40. Kapitel


40. Kapitel

Häusliche und Staats-Angelegenheiten

England ist seit einigen Wochen in einer schrecklichen Lage gewesen. Lord Coodle wollte demissionieren, Sir Thomas Doodle das Portefeuille nicht annehmen, und da in ganz Großbritannien außer Coodle und Doodle niemand nennenswerter war, gab es keine Regierung! Es war ein Segen des Himmels, daß aus dem eine Zeitlang unvermeidlich scheinenden Duell zwischen den beiden großen Männern nichts wurde. Angenommen, Coodle und Doodle hätten einander totgeschossen: England wäre ohne Regierung dagestanden und hätte warten müssen, bis der junge Coodle und der junge Doodle, die zur Zeit noch in Röckchen gingen, groß geworden wären. Dies unabsehbare Nationalunglück wurde Gott sei Dank dadurch abgewendet, daß Lord Coodle rechtzeitig entdeckte, daß, wenn er auch in der Hitze der Debatte behauptet habe, er verabscheue und verachte die ganze ehrlose Laufbahn Sir Thomas Doodles, er nur habe sagen wollen, daß ihn Parteistreitigkeiten nie verleiten würden, seinem Gegner den Tribut in offizieller wärmster Bewunderung vorzuenthalten. Ebenso rechtzeitig entdeckte man auf der andern Seite, daß Sir Thomas Doodle innerlich Lord Coodle für ein mustergültiges Beispiel von Mannesmut und Ehrenhaftigkeit halte.

Aber trotz alledem ist England doch einige Wochen lang von dem schrecklichen Verhängnis betroffen gewesen, keinen Lotsen zu haben, »um dem Sturme zu trotzen«, wie Sir Leicester Dedlock so schön zu bemerken pflegt. Das Wunderbare an der Sache ist nur, daß sich England darum gar nicht besonders gekümmert zu haben schien, denn es hat gegessen und getrunken und geheiratet wie die alte Welt in den Tagen vor der Sintflut. Aber Coodle erkannte die Gefahr, und Doodle desgleichen, und alle ihre Parteigenossen und Wähler erkannten die Gefahr auf das allerdeutlichste. Endlich hat sich Sir Thomas Doodle nicht nur herabgelassen, in das Ministerium einzutreten, sondern sich dabei sehr nobel benommen und alle seine Neffen, seine Vettern und seine Schwäger mitgebracht. So ist also wieder Hoffnung für das alte Schiff.

Doodle hat gefunden, daß er an das Land appellieren muß, besonders mit Sovereigns und Bier. Da Britannia sehr darauf brennt, Kandidat Doodle, fleischgeworden, in der Gestalt von Sovereigns in die Tasche zu stecken und ihn, geistgeworden, in Form von Bier hinunterzuschlucken und dabei falsch zu schwören, sie tue keines von beiden – offenbar zur Vermehrung ihres Ruhms und ihrer Moralität –, so nimmt die Londoner Saison ein plötzliches Ende, und alle Doodlianer und Coodlianer zerstreuen sich über ganz England, um Britannia bei diesen religiösen Feierlichkeiten zu unterstützen.

Daher sieht Mrs. Rouncewell, trotzdem sie noch keine Instruktionen empfangen hat, genau voraus, daß die Familie, begleitet von einem großen Schwarm von Vettern und andern Leuten, die in irgendeiner Weise bei dem großen politischen Werk mithelfen können, in Bälde zu erwarten ist. So nimmt die stattliche alte Dame die Zeit beim Schopf, geht die Treppen auf und ab, die Korridore und Treppen entlang, durch die Zimmer und Säle, um ohne Verzug und eignen Auges sich zu überzeugen, ob die Parkette gewichst sind, Teppiche gelegt, Vorhänge ausgeschüttelt, Betten geklopft und glatt gestrichen, Vorratskammer und Küche aufgeräumt ist und jedes Ding so hergerichtet, wie es das Ansehen der Dedlocks erfordert.

Als an diesem Sommerabend die Sonne untergeht, ist bereits alles fix und fertig. Öde und feierlich sieht das alte Haus aus, so wohnlich hergerichtet und noch von niemandem bewohnt, mit Ausnahme der gemalten Gestalten an den Wänden.

»So wie ich sind auch die andern gekommen und gegangen«, hätte der jeweilig herrschende Dedlock sagen können, als er durch die Zimmer schritt. »So sahen sie diese Galerie, trüb und verlassen, wie ich sie jetzt sehe. So wie ich jetzt, dachten sie an die Lücke, die ihr Scheiden einst in diesem Reiche verursachen würde. So wie mir jetzt wurde ihnen zu glauben schwer, daß es ohne sie bestehen könnte. Sie verließen meine Welt, wie ich jetzt die ihre verlasse, wenn ich die Tür dumpfhallend ins Schloß werfe.«

Durch einige der unverhangnen, im Sonnenuntergang glühenden Fenster in dem Hause, das in dieser Stunde nicht mehr aus dunklem grauem Stein, sondern aus glitzerndem Gold zu bestehen scheint, strömt das Licht herein, voll, reich, im Überfluß, wie alles im Sommer auf dem Lande. Jetzt tauen die gefrornen Dedlocks auf. Ein seltsames Leben tritt auf ihre Züge, wie die Schatten der Blätter darauf spielen. Ein ernster Richter in einer Ecke läßt sich zu einem Augenzwinkern verführen. Ein glotzäugiger Baronet mit einem Feldherrnstab bekommt ein Grübchen in der Wange. In den Busen einer steinharten Schäferin stiehlt sich ein Strahl Licht und Wärme, der ihr schon vor hundert Jahren gut getan haben würde. Eine Ahne Volumnias auf hohen Absätzen und ihr sehr ähnlich – sie wirft den Schatten ihres jungfräulichen Daseins volle zwei Jahrhunderte voraus – verschmilzt in einen Glorienschein und wird zu einer Heiligen. Eine Hofdame Karls II. mit runden Augen und andern dazu passenden Reizen scheint sich in einer leuchtenden, sich kräuselnden Wasserflut zu baden.

Aber bald erstirbt die Flammenpracht der Sonne. Schon ist der Fußboden dunkel, und Schatten steigen langsam die Wände hinauf und suchen die Dedlocks heim wie Alter und Tod. Jetzt fällt auf das Bild von Mylady über dem großen Kamin ein unheimlicher Schatten von einem alten Baum, der ihm die Farben raubt und es aufgeregt aussehen macht. Wie ein großer Arm scheint es eine dunkle Decke in die Höhe zu halten, auf eine Gelegenheit wartend, sie ihr über das Haupt zu werfen. Höher und dunkler kriecht der Schatten die Wand hinauf, läßt nur noch eine Weile an der Decke eine rote Glut, und dann ist die Flamme ganz erloschen.

Die Landschaft, die von der Terrasse so nahe aussah, hat sich feierlich in die Ferne zurückgezogen und ist zu einem unerreichbaren Phantom geworden wie so manches, das anfangs so nahe aussieht und dann weit, weit weg liegt. Leichte Nebel erheben sich, der Tau fällt, und die Düfte des Gartens hängen in der Luft. Die Wälder werden zu einer dichten Masse – wie zu einem einzelnen, riesenhaften Baum. Und jetzt steigt der Mond empor, um sie wieder aufzulösen und da und dort schimmernde Streifen hinter ihren Stämmen hervorzuwerfen und die Allee zu einem Pfade des Lichts und einer hohen phantastisch geformten Kathedrale zu machen.

Jetzt steht er hoch am Himmel, und das große Haus gleicht einem Körper ohne Leben. Man kann nur mit Bangen, wenn man sich durch die Korridore stiehlt, an die Lebendigen denken, die in den einsamen Schlafzimmern gelegen haben. Von den Toten ganz zu schweigen. Das ist die Stunde für das wachsende Dunkel, wo jeder Winkel eine kleine Höhle ist und jede Stufe eine Fußangel, wo sich die gemalten Glasscheiben mit blassen Farben auf dem Fußboden widerspiegeln und man in den schweren Balken der Decke alles sehen kann, nur ihre wirkliche Form nicht. Auf den Rüstungen blinken trübe Lichter, die es einem scheinen machen, als herrsche hier eine leise, kaum merkliche, gespenstische Beweglichkeit, und beim Anblick der Helme mit den herabgelassenen Visieren muß man voll Grauen an Köpfe denken, die darin stecken könnten.

Aber von allen Schatten in Chesney Wold fällt der Schatten in dem großen Salon auf Myladys Bild zuerst und verschwindet zuletzt. Um diese Stunde und bei diesem Lichtschein wird er zu dräuend erhobenen Händen, die dem schönen Antlitz nahendes Unheil künden bei jedem Hauch, der sich regt.

»Sie ist unpäßlich, Maam«, sagt ein Stallknecht in Mrs. Rouncewells Sprechzimmer.

»Mylady unpäßlich? Was fehlt ihr?«

»Nun, ich meine, sie hat sich schon, als sie zuletzt hier war, nicht besonders wohl befunden… Ich meine nicht, wie sie mit der Familie hier war, Maam, sondern wie sie durchkam wie ein Zugvogel. Mylady ist gegen sonst nicht viel ausgewesen und hat hübsch lange ihr Zimmer gehütet.«

»Chesney Wold«, entgegnet die Haushälterin mit Stolz und Befriedigung, »wird Mylady bald wieder zu Kräften bringen, Thomas. Es gibt keine schönere Luft und keinen gesünderen Ort auf der ganzen Welt.«

Thomas mag so seine besondere Meinung darüber haben, deutet sie vielleicht dadurch an, wie er sich seinen runden Kopf vom Nacken nach den Schläfen zu streichelt, aber er hütet sich, noch mehr zu sagen, und zieht sich in das Bedientenzimmer zurück, um sich an kalter Fleischpastete und Ale gütlich zu tun.

Dieser Stallknecht ist der Lotsenfisch, der vor dem edlen Hai einherschwimmt. Morgen abend kommen Sir Leicester und Mylady mit ihrem ganzen Troß und Gefolge. Es kommen die Vettern und Basen aus allen Strichen der Windrose. Von jetzt an, manche Woche, eilen geheimnisvolle Personen ohne Namen hin und her und fliegen in allen Orten des Landes herum, wo sich Doodle gerade in einem Gold- oder Bierregen zeigt, aber sie sind weiter nichts als Leute von ruhelosem Charakter, die nirgends etwas Besonderes zu tun haben.

Bei solchen nationalen Veranlassungen findet Sir Leicester die Vettern ganz nützlich. Einen bessern Jagdgesellschafter bei Tisch als Bob Stahles, Hochwohlgeboren, kann es in der Welt nicht geben. Besser angezogne Herren als die andern Vettern, um da und dort mit ihnen zu den Wahlbühnen zu reisen, um sich an Englands rechter Seite zu zeigen, würden schwer zu finden sein. Volumnia ist zwar ein bißchen verblaßt, aber von direkter Abstammung, und es gibt viele, die ihre sprühende Unterhaltung, ihre französischen Wortspiele, die so alt sind, daß sie fast schon wieder neu sind, und die Ehre, eine Dedlock zu Tisch führen zu dürfen, und gar erst das Privilegium, mit ihr zu tanzen, sehr zu würdigen wissen. Bei solchen nationalen Veranlassungen kann das Tanzen geradezu zu einer patriotischen Pflicht werden, und ununterbrochen kann man Volumnia herumhopsen sehen zum Besten eines undankbaren und pensionskargen Vaterlandes.

Mylady gibt sich nicht viel Mühe, die zahlreiche Schar der Gäste in Chesney Wold zu unterhalten, und da sie immer noch unpäßlich ist, erscheint sie auch selten früh. Aber bei all den melancholischen Diners, den bleiernen Frühstücken, den basiliskenhaften Bällen und andern trübseligen Festlichkeiten ist ihre bloße Erscheinung schon ein Trost. Was Sir Leicester betrifft, so hält er es für ganz und gar unmöglich, daß sich irgend jemand, der das große Glück hat, in diesem Haus empfangen zu werden, noch unbehaglich fühlen könne. Und er bewegt sich in einem Zustand sublimer Selbstzufriedenheit in der Gesellschaft umher wie eine großartige Kühlmaschine.

Täglich traben die Vettern durch den Staub und galoppieren über den Rasen an der Landstraße zu den Wahlbühnen hinüber – mit dänischen Handschuhen und Hetzpeitschen für die Grafschaften und Glacehandschuhen und Reitstöcken für die Landstädte –, und täglich bringen sie Berichte zurück, über die dann Sir Leicester nach dem Essen Reden hält. Täglich täuschen diese unruhigen Menschen, die im Leben nichts zu tun haben, vor, viel beschäftigt zu sein. Täglich plaudert Kusine Volumnia vertraulich über die Lage der Nation, woraus Sir Leicester zu schließen geneigt ist, daß Volumnia eine weitblickendere Frau ist, als er geglaubt hätte.

»Wie steht es mit uns?« fragt Miß Volumnia und klatscht in die Hände. »Sind wir sicher?«

– Das gewaltige Geschäft nähert sich nämlich jetzt seinem Ende, und Doodle wird in wenigen Tagen aufhören, an das Land zu appellieren. Sir Leicester ist nach dem Diner soeben in den großen Salon getreten. Ein heller Stern ersten Ranges, von Wolken von Vettern umgeben. –

»Volumnia«, entgegnet Sir Leicester, der ein Verzeichnis in der Hand hat. »Es steht ganz leidlich.«

»O, nur leidlich!«

Obgleich es warmes Sommerwetter ist, läßt sich Sir Leicester doch stets abends seinen eignen Kamin heizen. Er nimmt seinen gewohnten durch einen Ofenschirm geschützten Platz nicht weit davon ein und wiederholt mit großer Bestimmtheit, wenn auch ein wenig unzufrieden, als wolle er sagen, ich bin doch kein gewöhnlicher Mensch, und wenn ich das Wort »leidlich« gebrauche, so darf man das nicht für einen gewöhnlichen Ausdruck auffassen:

»Volumnia, es geht leidlich.«

»Wenigstens haben Sie keine Opposition?« klopft Volumnia zuversichtlich auf den Busch.

»Nein, Volumnia. Unser schwergeprüftes Land hat in mancher Hinsicht den Verstand verloren, muß ich leider sagen, aber ganz von Sinnen ist es denn doch noch nicht.«

»Es freut mich, das zu hören.«

Die letzten Worte Volumnias setzen sie wieder in Gunst bei Sir Leicester. Er neigt gnädig das Haupt und scheint damit sagen zu wollen: Im großen ganzen ein recht verständiges Frauenzimmer, wenn auch mitunter etwas vorlaut.

In der Tat war die Frage der schönen Dedlock nach der Opposition ganz überflüssig, denn wenn Sir Leicester kandidiert, so ist das dasselbe, als wenn er eine Engrosbestellung einschickte, die augenblicklich auszuführen ist. Zwei andre kleine Parlamentssitze, auf die er Anspruch hat, pflegt er als Detailbestellung von geringerer Wichtigkeit zu behandeln, indem er bloß seine Leute hinschickt und den Wählern zu verstehen gibt wie Schneidern: Machen Sie mir aus diesem Stoff zwei Parlamentsmitglieder und schicken Sie sie mir zu, wenn sie fertig sind.

»Ich bedaure, konstatieren zu müssen, Volumnia, daß an vielen Orten das Volk eine schlechte Gesinnung bewiesen hat und die Opposition gegen die Regimentspartei auf das entschiedenste und unversöhnlichste aufgetreten ist.«

»Schurrrken«, sagt Volumnia.

»Selbst«, fährt Sir Leicester mit einem Blick auf die ringsum auf Sofas und Ottomanen verstreuten Vettern fort, »selbst in vielen – das heißt, in den meisten – der Wahldistrikte, wo das Ministerium gegen eine Faktion durchgedrungen ist…«

– Die Coodlianer sind nämlich in den Augen der Doodlianer stets eine Faktion, und umgekehrt. –

«… selbst in solchen Distrikten – zur Schande Englands sei es gesagt – hat die Partei nicht ohne enorme Unkosten gesiegt. Hundert, äh«, sagt Sir Leicester und sieht die Wände mit steigendem Selbstgefühl und wachsender Entrüstung an, »Hunderttausende von Pfunden!«

– Wenn Volumnia einen Fehler hat, so ist es der, ein klein wenig unschuldig zu sein. Es würde recht gut zu einer hellblauen Schärpe und einem Schürzchen passen, harmoniert aber nicht besonders mit der Schminke und dem Perlenhalsband. –

In einem solchen Unschuldsanfall fragt sie jetzt:

»Wofür?«

»Volumnia!!« mahnt Sir Leicester mit äußerster Strenge. »Volumnia!«

»Nein, nein, ich meine nicht, wofür«, verbessert sich Volumnia mit ihrem kleinen Lieblingsschrei. »Wie gedankenlos von mir. Ich meine, wie schade!«

»Es freut mich, daß Sie meinen, wie schade«, entgegnet Sir Leicester.

Volumnia beeilt sich, die Meinung auszusprechen, das abscheuliche Volk solle wegen Landesverrats vor Gericht gestellt und direkt gezwungen werden, die Partei zu unterstützen.

»Es freut mich, Volumnia«, wiederholt Sir Leicester, ohne ihre Beschwichtigungsäußerungen zu beachten, »es freut mich, daß Sie meinen, wie schade. Es ist eine Schande für die Wähler. Aber da Sie, wenn auch unabsichtlich, mich fragten, wofür, so möchte ich Ihnen darauf antworten: Zu notwendigen Ausgaben! Ich traue Ihrem richtigen Gefühl zu, Volumnia, daß Sie hier wie anderswo dieses Thema nicht weiter verfolgen werden.«

Sir Leicester hält es für seine Pflicht, Volumnia gegenüber eine zermalmende Miene aufzusetzen, geht doch sowieso schon das Gerücht, solche notwendigen Ausgaben in etwa zweihundert Wahldistrikten könnten gar leicht mit dem Wort Bestechung in Einklang gebracht werden. Ein paar freche Witzbolde haben bereits vor einiger Zeit den Rat gegeben, aus dem Kirchengebet die das Parlament betreffende Stelle wegzulassen und statt dessen eine Bitte um Genesung für sechshundertachtundfünfzig notleidende Herren einzuschalten.

»Ich vermute«, bemerkt Volumnia, nachdem sie eine Weile gebraucht hat, um sich von der letzten Zurechtweisung wieder zu erholen, »ich vermute, daß Mr. Tulkinghorn sich zu Tode gearbeitet hat.«

»Ich wüßte nicht«, sagt Sir Leicester mit erstaunten Augen, »warum. Mr. Tulkinghorn hat mit den Wahlen nichts zu schaffen. Er ist nicht Kandidat.«

Volumnia hatte geglaubt, er habe vielleicht irgend etwas dabei zu tun und sei von irgend jemandem beschäftigt. Sir Leicester scheint wissen zu wollen, von wem und wozu. Abermals beschämt, meint Volumnia: »Nun, von irgend jemandem, um Rat zu erteilen und Arrangements zu treffen.« Sir Leicester wüßte nicht, welcher Klient von Mr. Tulkinghorn darin irgendeines Beistandes bedürft hätte.

Lady Dedlock, die an einem offnen Fenster sitzt, den Arm auf das Polster gelegt und auf die den Park einhüllenden Abendschatten hinaussehend, scheint bei Nennung des Namens aufmerksam zu werden.

Ein entfernter Vetter mit einem Schnurrbart und von äußerst hinfälligem Aussehen lispelt von seinem Ruhebett aus, jemand habe gestern gesagt, Mr. Tulkinghorn sei nach Eisenhütten jereist, um wejen irjendwas ’n Rechtsjutachten, äh, erteilen, äh, und daß es recht hübsch wäre, wenn heute, wo Wahl vorüber, Tulkinghorn mit Nachricht käme, äh, Gegner von Coodle unterlegen.

Einen Augenblick später teilt der den Kaffee servierende Merkur Sir Leicester mit, daß Mr. Tulkinghorn angekommen sei und soeben diniere. Mylady wendet einen Augenblick das Gesicht ins Zimmer und sieht dann wieder hinaus wie vorher.

Volumnia ist entzückt, zu hören, daß ihr Herzblatt angekommen ist. »Er ist so originell, ein so närrischer Kauz, der alles mögliche weiß und nichts verrät!« Volumnia ist überzeugt, daß er Freimaurer ist, wahrscheinlich Meister vom Stuhl, kleine Schürzchen trägt und sich mit Kerzen und Kellen zu einem wahren Götzenbild herausstaffiert.

Diese geistreichen Bemerkungen äußert die schöne Dedlock in jugendlicher Naivität und häkelt dabei an einer Börse.

»Seit meiner Ankunft ist er nicht ein einziges Mal hier gewesen«, setzt sie hinzu. »Ich dachte schon, seine Unbeständigkeit würde mir das Herz brechen. Ich machte mich schon fast damit vertraut, er wäre tot.«

»Mr. Tulkinghorn«, sagt Sir Leicester, »ist hier immer willkommen – und immer diskret, wo er sich auch befindet. Ein wirklich wertvoller Mensch und verdientermaßen geachtet.«

Der hinfällig aussehende Vetter vermutet, daß er ein scheußlich bejüterter Jeselle sei.

»Ich bezweifle nicht, daß ihn materielle Interessen an die Sache des Landes fesseln. Er wird selbstverständlich ausgezeichnet bezahlt und verkehrt mit der vornehmsten Gesellschaft fast wie gleichberechtigt.«

Plötzlich fahren alle auf. Dicht vor den Fenstern ist ein Schuß gefallen.

»O Gott, was ist das!« schreit Volumnia mit ihrem dünnen verwelkten Kreischen.

»Eine Ratte«, sagt Mylady. »Sie haben sie totgeschossen.«

Mr. Tulkinghorn tritt ein, gefolgt von einigen Merkuren mit Lampen und Lichtern.

»Nein, nein, noch kein Licht«, sagt Sir Leicester. »Ich glaube wenigstens. Ist Mylady die Dämmerstunde unangenehm?«

Im Gegenteil, Mylady hat sie gern.

»Und Ihnen, Volumnia?«

O, nichts erscheint Volumnia so köstlich, als im Dunkeln zu sitzen und zu plaudern.

»Tragen Sie alles wieder hinaus«, befiehlt Sir Leicester. »Tulkinghorn, ich bitte um Verzeihung. Wie geht es Ihnen?«

Mr. Tulkinghorn ist mit seiner gewohnten gemessenen Ruhe eingetreten, hat im Vorübergehen Mylady seine Huldigung dargebracht, schüttelt Sir Leicester jetzt die Hand und setzt sich in einen Stuhl an der andern Seite des kleinen Zeitungstisches, der neben dem Baronet steht. Sir Leicester fürchtet, Mylady könne sich, da sie sich noch nicht ganz wohl befinde, an dem offnen Fenster erkälten. Mylady dankt ihm, möchte aber der frischen Luft wegen lieber dort sitzen bleiben. Sir Leicester steht auf, richtet ihr den Umhang zurecht und kehrt auf seinen Platz zurück. Mr. Tulkinghorn hat unterdessen eine Prise genommen.

»Nun«, fragt Sir Leicester, »wie ist die Wahl verlaufen?«

»Ach, faul von Anfang an. Aussichtslos. Sie haben ihre beiden Kandidaten durchgebracht. Sie sind aussichtslos geschlagen. Drei zu eins!«

Es liegt in Mr. Tulkinghorns System, nie Meinungen zu haben, geschweige denn gar politische. Deshalb sagt er: »Sie« sind geschlagen, und nicht: »Wir«.

Sir Leicesters Zorn ist majestätisch. Volumnia traut ihren Ohren nicht. Der hinfällig aussehende Vetter ist der Meinung, daß so etwas stets jeschehen müsse, solange Pöbel, äh, Stimmrecht.

»Es ist der Distrikt, Sie wissen, wo man Mrs. Rouncewells Sohn als Kandidaten aufstellen wollte«, erklärt Mr. Tulkinghorn, als die andern wieder schweigen.

– Die Dunkelheit nimmt rasch zu. –

»Ein Vorschlag, den zurückzuweisen er Takt und Schicklichkeitsgefühl genug hatte, wie Sie damals ganz richtig sagten«, bemerkt Sir Leicester. »Ich kann nicht sagen, daß ich die Meinungen, die Mr. Rouncewell einmal während eines halbstündigen Besuches hier aussprach, irgendwie billige, aber in seinem Vorgehen bewies er ein Schicklichkeitsgefühl, das ich gern anerkenne.«

»Na!« sagt Mr. Tulkinghorn. »Es hielt ihn aber doch nicht ab, bei der Wahl sehr tätig einzugreifen.«

Sir Leicester schnappt deutlich nach Luft. Er kann kaum Worte finden.

»Verstehe ich Sie recht? Sagten Sie, Mr. Rouncewell habe bei der Wahl tätig eingegriffen?«

»Ungemein tätig.«

»Gegen…«

»Natürlich gegen Sie! Er ist ein vorzüglicher Redner. Er spricht einfach und mit Nachdruck, Seine Rede wirkte vernichtend, und er hat großen Einfluß. In der Auseinandersetzung des geschäftlichen Teils der Sache schlug er alle aus dem Felde.«

Die ganze Gesellschaft weiß genau, wenn sie es auch nicht sehen kann, daß Sir Leicester flammende Augen macht.

»Und sein Sohn leistete ihm vielen Beistand«, setzt Mr. Tulkinghorn als Schlußeffekt hinzu.

»Sein Sohn, Sir?« wiederholt Sir Leicester mit Bangen erregender Höflichkeit.

»Sein Sohn.«

»Der Sohn, der Myladys Kammerjungfer heiraten wollte?«

»Derselbe. Er hat bloß einen.«

»Dann, auf Ehre«, sagt Sir Leicester nach einer beängstigenden Pause, während der man ihn schnauben hörte, »dann, auf Ehre, bei meinem Leben, bei meinem Ruf, bei meinen Grundsätzen, dann sind wirklich die Dämme der Gesellschaft gebrochen, und die Wogen haben – uff – den Fuß des Gerüstes, das die Welt zusammenhält, unterspült.«

Allgemeiner Entrüstungsausbruch bei den Vettern. Volumnia meint, es sei denn doch wahrhaftig höchste Zeit, daß jemand, der die Gewalt in der Hand habe, eingreife und etwas Entscheidendes tue. Der hinfällig aussehende Vetter meint –, Vaterland, jehe, zum Deubel – mit Flachrennenjeschwindichkeit.

»Nur kein Kommentar gefälligst«, verbittet sich Sir Leicester noch ganz atemlos. »Nur kein weiterer Kommentar über diesen Vorfall! Kommentar ist überflüssig. Mylady, erlauben Sie mir, in bezug auf die Kammerjungfer zu sagen…«

»Ich beabsichtige nicht, mich von ihr zu trennen«, kommt ihm Mylady von ihrem Fenster her in leisem, aber entschiednem Ton zuvor.

»Das wollte ich nicht sagen«, entschuldigt sich Sir Leicester. »Im Gegenteil, es freut mich, das zu hören. Ich meinte nur, Sie sollten Ihren Einfluß auf das Mädchen geltend machen, um so mehr, als Sie es Ihrer Gunst für wert halten, Ihren Einfluß darauf wenden, sie nicht in so gefährliche Hände fallen zu lassen… Sie könnten ihr vor Augen führen, wie man in solcher Umgebung ihren Pflichten und Prinzipien Gewalt antun würde, und sie für ein besseres Schicksal aufsparen. Sie könnten ihr vielleicht Winke geben, daß sie wahrscheinlich auch in Chesney Wold einen Gatten finden würde, einen Gatten, der sie nicht…« – fügt Sir Leicester nach einem Augenblick Besinnen hinzu – »von den Altären ihrer Ahnen wegreißen würde.«

Diese Bemerkungen bringt er mit der stets sich gleichbleibenden Höflichkeit und Ehrerbietung vor, die er an den Tag legt, wenn er mit seiner Gemahlin redet. Sie neigt als Antwort nur den Kopf. Der Mond geht auf, und wo sie sitzt, fällt ein schmaler Streifen kaltes bleiches Licht herein auf ihr Gesicht.

»Es ist vielleicht erwähnenswert«, mischt sich Mr. Tulkinghorn ein, »daß diese Leute in ihrer Art sehr stolz sind.«

»Stolz!?« Sir Leicester glaubt sich verhört zu haben.

»Es sollte mich nicht wundern, wenn sie alle freiwillig das Mädchen aufgeben würden – ja, der Bräutigam und alle übrigen, anstatt umgekehrt –, vorausgesetzt, daß das Mädchen unter solchen Umständen überhaupt in Chesney Wold bliebe.«

»Nun«, sagt Sir Leicester mit zitternder Stimme. »Nun! Sie müssen es wissen, Mr. Tulkinghorn. Sie haben sich unter ihnen bewegt.«

»Ja, ja, Sir Leicester, ich spreche nur von Tatsachen«, entgegnet der Advokat. »Ich könnte Ihnen sogar darüber eine Geschichte erzählen –, wenn es Lady Dedlock erlaubt.«

– Mit einer Neigung ihres Kopfes erteilt sie die Bewilligung, und Volumnia ist entzückt. Eine Geschichte! O, endlich will er etwas erzählen! Ein Gespenst wird darin vorkommen, hofft Volumnia. –

»Nein, nur Fleisch und Bein.« Mr. Tulkinghorn hält einen Augenblick inne und wiederholt mit etwas mehr Nachdruck, als er sonst anzuwenden pflegt: »Wirklichkeit, Fleisch und Bein, Miß Dedlock! – Sir Leicester, ich habe erst vor kurzem die Einzelheiten erfahren. Es ist in wenig Worten erzählt. Die Geschichte ist eine Erläuterung zu dem, was ich eben sagte. Ich verschweige für jetzt die Namen. Lady Dedlock wird mich deshalb nicht der Unhöflichkeit zeihen, hoffe ich.«

– Beim Schimmer des Feuers, das nur schwach brennt, kann man ihn nach dem Mondlichtstreif blicken sehen. Vollkommen ruhig sitzt Lady Dedlock dort. –

»Ein Mitbürger dieses Mr. Rouncewell, ein Mann in ebensolchen Verhältnissen wie er, wie ich hörte, hatte das Glück, eine Tochter zu besitzen, die die Beachtung einer vornehmen Dame auf sich zog.

Ich spreche von einer wirklich vornehmen Dame, nicht bloß vornehm in seinen Augen, sondern vermählt mit einem Gentleman Ihres Standes, Sir Leicester.«

Sir Leicester sagt herablassend: »Ich verstehe, Mr. Tulkinghorn«, und deutet damit an, wie groß erst die Dame in den Augen eines Hüttenbesitzers erscheinen müßte.

»Die Dame war reich und schön, hatte eine Vorliebe für das Mädchen, behandelte es mit großer Güte und ließ es nicht von ihrer Seite. Nun behütete diese Dame trotz ihrer hohen Stellung ein Geheimnis seit vielen Jahren. Sie war nämlich in früher Jugend mit einem jungen Roué verlobt gewesen, einem Kapitän in der Armee, der jeden, der sich mit ihm einließ, ins Unglück brachte. Sie war nie mit ihm verheiratet, aber sie gebar ein Kind, dessen Vater er war.«

– Beim Schein des Feuers kann man Mr. Tulkinghorn nach dem Mondlichtstreifen blicken sehen. Das Profil Lady Dedlocks ist regungslos wie aus Stein gehauen. –

»Als der Kapitän gestorben war, hielt sie sich für sicher. Aber eine Verkettung von Umständen, mit denen ich Sie nicht zu behelligen brauche, führte eine Entdeckung herbei. Sie soll mit einer Unvorsichtigkeit ihrerseits angefangen haben, als sie sich einmal bei einer überraschten Miene ertappen ließ, und das zeigt wieder, wie schwer es selbst für den Festesten von uns ist – und sie hatte einen sehr festen Charakter –, stets auf der Hut zu sein. Sie können sich denken, welches Entsetzen im Hause herrschte, und sich selbst ausmalen, Sir Leicester, wie groß der Schmerz ihres Gatten war. Aber darum handelt es sich jetzt nicht. Als Mr. Rouncewells Mitbürger von der Entdeckung hörte, duldete er ebensowenig, daß das Mädchen von der Dame weiter patronisiert werde, wie er geduldet hätte, daß man sie vor seinen Augen mit Füßen getreten haben würde. Sein Stolz war so groß, daß er sie entrüstet wegnahm, wie um sie vor der Ansteckung, von Befleckung und Schande zu bewahren. Er hatte kein Verständnis für die Ehre, die ihm und seiner Tochter durch die Herablassung der vornehmen Dame zuteil geworden war. Die Stellung des Mädchens kam ihm entehrend vor, gerade so, als ob die Dame nicht vornehm, sondern eine der allergewöhnlichsten Frauen gewesen wäre. Das ist die Geschichte. Ich hoffe, Lady Dedlock wird ihren peinlichen Charakter entschuldigen.«

Es werden verschiedne Meinungen über die Geschichte laut, die alle mehr oder weniger von Volumnias Ansicht abweichen. Diese schöne Jungfrau kann nämlich durchaus nicht glauben, daß es jemals eine solche Dame gegeben haben könne, und verweist von vornherein die ganze Geschichte in das Gebiet der Fabel. Die Majorität schließt sich dem Urteil des hinfällig aussehenden Vetters an, das in wenigen Worten abgetan ist: »Jeht lediglich blödsinnigen Mitbürger Rouncewells an.« Sir Leicester denkt im stillen an Wat Tyler bösen Angedenkens und malt sich aus, wie alles sein müßte, wenn es nach ihm ginge.

Die Unterhaltung stockt, denn man ist in Chesney Wold schon seit einiger Zeit lang aufgeblieben.

Es ist zehn Uhr vorüber, als Sir Leicester Mr. Tulkinghorn bittet, um Kerzen zu klingeln. Der Streifen Mondlicht ist inzwischen zu einem See angeschwollen, und Lady Dedlock reckt sich jetzt zum erstenmal. Sie steht auf und tritt an einen Tisch, um ein Glas Wasser zu trinken. Blinzelnde Vettern, im Kerzenschein wie Fledermäuse anzusehen, drängen sich um sie, um es ihr zu reichen. Volumnia, stets bereit, etwas zu nehmen – um so lieber, je wertvoller es ist –, nimmt ebenfalls ein Glas Wasser und nippt daran. Lady Dedlock, anmutig und vollkommen gefaßt, geht, von bewundernden Augen verfolgt, ruhevoll die lange Treppenflucht mit der lieblichen Nymphe, die sich im Gegensatz zu ihr keineswegs schöner ausnimmt als allein, hinab.

41. Kapitel


41. Kapitel

In Mr. Tulkinghorns Zimmer

Mr. Tulkinghorn tritt in sein Turmzimmer, etwas außer Atem vom Treppensteigen, obgleich er langsam gegangen ist. Auf seinem Gesicht liegt ein Ausdruck, als habe er seinen Geist von einer wichtigen Sache befreit und sei, soweit das möglich ist, zufrieden. Von einem stets so gelassnen Mann zu sagen, er triumphiere, wäre ebenso ungerecht, als ihm zuzutrauen, er ließe sich von Liebe oder Gefühl oder einer andern romantischen Schwäche aus dem Geleise bringen. Vielleicht empfindet er ein etwas erhöhtes Gefühl der Macht, wie er jetzt, die Hände auf dem Rücken, geräuschlos auf und ab geht. Im Zimmer steht ein großer Schreibtisch, auf dem sich ziemlich viele Papiere angesammelt haben. Die grünbeschirmte Lampe brennt. Die Lesebrille liegt auf dem Tisch, der Lehnstuhl ist herangerollt, und es könnte fast scheinen, als beabsichtige Mr. Tulkinghorn, vor dem Zubettgehen sich ein paar Stunden mit Geschäften zu befassen. Aber er ist heute zufällig nicht in seiner Arbeitslaune. Nach einem Blick auf die seiner harrenden Dokumente, mit tief auf den Tisch gebeugtem Kopf – er kann als alter Mann abends Gedrucktes oder Geschriebenes nicht gut lesen –, öffnet er die Fenstertür und tritt hinaus auf das flache Dach. Hier geht er wieder auf und ab und erholt sich. Wenn ein so gefühlloser Mann sich überhaupt nach der unten im Salon erzählten Geschichte zu erholen braucht.

Es gab einmal Zeiten, wo mindestens ebenso gescheite Leute wie Mr. Tulkinghorn bei Sternenlicht auf Türme stiegen und zum Himmel hinaufsahen, um dort ihr Schicksal zu lesen. Legionen von Sternen sind sichtbar dort oben, obgleich der Glanz des Mondes ihren Schimmer verdunkelt. Wenn Mr. Tulkinghorn seinen eignen Stern sieht, während er gleichmäßig auf dem Bleidach auf und ab schreitet, muß es ein ziemlich blasser sein, nach dem Aussehen seines rostigen Vertreters auf Erden zu schließen. Wenn er sein Schicksal lesen will, kann er das vielleicht aus andern Zeichen in seiner Nähe leichter tun.

Während er auf dem platten Dach auf und ab geht, die Gedanken in weite Fernen gerichtet, halten ihn plötzlich bei einem Fenster zwei Augen fest, die den seinen begegnen. Die Decke seines Zimmers ist ein wenig niedrig, und der obere Teil der Türe, die dem Fenster gegenüberliegt, ist aus Glas. Es ist auch noch eine innere, mit grünem Tuch beschlagne Tür vorhanden, aber da die Nacht warm ist, hat er sie beim Heraufkommen nicht zugemacht. Die Augen, die jetzt den seinen begegnen, sehen durch die Glasscheibe von dem Korridor draußen herein. Er kennt sie gut. Seit langen Jahren ist ihm das Blut nicht so heiß ins Gesicht geschossen wie jetzt, wo er Lady Dedlock erkennt.

Er tritt in das Zimmer, und auch sie kommt herein und schließt beide Türen hinter sich. Eine wilde Verstörung – ist es Furcht oder Zorn? –hegt in ihren Augen, aber in ihrer Haltung und auch sonst sieht sie genau so aus wie vor zwei Stunden im Salon.

Ist es jetzt Furcht oder Zorn? Er kann es nicht sicher wissen. Beide können so blasse und gespannte Mienen erzeugen.

»Lady Dedlock?«

Sie spricht anfangs nicht, selbst nicht, nachdem sie sich langsam in den Lehnstuhl am Tisch hat sinken lassen.

Sie sehen einander an wie zwei Bilder.

»Warum haben Sie meine Geschichte so vielen Personen erzählt?«

»Lady Dedlock, ich mußte Sie wissen lassen, daß ich sie kenne.«

»Seit wie lange kennen Sie sie?«

»Geargwöhnt habe ich sie schon seit langer Zeit… Vollkommen kennengelernt erst seit kurzem.«

»Seit Monaten?«

»Seit Tagen.«

Er steht vor ihr, die eine Hand auf einer Stuhllehne und die andre in seiner altmodischen Weste und dem Busenstreif. Genau so hat er schon tausendmal, seit sie sich verheiratete, vor ihr gestanden. Dieselbe förmliche Höflichkeit, dieselbe gefaßte Ehrerbietung, die geradesogut Mißtrauen sein könnte – der ganze Mann, derselbe dunkle Gegenstand wie je –, immer in derselben Distanz, die nie etwas hat verringern können.

»Ist das, was Sie von dem armen Mädchen erzählten, wahr?«

Er neigt ein wenig den Kopf und streckt ihn vor, als verstünde er die Frage nicht ganz.

»Was Sie vorhin erzählten. Ist es wahr? Kennen ihre Freunde meine Geschichte ebenfalls ? Ist sie schon Stadtgespräch ? Steht sie an den Wänden geschrieben und schreit man sie auf der Straße aus?«

– Also Zorn und Furcht und Scham. Alle drei kämpfen miteinander. Welche Kraft dieses Weib doch besitzt, ihre rasenden Leidenschaften niederzuhalten! Diese Gedanken schießen Mr. Tulkinghorn durch den Kopf, während er Mylady anblickt, seine struppigen grauen Augenbrauen ein Haar breit mehr zusammengezogen als gewöhnlich. –

»Nein, Lady Dedlock. Es war nur eine Hypothese, die ich anführte, weil Sir Leicester einen so hochmütigen Ton anschlug, wahrscheinlich, ohne es selbst zu wissen. Aber es würde wirklich so kommen, wenn sie wüßten, was wir wissen.«

»Also wissen sie es noch nicht?«

»Nein.«

»Kann ich das arme Mädchen vor Leid bewahren, ehe sie es erfahren?«

»Wahrhaftig, Lady Dedlock«, entgegnet Mr. Tulkinghorn, »darüber kann ich keine genügende Antwort geben.«

Und er denkt voll Interesse und Neugier, während er den Kampf in ihrem Herzen beobachtet: Macht und Kraft dieser Frau sind erstaunlich.

»Sir«, sagt sie, für den Augenblick gezwungen, das Zucken ihrer Lippen mit aller Energie zu bekämpfen, um deutlicher sprechen zu können. »Ich will mich klarer ausdrücken. Ich will nicht über die Möglichkeit Ihrer Hypothese streiten. Ich fühlte ihre Wahrheit so stark wie Sie, als ich damals Mr. Rouncewell hier sah. Ich wußte recht gut, daß er es für eine Schmach für das arme Mädchen gehalten hätte, wäre er imstande gewesen, mich so zu sehen, wie ich bin. Aber ich interessiere mich für sie oder, besser gesagt, da ich nicht mehr hierher gehöre, ich interessierte mich für sie. Und wenn Sie soviel Rücksicht auf die Frau nehmen können, die Sie jetzt unter Ihre Füße getreten haben, das im Auge zu behalten, so würden Sie sie dadurch sehr verpflichten.«

Mr. Tulkinghorn, mit tiefster Aufmerksamkeit zuhörend, lehnt mit einem bescheidnen Achselzucken ab und zieht seine Augenbrauen noch etwas mehr zusammen.

»Sie haben mich auf meine Bloßstellung vorbereitet, und ich danke Ihnen auch dafür. Verlangen Sie sonst noch etwas von mir? Ist noch eine Schuld von mir zu tilgen, die ich tilgen könnte, oder bin ich imstande, irgendeine Unannehmlichkeit meinem Gatten zu ersparen, indem ich ihn freimache, dadurch, daß ich die Richtigkeit Ihrer Entdeckung schriftlich bestätige? Ich bin bereit und zu diesem Zweck hier, um alles zu schreiben, was Sie diktieren.«

– Sie würde es wahrhaftig tun, denkt der Advokat, als er sieht, wie sie mit fester Hand die Feder ergreift. –

»Ich will Sie nicht bemühen, Lady Dedlock. Bitte, schonen Sie sich.«

»Ich habe das alles, wie Sie wissen, schon lange kommen sehen. Ich wünsche mich weder zu schonen noch von Ihnen schonen zu lassen. Schlimmeres, als Sie mir schon zugefügt haben, können Sie nicht tun. Verfahren Sie jetzt, ganz wie es Ihnen beliebt.«

»Lady Dedlock, es handelt sich um nichts dergleichen. Ich werde mir erlauben, ein paar Worte zu sprechen, wenn Sie zu Ende sind.«

Die beiden hätten eigentlich nicht mehr nötig, einander zu beobachten, aber sie tun es ohne Unterlaß, und die Sterne beobachten sie beide durch das offne Fenster herein. Draußen im Mondlicht liegt friedlich das Waldland, und das weite Haus des Lebens ist so still wie das enge des Todes. Das enge! Wo sind in dieser stillen Nacht der Totengräber und der Spaten, bestimmt, das letzte große Geheimnis zu den vielen Geheimnissen des Tulkinghornschen Daseins zur Ruhe zu bestatten? Ist der Mann schon geboren, der Spaten schon geschmiedet? Seltsame Frage, darüber nachzudenken. Seltsamer vielleicht noch, nicht darüber nachzudenken unter den beobachtenden Sternen der Sommernacht.

