücksicht zu nehmen hätte, würde ich mich auf das Land zurückziehen, zumal mich Geschäftssorgen stets abgehalten haben, viel in Gesellschaft zu verkehren, und vor allem in Damengesellschaft, an der mir stets am meisten lag. Aber da ich drei Töchter habe – Emma, Jane und Karoline – und außerdem meinen greisen Vater, kann ich nicht an mich selbst denken. Allerdings brauche ich meine geliebte Großmutter, die in ihrem hundertzweiten Jahr starb, nicht mehr zu unterstützen, aber immerhin bleibt mir noch genug zu tun, die Mühle stets in Gang zu erhalten.« – Man mußte wegen seiner Angewohnheit, in sich hineinzusprechen, und seiner merkwürdig leblosen Weise aufmerksam zuhören, wenn man ihn verstehen wollte. –

»Sie müssen entschuldigen, daß ich meine Töchter erwähnte. Es ist meine schwache Seite. Ich wünsche den armen Mädchen ein, wenn auch bescheidenes, so doch unabhängiges Einkommen sowie einen guten Namen zu hinterlassen.«

Wir erreichten jetzt Mr. Boythorns Haus, wo der gedeckte Teetisch unser bereits wartete. Kurz darauf kam auch Richard wieder, ruhelos und in Eile, und beugte sich über Mr. Vholes‘ Stuhl und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mr. Vholes antwortete laut – das heißt, was man bei ihm laut nennen konnte –: »Sie wollen mich selbst kutschieren, Sir? Ganz wie Sie wünschen. Ich bin stets zu Ihren Diensten.«

Aus den hierauf folgenden Gesprächen entnahmen wir, daß Mr. Skimpole bis zum Morgen dableiben sollte, um die bereits bezahlten Rückplätze für sich allein zu benützen. Da Ada und ich wegen Richard bekümmert waren und es uns leid tat, so von ihm zu scheiden, gaben wir so deutlich, wie es die Höflichkeit erlaubte, zu verstehen, wir möchten Mr. Skimpole im Wirtshause lassen und uns zurückziehen, sobald Richard und Mr. Vholes fortgefahren sein würden.

Da Richards Lebhaftigkeit uns alle mitriß, gingen wir zusammen nach dem Hügel auf der Höhe des Dorfes, wohin er das Gig bestellt hatte, und fanden dort einen Mann mit einer Laterne bei dem dürren Falb, der vor den Wagen gespannt war, stehen.

Ich werde nie vergessen, wie die beiden im Laternenschimmer nebeneinander saßen. Richard, ganz Feuer und Flamme, mit den Zügeln in der Hand, Mr. Vholes, totenstill, in schwarzen Handschuhen, bis zum Kinn zugeknöpft und ihn ansehend wie eine Beute, die er mit seinem Zauber umstrickte. Vor mir steht das ganze Bild der warmen dunkeln Sommernacht, das Wetterleuchten, die staubige Landstraße, von Hecken und hohen Bäumen umsäumt, und das dürre fahle Pferd mit den gespitzten Ohren.

So fuhren sie fort zur Verhandlung ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘.

Mein Liebling sagte mir diese Nacht, ob Richard in Zukunft glücklich oder unglücklich, von Freunden umgeben oder verlassen sein würde, könne für sie nur insofern einen Unterschied machen, als daß, je mehr er eines treuen Herzens bedürfen sollte, desto mehr Liebe das ihre für ihn haben werde. Immer und zu allen Zeiten werde sie an ihn und nie an sich selbst denken, nie an ihr eignes Wohl, wenn sie das seine würde fördern können.

Und hielt sie Wort?

Ich blickte im Geiste die vor mir sich hinziehende Lebensstraße entlang, auf der das Ende der Reise bereits in der Ferne sichtbar wird, und treu und gut über dem toten Meer des Kanzleigerichtsprozesses und allen seinen mit Asche gefüllten Früchten, die es ans Ufer wirft, glaube ich meinen Liebling zu sehen.