»Von Reue oder Gewissensbissen oder jedem andern Gefühl meines Herzens sage ich kein Wort«, fährt Lady Dedlock fort. »Wenn ich nicht stumm wäre, würden Sie taub sein. Lassen wir das. Es paßt nicht für Ihre Ohren.«

Er macht eine protestierende Bewegung, aber sie weist ihn verächtlich mit der Hand zurück. »Ich bin hier, um über ganz andre Dinge mit Ihnen zu sprechen. Meine Juwelen liegen an ihrem gewöhnlichen Aufbewahrungsort. Man wird sie dort finden. Meine Kleider ebenfalls. Alle meine Wertsachen ebenso. Ein wenig bares Geld habe ich bei mir, aber nicht viel. Ich trage nicht meine eignen Kleider, um nicht erkannt zu werden. Ich bin gegangen, um von heute an verschwunden zu sein. Berichten Sie das. Weiter lasse ich Ihnen keinen Auftrag zurück.«

»Entschuldigen Sie, Lady Dedlock«, sagt Mr. Tulkinghorn unbewegt. »Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstehe. Sie sind gegangen?…«

»Um für alle hier verloren zu sein. Ich verlasse heute nacht Chesney Wold. Ich gehe diese Stunde.«

Mr. Tulkinghorn schüttelt den Kopf. Sie steht auf. Aber er, ohne die Hand von der Stuhllehne zu nehmen und ohne sonst seine Stellung zu ändern, schüttelt den Kopf.

»Was? Ich soll nicht gehen, wie ich gesagt habe?«

»Nein, Lady Dedlock«, antwortet er sehr ruhig.

»Wissen Sie denn nicht, welche Erleichterung für alle mein Verschwinden sein wird? Haben Sie denn vergessen, wer der einzige Schandfleck dieses Schlosses ist?«

»Nein, Lady Dedlock, durchaus nicht.«

Ohne ihn eines weiteren Wortes zu würdigen, geht sie zu der inneren Tür und faßt die Klinke, da sagt er zu ihr, ohne Hand oder Fuß zu bewegen oder auch nur seine Stimme zu erheben:

»Lady Dedlock, haben Sie die Gewogenheit, zu bleiben und mich anzuhören, oder ich bin gezwungen, ehe Sie noch die Treppe erreichen, die Alarmglocke zu ziehen und das Haus zusammenzurufen. Und dann müßte ich vor jedem Gast und jedem Bedienten, Mann oder Frau, frei heraussprechen.«

Er hat sie bezwungen.

Sie wankt, zittert und legt die Hand verwirrt an die Stirn. Bei jeder andern wären das unwichtige Zeichen, aber wenn ein so geübtes Auge wie das Mr. Tulkinghorns nur eine Spur von Schwanken in einer solchen Frau sieht, so weiß er, woran er ist.

Er wiederholt rasch: »Haben Sie die Gewogenheit, mich anzuhören, Lady Dedlock«, und deutet nach dem Stuhl, von dem sie eben aufgestanden ist. Sie zaudert, aber er wiederholt die Handbewegung, und sie setzt sich.

»Unsre Stellung zueinander ist unerquicklicher Natur, Lady Dedlock, aber da ich sie nicht dazu gemacht habe, brauche ich mich deshalb nicht zu entschuldigen. Die Stellung, die ich Sir Leicester gegenüber einnehme, ist Ihnen so gut bekannt, daß ich Ihnen wohl längst als die für eine solche Entdeckung berufenste Person erscheinen mußte.«

Lady Dedlock heftet ihre Augen auf den Boden und blickt nicht mehr auf. »Sir, es wäre besser, ich wäre gegangen. Es wäre viel besser gewesen, Sie hätten mich nicht zurückgehalten. Ich habe nichts zu erwidern.«

»Entschuldigen Sie mich, Lady Dedlock, wenn ich Ihnen noch etwas zu bedenken geben muß.«

»Dann wünsche ich, es am Fenster zu hören. Ich kann hier nicht atmen.«

– Sein argwöhnischer Blick, wie sie ans Fenster geht, verrät einen bangen Zweifel, ob sie sich nicht mit dem Plane tragen könnte, sich hinauszustürzen und unten auf der Terrasse zu zerschmettern. Aber ein nur Sekunden dauerndes Betrachten ihrer Gestalt, wie sie, ohne sich zu stützen, am Fenster steht und hinaus auf die Sterne blickt, die tief unten am Horizonte funkeln, beruhigt ihn wieder. Er dreht sich zu ihr herum und steht jetzt ein paar Schritte hinter ihr. –

»Lady Dedlock. Ich bin noch nicht imstande gewesen, über das, was ich zu tun habe, einen richtigen Entschluß zu fassen. Ich bin mir noch nicht über das klar, was ich zunächst zu tun habe.«

– Er macht eine Pause, aber sie gibt ihm keine Antwort. –

»Verzeihen Sie, Lady Dedlock. Es ist das sehr wichtig. Schenken Sie mir auch die Ehre Ihrer Aufmerksamkeit?«

»Ich höre.«

»Ich danke Ihnen. Ich hätte es wissen können, nach dem, was ich von Ihrer Charakterstärke gesehen habe. Ich hätte die Frage nicht zu stellen brauchen, aber es ist meine Gewohnheit, das Terrain schrittweise zu prüfen. In diesem unglücklichen Fall ist lediglich Sir Leicester zu berücksichtigen.«

»Also, warum halten Sie mich dann in seinem Haus zurück?« fragt sie mit gedämpfter Stimme und ohne ihren Blick von den fernen Sternen wegzuwenden.

»Weil er zu berücksichtigen ist! Lady Dedlock, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie stolz Sir Leicester ist und wie unbedingt er sich auf Sie verläßt. Wenn der Mond vom Himmel fiele, würde ihn das nicht mehr in Erstaunen versetzen als Ihr Fall von Ihrer so hohen Stellung als seine Gattin herab.«

– Sie atmet rasch und schwer, steht aber so erhobenen Hauptes da, wie er sie jemals mitten in der größten Gesellschaft hat stehen sehen. –

»Ich erkläre Ihnen unumwunden, Lady Dedlock, daß ich leichter mit bloßen Händen den ältesten Baum auf diesem Grundstück würde haben entwurzeln können, als es mir möglich gewesen wäre, das starke Band, das Sir Leicester an Sie fesselt, zu lösen oder sein Vertrauen in Sie zu erschüttern. Und selbst jetzt, wo ich die Sache in der Hand habe, zögere ich noch. Nicht, daß er zweifeln könnte, denn das ist selbst bei ihm unmöglich, sondern weil ihn nichts auf den Schlag vorbereiten könnte.« »Meine Flucht auch nicht? Bedenken Sie es noch ein Mal!« »Ihre Flucht, Lady Dedlock, würde die Wahrheit und hundert Mal mehr als die Wahrheit weit und breit ruchbar machen. Es wäre unmöglich, den Ruf der Familie auch nur einen Tag lang zu retten. Daran ist nicht zu denken.«

– In seiner Antwort liegt eine ruhige Entschiedenheit, die keine Einwendung zuläßt. –

»Wenn ich sage, daß meine Rücksicht einzig und allein Sir Leicester gilt, so betrachte ich ihn und das Ansehen der Familie als eins. Sir Leicester und die Baronetschaft, Sir Leicester und Chesney Wold, Sir Leicester und seine Ahnen und sein Majorat«, – Mr. Tulkinghorn sagt das sehr trocken – »sind, wie ich Ihnen wohl nicht weiter zu erläutern brauche, Lady Dedlock, voneinander nicht zu trennen.«

»Und weiter?«

»Deshalb muß ich viele Punkte berücksichtigen«, fährt Mr. Tulkinghorn in seinem Alltagsstil fort. »Die Sache muß vertuscht werden, wenn es möglich ist. Und wie könnte das sein, wenn Sir Leicester darüber wahnsinnig oder krank würde? Wenn ich ihm morgen früh den Schlag beibrächte, wie könnte man sich die plötzliche Veränderung in ihm erklären? Was könnte Sie beide getrennt haben? Lady Dedlock, was Sie vorhin sagten: ‚Steht die Geschichte an den Wänden geschrieben, schreit man sie auf der Straße aus‘, alles das würde auf der Stelle eintreten. Und Sie dürfen nicht vergessen, daß es nicht bloß Sie treffen würde, die ich in dieser Sache durchaus nicht berücksichtigen kann, sondern auch Ihren Gemahl, Lady Dedlock, Ihren Gemahl!«

– Er wird klarer und deutlicher, wie er fortfährt, aber nicht ein Atom bewegter oder herzlicher. –

»Die Sache stellt sich noch unter einem andern Gesichtspunkt dar. Sir Leicester hängt an Ihnen fast bis zur Verblendung. Er könnte vielleicht nicht imstande sein, diese Verblendung zu überwinden, selbst wenn er das wüßte, was wir wissen. Ich nehme damit einen extremen Fall an, aber es könnte immerhin so sein. Wenn es so wäre, ist es besser, daß er nichts weiß. Besser für die Allgemeinheit, besser für ihn, besser für mich. Ich muß alles dies in Erwägung ziehen, und es trägt mit dazu bei, mir den Entschluß außerordentlich schwer zu machen.«

– Mylady steht immer noch da und betrachtet dieselben Sterne, ohne ein Wort zu sagen. Sie scheinen jetzt langsam zu verbleichen, und sie sieht aus, als ob ihre Kälte sie erstarren machte. –

»Die Erfahrung lehrt mich«, sagt Mr. Tulkinghorn, der unterdessen die Hände in die Tasche gesteckt hat und in seiner geschäftsmäßigen Darlegung des Falles fortfährt wie eine gefühllose Maschine, »meine Erfahrung lehrt mich, Lady Dedlock, daß die meisten Leute, die ich kenne, besser nicht geheiratet hätten. Die Ehe ist der Grund von Dreivierteilen ihrer Sorgen. So dachte ich, als Sir Leicester heiratete, und so habe ich seitdem immer gedacht. Sprechen wir nicht mehr davon. Ich muß mich jetzt von den Umständen leiten lassen. Unterdessen muß ich Sie bitten, zu schweigen, und ich werde es ebenfalls tun.«

»Ich soll also mein gegenwärtiges Leben hinschleppen und seine Qualen Tag für Tag, solange es Ihnen belieben wird, tragen?« fragt sie und wendet keinen Blick von dem fernen Horizont.

»Ja, ich fürchte, Lady Dedlock.«

»Sie meinen, es ist notwendig, daß ich so auf dem Scheiterhaufen festgebunden bleibe.«

»Ich bin überzeugt, daß das, was ich Ihnen anrate, notwendig ist.«

»Ich soll also auf dieser bunt aufgeputzten Bühne, auf der ich unter meiner Maske so lange gespielt habe, bleiben, und sie soll unter mir zusammenbrechen, wenn Sie das Signal geben!« sagt sie langsam.

»Ich werde es nicht tun, ohne Sie vorher zu benachrichtigen, Lady Dedlock. Ich werde keinen Schritt tun, ohne Sie vorher zu warnen.«

»Und wir sehen uns wie gewöhnlich?«

»Ganz so wie gewöhnlich, wenn Sie gestatten.«

– Sie legt ihm ihre Fragen fast geistesabwesend vor, als ob sie sie im Gedächtnis wiederholte oder im Schlaf hersagte. –

»Und ich muß meine Schuld verbergen, wie ich es so viele Jahre lang getan habe?«

»Wie Sie es so lange Jahre getan haben. Ich hätte es nicht gern selbst erwähnt, Lady Dedlock, aber ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihr Geheimnis Sie jetzt wohl nicht schwerer bedrücken kann als früher. Ich glaube, besser gesagt, ich weiß, wir haben einander nie ganz getraut.«

– In derselben erstarrten Weise wie früher steht sie noch eine kleine Weile tief in Gedanken versunken da und sagt:

»Bleibt heute nacht noch etwas zu besprechen übrig?«

»Nun«, entgegnet Mr. Tulkinghorn gleichmütig und reibt sich leise die Hände dabei, »ich würde allerdings gern von Ihnen hören, ob Sie meinen Anordnungen beistimmen, Lady Dedlock?«

»Sie können dessen versichert sein.«

»Gut. Und ich möchte der Klarheit wegen Sie zum Schluß noch daran erinnern, daß ich einzig und allein Sir Leicesters Gefühle und Ehre und den Ruf der Familie schone. Ich sage das, für den Fall ich bei einer gelegentlichen Mitteilung an Sir Leicester auf die Tatsache wieder zurückkommen müßte. Ich hätte mich glücklich geschätzt, auch auf Lady Dedlock Rücksicht haben nehmen zu können; leider erlaubt es der Fall nicht.«

»Oh, ich kenne Ihre Pflichttreue, Sir.«

Bisher ist Mylady, ohne sich zu rühren, in Gedanken versunken dagestanden, aber endlich bewegt sie sich und wendet sich unerschüttert in ihrer natürlichen oder erzwungnen Fassung zum Gehen. Mr. Tulkinghorn öffnet beide Türen genauso, wie er es gestern oder vor zehn Jahren getan hätte, und macht ihr seine altmodische Verbeugung, wie sie hinausgeht. Es ist nicht der Blick wie sonst, den ihm das schöne Gesicht, das jetzt in der Dunkelheit verschwindet, zuwirft, als sie ihm für seine Höflichkeit kaum merklich dankt.

Die Frau erlegt sich einen ungewöhnlichen Zwang auf, denkt er sich, als er wieder allein ist.

Er wüßte das noch genauer, wenn er sähe, wie sie in ihren Gemächern verstört, die Hände hinter dem Haupt gefaltet und wie von Schmerz krampfhaft durchzuckt, auf und ab geht; wüßte es noch genauer, wenn er sie sähe, wie sie stundenlang ohne Ermüdung und ohne Rast, verfolgt von den getreuen Schritten auf dem Geisterweg, durch die Zimmer irrt. Aber er schließt das Fenster vor der kalt werdenden Nachtluft, zieht die Vorhänge zu, geht zu Bett und schläft ein. Und wie die Sterne verlöschen und der bleiche Tag in das Turmzimmer lugt und ihn mit seiner greisenhaftesten Miene daliegen findet, da sieht er aus, als hätten der Totengräber und der Spaten schon ihren Auftrag und würden bald zu graben anfangen. Und derselbe blasse Tag sieht zu, wie im Traum Sir Leicester majestätisch dem reuigen Vaterland verzeiht, wie die Vettern verschiedne öffentliche Ämter annehmen, deren Hauptpflichten im Beziehen von Gehalt bestehen, und wie die keusche Volumnia einem häßlichen alten General mit einem Mund voll falscher Zähne, gleich einem mit Tasten übersäten Klavier, der lange die Bewunderung von Bath und der Schrecken aller andern Ortschaften ist, eine Mitgift von fünfzigtausend Pfund einbringt.

Er sieht auch in Zimmer hinein, hoch oben im Dach, und in Kammern, in Höfe und Ställe, wo bescheidenere Wünsche von Seligkeiten im Portierhäuschen und im heiligen Ehestand zwischen Hänsel und Gretel träumen. Und dann steigt die glänzende Sonne empor und zieht alles mit sich hinauf – die Hänsel und Gretel, den in der Erde verborgnen Dunst, die schlummernden Blätter und Blumen, die Tiere, die da gehen, fliegen und kriechen, den Gärtner, der den tauglänzenden Rasen kehrt und smaragdenen Samt werden läßt, wo die Walze geht, und läßt den Rauch des Küchenfeuers gerade und hoch in die dünne Morgenluft sich emporkräuseln. Endlich steigt auch das Banner über Mr. Tulkinghorns in Schlummer ruhendem Haupte empor als freudige Kunde, daß Sir Leicester und Lady Dedlock in ihrem glücklichen Heim weilen und Gastfreundschaft auf dem Schlosse in Lincolnshire geübt wird.

42. Kapitel


42. Kapitel

In Mr. Tulkinghorns Wohnung

Mr. Tulkinghorn verläßt die grünen Abhänge und breitästigen Eichen des Dedlockschen Herrschaftssitzes und vertauscht sie mit der brütenden Hitze und der staubigen Luft Londons. Die Art, wie er zwischen den beiden Orten kommt und geht, ist eines seiner undurchdringlichen Privatgeheimnisse. Er erscheint in Chesney Wold, als läge es unmittelbar neben seiner Wohnung, und taucht in seiner Kanzlei auf, als habe er Lincoln’s-Inn-Fields nie verlassen. Er zieht sich weder vor der Reise anders an, noch spricht er darüber vor- oder nachher.

Diesen Morgen schmolz er wie ein Stück Eis aus seinem Turmzimmer hinweg, genauso, wie er jetzt in der späten Abenddämmerung in sein Stadtquartier hineingefriert.

Gleich einem rauchgeschwärzten Londoner Vogel unter seinen Artgenossen, die in diesen lieblichen Gefilden hausen, wo die Schafe zu Pergament, die Ziegen zu Perücken, das Weideland zu Häcksel verarbeitet werden, zieht der vertrocknete und verwelkte Advokat, der unter den Menschen wohnt und nicht mit ihnen verkehrt und alterte, ohne je eine heitere Jugend gekannt zu haben, und so lange gewohnt gewesen ist, sein ödes Nest in Höhlen und Winkeln des menschlichen Gemütes aufzuschlagen, daß er die geräumigeren und besseren Regionen darüber ganz vergessen hat, gemächlich in seinem Hause ein. In dem Brutofen, den das glühende Pflaster und die heißen Gebäude bilden, hat es ihm die Kehle mehr als gewöhnlich ausgedörrt, und er denkt durstig an seinen milden, ein halbes Jahrhundert alten Portwein.

Der Laternenmann klimmt auf Mr. Tulkinghorns Häuserseite der Inn-Fields, wo dieser Oberpriester adliger Geheimnisse jetzt in seinen düstern stillen Hof tritt, die Leiter auf und ab.

Der Advokat geht gerade die Türstufen hinauf, um in seine dämmrig dunkle Halle zu gehen, als er auf der obersten Stufe einem sich verbeugenden, lächelnden kleinen Mann begegnet.

»Sind Sie es, Snagsby?«

»Ja, Sir. Ich hoffe, Sie befinden sich wohl, Sir? Ich hatte eben die Hoffnung aufgegeben, Sir, Sie zu treffen, und wollte nach Hause gehen.«

»So? Was gibt’s? Was wünschen Sie von mir?«

»Ach, Sir«, sagt Mr. Snagsby und hält vor lauter Ehrerbietung vor seinem besten Kunden den Hut neben dem Kopf. »Ich hätte gern ein Wort mit Ihnen gesprochen, Sir.«

»Kann es hier geschehen?«

»O gewiß, Sir.«

»Also sprechen Sie.« Der Advokat dreht sich um, legt die Arme auf das eiserne Treppengeländer und sieht dem Laternenmann unten zu, wie er die Lichter im Hof anzündet.

»Es handelt sich«, beginnt Mr. Snagsby in geheimnisvollem, leisem Ton, »es handelt sich – um nicht durch die Blume zu sprechen – um die Fremde.«

Mr. Tulkinghorn sieht ihn erstaunt an. »Was für eine Fremde?«

»Die fremde Frauensperson, Sir. Französin, wenn ich nicht irre. Ich meinerseits kenne ihre Sprache nicht, aber ich möchte nach ihrem Wesen und ihrem Aussehen meinen, es sei eine Französin. Jedenfalls ist sie eine Ausländerin. Die oben im Zimmer war, Sir, als Mr. Bucket und ich an jenem Abend die Ehre hatten, Ihnen mit dem Gassenkehrerjungen unsre Aufwartung zu machen.«

»Ja, so, Mademoiselle Hortense.«

»So. Hm. Heißt sie so, Sir?« Mr. Snagsby hüstelt seinen Unterwürfigkeitshusten hinter dem Hut. »Mir sind im allgemeinen Namen von Ausländern nicht allzu geläufig, aber ich bezweifle durchaus nicht, daß man die Worte so ausspricht.« Mr. Snagsby scheint diese Antwort mit einem verzweifelten Ansatz, den Namen nachzusprechen, begonnen zu haben, aber bei näherer Überlegung beschränkt er sich lieber auf das Hüsteln.

»Und was haben Sie mir in bezug auf sie zu sagen, Snagsby?« fragt Mr. Tulkinghorn.

»Ja, sehen Sie, Sir«, antwortet der Papierhändler bescheiden in seinen Hut hinein, »es trifft mich etwas hart. Mein häusliches Glück ist sehr groß – wenigstens immerhin so groß, als es die Umstände erlauben –, aber meine kleine Frau neigt ein wenig zur Eifersucht. Um nicht durch die Blume zu sprechen, sie ist sogar außerordentlich eifersüchtig. Und sehen Sie, da kommt nun ein ausländisches Frauenzimmer von noblem Aussehen in den Laden herein, treibt sich in Cook’s Court herum – ich wäre gewiß der letzte, einen starken Ausdruck zu gebrauchen, wenn ich es vermeiden könnte –, aber sie treibt sich wirklich im Hof herum – wissen Sie –, aber sagen Sie selbst, ist es nicht so? Ich bin im voraus ganz Ihrer Meinung, Sir.«

– Nachdem Mr. Snagsby das in einer sehr kläglichen Weise vorgebracht hat, läßt er eine Art Gemeinplatzhusten hören, um alle etwa noch leergelassnen Lücken in seiner Schilderung damit auszufüllen. –

»Nun, und was wünschen Sie denn eigentlich?« fragt Mr. Tulkinghorn.

»Das ist es ja eben, Sir. Ich war überzeugt, Sie würden es selbst mitempfinden und meine Gefühle entschuldigen, wenn Sie die bekannte Reizbarkeit meiner kleinen Frau bedenken wollten. Sehen Sie, die ausländische Frauensperson – deren Namen Sie soeben nannten –schnappte an jenem Abend das Wort Snagsby auf – denn sie faßt ungewöhnlich rasch auf – und forschte weiter nach, erfuhr meine Adresse und platzte zum Mittagessen herein. Nun, wissen Sie, ist Guster, unser Mädchen, sehr furchtsam und überdies Krämpfen unterworfen, und richtig bekommt sie beim Anblick der ausländischen Person und infolge der höhnischen Manier, mit der sie spricht und sie sehr erschreckt, ihre Anfälle und stürzt die Küchentreppe hinab. Zum Glück war meine Frau damit beschäftigt, sie wieder zum Leben zurückzubringen, und außer mir weilte niemand im Laden. Die Ausländerin sagte mir, da sich Mr. Tulkinghorn beständig vor ihr verleugnen ließe, wollte sie sich solange das Vergnügen machen, in meinen Laden zu kommen, bis sie vorgelassen würde… Seit dieser Zeit hat sie sich unablässig in Cook’s Court herumgetrieben«, wiederholt Mr. Snagsby mit rührendem Nachdruck. »Die Folgen dieses Benehmens sind nicht auszudenken. Es würde mich nicht wundern, wenn es selbst in den Köpfen der Nachbarn, von meiner kleinen Frau gar nicht zu reden, bereits zu den peinlichsten Mißverständnissen Anlaß gegeben hätte. Und ich habe doch, der Himmel weiß es, nie im Leben von einem ausländischen Frauenzimmer auch nur geträumt, außer höchstens als Kind in Verbindung mit einem Bund Ruten oder einem Sack Nüsse. Das versichere ich Ihnen, Sir.«

Mr. Tulkinghorn hat das Herzeleid des Papierhändlers mit ernstem Gesicht bis zu Ende angehört und fragt jetzt: »Nun, und das ist alles, Snagsby?«

»Gewiß, Sir, das ist alles.« Mr. Snagsby fügt ein Hüsteln hinzu, das deutlich sagen soll: Ich dächte wirklich, daß das für meine Verhältnisse gerade genug ist.

»Ich weiß wirklich nicht, was Mademoiselle Hortense verlangen oder wollen mag, sie müßte denn verrückt geworden sein«, sagt der Advokat.

»Aber auch für diesen Fall, Sir«, fällt Mr. Snagsby ein, »wäre es kein großer Trost, fürchten zu müssen, eines Tages eine ausländische Waffe in Gestalt eines fremdländischen Dolches im Herzen seiner Familie stecken zu sehen.«

»Nein«, gibt Mr. Tulkinghorn zu. »Gut, gut! Dem soll ein Ende gemacht werden. Es tut mir leid, daß Sie Ungelegenheiten deswegen gehabt haben. Wenn sie wieder kommt, schicken Sie sie zu mir.«

Mit vielen Bücklingen und einem kurzen um Verzeihung bittenden Hüsteln empfiehlt sich Mr. Snagsby erleichterten Herzens. Mr. Tulkinghorn geht die Treppe hinauf und murmelt vor sich hin: »Ob nicht diese Weiber geschaffen sind, auf der ganzen Welt den Frieden zu stören. Ich habe noch nicht genug mit der Herrin zu tun, da kommt mir noch die Kammerzofe in die Quere! Aber mit dieser Dirne will ich mich wenigstens kurz fassen.«

Mit diesen Worten sperrt er seine Türe auf, tastet sich seinen Weg in das dunkle Zimmer, zündet seine Kerzen an und blickt um sich. Es ist zu dunkel, um viel von der Allegorie an der Decke zu sehen, aber der aufdringliche Römer, der beständig aus den Wolken fällt und mit dem Finger nach abwärts deutet, ist unentwegt in dieser Beschäftigung tätig. Mr. Tulkinghorn schenkt ihm weiter keine Aufmerksamkeit, zieht einen kleinen Schlüssel aus der Tasche, öffnet damit eine kleine Schublade, in der wieder ein Schlüssel liegt. Dieser erst paßt zu dem Kästchen, in dem der Schlüssel liegt, der den Aufenthaltsort des Kellerschlüssels aufsperrt.

Mit dem Licht in der Hand geht Mr. Tulkinghorn, in der Absicht, in die Regionen des Portweins hinabzusteigen, zur Türe, da klopft es.

»Wer ist da? – Aha, Mistreß. Sie sind es. Sie kommen mir gerade recht. Ich habe eben von Ihnen gehört. Nun! Was wollen Sie?« Er stellt das Licht auf den Kamin im Wartezimmer und klopft sich die dürre Wange mit dem Schlüssel, wie er Mademoiselle Hortense so bewillkommt.

Die katzenhafte Zofe mit ihren schmalen Lippen schließt, den Advokaten aus den Augenwinkeln ansehend, geräuschlos die Tür.

»Ich habe große Mühe gehabt, Sie zu finden, Sir«, sagt sie mit französischem Akzent. »So. Ich bin sehr oft hier gewesen, Sir. Immer hat es geheißen, er nicht zu Haus, er beschäftigt, er dies und das, er nicht bei sich.«

»Stimmt schon.«

»Stimmt nicht. Lügen!«

– Manchmal kann in Mademoiselle Hortenses Wesen etwas Rasches sein, das einem plötzlichen Sprung beängstigend ähnlich sieht. Der, den es angeht, pflegt in solchen Augenblicken unwillkürlich zu erschrecken und zurückzubeben. So geht es gegenwärtig Mr. Tulkinghorn, obgleich Mademoiselle Hortense mit fast geschlossnen Augen ruhig dasteht und nur verachtungsvoll lächelt. –

»Nun, Mistreß«, sagt der Advokat und klopft mit dem Schlüssel ungeduldig auf das Kaminsims, »wenn Sie etwas zu sagen haben, genieren Sie sich nicht.«

»Sir, Sie aben mich behandelt nicht gut. Sie sind gewesen gemein und schäbig.«

»Gemein und schäbig, oho!« Mr. Tulkinghorn reibt sich mit dem Schlüssel die Nase.

»Ja. Was ist es sonst? Sie aben mich drangekriegt – mich gefangen, um sich zu verschaffen Information. Sie mich haben lassen anziehen das Kleid, das Mylady muß getragen haben diesen Abend, haben mich gebeten, zu kommen ier und zu sehen den Knaben… Sprechen Sie!« Mademoiselle Hortense macht wieder einen Sprung.

»Zänkische Bestie!« scheint sich Mr. Tulkinghorn zu denken, wie er sie mißtrauisch mustert. Dann gibt er zur Antwort: »Gut, Dirne. Habe ich Sie denn nicht bezahlt?«

»Sie, mich bezahlt«, wiederholt sie verächtlich voller Wut. »Zwei Sovereign. Ich habe sie nicht gewechselt. Ich ver-achte sie, ich wer-fe sie von mir, ich will sie nicht.«

Sie nimmt die Goldstücke bei diesen Worten aus ihrem Busen und wirft sie mit solcher Gewalt auf den Fußboden, daß sie klingend wieder in die Höhe springen, dann in die Ecke kollern und sich dort langsam klirrend beruhigen.

»Nun!« sagt Mademoiselle Hortense und schließt ihre großen Augen wieder halb. »Sie mich aben bezahlt? Mon dieu, o ja?«

Mr. Tulkinghorn kratzt sich amüsiert mit dem Schlüssel den Kopf und lächelt sarkastisch dabei.

»Sie müssen reich sein, meine schöne Freundin«, bemerkt er gleichmütig, »wenn Sie Geld auf diese Weise wegwerfen können.«

»Ich bin reich. Ich bin reich an Haß. Ich hasse Mylady aus tiefster Seele. Sie wissen das.«

»Wissen? Woher soll ich es wissen?«

»Weil Sie es gewußt aben ganz gut, ehe Sie mich baten, Ihnen zu geben diese Information. Weil Sie aben gewußt ganz gut, daß ich war voll Zorrn.«

Mademoiselle scheint das »r« nicht wütend genug schnarren zu können, trotzdem sie schon energisch genug beide Hände ballt und mit den Zähnen knirscht.

»So! Wußte ich es? Wirklich?« sagt Mr. Tulkinghorn und besieht sich den Bart des Schlüssels.

»Ja, gewiß. Ich bin nicht blind. Sie haben mich umgarnt, weil Sie das wußten. Sie hatten recht. Ich verabscheue sie.« Mademoiselle Hortense verschränkt ihre Arme und wirft ihm ihre Bemerkung über die Schulter hin zu.

»Haben Sie außerdem noch etwas zu sagen, Mademoiselle?«

»Ich abe noch keine Stellung. Verschaffen Sie mir eine gute Stellung. Wenn Sie das nicht können oder nicht wollen, stellen Sie mich an, sie zu verfolgen, sie in Schmach und Schande zu hetzen. Ich will Ihnen helfen gut und mit gutem Willen. Sie wollen das doch. Glauben Sie, ich weiß es nicht?«

»Sie scheinen überhaupt sehr viel zu wissen«, entgegnet Mr. Tulkinghorn.

»Weiß ich nicht viel? Bin ich etwa so dumm, zu glauben, wie ein Kind, daß ich bin hierhergekommen in dem Kleid, um den Knaben zu sehen, nur wegen einer kleinen Wette? Mon dieu, o ja.«

– Anfangs hat Mademoiselle, ironisch höflich, liebenswürdig gesprochen, dann ist sie plötzlich zum bittersten Hohn übergegangen, und ihre schwarzen Augen, eben noch fast ganz geschlossen, sind jetzt weit aufgerissen. –

»Wollen mal sehen, wie die Sachen stehen«, sagt Mr. Tulkinghorn, klopft sich mit dem Schlüssel an das Kinn und macht ein höchst gleichmütiges Gesicht.

»Ja! Wollen mal sehen«, stimmt Mademoiselle mit lebhaftem und zornigem Kopfnicken ein.

»Sie kommen zu mir mit dem merkwürdig bescheidnen Verlangen, das Sie eben ausgesprochen haben, und wollen wahrscheinlich, wenn ich Ihnen nicht willfahre, wiederkommen?«

»Wiederkommen«, bestätigt Mademoiselle und nickt abermals zornig. »Und wieder. Und immer wieder. Und immer und immer wieder, ja, ewig.«

»Und nicht nur hierher wollen Sie kommen, sondern auch, wenn das keinen Erfolg hat, zu Mr. Snagsby? Immer und immer wieder?«

»Immer wieder«, knirscht Mademoiselle verbissen. »Und immer wieder. Und immer wieder.«

»Sehr gut. Jetzt, Mademoiselle Hortense, möchte ich Ihnen empfehlen, das Licht zu nehmen und Ihr Geld aufzulesen. Wenn ich nicht irre, liegt es hinter dem Pult des Schreibers dort in der Ecke.«

Sie schleudert ihm nur über die Schulter eine Lache ins Gesicht und bleibt, die Arme verschränkt, unbeweglich stehen.

»Sie wollen nicht?«

»Nein, ich will nicht.«

»Nun, dann sind Sie um zwei Sovereigns ärmer und ich um diese Summe reicher. Sehen Sie einmal, Mistreß, das ist der Schlüssel zu meinem Weinkeller. Ein hübsch großer Schlüssel, aber die Schlüssel von den Gefängnissen sind noch größer. In dieser Stadt gibt es Zwangsanstalten mit Tretmühlen – auch für Frauen –, deren Kerkertüren sehr dick und schwer sind, und wahrscheinlich auch die Schlüssel. Ich fürchte, einer Dame von Ihrem Temperament und Ihrer Lebhaftigkeit würde es kaum angenehm sein, sich von einem solchen Schlüssel auch nur ein paar Stunden einsperren zu lassen. Was meinen Sie dazu?«

»Ich meine«, entgegnet Mademoiselle, ohne sich zu rühren, in einem klaren verbindlichen Ton, »daß Sie sind – ein elender Schuft.«

»Schon möglich!« Mr. Tulkinghorn schneuzt sich ruhig. »Aber ich frage nicht, was Sie von mir denken, sondern was Sie vom Gefängnis halten.«

»Nichts. Was geht es mich an!«

»Nun, es geht Sie insoweit an, Mistreß«, sagt der Advokat, steckt langsam das Taschentuch ein und zupft sich den Busenstreif zurecht, »daß das Gesetz hierzulande so ungeniert ist, sich energisch einzumischen, um unsere guten englischen Bürger gegen ungebetne Besuche, selbst wenn sie von Damen kommen, zu schützen. Wenn sich jemand beschwert, daß ihn ein solcher Besuch belästigt, so nimmt das Gesetz die betreffende Dame beim Kragen und steckt sie hinter Schloß und Riegel. Ja, es dreht sogar den Schlüssel hinter ihr um, Mistreß.« Mr. Tulkinghorn macht mit dem Kellerschlüssel die entsprechende Bewegung.

»Nein, wirklich?« höhnt Mademoiselle in demselben verbindlichen Ton. »Wie drollig! Aber – meiner Treu – was geht das mich an!«

»Meine schöne Freundin«, sagt Mr. Tulkinghorn, »kommen Sie nur noch einmal hierher oder zu Mr. Snagsby, und Sie werden es erfahren.«

»Dann würden Sie mich vielleicht ins Gefängnis schicken?«

»Vielleicht.«

Mademoiselle macht Miene, mit schäumendem Mund tigerhaft die Zähne zu fletschen, bezwingt sich aber, denn es hätte nicht zu ihrer scherzhaften Stimmung gepaßt.

»Kurz und gut, Mistreß«, sagt Mr. Tulkinghorn, »es würde mir leid tun, unhöflich sein zu müssen, aber wenn Sie noch ein Mal uneingeladen hierher kommen oder zu Mr. Snagsby, übergebe ich Sie der Polizei. Sie ist sonst sehr galant gegen Damen, aber lästig fallende Personen läßt sie auf eine gewisse unangenehme Weise, auf ein Brett geschnallt, durch die Straßen tragen, mein Dämchen.«

»Ich werde Sie beim Wort nehmen«, flüstert Mademoiselle und streckt ihre Hand ganz seltsam aus. »Ich will sehen, ob Sie es wagen.«

»Und wenn ich Ihnen diese gute Stelle im Kerker einmal verschafft habe«, fährt der Advokat gelassen fort, »wird es einige Zeit dauern, ehe ich Sie wieder in Freiheit sehen darf.«

»Ich werde Sie auf die Probe stellen«, wiederholt Mademoiselle mit ihrem früheren Flüstern.

»Und jetzt«, fährt der Advokat fort, immer noch ohne sie zu beachten, »täten Sie am besten, Sie gingen. Überlegen Sie es sich zwei Mal.«

»Und überlegen Sie sich zweihundert mal zwei Mal Ihren Schritt«, gibt sie zur Antwort.

»Sie wissen, Ihre Herrin hat Sie entlassen, weil Sie so unduldsam und unlenkbar wie nur möglich waren«, bemerkt Mr. Tulkinghorn, während er sie hinausbegleitet. »Schlagen Sie jetzt ein andres Blatt auf und seien Sie gewarnt. Was ich sage, das meine ich auch. Und was ich drohe, das tue ich, Mistreß.«

Sie geht die Treppe hinunter, ohne ein Wort zu erwidern oder sich umzusehen. Als sie fort ist, geht auch er hinunter und kehrt mit einer bestaubten, bespinnwebten Flasche zurück und setzt sich hin, um in aller Muße seinen Portwein zu schlürfen.

Dann und wann, wenn er sich im Stuhl zurücklehnt, fällt ihm der mit hartnäckiger Ausdauer auf ihn weisende Römer an der Decke in die Augen.

43. Kapitel


43. Kapitel

Esthers Erzählung

Es gehört nicht hierher, wie oft ich an meine Mutter dachte, die mich gebeten hatte, ihrer wie einer Toten zu gedenken. Ich durfte nicht wagen, mich ihr zu nähern oder ihr zu schreiben, denn ich mußte fürchten, die Gefahr, in der sie beständig schwebte, dadurch nur noch zu vermehren. Mir stets bewußt, daß mein bloßes Dasein für sie eine ungeahnte Gefahr auf ihrer Lebensbahn bedeutete, konnte ich mich manchmal kaum erwehren, wieder von dem Entsetzen befallen zu werden, das mich damals das erste Mal ergriffen hatte, als ich von ihr das Geheimnis erfuhr. Niemals getraute ich mich, ihren Namen auszusprechen. Es war mir, als dürfte ich nicht einmal wagen, ihn nennen zu hören. Wenn das Gespräch gelegentlich in meiner Gegenwart auf sie kommen zu wollen schien, zwang ich mich, so gut es ging, nicht hinzuhören, oder ich zählte oder sagte innerlich etwas her oder verließ das Zimmer.

Wie oft rief ich mir die Stimme meiner Mutter ins Gedächtnis zurück und grübelte darüber nach, ob ich sie jemals wieder hören würde. Ich sehnte mich so nach ihr und mußte daran denken, wie seltsam und traurig es war, daß sie mir so neu und fremd klang.

Es kommt jetzt wenig darauf an, daß ich oftmals an der Tür ihres Hauses in der Stadt vorüberging und sie so gern angesehen hätte und mich davor fürchtete –, daß ich einmal im Theater war, als sich auch meine Mutter darin befand und mich sah und wir so weit getrennt waren – in jeder Hinsicht –, daß mir die Möglichkeit, zwischen uns könne überhaupt ein Band existieren, wie ein Traum erschien. Es ist jetzt doch alles, alles vorüber.

Mein Lebensweg ist so mit Freude und Segen bestreut gewesen, daß ich nur wenig von mir berichten kann, was nicht von der Güte und dem Edelmut andrer Zeugnis ablegte. So kann ich recht gut mein Leid übergehen und fortfahren.

Als wir uns wieder zu Hause eingewöhnt hatten, sprachen Ada und ich oft und viel mit meinem Vormund über Richard. Meinen Liebling schmerzte es tief, daß er meinem Vormund so unrecht tat, aber sie hielt so treu zu Richard, daß sie trotzdem kein tadelndes Wort über ihn hätte ertragen können. Mein Vormund wußte das recht gut und verband seinen Namen nie mit einem Wort des Vorwurfs.

»Rick ist nur im Irrtum, liebes Kind«, pflegte er immer wieder zu ihr zu sagen. »Nun, wir alle haben schon oft geirrt. Wir müssen seine Belehrung dir und der Zeit überlassen.«

Wir erfuhren später, was wir damals nur argwöhnten. Mr. Jarndyce tat alles mögliche, um Richard die Augen zu öffnen, schrieb an ihn, war zu ihm gegangen, um ihm zuzureden und es mit allen Mitteln zu probieren, die nur sein gutes Herz hätte ersinnen können. Aber unser armer Richard war für alles taub und blind. Wenn er unrecht hätte, sagte er, wollte er sein Unrecht wieder gut machen, sobald der Kanzleigerichtsprozeß vorüber sei. Wenn er im Dunkeln tappen müsse, so wolle er eben sein möglichstes tun, um die verfinsternden Wolken zu zerstreuen. Im Argwohn und im Mißverstehen andrer lägen die Fehler des Prozesses? Gut, dann solle man den Prozeß zu Ende führen, schon der Wahrheit wegen. So lautete stets seine Antwort. Jarndyce kontra Jarndyce« hatte ihn so gefangen genommen, daß es unmöglich war, ihm irgend etwas plausibel zu machen. Aus allem drehte er sich einen neuen Strick zugunsten dessen, was er sich ausgeklügelt hatte.

»Je mehr man dem armen Jungen Vorstellungen macht, desto mehr schadet man ihm«, sagte einmal mein Vormund zu mir. »Es ist vielleicht das Beste, man überläßt ihn sich selbst.«

Ich benutzte einmal eine Gelegenheit, meinen Zweifeln Ausdruck zu geben, ob Mr. Skimpole ein guter Ratgeber für Richard sei.

»Ratgeber?« lachte mein Vormund. »Aber, liebe Esther, wem würde es einfallen, sich von Skimpole einen Rat geben zu lassen!«

»Anstifter wäre vielleicht das bessre Wort«, sagte ich.

»Anstifter, Esther? Wer könnte sich denn von Mr. Skimpole zu irgend etwas aufmuntern oder anstiften lassen?«

»Nicht Richard?«

»Nein. Ein so unweltlich gesinntes, unberechnendes und immer in Wolken schwebendes Geschöpf kann ihm vielleicht ein Spaß oder zu Zeiten ein Trost sein. Von einem Kind wie Skimpole kann man nicht annehmen, daß er irgend jemand aufmuntere, anstifte oder irgend etwas überhaupt ernst nähme.«

»Bitte, Vetter John«, fragte Ada, die eben hereingetreten war und jetzt über meine Schulter blickte, »was hat ihn denn eigentlich zu einem solchen Kind gemacht?«

»Was ihn zu einem solchen Kind gemacht hat?« Mein Vormund rieb sich ein wenig ratlos den Kopf.

»Ja, Vetter John.«

»Nun«, antwortete langsam und zögernd Mr. Jarndyce und fuhr sich durch die Haare, »er ist ganz Gefühl und – Empfänglichkeit und – Sensibilität – und – und Einbildungskraft. Alle diese Eigenschaften sind bei ihm, ich weiß nicht, wieso, nicht gehörig geregelt. Ich vermute, die Leute, die ihn deswegen in seiner Jugend vielleicht bewunderten, haben auf sie zuviel Wert gelegt und zuwenig auf ihre Erziehung. Und so ist er schließlich zu dem geworden, was er ist. Wie?« Mein Vormund brach kurz ab und sah uns erwartungsvoll an. »Was haltet ihr beide davon?«

Ada warf mir einen Blick zu und meinte, es sei jedenfalls bedauerlich, daß er Richard soviel Geld koste.

»Das ist richtig. Das ist richtig«, fiel mein Vormund hastig ein. »Das darf nicht sein. Das muß anders werden. Das darf ich nicht dulden. Das geht durchaus nicht.«

Ich sagte, ich hielte es für beklagenswert, daß Mr. Skimpole wegen eines Geschenkes von fünf Pfund Richard überhaupt bei Mr. Vholes eingeführt habe.

»So? Tat er das?« Ein Schatten des Verdrusses flog rasch über das Gesicht meines Vormundes. »Da habt ihr ihn wieder. Das sieht ihm ähnlich. Bei ihm liegt darin aber trotzdem nicht die mindeste Habgier. Er hat einfach keinen Begriff von dem Werte des Geldes. Er führt Rick ein, und dann wird er gut Freund mit Mr. Vholes und borgt sich von ihm fünf Pfund. Er denkt sich nicht das geringste dabei. Ich möchte wetten, er hat es dir selbst gesagt, liebes Kind.«

»Allerdings.«

»Na also!« rief mein Vormund triumphierend. »Da haben wir’s wieder. Wenn er etwas Unrechtes damit beabsichtigt hätte, würde er dir doch nicht selbst alles erzählt haben. Er spricht so, wie er handelt, in reiner kindlicher Einfalt. Aber ihr müßt ihn einmal in seiner Wohnung sehen. Dann werdet ihr ihn besser verstehen. Wir müssen ihm einen Besuch machen und ihm wegen des erwähnten Punktes Vorstellungen machen. Ja, ja, meine Lieben, er ist ein Kind, ein reines Kind.«

So kam es, daß wir uns wenige Tage später in London befanden und bald vor Mr. Skimpoles Türe standen. Seine Wohnung lag im sogenannten Polygon in Somerstown, wo sich damals viele arme spanische Flüchtlinge aufhielten und, in Mäntel gehüllt, kleine Papierzigarren rauchend, umherschlenderten. Ob er ein besserer Mieter war, als man hätte annehmen sollen, oder weil Freund »Jemand« zuletzt immer doch den Zins bezahlte, oder ob sein Mangel an Geschäftssinn seine endgültige Entfernung aus dem Logis vielleicht schwierig gestaltete, weiß ich nicht, jedenfalls bewohnte er das Haus schon seit mehreren Jahren.

Es war in einer Weise verfallen, die unsern Erwartungen ganz entsprach. Zwei oder drei Vorgartengitter fehlten ganz, das Wasserfaß war zerbrochen, der Klopfer locker, der Klingelgriff, nach dem verrosteten Zustand des Drahtes zu urteilen, längst abgerissen, und nur schmutzige Fußtapfen auf der Treppe verrieten, daß es überhaupt bewohnt war.

Ein schlampiges üppiges Mädchen, das aus den geplatzten Nähten ihres Kleides und den Rissen in ihren Schuhen wie eine überreife Beere herauszuquellen schien, öffnete auf unser Klopfen die Tür ein wenig und versperrte die Öffnung mit ihrem Körper. Als sie Mr. Jarndyce erkannte – Ada und mir schwante es, als ob er mit ihrer monatlichen Entlohnung in einer gewissen Verbindung stünde –, schwand sofort ihre Besorgnis, und sie ließ uns eintreten.

Da das Schloß verdorben war, machte sie die Türe mit einer Kette zu, die ebenfalls nicht besonders gut erhalten war, und fragte uns, ob wir wirklich hinaufgehen wollten.

Wir stiegen in den ersten Stock, und das einzige Zeichen von Bewohntsein bildeten immer noch die schmutzigen Fußstapfen. Ohne weitere Zeremonie trat Mr. Jarndyce in ein Zimmer, und wir folgten. Es war arg verräuchert und keineswegs sauber, aber möbliert in einer wunderlichen Art von schäbigem Luxus. Ich sah einen großen Fußschemel, ein Sofa, eine Menge von Polstern, einen Lehnstuhl, wieder mit einem Überfluß von Kissen, ein Piano, Bücher, Zeichenmappen, Musikalien, Zeitungen, einige Skizzen und Gemälde. Eine zerbrochne Glasscheibe in einem der schmutzigen Fenster war mit Papier und Oblaten verklebt, aber auf dem Tisch standen ein Teller mit Treibhauspfirsichen, einer mit Trauben und ein dritter mit Kuchen. Eine Flasche mit leichtem Wein daneben. Mr. Skimpole selbst ruhte im Schlafrock auf dem Sofa, schlürfte duftenden Kaffee aus einer alten Porzellantasse, obwohl es ungefähr Mittag war, und betrachtete eine Sammlung Mauerblumen auf dem Balkon.

– Unser Kommen brachte ihn nicht im mindesten außer Fassung. Er stand auf und empfing uns in seiner gewohnten unbefangnen Weise. –

»Hier lebe ich, wie Sie sehen«, sagte er, als wir uns – nicht ohne Schwierigkeit, denn der größte Teil der Stühle war zerbrochen – gesetzt hatten. »Hier ist mein Heim. Dies ist mein frugales Frühstück. Manche Leute bestehen auf Rinds- und Hammelkeule zum Frühstück. Ich nicht. Wenn ich meine Pfirsiche, meine Tasse Kaffee und meinen Claret habe, bin ich zufrieden. Ich genieße sie nicht ihrer Geschmacksvorzüge wegen, sondern nur, weil sie mich an die Sonne erinnern. In Rinds- und Hammelkeulen liegt nichts Sonnenhaftes. Reiner tierischer Genuß.«

»Das ist das Sprechzimmer unsres Freundes, das heißt, wenn er praktizierte, würde es das sein – sein Allerheiligstes –, sein Studierzimmer«, erklärte uns mein Vormund.

»Ja«, sagte Mr. Skimpole und sah sich mit strahlender Miene um. »Das ist der Käfig des Vogels. Hier wohnt und singt der Vogel. Dann und wann rupfen sie ihm die Federn aus und schneiden ihm die Flügel. Aber er singt.«

Er reichte uns die Trauben hin und ergänzte in seiner strahlenden Weise: »Er singt kein anspruchsvolles Lied, aber er singt.«

»Die Trauben sind vorzüglich«, sagte mein Vormund. »Ein Geschenk, Harold?«

»Nein. Irgendein liebenswürdiger Gärtner hat sie zu verkaufen gehabt. Als ein Gehilfe sie gestern abend brachte, fragte er, ob er auf das Geld warten solle. ‚Ich dächte nicht, mein Freunds riet ich ihm, ‚wenn Ihnen Ihre Zeit etwas wert ist.‘ Und das mußte wahrscheinlich der Fall sein, denn er ging fort.«

Mein Vormund sah uns lächelnd an, als wolle er sagen: »Ist es überhaupt möglich, mit diesem Kind von praktischen Sachen zu sprechen?«

»Das ist heute ein Tag, dessen man sich hier ewig erinnern wird«, sagte Mr. Skimpole und nahm aus seinem großen Glas einen kleinen Schluck Claret. »Wir werden ihn den St. Clare und St. Summersonntag taufen. Sie müssen meine Töchter sehen. Ich habe eine blauäugige Tochter, das ist meine Schönheitstochter, dann eine Gefühlstochter und außerdem eine Komödientochter. Sie müssen sie alle sehen – Sie werden entzückt sein.«

– Er wollte sie holen gehen, aber mein Vormund hielt ihn ab und bat ihn, noch einen Augenblick zu warten, da er erst ein paar Worte mit ihm sprechen möchte. –

»Soviel Augenblicke wie Sie wollen, mein lieber Jarndyce.« Mr. Skimpole setzte sich wieder auf sein Sofa. »Auf Zeit kommt es uns hier nie an. Wir wissen nie, wie spät es ist, und kümmern uns auch nicht darum. Das ist nicht der Weg, im Leben vorwärts zu kommen, werden Sie sagen. Gewiß nicht. Wollen wir denn überhaupt im Leben vorwärtskommen? Wir beanspruchen es doch gar nicht.«

– Mein Vormund warf uns wieder einen lustigen Blick zu. –

»Nun, Harold«, fing er an, »was ich Ihnen zu sagen habe, betrifft Rick.«

»Er ist mein teuerster Freund auf der Welt«, fiel Mr. Skimpole herzlich ein. »Er soll wahrscheinlich nicht mein teuerster Freund sein, da er mit Ihnen nicht auf bestem Fuß steht? Aber er ist es nun einmal, und ich kann nichts dafür. Er ist voll jugendfrischer Poesie, und ich liebe ihn. Wenn Sie das nicht gerne sehen, so kann ich mir nicht helfen. Ich liebe ihn.«

Seine gewinnende Offenheit machte wirklich einen uneigennützigen Eindruck, entzückte meinen Vormund und jedenfalls auch Ada.

»Sie können ihn lieben, soviel Sie wollen«, versicherte Mr. Jarndyce. »Aber seine Tasche müssen wir schonen, Harold.«

»O«, sagte Mr. Skimpole, »seine Tasche? Jetzt fangen Sie schon wieder von Dingen an, die ich nicht verstehe.« Er schenkte sich wieder ein Glas Claret ein, tunkte seinen Kuchen hinein, schüttelte den Kopf und lächelte Ada und mich mit einer naiven Vorahnung, daß er uns niemals würde verstehen können, an.

»Wenn Sie in seiner Begleitung sind«, sagte mein Vormund offen heraus, »dürfen Sie ihn nicht für Sie mitbezahlen lassen.«

»Mein lieber Jarndyce«, entgegnete Mr. Skimpole, und sein durchgeistigtes Gesicht strahlte, so komisch schien ihm der Gedanke vorzukommen. »Was soll ich denn anderes tun? Wenn er mich irgendwohin mitnimmt, muß ich doch gehen. Und wie kann ich für mich bezahlen? Ich habe doch nie Geld. Und wenn ich Geld hätte, was hülfe es. Ich verstehe nichts davon. Nehmen wir an, daß ich jemanden fragte: Wieviel kostet das? Und ich bekäme zur Antwort: Sieben Schilling und sechs Pence, so ist es mir einfach unmöglich, daraus die nötigen praktischen Konsequenzen zu ziehen. Ich laufe nicht bei Geschäftsleuten herum, um sie zu fragen, was sieben Schilling und sechs Pence auf arabisch heißt. Ich verstehe es ja doch nicht. Warum soll ich dann herumlaufen, was sieben Schilling und sechs Pence in der Geldsprache heißt, die ich ebenfalls nicht verstehe.«

»Nun«, sagte mein Vormund, dem diese naive Antwort durchaus nicht mißfiel, »wenn Sie wieder einmal mit Rick reisen, müssen Sie sich das Geld von mir borgen – aber Sie dürfen es nicht verraten – und ihm das Rechnen überlassen.«

»Mein lieber Jarndyce«, beteuerte Mr. Skimpole, »ich will alles tun, was Ihnen Vergnügen macht, aber es erscheint mir als eine leere Formsache, ein Aberglauben. Außerdem gebe ich Ihnen mein Wort, Miß Clare und meine liebe Miß Summerson, ich glaubte, Mr. Carstone sei ungeheuer reich. Ich dachte, er brauchte bloß ein Papier oder einen Wechsel zu unterschreiben oder auf einen Knopf zu drücken, um einen Regen von Geld vom Himmel fallen zu lassen.«

»Das ist durchaus nicht der Fall, Sir«, sagte Ada. »Er ist arm.«

»So, wirklich?« Mr. Skimpole lächelte fröhlich. »Da staune ich wirklich.«

»Und da er überdies dadurch nicht reicher wird, daß er sich auf ein morsches Rohr stützt«, – mein Vormund legte ernst seine Hand auf den Ärmel von Mr. Skimpoles Schlafrock – »so müssen Sie sich hüten, daß Sie ihn in seinen Hoffnungen bestärken.«

»Mein lieber guter Freund«, entgegnete Mr. Skimpole, »und meine liebe Miß Summerson und meine liebe Miß Clare, wie soll ich das anfangen? Es handelt sich um Geschäfte, und ich verstehe doch nichts von Geschäften. Er bestärkt mich vielmehr. Er kommt nach großen Geschäftstaten zu mir, zeigt mir als ihr Resultat die glänzendsten Aussichten und fordert mich auf, sie mit ihm zu bewundern. Ich bewundere sie – als glänzende Aussichten –, aber mehr verstehe ich nicht davon, und ich sage ihm das auch.«

Die hilflose Aufrichtigkeit, mit der er uns das erklärte, die leichtherzige Weise, mit der er uns durch seine Unschuld ergötzte, und die phantastische Art, wie er sich selbst in Schutz nahm, verbunden mit seiner gewinnenden Unbefangenheit, bestätigten nur das Urteil meines Vormundes. Je mehr ich ihn kennenlernte, desto unwahrscheinlicher erschien es mir in seiner Anwesenheit, daß er absichtlich einen bösen Einfluß ausüben könnte. Aber desto wahrscheinlicher kam es mir vor, wenn ich nicht mit ihm beisammen war, und um so mehr quälte mich der Gedanke, er könne mit irgend jemandem, dessen Wohl mir am Herzen lag, etwas zu tun haben.

Da er jetzt vernahm, daß sein Verhör – wie er es nannte – vorüber sei, verließ er fröhlich das Zimmer, um seine Töchter zu holen – seine Söhne waren zu verschiednen Zeiten bereits davongelaufen-, und ließ meinen Vormund ganz entzückt über die Art, wie er seinen kindlichen Charakter gerechtfertigt hatte, zurück. Er kam bald wieder herein mit drei jungen Damen und Mrs. Skimpole, die früher eine Schönheit gewesen sein mußte, aber jetzt eine kränkliche hochnäsige Dame war, die an allen möglichen Krankheiten litt.

»Dies«, stellte Mr. Skimpole vor, »ist meine Schönheitstochter Arethusa, sie spielt und singt alles durcheinander wie ihr Vater. Hier meine Gefühlstochter Laura, musiziert ein wenig, singt aber nicht. Und das ist meine Komödientochter Kitty, singt ein bißchen, musiziert aber nicht. Wir zeichnen alle ein wenig und komponieren ein bißchen, und keins von uns hat einen Begriff von Zeit oder Geld.«

– Mrs. Skimpole seufzte, kam mir vor, als hätte sie recht gern auf diesen Teil der Familienfertigkeiten verzichtet. –

Mir schien auch, als ob ihr Seufzer ein wenig auf meinen Vormund gemünzt sei und sie gern jede Gelegenheit ergriffen haben würde, einen zweiten hören zu lassen.

»Es ist erfreulich«, sagte Mr. Skimpole und sah uns mit seinen munteren Augen der Reihe nach an, »und es ist komisch interessant, ererbten Eigentümlichkeiten in Familien nachzugehen. In dieser Familie sind wir alle Kinder, und ich bin das jüngste.«

– Den Töchtern, die ihn sehr lieb zu haben schienen, machte diese wunderliche Tatsache großen Spaß, besonders der Komödientochter. –

»Ist es nicht wahr, meine Lieben? So ist es, und so muß es sein, weil es, wie es im Liede von den Hunden heißt, unsre Natur ist. Hier haben wir zum Beispiel Miß Summerson, ausgestattet mit einem schönen Administrationstalent und einem wahrhaft erstaunlichen Auffassungsvermögen für Details. Es wird Miß Summersons Ohr vielleicht seltsam klingen, aber wir wissen in diesem Hause zum Beispiel nicht das mindeste von Koteletten. Wir können nicht das Geringste kochen. Nadel und Zwirn verstehen wir nicht zu gebrauchen. Wir bewundern die Leute, die das praktische Wissen besitzen, das uns abgeht, aber wir zanken uns deshalb nicht mit ihnen. Warum sollten sie sich dann mit uns zanken? Leben und leben lassen, sagen wir zu ihnen. Lebt ihr von eurer praktischen Wissenschaft und laßt uns von euch leben!«

– Er lachte und schien wie immer aufrichtig von dem, was er sagte, überzeugt zu sein. –

»Wir haben Sympathien, meine Rosen, für alles. Nicht wahr?«

»O ja, Papa!« riefen die drei Töchter.

»Das ist unser Fach. In unserm Durcheinander von Leben. Wir sind imstande, mit Interesse zuzusehen, und tun das. Was wollen wir mehr? Hier meine Schönheitstochter ist seit drei Jahren verheiratet. Ich muß gestehen, daß sie wieder ein erwachsenes Kind heiratete und zwei kleine dazu bekam, ist vielleicht in nationalökonomischer Hinsicht ein Unrecht, aber es war sehr angenehm. Wir hielten unsre kleinen Festlichkeiten bei diesen Gelegenheiten ab und tauschten soziale Ideen aus. Sie brachte eines Tages ihren Gatten nach Hause, und sie und ihre junge Brut haben ihr Nest oben. Gemüt und Komödie werden wahrscheinlich auch eines Tages ihre Gatten nach Hause bringen und ihr Nest oben bauen. So leben wir. Wir wissen nicht, wie, aber wir leben.«

Arethusa sah für eine Mutter von zwei Kindern sehr jung aus, und ich mußte sie und auch ihre Sprößlinge innerlich bemitleiden. Es war klar, daß die drei Töchter aufgewachsen waren, wie es eben gekommen war, und nicht mehr Bildung besaßen, als sich zufällig ergeben hatte, wenn sie ihrem Vater in seinen Träumereien als Spielzeug gedient hatten. Auf seinen malerischen Geschmack nahmen sie, wie ich bemerkte, in ihren verschiednen Arten, ihr Haar zu tragen, Rücksicht. Die Schönheitstochter trug das ihre klassisch, die Gemütstochter war üppig und wallend und die Komödientochter kokett und mit lebhaften kleinen Löckchen an den Augenwinkeln ihrer heiteren Stirn frisiert. Ihre Kleider waren dementsprechend, aber unsauber und sehr vernachlässigt.

Ada und ich unterhielten uns mit den jungen Damen und fanden sie ihrem Vater außerordentlich ähnlich. Mr. Jarndyce, der sich den Kopf sehr viel gerieben und von einer Veränderung der Windrichtung gesprochen hatte, unterhielt sich unterdessen mit Mrs. Skimpole in einer Ecke, und wir hörten gelegentlich Geld klimpern. Mr. Skimpole hatte sich vorher entfernt, um sich umzukleiden, denn er wollte uns später nach Hause begleiten.

»Meine Rosen«, sagte er, als er zurückkam, »pflegt mir die Mama. Sie ist angegriffen heute. Ich gehe auf ein paar Tage auf Besuch zu Mr. Jarndyce, werde die Lerchen singen hören und will mir meine fröhliche Laune bewahren. Ihr wißt, Mama hat wieder manches ausstehen müssen, und es würde wieder so kommen, wenn ich zu Hause bliebe.«

»Der schlechte Mann«, sagte die Komödientochter.

»Und gerade zu der Zeit kam er, wo er wußte, daß Papa sich neben seine Mauerblumen legen und den blauen Himmel betrachten wollte«, klagte Laura.

»Und als Heugeruch die Luft durchduftete«, fügte Arethusa hinzu.

»Es verrät einen Mangel an Poesie in dem Mann«, stimmte Mr. Skimpole gutgelaunt bei. »Es war roh. Es verriet das Fehlen der feinen Züge der Menschlichkeit. Meine Töchter haben sich nämlich sehr geärgert«, erklärte er uns, »über einen ehrlichen Mann…«

»Nicht ehrlich, Papa. Unmöglich!« protestierten alle drei.

»Über einen rauhen Burschen – eine Art zusammengerollten menschlichen Igel. Einen Bäcker hier in der Nähe, von dem wir uns ein paar Lehnstühle geborgt hatten. Wir brauchten ein paar Lehnstühle, besaßen keine und sahen uns daher natürlich nach einem Mann um, der welche hätte. Der mürrische Mensch lieh sie uns, und wir nutzten sie ab. Als sie abgenutzt waren, wollte er sie wieder zurück haben. Wir gaben sie ihm zurück. Er war befriedigt, werden Sie glauben. Durchaus nicht! Er beklagte sich darüber, daß sie abgenutzt waren. Ich machte ihm Vorstellungen und bemühte mich, ihm seinen Irrtum aufzuklären. Ich sagte: ‚Können Sie in Ihrem Alter wirklich so kurzsichtig sein, mein Freund, und behaupten, ein Lehnstuhl sei ein Ding, das man auf den Schrank stellt und ansieht? Oder ist es vielleicht ein Gegenstand zum Anschauen? Wissen Sie denn nicht, daß wir uns diese Armstühle borgten, um uns darauf zu setzen ?‘

Aber er nahm keine Vernunft an, war nicht zu überzeugen und wurde heftig. Ich blieb so ruhig, wie ich jetzt bin, und machte ihm weitere Vorstellungen. ‚Mein guter Mann‘, sagte ich, ’so verschieden auch unsere Fähigkeiten sein mögen, so sind wir doch alle Kinder einer großen Mutter, der Natur. An diesem herrlichen Sommermorgen sehen Sie mich hier auf dem Sofa liegen, mit Blumen vor mir, Früchten auf dem Tisch, den wolkenlosen Himmel über mir, die Luft voll Wohlgerüchen, versunken in die Betrachtung der Natur. Ich beschwöre Sie bei unsrer gemeinsamen Mutter, nicht zwischen mich und einen so erhabnen Anblick die lächerliche Gestalt eines zornigen Bäckers zu drängen.‘ Aber er tat es«, sagte Mr. Skimpole mit erstaunt in die Höhe gezognen Augenbrauen. »Er tat es und wird es wieder tun. Deshalb bin ich froh, ihm aus dem Wege gehen und meinen Freund Jarndyce nach Hause begleiten zu können.«

Daß Mrs. Skimpole und die Töchter zurückbleiben und es mit dem Bäcker allein würden aufnehmen müssen, schien er nicht weiter zu bedenken. Es war ihnen allen eine so alte Geschichte, daß sie es offenbar für ganz selbstverständlich hielten. Dann nahm er mit großer Zärtlichkeit, anmutig und liebenswürdig wie immer, von seiner Familie Abschied und fuhr in vollster Seelenharmonie mit uns fort. Durch einige offne Türen konnten wir, wie wir die Treppe hinuntergingen, sehen, daß sein Zimmer im Vergleich zu den übrigen Räumen des Hauses ein wahrer Palast war.

Ich ahnte nicht im entferntesten, daß noch an diesem Tage etwas mich für den Augenblick sehr Erschütterndes und mir in seiner Tragweite für immer Denkwürdiges vorfallen sollte. Unser Gast war auf dem Wege zu uns so heiterer Laune, daß ich weiter nichts tun konnte, als ihm zuzuhören und mich immer wieder über ihn zu wundern. Ada schien unter demselben Zauber zu stehen. Was meinen Vormund betraf, so war der Wind wieder vollständig umgesprungen, ehe noch eine Stunde hinter uns lag. Konnte Mr. Skimpoles Kindlichkeit in andern Dingen vielleicht auch noch so zweifelhaft sein, daß er sich über Ortsveränderungen und schönes Wetter freute wie ein Kind, –war sicher. In keiner Weise ermüdet durch die lustige Unterhaltung unterwegs, war er früher im Salon als wir, und ich hörte ihn am Piano Dutzende von Refrains von Barkarolen und deutschen und italienischen Trinkliedern singen, noch während ich mit meinen Wirtschaftsschlüsseln beschäftigt war.

Wir saßen vor dem Essen alle im Salon beisammen, und er, immer noch am Piano, schwelgte in kurzen Melodien und sprach davon, er wolle morgen Skizzen von der alten verfallnen Mauer von Verulam, die er vor ein paar Jahren angefangen und wieder liegen gelassen hatte, beenden, als man eine Karte hereinbrachte und mein Vormund mit erstauntem Ton laut las:

»Sir Leicester Dedlock!«

Das Zimmer drehte sich mit mir, und ich hatte nicht die Kraft, mich zu bewegen, sonst wäre ich rasch zu dem draußen wartenden Besuch hinausgegangen. In meinem Zustand von Schwindel hatte ich nicht einmal die Geistesgegenwart, mich an das Fenster zu Ada zurückzuziehen; konnte sie überhaupt kaum sehen. Ich hörte meinen Namen nennen und begriff, daß mich mein Vormund vorstellte, noch ehe ich mich nach einem Stuhl begeben konnte.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Sir Leicester.«

»Mr. Jarndyce«, sagte Sir Leicester mit einer Verbeugung und setzte sich, »ich erweise mir die Ehre, Sie zu besuchen…«

»Sie erweisen mir die Ehre, Sir Leicester.«

»Ich danke Ihnen. Auf… Auf meiner Reise nach Lincolnshire, Sie hier zu besuchen, um Ihnen mein Bedauern auszudrücken, daß Ursachen zur Beschwerde, die ich gegen einen Herrn habe, den Sie kennen und bei dem Sie wohnten und auf den ich daher nicht weiter anspielen werde, nicht nur Sie, sondern auch die unter Ihrer Obhut stehenden Damen verhindert haben, das Wenige zu besichtigen, was in meinem Hause in Chesney Wold einem feinen und gebildeten Geschmack gefallen kann.«

»Sie sind außerordentlich liebenswürdig, Sir Leicester. In dem Namen dieser Damen – Sie sehen sie hier –, und für mich selbst danke ich Ihnen auf das verbindlichste.«

»Wäre es möglich, Mr. Jarndyce, daß der Herr, auf den ich aus den bereits angedeuteten Gründen keine weiteren Anspielungen machen kann, wäre es möglich, Mr. Jarndyce, daß dieser Herr meinen Charakter so falsch aufgefaßt haben könnte, daß er Sie vielleicht zu dem Glauben verleitet hat, man würde Sie auf meinem Landsitz in Lincolnshire nicht mit der Höflichkeit und Courtoisie empfangen, die meinen Leuten gegenüber allen Damen und Herren, die sich mein Haus ansehen wollen, aufs strengste aufgetragen ist? Ich möchte für einen solchen Fall nur zu bemerken bitten, Sir, daß Sie des Gegenteils versichert sein dürfen.«

– Mein Vormund hörte taktvoll zu, gab aber keine Antwort. –

»Es hat mir unendlich leid getan, Mr. Jarndyce«, fuhr Sir Leicester wichtig fort, »ich versichere Ihnen, Sir, es hat – mir unendlich leid getan, von der Haushälterin in Chesney Wold haben hören zu müssen, daß auch ein Herr, der damals dort in Ihrer Gesellschaft war und einen sehr feinen Geschmack und gebildeten Kunstsinn zu besitzen scheint, sich von einer ähnlichen Ursache abhalten ließ, die Familienbilder mit der Muße der Aufmerksamkeit und der Sorgfalt, die er Ihnen vielleicht sonst zu widmen gewünscht haben würde, zu besichtigen!« Er zog bei diesen Worten eine Karte heraus und las mit großem Ernst und einiger Anstrengung durch sein Augenglas: »Mr. Hirrold – Herald – Harold –Skampling – Skumpling – Pardon – Skimpole.«

»Hier, dieser Herr ist Mr. Skimpole«, sagte mein Vormund, sichtlich überrascht.

»O«, rief Sir Leicester, »ich schätze mich glücklich, mit Mr. Skimpole zusammenzutreffen und eine Gelegenheit zu haben, ihm mein persönliches Bedauern aussprechen zu können. Ich hoffe, Sir, wenn Sie wieder in meine Gegend kommen, werden Sie sich nicht mehr durch ähnliche Beweggründe abhalten lassen.«

»Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Sir Leicester Dedlock. So ermutigt, werde ich mir gewiß nicht das Vergnügen eines abermaligen Besuchs Ihres schönen Hauses versagen. Die Besitzer solcher Schlösser wie Chesney Wold«, sagte Mr. Skimpole in seiner gewohnten fröhlichen und leichtherzigen Weise, »sind die Wohltäter des Publikums. Sie sind so gütig, eine Menge der herrlichsten Gegenstände zur Bewunderung und Freude von uns armen Leuten bereitzuhalten; und nicht alle Freuden ihres Anblicks zu genießen, hieße Undankbarkeit für unsre Wohltäter an den Tag legen.«

– Sir Leicester schien diese Worte sehr zu billigen. –

»Sie sind Künstler, Sir?«

»Nein«, antwortete Mr. Skimpole. »Ich bin ein Mann ohne jeden Beruf, ein bloßer Amateur.«

Sir Leicester schien das sogar noch mehr zu gefallen. Er hoffte, so glücklich zu sein, sagte er, in Chesney Wold anwesend zu sein, wenn Mr. Skimpole das nächste Mal nach Lincolnshire kommen werde, und Mr. Skimpole fühlte sich dadurch sehr geschmeichelt und geehrt.

»Mr. Skimpole«, fuhr Sir Leicester, wieder zu meinem Vormund gewendet, fort, »erwähnte gegen die Haushälterin, die, wie er vielleicht bemerkt hat, eine alte und treue Dienerin der Familie ist –«

»Es war, als ich mir neulich, wie ich Miß Summerson und Miß Clare besuchte –« erklärte Mr. Skimpole in seiner unbefangnen Weise.

»– daß der Freund, mit dem er früher dort gewesen, Mr. Jarndyce sei.« Sir Leicester machte meinem Vormund eine Verbeugung. »Und dadurch erfuhr ich den Umstand, wegen dessen ich mein Bedauern ausgesprochen habe. Daß es gerade einen Gentleman betraf, Mr. Jarndyce, einen Gentleman, der Lady Dedlock früher gekannt hat und sogar ihr entfernter Verwandter ist und den sie, wie ich von Mylady selbst weiß, außerordentlich hochschätzt, das, versichere ich Ihnen, tut mir ganz be–son-ders leid.«

»Bitte, sprechen Sie nicht weiter davon, Sir Leicester«, erwiderte mein Vormund. »Wir alle sind Ihnen sehr verpflichtet für Ihre Liebenswürdigkeit. In Wirklichkeit lag der Irrtum ganz auf meiner Seite, und ich sollte um Entschuldigung bitten.«

– Ich hatte nicht ein einziges Mal aufgeblickt, den Besuch nicht gesehen, und es schien mir sogar, als habe ich nicht einmal das Gespräch gehört. Es wundert mich, daß ich es mir überhaupt ins Gedächtnis zurückrufen kann, denn es schien damals an meinem Ohr spurlos vorübergegangen zu sein. Ich hörte wohl sprechen, aber der Kopf war mir so wirr, und die instinktive Scheu vor Sir Leicester Dedlock machte mir seine Anwesenheit so schmerzlich, daß ich wegen des Brausens in den Ohren und vor Herzklopfen nichts zu verstehen glaubte. –

»Ich erwähnte den Vorfall gegen Lady Dedlock«, sagte Sir Leicester aufstehend, »und Mylady erzählte mir, daß sie das Vergnügen gehabt habe, mit Mr. Jarndyce und seinen Mündeln gelegentlich eines zufälligen Zusammentreffens während ihres dortigen Aufenthalts ein paar Worte auszutauschen. Erlauben Sie mir, Mr. Jarndyce, Ihnen und Ihren Damen die Versicherung zu wiederholen, die ich bereits Mr. Skimpole gegeben habe. Verhältnisse gestatten mir allerdings nicht, zu sagen, ich würde mit Vergnügen hören, daß Mr. Boythorn mein Haus mit seinem Besuch beehrt habe, aber das bezieht sich ausschließlich auf diesen Herrn und dehnt sich auf keine andre Person aus.«

»Sie wissen, was ich von jeher von ihm gedacht habe«, sagte Mr. Skimpole leichthin, indem er sich dabei an uns wendete. »Ein liebenswürdiger Stier, der jede Farbe scharlachrot sieht.«

– Sir Leicester Dedlock hustete, als ob er um keinen Preis noch ein Wort in Bezug auf ein solches Individuum anhören könne, und verabschiedete sich sehr zeremoniell und höflich. Ich zog mich so schnell wie möglich auf mein Zimmer zurück und blieb dort, bis ich meine Fassung wiedergewonnen hatte. Sie hatte einen großen Stoß bekommen, aber ich danke Gott, daß sie nichts gemerkt hatten und mich nur wegen meines schüchternen und stummen Wesens vor dem großen Lincolnshirer Baronet neckten, als ich wieder hinunterkam. –

Ich fühlte klar, daß die Zeit gekommen war, wo ich mein Geheimnis meinem Vormund mitteilen müßte. Die Möglichkeit, mit meiner Mutter in Berührung zu kommen, ihr Haus betreten zu müssen, ja, sogar daß Mr. Skimpole, wenn er auch in noch so entfernter Beziehung zu mir stand, von ihrem Gatten Gefälligkeiten annehmen könne und werde, alles das war so peinlich, daß ich fühlte, ich könne seinen väterlichen Beistand nicht länger entbehren. Als wir uns für die Nacht zurückgezogen und Ada und ich wie gewöhnlich in unserm hübschen gemeinsamen Zimmer geplaudert hatten, suchte ich meinen Vormund wieder bei seinen Büchern auf. Ich wußte, daß er stets um diese Stunde noch las, und beim Näherkommen sah ich das Licht seiner Studierlampe auf den Korridor hinausscheinen.

»Darf ich herein, Vormund?«

»Gewiß, kleines Frauchen. Was gibt’s denn?«

»Nichts Besonderes. Ich möchte nur gern diese stille Stunde benutzen, um mit dir ein Wort über meine Angelegenheiten zu sprechen.«

Er schob mir einen Stuhl hin, legte sein Buch weg und wendete mir sein gütiges Gesicht aufmerksam zu. Es konnte mir nicht entgehen, daß es wieder denselben seltsamen Ausdruck zeigte, den ich schon einmal darauf gesehen hatte – an jenem Abend, als er gesagt, er fühle keinen Kummer, den ich so leicht verstehen könnte.

»Was dich angeht, liebe Esther, geht uns alle an«, sagte er. »Du kannst nicht mehr bereit sein zu sprechen als ich zu hören.«

»Das weiß ich, Vormund. Aber ich bedarf deines Rates und deines Beistandes wirklich dringend. Du ahnst gar nicht, wie sehr ich ihrer heute nacht bedarf.« – Mein Ernst schien ihn zu überraschen und ein wenig zu beunruhigen. – »Oder wie sehr ich mich gesehnt habe, dich zu sprechen, seit der heutige Besuch fort war.«

»Der Besuch, mein Kind? Sir Leicester Dedlock?«

»Ja.«

Er verschränkte die Arme und saß in Erwartung dessen, was ich ihm zu sagen hätte, mit einer Miene tiefsten Staunens da. Ich wußte nicht recht, wie ich ihn vorbereiten sollte.

»Unser heutiger Besuch und du, Esther«, sagte er und fing an zu lächeln, »sind wirklich die beiden letzten Personen auf der Welt, die ich miteinander hätte in Verbindung bringen können.«

»Gewiß, Vormund. Das weiß ich. Und ich dachte es auch noch bis vor ganz kurzer Zeit.«

Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht, und er wurde ernster als vorher. Er ging nach der Türe, um zu sehen, ob sie zu sei – aber ich selbst hatte es schon getan –, und nahm seinen Platz vor mir wieder ein.

»Vormund«, begann ich, »erinnerst du dich noch, damals, als uns das Gewitter überraschte, daß Lady Dedlock mit dir von ihrer Schwester sprach?«

»Natürlich, natürlich.«

»Und dich erinnerte, daß sie und ihre Schwester sich entzweit hätten und jede ihre eignen Wege gegangen wäre.«

»Natürlich.«

»Warum haben sie sich getrennt, Vormund?«

– Der Ausdruck seines Gesichtes änderte sich plötzlich. –

»Mein Kind, was sind das für Fragen! Ich habe es nie erfahren. Ich glaube, niemand, sie selbst ausgenommen, hat es je erfahren. Wer könnte sagen, welcher Art die Geheimnisse dieser beiden schönen und stolzen Frauen waren! Du hast Lady Dedlock gesehen. Hättest du nur ein einziges Mal ihre Schwester gesehen, so wüßtest du, daß sie ebenso halsstarrig und stolz war wie jene.«

»Ach, Vormund, ich habe sie viele, viele Male gesehen.«

»Sie gesehen?« Er hielt eine Weile inne und biß sich in die Lippen.

»Dann sag mir, Esther, als du vor mir vor langer Zeit von Boythorn sprachst und ich dir erzählte, er sei einmal schon so gut wie verheiratet gewesen und die Dame sei zwar nicht gestorben, aber für ihn tot, und daß diese Zeit einen großen Einfluß auf sein späteres Leben gehabt habe, wußtest du damals schon alles, oder wußtest du, wer die Dame war?«

»Nein, Vormund«, gab ich zur Antwort, voller Bangen vor dem Licht, das plötzlich in mir aufdämmerte. »Auch jetzt weiß ich es noch nicht.«

»Lady Dedlocks Schwester.«

»Und warum«, konnte ich nur mit Mühe über die Lippen bringen, »warum trennten sie sich von einander?«

»Sie bestand darauf und begrub ihre Gründe tief in ihrem unbeugsamen Herzen. Er vermutete später – aber es war eine bloße Vermutung –, irgendein Schimpf, den ihre stolze Seele gelegentlich eines Streites mit ihrer Schwester erlitten, müsse sie bis zum Wahnsinn verletzt haben. Sie schrieb ihm, daß sie von dem Tag dieses Briefes an für ihn tot sei und diesen Entschluß gefaßt habe, weil sie seinen stolzen Charakter und sein fast übertriebnes Ehrgefühl kenne und ihm darin nicht nachstehen wolle. Mit Rücksicht auf diese beiden, seine ganze Seele erfüllenden Eigenschaften und darauf, daß sie nicht um ein Haar anders sei, bringe sie das Opfer und wolle so leben und sterben. Ich fürchte, sie tat beides. Jedenfalls sah und hörte er von ihr nichts wieder seit jener Stunde. Und auch kein andrer Mensch.«

»Oh, Vormund, was habe ich getan!« rief ich aus und ließ meinem Schmerz freien Lauf. »Welches Leid habe ich unschuldigerweise verursacht!«

»Du, verursacht, Esther?«

»Ja, Vormund. Unschuldigerweise, aber ohne jeden Zweifel. Jene verschwundene Schwester Lady Dedlocks ist meine erste Erinnerung.«

»Nein, nein«, fuhr er auf.

»Ja, Vormund, ja! Und ihre Schwester ist meine Mutter!«

Ich würde ihm den ganzen Inhalt des Briefes meiner Mutter erzählt haben, aber er wollte jetzt nichts hören. Er sprach so zärtlich und klug zu mir und stellte mir alles so deutlich vor Augen, daß ich, wie sehr ich auch schon seit vielen Jahren von innigster Dankbarkeit gegen ihn durchdrungen war, ihn doch noch nie so wahrhaft geliebt und ihm in meinem Herzen so innig gedankt hatte wie diese Nacht. Er brachte mich an meine Tür, küßte mich, und als ich endlich im Bette lag, sagte ich mir, daß ich wohl kaum jemals hoffen, jemals tätig und selbstlos genug sein könnte, um ihm zu zeigen, wie hoch ich ihn hielt.

38. Kapitel


38. Kapitel

Ein Seelenkampf

Als die Zeit unsrer Rückkehr nach Bleakhaus gekommen war, hielten wir pünktlich den Tag ein und wurden mit einem überwältigenden Willkommen empfangen. Ich fühlte mich vollständig wiederhergestellt, und als ich meine Wirtschaftsschlüssel in meinem Zimmer bereitliegen fand, läutete ich mich ein mit lustigem Geklingel wie das neue Jahr. »Jetzt wieder Pflicht, Pflicht, Esther«, sagte ich zu mir. »Und wenn du nicht überfroh bist, sie in allen und jeden Verhältnissen heiter und zufrieden erfüllen zu können, so solltest du es doch sein. Weiter habe ich dir nichts zu sagen, meine Liebe.«

Die ersten paar Vormittage waren so mit Geschäften aller Art, dem Abschließen von Rechnungen, Hin- und Herlaufen zwischen Brummstübchen und allen andern Teilen des Hauses, mit so vielem Umpacken von Schränken und Kästen und einem so allgemeinen Wiedervonvornanfangen ausgefüllt, daß ich keine Minute freie Zeit hatte.

Erst als ich damit fertig und alles in Ordnung war, machte ich einen kurzen Besuch von einigen Stunden in London, wozu mich eine in dem in Chesney Wold vernichteten Briefe enthalten gewesene Äußerung bestimmte.

Ich schützte einen Besuch bei Caddy Jellyby – ihr Mädchenname war mir so zur Gewohnheit geworden, daß ich sie stets so nannte – vor und schrieb ihr ein Billett, mit der Bitte, sie möge mich auf einem kleinen Geschäftsweg begleiten. Ich brach sehr früh am Morgen auf und kam mit der Landkutsche so zeitig nach London, daß ich den ganzen Tag noch vor mir hatte, als ich nach Newmanstreet ging.

Caddy, die mich seit ihrem Hochzeitstag nicht mehr gesehen hatte, freute sich so und war so zärtlich zu mir, daß ich fast schon fürchtete, es würde ihren Mann eifersüchtig machen. Aber er benahm sich ebenso schlimm – ich meine, ebenso liebenswürdig… Kurz, es war die alte Geschichte, die alte Verschwörung, mir Liebes zu erweisen.

Der alte Mr. Turveydrop lag noch im Bett, wie ich hörte, und Caddy kochte seine Schokolade, die ihm dann ein melancholisch aussehender kleiner Junge, ein Lehrling – es war so sonderbar, ein Tanzlehrling zu sein –, hinauftragen sollte.

Ihr Schwiegervater sei ausnehmend gütig und nachsichtig, sagte mir Caddy, und sie lebten sehr glücklich zusammen. Wenn sie von einem Zusammenleben sprach, verstand sie darunter, daß der alte Herr allen Komfort und alle besseren Zimmer für sich hatte, während sie und ihr Gatte mit dem vorlieb nahmen, was übrig blieb, und in zwei Eckstuben über dem Marstall eingepfercht hausten.

»Was macht deine Mutter, Caddy?« fragte ich.

»Ich höre bloß von ihr durch Papa, liebe Esther, bekomme sie aber wenig zu Gesicht. Es freut mich, sagen zu können, daß wir gut miteinander auskommen, aber sie hält es immer noch für eine Albernheit, daß ich einen Tanzmeister geheiratet habe, und scheint fast zu fürchten, dieser Einfluß könne sich auch auf sie erstrecken und sie anstecken.«

Ich dachte mir, wenn Mrs. Jellyby ihren eignen natürlichen Verpflichtungen und Obliegenheiten nachgekommen wäre, anstatt am fernen Horizont mit einem Teleskop nach andern weit abliegenden zu suchen, würde sie sich am besten vor einer Ansteckung durch Albernheit geschützt haben. Aber selbstverständlich behielt ich diese Ansicht für mich.

»Und dein Papa, Caddy?«

»Er kommt jeden Abend zu uns und sitzt so friedlich dort in der Ecke, daß es eine wahre Lust ist, ihn zu sehen.«

Ein Blick in die Ecke zeigte mir deutlich die Spur von Mr. Jellybys Kopf an der Wand. Es war ein Trost, zu wissen, daß er einen solchen Ruheplatz dafür gefunden hatte.

»Und du, Caddy«, sagte ich, »bist gewiß immer beschäftigt, möchte ich wetten.«

»Allerdings bin ich das, meine Liebe, denn um dir ein großes Geheimnis zu verraten, ich bereite mich vor, selbst Unterricht zu geben. Princes Gesundheit ist nicht allzu gut, und ich möchte ihm gerne helfen. Mit dem Unterricht hier und den Privatschülern und Lehrlingen hat der arme Kerl wahrhaftig mehr als zuviel zu tun.«

Ich konnte mir noch immer nicht recht vorstellen, was eigentlich ein Tanzlehrling sei, und fragte Caddy, ob sie denn so viele hätten.

»Vier«, erklärte mir Caddy. »Einen hier und drei außer dem Hause. Es sind sehr gute Jungen, aber sie können es nicht lassen, zu spielen, ganz wie Kinder, wenn sie zusammenkommen, anstatt sich um den Beruf zu kümmern. Deshalb tanzt der kleine Junge, den du soeben gesehen hast, jetzt in der leeren Küche Walzer, und die andern verteilen wir im Hause, so gut es eben geht.«

»Natürlich nur, um die Tanzschritte zu lernen?« fragte ich.

»Nur um die Tanzschritte zu lernen. Auf diese Art üben sie sich viele Stunden hintereinander in den Pas. Sie tanzen in der Akademie, und in dieser Jahreszeit üben wir die Touren täglich von fünf Uhr früh an.«

»Was für ein mühseliges Leben!« rief ich aus.

»Ich versichere dir, meine Liebe«, entgegnete Caddy lächelnd, »wenn die außer Haus wohnenden Lehrlinge uns des Morgens aufklingeln – die Klingel führt in unser Zimmer, um den alten Mr. Turveydrop nicht zu stören – und ich das Fenster in die Höhe schiebe und sie mit ihren kleinen Tanzschuhen unter dem Arm auf der Torschwelle stehen sehe, kommen sie mir manchmal wie Rauchfangkehrerzwerge vor.«

Das alles stellte mir die Kunst in einem eigentümlichen Lichte dar. Caddy schwelgte in ihren Mitteilungen und malte mir heiter die Einzelheiten ihres eignen Studiums aus.

»Siehst du, meine Liebe, damit wir Geld sparen, muß ich ein wenig Piano spielen können und auch ein bißchen Violine. Daher muß ich mich auf diesen beiden Instrumenten üben, ohne dabei unser Spezialfach vernachlässigen zu dürfen. Wenn mich Ma nur halbwegs vernünftig erzogen hätte, wäre ich wenigstens ein klein wenig musikalisch geschult gewesen. So aber war der Anfang ein bißchen entmutigend, muß ich gestehen, aber ich habe ein recht gutes Gehör und bin an Plackerei gewöhnt – dafür wenigstens muß ich Ma dankbar sein –, und wo der Wille gut ist, gibt es auch überall in der Welt einen Weg. Das weißt du ja selbst, Esther.«

Mit diesen Worten setzte sich Caddy an einen kleinen Klimperkasten und rasselte wirklich fehlerlos und mit großer Lebendigkeit eine Quadrille herunter. Fröhlich und errötend stand sie dann wieder auf und sagte: »Bitte, liebe Esther, lach mich nicht aus.«

Ich hätte lieber weinen mögen, tat aber keins von beiden. Ich sprach ihr Mut zu und lobte sie von ganzem Herzen. Ich begriff, daß sie, wenn auch nur die Frau eines Tanzmeisters und in ihrem bescheidnen Ehrgeiz bestrebt, nur eine Tanzlehrerin zu werden, doch aus Liebe ein natürliches und gesundes Betätigungsfeld für ihren Fleiß und ihre Ausdauer gefunden hatte, das ebenso gut war wie eine Mission.

»Liebe Esther, du kannst dir gar nicht denken, wieviel Mut mir dein Beispiel immer gibt«, sagte Caddy fröhlich. »Ich verdanke dir, du weißt gar nicht, wieviel. Was hat sich alles in meiner kleinen Welt geändert. Erinnerst du dich noch jenes Abends, wo ich so unhöflich und tintenbekleckst war? Wer hätte damals an die Möglichkeit gedacht, daß ich Tanzunterricht erteilen würde.«

Ihr Gatte, der uns während dieser Plauderei allein gelassen hatte, kehrte jetzt zurück, bevor er die Stunde für die Lehrlinge im Tanzsaal anfing, und Caddy sagte mir, sie stünde jetzt ganz zu meiner Verfügung. Aber meine Zeit war noch nicht gekommen, wie ich ihr zu meiner Freude sagen konnte, denn es hätte mich geschmerzt, sie jetzt zu entführen. Deshalb gingen wir alle drei zu den Lehrlingen, und ich nahm mit an der Tanzstunde teil.

Die Lehrlinge waren ein wunderliches kleines Volk. Außer dem melancholisch aussehenden Jungen, den, wie ich hoffte, nicht das Alleintanzen in der Küche so trübe gestimmt hatte, waren noch zwei andre Knaben und ein schmutziges, schlampig angezognes kleines Mädchen in einem Gazekleid da. Die kleinen Jungen zogen, wenn sie nicht gerade tanzten, allerhand Bindfaden, Marmeln und Hühnerknochen aus der Tasche, hatten so schmutzige Beine und Füße wie nur möglich und schiefgetretne Absätze. Das frühreife kleine Mädchen trug einen großen altväterischen Gazehut und hatte ihre Tanzschuhe in einem alten abgenutzten Samtstrickbeutel mitgebracht. Ich fragte Caddy, was denn die Eltern der Kleinen veranlaßt habe, ihre Kinder zu einem solchen Gewerbe zu bestimmen. Caddy wußte es nicht und meinte, sie sollten später wahrscheinlich selbst Unterricht geben oder vielleicht im Theater auftreten. Die Eltern seien durchwegs unbemittelte Leute und die Mutter des melancholisch aussehenden Jungen verkaufe Ingwerbier.

Wir tanzten eine Stunde lang mit großem Ernst, und das melancholische Kind verrichtete Wunder mit seinen unteren Extremitäten. Die Tanzbegeisterung schien ihm aber nie über die Hüfte hinaufzusteigen.

Caddy beobachtete unablässig ihren Gatten und hatte sich eine natürliche Anmut und Unbefangenheit angeeignet, die in Verbindung mit ihrem hübschen Gesicht und ihrer schlanken Gestalt sie ungemein anziehend erscheinen ließen. Sie half ihm bereits im Unterrichten der Kinder, und er mischte sich selten ein, außer um seinen Teil bei den Touren zu tanzen, oder wenn er etwas Besonderes vormachen mußte. Er spielte immer die Melodie. Die Geziertheit des in Gaze gekleideten Mädchens und ihre Herablassung gegenüber den Jungen war ein Anblick für Götter. – So tanzten wir also eine geschlagne Stunde lang.

Als die Übungen vorüber waren, machte sich Caddys Gatte fertig, um außerhalb der Stadt in einer Schule Lektionen zu geben, und Caddy lief fort und zog sich an, um mit mir auszugehen.

Ich blieb unterdessen in dem Tanzsaal sitzen und betrachtete mir die Lehrlinge. Die beiden außer dem Hause wohnenden Knaben gingen die Treppe hinauf, um ihre Schuhe zu wechseln und den hier wohnenden Jungen an den Haaren zu beuteln, wie ich aus seinen lauten Einwendungen schloß. Als sie dann mit zugeknöpften Jacken und darunter gesteckten Tanzschuhen wieder zurückkamen, zogen sie aus ihren Taschen Brot und Fleischschnitten und biwakierten unter einer bemalten Lyra an der Wand. Das kleine gazebekleidete Mädchen paßte, nachdem sie ihre Sandalen in den Strickbeutel geschoben und ein Paar schiefgetretne Schuhe angezogen hatte, ihren Kopf mit einem einmaligen wilden Schütteln unter ihren großen Hut und gab mir auf meine Frage, ob sie gern tanze, zur Antwort: »Mit Jungen nicht!« band sich ihre Hutbänder unter dem Kinn fest und ging voll Verachtung nach Hause.

»Der alte Mr. Turveydrop bedauert unendlich«, sagte Caddy, als sie wiederkam, »noch nicht mit Ankleiden fertig zu sein und nicht das Vergnügen haben zu können, dich zu sehen, ehe wir gehen. Du bist nämlich sein Liebling, Esther.«

Ich versicherte, daß ich ihm sehr verbunden sei, hielt es aber nicht für notwendig, hinzuzusetzen, daß ich seinen Aufmerksamkeiten gern entsagte.

»Das Ankleiden kostet ihn viel Zeit«, sagte Caddy, »denn wie du weißt, ist er in solchen Dingen Autorität und hat seinen Ruf zu wahren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie freundlich er zu Papa ist. Er erzählt ihm immer abends von dem Prinzregenten, und ich habe noch nie Pa so interessiert zuhören sehen.«

Mr. Turveydrop seine Allüren vor Mr. Jellyby entfalten zu sehen, war ein Bild, das meine Phantasie mächtig reizte. Ich fragte Caddy, ob es ihm gelänge, ihren Vater gesprächig zu stimmen.

»Nein«, sagte Caddy. »Das könnte ich gerade nicht behaupten, aber er spricht mit Pa, und Pa bewundert ihn, hört zu und freut sich. Ich weiß natürlich, daß Papa keine Ansprüche auf vornehme Allüren machen kann, aber sie kommen vortrefflich miteinander aus. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut sie einander Gesellschaft leisten. Ich habe Papa vorher nie schnupfen sehen, aber jetzt nimmt er regelmäßig aus Mr. Turveydrops Dose eine Prise an und riecht den ganzen Abend daran, ohne sie ein einziges Mal zu schnupfen.«

Daß der alte Mr. Turveydrop in den Wechselfällen und Wandlungen des Lebens jemals dazu bestimmt gewesen war, Mr. Jellyby von Borriobula-Gha zu erlösen, erschien mir als eine der komischsten Schicksalsmerkwürdigkeiten.

»Was Peepy betrifft«, fuhr Caddy ein wenig zögernd fort, »von dem ich am meisten fürchtete – vielleicht von eignen Kindern abgesehen, Esther –, daß er Mr. Turveydrop lästig fallen würde, so übersteigt die Freundlichkeit des alten Herrn gegen den Jungen alle Grenzen. Er fragt nach ihm, meine Liebe! Er läßt sich von ihm die Zeitung ins Bett bringen, gibt ihm die Rinde von seinem Zwieback zu essen und schickt ihn mit kleinen Botschaften im Hause herum! Und ich muß ihm Sixpences schenken. Kurz«, sagte Caddy, »ich bin unendlich glücklich und muß wahrhaft sehr dankbar sein. Wohin gehen wir eigentlich, Esther?«

»Nach Oldstreet-Road. Ich habe dort ein paar Worte mit dem Advokatenschreiber zu sprechen, der mich an dem Tag, als ich in London ankam und dich das erste Mal sah, meine Liebe, an der Landkutsche abholte. Übrigens jetzt fällt mir ein, er brachte uns ja nach deiner Wohnung.«

»So? Dann bin ich ja sozusagen deine vom Schicksal bestimmte Begleiterin«, entgegnete Caddy.

Wir gingen nach Oldstreet-Road und fragten nach Mr. Guppy in seiner Wohnung. Mrs. Guppy, die im Erdgeschoß wohnte und eben Gefahr lief, wie eine Nuß zwischen der Tür des vorderen Wohnzimmers aufgeknackt zu werden, da sie verstohlen herauslugte, erschien, noch ehe wir nach ihr fragen konnten, und lud uns zum Eintreten ein.

Sie war eine alte Dame mit einer großen Mütze, einer etwas roten Nase und einem unsicheren Auge, aber über und über Lächeln. Ihr kleines Wohnstübchen war für einen Besuch hergerichtet, denn ich hatte ihr von Bleakhaus aus geschrieben, und es hing darin ein Porträt ihres Sohnes, das noch viel ähnlicher war als das Original selbst.

Aber nicht nur das Porträt war da, sondern auch das Original.

Es war in vielerlei Farben gekleidet, saß an einem Tisch und las Akten, wobei es von Zeit zu Zeit nachdenklich den Zeigefinger an die Stirn legte.

»Miß Summerson«, begrüßte es mich und stand auf, »das ist in der Tat eine Oase. Mutter, möchtest du so gut sein, der andern Dame einen Stuhl zu geben und uns dann nicht weiter zu stören.«

Mrs. Guppy, deren beständiges Lächeln ihr einen fast schalkhaften Ausdruck verlieh, tat, wie ihr Sohn sie geheißen, und setzte sich dann in eine Ecke und drückte ihr Taschentuch wie einen warmen Umschlag mit beiden Händen an ihre Brust.

Ich stellte Caddy vor, und Mr. Guppy sagte, eine Freundin von mir sei stets mehr als willkommen. Dann fing ich von dem Zweck meines Besuchs an.

»Ich nahm mir die Freiheit, Ihnen einen Brief zu schreiben.«

Mr. Guppy bekannte sich damit zu seinem Empfang, daß er ihn aus seiner Brusttasche zog, an die Lippen drückte und mit einer Verbeugung wieder in die Tasche steckte. Das ergötzte Mr. Guppys Mutter derart, daß sie lächelnd mit dem Kopf wackelte und Caddy mit dem Ellbogen einen bedeutsamen Stoß gab.

»Könnte ich mit Ihnen einen Augenblick allein sprechen?« fragte ich.

Etwas, das der Lustigkeit von Mr. Guppys Mutter in diesem Augenblick gleichgekommen wäre, habe ich nie wieder gesehen. Sie lachte geräuschlos, wackelte mit dem Kopf, schüttelte ihn, hielt sich das Taschentuch vor den Mund und stieß auf Caddy mit dem Ellbogen, der Hand und der Schulter ein und war überhaupt so unbeschreiblich aufgeregt, daß Caddy sie kaum durch die kleine Flügeltür in das anstoßende Schlafzimmer bugsieren konnte.

»Miß Summerson«, sagte Mr. Guppy, »Sie müssen die Lebhaftigkeit einer immer an das Glück ihres Sohnes denkenden Mutter entschuldigen. Wenn auch meine Mutter einen nervös macht, so handelt sie doch immer aus mütterlichen Gefühlen heraus.«

Ich hätte kaum geglaubt, daß jemand in einem Augenblick so rot werden oder sich so verändern könnte wie Mr. Guppy, als ich jetzt plötzlich den Schleier emporschlug.

»Ich bat Sie um die Gefälligkeit, mit Ihnen ein paar Augenblicke lieber hier als bei Mr. Kenge sprechen zu dürfen«, begann ich, »um Sie nicht am Ende in Ungelegenheiten zu bringen, Mr. Guppy.«

– Ich hatte ihn schon so verlegen genug gemacht, aber sein Stammeln, seine Verwirrung und seine Angst waren jetzt unbeschreiblich. –

»Miß Summerson«, stotterte er, »ich – ich – ich – bitte um Verzeihung, aber in unsrer Branche – finden – wir es notwendig, uns – uns stets deutlich auszusprechen. Sie spielen auf eine Gelegenheit an, Miß, wo ich – wo ich mir die Ehre nahm, einen Antrag zu machen, der…«

Es schien ihn etwas im Halse zu würgen, was er nicht hinunterschlingen konnte. Er legte die Hand auf die Kehle, hustete, schnitt Gesichter, versuchte abermals, es hinunterzuschlingen, hustete wieder, schnitt wieder Gesichter, sah sich rings im Zimmer um und kramte verlegen in seinen Papieren.

»Ich habe eine Art Schwindelanfall, Miß, der mich ein wenig aus der Fassung bringt«, erklärte er mir. »Ich-äh-bin solchen Anfällen zuweilen unterworfen – äh – bei Gott.«

Ich ließ ihm einige Zeit zur Erholung. Er legte dabei die Hand an die Stirn, nahm sie wieder weg und rutschte mit seinem Stuhl in die hinter ihm befindliche Ecke.

»Ich wollte nur bemerken, Miß«, sagte er, »mein Gott – irgend etwas mit den Bronchien, glaube ich – hem –, wollte nur bemerken, daß Sie damals so gütig waren, meinen Antrag nicht anzunehmen, besser gesagt, zurückzuweisen. Sie – Sie werden das gewiß zugeben ? Wenn auch keine Zeugen anwesend sind, könnte es vielleicht eine Beruhigung sein – für – Ihr Gewissen –, wenn Sie – das zugeben wollten.«

»Daran kann doch gar kein Zweifel sein, daß ich Ihren Antrag ohne allen Vorbehalt und ohne alle Nebenbedingungen dankend ablehnte, Mr. Guppy.«

»Ich danke Ihnen, Miß«, entgegnete er und maß geistesabwesend den Tisch mit seinen unruhigen I landen ab. »Soweit wäre das zufriedenstellend und macht Ihnen Ehre. Ah – sicher die Bronchien –, muß in der Luftröhre sein – äh –, Sie würden es vielleicht nicht übel aufnehmen, wenn ich erwähne – nicht, daß es notwendig wäre, denn Ihr eigner oder jedermanns gesunder Menschenverstand muß Ihnen das sagen –, wenn ich bemerke, daß dieser Antrag von meiner Seite mein letzter war und die Sache ganz und gar abgemacht ist?«

»Das sehe ich vollkommen ein«, sagte ich.

»Vielleicht – äh – ist es solche Umständlichkeit nicht wert, aber es könnte doch eine Beruhigung für Sie selbst sein… Vielleicht würden Sie nichts dagegen haben, das zuzugeben, Miß?«

»Ich gebe das vollkommen und freiwillig zu.«

»Ich danke Ihnen. Höchst ehrenwert, muß ich sagen, Miß Summerson. Ich bedauere, daß meine Lebenspläne – und Verhältnisse, über die ich keine Macht habe – mich außerstand setzen, jemals auf diesen Antrag zurückzukommen oder ihn in irgendeiner Form zu erneuern, aber er wird stets eine Erinnerung sein, die – äh – die Palme der Freundschaft in der Hand trägt.«

Die Bronchitis kam hier Mr. Guppy zu Hilfe und unterbrach ihn im Abmessen des Tisches.

»Ich darf jetzt vielleicht auf das kommen, was ich Ihnen zu sagen wünschte«, fing ich an.

»Es wird mir eine große Ehre sein«, sagte Mr. Guppy. »Ich bin so fest überzeugt, daß Ihr richtiges Gefühl und Ihre gesunde Lebensauffassung, Miß, alles in dem rechten Lichte sehen werden, daß ich jedenfalls nur mit Vergnügen allem, was Sie mir zu sagen haben, zuhören kann.«

»Sie waren so gütig, damals anzudeuten…«

»Entschuldigen Sie, Miß«, unterbrach mich Mr. Guppy, »aber es ist besser, unsern vorgesteckten Weg nicht aus dem Auge zu verlieren und uns nicht auf Andeutungen einzulassen. Ich kann nicht zugestehen, daß ich etwas angedeutet hätte.«

»Sie sagten bei jener Gelegenheit«, fing ich wieder von neuem an, »daß Sie möglicherweise die Mittel haben könnten, durch gewisse mich betreffende Entdeckungen meine Interessen zu fördern. Ich vermute, daß Sie diese Annahme darauf gründeten, daß Sie wußten, ich sei eine Waise, die der Wohltätigkeit Mr. Jarndyces alles verdankt. Das Um und Auf alles dessen, was ich Ihnen hier sagen möchte, ist nun, daß ich Sie bitte, Mr. Guppy, die Güte zu haben, jeden Gedanken, mir auf diese Weise gefällig sein zu wollen, aufzugeben. Ich habe oft darüber nachgedacht, und am meisten während meiner Krankheit. Ich habe mich schließlich entschlossen, im Falle Sie zu irgendeiner Zeit wieder diesen Plan aufgreifen und an seiner Ausführung arbeiten sollten, zu Ihnen zu kommen und Ihnen zu versichern, daß Sie sich in jeder Hinsicht im Irrtum befinden. Sie könnten keine Entdeckungen in bezug auf mich machen, die mir den kleinsten Dienst leisten oder das geringste Vergnügen bereiten würden. Ich kenne meine eigne Lebensgeschichte und bin imstande, Ihnen zu versichern, daß Sie mein Wohlergehn durch solche Mittel auf keine Weise fördern können. Sie haben nun vielleicht den Plan längst aufgegeben. Wenn das der Fall ist, bitte ich, zu entschuldigen, daß ich Sie aufgehalten habe. Wenn es nicht der Fall ist, so ersuche ich Sie, aufgrund der Versicherung, die ich Ihnen soeben gegeben habe, solche Pläne von nun an gänzlich fallen zu lassen. Ich bitte Sie, dies um meines Friedens willen zu tun.«

»Ich fühle mich verpflichtet zu gestehen, Miß«, sagte Mr. Guppy, »daß Sie sich mit dem richtigen Gefühl, das ich Ihnen zutraute, ausdrücken. Nichts kann befriedigender sein als ein solch richtiges Gefühl, und wenn ich soeben hinsichtlich Ihrer Absichten im Irrtum war, so bin ich bereit, Sie aufs tiefste um Verzeihung zu bitten. Ich möchte damit sagen, Miß, daß ich hiermit in aller Form um Verzeihung bitte.«

Mr. Guppys anfangs so gedrücktes Wesen wurde jetzt wesentlich freier. Er schien aufrichtig erfreut zu sein, mir einen Gefallen tun zu können, und man sah ihm an, daß er sich wirklich schämte.

»Wenn Sie mir gestatten möchten, das, was ich Ihnen zu sagen habe, ohne Unterbrechung zu beenden, damit ich nicht Veranlassung habe, noch einmal darauf zurückkommen zu müssen«, fuhr ich fort, da ich sah, daß er eine längere Rede halten wollte, »würden Sie mir damit eine Freundlichkeit erweisen, Sir. Ich komme so privatim wie möglich zu Ihnen, weil Sie mir Ihre damalige Mitteilung als vertraulich bezeichneten und ich wirklich stets gewünscht habe, Ihr Vertrauen zu respektieren, und es auch nie verletzt habe, wie Sie wissen. Ich habe meine Krankheit erwähnt. Es ist wirklich kein Grund vorhanden, warum ich anstehen sollte, zu sagen, daß jede kleine Delikatesse, die mich hätte abhalten können, Sie um etwas zu ersuchen, jetzt, wie ich recht gut weiß, ganz wegfällt. Deshalb sagte ich Ihnen offen, um was ich Sie bitte, und hoffe, Sie werden rücksichtsvoll genug gegen mich sein, mir meinen Wunsch nicht abzuschlagen.«

Ich muß Mr. Guppy Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er sah sehr beschämt aus, als er jetzt mit feuerrotem Gesicht zur Antwort gab:

»Bei meinem Wort und meiner Ehre, bei meinem Leben, bei meiner Seele, Miß Summerson, so wahr ich lebendig vor Ihnen stehe, ich will Ihrem Wunsch nachkommen. Ich will nie wieder einen Schritt in der erwähnten Angelegenheit tun und mich eidlich dazu verpflichten, wenn Sie das beruhigen sollte. Bezugnehmend auf mein gegenwärtiges Versprechen«, fuhr er zungenfertig fort, als wiederhole er eine ihm vertraut gewordne juristische Formel, »bekräftige ich, daß ich die Wahrheit spreche, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so…«

»Ich bin vollständig zufrieden«, sagte ich und stand auf. »Ich danke Ihnen recht sehr. – Liebe Caddy, ich bin bereit.«

Mr. Guppys Mutter kam mit Caddy wieder herein – sie richtete ihr geräuschloses Lachen und ihre Ellbogenstöße jetzt an mich –, und wir verabschiedeten uns. Mr. Guppy sah uns mit der Miene eines Mannes, der entweder nicht ganz wach ist oder schlafwandelt, nach, und wir ließen ihn an der Tür stehen.

Eine Minute später kam er uns jedoch ohne Hut und mit fliegenden Haaren nachgelaufen, hielt uns an und sagte mit Wärme:

»Miß Summerson, auf Ehre und Seligkeit, Sie können sich auf mich verlassen.«

»Das tue ich auch mit der größten Zuversicht.«

»Ich bitte um Verzeihung, Miß«, fuhr er fort und ging langsam und zögernd neben uns her. »Aber da diese Dame dabei ist, ihre eigne Zeugin, und ich Sie wirklich ganz beruhigt zu sehen wünsche, so wäre es vielleicht gut, wenn Sie Ihr Zugeständnis von vorhin wiederholen wollten.«

»Caddy«, sagte ich und wendete mich an meine Freundin. »Du wirst dich wahrscheinlich nicht besonders wundern, wenn ich dir sage, daß niemals eine Verlobung -«

»– kein Eheversprechen irgendeiner Art«, verbesserte Mr. Guppy.

»–- kein Eheversprechen irgendeiner Art zwischen diesem Herrn…«

»William Guppy von Penton-Place, Pentonville in der Grafschaft Middlessex«, murmelte er.

»– zwischen diesem Herrn, Mr. William Guppy von Penton-Place, Pentonville in der Grafschaft Middlessex, und mir vereinbart wurde.«

»Ich danke Ihnen, Miß. Das genügt. – Äh –, entschuldigen Sie… Den Namen der Dame, Vor- und Zuname?«

Ich nannte sie ihm.

»Verheiratet?«

»Verheiratet.«

»Ich danke Ihnen.«

»Geborne Miß Karoline Jellyby von Thavies-Inn, London City, zu keinem Kirchspiel gehörig, jetzt wohnhaft in Newmanstreet, Oxfordstreet. Sehr verbunden.«

Er lief nach Hause und kam wieder zurück.

»Was die Angelegenheit betrifft, möchte ich noch sagen, so tut es mir wirklich und – wahrhaftig sehr leid, daß Lebenspläne sowie Verhältnisse, die sich meinem Machtbereich entziehen, eine Erneuerung meines Antrages, der schon damals zurückgewiesen wurde, ausschließen«, sagte Mr. Guppy traurig und niedergeschlagen zu mir. »Aber es ist nicht möglich. Ich frage Sie selbst, wäre es möglich?«

Ich gab zur Antwort, daß es gewiß nicht möglich wäre. Die Sache sei über jeden Zweifel erhaben. Er dankte mir, eilte wieder zu seiner Mutter und kehrte noch einmal um.

»Es ist wirklich sehr ehrenhaft von Ihnen, Miß. Wäre es möglich, einen Altar unter den Palmen der Freundschaft zu errichten, so… Aber, meiner Seel, Sie können sich auf mich in jeder Hinsicht verlassen – Herzensbeziehungen ausgenommen.«

Die Kämpfe in Mr. Guppys Brust und die zahlreichen Schwankungen, die sie zwischen seiner Mutter Haustür und uns in ihm hervorriefen, traten in der windigen Straße, zumal sein Haar dringend des Schermessers bedurfte, so auffällig zutage, daß wir uns nach Möglichkeit beeilten, fortzukommen. Ich tat es mit erleichtertem Herzen, und als wir uns in der Ferne noch einmal umsahen, schien Mr. Guppy immer noch nicht ganz beruhigt zu sein.

39. Kapitel


39. Kapitel

Advokat und Klient

Der Name »Mr. Vholes« unter der Überschrift »Parterre« ist an einem Türpfeiler von Symond’s-Inn in Chancery-Lane zu lesen. Es ist ein kleines, blasses, halbblindes, gramgebeugtes Inn und sieht wie ein großer Aschenkasten mit zwei Fächern und einem Sieb aus. Vielleicht ist Symond seinerzeit ein sparsamer Mann gewesen und hat sein altes Inn aus Baumaterialien errichtet, die eine Vorliebe für Schwamm, Schmutz und andre modrige faule Sachen hatten und jetzt Symonds Gedächtnis mit seelenverwandter Schäbigkeit bewahren. In die Tafelquadrate dieses verrosteten Erinnerungsschildes an Symond ist jetzt auch das juristische Wappen Mr. Vholes aufgenommen.

Mr. Vholes‘ Kanzlei, zurückgezogen gelegen und von ebensolchem Aussehen, ist in eine Ecke gequetscht und schielt eine kahle Mauer an. Drei Fuß astlöcherdurchflochtne Dielen bringen den Klienten durch einen finstern Gang nach Mr. Vholes‘ pechschwarzer Tür in einer selbst an den hellsten Sommermorgen stockfinstern Ecke mit einem dunkeln Vorbau an einer Kellertreppe, gegen den Klienten, wenn sie in Eile sind, meistens mit dem Kopf anzurennen pflegen.

Mr. Vholes‘ Kanzleizimmer sind so klein bemessen, daß ein Schreiber die Tür öffnen kann, ohne vom Stuhl hinunterzusteigen, und sein Nachbar an demselben Pult in gleicher Weise das Feuer zu schüren imstande ist. Ein Geruch wie von kranken Schafen, vermischt mit Moder- und Staubgeruch, liegt in der Luft und rührt von dem allabendlichen Verbrauch von Hammeltalg, in Form von Kerzen, und dem Hin- und Herschieben von Pergamentakten in schmierigen Schubladen her. Aber auch sonst ist die Luft dumpf und verdorben.

Die Zimmer sind seit Menschengedenken nicht mehr gemalt oder geweißt worden, die zwei Kamine rauchen, und alles ist mit einer lockeren Rußschicht überzogen. Die blinden zersprungnen Fenster in ihren plumpen Rahmen haben nichts als den Willen miteinander gemein, beständig schmutzig zu sein und immerwährend zuzufallen, wenn man sie nicht gewaltsam offen hält. Das erklärt auch das Phänomen, daß dem schwächeren der beiden Fenster gewöhnlich bei warmem Wetter ein Scheit Brennholz zwischen die Zähne gesteckt ist.

Mr. Vholes ist ein höchst respektabler Mann. Er hat kein großes Geschäft, aber er ist ein sehr respektabler Mann.

Die größeren Anwälte, die sich bereits ein bedeutendes Vermögen erworben haben oder noch erwerben, geben einstimmig zu, daß er ein sehr respektabler Mann sei. Er läßt nie eine Chance in seiner Praxis ungenützt vorübergehen, und das ist doch gewiß ein Zeichen von Respektabilität. Er leistet sich nie ein Vergnügen, und das ist schon wieder ein Zeichen von Respektabilität. Er ist schweigsam und ernst, und das ist abermals ein Zeichen von Respektabilität. Seine Verdauung hat gelitten, und das ist höchst respektabel. Er macht für seine drei Töchter Heu aus lebendigem Fleisch, und sein Vater im Tal von Taunton wird von ihm unterstützt.

Das erste Prinzip der englischen Justiz ist, für sich selbst Geschäfte zu machen. In all ihren engen verschlungenen Pfaden ist kein andres Prinzip so bestimmt, sicher und konsequent durchgeführt. Sieht man sie in diesem Lichte an, so wird sie sofort ein zusammenhängendes Ganzes und ist nicht mehr der maßlos verwirrte Knäuel, als den sie der Laie zu sehen pflegt. Wenn das Publikum nur ein einziges Mal klar erkennen wollte, daß das Hauptprinzip der Justiz ist, für sich selbst auf Unkosten der Parteien zu arbeiten, so würde es gewiß nicht mehr murren.

Aber die Laien sehen das eben nicht klar oder nur halb oder ungenau. Darum kommt ihnen Gemütsruhe und Geld abhanden, sie machen eine böse Miene zu dem lieblichen Spiel und murren. In solchen Fällen pflegt man ihnen die Respektabilität, deren sich auch Mr. Vholes erfreut, aufs nachdrücklichste vor Augen zu führen.

»Diesen Paragraphen abschaffen, bester Herr?« sagt zum Beispiel Mr. Kenge zu einem Klienten, dem übel mitgespielt wurde. »Abschaffen, werter Herr? Nie, solange ich etwas zu sagen habe. Stoßen Sie dieses Gesetz um, Sir, und was wird die Wirkung Ihres übereilten Vorgehens für eine Klasse von Anwälten sein, deren höchst ehrenwerter Repräsentant, erlaube ich mir, zu bemerken, der gegnerische Advokat, Mr. Vholes, ist? Sir, diese Klasse von Anwälten würde von der Erde verschwinden! Nun können wir aber nicht – ich möchte sagen, das soziale System kann es nicht – eine Klasse von Männern wie Mr. Vholes missen. Eine Klasse, fleißig, ausdauernd, solid und mit großem geschäftlichem Scharfsinn ausgestattet! Werter Herr, ich kann mir Ihre persönlichen Empfindungen hinsichtlich der existierenden Zustände recht gut denken und gestehe, daß sie Sie im gegebnen Fall ein wenig hart treffen, aber für die Vernichtung einer Klasse von Männer wie Mr. Vholes würde ich meine Stimme nie abgeben.«

Man hat die Respektabilität eines Mr. Vholes sogar schon mit vernichtender Wirkung vor Parlamentskomitees angeführt, wie aus folgenden Protokollen eines hervorragenden Rechtsanwalts hervorgeht: Frage Numero 517869: Wenn ich Sie recht verstehe, wirken also diese Normen in der Praxis unzweifelhaft verzögernd?

Antwort: Ja, allerdings verzögernd.

Frage: Und ziehen große Kosten nach sich?

Antwort: Natürlich können sie nicht umsonst sein.

Frage: Und unsäglichen Ärger?

Antwort: Das möchte ich nicht behaupten. Mir haben sie nie Ärger verursacht, ganz im Gegenteil.

Frage: Aber Sie glauben, ihre Abschaffung würde einer ganzen Klasse von Anwälten schaden?

Antwort: Ich zweifle nicht daran.

Frage: Können Sie einen Typus dieser Klasse anführen?

Antwort: Ja. Ich würde ohne Besinnen Mr. Vholes nennen. Er würde zum Beispiel dadurch ruiniert sein.

Frage: Mr. Vholes gilt bei seinen Kollegen als respektabler Mann?

Antwort, die weiteren Fragen für die Dauer von mindestens zehn Jahren ein Ende macht: Mr. Vholes gilt bei seinen Kollegen sogar als außerordentlich respektabler Mann.

So äußern auch gelegentlich bei allgemeinen Unterhaltungen nicht weniger uneigennützige Privatautoritäten, daß sie nicht wissen, wohin die Zeit eigentlich hinauswolle. Immer wünsche sie etwas zu stürzen oder etwas Bestehendes auszureißen. Solche Veränderungen bedeuteten für manche Leute den Tod – für Vholes zum Beispiel, einen Mann von unzweifelhafter Ehrenhaftigkeit, mit einem Vater im Tal von Taunton und drei Töchtern zu Hause. Noch ein paar Schritte dem Abgrund zu, sagen sie, und was soll dann aus Mr. Vholes‘ Vater werden? Soll er zugrunde gehen? Und aus Vholes‘ Töchtern? Sollen sie vielleicht Nähterinnen oder Gouvernanten werden?

– Gerade als ob Mr. Vholes und seine Verwandten untergeordnete Menschenfresserhäuptlinge wären, und entrüstete Fürsprecher auf den allgemeinen Vorschlag, den Kannibalismus abzuschaffen, sagen wollten: Erkläret das Menschenfressen für ungesetzlich, und die Vholes müssen durch Eure Schuld verhungern. –

Kurz und gut, Mr. Vholes mit seinen drei Töchtern und seinem Vater im Tale von Taunton wird beständig wie ein Stück Balken, ein morsches Gebäude, das ein Stein des Anstoßes geworden ist, zu stützen, benutzt. Und bei vielen Leuten handelt es sich in den meisten Fällen nicht um Feststellung von Recht und Unrecht, sondern lediglich darum, ob es der ehrenwerten Legion von Menschen à la Vholes zum Schaden oder Nutzen gereicht.

Der Kanzler ist vor zehn Minuten aufgestanden, und die langen Gerichtsferien haben begonnen. Mr. Vholes, sein junger Klient und verschiedne in Eile vollgestopfte blaue Beutel, die dadurch jede regelmäßige Form verloren haben wie vollgefressne große Schlangen, sind in ihre Höhle zurückgekehrt. Mr. Vholes, gelassen und unbewegt, wie es einem Mann von solcher Respektabilität geziemt, zieht seine engen schwarzen Handschuhe aus, als zöge er die Haut von seinen Fingern, nimmt seine enge Kappe vom Kopf, als skalpiere er sich, und setzt sich an sein Pult. Der Klient wirft Hut und Handschuhe irgendwohin, wirft sich selbst halb seufzend, halb stöhnend in einen Stuhl, läßt die brennende Stirn auf die Hand sinken und sieht aus wie das Bild jugendlicher Verzweiflung.

»Abermals nichts geschehen«, sagt Richard. »Nichts, nichts geschehen!«

»Sagen Sie nicht, es sei nichts geschehen, Sir«, entgegnet Vholes gleichmütig. »Das ist kaum gerecht, Sir, kaum gerecht.«

»Nun, was ist denn also geschehen?« fragt Richard mit düsterer Miene.

»Die Frage ist vielleicht nicht richtig gestellt. Juristisch gefaßt, müßte sie vielleicht lauten: Was geschieht?«

»Und was geschieht also?« fragt der Klient mürrisch.

Vholes, die Ellbogen auf das Pult gestützt, paßt ruhig die fünf Finger seiner rechten Hand auf die fünf Spitzen der Finger seiner linken, entfernt sie ebenso ruhig voneinander, sieht seinen Klienten fest und gelassen an und antwortet:

»Sehr viel geschieht, Sir! Wir haben uns mit der Schulter gegen das Rad gestemmt, Mr. Carstone, und das Rad dreht sich!«

»Ja, und Ixion ist darauf festgebunden. Wie soll ich mir durch die nächsten vier oder fünf verwünschten Monate durchhelfen!« ruft der junge Mann aus und geht erregt im Zimmer auf und ab.

»Mr. C.«, gibt Vholes zur Antwort und beobachtet Richard gespannt. »Sie sind von aufbrausendem Temperament, und das tut mir Ihretwegen leid. Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Ihnen empfehle, nicht so heftig zu sein, sich nicht zu ärgern und innerlich so aufzureiben. Sie sollten mehr Geduld haben – sich stärker zeigen!«

»Mit einem Wort, ich sollte Sie nachahmen, Mr. Vholes!« Richard nimmt wieder mit ungeduldigem Lachen Platz und trommelt mit dem Absatz auf dem ungemusterten Teppich des Teufels Zapfenstreich.

»Sir«, entgegnet Vholes und sieht dabei seinen Klienten unentwegt an, als verzehre er ihn langsam mit seinen Augen und seinem trefflichen Advokatenappetit. »Sir«, entgegnet Vholes mit seiner Art, in sich hineinzusprechen, und seiner blutlosen Gelassenheit, »ich würde mir gewiß nicht anmaßen, mich Ihnen, oder wem immer, als ein Muster vorzustellen. Ich strebe nach nichts weiter, als meinen drei Töchtern einen guten Namen zu hinterlassen, und bin nicht selbstsüchtig. – Aber da Sie sich so deutlich ausdrücken, will ich zugeben, daß ich gern sähe, Sie hätten etwas von meiner – nun ja, Sir, Sie sind geneigt, es Empfindungslosigkeit zu nennen, und ich habe weiter nichts dagegen – etwas von meiner Empfindungslosigkeit… Ja, ja, ein wenig von meiner Empfindungslosigkeit.«

»Mr. Vholes«, entschuldigt sich der Klient etwas beschämt, »ich hatte durchaus nicht die Absicht, Sie der Empfindungslosigkeit zu zeihen.«

»Sie taten es, Sir, ganz unwissentlich. Sehr natürlich. Es ist meine Pflicht, bei Wahrung Ihrer Interessen einen kühlen Kopf zu behalten, und ich kann gar wohl begreifen, daß ich bei solchen Gelegenheiten wie der jetzigen Ihnen gefühllos erscheine. Meine Töchter kennen mich vielleicht besser. Mein alter Vater kennt mich vielleicht besser. Aber sie kennen mich viel länger als Sie, und das Auge der Liebe ist nicht das mißtrauische Auge des Prozessierenden. Nicht, daß ich beklagte, Sir, daß das Auge des Prozessierenden mißtrauisch ist, ganz im Gegenteil. Gerade weil ich Ihre Interessen wahre, wünsche ich, daß man mich in jeder Weise kontrolliert. Das ist ganz in Ordnung. Ich selbst fordere dazu auf, daß man mich kontrolliert. Ihre Interessen nun verlangen, daß ich kalt und methodisch bin, Mr. Carstone. Und ich kann nicht anders sein. Nein, Sir, selbst nicht Ihnen zu Gefallen!«

Mr. Vholes beobachtet eine Weile die geduldig vor einem Mausloch lauernde Kanzleikatze, richtet dann seinen Zauberblick wieder auf den jungen Klienten und fährt mit seiner zugeknöpften, kaum hörbaren Stimme, die klingt, als ob ein unreiner Geist in ihm wäre, der weder entfliehen noch mit der Sprache heraus wollte, fort.

»Sie fragen, was Sie während der Gerichtsferien tun sollen. Ich sollte doch glauben, daß die Herren von der Armee nicht um Mittel, sich zu zerstreuen, verlegen sind! Wenn Sie mich gefragt hätten, was ich während der Ferienzeit tun sollte, hätte ich Ihnen kürzer antworten können: Ich werde Ihre Interessen wahren. Ich werde Tag für Tag hier zu finden sein, beschäftigt mit der Wahrung Ihrer Interessen. Das ist meine Pflicht, Mr. C., und Gerichtssession oder Ferien machen darin keinen Unterschied bei mir. Wenn Sie mich wegen Ihrer Interessen zu Rate zu ziehen wünschen, werden Sie mich jederzeit hier finden. Andre Herren von unserm Beruf gehen aufs Land. Ich tue das nicht. Nicht, daß ich jemand tadeln wollte. Ich sage bloß, ich tue es nicht. Dieses Pult ist Ihr Fels, Sir!«

Mr. Vholes schlägt darauf, und es klingt so hohl wie ein Sarg. Aber für Richards Ohren klingt es nicht so. Für ihn hat der Schall etwas Ermutigendes. Vielleicht weiß Mr. Vholes das.

»Ich weiß recht gut, Mr. Vholes«, sagt Richard vertrauensvoll und erleichtert, »daß Sie der allerverläßlichste Mann auf der Welt sind, und wer mit Ihnen zu tun hat, einen Advokaten vor sich hat, der sich kein Schnippchen schlagen läßt. Aber versetzen Sie sich in meine Lage. Schleppen Sie sich mit diesem aus dem Geleise gekommenen Leben hin, wo man jeden Tag tiefer und tiefer in Kalamitäten versinkt, beständig hofft und beständig enttäuscht wird, sich bewußt ist, daß es immer mehr mit einem bergab geht und mit nichts bergauf, und Sie würden auch manchmal finden, wie ich, daß es keine beneidenswerte Lage ist.«

»Sie wissen, daß ich nie Hoffnungen zu erwecken pflege«, erwidert Mr. Vholes. »Ich sagte Ihnen gleich anfangs, daß ich das prinzipiell nicht tue, vorzüglich nicht in einem Prozeß wie diesem, wo der größere Teil der Kosten aus dem strittigen Kapital gedeckt wird. Ich würde meinen guten Ruf außer acht lassen, wenn ich Hoffnungen gäbe.

Es müßte den Schein erwecken, als ob es mir um die Kosten zu tun wäre. Aber wenn Sie sagen, daß keine Veränderung zum Bessern zu bemerken ist, so muß ich das als nackte Tatsache in Abrede stellen.«

»Wirklich?« fragt Richard mit einem Hoffnungsschimmer. »Aber wie wollen Sie das begründen?«

»Mr. Carstone, Sie werden vertreten von…«

»Sie sagten es eben… Von einem Felsen!«

»Ja, Sir, von einem Felsen.« Mr. Vholes nickt leise mit dem Kopf und fährt über den Pultdeckel, daß es klingt, als ob Asche auf Asche fiele und Staub auf Staub. »Ist das nichts? Sie sind allein für sich vertreten und nicht mehr länger mit den Interessen andrer verquickt und verflochten. Das ist etwas. Der Prozeß schläft nicht. Wir wecken ihn auf, bringen ihn an die Luft, wir führen ihn spazieren. Das ist etwas. Es ist nicht bloß ‚Jarndyce‘, der Tatsache und dem Namen nach. Das ist etwas. Niemand kann jetzt willkürlich damit verfahren, Sir. Und das ist gewiß etwas.« Richard wird plötzlich rot im Gesicht und schlägt mit der geballten Faust auf das Pult.

»Mr. Vholes! Wenn mir jemand gesagt hätte, als ich zuerst John Jarndyces Haus betrat, er sei etwas andres als der selbstlose Freund, für den er sich gab, sondern das, als was er sich allmählich entpuppt hat, ich hätte nicht genug starke Worte finden können, um eine solche Verleumdung zurückzuweisen – ich hätte ihn nicht warm genug verteidigen können. So wenig kannte ich die Welt! Aber jetzt, sage ich Ihnen, kommt er mir vor wie der personifizierte Prozeß selbst. Der Rechtsstreit ist nichts Abstraktes mehr, er ist John Jarndyce selbst. Je mehr ich leide, desto mehr zürne ich über ihn, und jede neue Enttäuschung bedeutet einen neuen Schlag von John Jarndyces Hand.«

»Nein, nein«, sagt Vholes. »Sagen Sie das nicht. Wir alle müssen Geduld haben. Überdies rede ich nie jemandem Böses nach, Sir. Es ist ein Grundsatz von mir.«

»Mr. Vholes! Sie wissen so gut wie ich, daß er den Prozeß abgebrochen hätte, wenn es möglich gewesen wäre«, entgegnet Richard zornig.

»Er hat nicht direkt Schritte dagegen getan«, gibt Mr. Vholes anscheinend widerwillig zu. »Nicht direkt Schritte. Aber immerhin, er kann freundschaftliche Absichten dabei gehabt haben. Wer kann im Herzen der Menschen lesen, Mr. C.!?«

»Sie!«

»Ich, Mr. C.?«

»Immerhin gut genug, um zu wissen, was seine Absichten waren. Widerstreiten sich unsre Interessen, oder widerstreiten sie sich nicht? Sagen – Sie – selbst!« Richard begleitet die drei letzten Worte mit drei heftigen Schlägen auf den Fels seines Vertrauens.

»Mr. C.«, gibt Vholes, ohne sich zu bewegen und auch nur ein einziges Mal mit seinen hungrigen Augen zu zwinkern, zur Antwort:

»Ich würde meine Pflicht als Ihr Rechtsbeistand verletzen, Ihren Interessen untreu werden, wenn ich sie als identisch mit denen Mr. Jarndyces darstellte. Sie sind es nicht, Sir. Ich schiebe nie Motive unter. Ich habe einen Vater und bin selbst Vater und schiebe nie Motive unter, aber ich darf andererseits meine Pflicht als Anwalt nicht verletzen, selbst wenn dadurch Zwietracht in Familien gesät wird. Ich bin der Meinung, Sir, Sie ziehen mich jetzt doch in meiner Eigenschaft als Ihr Anwalt hinsichtlich Ihrer Interessen zu Rate? Ist es so? Also, dann antworte ich: Nein, sie sind nicht identisch mit denen Mr. Jarndyces.«

»Natürlich sind sie’s nicht!« ruft Richard. »Sie haben das schon längst herausgefunden.«

»Mr. C.«, fährt Vholes fort. »Über fremde Parteien möchte ich nicht mehr sagen, als unbedingt notwendig ist. Ich wünsche meinen Namen außer dem kleinen Vermögen, das ich mir vielleicht durch Fleiß und Ausdauer erwerbe, meinen Töchtern Emma, Jane und Karoline unbefleckt zu hinterlassen. Ich wünsche auch in brüderlicher Freundschaft mit meinen Berufskollegen zu leben. Als Mr. Skimpole mir die Ehre erwies, Sir – ich sage absichtlich nicht, die außerordentliche Ehre, denn ich lasse mich nie zu Schmeicheleien herab –, uns hier in der Kanzlei zusammenzubringen, da äußerte ich, daß ich hinsichtlich Ihrer Interessen keine Meinung abgeben und auch keinen Rat erteilen könnte, solange diese Interessen in den Händen eines Berufskollegen lägen, und ich sprach mich so anerkennend über die Firma Kenge & Carboy aus, wie sie es auch tatsächlich verdient.

Sie fanden sodann für gut, Ihre Vertretung diesen Herren zu entziehen und sie mir anzuvertrauen. Sie brachten sie mit reinen Händen, Sir, und ich nahm sie mit reinen Händen entgegen. Ihre Interessen gehen jetzt in meiner Kanzlei allen andern vor. Meine Verdauung, wie Sie mich vielleicht schon haben äußern hören, ist nicht im besten Zustand, und Ruhe könnte sie verbessern. Aber ich werde mir keine Ruhe gönnen, Sir, solange ich Sie vertrete. So oft Sie mich brauchen, werden Sie mich hier finden. Rufen Sie mich, wohin Sie wollen, und ich werde kommen. Während der langen Ferien, Sir, werde ich meine Mußestunden dazu benützen, Ihre Interessen noch gründlicher zu studieren und Anordnungen zu treffen, nach dem Michaelitermin Himmel und Erde (den Kanzler natürlich eingeschlossen) in Bewegung zu setzen, und wenn ich Ihnen dann endlich Glück wünschen kann, Sir«, sagt Mr. Vholes mit der ganzen sittlichen Strenge eines fest entschlossnen Mannes, »wenn ich Ihnen dann endlich von ganzem Herzen Glück wünschen kann, daß Sie zu Ihrem Vermögen gekommen sind – wenn es nicht in meinen Grundsätzen läge, niemals Hoffnungen zu erwecken, könnte ich mich darüber weiter auslassen –, werden Sie mir nichts schuldig sein als den kleinen Rest, der vielleicht noch von den zwischen Anwalt und Klienten erwachsenden Kosten außensteht. Abgesehen von den der Taxe unterliegenden Kosten, die von dem strittigen Kapital in Abzug kommen. Ich werde dann weiter keinen Anspruch an Sie erheben, Mr. Carstone, außer der Anerkennung der eifrigen und tätigen Erfüllung meiner Pflicht als Ihr Anwalt. Ich meine damit nicht die übliche und formelle Erfüllung, Sir.«

Vholes fügt als Nachwort zu dieser Darlegung seiner Grundsätze noch hinzu, Mr. Carstone werde vielleicht die Güte haben, da er jetzt zu seinem Regiment zurückgehe, ihm eine Anweisung auf zwanzig Pfund à conto auszustellen.

»Denn wir haben neuerdings viele kleine Konsultationen und Tagfahrten gehabt, Sir«, bemerkt Vholes und blättert in seinem Journal. »Und die Sachen summieren sich, und ich will mir nicht den Anschein geben, ein Kapitalist zu sein. Als wir unsre gegenwärtige Verbindung anknüpften, sagte ich Ihnen offen, – es ist mein Prinzip, daß Anwalt und Klient nie offen genug gegeneinander sein können –, daß ich kein Kapitalist bin, und wenn Sie auf den Kostenpunkt allein sehen wollten, Sie lieber Ihre Akten bei Kenge & Carboy lassen möchten. Nein, Mr. C., Sie werden hier weder die Vorteile noch die Nachteile eines kapitalkräftigen Vertreters finden. Dies hier« – Vholes schlägt wieder auf das hohlklingende Pult – »ist Ihr Fels, aber es gibt nicht vor, mehr zu sein.«

Der Klient, dessen Niedergeschlagenheit allmählich abgenommen hat und dessen vage Hoffnungen wieder wach geworden sind, nimmt Feder und Tinte und schreibt die Anweisung, nicht ohne längere Zeit zu überlegen und nachzurechnen, auf welches Datum er sie ausstellen solle. – Das verrät dem Advokaten, daß nur spärliche Deckung vorhanden ist. – Die ganze Zeit über sieht ihm Vholes, körperlich und geistig zugeknöpft, aufmerksam zu. Die ganze Zeit über lauert Vholes Kanzleikatze vor dem Mauseloch.

Schließlich ersucht ihn der Klient unter Händeschütteln, um Himmelswillen sein möglichstes zu tun, um ihn durch den Kanzleigerichtsprozeß durchzubringen. Mr. Vholes, der nie Hoffnungen gibt, legt sodann dem Klienten die Hand auf die Schulter und antwortet lächelnd: »Ich bin stets hier, Sir, persönlich oder brieflich werden Sie mich stets hier finden, Sir, die Schulter gegen das Rad gestemmt.«

So scheiden sie, und Vholes, jetzt allein gelassen, beschäftigt sich damit, verschiedne kleine Summen aus seinem Journal in sein Trattenbuch zum Besten seiner drei Töchter zu übertragen. So würde auch ein sorgsamer Fuchs oder Bär mit dem Nebengedanken an seine Jungen seine Rechnung über Hühner oder verirrte Wanderer abschließen, womit durchaus nichts Nachteiliges über die drei dürren und zugeknöpften Jungfrauen, die mit Vater Vholes in einem dumpfigen Landhaus mit feuchtem Garten in Kennington wohnen, gesagt sein soll.

Als Richard aus dem düstern Schatten von Symond’s-Inn in den Sonnenschein von Chancery-Lane heraustritt – dort ist heute zufällig Sonnenschein –, geht er gedankenvoll weiter, wendet sich nach Lincoln’s-Inn und tritt unter die Schatten der Bäume. Auf viele solcher Spaziergänger sind die fleckigen Schatten dieser Bäume schon gefallen, auf manches ebenso gebeugte Haupt, auf ebenso nervös zerbissene Nägel, umdüsterte Augen und ziellos träumerische Mienen, auf verschwindendes und verschwundenes Vermögen, auf ein verfehltes und verbittertes Leben.

Noch sieht dieser Spaziergänger nicht schäbig aus, aber das kann noch werden. Das Kanzleigericht kennt keine andre Weisheit als Präzedenzien und ist reich an solchen Präzedenzien. Und warum sollte sich ein einziger unterscheiden von Zehntausenden?

Aber es ist erst kurze Zeit her, daß Richard angefangen hat, im Treibsand zu versinken, wie er jetzt von dem Ort für mehrere Monate lang scheidet – zögernd scheidet, obgleich er ihn haßt. Sein Herz ist schwer von verzehrender Sorge, von Hangen und Bangen, von Mißtrauen und Zweifel, aber es hat vielleicht noch Platz für ein schmerzliches Staunen, wenn er sich erinnert, wie anders sein erster Besuch hier war, wie anders er selbst, wie anders das bunte Farbenspiel des Lebens. Aber Ungerechtigkeit muß Ungerechtigkeit gebären, und wer mit Schemen kämpft und von ihnen geschlagen wird, muß Wesenheiten zum Kampf ins Feld stellen.

Von dem ungreifbaren Prozeß, den kein Lebender verstehen kann, denn die Zeit dazu ist längst vorbei, wendet Richard sich in Gedanken mit trübem Trost zu der greifbaren Gestalt des Freundes, der ihn vor diesem Untergang hat retten wollen und in dem er einen Feind sieht. Richard hat Vholes die Wahrheit gesagt. Mag er bös oder weich gestimmt sein, stets schiebt er die Schuld seinem Vetter Jarndyce zu. An dessen Tür ist man ihm vorsätzlich in den Weg getreten, und der Zweck konnte nur dem Prozeß entspringen, der jetzt sein Dasein in sich auflöst. Richard hält es für eine Art Genugtuung, daß er einen Gegner von Fleisch und Blut hat.

Ist er deshalb ein Ungeheuer, oder ist das Kanzleigericht nicht auch an solchen Präzedenzien reich? Könnte man Engel zum Zeugen anrufen, sie würden es bestätigen!

Zwei an diese Art Leute nicht ungewöhnte Paar Augen sehen ihm jetzt nach, wie er, nervös an seinen Nägeln kauend und in Brüten verloren, über den Platz geht und im Schatten des südlichen Torwegs verschwindet. Mr. Guppy und Mr. Weevle sind die Besitzer dieser Augen. Sie lehnen sich im Gespräch an die niedrige steinerne Balustrade unter den Bäumen. Er geht knapp an ihnen vorüber und sieht nichts als die Erde.

»William«, meint Mr. Weevle und kräuselt sich den Backenbart. »Da findet eine Verbrennung statt. Es ist kein Fall von Selbstverbrennung, aber eine Art langsamer Röstung.«

»Hm«, sagt Mr. Guppy. »Er wollte sich nicht von Jarndyce fernhalten lassen, und ich glaube, er steckt bis über die Ohren in Schulden. Ich habe nie viel von ihm gewußt. Er war hochnäsig, als er bei uns praktizierte, wie das Monument dort. Ich bin froh, daß ich ihn los bin, sowohl als Praktikanten wie als Klienten. – Ja, Tony, also damit beschäftigen sie sich jetzt; – um wieder darauf zurückzukommen.«

Mr. Guppy verschränkt die Arme, lehnt sich an die Balustrade und fährt in seinem eben unterbrochnen interessanten Gespräch wieder fort.

»Damit beschäftigen sie sich immer noch! Sie nehmen immer noch Inventur auf, prüfen die Papiere und wühlen Tag für Tag die Lumpenhaufen durch. Wenn sie so fortfahren, werden sie noch sieben Jahre dazu brauchen.«

»Und Small hilft dabei?«

»Small verließ uns nach achttägiger Kündigung. Er sagte Kenge, das Geschäft nähme seinen Großvater zu sehr in Anspruch, und er selbst stünde sich besser, wenn er es übernähme. Zwischen mir und Small ist eine gewisse Spannung eingetreten. Er tat mir gar zu heimlich. Aber er sagte, du und ich hätten diesen Ton zuerst angeschlagen, und darin hat er eigentlich recht. Und deshalb haben wir uns wieder ausgesöhnt, und so habe ich erfahren, womit sie sich beschäftigen.«

»Einblick hast du weiter nicht bekommen?«

»Tony«, sagt Mr. Guppy ein wenig irritiert, »um dir nichts zu verschweigen, das Haus zieht mich nicht mehr so an, seit du nicht mehr dort bist, und deshalb bin ich nicht mehr hingegangen. Das war auch der Grund, weshalb ich dir dieses kleine Rendezvous vorschlug. Da, gerade schlägt die Turmuhr, Tony!« Mr. Guppy wird geheimnisvoll und zärtlich beredt. »Ich muß dir nochmals vor Augen führen, daß Verhältnisse, über die ich keine Macht habe, eine traurige Veränderung in meinen Lieblingsplänen und in dem Bilde, von dem ich dir früher im Vertrauen auf unsre Freundschaft erzählte, hervorgebracht haben. Das Bild ist zerschmettert und das Idol in Trümmer zerfallen. Mein einziger Wunsch hinsichtlich der Zwecke, die ich mit deiner Freundeshilfe in Cook’s Court zu verfolgen gedachte, ist nunmehr, sie liegen zu lassen und in Vergessenheit zu begraben. Hältst du es für möglich, hältst du es überhaupt für wahrscheinlich – ich lege dir diese Frage als Freund vor, Tony –, nach deiner Kenntnis des Charakters des schlauen und unberechenbaren Alten, der damals ein Opfer der Selbstverbrennung wurde, hältst du es überhaupt für möglich, bei näherer Überlegung, Tony, daß er jene Briefe, als ihr euch damals trenntet, anderswo hingetan hat, oder wurden sie in jener Nacht wirklich vernichtet?«

Mr. Weevle denkt eine Weile nach. Dann schüttelt er den Kopf.

»Tony«, fängt Mr. Guppy beim Weiterschlendern wieder an. »Noch einmal! Versteh mich gut. Als Freund. Ohne mich auf weitere Erklärungen einlassen zu können, wiederhole ich dir nur: Das Idol ist zerschmettert. Ich habe jetzt keinen andern Zweck, als alles in Vergessenheit zu begraben. Dazu habe ich mich verpflichtet. Ich bin es mir selbst schuldig, dem zerschmetterten Bild und auch den Verhältnissen, über die ich keine Macht habe. Wenn du mir durch einen Wink oder eine Gebärde verrietest, du habest in deiner früheren Wohnung irgendwo Papiere liegen sehen, die den fraglichen irgendwie ähnlich sind, würde ich sie jetzt auf meine eigne Verantwortung ins Feuer werfen.«

Mr. Weevle nickt. Mr. Guppy kommt sich sehr großartig vor, daß es ihm gelungen ist, seine Äußerungen mit halb juristischer, halb romantischer Miene vorgebracht zu haben. Er hat nun einmal eine Leidenschaft, allem die Form eines Verhörs, einer Rede oder eines Resumes zu geben.

Würdevoll begleitet er jetzt seinen Freund nach Cook’s Court.

Nie, seit er im Hof gewesen, hat es dort einen solchen Berg von Geklatsch gegeben wie nach den Vorfällen in Mr. Krooks Laden. Pünktlich um acht Uhr früh trägt man Mr. Smallweed senior, begleitet von Mrs. Smallweed, Judy und Bart, um die Ecke in das Haus. Regelmäßig, Tag für Tag, bleiben sie dort bis neun Uhr abends, stärken sich nach Zigeunerart durch nicht besonders reichliche Mittagsmahle aus der benachbarten Garküche und wühlen, suchen, graben und kratzen unter den Schätzen des vielbeweinten Verstorbenen. Welcher Art diese Kleinodien sind, halten sie so geheim, daß der ganze Hof in Verzweiflung gerät.

In seinem Delirium träumt der Hof von Guineen, die aus Teekannen gegossen werden, von Punschbowlen, die von Münzen überfließen, von mit Banknoten ausgestopften Stühlen und Matratzen. Man kauft für sechs Pence bunt illustrierte Geschichten von Mr. Daniel Dancer und seiner Schwester und Mr. Elwes aus Suffolk und überträgt alle Tatsachen aus diesen wirklich wahren Erzählungen auf Mr. Krook. Zweimal, als der Kehrichtmann hineingerufen wird, um eine Wagenladung altes Papier, Asche und Flaschenscherben fortzuschaffen, versammelt sich der ganze Hof und spürt neugierig in den Körben herum, wie sie herausgetragen werden. Rastlos schleichen die beiden Herren, die mit den gefräßigen kleinen Federn auf dünnes Papier schreiben, in der Nachbarschaft herum. Sie weichen einander scheu aus, denn ihre frühere Kompagnieschaft ist wieder in Brüche gegangen. Die »Sonne« spinnt geschickt einen Faden des allgemeinen Interesses durch die harmonischen Abendgesellschaften. Der kleine Swills wird, wenn er darauf anspielt, mit Applaus bedacht und weiß wie ein inspirierter Dichter überall Brocken davon anzubringen. Selbst Miß M. Melvilleson begleitet in der wieder aufgefrischten schottischen Melodie: »Wir nicken, wir nicken, wir nicken dazu« die letzte Strophe: »Die Hunden lieben den starken Saft« – ohne zu verraten, welcher Art dieser Saft sein mag – mit einer so schlauen Miene und einem so ausdrucksvollen Nicken des Kopfs nach dem Nachbarhaus, daß die Zuhörer auf der Stelle erraten, Mr. Smallweed habe eine Vorliebe für Geld. Und so wird sie allabendlich mit wiederholtem da capo beehrt.

Trotzdem entdeckt der Hof keine Spur, lebt aber, wie Mrs. Piper und Mrs. Perkins dem ehemaligen Mieter, dessen Erscheinen jetzt die lebhafteste Aufmerksamkeit des Publikums erregt, verraten, in beständiger Aufregung, irgend etwas und noch viel mehr zu entdecken.

Mr. Weevle und Mr. Guppy, von sämtlichen Augen im Hofe beobachtet, klopfen an die verschlossne Tür des vielbeweinten Toten. Sie sind sehr populär. Da sie aber wider Erwarten des Hofes Einlaß erhalten, gehen sie sofort der Volksgunst verlustig und geraten in Verdacht, Böses im Schilde zu führen.

Im ganzen Hause sind fast alle Läden vor den Fenstern geschlossen, und im Erdgeschoß ist es so finster, daß man Licht brennen muß. Eben aus dem Sonnenschein hereingetreten und von Mr. Smallweed junior in den rückwärtigen Laden geführt, sind die beiden Freunde fast blind und können anfangs nichts sehen als Finsternis und Schatten, bis sie allmählich Großvater Smallweed, in seinem Lehnstuhl am Rand eines Brunnens oder eines Grabes voll von altem Papier sitzend, unterscheiden. Die tugendstarke Judy wühlt darin wie eine Totengräberin, und Mrs. Smallweed sitzt in der Nähe auf der Diele, eingeschneit in einem Haufen von Papierfetzen, von Druck- und Schreibmakulatur – anscheinend die angehäuften Komplimente, die ihr im Lauf des Tages an den Kopf geflogen sind. Die ganze Gesellschaft, Small nicht ausgenommen, ist geschwärzt von Staub und Schmutz und trägt einen dämonischen Charakter, der den allgemeinen Eindruck des Zimmers keineswegs mildert.

Es ist mehr Gerümpel und Plunder darin als früher, und es sieht womöglich noch schmutziger aus. Die Spuren seines verstorbnen Inhabers und besonders die mit Kreide an die Wand gemalten Buchstaben verleihen ihm etwas Gespensterhaftes. Als der Besuch hereintritt, verschränken Mr. Smallweed und Judy sofort die Arme und hören auf zu suchen.

»Aha!« krächzt der alte Herr. »Wie geht’s, Gentlemen, wie geht’s? Sie kommen wohl, Ihre Sachen abzuholen, Mr. Weevle? Schön, schön. Ha! Ha! Wir hätten sie versteigern lassen müssen, Sir, wegen der Lagermiete, wenn sie noch länger hier geblieben wären. Sie fühlen sich wieder ganz zu Hause hier, hoffe ich? Freut mich, Sie zu sehen, freut mich, Sie zu sehen.«

Mr. Weevle dankt ihm und läßt seinen Blick rings in der Stube umherschweifen. Mr. Guppys Auge folgt seinem Blick. Mr. Weevles Auge kehrt zurück, ohne etwas erkundet zu haben. Mr. Guppys Auge kehrt ebenfalls zurück und begegnet Mr. Smallweeds Blick. Der gewinnende alte Herr murmelt immer noch wie ein aufgezognes Instrument: »Wie geht’s, Sir, wie geht’s… Wie…« Dann scheint das Uhrwerk abgelaufen zu sein, und er versinkt in zähnefletschendes Schweigen, da erschrickt plötzlich Mr. Guppy über den Anblick Mr. Tulkinghorns, der ihm, die Hände auf dem Rücken, in der Finsternis gegenübersteht.

»Der Herr ist so gütig, mir als Rechtsanwalt beizustehen«, erklärt Großvater Smallweed. »Ich bin eigentlich kein richtiger Klient für ihn, aber er ist trotzdem so liebenswürdig…«

Mr. Guppy gibt seinem Freund einen leisen Stoß, damit er sich noch einmal umsähe, und macht Mr. Tulkinghorn eine verlegne Verbeugung, die dieser mit einem leichten Nicken erwidert. Mr. Tulkinghorn sieht zu, als ob er weiter nichts zu tun habe und sich über das neuartige Schauspiel eher amüsiere.

»Eine sehr bedeutende Hinterlassenschaft, Sir, sollte ich meinen«, äußert Mr. Guppy zu Mr. Smallweed.

»Fast nur Lumpen und altes Gerumpel, mein lieber Freund! Ich und Bart und meine Enkelin Judy geben uns Mühe, ein Inventar von dem aufzunehmen, was des Verkaufens wert ist. Aber wir haben noch nicht viel gefunden, haben – noch – nicht… Ha…«

Mr. Smallweeds Uhrwerk ist wieder abgelaufen. Mr. Weevles Auge, begleitet von Mr. Guppys Auge, ist abermals im Zimmer umher- und zurückgeschweift.

»Nun, Sir«, sagt Mr. Weevle, »wir wollen Sie jetzt nicht stören, wenn Sie uns erlauben wollten, hinaufzugehen.«

»Überallhin, wohin Sie wollen, Sir! Sie sind zu Hause. Bitte, genieren Sie sich nicht.«

Wie sie die Treppe hinaufgehen, zieht Mr. Guppy fragend die Augenbrauen in die Höhe und sieht Tony an. Tony schüttelt den Kopf.

Das alte Zimmer ist womöglich noch ungemütlicher als früher, und auf dem Herd liegt noch die Asche des Feuers, das in jener denkwürdigen Nacht brannte. Sie fühlen sich sehr abgeneigt, etwas anzurühren, und blasen erst sorgfältig den Staub weg. Sie haben auch gar keine Lust, sich länger als nötig aufzuhalten, und packen die wenigen Sachen so schnell wie möglich zusammen, ohne lauter als flüsternd zu sprechen.

»Sieh nur«, sagt Tony plötzlich und fährt zurück. »Da kommt die abscheuliche Katze herein.«

Mr. Guppy flüchtet sich hinter seinen Stuhl. »Small hat mir von ihr erzählt. Sie ist in jener Nacht wie ein Drache herumgefahren, hat um sich gekratzt und sich dann vierzehn Tage lang auf den Dächern herumgetrieben und ist schließlich ganz abgemagert den Kamin heruntergekollert. Hast du je ein solches Vieh gesehen ? Sieht sie nicht aus, als ob sie in alles eingeweiht wäre? Sie sieht fast aus, als wäre sie Krook. Ksch, hinaus, du Kobold!«

Lady Jane steht in der Tür mit einem tigerartigen Fletschen von einem Ohr bis zum andern, den keulenförmigen Schweif aufgerichtet, und zeigt keine Lust, zu gehorchen. Mr. Tulkinghorn stolpert über sie, sie faucht wütend seine rostigen Beine an und schleicht dann mit krummem Rücken die Treppe hinauf. Wahrscheinlich, um sich wieder auf den Dächern herumzutreiben und durch den Schornstein zurückzukehren.

»Mr. Guppy«, fragt Mr. Tulkinghorn, »kann ich ein Wort mit Ihnen sprechen?«

Mr. Guppy nimmt eben die Prachtgalerie englischer Schönheiten von den Wänden und legt diese Kunstwerke in ihre alte unwürdige Hutschachtel. »Sir«, entgegnet er und wird rot, »es liegt mir außerordentlich daran, gegen jedes Mitglied der Advokatenkammer, und insbesondere gegen ein so wohlbekanntes und, wie ich wohl sagen darf, so ausgezeichnetes wie Sie, das größte Entgegenkommen zu beweisen, nur möchte ich es mir, Mr. Tulkinghorn, zur Bedingung machen, meinen Freund zuzuziehen, wenn Sie etwas mit mir sprechen wollen.«

»Hm«, meint Mr. Tulkinghorn.

»Ja, Sir. Meine Gründe sind durchaus nicht persönlicher Art, aber trotzdem für mich ausschlaggebend.«

»Die Sache ist nicht von solcher Wichtigkeit, daß Sie sich die Mühe hätten zu machen brauchen, Bedingungen zu stellen, Mr. Guppy.« Mr. Tulkinghorn hält inne und lächelt einen Augenblick, und sein Lächeln ist so glanzlos und rostig wie seine Beinkleider. »Man muß Ihnen übrigens gratulieren, Mr. Guppy. Sie sind ein glücklicher junger Mann, Sir.«

»So leidlich, Mr. Tulkinghorn. Ich kann nicht klagen.«

»Klagen? – Vornehme Freunde, freier Zutritt in großen Häusern und bei eleganten Damen. Mr. Guppy, es gibt Leute in London, die für so etwas ihre Ohren hergeben würden.«

Mr. Guppy sieht ganz so aus, als ob er seine immer röter werdenden Ohren gern hergeben würde, um lieber keinen Zutritt bei vornehmen Damen zu haben.

»Sir, wenn ich bei meinen Berufsgeschäften bleibe und bei Kenge & Carboy meinen Verpflichtungen nachkomme, geht es kein Mitglied der Advokatenkammer, nicht einmal Mr. Tulkinghorn von Lincoln’s-Inn-Fields, etwas an, wer meine Freunde und Bekannten sind. Ich fühle mich nicht verpflichtet, mich weiter zu erklären, und mit aller Achtung vor Ihnen, Sir, und ohne Sie beleidigen zu wollen –, ich wiederhole, ohne Sie im geringsten beleidigen zu wollen…«

»O, bitte sehr, Mr. Guppy.«

»Es liegt durchaus nicht in meiner Absicht…«

»Ich bin davon überzeugt«, sagt Mr. Tulkinghorn und nickt gelassen. »Schon gut. Ich sehe an diesen Porträts, daß Sie ein bedeutendes Interesse an der fashionablen Welt nehmen, Sir.«

– Er richtet diese Worte an Tony, der seine Schwäche nicht leugnen kann und ein ziemlich dummes Gesicht macht. –

»Eine Tugend, die wenigen Engländern mangelt«, bemerkt Mr. Tulkinghorn. Den Rücken dem verräucherten Kamin zugekehrt, hat er auf der Steinplatte vor dem Herd gestanden und sieht sich jetzt, mit dem Glas vor den Augen, um. »Wer ist das? Lady Dedlock! Ah! Eigentlich sehr ähnlich, aber es fehlt dem Bild die Charakteristik. Guten Tag, meine Herrn. Guten Tag.«

Als er zur Türe draußen ist, beeilt sich Mr. Guppy schweißgebadet, die Galerie der Schönheiten vollends herunterzunehmen, und macht mit Lady Dedlock den Schluß.

»Tony«, sagt er hastig zu seinem Freund, der bei Mr. Tulkinghorns Worten ein sehr erstauntes Gesicht gemacht hat, »wir wollen uns beeilen, die Sachen zusammenzupacken und den Ort zu verlassen. Es wäre vergeblich, dir länger verheimlichen zu wollen, Tony, daß zwischen mir und einem der Mitglieder unsrer schwanengleichen Aristokratie eine Verbindung bestanden hat. Es hätte eine Zeit kommen können, wo ich dir alles enthüllt haben würde. Sie wird jetzt nie mehr kommen. Ich habe es nicht nur geschworen, sondern bin es auch meinem zerschmetterten Idol und den Verhältnissen, über die ich keine Macht habe, schuldig, das Ganze in Vergessenheit zu begraben. Ich beschwöre dich als Freund bei dem Interesse, das du immer an den ‚fashionablen Nachrichten‘ genommen hast, und bei den kleinen Vorschüssen, mit denen ich dir auszuhelfen Gelegenheit gehabt habe, mich nicht weiter zu fragen und die Sache ein für allemal vergessen sein zu lassen.«

In einem Zustand, der einer Art juristischen Wahnwitzes gleicht, sprudelt Mr. Guppy diese Worte hervor, und wie verwirrt sein Freund darüber ist, verrät sich durch das Aussehen seines Haars und seines sorgfältig gepflegten Backenbartes.

32. Kapitel


32. Kapitel

Um die bestimmte Stunde

Es ist Nacht in Lincoln’s-Inn – diesem Tale der Verworrenheit und Ruhelosigkeit. Fette Kerzen werden in den Kanzleien ausgeblasen, Schreiber sind die wackelnden hölzernen Treppen hinuntergepoltert und haben sich zerstreut. Die Glocke, die um neun Uhr geläutet wird, hat ihr zweckloses klägliches Gewimmer eingestellt. Die Pforten sind verschlossen, und der nächtliche Türhüter, ein würdevoller Pförtner mit übermenschlicher Schlafkraft, hält in seiner Loge Wacht. Aus Reihen von Treppenfenstern schimmern trübe Lampen gleich den Augen der Gerechtigkeit, diesem schielenden, kurzsichtigen Argus mit einer unergründlichen Tasche und Augen außen drauf, zu den Sternen empor. In schmutzigen Fenstern der obern Stockwerke verraten neblige kleine Strahlenflecken von Kerzenlicht hie und da, daß ein listiger Paragraphenfuchs und Lehensrechtskundiger an Maschen aus Pergament arbeitet, um in dem Netz arglose Grundbesitzer einzufangen. Bienen gleich hocken diese Wohltäter der Menschheit über ihrer Beschäftigung, trotzdem die Geschäftsstunden längst vorüber sind, auf daß sie sich Rechenschaft geben über den gut angewendeten verflossnen Tag.

In dem benachbarten Cook’s Court, wo der Lordkanzler des Hadern- und Flaschenlandes wohnt, ist ein gewisser Hang nach Bier und Abendbrot unverkennbar. Mrs. Piper und Mrs. Perkins, deren beide Söhne im Freundeskreis, mit Versteckenspielen beschäftigt, einige Stunden lang in den Nebenstraßen von Chancery-Lane im Hinterhalt gelegen und zur Verwirrung der Vorübergehenden die Örtlichkeit unsicher gemacht haben, – Mrs. Piper und Mrs. Perkins haben sich soeben erst beglückwünscht, daß die Kinder, Gott sei Dank, zu Bett gebracht sind, und wechseln noch auf einer Türstufe ein paar Worte zum Abschied. Mr. Krook und sein Mieter, die Tatsache, daß Mr. Krook »immer einen weg hat«, und die Erbchancen des jungen Mannes bilden wie gewöhnlich das Hauptthema ihrer Unterhaltung. Aber sie haben auch etwas über die harmonische Gesellschaft in der »Sonne« zu sagen. Das Klimpern des Pianos klingt auf den Hof hinaus durch die halb geöffneten Fenster, hinter denen der kleine Swills, nachdem er die Harmonischen – ein zweiter Yorick – in beständigem Brüllen erhalten hat, jetzt seine Freunde und Gönner sentimental beschwört: »Lahauschet, lahauschet, lahauschet döm Wahahasserfall.«

Mrs. Perkins und Mrs. Piper tauschen ihre Ansichten aus über die junge Dame von Weltruf, die der harmonischen Gesellschaft ihre Talente angedeihen läßt und auf dem geschriebnen Programm im Fenster eine Extrazeile für sich hat. Mrs. Perkins weiß, daß sie schon gute anderthalb Jahre verheiratet ist, obgleich sie als »Miß M. Mellwilleson, die berühmte Sirene«, angekündigt ist, und daß ihr Baby jeden Abend heimlich in die »Sonne« gebracht wird, um während der Vorstellungspausen seine natürliche Nahrung zu empfangen. »Jetzt, was i bin«, sagt Mrs. Perkins, »i möcht lieber mein Brot mit Zündhölzhausieren verdiena.«

Mrs. Piper hält es für ihre Pflicht, derselben Meinung zu sein, und glaubt, daß der bescheidne Glanz des Privatlebens weit besser ist als öffentlicher Beifall, und sie dankt dem Himmel für ihre eigne und – selbstverständlich Miß Perkins‘ Achtbarkeit.

Da jetzt der junge Kellner aus der »Sonne« mit dem bestellten überschäumenden Bierkrug erscheint, nimmt Mrs. Piper die Kanne entgegen und zieht sich in ihre Wohnung zurück, nachdem sie Mrs. Perkins, die ihren Krug in der Hand hält, seit ihn der junge Perkins vor dem Schlafengehen aus dem gleichen Gasthaus geholt, eine recht geruhsame Nacht gewünscht hat. Dann hört man im Hof Fensterläden schließen, riecht Pfeifenrauch, und in den obern Fenstern machen sich Sternschnuppen bemerkbar, als Zeichen, daß die Leute zu Bett gehen. Jetzt fängt auch der Polizeimann an, an den Türen zu klinken, Riegel zu prüfen, Bündel argwöhnisch zu betrachten und die Runde zu machen, immer von der Voraussetzung ausgehend, daß entweder jemand stiehlt oder aber bestohlen wird.

Die Luft ist schwer heute nacht, feuchte Kälte dringt in alle Winkel, und ein träger Nebel schwebt über dem Boden. Es ist so ganz die Nacht dazu, um den Einfluß der Schlachthäuser, der ungesunden Keller, der Kloaken, des schlechten Wassers und der Begräbnisplätze so recht zur Geltung zu bringen und der Totenliste einen Extrabeitrag zu liefern.

Liegt etwas in der Luft oder in Mr. Weevle – alias Jobling – selbst, was nicht ganz in Ordnung ist? Kurz, er befindet sich durchaus nicht in behaglicher Stimmung. Er pendelt wohl zwanzig Mal in der Stunde zwischen seinem Zimmer und dem offnen Haustor hin und her, seitdem es dunkel geworden ist. Seit der Kanzler seinen Laden zugemacht hat, was heute abend sehr zeitig geschehen ist, hat Mr. Weevle, auf dem Kopf ein billiges knappes Samtkäppchen, das seinen Backenbart unverhältnismäßig groß erscheinen läßt, öfter noch als vorher den Weg zwischen Treppe und Haustor auf- und abgemacht.

Es ist nichts Abnormes, daß sich Mr. Snagsby ebenfalls in unbehaglicher Stimmung befindet, denn er leidet immer mehr oder weniger unter dem Druck des Geheimnisses, das auf ihm lastet. Mr. Krooks Laden übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus und scheint ihm die Hauptquelle alles Mysteriösen zu sein. Eben jetzt kommt Mr. Snagsby in der Absicht Cook’s Court hinab, zu dem Ausgang nach Chancery-Lane zu gehen, um damit seinen zehn Minuten lang dauernden Abendspaziergang von seiner Haustür und wieder zurück zu beschließen, um die Ecke des Gasthauses zur »Sonne« herum.

»Was? Mr. Weevle«, sagt er und bleibt stehen. »Sie sind auch da?«

»Ja, ich bin auch da, Mr. Snagsby.«

»Wollen Luft schöpfen, wie ich, vor dem Schlafengehen?« fragt der Schreibmaterialienhändler.

»Na, es ist hier nicht viel Luft zu schöpfen, und das bißchen ist nicht sehr erquickend«, meint Mr. Weevle und läßt seinen Blick Cook’s Court auf und ab schweifen.

»Sehr richtig, Sir. Merken Sie nicht auch…»Mr. Snagsby hält wieder inne, um in die Luft zu schnuppern. »Finden Sie nicht auch, Mr. Weevle, daß es hier – um nicht durch die Blume zu sprechen – merkwürdig brenzlig riecht, Sir?«

»Hm. Mir ist es auch schon so vorgekommen, als ob heute abend ein eigentümlicher Geruch im Hofe läge. Ich vermute, es gibt Hammelkoteletten in der ‚Sonne‘.«

»Hammelkoteletten, meinen Sie? Hm! – Hammelkoteletten?« Mr. Snagsby schnuppert wieder. »Schon möglich, Sir, aber ich an Stelle des Wirtes möchte der Köchin in der ‚Sonne‘ ein wenig auf die Finger sehen. Sie hat sie verbrennen lassen, Sir, und ich glaube nicht…« Mr. Snagsby schnuppert wieder, spuckt dann aus und wischt sich den Mund. »Ich glaube nicht – um nicht durch die Blume zu sprechen –, daß sie ganz frisch waren, als sie auf den Rost kamen.«

»Schon möglich. Bei solchem Wetter verderben die Sachen schnell.«

»Das Wetter verdirbt überhaupt alles«, bestätigt Mr. Snagsby. »Ich finde, sogar die gute Laune.«

»Donnerwetter, ja! Ich finde, es verursacht mir ordentlich Beklemmungen.«

»Ja, sehen Sie, Mr. Weevle, Sie leben hier so einsam und in einer Stube, über der ein dunkles Verhängnis liegt«, sagt Mr. Snagsby, blickt über des andern Schulter hinweg in den dunkeln Gang hinein und tritt dann einen Schritt zurück, um außen an dem Haus hinaufzuschauen. »Ich möchte in dieser Stube nicht allein wohnen wie Sie, Sir. Mir würde manchmal des Abends ganz bange und unruhig zumute werden. Ich möchte lieber am Haustor stehen bleiben als oben im Zimmer sitzen. Aber allerdings haben Sie dort nicht gesehen, was ich gesehen habe. Das ist ein großer Unterschied.«

»Ich weiß grade genug davon«, bemerkt Tony.

»Nicht besonders angenehm, wie?« fährt Mr. Snagsby fort und hüstelt seinen Überzeugungshusten hinter der Hand. »Mr. Krook sollte bei dem Zins darauf Rücksicht nehmen. Er wird es sicher tun.«

»Ich hoffe, er wird es tun«, sagt Tony, »aber ich bezweifle es.«

»Sie finden den Zins teuer, nicht wahr, Sir? Aber die Zinse sind in dieser Gegend überhaupt hoch. Ich weiß nicht, wie das kommt. Die Justiz scheint sie in die Höhe zu treiben. Nicht etwa«, setzt Mr. Snagsby mit seinem ‚Pardonhusten‘ hinzu, »daß ich auch nur ein Wort gegen den Beruf, der mich mein Brot verdienen läßt, zu sagen beabsichtigte.«

Wieder läßt Mr. Weevle einen Blick den Court auf und ab schweifen und sieht dann den Papierhändler an. Mr. Snagsby begegnet seinem Auge, schaut zum Himmel auf nach einem Stern oder sonst etwas und läßt einen Husten hören, der verrät, daß er nicht weiß, wie er der Unterhaltung ein Ende machen soll.

»Es ist ein merkwürdiger Zufall, Sir«, bemerkt er und reibt sich langsam die Hände, »daß er…«

»Wer, er?«

»Der Verstorbne, meine ich«, sagt Mr. Snagsby, indem er mit dem Kopf und seiner rechten Augenbraue nach der Treppe weist und seinem Gegenüber auf einen Knopf tippt.

»Ja, so«, entgegnet dieser in einem Ton, als spräche er von der Sache nicht allzu gern. »Ich dachte, wir hätten das Thema schon fallen lassen.«

»Ich wollte nur sagen, es ist ein merkwürdiger Zufall, Sir, daß er hier gewohnt und gelebt hat und einer meiner Schreiber war und daß Sie jetzt hier wohnen und auch einer meiner Schreiber sind. Es ist durchaus nichts Entwürdigendes in der Beschäftigung«, unterbricht sich Mr. Snagsby in der Befürchtung, er könne unhöflicherweise eine Art Eigentümerrecht auf Mr. Weevle geltend gemacht haben, »Gott sei vor. Ich habe Schreiber gekannt, die später ins Brauereigeschäft gekommen sind und sehr angesehen waren. Außerordentlich angesehen, Sir«, wiederholt Mr. Snagsby mit der unangenehmen Empfindung, daß er die Sache nicht verbessert hat.

»Es ist ein seltsames Zusammentreffen, wie Sie richtig sagen«, gibt Mr. Weevle zu und blickt wieder den Hof auf und ab.

»Eine Art Schicksalsbestimmung.«

»So scheint es.«

»Ja, ja«, hüstelt der Papierhändler bestätigend. »Die reinste Schicksalsbestimmung. Ich fürchte, Mr. Weevle, ich muß Ihnen jetzt gute Nacht sagen.« Mr. Snagsby spricht, als sei er untröstlich, gehen zu müssen, obgleich er von Anfang des Gespräches an schon nach Mitteln gesucht hat, loszukommen. »Meine kleine Frau würde mich sonst vermissen. Gute Nacht, Sir.«

Wenn Mr. Snagsby nach Hause eilen zu müssen glaubt, um seiner kleine Frau die Mühe, nach ihm zu sehen, zu ersparen, so könnte er darüber vollkommen beruhigt sein. Seine kleine Frau hat ihn die ganze Zeit über hinter der Ecke der »Sonne« hervor belauert und schlüpft ihm jetzt nach, ein Taschentuch über den Kopf gebunden, und beehrt Mr. Weevle und seinen Hausflur beim Vorbeigehen mit einem sehr argwöhnischen Blick.

»Nun, jedenfalls werden Sie mich wiedererkennen, Maam«, brummt Mr. Weevle vor sich hin. »Und über Ihr Aussehen mit Ihrem eingebundenen Kopf kann man Ihnen auch kein Kompliment machen, wer Sie auch sein mögen. – Will denn der Kerl gar nicht kommen?«

Der Kerl kommt näher, während er noch brummt. Mr. Weevle hält warnend die Hand empor, zieht ihn am Ärmel in den Gang und macht die Haustür zu. Dann gehen sie die Treppe hinauf. Mr. Weevle schwerfällig, Mr. Guppy mit sehr leichtem Schritt. Als sie die Tür des Zimmers hinter sich zugemacht haben, sprechen sie in leisem Ton miteinander.

»Ich dachte schon, du wärst mindestens nach Jericho gegangen, anstatt zu mir zu kommen«, brummt Tony.

»Ich sagte doch, gegen zehn.«

»Gegen zehn«, wiederholt Tony. »Gegen zehn! Nach meiner Rechnung ist es schon zehn Mal zehn. Ist es schon hundert Uhr! In meinem ganzen Leben habe ich noch keinen solchen Abend gehabt.«

»Was war denn los?«

»Das ist’s ja eben«, sagt Tony. »Nichts war los. Ich habe hier in dieser lieblichen alten Krippe geraucht und gesessen, bis mir die Schauer fingerdick über den Rücken gelaufen sind. Da, sieh nur einmal diese liebenswürdige Kerze.« Tony deutet auf das trüb brennende Licht auf dem Tisch, das am Docht große Räuber und ein Leichenhemd um hat aus abgetropftem Talg.

»Dem läßt sich leicht abhelfen«, bemerkt Mr. Guppy und nimmt die Lichtschere zur Hand.

»Ja, ja! aber nicht so leicht, wie du meinst. Sie hat so schlecht gebrannt, seitdem sie angezündet ist.«

»Was ist eigentlich mit dir los, Tony ?« fragt Mr. Guppy, sieht ihn, mit der Lichtschere in der Hand, an, setzt sich hin und stützt die Ellbogen auf den Tisch.

»William Guppy«, entgegnet der andre, »ich bin schon ganz trübsinnig. Es kommt von dieser unerträglichen langweiligen selbstmörderischen Stube – und dem alten Popanz unten, glaube ich.« Mr. Weevle schiebt mürrisch mit dem Ellbogen den Lichtscherenkasten weg, stützt den Kopf in die Hand, stemmt die Füße auf das Kamingitter und starrt ins Feuer. Mr. Guppy sieht ihn an, zuckt leise die Achseln und setzt sich an die andre Seite des Tisches in ungezwungner Haltung hin.

»War das nicht Snagsby, der vorhin mit dir sprach, Tony?«

»Ja, und hol dich… Ja, es war Snagsby«, sagt Mr. Weevle und ändert rasch die Worte, die er sich zuerst gedacht hat.

»In Geschäften?«

»Nein. Nicht in Geschäften. Er kam gerade vorbei und blieb stehen, um zu tratschen.«

»Ich habe mir gleich gedacht, es müsse Snagsby sein«, sagt Mr. Guppy, »und glaubte, es wäre gut, wenn er mich nicht sähe. Deshalb wartete ich, bis er fortging.«

»Da haben wir’s wieder, William Guppy!« ruft Tony und wirft einen verzweifelten Blick auf die Decke. »So geheimnisvoll und versteckt! Zum Donnerwetter, wenn wir einen Mord beabsichtigten, könnten wir nicht geheimnisvoller tun.«

Mr. Guppy heuchelt ein Lächeln und besieht sich, um dem Gespräch eine andre Wendung zu geben, mit echter oder vorgeblicher Bewunderung die Schönheitsgalerie an den Zimmerwänden und beschließt sie beim Porträt der Lady Dedlock, das sie darstellt auf einer Terrasse, einer Vase auf dem Piedestal, ihrem Schal auf der Vase, einem Pelzkragen auf dem Schal, ihrem Arm auf dem Pelzkragen und einem Armband an ihrem Handgelenk.

»Es sieht Lady Dedlock wirklich sprechend ähnlich. Sie ist es selbst.«

»Ich wollte, es wäre so«, brummt Tony, ohne seine Stellung zu ändern, »dann hätte man wenigstens eine fashionable Unterhaltung hier.«

Mr. Guppy hat sich jetzt überzeugt, daß sich sein Freund nicht in eine heiterere Stimmung hineinscherzen läßt, gibt den Versuch als nutzlos auf und macht ihm Vorstellungen.

»Tony«, sagt er, »ich kann Trübsinn entschuldigen. Niemand weiß besser als ich, wie es ist, wenn er über einen kommt. Und vielleicht weiß das ein Mensch, in dessen Herzen unerwiderte Liebe wohnt, am besten, aber Trübsinn muß seine Grenzen haben, und ich muß dir gestehen, Tony, daß mir dein Benehmen weder gastfreundschaftlich noch besonders anständig erscheint.«

»Das sind starke Worte, William Guppy«, entgegnet Mr. Weevle.

»Kann sein, Sir. Aber ich fühle stark, wenn ich so spreche.«

Mr. Weevle gibt zu, Unrecht gehabt zu haben, und bittet Mr. William Guppy, nicht mehr daran zu denken. Da jedoch Mr. William Guppy momentan im Vorteil ist, so kann er doch unmöglich aufhören.

»Nein, wahrhaftig, Tony«, sagt er, »du solltest dich wirklich in acht nehmen, die Gefühle eines Menschen zu verletzen, dessen Herz so überempfindlich sein muß. Du, Tony, besitzest in dir selbst alles, was das Auge erquickt und den Geschmack erfreut. Es ist – vielleicht zum Glück für dich, und ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir sagen –nicht in deinem Charakter gelegen, eine einzige Blume zu umschweben. Dir steht der ganze Garten offen, und deine luftigen Schwingen tragen dich von Blüte zu Blüte. Dennoch, Tony, liegt mir nichts ferner, als ohne Ursache selbst deine Gefühle zu verletzen.«

Tony bittet abermals, die Sache fallen zu lassen, und sagt mit Emphase: »Aber laß doch, William Guppy, hör schon auf!«

Mr. Guppy fährt versöhnlich fort: »Ich hätte nie von selbst davon angefangen, Tony.«

»Aber jetzt zu den Briefen«, unterbricht ihn Tony und schürt das Feuer. »Ist es nicht merkwürdig, daß Krook gerade zwölf Uhr Mitternacht zur Übergabe bestimmen muß?«

»Allerdings. Warum wohl?«

»Hat er je einen Grund, wenn er etwas tut? Er sagte, heute sei sein Geburtstag und er wolle sie mir nachts um zwölf Uhr übergeben. Er wird um diese Zeit total betrunken sein. Er war es schon den ganzen Tag über.«

»Hoffentlich hat er die Verabredung nicht vergessen?«

»Vergessen? Da kennst du ihn schlecht. Er vergißt nie etwas. Ich sah ihn heute abend gegen acht und half ihm den Laden zusperren, und da hatte er die Briefe unter seiner Pelzmütze. Er nahm sie ab und zeigte mir das Paket. Als der Laden zu war, nahm er es heraus, hängte die Mütze auf die Stuhllehne und sah es durch vor dem Kamin. Kurze Zeit darauf hörte ich ihn durch die Dielen hier, wie der Wind heult, das einzige Lied summen, das er kann, von Bibo und dem alten Charon, und daß Bibo betrunken war, als er starb, oder so etwas Ähnliches. Er ist seitdem so ruhig gewesen wie eine alte Ratte, die in ihrem Loch schläft.«

»Und du sollst um zwölf Uhr hinunterkommen?«

»Um zwölf. Und wie ich dir schon sagte, als du kamst, scheint es mir bereits hundert Uhr zu sein.«

»Tony«, sagt Mr. Guppy, nachdem er eine Weile mit überschlagnen Beinen nachdenklich dagesessen hat. »Er kann noch immer nicht lesen, wie?«

»Lesen! Er wird überhaupt nie lesen können. Er kann die Buchstaben einzeln hinschreiben und kennt sie, wenn er sie sieht, das habe ich ihm nach und nach beigebracht, aber verbinden kann er sie nicht. Er ist zu alt, um solche Nüsse zu knacken, und säuft zu viel.«

»Tony.« Mr. Guppy schlägt jetzt das rechte Bein über das linke. »Wie mag er wohl den Namen Hawdon herausbuchstabiert haben?«

»Er hat ihn doch gar nicht heraus buchstabiert. Du weißt, wie merkwürdig sein Auge geschult ist, sich mit dem Kopieren von Worten bloß der äußern Form nach zu beschäftigen. Er machte den Namen nach – allem Anschein nach war es eine Briefadresse – und fragte mich, was sie bedeute.«

»Tony, was meinst du? Ist das Original eine Frauen- oder eine Männerhand?«

»Eine Frauenhand! Fünfzig gegen eins sind die Briefe von einer Dame. Die Buchstaben stehen schräg, und die Schwänze der ’n‘ sind lang und hastig.«

Mr. Guppy hat während dieses Zwiegesprächs abwechselnd an den Nägeln seiner Daumen gekaut und die Beine nervös übereinandergeschlagen. Wieder ändert er seine Stellung, und dabei fällt sein Blick zufällig auf seinen Rockärmel. Seine Aufmerksamkeit wird rege. Er starrt erschrocken hin.

»Aber Tony, was geht nur heute nacht in diesem Hause vor? Brennt ein Schornstein?«

»Ein Schornstein brennen?«

»Hm«, entgegnet Mr. Guppy. »Schau nur, wieviel Ruß fällt. Schau hier meinen Arm. Und hier auf dem Tisch! Verdammtes Zeug! Es läßt sich nicht wegblasen. Es schmiert sich wie schwarzes Fett.«

Sie sehen einander an, Tony geht horchend an die Tür und ein paar Stufen die Treppe hinauf, kommt dann mit der Nachricht zurück, es sei alles still, und äußert wieder, wie schon vorhin zu Mr. Snagsby, daß sie wahrscheinlich in der »Sonne« Hammelkoteletten brieten.

»Und bei dieser Gelegenheit«, nimmt Mr. Guppy seine Rede wieder auf, besieht sich dabei immer noch mit sichtlichem Ekel seinen Rockärmel, während sie vor dem Feuer ihr Gespräch fortsetzen und die Köpfe zusammenstecken, »bei dieser Gelegenheit sagte er dir also, daß er die Briefe aus dem Mantelsack des Verstorbenen genommen habe?«

»Ja, bei dieser Gelegenheit«, antwortet Tony und kämmt sich seinen Backenbart mit den Fingern. »Worauf ich meinem lieben Freunde, Seiner Hochwohlgeboren William Guppy, ein paar Zeilen schrieb, mit der Nachricht, sich heute hier einzufinden, und zwar vorsichtig, denn der alte Popanz sei ein Schlaufuchs.«

Der leichte fashionable Konversationston, den Mr. Weevle gern anzunehmen pflegt, liegt ihm diese Nacht so wenig, daß er ihn und die Pflege seines Backenbarts ganz und gar aufgibt, scheu über die Achsel blickt und wieder eine Beute banger Schrecken zu sein scheint.

»Und du sollst die Briefe auf deine Stube nehmen, um sie zu lesen und zu vergleichen? Du willst mir dann alles mitteilen, was drin steht? Das haben wir doch vereinbart, nicht wahr, Tony?« fragt Mr. Guppy und zerkaut aufgeregt seine Daumennägel.

»Du kannst nicht leise genug sprechen! Ja, das haben wir vereinbart.«

»Ich will dir was sagen, Tony.«

»Du kannst nicht leise genug sprechen«, mahnt Tony noch einmal.

Mr. Guppy nickt weise. Sie stecken die Köpfe wieder zusammen und flüstern.

»Ich will dir was sagen, Tony. Das erste, was wir zu tun haben, ist, die Briefe genau nachzumachen, so daß du ihm, wenn er es etwa verlangen sollte, die falschen zeigen kannst, solange die echten in meinem Besitz sind.«

»Und angenommen, er erkennt die nachgemachten, was bei seinem verwünschten Scharfblick fünfhundert gegen eins wahrscheinlich ist?« wirft Tony ein.

»Dann müssen wir es eben darauf ankommen lassen. Sie gehören ihm nicht und haben ihm nie gehört. Du hast das entdeckt, verstanden, und sie der Sicherheit wegen in meine Hände als die einer juristischen Vertrauensperson gelegt. Wenn er uns dazu zwingt, können wir sie ja bei Gericht deponieren, nicht wahr?«

»Hm, ja«, gibt Mr. Weevle widerwillig zu.

»Aber Tony, was du für ein Gesicht machst! Du zweifelst doch nicht am Ende an William Guppy? Es ist doch nichts Schlimmes dabei«, hält ihm sein Freund vor.

»Ich argwöhne nicht mehr, als ich weiß, William«, entgegnet Jobling ernst.

»Und was weißt du?«, dringt Mr. Guppy mit etwas lauterer Stimme in ihn. Aber da sein Freund ihn abermals warnt: »Ich sage dir doch, du kannst nicht leise genug sprechen«, wiederholt er seine Frage ganz tonlos: »Was weißt du?«

»Ich weiß dreierlei. Erstens weiß ich, daß wir hier geheimnisvoll miteinander flüstern wie ein paar Verschwörer.«

»Gut«, gibt Mr. Guppy zu. »Besser, wir sind ein paar Verschwörer als ein paar Dummköpfe. Und das wären wir, wenn wir etwas andres täten. Es ist der einzige Weg, das zu erreichen, was wir wollen. Und zweitens?«

»Zweitens ist es mir nicht klar, welchen Nutzen die Sache abwerfen soll.«

Mr. Guppy läßt seine Augen über das Porträt der Lady Dedlock über dem Kaminsims gleiten und gibt zur Antwort: »Das, Tony, muß ich dich bitten, der Ehrenhaftigkeit deines Freundes zu überlassen. Abgesehen davon, daß du nicht an gewisse Saiten zu rühren brauchst, quälerischerweise, so ist dein Freund doch kein Dummkopf… Ha, was ist das?«

»Elf Uhr schlägt es von der St. Paulskirche. Horch, gleich werden alle Glocken in der City läuten.«

Beide sitzen schweigend da und lauschen den metallenen Stimmen, die in der Nähe und aus der Ferne und von den Türmen herab erklingen. Als sie endlich verstummen, scheint alles nur noch geheimnisvoller als vorher. Eine unangenehme Folge des Flüsterns im allgemeinen ist, daß es eine eigenartige Atmosphäre des Schweigens zu erzeugen scheint, belebt von den Gespenstern des Schalles, von seltsamem Knarren und Klopfen, dem Rauschen wesenloser Kleider und dem Tritt grauenvoller Füße, die auf Ufersand oder Winterschnee keine Spur zurücklassen könnten. Für solche Eindrücke sind die beiden Freunde heute empfänglich. Die Luft ist voll von Phantomen, und die beiden sehen sich wie auf Verabredung um, ob die Tür auch wirklich geschlossen ist.

»Ja, Tony«, sagt Mr. Guppy, rückt dem Feuer näher und kaut ruhelos an seinem Daumennagel. »Du wolltest sagen: Drittens!«

»Drittens ist es nichts weniger als angenehm, gegen einen Toten in dem Zimmer, wo er gestorben ist, zu konspirieren, zumal, wenn man zufällig darin wohnt.«

»Aber wir konspirieren doch nicht gegen ihn, Tony.«

»Vielleicht nicht. Aber trotzdem gefällt es mir nicht. Wohne nur selbst einmal hier. Dir würde es auch nicht gefallen.«

»Was Tote betrifft, Tony«, belehrt Mr. Guppy, dem Vorschlag ausweichend, »so haben in den meisten Zimmern schon Tote gelegen.«

»Das weiß ich. Aber in den meisten Zimmern läßt man sie in Ruhe, und – sie lassen einen in Ruhe.«

Wieder blicken sich die beiden an. Mr. Guppy wirft eine Bemerkung hin, daß sie dem Verstorbenen vielleicht einen Dienst erweisen und daß er das hoffe. Dann entsteht eine bedrückende Pause. Plötzlich schürt Mr. Weevle das Feuer, und das macht Mr. Guppy auffahren, als hätte man statt in den Kohlen in seinem Herzen herumgerührt.

»Pfui! Da hängt noch mehr von diesem abscheulichen Ruß«, ruft er. »Wir wollen das Fenster ein bißchen aufmachen und einen Mund voll Luft schnappen. Es ist so dumpf hier.«

Er schiebt das Fenster in die Höhe, und beide setzen sich auf das Fensterbrett. Die Nachbarhäuser sind zu nahe, als daß man den Himmel sehen könnte, wenn man nicht den Hals verdrehen und die Wand des Hauses hinaufsehen will. Aber da und dort Lichtschimmer in trüben Fenstern, das Rollen ferner Wagen und das Bewußtsein, daß sich auf der Straße Menschen regen, machen ihnen das Herz etwas leichter. Mr. Guppy klopft geräuschlos auf das Fensterbrett und beginnt sein Flüstern in einem freieren, fast scherzhaften Ton von neuem.

»Übrigens, Tony, vergiß dich nicht dem alten Smallweed gegenüber.« Er meint damit den jungen Smallweed. »Du weißt, ich habe ihn in die Angelegenheit nicht eingeweiht. Sein Großvater ist mir schon gar zu schlau. Es liegt in der Familie.«

»Ich werde schon achtgeben«, brummt Tony. »Ich kenn mich schon

»Und was Krook betrifft, glaubst du wirklich, daß er noch andre Papiere von Wichtigkeit besitzt, wie er sich gegen dich gerühmt hat?«

Tony schüttelt den Kopf.

»Weiß ich nicht. Habe keine Ahnung. Wenn uns diese Sache gelingt, ohne seinen Verdacht zu erregen, werde ich es schon herausbringen. Wie kann ich’s wissen, ohne sie gesehen zu haben! Er weiß es doch selbst nicht einmal. Er buchstabiert beständig Worte aus ihnen und malt sie auf den Tisch und die Wand und fragt, was das oder jenes heiße. Sein ganzer Vorrat kann von A bis Z recht gut die Makulatur sein, für die er ihn gekauft hat. Es ist eine seiner fixen Ideen, zu glauben, er besitze Dokumente. Nach dem, was er mir gesagt hat, scheint er sie das ganze letzte Vierteljahrhundert zu lesen versucht zu haben.«

»Wie mag er nur auf solche Gedanken gekommen sein?« fragt Mr. Guppy und schließt grübelnd ein Auge. »Vielleicht hat er unter Dingen, die er zusammengekauft hat, versteckte Papiere gefunden und daraus in seiner Schlauheit geschlossen, sie besäßen einen Wert.«

»Oder man hat ihn bei diesen anscheinend guten Geschäften hintergangen. Oder er ist bei dem langen Grübeln darüber oder vom Trinken und dem ewigen Herumlungern im Gerichtshof und dem beständigen Redenhören von Dokumenten verrückt geworden«, wendet Mr. Weevle ein.

Guppy sitzt auf dem Fensterbrett, nickt mit dem Kopf und wägt alle diese Wahrscheinlichkeiten im Geiste ab. Dann fährt er fort, gedankenvoll auf das Fensterbrett zu klopfen, und mißt es nach allen Richtungen zerstreut mit den Fingern ab. Plötzlich zieht er hastig die Hand zurück:

»Zum Teufel, was ist das? Schau nur!«

Ein zäher gelber Saft befleckt seine Finger, widerlich fett, widerlich anzusehen und noch widerlicher riechend. Ein klebriges ekelhaftes Öl, das beide schaudern macht.

»Was hast du hier ausgegossen? Was hast du denn aus dem Fenster geschüttet?«

»Ich, aus dem Fenster geschüttet? Nichts. Ich schwöre dir. Nichts, seit ich hier bin.«

»Und schau nur, hier… Und da.« Weevle bringt das Licht.

Langsam träufelt und kriecht die Flüssigkeit an der Ecke des Fensterbrettes die Ziegel hinunter und bildet im Zimmer eine kleine dicke ekelhafte Pfütze.

»Das ist ein gräßliches Haus«, ächzt Mr. Guppy und schließt das Fenster. »Gib mir Wasser, oder ich schneide mir die Hand ab.«

Er wäscht und reibt und schabt, riecht an den Fingern, versucht, sich mit einem Glas Branntwein zu stärken, und wäscht sich immer noch schweigend am Kamin, als die St. Paulskirche zwölf schlägt und all die andern Glocken in ihren Türmen in der dunkeln Luft mit ihren vielfach verschiednen Klängen einfallen. Als alles wieder ruhig ist, sagt Jobling:

»Es ist die bestimmte Stunde. Soll ich gehen?«

Mr. Guppy nickt und wünscht ihm Glück mit einem Schlag auf die Schulter, aber nicht mit der gewaschenen Hand, obgleich es seine rechte ist.

Mr. Weevle geht die Treppe hinab, und Mr. Guppy versucht, sich am Kamin auf ein längeres Warten gefaßt zu machen. Aber kaum ein oder zwei Minuten sind verstrichen, da hört er die Treppenstufen knarren, und sein Freund kehrt rasch zurück.

»Hast du sie?«

»Ob ich sie habe? Nein. Der Alte ist nicht zu finden.«

Er sieht so fürchterlich erschrocken aus, daß sein Entsetzen den andern ansteckt. Guppy stürzt auf ihn los und fragt laut:

»Was ist geschehen?«

»Ich bekam keine Antwort, als ich nach ihm rief. Ich öffnete leise die Tür und sah hinein. Der brandige Geruch kommt von dort – und der Ruß und das Öl. Er selbst ist nicht da.« Tony stöhnt laut auf.

Mr. Guppy nimmt das Licht. Sie gehen hinunter, mehr tot als lebendig, halten sich aneinander fest und stoßen die Türe auf. Die Katze hat sich in einen Winkel zurückgezogen und faucht etwas an. Nicht sie. Etwas auf dem Boden vor dem Kamin. Im Rost glimmt noch ein kleines Feuer, und das ganze Zimmer ist erfüllt von einem schweren erstickenden Rauch. Ein dunkler schmieriger Überzug bedeckt Wände und Decke. Die Stühle und der Tisch mit der darauf liegenden Flasche stehen da wie gewöhnlich. Auf einer Stuhllehne hängen die Pelzmütze und der Rock des Alten.

»Siehst du?« flüstert Weevle und deutet mit zitterndem Finger auf die Sachen. »Ganz so, wie ich es dir gesagt habe. Als ich ihn zuletzt sprach, nahm er seine Mütze ab, holte das Paket Briefe heraus und hängte die Mütze auf die Stuhllehne – sein Rock hing schon dort, denn er hat ihn ausgezogen, wie er die Läden zumachte. Ich verließ ihn, wie er die Briefe durchsah und gerade dort stand, wo dieses verkohlte schwarze Ding auf dem Boden liegt.«

Hat er sich erhängt? Hängt er irgendwo?

Sie sehen sich um… Nein.

»Dort«, flüstert Tony, »vor dem Stuhl, dort liegt ein Stück dünner roter Bindfaden. Damit waren die Briefe zusammengebunden. Er wickelte es langsam ab und grinste mich zähnefletschend an und lachte, ehe er sie durchblätterte, und warf es dorthin. Ich sah es noch fallen.«

»Was hat nur die Katze?« sagt Mr. Guppy. »Schau nur!«

»Verrückt wahrscheinlich. Kein Wunder an diesem entsetzlichen Ort.«

Sie machen einen Schritt vorwärts und besichtigen alle Gegenstände.

Die Katze rührt sich nicht von der Stelle und faucht immer noch etwas auf dem Boden vor dem Kamin zwischen den zwei Stühlen an. »Was ist das? Halt die Kerze in die Höhe!«

Ein schmaler verbrannter Fleck auf der Diele.

Daneben liegt der Zunder von einem kleinen Paket verbrannten Papiers. Er ist nicht so leicht, wie er sein müßte, denn er scheint von etwas befeuchtet zu sein.

Und hier – ist es der Rest von einem verkohlten Holzklotz, mit weißer Asche überstreut? Oder ist es Steinkohle?

Entsetzlich: Er ist hier! Und das, vor dem sie zurückprallen, dabei das Licht auslöschen und dann übereinander weg auf die Straße stürzen, ist alles, was von ihm übrig geblieben ist.

»Hilfe, Hilfe, Hilfe! Um Gottes willen kommt in das Haus hier!«

Eine Menge Leute eilen herbei. Aber niemand kann helfen. Der Lordkanzler dieses Gerichtshofs hier, bis zu seiner letzten Tat seinem Titel getreu, ist den Tod aller Lordkanzler, aller Gerichtshöfe gestorben und aller Behörden an allen Orten, wo falsche Ansprüche unter allen möglichen Namen erhoben werden und die Ungerechtigkeit herrscht. Nennt den Tod, wie Euer Hoheit Lust haben, schreibt ihn zu, wem ihr wollt, oder sagt, er hätte verhindert werden können. Es bleibt immer und ewig derselbe Tod, eingeboren, eingepflanzt, erzeugt von den verdorbnen Säften des verkommenen Körpers selbst: Selbstverbrennung! Spontane, von selbst entstandne Verbrennung und keine andre von all den vielen Todesarten, die der Mensch sterben kann.

33. Kapitel


33. Kapitel

Mr. Smallweed mischt sich ein

Jetzt erscheinen die beiden um Rockaufschläge und Knopflöcher herum nicht sehr sauber aussehenden Herren, die schon der letzten Totenschau in der »Sonne« beiwohnten, mit erstaunlicher Schnelligkeit wieder – der emsige und findige Kirchendiener hat sie nämlich atemlos geholt –, stellen Nachforschungen in ganz Cook’s Court an, verschwinden im Gastzimmer der »Sonne« und schreiben mit gefräßigen kleinen Federn auf dünnes Papier. Sie notieren in stiller Nacht, die Nachbarschaft von Chancery-Lane sei um die Geisterstunde durch folgende höchst beunruhigende und schreckliche Entdeckung in die fürchterlichste Aufregung versetzt worden. Sie setzen voraus, daß man sich jedenfalls noch erinnern werde, welch peinliches Aufsehen vor einiger Zeit beim Publikum ein gewisser geheimnisvoller Todesfall, infolge Opiumgenusses, in dem ersten Stockwerk eines Hauses, das einem exzentrischen Individuum von hohem Alter und großer Trunksucht, namens Krook, gehörte, gemacht habe, und wie man durch ein höchst merkwürdiges Zusammentreffen von Umständen denselbigen Krook bei der Totenschau damals in der »Sonne«, einem guten Wirtshaus unmittelbar neben dem in Rede stehenden Hause auf der Westseite und im konzessionierten Besitz eines sehr achtbaren Wirtes, Mr. James George Bogsby, verhört habe. Sie erzählen so ausführlich wie möglich, daß schon einige Stunden vorher, am Abend, die Bewohner von Cook’s Court, wo sich der tragische Vorfall ereignet habe, einen sehr eigentümlichen Geruch verspürten. Der Geruch sei zuzeiten so stark gewesen, daß Mr. Swills, ein Coupletsänger in Mr. J. G. Bogsbys Etablissement, wie er unserm Berichterstatter persönlich erzählte, zu Miß M. Melvilleson, einer Dame von bemerkenswertem musikalischem Talent (ebenfalls bei Mr. J. B. Bogsby, für eine Reihe von Konzerten, besser gesagt, harmonischen Assemblees oder Meetings, engagiert), bemerkt habe, die auffallend unreine Atmosphäre griffe Sängerkehlen stark an, bei welcher Gelegenheit er sich des scherzhaften Ausdrucks bediente, er komme sich wie ein leerer Postschalter vor, denn er habe keine einzige Note in sich. Diesen Bericht Mr. Swills hätten zwei sehr intelligente verheiratete Frauen auf demselben Hof, namens Mrs. Piper und Mrs. Perkins, vollständig bestätigt. Beide hatten einen brenzlig stinkenden Geruch bemerkt und seien der Meinung gewesen, er käme aus des verunglückten Krooks Hause. Alles das schreiben die beiden Herren in einem Zuge nieder und schließen anläßlich der traurigen Katastrophe eine Art freundschaftliche Kompagnieschaft, und die jugendliche Bevölkerung des Hofs ist im Nu aus dem Bett und klettert die Läden der Wirtsstube der »Sonne« hinauf, um die Scheitel ihrer Köpfe zu sehen, während sie mit Schreiben beschäftigt sind.

Ganz Cook’s Court, alt und jung, schläft diese Nacht nicht, hat seine vielen Köpfe in Tücher gehüllt, wendet kein Auge von dem Unglückshaus und schwätzt unaufhörlich. Miß Flite hat man mit Todesmut aus ihrem Zimmer gerettet, als ob es in Flammen stünde, und ihr ein Bett in der »Sonne« angewiesen.

Die »Sonne« dreht für diese Nacht weder das Gas aus noch schließt sie die Türen, denn jede Art öffentlicher Aufregung gibt ihr zu verdienen und macht den Hof der Stärkung bedürftig. Seit der Totenschau damals hat das Haus nicht soviel Geschäfte in magenstärkenden Getränken oder Brandy mit heißem Wasser gemacht. Kaum hörte der Kellner von dem Vorfall, krempelte er seine Hemdsärmel bis an die Schultern in die Höhe und sagte: »Jetzt wird’s gleich damisch zu tun geben.«

Bei dem ersten Lärm ist Jung-Piper um die Feuerspritze geeilt und triumphierend in polterndem Galopp, hoch oben auf dem Phönix sitzend und sich mit äußerster Kraftanstrengung an dem Fabeltier festhaltend, umgeben von Helmen und Fackeln, zurückgekehrt.

Nach sorgfältiger Prüfung aller Ritzen und Spalten bleibt aber nur ein einziger Helm zurück und geht langsam mit einem der zwei Polizeimänner, die ebenfalls kommen mußten, vor dem Hause auf und ab. Jedermann in Cook’s Court, der einen Sixpence besitzt, zeigt ein unersättliches Verlangen, diesem Trio Gastfreundschaft in flüssiger Form anzubieten.

Mr. Weevle und sein Freund Mr. Guppy stehen innerhalb der Bar und dürfen in der »Sonne« alles bestellen, was an Getränken vorhanden ist. Nur dableiben sollen sie. »Das ist nicht die Zeit«, sagt Mr. Bogsby, »um mit Geld zu knickern«, obgleich er hinter dem Ladentisch sehr scharf aufs Geschäft sieht. »Bestellen Sie, meine Herren, bestellen Sie, und Sie sollen haben, was Sie nur mit Namen nennen können.«

So gebeten, nennen die beiden Gentlemen, und ganz besonders Mr. Weevle, so vielerlei mit Namen, daß es ihnen im Lauf der Stunden immer schwerer und schwerer wird, überhaupt noch etwas deutlich beim Namen nennen zu können. Aber immer noch erzählen sie jedem neuen Ankömmling mit irgendeiner kleinen Variation, was ihnen zugestoßen ist und was sie gesagt oder gesehen haben. Währenddessen klinkt einer der beiden Polizeimänner von Zeit zu Zeit die Türe auf und späht aus der Dunkelheit draußen herein. Nicht etwa, weil er Verdacht hat, sondern weil er auch gern wissen möchte, was die da drinnen erzählen.

So nimmt die Nacht ihren bleiernen Verlauf und findet den Hof in ungewohnten Stunden immer noch außer Bett, immer noch traktierend und traktiert werdend und immer noch sich benehmend wie ein Verein, der unerwartet eine kleine Erbschaft gemacht hat. Dann scheidet die Nacht endlich mit langsamem Schritt, und der Laternenmann macht seinen Rundgang und schlägt wie der Scharfrichter eines despotischen Märchenkönigs die kleinen Flammenköpfe ab, die sich angemaßt haben, die Finsternis zu schädigen. Dann muß der Tag kommen, ob er will oder nicht.

Und der Tag sogar, trotz seinem trüben Londoner Auge, kann erkennen, daß Cook’s Court die ganze Nacht durchwacht hat. Wie die Gesichter schläfrig auf Tischen ruhen, die Beine auf harten Dielen liegen anstatt in Betten, sehen selbst die Hausfassaden des Hofs müde und matt drein, und als die Nachbarschaft aufwacht und von dem Geschehnis erfährt, strömt sie, nur halb angekleidet, herbei, und die beiden Polizeidiener und der Feuerwehrhelm, äußern Eindrücken viel weniger zugänglich als der Hof, haben alle Hände voll zu tun, um nur die Tür freizuhalten.

»Gott im Himmel, meine Herren«, ruft Mr. Snagsby, der jetzt herankommt. »Was höre ich!«

»Ist alles wahr«, entgegnet einer der Polizeimänner, »alles wahr, aber, bitte, nicht stehenbleiben!«

»Du mein Gott, meine Herren«, sagt Mr. Snagsby, noch während er zurückgedrängt wird. »Ich war gestern abend noch zwischen zehn und elf Uhr an seiner Haustür und sprach mit dem jungen Mann, der dort wohnt.«

»Wirklich? Nun, dann werden Sie den jungen Mann hier daneben finden. Nicht stehenbleiben, nicht stehenbleiben, bitte.«

»Nicht verletzt, hoffentlich?« fragt Mr. Snagsby.

»Verletzt? Nein! Warum sollte er denn verletzt sein?«

Mr. Snagsby, ganz außerstande, diese oder irgendeine andere Frage bei seinem verstörten Gemütszustand zu beantworten, begibt sich in die »Sonne« und findet Mr. Weevle, bei Tee und Zwieback gähnend, sichtlich von der überstandenen Aufregung und vielem Tabakrauch erschöpft.

»Und Mr. Guppy auch«, stauntMr. Snagsby. »Gott, Gott, Gott! Wie ein Verhängnis scheint alles das. Und meine klei…« Die Fähigkeit zu reden verläßt Mr. Snagsby mitten in den Worten: meine kleine Frau, denn diese schwer geprüfte Dame zu dieser Morgenstunde in die »Sonne« treten und vor der Bierpumpe stehen zu sehen, wie der Geist der Anklage die Augen auf ihn gerichtet, macht ihn verstummen.

»Meine Liebe«, sagt Mr. Snagsby, als sich seine Zunge wieder löst, »willst du nicht etwas nehmen, ein wenig – um nicht durch die Blume zu sprechen – einen Tropfen Shrub?«

»Nein«, sagt Mrs. Snagsby.

»Meine Liebe, du kennst doch diese beiden Herren?«

»Ja«, sagt Mrs. Snagsby und nimmt mit steifer Kälte von ihrer Anwesenheit Notiz, Mr. Snagsby immer noch unablässig fixierend.

Der getreue Mr. Snagsby kann diese Behandlung nicht länger mehr ertragen. Er nimmt Mrs. Snagsby bei der Hand und führt sie beiseite zu einem an der Wand stehenden Faß.

»Mein kleines Frauchen, warum siehst du mich so an? Bitte, tu das doch nicht!«

»Ich kann nichts für meine Blicke«, ist die Antwort.

Mr. Snagsby entgegnet mit feinem Sanftmutshüsteln. »Wirklich nicht, meine Liebe?« und denkt nach. Dann hustet er seinen Besorgnishusten und sagt:

»Das ist ein schreckliches Geheimnis, meine Liebe«, immer noch ganz außer Fassung gebracht durch Mrs. Snagsbys unverwandten Blick.

»Schreckliches Geheimnis«, bestätigt Mrs. Snagsby.

»Mein kleines Frauchen«, fleht Mr. Snagsby kläglich. »Um Gottes willen, sprich nicht in diesem verbitterten Ton mit mir und sieh mich nicht immer so forschend an. Ich bitte und flehe dich an: Laß das! Gott im Himmel, du traust mir doch nicht am Ende gar zu, jemand bei seiner eigenen Selbstverbrennung mitgeholfen zu haben, meine Liebe.«

»Weiß ich nicht«, entgegnet Mrs. Snagsby.

Hastig seine unglückliche Lage überschauend, kommt es Mr. Snagsby jetzt fast auch so vor, als sei es wirklich nicht so ganz ausgeschlossen. Hat er doch mit soviel Geheimnisvollem, das in Beziehung zu diesem Hause steht, schon zu tun gehabt, daß vielleicht doch eine Mitschuld an dem gegenwärtigen Vorfall nicht so ganz ausgeschlossen ist. Er wischt sich kraftlos mit seinem Taschentuch die Stirn und schnappt nach Luft.

»Meine Liebe«, sagt er ganz unglücklich, »möchtest du mir nicht vielleicht sagen, warum du bei deinem doch sonst so überlegten und taktvollen Benehmen vor dem Frühstück in eine Weinkneipe kommst?«

»Warum bist du hier?« fragt Mrs. Snagsby.

»Liebe Frau, nur um Näheres über die Umstände des Unglücksfalls, der dem ehrenwerten – selbstverbrannten – Mann passiert ist, zu erfahren.« Mr. Snagsby hat eine Pause gemacht, um ein Stöhnen zu unterdrücken. »Ich hätte dir dann alles beim Frühstück erzählt.«

»Ja, ja, selbstverständlich! Sie erzählen mir bekanntlich alles, Mr. Snagsby!«

»Alles – mein klei…?«

»Es sollte mich freuen«, sagt Mrs. Snagsby, nachdem sie sich mit einem strengen finstern Lächeln an seiner Verwirrung geweidet hat, »wenn du mit mir nach Hause kommen wolltest. Ich glaube, Snagsby, du bist dort sicherer als anderswo.«

»Meine Liebe, da hast du allerdings recht; ich gehe sofort mit dir.«

Mr. Snagsby sieht sich ratlos in der Bar um, wünscht Mr. Weevle und Mr. Guppy einen guten Morgen, beteuert ihnen seine Freude, daß sie nicht verletzt sind, und geht mit Mrs. Snagsby fort. Noch ehe der Abend kommt, ist sein Zweifel, ob er nicht am Ende doch irgendwie für die Katastrophe, von der jetzt die ganze Nachbarschaft spricht, verantwortlich sei, infolge Mrs. Snagsbys hartnäckigem Festhalten an starren Blicken fast zur Gewißheit geworden. Sein Seelenleid ist so groß, daß er sich schon halb und halb mit dem Gedanken trägt, sich der Justiz zu stellen, um, wenn unschuldig, freigesprochen, im Falle der Schuld jedoch mit der äußersten Härte des Gesetzes bestraft zu werden.

Mr. Weevle und Mr. Guppy gehen nach eingenommenem Frühstück nach Lincoln’s-Inn, um durch einen kleinen Spaziergang um das Häuserviereck soviel wie möglich all die dunklen Spinnweben der verflossenen Nacht aus ihrem Kopf zu fegen.

»Es kann keine günstigere Zeit geben als die gegenwärtige, Tony«, beginnt Mr. Guppy, nachdem sie schweigend den Platz umschritten haben, »um über einen Punkt hinsichtlich dessen wir uns sobald wie nur möglich verständigen müssen, ein paar Worte zu sprechen.«

»Ich will dir etwas sagen, William Guppy«, entgegnet Mr. Weevle und sieht seinen Freund mit seinen übernächtigten Augen an. »Wenn es schon wieder so etwas wie eine Verschwörung ist, so sprich gefälligst nicht erst davon. Ich habe vorläufig genug und mag von solchen Dingen weiter nichts wissen. Am Ende fängst du nächstens selbst noch Feuer und fliegst mit einem Knall in die Luft.«

Diese Zumutung berührt Mr. Guppy so unangenehm, daß seine Stimme zittert, wie er in moralisierendem Ton anfängt: »Tony, ich hätte wirklich gedacht, was wir heute nacht erlebt haben, wäre für dich eine Lehre fürs ganze Leben, nie wieder anzüglich zu werden.«

Mr. Weevle entgegnet: »William, und ich glaubte, es würde für dich eine Lehre sein, nie wieder zu konspirieren, so lange du lebst«, worauf Mr. Guppy sagt:

»Wer konspiriert?«

»Mein Gott, du.«

»O nein, ich nicht.«

»Jawohl, du.«

»Wer sagt das?«

»Ich sage das.«

»So, so, du!«

»Ja, ich.«

Da beide in eine große Aufregung geraten sind, gehen sie eine Weile stumm nebeneinander her, um ihren Ärger ein wenig verrauchen zu lassen.

»Tony«, fängt Mr. Guppy wieder an. »Wenn du deinen Freund gefälligst aussprechen ließest, anstatt ihn anzufahren, kämen solche Mißverständnisse nicht vor. Aber du bist jähzornig und überlegst nicht. Trotzdem dir nichts fehlt, Tony, was das Auge erquickt.«

»Papperlapapp«, unterbricht ihn Mr. Weevle. »Sag geradeheraus, was du zu sagen hast.«

Da Mr. Guppy sieht, daß sein Freund mürrisch und irdisch gestimmt ist, gibt er den zarten Regungen seines Herzens nur durch den verletzten Ton Ausdruck, in dem er wieder anfängt:

»Tony, wenn ich sage, daß es einen Punkt gibt, über den wir uns sobald wie möglich verständigen müssen, so sage ich das ohne den geringsten Hinweis auf irgendwelche Verschwörungspläne, und mögen sie noch so unschuldiger Natur sein. Du weißt, daß wir Juristen bei allen Fällen vorerst feststellen müssen, wie die Zeugenaussagen zu lauten haben. Ist es wünschenswert oder nicht, daß wir uns über die Tatsachen bei dem Tod dieses unglücklichen alten Mo… Gentleman klar werden?« Mr. Guppy hatte Mogul sagen wollen, aber sich rechtzeitig zu Gentleman, als den gegebenen Verhältnissen besser angepaßt, entschlossen.

»Was für Tatsachen denn?«

»Die mit dem Vorfall in Verbindung stehenden Tatsachen! Sie sind«, – Mr. Guppy zählt sie an den Fingern ab – »was wir von seiner Lebensweise wußten, wann du ihn zuletzt sahst, in welchem Zustand er damals war, was wir entdeckten und wie es geschah.«

»Ja«, gibt Mr. Weevle zu. »Das sind so die Tatsachen.«

»Wir entdeckten das Unglück deshalb, weil er dir in seiner exzentrischen Weise um Mitternacht ein Rendezvous gegeben hat, um sich gewisse Schriften erklären zu lassen, wie schon früher öfter, weil er selbst nicht lesen konnte. Ich war des Abends auf Besuch bei dir, wurde von dir hinuntergerufen, – und so weiter. Da sich die Untersuchung bloß auf die näheren Umstände des Todesfalls zu erstrecken hat, ist es nicht notwendig, über diese Tatsachen hinauszugehen. Das wirst du mir wohl zugeben!«

»Ja«, entgegnet Mr. Weevle. »Ich glaube, es ist nicht notwendig.«

»Vielleicht hältst du das auch für eine Verschwörung«, sagt Guppy verletzt.

»Wenn es sich nicht um Schlimmeres handelt als das, nehme ich meine Worte zurück.«

»Nun, Tony«, Mr. Guppy nimmt wieder den Arm seines Begleiters und geht langsam mit ihm weiter, »möchte ich gern als dein Freund wissen, ob du schon jemals über die vielen Vorteile nachgedacht hast, die dir daraus erwachsen können, daß du dort wohnst.«

»Wie meinst du das?« fragt Tony und bleibt stehen.

»Ob du schon über die vielen Vorteile deines Dortwohnenbleibens nachgedacht hast?« wiederholt Mr. Guppy und geht mit ihm weiter.

»Wo, dort? Dort?« Mr. Weevle weist nach dem Hadern- und Flaschenladen.

Mr. Guppy nickt.

»Nicht um alles, was du mir überhaupt bieten könntest, möchte ich auch nur eine Nacht dort zubringen«, sagt Mr. Weevle und starrt seinen Freund entsetzt an.

»Ist das wirklich dein Ernst, Tony?«

»Mein Ernst? Sehe ich danach aus, als ob ich spaße«, sagt Mr. Weevle mit einem Schauer.

»Dann würde also die Möglichkeit oder, besser gesagt, die Wahrscheinlichkeit, auf immer im ungestörten Besitz der Habseligkeiten zu bleiben, die einem alleinstehenden alten Mann, der wahrscheinlich auf der ganzen Welt nicht einen einzigen Verwandten hatte, gehörten, oder die Gewißheit, je herauszukriegen, was er eigentlich dort aufgespeichert hat, bei dir gar nicht ins Gewicht fallen, wenn ich dich recht verstehe, Tony?« sagt Mr. Guppy und kaut ärgerlich an seinem Daumennagel.

»Gewiß nicht. So kaltblütig davon zu sprechen, man solle dort gar noch wohnen bleiben!« ruft Mr. Weevle entrüstet. »Wohn du doch dort.«

»O! Ich, Tony!« sagt Mr. Guppy besänftigend. »Ich habe nie dort gewohnt und könnte auch jetzt gar kein Logis dort bekommen, während du bereits Mieter bist.«

»Du sollst mir stets willkommen sein«, gibt sein Freund zur Antwort, »und – pfui Teufel – kannst dich dort häuslich einrichten.«

»Du willst also wirklich und wahrhaftig die Sache bei diesem Punkt aufgeben, wenn ich dich recht verstehe, Tony?«

»Du hast nie ein wahreres Wort in deinem ganzen Leben gesprochen«, bestätigt Tony im Tone felsenfester Überzeugung. »Ja, ich gebe es auf.«

Während sie noch sprechen, kommt eine Droschke in den Hof gefahren, und auf dem Bock derselben zeigt sich dem staunenden Publikum ein sehr hoher Zylinder. In der Kutsche selbst, und daher den Augen der Menge nicht so sichtbar, wohl aber zur Genüge den beiden Freunden, denn der Wagen macht fast unmittelbar vor ihnen Halt, sitzt das ehrwürdige Paar Mr. und Mrs. Smallweed in Begleitung ihrer Enkelin Judy. Die ganze Familie verrät in ihren Mienen Hast und Aufregung, und während der Zylinder mit Mr. Smallweed jr. darunter vom Bock steigt, steckt Mr. Smallweed senior den Kopf aus dem Fenster und kreischt Mr. Guppy zu: »Wie geht’s, wie geht’s, Sir?«

»Was Hühnchen und seine Familie zu so früher Morgenstunde hier wollen, möcht ich wirklich gerne wissen«, brummt Mr. Guppy und nickt seinem Vertrauten zu.

»Verehrtester!« ruft Großvater Smallweed, »möchten Sie mir nicht den Gefallen erweisen, Sie und Ihr Freund, und so außerordentlich gütig sein, mich in das Wirtshaus zu tragen, während Bart und seine Schwester ihre Großmutter nachbringen? Würden Sie wohl einem alten Mann die Freundlichkeit erweisen, Sir?«

Mr. Guppy wirft Tony einen Blick zu und wiederholt fragend:

»In das Wirtshaus in Cook’s Court?«

Dann schicken sie sich an, die ehrwürdige Bürde in die »Sonne« zu tragen.

»Hier haben Sie Ihr Fahrgeld«, sagt der Patriarch mit einem grimmigen Zähnefletschen zu dem Kutscher und droht ihm mit seiner ohnmächtigen Faust. »Wenn Sie sich unterstehen, einen Penny mehr zu verlangen, gehe ich zu Gericht. – Meine lieben jungen Herren, bitte, bitte, nur recht vorsichtig. Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Arme um den Hals lege. Ich werde Sie so wenig wie nur möglich drücken. O Gott, o Himmel, ach, meine Knochen!«

Es ist gut, daß die »Sonne« nicht weit ist, denn Mr. Weevle sieht ganz apoplektisch aus, ehe noch der halbe Weg zurückgelegt ist. Aber ohne weitere Verschlimmerung dieser Symptome, nur unter lautem Ächzen, was auf erschwertes Atmen schließen läßt, schleppt er seine Bürde, und der wohlwollende alte Herr wird wunschgemäß in der Gaststube der »Sonne« abgesetzt.

»O Gott!« krächzt Mr. Smallweed und sieht sich im Lehnstuhl atemlos um. »Gott im Himmel! Meine Knochen und mein Rücken! O Gott, diese Schmerzen! Setz dich doch nieder, du veitstanzender humpelnder Papagei, du! Setz dich doch nieder!«

Die Ursache dieser an Mrs. Smallweed gerichteten Aufforderung ist eine Schwäche der unglücklichen alten Dame, immer herumzuhumpeln und auf leblose Gegenstände loszufahren, wenn sie einmal auf den Beinen ist, wobei sie mit lautem Schnattern diese Art Hexentanz begleitet. Vielleicht ist ein Nervenleiden die Ursache dieser Demonstrationen oder irgendeine unergründliche blödsinnige Absicht der armen Alten. Augenblicklich benimmt sie sich so besonders lebhaft einem Windsor-Lehnstuhl, dem Gegenstück zu dem, in dem Mr. Smallweed sitzt, gegenüber, daß sie nicht eher zur Ruhe kommt, als bis ihre Enkelkinder sie hineinsetzen und darin festhalten. Währenddessen bedenkt sie ihr Herr und Gatte mit großer Zungengeläufigkeit mit dem Epitheton einer schweinsköpfigen Schnatterelster, das er erstaunlich oft wiederholt.

»Mein lieber Herr«, wendet sich Großvater Smallweed dann zu Mr. Guppy, »es hat sich hier ein Unglück ereignet. Haben Sie oder Ihr Freund davon gehört?«

»Davon gehört! Wir haben es doch entdeckt!«

»Sie haben es entdeckt! Sie beide haben es entdeckt! Bart! Sie haben es entdeckt!«

Die beiden Entdecker stieren die Smallweeds an, und diese geben das Kompliment zurück.

»Meine werten Freunde«, winselt Großvater Smallweed und streckt beide Hände aus. »Tausend Dank, daß Sie das traurige Amt übernommen haben, die Asche meines Schwagers zu entdecken.«

»Wie… Wieso?« stottert Mr. Guppy.

»Mrs. Smallweeds Bruder, mein lieber Freund, ihr einziger Verwandter. Wir standen nicht auf gutem Fuß miteinander, was jetzt sehr zu beklagen ist. Aber er wollte es nicht anders. Er konnte uns nicht leiden. Er war exzentrisch. Er war sehr exzentrisch. Wenn er nicht ein Testament hinterlassen hat, was wohl nicht wahrscheinlich ist, lasse ich mir eine Art Administrationsbewilligung ausstellen. Ich bin hergefahren, um nach meinem Eigentum zu sehen. Es muß versiegelt und beschützt werden. Ich bin hergefahren«, wiederholt Großvater Smallweed und krallt mit allen zehn Fingern in der Luft herum, »um die Hinterlassenschaft unter meine Obhut zu nehmen.«

»Ich dächte, Small«, sagt Mr. Guppy enttäuscht, »du hättest uns auch sagen können, daß Mr. Krook dein Onkel war.«

»Ihr habt beide so geheimnisvoll mit ihm getan, daß ich glaubte, es wäre euch am liebsten, wenn ich’s ebenso machte«, entgegnet der uralte Vogel mit einem unterdrückten Glitzern im Auge. »Übrigens war ich nicht besonders stolz auf ihn.«

»Und dann ging es Sie nichts an, ob er unser Onkel war oder nicht«, sagt Judy, ebenfalls mit einem Glitzern im Auge.

»Er hat mich in seinem Leben nie gesehen oder gekannt«, bemerkt Small. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich von dem Alten hätte sprechen sollen.«

»Nein. Er verkehrte nie mit uns, was sehr zu beklagen ist«, bestätigt der alte Herr. »Aber ich bin hergekommen, um die Hinterlassenschaft unter meine Obhut zu nehmen, die Papiere durchzusehen, die Hinterlassenschaft unter meine Obhut zu nehmen. Wir werden unsre Ansprüche beweisen. Die Dokumente sind in den Händen meines Anwalts. Mr. Tulkinghorn in Lincoln’s-Inn-Fields drüben ist so freundlich, mich zu vertreten, und unter seinen Füßen wächst kein Gras mehr, das kann ich Ihnen versichern. Krook war Mrs. Smallweeds einziger Bruder. Sie hatte keinen Verwandten als Krook, und Krook keine Verwandte als Mrs. Smallweed. Ich spreche von deinem Bruder, du Höllenschwefelkakerlak. Sechsundsiebzig Jahre alt war er.«

Mrs. Smallweed fängt unverzüglich an, mit dem Kopf zu wackeln und aufzuquieken: »Sechsundsiebzig Pfund, sieben Schilling, sieben Pence! Sechsundsiebzigtausend Sack Geld! Sechsundsiebzigtausend Millionen Paket Banknoten!«

»Möchte mir nicht jemand ein Quartseidel hergeben!« ruft voll Wut ihr Gatte, sich hilflos nach irgendeinem Wurfgeschoß umsehend. »Kann mir niemand einen Spucknapfreichen! Ist denn gar nichts Hartes oder Spitziges da, das man auf sie werfen könnte. Du Hexe, du Katze, Mistviech, Höllenschwefelkläffer!« Hier wirft Mr. Smallweed in überschäumender wuterfüllter Beredsamkeit in Ermanglung von etwas anderm tatsächlich Judy selbst nach ihrer Großmutter, das heißt, er stößt die liebliche Jungfrau mit aller Kraft, die er aufbieten kann, auf die alte Dame los und sinkt in seinem Stuhl zu einem Haufen zusammen.

»Schüttelt mich doch auf, irgendeiner!« sagt dann eine Stimme in dem schwarzen zappelnden Kleiderbündel, zu dem er zusammengesunken ist. »Ich bin hergekommen, um den Besitz in meine Obhut zu nehmen. Schütteln Sie mich und rufen Sie die Polizei daneben, damit ich alles auseinandersetzen kann. Mein Anwalt wird gleich hier sein, um die Hinterlassenschaft unter seine Obhut zu nehmen. Deportation oder Galgen für jeden, der sich untersteht, die Hinterlassenschaft anzurühren.«

Wie seine pflichtgetreuen Enkelkinder ihn aufrichten und mit ihm das gewohnte Wiederbelebungsverfahren mit Schütteln und Puffen vornehmen, wiederholt er immer noch wie ein Echo: »Die Hinterlassenschaft! Die – die Hinterlassenschaft – Hi-Hin-Hinterlassenschaft.«

Mr. Weevle und Mr. Guppy sehen einander an. Ersterer scheint die ganze Sache jetzt erst recht aufgegeben zu haben, letzterer macht ein enttäuschtes Gesicht, als habe er bis dahin immer noch eine leise Hoffnung gehegt. Aber gegen die Ansprüche der Familie Smallweed läßt sich nichts tun.

Mr. Tulkinghorns Schreiber kommt von seinem Pult in der Kanzlei herab, um der Polizei zu melden, daß Mr. Tulkinghorn für die Richtigkeit der Ansprüche der Nächstverwandten stehe und daß man zur gehörigen Zeit die Papiere und Habseligkeiten in gesetzlicher Form mit Beschlag belegen werde. Mr. Smallweed erhält sofort Erlaubnis, sein Verwandtschaftsrecht insoweit auszuüben, daß er eine Trauervisite in dem Haus machen darf. Er läßt sich in Miß Flites verlassnes Zimmer tragen und nimmt sich dort wie ein neu zu der Vogelsammlung hinzugekommener Aasgeier aus.

Das Lauffeuer von der Ankunft dieses unerwarteten Erben ist abermals segenspendend für die »Sonne«, da es Cook’s Court in seiner Aufregung erhält. Mrs. Piper und Mrs. Perkins meinen, es sei eine Ungerechtigkeit gegen den jungen Mann, wenn sich wirklich kein Testament vorfinden sollte, und man müßte ihm aus der Hinterlassenschaft ein anständiges Geschenk machen. Den ganzen Tag über spielen Jung-Piper und Jung-Perkins als Mitglieder des ruhelosen jugendlichen Kreises, der der Schrecken aller Fußgänger durch Chancery-Lane ist, hinter Brunnen und hinter dem Torweg Selbstverbrennung, und wildes Geheul und Gebrüll umtost ihre Leichen. Der kleine Swills und Miß M. Melwilleson lassen sich mit ihren Gönnern in leutselige Gespräche ein, denn sie fühlen, daß solch ungewöhnliche Vorfälle die Schranken zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Berufen verwischen. Mr. Bogsby erhebt »das Volkslied vom König Tod unter Beiwirkung sämtlicher musikalischer Kräfte des Ensembles zum großen harmonischen Clou der Woche« und zeigt auf dem Zettel an, »daß J.G.B, sich veranlaßt sehe, die beträchtlichen Mehrunkosten mit Rücksicht auf den allgemeinen Wunsch und in Hinblick auf den traurigen Vorfall der letzten Tage, der soviel Aufsehen gemacht hat, selbst zu tragen«.

Eins besonders beschäftigt den Hof angelegentlich. Nämlich, daß man bei dem Begräbnis an einem Sarg für einen Erwachsenen festzuhalten habe, wenn auch noch so wenig hineinzutun wäre. Des Leichenbesorgers Versicherung in der Bar der »Sonne«, daß ein »sechs Schuh langer« bereits bestellt sei, behebt die allgemeine Sorge, und man zollt Mr. Smallweeds Benehmen höchste Anerkennung.

Außerhalb des Hofs herrscht in allen möglichen Kreisen ebenfalls große Aufregung. Naturforscher und Männer der Wissenschaft wollen alle etwas sehen, und Wagen setzen Doktoren an der Ecke ab, die in derselben Absicht gekommen sind. Man hört mehr von entzündlichen Gasen und Phosphorwasserstoff sprechen, als es sich der Hof jemals hätte träumen lassen. Einige der Autoritäten, selbstverständlich die aufgeklärtesten, behaupten mit Entrüstung, daß der Verstorbne kein Recht hatte, so zu sterben. Sie betrachten des seligen Mr. Krooks Dickschädligkeit, mit der er zu seinem Ausgang aus der Welt einen solchen Nebenpfad gewählt hat, für höchst ungerechtfertigt und geradezu persönlich beleidigend. Es hilft nichts, daß andre Autoritäten sie an eine gewisse Untersuchung dieser Sorte von Todesfällen erinnern, die im sechsten Band der »Philosophischen Abhandlungen« abgedruckt ist, ferner an ein gewisses nicht ganz unbekanntes Buch über englische Gerichtsmedizin, an den Fall der italienischen Gräfin Cornelia Baudi, ausführlich erzählt von dem Stiftsgeistlichen Bianchini in Verona, der ein paar gelehrte Werke schrieb und zu seiner Zeit gelegentlich ein nicht ganz unvernünftiger Mann genannt worden sein soll, ferner an das Zeugnis der Herren Foderé und Mere, zweier unangenehmer und höchst lästiger Franzosen, die schon damals durchaus solchen Vorkommnissen auf die Grundursache kommen wollten, und endlich auf das unumstößliche Zeugnis Monsieur le Cats, des berühmten französischen Chirurgen, der die Rücksichtslosigkeit besessen hatte, in einem Hause zu wohnen, wo sich ein solcher Fall ereignete, und sogar einen Bericht darüber abzufassen.

Je weniger der Hof von all dem versteht, desto mehr gefällt es ihm und desto größeren Genuß findet er an den Vorräten in der »Sonne«.

Dann erscheint der Künstler einer illustrierten Zeitung mit einem bereits vorgezeichneten Vordergrund – nebst Figuren – für alles, vom Schiffbruch an der Küste von Cornwallis angefangen bis zu einer Revue im Hydepark oder einer Volksversammlung in Manchester, passend –und zeichnet von Mrs. Perkins eignem Zimmer aus, das dadurch für alle Zeiten unsterblich wird, Mr. Krooks Haus außerordentlich groß, sozusagen in Überlebensgröße, denn er macht einen wahren Tempel daraus. Ebenso entwirft er das Unglückszimmer, in das man ihm erlaubt hat, einen Blick zu werfen, ungefähr dreiviertel Meilen lang und fünfzig Meter hoch, worüber sich der Hof besonders freut.

Die ganze Zeit über wimmeln die beiden bereits erwähnten Herren mit den schäbigen Knopflöchern in jedem Hause herum, wohnen den gelehrten Disputationen bei, stecken überall die Nase hinein und machen lange Ohren. Beständig verschwinden sie dann wieder in das Gastzimmer der »Sonne« und schreiben mit den gefräßigen kleinen Federn auf dünnes Papier.

Endlich kommt der Totenbeschauer mit seinen Geschworenen, wie schon damals, nur hebt er diesen Fall als etwas Ungewöhnliches hervor und äußert – inoffiziell – gegen die Herren von der Jury: Das Haus nebenan, meine Herren, scheint ein Unglückshaus zu sein, aber so was kommt eben manchmal vor, und das sind Geheimnisse, die wir nicht erklären können. Sodann kommt der »sechs Schuh lange« aufs Tapet und wird sehr bewundert.

Bei alledem spielt Mr. Guppy eine höchst unbedeutende Rolle, außer bei Ablegung seiner Zeugenaussage. Vorläufig kann er sich vor dem geheimnisvollen Haus herumtreiben, wo er, zu seinem größten Ärger, Mr. Smallweed ein Vorhängschloß an der Tür befestigen sieht, was soviel bedeutet, daß er nicht mehr hinein darf. Aber ehe alles vorüber ist, das heißt, am Abend nach der Katastrophe, muß Mr. Guppy Lady Dedlock unbedingt berichten gehen.

Aus diesem Grund erscheint der junge Mann namens Guppy mit bangem Herzen und zerknirscht vor Schuldbewußtsein, das Furcht und langes Wachsein in der »Sonne« erzeugt haben, im Stadtpalais gegen sieben Uhr abends und will mit Mylady sprechen. Der Merkur gibt zur Antwort, daß sie gerade zu einem Diner ausfahren will, und ob er denn nicht den Wagen vor der Tür stehen sehe?

Ja, er sieht den Wagen vor der Tür, wünscht aber dennoch Mylady zu sprechen.

Der Merkur ist geneigt, wie er voraussichtlich gleich einem Kameraden erklären wird, »dem jungen Mann eins zu geben«, aber er hat bestimmten Befehl. Deshalb meint er mürrisch, der junge Mann müsse wohl mit in die Bibliothek hinaufkommen. Dort läßt er ihn in dem großen, nicht übermäßig hellen Zimmer stehen, während er ihn anmeldet.

Mr. Guppy sieht sich nach allen Richtungen in der Dämmerung um und entdeckt das gewisse verkohlte, mit weißer Asche bestreute Stück Holz, das er nicht loswerden kann, in jeder Ecke. Gleich darauf hört er ein Rauschen. Ist es ein Geist? Nein, es ist kein Gespenst, sondern Fleisch und Blut, prachtvoll gekleidet.

»Ich habe Euer Gnaden um Entschuldigung zu bitten«, stammelt Mr. Guppy sehr niedergeschlagen. »Es ist dies eine sehr unpassende Zeit…«

»Ich sagte Ihnen, Sie könnten zu jeder Zeit kommen.« Mylady nimmt einen Stuhl und sieht ihn unverwandt an wie das letzte Mal.

»Danke verbindlichst, Euer Gnaden. Euer Gnaden sind sehr gütig.«

»Sie können Platz nehmen.« Ihr Ton ist durchaus nicht gütig.

»Ich weiß nicht, Euer Gnaden, ob es der Mühe wert ist, mich zu setzen und Sie aufzuhalten, denn ich – ich habe die Briefe, von denen ich neulich sprach, als ich die Ehre hatte, der Allergnädigsten meine Aufwartung zu machen, nicht bekommen.«

»Sind Sie bloß deswegen hier, um mir das zu sagen?«

»Bloß, um Ihnen das zu sagen, Euer Gnaden.« Mr. Guppy ist sehr deprimiert, sehr enttäuscht und befangen, aber der Glanz und die Schönheit Myladys bringen ihn noch um seinen Rest von Fassung. Sie kennt die Wirkung ihrer Erscheinung vollkommen. Sie hat sie zu gut studiert, um auch nur die geringste Spur ihres Eindrucks auf andre zu übersehen. Wie sie ihn so fest und kalt anblickt, fühlt er nicht bloß, daß er hoffnunglos hinsichtlich dessen, was sie sich denkt, führerlos im Dunkel tappt, sondern ihr auch sozusagen von Sekunde zu Sekunde weiter entrückt wird.

Sie will nicht sprechen, das ist klar. Also muß er anfangen.

»Kurz, Euer Gnaden«, sagt er zerknirscht wie ein reuiger Dieb, »die Person, von der ich die Briefe bekommen sollte, ist plötzlich gestorben und…«

Lady Dedlock vollendet ruhig den Satz: »und die Briefe sind mit ihr vernichtet?«

Mr. Guppy möchte nein sagen, wenn er könnte, aber er ist nicht imstande, sich zu verstellen.

»Ich glaube ja, Euer Gnaden.«

Ob er jetzt in ihrem Gesicht auch nur die leiseste Spur von Erleichterung sehen könnte? Nein, er könnte nichts derart sehen, selbst wenn ihre eisige Miene ihn nicht gänzlich aus der Fassung brächte.

Er stammelt ein paar ungeschickte Worte der Entschuldigung, daß der Plan fehlgeschlagen ist.

»Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?« fragt Lady Dedlock, nachdem sie ihn ruhig hat ausstottern lassen.

Mr. Guppy glaubt, das sei alles.

»Überlegen Sie sich wohl, ob Sie mir nichts weiter zu sagen haben, denn es ist das letzte Mal, daß Ihnen Gelegenheit dazu geboten ist.«

Mr. Guppy ist fest davon überzeugt.

»Das genügt. Ich erlasse Ihnen Ihre Entschuldigungen. Guten Abend.« Und Mylady klingelt dem Merkur, um den jungen Mann namens Guppy hinunterführen zu lassen.

Nun befindet sich im Hause zufällig in demselben Augenblick auch ein alter Mann namens Tulkinghorn. Und dieser alte Mann geht jetzt mit lautlosem Schritt zur Bibliothek und legt gerade die Hand auf die Türklinke, tritt ein und steht dem jungen Mann gegenüber, als dieser das Zimmer verläßt.

Ein Blick fliegt zwischen dem Alten und Mylady hin und her, und eine Sekunde lang geht der Vorhang, der immer über sein Gesicht gezogen ist, empor. Verdacht, scharf und heftig, blitzt in Mr. Tulkinghorns Auge auf. In der nächsten Sekunde ist alles wieder vorbei.

»Ich bitte um Verzeihung, Lady Dedlock. Ich bitte tausend Mal um Verzeihung. Es ist sehr ungewöhnlich, Sie zu dieser Stunde hier zu finden. Ich nahm an, das Zimmer sei leer. Ich bitte um Verzeihung.«

»Ach, bleiben Sie nur!« Sie ruft ihn nachlässig zurück. »Bitte, bleiben Sie nur. Ich fahre gerade zum Diner. Ich habe dem jungen Mann weiter nichts zu sagen.«

Fassungslos verbeugt sich der junge Mann beim Hinausgehen und hofft untertänigst, daß sich Mr. Tulkinghorn wohl befinde.

»Es macht sich«, sagt der Advokat und sieht Guppy unter den Augenbrauen hinweg an, obgleich er nicht nötig hat, noch einmal hinzusehen – er gewiß nicht. »Bei Kenge & Carboy, nicht wahr?«

»Bei Kenge & Carboy, Mr. Tulkinghorn. Mein Name ist Guppy, Sir.«

»Ja, richtig. Ich danke Ihnen, Mr. Guppy, es geht mir gut.«

»Sehr erfreut zu hören, Sir. Es kann Ihnen nicht zu gut gehen, Sir, zu Ehren unsres Standes.«

»Danke, Mr. Guppy.«

Mr. Guppy drückt sich hinaus.

Mr. Tulkinghorn, in seinem altmodischen stumpfen Schwarz, ein seltsamer Gegensatz zu Lady Dedlocks Glanz, geleitet sie die Treppe hinunter an den Wagen. Er kommt wieder zurück und reibt sich das Kinn. Reibt es sich im Lauf des Abends sehr oft.

34. Kapitel


34. Kapitel

Unter der Schraube

»Was mag das sein, möchte ich gern wissen?« sagt Mr. George. »Eine Platzpatrone oder eine scharfe? Brennt’s nur auf der Pfanne oder ist es ein Schuß?«

Ein Brief beschäftigt den Kavalleristen und scheint ihm gewaltiges Kopfzerbrechen zu machen. Er hält ihn mit ausgestrecktem Arm vor sich hin, hält ihn dicht vor die Augen, nimmt ihn in die rechte Hand, nimmt ihn in die linke Hand, liest ihn, den Kopf auf die Seite gelegt, liest ihn, den Kopf auf die andre Seite gelegt, zieht die Augenbrauen zusammen, zieht sie in die Höhe und kann doch nicht ins klare kommen. Er streicht den Brief mit seiner schweren Hand auf dem Tisch glatt, geht gedankenvoll in der Galerie auf und ab und steht dann und wann still, um das Schreiben abermals anzusehen. Selbst das nützt nichts. Ist es eine Platzpatrone oder eine scharfe? überlegt Mr. George immer noch.

Phil Squod ist mit einem Pinsel und einem Farbtopf im Hintergrund beschäftigt, die Schießscheiben weiß anzustreichen. Er pfeift sich dabei im Geschwindschrittempo eins.

»Phil!« Der Kavallerist winkt.

Phil kommt in seiner gewohnten Art näher und schiebt sich seitlich an der Wand entlang, wie wenn er vorhätte, anderswo hinzugehen, um dann wie zu einem Bajonettangriff auf seinen Kommandeur loszustürzen. Einzelne Spritzer weißer Farbe stechen grell von seinem schmutzigen Gesicht ab, und er kratzt sich seine einzige Augenbraue mit dem Stiel des Pinsels.

»Gib acht, Phil. Hör mal zu!«

»Zu Befehl, Kommandeur.«

»Sir. Ich erlaube mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, obgleich ich, wie Sie wohl wissen, gesetzlich dazu nicht verpflichtet bin, daß der Wechsel über 97 £ 4 sh. und 9 d. auf zwei Monate Ziel, von Mr. Matthew Bagnet auf Sie gezogen und von Ihnen akzeptiert, morgen fällig ist, und bitte Sie, die Tratte bei Vorkommen pünktlich zu honorieren.

Ihr
Josua Smallweed.«

»Was soll das bedeuten, Phil?«

»Unheil, Govner!«

»Wieso?«

»Ich glaube«, entgegnet Phil und folgt mit dem Pinselstiel nachdenklich einer Querfalte auf seiner Stirn, »daß allemal Unheil im Zuge ist, wenn einer Geld will.«

»Schau mal, Phil«, sagt der Kavallerist und setzt sich auf den Tisch. »Erstens und letztens habe ich, kann ich wohl sagen, die Hälfte mehr an Zinsen nach und nach, als das Kapital beträgt, bezahlt.«

Phil tritt ein paar Schritte seitlich zurück und schneidet ein saures Gesicht und gibt dadurch zu verstehen, daß ihm durch diesen Einwand die Sache nicht hoffnungsvoller zu werden scheint.

»Und zweitens, schau, Phil«, sagt der Kavallerist und weist solche voreiligen Schlüsse mit einer Handbewegung zurück. »Es war immer stillschweigend ausgemacht, daß der Wechsel prolongiert werden sollte, wie sie’s nennen, und er ist oft genug prolongiert worden. Was sagst du jetzt dazu?«

»Ich sage, ich glaube, damit ist’s jetzt aus.«

»So, meinst du? Hm! Ich bin so ziemlich derselben Meinung.«

»Josua Smallweed ist wohl der, den sie damals im Stuhl hierher getragen haben, Govner?«

»Jawohl.«

»Govner«, sagt Phil außerordentlich ernst, »er ist ein Blutegel von Natur, eine Schraube und ein Schraubstock in seinen Taten, eine Schlange, was seine Umschlingungen, und ein Hummer, was die Scheren betrifft.«

Nachdem Mr. Squod so ausdrucksvoll seine Ansichten geäußert und ein wenig gezögert hat, um zu sehen, ob man noch weiteres von ihm erwarte, begibt er sich wieder zu seiner Scheibe und deutet auf seine frühere musikalische Art kraftvoll an, daß er:
Kehret heim aus dem Feld,
Kehret heim aus dem Feld,
Heim zum Mädchen, das er verla-ha-ssen.

George hat den Brief zusammengelegt und tritt zu ihm.

»Es gibt schon einen Weg, die Sache abzumachen, Kommandeur«, sagt Phil und sieht seinen Herrn schlau an.

»Das Geld bezahlen, was? Ja, wenn ich das könnte.«

Phil schüttelt den Kopf. »Nein, Govner, nein. Etwas Besseres. Es gibt einen Weg. Sehen Sie: so«, sagt Phil mit einer hochkünstlerischen Schwenkung seines Pinsels.

»Einen Strich drüber machen?«

Phil nickt.

»Das wäre mir ein hübscher Ausweg! Weißt du, was dann aus den Bagnets werden würde? Weißt du, daß sie dann meine Schulden bezahlen müßten und zugrunde gerichtet wären. Du bist mir ein netter Kerl«, sagt der Kavallerist und sieht Phil entrüstet an. »Meiner Seel, ein netter Kerl, Phil!«

Phil, seine Scheibe auf dem Knie, will gerade ernstlich protestieren, wenn es auch nicht ohne viele allegorische Schwenkungen seines Pinsels und Glätten des weißen Randes mit dem Daumen abgeht, und beteuern, er habe die Bagnets ganz vergessen und würde keinem Mitglied dieser würdigen Familie auch nur ein Haar krümmen, als man draußen im Einlaß Schritte kommen und eine muntere Stimme fragen hört, ob George zu Hause sei. Mit einem Blick auf seinen Herrn humpelt Phil ein paar Schritte weit und sagt: »Hier ist der Govner, Mrs. Bagnet! Hier.«

Begleitet von ihrem Mann, erscheint die Alte.

Ist Mrs. Bagnet marschbereit, so ist sie immer mit einem grauen groben, und wenn auch sehr reinlichen, so doch sehr abgetragnen Tuchmantel ausgerüstet – demselben Kleidungsstück, von dem Mr. Bagnet damals sagte, es habe mit Mrs. Bagnet und einem Regenschirm zusammen die Reise aus fremden Weltteilen nach Hause gemacht.

Der Schirm ist ebenfalls ein unzertrennlicher Begleiter der guten Frau, wenn sie sich auf die Straße begibt. Er ist von keiner in diesem Leben bekannten Farbe und hat einen runzligen hölzernen Haken als Griff mit einem Stück Blech daran. Er ist bauchig und scheint sehr eines Schnürleibs zu bedürfen, eine Eigentümlichkeit, die wahrscheinlich daher kommt, daß er eine Reihe von Jahren zu Hause als Vorratskammer und auf Reisen als Handtasche gedient hat. Sie spannt ihn niemals auf, da sie das größte Zutrauen auf ihren schwergeprüften Mantel und seine geräumige Kapuze hat, und gebraucht ihn nur als Stock, um damit beim Einkaufen auf Fleischstücke oder Gemüsebündel zu deuten oder durch einen freundschaftlichen Stich die Aufmerksamkeit der Höker zu erregen. Auch ohne ihren Marktkorb, eine Art geflochtenen Brunnen mit zwei großen Deckeln, geht sie nie aus. Von diesen beiden getreuen Gefährten begleitet und das ehrliche sonnenverbrannte Gesicht unter einen großen Strohhut gebunden, erscheint jetzt Mrs. Bagnet, frisch und munter aussehend, in Georges Schießgalerie.

»Nun, George, alter Bursche«, sagt sie, »wie geht’s an diesem schönen Morgen?«

Sie schüttelt dem Galeriedirektor freundlich die Hände, holt tief Atem und setzt sich hin, um sich auszuruhen. Gewöhnt, auf Bagagewagen oder auf ähnlich bequemen Lagerstätten zu ruhen, hockt sie sich auf eine schmale Holzbank, schiebt den Hut zurück, löst seine Bänder, verschränkt die Arme und befindet sich dem Anschein nach höchst behaglich.

Unterdessen hat Mr. Bagnet seinem alten Kameraden und Mr. Squod die Hand geschüttelt. Mrs. Bagnet hat Phil bereits mit einem freundlichen Nicken und Lächeln bedacht.

»Na, George«, sagt Mrs. Bagnet heiter, »hier sind wir, Lignum und ich.« Sie gibt ihrem Mann oft diesen Namen, wahrscheinlich, weil sein Spitzname: »lignum vitae« im Regiment war, als sie ihn kennenlernte – wegen der besondern Härte und Zähigkeit seiner Physiognomie. – »Wir kommen bloß, um alles wegen der Bürgschaft in Ordnung zu bringen. Geben Sie den neuen Wechsel zum Unterschreiben her, George.«

»Ich wollte diesen Morgen zu euch kommen«, bemerkt der Kavallerist zögernd.

»Ja, wir dachten es uns, aber wir sind zeitig ausgegangen und ließen Woolwich zum Schutz seiner Schwestern zurück und zogen es vor, selber zu Ihnen zu kommen, wie Sie sehen. Lignum ist jetzt so angebunden und hat so wenig Bewegung, daß ein Spaziergang ihm nur gut tun kann. Aber was ist denn los, George?« unterbricht Mrs. Bagnet ihre fröhliche Rede. »Was machen Sie denn für ein Gesicht?«

»Ich – ich«, entgegnet der Kavallerist, »ich habe Verdruß gehabt, Mrs. Bagnet.«

Ihr rasches helles Auge errät augenblicklich die Wahrheit.

»George«, sagt sie und hält den Zeigefinger in die Höhe, »sagen Sie mir nicht, daß etwas mit der Bürgschaft Lignums nicht in Ordnung ist? Sagen Sie das nicht, George, von wegen unsrer Kinder!«

Der Kavallerist sieht sie mit verstörtem Gesicht an.

»George«, sagt Mrs. Bagnet, bewegt unruhig die Arme und schlägt sich gelegentlich mit der flachen Hand auf die Knie, »wenn Sie mit dieser Bürgschaft irgend etwas haben geschehen lassen oder Lignum im Stich gelassen haben oder uns der Gefahr aussetzen, gepfändet zu werden – und ich lese so etwas wie Pfändung auf Ihrem Gesicht, George, als ob es deutlich drauf geschrieben stünde –, so haben Sie etwas Schändliches getan und uns grausam enttäuscht. Ich sage Ihnen, grausam, George! So. Jetzt wissen Sie’s.«

Mr. Bagnet, für gewöhnlich unbeweglich wie ein Pumpenstock oder ein Laternenpfahl, legt seine breite rechte Hand auf seine Glatze, als ob er sie vor einem Regenguß schützen wolle, und sieht Mrs. Bagnet mit großer Unruhe an.

»George«, fährt die Alte fort, »ich hätte das nicht von Ihnen geglaubt. George, ich schäme mich für Sie! George, ich hätte nie geglaubt, Sie wären zu so etwas imstande. Ich wußte immer, daß Sie ein rollender Stein sind, der kein Moos ansetzt, aber ich hätte nie gedacht, daß Sie auch noch das bißchen Moos wegnehmen würden, von dem Bagnet und die Kinder leben sollen. Sie wissen, was für ein fleißiger solider Kerl er ist. Sie wissen, wie Quebec und Malta und Woolwich sind, und ich hätte nie gedacht, daß Sie das Herz haben könnten, uns das anzutun. Ach, George!« – Mrs. Bagnet nimmt ihren Mantel zusammen, um sich ihre Augen zu wischen, – »wie konnten Sie uns das antun?«

Als Mrs. Bagnet aufgehört hat, nimmt Mr. Bagnet die Hand vom Kopf, als sei jetzt der Regenguß vorüber, und sieht Mr. George an, der, kreideweiß geworden, mit schmerzlichem Gesicht den grauen Mantel und den Strohhut anstarrt.

»Mat«, sagt der Kavallerist mit gedämpfter Stimme zu seinem Kameraden, kann aber keinen Blick von dessen Frau wenden. »Es tut mir leid, daß ihr es euch so zu Herzen nehmt, denn ich hoffe, es wird nicht so schlimm ausgehen. Allerdings habe ich heute früh diesen Brief bekommen«, – er liest ihn vor – »aber ich hoffe, die Sache läßt sich noch in Ordnung bringen. Was Sie da von einem rollenden Stein sagen, so haben Sie freilich recht. Ich bin ein rollender Stein, und ich glaube wahrhaftig, ich bin nie jemandem in den Weg gerollt, um ihm den mindesten Nutzen zu bringen, aber es ist mir altem Vagabunden unmöglich, mehr von deiner Frau und deiner Familie zu halten, als ich es tue, Mat, und ich hoffe, ihr werdet mich mit Nachsicht beurteilen. Glaubt nicht, daß ich euch etwas verheimlicht habe. Ich habe den Brief erst vor einer Viertelstunde bekommen.«

»Alte«, murmelt Mr. Bagnet nach einer kurzen Pause, »willst du ihm nicht meine Meinung sagen?«

»Ach, warum hat er nicht Joe Pouchs Witwe in Nordamerika geheiratet! Dann wäre er nicht in alle diese Ungelegenheiten gekommen«, ruft Mrs. Bagnet halb lachend, halb weinend.

»Die Alte hat ganz recht«, nickt Mr. Bagnet. »Warum hast du’s nicht getan?«

»Ich hoffe, sie hat jetzt einen bessern Mann«, entgegnet der Kavallerist. »So oder so. Jedenfalls steh ich hier und bin nicht mit Joe Pouchs Witwe verheiratet. Was soll ich tun? Du siehst hier alles, was ich habe. Es gehört nicht mir, es gehört dir. Sag nur ein Wort, und ich verkaufe jedes Stück. Hätte ich hoffen können, dafür nur annähernd die Summe, die ich brauche, zu bekommen, hätte ich längst alles verklopft. Glaub nicht, daß ich dich oder die Deinigen in der Tinte lasse, Mat. Eher würde ich mich selbst verkaufen. Ich wünschte nur«, sagt der Kavallerist und schlägt sich verächtlich auf die Brust, »ich wüßte jemanden, der so einen alten abgelegten Kerl kaufte.«

»Alte«, murmelt Mr. Bagnet, »sag ihm weiter meine Meinung!«

»George«, lenkt die Alte ein. »Sie sind bei reiflicher Überlegung nicht so sehr zu tadeln. Außer, daß Sie überhaupt das Geschäft ohne Mittel angefangen haben.«

»Das hat mir übrigens ganz ähnlich gesehen«, bemerkt bußfertig der Kavallerist. »Ganz ähnlich. Das weiß ich.«

»Ruhig! Die Alte«, sagt Mr. Bagnet, »hat recht, in ihrer Art meine Meinung zu sagen. Hör weiter.«

»Und damals hätten Sie nie die Bürgschaft verlangen sollen, George, und auch nicht bekommen dürfen, wenn man sich alles jetzt ordentlich überlegt. Aber was einmal geschehen ist, läßt sich nicht mehr ändern. Sie handeln immer wie ein ehrenhafter und rechtschaffner Kerl, soweit es in Ihrer Macht liegt, wenn auch ein bißchen unüberlegt. Andererseits müssen Sie zugeben, daß es ganz natürlich ist, wenn wir mit einer solchen Sorge auf dem Hals ängstlich sind. Wollen wir also sagen, vergeben und vergessen, George! Kommen Sie, vergeben und vergessen!«

Mrs. Bagnet reicht ihm eine ihrer ehrlichen Hände und ihrem Gatten die andre. Mr. George erfaßt sie und hält sie fest und sagt:

»Ich versichere euch beiden, ich würde alles tun, um diese Verpflichtung loszuwerden. Aber was ich habe zusammenscharren können, habe ich gebraucht, um alle zwei Monate die Zinsen für den Wechsel zu zahlen. Phil und ich haben hier einfach genug gelebt. Aber die Galerie trägt nicht soviel, wie wir erwarteten, und ist –kurz, ist kein Eldorado. War es unrecht von mir, sie zu übernehmen? Ja, allerdings! Aber ich wurde gewissermaßen zu dem Schritt gedrängt und glaubte, es würde mich gesetzter machen und mir im Leben forthelfen. Wenn ihr versucht, zu vergessen, daß ich mich mit solchen Erwartungen trug, bin ich euch wirklich sehr dankbar – und recht, recht beschämt.«

Mit diesen Worten schüttelt Mr. George den beiden die Hände und macht dann in militärischer Haltung ein paar Schritte zurück, als habe er sein letztes Bekenntnis abgelegt und solle sofort mit allen militärischen Ehren erschossen werden.

»George, hör mich zu Ende an«, sagt Mr. Bagnet mit einem Blick auf seine Frau. »Alte, sprich weiter!«

Mr. Bagnet, der sich auf diese eigentümliche Weise zu Ende anhören läßt, hat nur zu bemerken, daß der Brief unverzüglich beantwortet werden müsse und es das ratsamste sei, wenn George und er selbst auf der Stelle zu Mr. Smallweed gingen, um in erster Linie allen Schaden vom Hause Bagnet, das das Geld nicht habe, fernzuhalten. Mr. George stimmt dem vollständig bei, setzt seinen Hut auf und ist bereit, mit Mr. Bagnet in das feindliche Lager zu marschieren.

»Sie dürfen das vorschnelle Wort einer Frau nicht übelnehmen«, sagt Mrs. Bagnet und klopft ihm auf die Schulter. »Ich vertraue Ihnen meinen alten Lignum an und bin überzeugt, daß Sie ihn heil durchbringen werden.«

Der Kavallerist entgegnet, das sei freundlich von ihr gesprochen und er werde Lignum auf irgendeine Weise schon durchbringen. Darauf geht Mrs. Bagnet mit ihrem Mantel, Korb und Regenschirm wieder mit fröhlichen Augen zu ihrer Familie nach Haus, und die Kameraden treten die hoffnungsreiche Sendung an, Mr. Smallweed zu erweichen.

Ob es in ganz England noch zwei Leute gibt, die mit weniger Aussicht auf Erfolg eine Verhandlung mit Mr. Smallweed zu Ende zu führen imstande wären, als Mr. George und Mr. Matthew Bagnet, ist mehr als fraglich. Auch, ob es trotz ihres kriegerischen Aussehens, ihrer breiten Schultern und ihres gewichtigen Schrittes im Reich zwei in Smallweedschen Geschäften ungeübtere und unschlauere Kinder geben könnte.

Wie sie mit großem Ernst durch die Straßen nach Mount-Pleasant schreiten, glaubt Mr. Bagnet, da er seinen Begleiter so nachdenklich dreinschauen sieht, in freundlicher Weise auf Mrs. Bagnets letzte Attacke zurückkommen zu müssen.

»George, du kennst die Alte. Sie ist so sanft und mild wie Milch. Aber rühr ihre Kinder an – oder mich –, und sie geht in die Luft – wie Schießpulver.«

»Das macht ihr nur Ehre, Mat.«

»George«, sagt Mr. Bagnet und blickt geradeaus, »die Alte kann nichts tun, was ihr nicht Ehre macht. Mehr oder weniger. Ich sage es nicht vor ihr. Disziplin muß sein.«

»Sie ist ihr Gewicht in Gold wert«, entgegnet der Kavallerist.

»In Gold? Ich will dir was sagen, George. Die Alte wiegt – hundertsechsundsiebzig Pfund. Ob ich dieses Gewicht – egal, in welchem Metall – für die Alte nähme? Nein. Warum nicht? Weil die Alte aus einem viel kostbareren Metall ist. Sie ist besser als alles Metall.«

»Du hast recht, Mat.«

»Als sie mich nahm – und den Ring annahm –, ließ sie sich bei mir und den Kindern anwerben – mit Herz und Kopf fürs Leben. Und sie hält treu zu ihrer Fahne, so daß, wenn einer gegen uns auch nur den Finger rührt, sie gleich bei der Hand ist – und unters Gewehr tritt. Wenn die Alte einmal übers Ziel schießt – so gelegentlich, aus Pflichteifer –, muß man ihr das verzeihen, George. Denn sie meint’s gut.«

»Gott behüte sie, Mat! Ich denke nur um so besser von ihr.«

»Da hast du recht«, sagt Mr. Bagnet enthusiastisch, aber ohne dabei auch nur einen Muskel seines Gesichts zu verziehen. »Denk dir die Verdienste der Alten – so hoch wie den Felsen von Gibraltar –, und du wirst immer noch zu niedrig von ihren Verdiensten denken. Aber ich erwähne es nie vor ihr. Disziplin muß sein.«

Unter solchen Lobeshymnen gelangen sie endlich nach Mount-Pleasant und an Großvater Smallweeds Haus. Die ewig unveränderliche Judy öffnet die Tür, mustert die beiden mit nicht besondrer Freundlichkeit, wohl aber mit einem boshaften Lächeln von Kopf bis Fuß, läßt sie draußen stehen und fragt das Orakel, ob sie sie einlassen soll. Das Orakel scheint seine Einwilligung gegeben zu haben, denn sie kehrt mit den Worten auf ihren Honiglippen zurück, sie könnten hereinkommen – wenn sie Lust hätten.

So huldreich empfangen, treten sie also ein und finden Mr. Smallweed, mit den Füßen im Schubkasten seines Lehnstuhls ruhend wie in einem Papierfußbad, und Mrs. Smallweeds Gesicht, von dem Kissen verdunkelt wie ein Vogel, der nicht singen soll.

»Mein lieber Mr. George«, sagt Großvater Smallweed und streckt seine beiden magern Arme sehnsüchtig aus. »Wie geht’s Ihnen? Wie geht’s Ihnen? Und wer ist unser Freund hier?«

»Das hier ist«, entgegnet George mit recht wenig versöhnlichem Ton, »ist Matthew Bagnet, der für mich, wie Sie wissen, gebürgt hat.«

»Oh, Mr. Bagnet? Ja, richtig!« Der Alte beschattet sich die Augen mit der Hand und sieht ihn an. »Hoffe, Sie befinden sich wohl, Mr. Bagnet! Ein schöner Mann, Mr. George. Militärisches Aussehen, Sir.«

Da man ihnen keine Stühle anbietet, holt Mr. George selbst einen für Bagnet und einen für sich. Sie setzen sich. Mr. Bagnet, als ob er nur in den Hüften ein Gelenk hätte.

»Judy«, sagt Mr. Smallweed, »bring die Pfeife.«

»Ich glaube, die junge Dame braucht sich die Mühe nicht zu machen«, unterbricht ihn Mr. George, »denn, um die Wahrheit zu sagen, ich bin heute zum Rauchen nicht aufgelegt.«

»So. Nicht?… Judy, bring die Pfeife!«

»Die Sache ist die, Mr. Smallweed, daß ich mich in einer nicht besonders angenehmen Gemütsverfassung befinde. Es scheint mir, Sir, als ob Ihr Freund in der City dumme Streiche machen will.«

»O Gott, nein«, sagt Großvater Smallweed. »Das tut er nie.«

»Wirklich nicht? Nun, das freut mich. Ich glaubte schon, es sei sein Werk. Das da. Dieser Brief hier.«

Großvater Smallweed lächelt scheußlich, als er den Brief erblickt.

»Was hat das zu bedeuten?« fragt Mr. George.

»Judy, hast du die Pfeife? Gib sie mir. – Sie fragen, was der Brief zu bedeuten hat, mein lieber Freund?«

»Ja. Hören Sie einmal, Mr. Smallweed«, drängt der Kavallerist und zwingt sich, dabei so ruhig und vertrauensvoll wie nur möglich auszusehen. Er hält den Brief in der Linken und läßt seine Faust auf dem Schenkel ruhen. »Es ist viel Geld zwischen uns hin- und hergegangen, und wir sitzen jetzt einander gegenüber und wissen beide recht gut, wie die Sache stillschweigend vereinbart war. Ich bin bereit, zu tun, was ich bisher immer getan habe und was regelmäßig geschehen ist, damit die Sache im Gang bleibt. Ich habe bisher noch nie einen Brief wie diesen von Ihnen bekommen, und es hat mich diesen Morgen etwas außer Fassung gebracht, weil mein Freund hier, Matthew Bagnet, der, wie Sie wissen, das Geld nicht hat…«

»Ich weiß es nicht«, sagt der Alte ruhig.

»Hol Sie der… Er hat es nicht –, ich sag es Ihnen doch.«

»O ja, Sie sagen es«, entgegnet Großvater Smallweed. »Aber ich weiß es nicht.«

»Na«, sagt der Kavallerist, seinen Ärger hinunterschluckend, »aber ich weiß es.«

»Ah, das ist ganz etwas andres«, meint Mr. Smallweed gut gelaunt. »Aber das ändert nichts an Mr. Bagnets Lage.«

Der unglückliche George machte die größten Anstrengungen, die Sache in Frieden abzutun, und geht auf Mr. Smallweeds Launen ein, bloß, um ihn freundlich zu stimmen.

»Das meine ich eben. Ganz wie Sie sagen, Mr. Smallweed. Hier ist Matthew Bagnet, und Sie können ihn beim Schopf packen, ob er das Geld nun hat oder nicht. Das nimmt sich nun seine gute Frau sehr zu Herzen, und ich leide auch drunter, denn während ich ein leichtsinniger Taugenichts bin, der mehr Schläge als Halfpence verdient, ist er ein solider Familienvater. Ich weiß nun recht gut, Mr. Smallweed«, der Kavallerist wird, wie er auf diese soldatische Weise von dem Geschäft spricht, immer zuversichtlicher, »daß ich von Ihnen nicht verlangen kann, obgleich wir in einer gewissen Art ganz gut miteinander stehen, meinen Freund Bagnet ganz aus dem Spiel zu lassen.«

»Mein Gott, Sie sind zu bescheiden. Verlangen können Sie alles, Mr. George.« Großvater Smallweed zeigt eine gewisse menschenfresserhafte Neigung zur Spaßhaftigkeit.

»Und Sie können es abschlagen, meinen Sie, nicht? Oder vielleicht nicht so sehr Sie als Ihr Freund in der City. Hahaha!«

»Hahaha!« lacht auch Großvater Smallweed in so hartem Ton und mit so ganz besonders grünen Augen, daß Mr. Bagnets natürliche Ernsthaftigkeit sich beim Anblick des verehrungswürdigen alten Herrn sehr vertieft.

»Kommen Sie«, sagt der sanguinische Mr. George. »Es freut mich, daß wir so gut aufgelegt sind. Ich möchte gern alles in Frieden abmachen. Hier sitzt mein Freund Bagnet, und hier bin ich. Wir wollen die Sache auf der Stelle in der gewohnten Weise abmachen, nicht wahr, Mr. Smallweed? Und Sie werden meinem Freund Bagnet und seiner Familie das Herz um vieles erleichtern, wenn Sie ihm sagen wollen, daß wir uns darüber verständigt haben.«

Hier ruft ein Gespenst mit schriller Stimme höhnisch aus: »Ach, du lieber Gott!« – wenn es nicht etwa gar die spaßhafte Judy ist, die zwar ganz stumm dasteht, als die Gäste sich erschrocken nach ihr umsehen, deren Lippen aber eben erst vor Hohn und Verachtung gezuckt haben.

Mr. Bagnets Ernsthaftigkeit vertieft sich noch mehr.

»Ich glaube, Sie fragten mich doch, Mr. George« – Großvater Smallweed, der die ganze Zeit über die Pfeife in der Hand gehalten hat, ist jetzt der Sprecher – »ich glaube, Sie fragten mich, was der Brief zu bedeuten habe?«

»Nun ja, das wollte ich wissen«, entgegnet der Kavallerist sorglos. »Aber es liegt mir nicht so gar viel daran, wenn nur jetzt alles in Ordnung ist.«

Mr. Smallweed tut, als ziele er nach dem Kopf des Kavalleristen, und zerschmettert die Pfeife dann plötzlich auf dem Boden in tausend Stücke.

»Das hat er zu bedeuten, mein lieber Freund. Zerschmeißen will ich Sie. Ich will Sie vernichten. Zu Staub. Scheren Sie sich zum Teufel!«

Die beiden Freunde springen auf und sehen einander an. Mr. Bagnets Ernsthaftigkeit hat jetzt ihren Höhepunkt erreicht.

»Scheren Sie sich zum Teufel!« wiederholt der Alte. »Ich mag nichts mehr von Ihrem Pfeifenrauchen und Ihrem Schwadronieren hören. Was, Sie wollen ein freier unabhängiger Dragoner sein? Sie? Gehen Sie zu meinem Advokaten – Sie wissen, wo er wohnt, Sie sind schon einmal dort gewesen – und beweisen Sie jetzt Ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Vielleicht, mein lieber Freund, haben Sie da noch eine Aussicht. Mach die Tür auf, Judy, und geleite diese Prahlhänse schön sanft hinaus. Ruf die Polizei, wenn sie nicht freiwillig gehen… Hinaus mit euch!«

Er kreischt die letzten Worte so laut, daß Mr. Bagnet seinem Kameraden die Hände auf die Schultern legt und ihn, ehe er sich noch von seinem Staunen erholen kann, eilig hinausschiebt. Triumphierend wirft Judy die Haustür zu. Ganz verwirrt bleibt Mr. George eine Weile davor stehen und starrt den eisernen Klopfer an. Mr. Bagnet geht, das Urbild der Ernsthaftigkeit, vor dem kleinen Wohnstubenfenster auf und ab wie eine Schildwache und wirft jedes Mal einen Blick hinein, als ob er sich irgend etwas überlege.

»Komm, Mat«, sagt endlich Mr. George, als er sich erholt hat. »Wir müssen es bei dem Advokaten versuchen. Nun, was sagst du zu diesem Schurken?«

Mr. Bagnet bleibt stehen, wirft einen Abschiedsblick in die Wohnstube und brummt mit einem Kopfnicken, das denen drin gelten soll: »Wenn meine Alte hier gewesen wäre, hätte ich ihm meine Meinung gesagt.«

Auf diese Art die Ursache seiner Nachdenklichkeit losgeworden, tritt er an des Kavalleristen Seite und marschiert mit ihm in gleichem Schritt, Schulter an Schulter, fort.

Als sie sich in Lincoln’s-Inn-Fields melden, ist Mr. Tulkinghorn beschäftigt und nicht zu sprechen. Er scheint durchaus nicht geneigt, sie vorzulassen. Und als sie eine volle Stunde gewartet haben und der Schreiber, als ihn die Klingel ruft, die Gelegenheit benützt, zu erwähnen, daß sie schon sehr lange draußen warteten, bringt er keine ermutigendere Botschaft zurück, als daß Mr. Tulkinghorn ihnen nichts zu sagen habe. Sie warten jedoch mit militärischer Ausdauer, und endlich schellt die Klingel, und der Klient, der so lange drin gewesen ist, tritt aus Mr. Tulkinghorns Zimmer.

Der Klient ist eine hübsche alte Dame. Niemand anders als die Haushälterin von Chesney Wold, Mrs. Rouncewell. Sie verläßt das Sanktuarium mit einem hübschen altmodischen Knicks und macht leise die Tür zu. Sie wird hier mit einer gewissen Auszeichnung behandelt, und der Schreiber tritt hinter seinem Pult hervor, um sie durch das Vorzimmer zu geleiten. Die alte Dame dankt ihm für seine Aufmerksamkeit und bemerkt dabei die beiden wartenden Kameraden.

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir, aber sind diese Herren nicht vom Militär?«

Da der Schreiber die beiden fragend ansieht und Mr. George, vertieft in einen Wandkalender über dem Kamin, sich nicht umsieht, antwortet Mr. Bagnet:

»Ja, Maam. Gewesen.«

»Hab mir’s gleich gedacht. Auf den ersten Blick. Das Herz geht mir auf, wie ich Sie so sehe, meine Herren. Es geht mir immer so. Gott behüte Sie, Gentlemen. Sie werden es einer alten Frau nicht übelnehmen, aber ich hatte einmal einen Sohn, der unter die Soldaten gegangen ist, einen hübschen prächtigen Jungen und gutherzig in seiner kecken Weise, wenn auch so manche Leute ihn bei seiner armen Mutter herabsetzen wollten. Ich bitte Sie um Entschuldigung, wenn ich Sie gestört habe, Sir. Gott behüte Sie, Gentlemen!«

»Gott behüte Sie ebenfalls, Maam«, erwidert ihr Mr. Bagnet in herzlichem Ton.

Es liegt etwas Rührendes in den Worten der alten Dame und in dem Zittern, das ihre ehrwürdige alte Gestalt durchläuft, aber Mr. George ist so vertieft in den Wandkalender, daß er sich erst umsieht, als sie fort und die Tür hinter ihr geschlossen ist.

»George«, flüstert ihm Mr. Bagnet mit seinem Baß zu, als er sich endlich von dem Kalender losreißt. »Nur nicht niedergeschlagen! Soldatenblut ist fröhlich Blut. Kopf hoch, mein Junge!«

Der Schreiber ist wiederum hineingegangen, um zu melden, daß sie noch immer da sind, und Mr. Tulkinghorn hat so laut, daß sie es hören können, in gereiztem Ton geantwortet: »Also sollen sie meinetwegen hereinkommen!« Darauf treten sie in das große Zimmer mit der gemalten Decke und sehen ihn vor dem Kamin stehen.

»Nun, was wollt Ihr denn eigentlich? Sergeant, ich sagte Ihnen schon neulich, daß mir Ihre Gesellschaft nicht paßt.«

Der Sergeant gibt zur Antwort – er ist in den letzten Minuten in seiner Redeweise und seiner ganzen Haltung viel schüchterner geworden als sonst –, daß er diesen Brief empfangen habe, deshalb bei Mr. Smallweed gewesen und von diesem hierher gewiesen worden sei.

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen«, entgegnet Mr. Tulkinghorn. »Wenn Sie Schulden machen, müssen Sie sie bezahlen oder die Folgen auf sich nehmen. Müssen Sie, um sich das sagen zu lassen, eigens hierherkommen?«

Der Sergeant muß leider gestehen, daß er das Geld nicht hat.

»Sehr gut! Dann muß der andre, dieser Mann da, wenn er es ist, für Sie bezahlen.«

Der Sergeant muß leider hinzufügen, daß der andre das Geld ebenfalls nicht habe.

»Nun gut, dann müssen Sie beide es zusammen bezahlen oder Sie werden beide verklagt und müssen die Folgen auf sich nehmen. Sie haben das Geld bekommen und müssen es wieder zurückzahlen. Sie können nicht andrer Leute Pfunde, Schillinge und Pence in die Tasche stecken und dann sich mir nichts dir nichts drücken.«

Der Advokat setzt sich in seinen Lehnstuhl und schürt das Feuer.

Mr. George hofft, er werde doch die Güte haben, zu…

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, Sergeant, daß mich das nichts angeht. Mir gefällt Ihr Umgang nicht, und ich will Sie nicht hier haben. Die Sache schlägt nicht in mein Fach, und ich habe nichts damit zu tun. Mr. Smallweed beliebt es, mir die Sache zuzuschieben, aber sie geht mich nichts an. Gehen Sie zu Melchisedek in Clifford’s-Inn.«

»Ich muß Sie um Entschuldigung bitten«, sagt Mr. George, »daß ich mich Ihnen noch so aufdränge. Es ist mir so unangenehm, wie es Ihnen nur sein könnte. Aber wollen Sie mir ein Wort unter vier Augen gestatten?«

Mr. Tulkinghorn steht, die Hände in den Taschen, auf und tritt in eine Fensternische.

»Also sprechen Sie. Ich habe nicht lange Zeit.«

Trotz seiner Maske vollkommener Gleichgültigkeit beobachtet er scharf den Kavalleristen und trägt Sorge, daß er mit dem Rücken gegen das Fenster steht und das Licht auf das Gesicht des andern fällt.

»Sehen Sie, Sir«, sagt Mr. George, »der Mann dort ist der andre, der in meine Angelegenheit unglücklicherweise mit verwickelt ist, nur nominell – nur nominell –, und ich muß vor allem verhindern, daß er meinetwegen in Ungelegenheit kommt. Er ist ein höchst ehrenwerter Mann und hat Frau und Kinder. Er stand früher bei der königlichen Artillerie…«

»Lieber Freund, die ganze königliche Artillerie ist mir höchst gleichgültig – Offiziere, Mannschaften, Protzkästen, Wagen, Pferde, Kanonen und Munition!«

»Schon möglich, Sir, aber mir liegt es sehr am Herzen, daß Bagnet und seine Frau und Familie nicht meinetwegen zu Schaden kommen. Wenn ich sie damit heil aus dieser Klemme herausbringen könnte, würde ich ohne weitere Bedingung das, was Sie neulich von mir haben wollten, herausgeben.«

»Haben Sie es mitgebracht?«

»Ich habe es bei mir, Sir.«

»Sergeant«, fährt der Advokat in seiner trocknen leidenschaftslosen Weise fort, die viel mehr als die größte Heftigkeit jede Hoffnung vernichtet. »Fassen Sie Ihren Entschluß, noch während ich mit Ihnen rede, denn es ist das letzte Mal. Wenn ich aufgehört haben werde, zu sprechen, ist die Sache abgetan, und ich will nichts weiter davon hören. Merken Sie sich das wohl. Wenn Sie wollen, können Sie auf einige Tage hier lassen, was Sie bei sich haben, wie Sie sagen. Sie können es auch gleich wieder mitnehmen, wenn Sie wollen. Im Fall Sie es hier lassen, kann ich soviel für Sie tun, daß die Angelegenheit wieder wie früher geregelt wird. Ich kann außerdem noch so weit gehen, Ihnen eine schriftliche Zusicherung zu geben, daß dem Bagnet dort nichts geschehen soll, bis man gegen Sie bis auf das Äußerste verfahren ist, daß alle Ihre Zahlungsmöglichkeiten erschöpft sein sollen, ehe der Gläubiger sich an ihn hält. Das heißt fast soviel, wie ihn ganz aus dem Spiel lassen. Sind Sie jetzt entschlossen?«

Der Kavallerist steckt die Hand in die Brusttasche und antwortet mit einem tiefen Seufzer:

»Ich muß es wohl sein, Sir.«

Sodann setzt Mr. Tulkinghorn die Brille auf, setzt sich hin und schreibt das Dokument, liest es Bagnet, der die ganze Zeit über die Decke angestarrt hat, langsam vor und erklärt es ihm. Der Artillerist legt wieder die Hand bei jedem neuen Regenbad von Worten auf seine Glatze und scheint die Alte sehr nötig zu haben, um eine Meinung zu äußern. Dann nimmt Mr. George aus der Brusttasche ein zusammengefaltetes Papier und legt es widerstrebend neben den Ellbogen des Advokaten.

»Es ist nur ein Brief mit Instruktionen, Sir. Der letzte, den ich von ihm bekam.«

Ein Mühlstein könnte sich ebensowenig verändern wie die Miene Mr. Tulkinghorns, als er jetzt den Brief aufmacht und ihn liest. Mit einem Gesicht, undurchdringlich wie der Tod selbst, faltet er ihn wieder zusammen und legt ihn in sein Pult.

Weiter hat er nichts zu sagen oder zu tun, nickt nur noch ein einziges Mal in seiner früheren kalten und unhöflichen Weise und sagt kurz:

»Sie können gehen. – Heda! Führen Sie die Leute hinaus!«

Der Schreiber öffnet ihnen die Tür, und sie begeben sich nach Mr. Bagnets Wohnung zum Essen.

Gekochtes Fleisch mit grünem Gemüse tritt heute an die Stelle von Schweinefleisch mit grünem Gemüse. Mrs. Bagnet verteilt wieder wie damals das Mahl und würzt es mit der besten Laune. Sie gehört zu der seltnen Art alter Frauen, die das Gute hinnehmen, ohne sich etwas Besseres zu wünschen, und aus jeder kleinen Stelle Dunkelheit noch Licht zu ziehen verstehen. Die dunkle Stelle ist dieses Mal die finstre Stirn Mr. Georges. Er ist ungewöhnlich nachdenklich und niedergeschlagen. Zuerst überläßt Mrs. Bagnet seine Aufheiterung den vereinigten Anstrengungen Quebecs und Maltas. Aber als sie merkt, daß die jungen Damen in dem heutigen Wauwau nicht den lustigen Wauwau von damals finden, gibt sie ihrer leichten Infanterie ein stummes Zeichen, sich zurückzuziehen, und gibt George Gelegenheit, sich auf dem offnen Terrain des häuslichen Herdes in aller Muße frei zu entwickeln.

Aber er tut es nicht. Er bleibt in geschlossener Schlachtordnung und ist umwölkt und bedrückt. Während des ganzen langen Reinigungsprozesses und Hin- und Herklapperns, wo er und Mr. Bagnet ihre Pfeifen bekommen, wird es nicht besser als während des Essens. Er vergißt zu rauchen, starrt ins Feuer, läßt die Pfeife ausgehen und erfüllt die Brust Mr. Bagnets dadurch, daß er zeigt, der Tabak mache ihm keine Freude, mit Unruhe und Schrecken.

Als daher Mrs. Bagnet endlich erscheint, gerötet von dem kalten Wasser, und sich zur Arbeit niedersetzt, gibt ihr ihr Gatte einen Wink, sie möge versuchen, der Sache auf den Grund zu kommen.

»Aber George«, sagt Mrs. Bagnet und fädelt ruhevoll ihre Nadel ein, »wie Sie heute wieder verstimmt sind!«

»Bin ich das? Keine gute Gesellschaft? Ja, ja. Ich fürchte wirklich, ich bin’s nicht.«

»Er ist gar nicht der Bluffy wie sonst, Mutter«, ruft die kleine Malta.

»Weil ihm nicht wohl ist, glaub ich«, setzt Quebec hinzu.

»Gewiß ist das ein schlechtes Zeichen, nicht wie sonst zu sein«, entgegnet der Kavallerist und küßt die Mädchen. »Aber es ist leider wahr. Die Kleinen haben immer recht.«

»George«, sagt Mrs. Bagnet und wendet keinen Blick von ihrer Arbeit. »Wenn ich denken sollte, Sie könnten etwas übelgenommen haben, was einer Soldatenfrau über die Zunge gerutscht ist – ich hätte sie mir gleich darauf am liebsten abgebissen –, so wüßte ich nicht, was ich jetzt sagen sollte.«

»Liebe gute Seele«, entgegnet der Kavallerist. »Schlagen Sie sich doch das aus dem Kopf.«

»Ich habe wirklich und wahrhaftig nur sagen wollen, daß ich Ihnen Lignum anvertraue und überzeugt sei, Sie würden ihn heil durchbringen. Und Sie haben ihn durchgebracht, und fein!«

»Ich danke Ihnen«, sagt George. »Es freut mich, daß Sie so eine gute Meinung von mir haben.«

Er schüttelt Mrs. Bagnets mit der Arbeit beschäftigte Hand am Gelenk und sieht ihr aufmerksam ins Gesicht. Sie näht ruhig weiter, und sein Blick fällt auf den jungen Woolwich, der auf seinem Stuhl in der Ecke sitzt.

Er winkt ihn heran. »Schau mal, mein Junge«, sagt er und streicht der Alten sanft das Haar aus der Stirn. »Siehst du, da ist eine Stirn voll Güte und voll Liebe zu dir! Strahlend vor Liebe zu dir, mein Junge. Ein wenig gebräunt von der Sonne und dem Wetter, weil sie deinem Vater überall hin gefolgt ist und für dich hat sorgen müssen, aber so frisch und gesund wie ein reifer Apfel auf dem Baum.«

Mr. Bagnets Züge drücken, soweit es das sein hölzernes Gesicht erlaubt, die größte Billigung und Beistimmung aus.

»Die Zeit wird kommen, mein Junge«, fährt der Kavallerist fort, »wo das Haar deiner Mutter ergraut ist und die Stirn voller Runzeln und Falten. Eine schöne alte Frau wird sie dann sein. Trag Sorge, solang du noch jung bist, daß du in jenen fernen Tagen sagen kannst: Ich bin nicht schuld, daß nur ein einziges Haar auf ihrem geliebten Haupt weiß geworden ist, und ich habe nicht eine einzige Gramesfalte in ihr Gesicht gezeichnet. Denn von all den vielen Dingen, an die du als Mann denken kannst, ist das eins der besten, Woolwich!«

Mr. George steht von seinem Stuhle auf und setzt den Knaben hinein. Dann sagt er hastig etwas, das so klingt wie:

»Ich will lieber meine Pfeife auf der Straße draußen rauchen.«

35. Kapitel


35. Kapitel

Esthers Erzählung

Ich lag mehrere Wochen krank darnieder, und mein gewohntes Tagewerk war mir eine weit in der Vergangenheit liegende Erinnerung geworden. Das war weniger der Wirkung der Zeit als vielmehr den Veränderungen infolge meiner Hilflosigkeit und der Untätigkeit im Krankenzimmer zuzuschreiben. Schon nach wenigen Tagen schien alles in eine weite Ferne gerückt zu sein, in der die verschiedenen Abschnitte meines Lebens, in Wirklichkeit durch Jahre voneinander getrennt, sich wenig oder gar nicht voneinander abhoben. Ich schien durch mein Kranksein über ein dunkles Meer gefahren zu sein und meine sämtlichen Erlebnisse, durch die große Entfernung wie in eins verschwommen, auf der Küste der gesunden Tage zurückgelassen zu haben.

Der Gedanke, meine Wirtschaftspflichten jetzt versäumen zu müssen, machte mir anfangs wohl große Sorge, trat aber dann soweit in den Hintergrund meiner Erinnerung wie die Zeiten in Greenleaf oder die Sommernachmittage, wo ich als Kind mit der Mappe unter dem Arm, begleitet von dem Schatten an meiner Seite, nach Hause zu meiner Patin ging.

Ich hatte vorher nie gewußt, wie kurz in Wirklichkeit das Leben ist und in welch kleinen Raum man es zusammendrängen kann.

Während ich gefährlich krank war, quälte dies Ineinanderschwimmen der Lebensabschnitte mein Gemüt außerordentlich. Zu gleicher Zeit ein Kind, ein heranwachsendes Mädchen und die kleine Hausfrau, als die ich so glücklich gewesen war, bedrückten mich nicht nur die Sorgen jeder einzelnen dieser Epochen, sondern auch das unaufhörliche vergebliche Bestreben, sie miteinander in Einklang zu bringen. Ich glaube, daß nur wenige, die nicht in einer solchen Lage gewesen sind, vollkommen verstehen können, was ich sagen will, oder sich von der quälenden Unruhe in mir eine Vorstellung machen können.

Aus demselben Grund fürchte ich mich fast, von der Zeit meiner Krankheit zu sprechen, wo ich mir einbildete, ich kletterte riesige Treppen hinauf, beständig bemüht, oben anzukommen, und stets von einem Hindernis daran verhindert, wie ein Wurm an einem Gartenzaun, und gezwungen, immer wieder von vorn anfangen zu müssen. Zuweilen wußte ich ganz genau, daß ich im Bett lag, sprach mit Charley, fühlte ihre Berührung und erkannte sie genau. Und doch hörte ich mich klagen : »O diese unendlichen Treppen, Charley – immer mehr und mehr –, bis zum Himmel hinauf in die Höhe getürmt.« Und dann fing ich wieder an zu klettern.

Ich fürchte mich, von jener schlimmen Zeit zu sprechen, wo sich irgendwo im unendlichen schwarzen Raum ein feuriges Band oder ein Flammenring oder ein Kreis von Sternen bewegte, von dem ich ein kleiner Teil war –; wo mein einziges Gebet war, von den übrigen getrennt zu werden, und es für mich eine so unbeschreibliche Qual und ein so unsägliches Elend bedeutete, ein Teil dieses grauenhaften Dinges zu sein.

Vielleicht werde ich um so weniger langweilig und verständlicher, je weniger ich von diesen Krankheitserinnerungen spreche. Ich rufe sie nicht zurück, um andre zu verstimmen oder weil es mich jetzt im mindesten angriffe, daran zurückzudenken. Es könnte nur sein, daß wir besser imstande wären, Linderung zu schaffen, wenn wir mehr von diesen seltsamen Heimsuchungen wüßten.

Die nun folgende Ruhe, der lange köstliche Schlaf, der selige Frieden, als ich vor Mattigkeit mich nicht mehr selbst quälen konnte und sogar die Nachricht von dem Herannahen des Todes mit keinem andern Gefühl aufgenommen hätte als dem des Mitleids mit den Zurückbleibenden – dieser Zustand ist vielleicht allgemeiner verständlich. Und in ihm befand ich mich, als ich vor dem Licht mit Schrecken zurückbebte, das mir eines Tages wieder in die Augen schimmerte, dann aber mit einer grenzenlosen Freude, die sich mit Worten nicht schildern läßt, begriff, daß ich wieder würde sehen können.

Ich hatte Ada Tage und Nächte an der Tür jammern hören und mir zurufen, ich sei grausam und habe sie nicht lieb. Ich hatte sie bitten und flehen hören, man möge sie hereinlassen, damit sie mich pflegen und trösten könnte, und wiederholt Charley daran erinnert, daß sie meinem Liebling nicht öffnen dürfe, selbst nicht, wenn ich im Sterben läge. Und Charley mit ihrer kleinen Hand und ihrem großen Herzen hat in dieser Zeit der Not treu bei mir ausgeharrt und standhaft die Tür verschlossen gehalten. Wie meine Augen besser wurden und das herrliche Licht jeden Tag herrlicher und voller auf mich schien, konnte ich allmählich selber die Briefe lesen, die mein Liebling mir jeden Morgen und Abend schrieb, konnte sie an meine Lippen drücken und an meine Wange legen. – Ich sah meine liebreiche sorgsame kleine Zofe im Zimmer herumgehen und alles aufräumen und hörte, wie sie wieder heiter durch das offne Fenster mit Ada sprach. Ich verstand jetzt, warum es so still im Hause war, und begriff die zarte Rücksicht, die mir alle dadurch bewiesen. Ich konnte wieder in der Seligkeit meines Herzens weinen und fühlte mich in meiner Mattigkeit so glücklich wie vielleicht noch niemals, während ich gesund und stark gewesen.

Allmählich kehrten meine Kräfte zurück. Ich mußte nicht mehr ruhig daliegen und zusehen, was für mich geschah, sondern war imstande, hie und da ein wenig mitzuhelfen, bis ich mich wieder nützlich machen und dem Leben wieder ein Interesse abgewinnen konnte. Wie deutlich erinnere ich mich noch an den herrlichen Nachmittag, als ich mit Kissen gestützt zum ersten Mal im Bett aufrecht saß, um mit Charley einen Freudentee zu trinken. Die Kleine, von frühester Kindheit an wie dazu auf die Welt gekommen, den Schwachen und Kranken zu helfen, war so glücklich und so geschäftig und unterbrach sich so oft in ihren Vorbereitungen, um ihren Kopf an meiner Brust ruhen zu lassen und mich zu liebkosen und unter Freudentränen auszurufen, sie sei so froh, so froh, daß ich endlich sagen mußte: »Charley, wenn du nicht aufhörst, muß ich mich wieder hinlegen, liebes Kind, denn ich bin schwächer, als ich dachte.«

So wurde denn Charley so ruhig wie ein Mäuschen und bewegte sich mit ihrem heitern Gesicht emsig in den beiden Zimmern hin und her, aus dem Schatten in den göttlichen Sonnenschein und aus dem Sonnenschein wieder in den Schatten, während ich ihr friedvoll zusah. Als alle ihre Vorbereitungen fertig waren und der hübsche Teetisch mit seinen kleinen delikaten Speisen, die meinen Appetit reizen sollten, seinem weißen Tischtuch und seinen Blumen – alles von Ada unten liebevoll und schön für mich arrangiert – neben meinem Bett stand, fühlte ich mich standhaft genug, Charley etwas zu sagen, das mich schon lange beschäftigt hatte.

Erst belobte ich sie wegen der Ordnung im Zimmer und machte ihr Komplimente wegen seines Aussehens. Es war so frisch, luftig, fleckenlos und sauber, daß ich kaum glauben konnte, ich hätte darin so lange krank gelegen. Das freute Charley, und ihr Gesicht glänzte noch mehr als vorher.

»Und doch, Charley«, sagte ich und sah mich um, »vermisse ich irgend etwas, an das ich gewohnt war.«

Die arme kleine Charley sah sich ebenfalls um, schüttelte schüchtern den Kopf und tat, als ob sie nichts entdecken könne.

»Hängen die Bilder alle wie früher?«

»Jawohl, alle, Miß.«

»Stehen die Möbel anders, Charley?«

»Außer, wo ich sie weggerückt habe, um mehr Platz zu haben, stehen sie noch alle wie früher, Miß.«

»Und doch vermisse ich irgend etwas Altgewohntes«, sagte ich. »Ah, jetzt weiß ich es, Charley. Es ist der Spiegel.«

Charley sprang vom Tisch auf, als ob sie etwas vergessen hätte, ging in das nächste Zimmer, und ich hörte sie draußen schluchzen.

Ich hatte schon oft daran gedacht und war jetzt meiner Sache gewiß. Ich konnte Gott danken, daß es mich jetzt nicht mehr erschütterte. Ich rief Charley zurück, und als sie kam – anfangs mit einem gezwungnen Lächeln, aber, wie sie näher trat, mit bekümmerter Miene –, schloß ich sie in meine Arme und sagte:

»Es liegt wenig daran, Charley. Ich glaube, ich kann auch ohne mein altes Gesicht recht gut auskommen.«

Ich erholte mich bald soweit, daß ich das Bett verlassen, im Lehnstuhl sitzen oder sogar, auf Charley gelehnt, schwindlig in das nächste Zimmer gehen konnte. Auch in diesem fehlte der Spiegel, aber was ich zu tragen hatte, war deshalb nicht schwerer zu tragen.

Mein Vormund hatte beständig darauf gedrungen, mich zu besuchen, und jetzt war kein Grund mehr, daß ich mir dieses Glück noch länger hätte versagen sollen. Er kam eines Morgens und wollte mich anfangs gar nicht aus seinen Armen lassen. Immer und immer wieder rief er: »Mein liebes, liebes Mädchen!«

Ich hatte längst gewußt, wie hätte es auch anders sein können, welchen tiefen Quell von Liebe und Edelsinn sein Herz barg, und mußte nicht all das geringfügige Leid bei dem Gedanken, eine Stelle in einem solchen Herzen einnehmen zu dürfen, in den Hintergrund treten? Sicherlich! sagte ich mir. Er hat mein Gesicht gesehen und ist sogar noch zärtlicher gegen mich als früher. Er hat mich gesehen und hat mich trotzdem noch lieber als ehedem. Worüber sollte ich da noch traurig sein!

Er setzte sich neben mich aufs Sofa und schlang seinen Arm um mich. Eine kleine Weile saß er so, mit der Hand vor dem Gesicht; aber als er sie sinken ließ, verrieten seine Mienen keine Erregung. Er sah fröhlich aus wie immer.

»Mein kleines Mütterchen«, sagte er, »was war das doch für eine traurige Zeit. Und noch dazu ist das Mütterchen unerbittlich gewesen.«

»Das hat so sein müssen, Vormund.«

»Sein müssen ?« wiederholte er liebreich. »Natürlich. Ja, du hast recht. Aber erstlich waren Ada und ich ganz und gar einsam und unglücklich, und dann ist deine Freundin Caddy beständig zu allen Zeiten gekommen, und alle im Haus waren elend und traurig, und sogar der arme Rick hat geschrieben – und noch dazu an mich – aus Sorge um dich.«

Ich hatte in Adas Briefen von Caddy gehört, aber nichts von Richard. Ich sagte ihm das.

»Nun ja, liebes Kind«, erklärte er mir. »Ich habe es für das Beste gehalten, ihr nichts zu sagen.«

»Du legtest Nachdruck darauf, daß er an dich geschrieben hat. Es ist doch ganz natürlich von ihm. Er hätte keinem bessern Freund schreiben können.«

»Er ist vielleicht andrer Meinung«, entgegnete mein Vormund. »Die Wahrheit ist, daß er an mich scheinbar nur widerwillig schrieb, und zwar nur in der Hoffnung, über dich Nachricht zu bekommen. Er schrieb kalt, stolz und gereizt. Aber wir müssen da Nachsicht üben, kleines Frauchen. Er ist nicht zu tadeln. ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ hat eben zu sehr auf ihn eingewirkt und läßt mich ihm in einem andern Licht erscheinen. Ich habe erfahren, wie oft der Prozeß so Schlimmes und noch viel Schlimmeres angerichtet hat. Wenn zwei Engel darein verwickelt wären, glaube ich, würde es sogar ihrem Charakter schaden.«

»Deinen Charakter, Vormund, hat es jedenfalls nicht verändert.«

»O doch, liebes Kind«, sagte er lachend. »Er hat aus Südwind Ostwind gemacht, ich weiß nicht, wie oft. Rick hegt Mißtrauen und Argwohn gegen mich, geht zu Advokaten, die ihn lehren, mir mit Verdacht zu begegnen. Er hört von einander widerstreitenden Interessen reden und Ansprüchen, die sich mit den seinen angeblich nicht vertragen, und was sonst noch alles. Weiß der Himmel, wenn ich sie für meinen Teil aufgeben könnte, aus diesem Wust von Zopfflechterei, der meinen unglücklichen Namen seit so langer Zeit trägt, herauskommen oder alles dadurch ein für alle Mal beseitigen könnte, ich würde es, weiß Gott, diese Stunde noch tun. Und lieber möchte ich dem armen Rick seinen ursprünglichen Charakter wiedergeben, als all das Geld zu besitzen, das die toten Prozessierenden, denen auf dem Rad des Kanzleigerichts Herz und Seele gebrochen worden sind, bei dem Generalrechnungsführer haben liegen lassen müssen, ohne auch nur einen Pfennig davon gehabt zu haben. Und glaube mir, liebes Kind, das wäre Geld genug, um eine Pyramide zum Andenken an die himmelschreiende Verkommenheit des Kanzleigerichts damit anzufüllen.«

»Ist es denn wirklich möglich, Vormund?« fragte ich erstaunt, »daß Richard argwöhnisch gegen dich sein kann?«

»Ach, meine Liebe, meine Liebe! Das schleichende Gift dieser Mißbräuche hat leider die Eigenschaft, solche Krankheiten wieder zu erzeugen, Richards Blut ist infiziert, und alles verliert in seinen Augen sein natürliches Aussehen. Nein, ihn trifft keine Schuld.«

»Aber es ist ein schreckliches Unglück, Vormund.«

»Es ist ein schreckliches Unglück, Mütterchen, in den Kreis der Einflüsse eines Prozesses wie ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ zu geraten. Ich kenne kaum ein größeres. Schritt für Schritt hat er sich verleiten lassen, sich auf dieses gebrechliche Rohr zu stützen, das seine Fäulnis seiner ganzen Umgebung mitteilt. Ich sage abermals aus ganzem Herzen, wir müssen mit dem armen Rick Geduld haben und dürfen ihm keinen Vorwurf machen. Was für eine Unzahl fröhlich schlagender Herzen gleich dem seinen habe ich nicht schon zu meiner Zeit unter demselben unheilvollen Einfluß anders werden sehen.«

Ich mußte dennoch meine Verwunderung und mein Bedauern aussprechen, daß meines Vormunds wohlwollende und uneigennützige Absichten so wenig Erfolg gehabt hatten.

»So dürfen wir heute noch nicht sprechen, Mütterchen«, erwiderte er heiter. »Ada ist, hoffe ich, glücklicher jetzt, und das ist schon viel. Ich glaubte, diese beiden jungen Leute und ich könnten Freunde sein, anstatt einander mißtrauende Feinde, und imstande, den Folgen des Prozesses die Stirn zu bieten und zu zeigen, wir wären zu stark für ihn. Aber das war zuviel verlangt, ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ war der Vorhang an Ricks Wiege.«

»Können wir denn nicht hoffen, Vormund, daß ihm ein wenig Erfahrung beweist, auf was für eine trügerische und elende Sache er baut?«

»Wir wollen das hoffen, liebe Esther, und wollen auch hoffen, daß die Lehre nicht zu spät kommt. Aber keinesfalls dürfen wir zu hart über ihn urteilen. Es gibt heutzutage sicherlich nur wenig erwachsne und gereifte und gewiß auch gute Menschen auf Erden, die, wenn sie als Klienten in diesen Gerichtshof kämen, nicht binnen drei Jahren, nein, binnen zwei, vielleicht sogar in einem Jahr ihren guten Charakter einbüßten. Wie können wir uns da über den armen Rick wundern?«

Ein so unglücklicher junger Mann kann anfangs nicht glauben – wie könnte es denn auch anders sein –, daß das Kanzleigericht wirklich so verkommen ist. Voll Aufregung und ewig hin und her geworfen, erwartet er von ihm, daß es etwas für seine Sache tue und zu einem Abschluß bringen werde. Es verschleppt, enttäuscht, martert und quält ihn, zerreibt stückweise seine sanguinischen Hoffnungen und seine Geduld, Faden um Faden, aber immer noch hofft er und klammert sich daran und findet die ganze übrige Welt trügerisch und hohl. »Ja, so ist es leider! Doch genug davon jetzt, liebes Kind!«

Mein Vormund war mir die ganze Zeit über und schon in meiner Kindheit eine Stütze gewesen, und sein liebreiches Wesen ergriff mich jetzt so sehr, daß ich meinen Kopf an seine Schulter legte, voll Liebe, als wäre er mein Vater. Ich faßte innerlich den Entschluß, Richard aufzusuchen, sobald ich wieder kräftig genug dazu sein würde, und mich zu bemühen, ihm die Augen zu öffnen.

»Wir haben, dächte ich, bessere Unterhaltungsthemen als dieses«, sagte mein Vormund, »bei so einem Freudenfest, wie es die Genesung meines geliebten Mütterchens ist. Und ich hatte den Auftrag, gleich mit dem ersten Wort eines derselben zu erwähnen. Wann soll dich Ada besuchen, liebes Kind?«

Ich hatte auch schon daran gedacht. Ein wenig in Verbindung mit dem Gedanken an den Spiegel, aber nicht viel –, wußte ich doch, daß mein Liebling durch mein entstelltes Gesicht nicht anders zu mir sein würde.

»Da ich Ada so lang habe entbehren müssen«, fing ich nach einer Weile an, »glaube ich, wäre es das beste, wenn ich noch ein bißchen auf meinem alten Entschluß beharrte und das Haus hier auf einige Zeit verließe, ehe ich sie wiedersehe. Wenn Charley und ich eine Wohnung auf dem Lande bezögen und ich eine Woche vorläufig dort wohnen könnte, um mich in der frischen Luft ein wenig zu erholen, glaube ich, würde es besser für uns sein.«

Ich hoffe, es war kein kleinlicher Wunsch von mir, daß ich mich selbst erst etwas mehr an mein verändertes Äußeres gewöhnen wollte, bevor ich dem lieben Kind, das ich mit so heißer Sehnsucht wiederzusehen wünschte, vor die Augen träte. Aber es ist die Wahrheit. Ich hegte wirklich diesen Wunsch und war überzeugt, daß mein Vormund mich verstehen werde.

»Unser verzognes kleines Frauchen«, sagte er, »soll, wenn sie schon so versessen drauf ist, ihren Willen haben, wenn es auch Tränen kosten wird. Da hätten wir zum Beispiel Boythorn. Der ritterliche Bursche hat mit so leidenschaftlichen Gelübden, wie sie vielleicht noch kein Papier je aufgenommen hat, bei Himmel und Erde geschworen, wenn du nicht zu ihm kämest und sein ganzes Haus bezögest, das er übrigens nur zu diesem Zweck bereits geräumt hat, wolle er es niederreißen und keinen Stein auf dem andern lassen.«

Und mein Vormund legte einen Brief in meine Hand, der nicht wie gewöhnlich mit: »Mein lieber Jarndyce« begann, sondern anfing:

»Ich schwöre, daß, wenn Miß Summerson nicht zu mir kommt und mein Haus bezieht, das ich heute um ein Uhr mittags für sie räume, usw. usw.«

und dann mit der größten Ernsthaftigkeit und den nachdrücklichsten Worten dieselbe Erklärung wiederholte. Wir mußten herzlich über den Brief lachen, so sehr wir auch Mr. Boythorns liebenswürdigen Vorschlag zu schätzen wußten, und kamen überein, daß ich ihm morgen früh einen Dankbrief schreiben und sein Anerbieten annehmen sollte. Es war mir höchst angenehm, denn von allen Orten, die ich mir hätte ausdenken können, war mir keiner so erwünscht als Chesney Wold.

»Nun, kleine Hausfrau«, sagte mein Vormund und sah auf die Uhr, »meine Zeit wurde mir, ehe ich heraufkam, genau zugemessen und ist jetzt bis zur letzten Minute verstrichen. Du mußt dir vorläufig noch Ruhe gönnen. Ich habe nur noch eine Bitte. Die kleine Miß Flite faßte nämlich auf das Gerücht, daß du krank wärest, auf der Stelle den Entschluß, hierher zu wandern – zwanzig Meilen in Tanzschuhen, die arme Alte –, um sich nach dir zu erkundigen. Ein wahres Glück, daß wir zu Hause waren, sonst hätte sie unverrichteter Dinge wieder umkehren müssen.«

Die alte Verschwörung, mich glücklich zu machen! Jedermann schien dabei beteiligt zu sein!

»Wenn es dir nun nicht unangenehm ist, die harmlose kleine Alte einmal nachmittags vorzulassen, ehe du Boythorns sonst dem Untergang geweihtes Haus vor Zerstörung bewahren gehst, glaube ich, würdest du sie stolzer und zufriedener damit machen, als ich – trotzdem ich den ausgezeichneten Namen Jarndyce führe – in meinem ganzen Leben imstande wäre.«

Ich bezweifle nicht, daß er wußte, wie besänftigend und heilsam der Anblick des armen unglücklichen Geschöpfs zu jener Zeit auf mein Gemüt wirken werde. Ich fühlte es, noch während er mit mir sprach. Ich konnte ihm nicht herzlich genug versichern, wie bereit ich sei, sie zu empfangen. Ich hatte sie immer bemitleidet; vielleicht niemals so sehr wie jetzt. Ich war stets froh gewesen, sie in ihrem Unglück wenigstens einigermaßen trösten zu können; aber nie, nie halb so sehr wie jetzt.

Wir verabredeten also einen Tag, wo Miß Flite mit der Landkutsche zu uns kommen und mein Rekonvaleszentenmittagessen mit mir teilen sollte.

Als mein Vormund mich verließ, wendete ich auf meinem Lager mein Gesicht ab und betete zu Gott um Verzeihung, daß ich meine kleine Prüfung, von solchen Segnungen umgeben, nicht leichter trug. Die kindliche Bitte an jenem längst vergangnen Geburtstag, wo ich gelobt hatte, zufrieden, fleißig und treuen Herzens zu sein und Gutes zu erweisen, wann immer ich könnte, und mir Liebe zu erwerben, wenn es mir gelänge, kehrte mit einem vorwurfsvollen Gedanken an alles seitdem genoßne Glück und all die mir erwiesne Liebe in meine Seele zurück. Wenn ich jetzt schwach werden sollte, was hätten mir alle diese gnädigen Schickungen genützt? Ich wiederholte das alte kindische Gebet in seinen alten kindischen Worten und fand, daß es mir Frieden gab wie damals.

Mein Vormund besuchte mich von da an jeden Tag. Nach Verlauf einer Woche konnte ich in den beiden Zimmern herumgehen und hinter dem Vorhang hervor lange mit Ada sprechen. Aber ich zeigte mich ihr nie, denn ich hatte noch nicht den Mut dazu.

An dem festgesetzten Tag kam Miß Flite. Die arme kleine Alte eilte, ihr gewöhnliches würdevolles Benehmen ganz beiseite lassend, in mein Zimmer und rief, aus tiefstem Herzen schluchzend: »Meine liebe Fitz-Jarndyce!«, fiel mir um den Hals und küßte mich wohl zwanzig Mal.

»Mein Gott!« sagte sie und fuhr mit der Hand in ihren Strickbeutel. »Ich habe hier nichts als Dokumente, meine liebe Fitz-Jarndyce. Sie müssen mir ein Taschentuch leihen.«

Charley gab ihr eins, und das gute Geschöpf machte den reichlichsten Gebrauch davon, denn sie hielt es mit beiden Händen vor die Augen und weinte so die nächsten zehn Minuten lang.

»Aus Freude, meine liebe Fitz-Jarndyce«, versicherte sie dabei unaufhörlich. »Nicht etwa vor Schmerz. Vor Freude, Sie wieder gesund zu sehen. Vor Freude, die Ehre zu haben, Sie besuchen zu dürfen. Ich habe Sie noch viel lieber als den Kanzler. Obgleich ich regelmäßig den Gerichtssitzungen beiwohne. Übrigens, meine Liebe, da wir gerade von Taschentüchern sprechen…«

Sie fing einen Blick von Charley auf, die sie vorher von der Kutsche abgeholt hatte. Charley sah mich an und schien ein wenig beunruhigt.

»Ja, richtig«, sagte Miß Flite, »ja, richtig. Wahrhaftig! Im höchsten Grade indiskret von mir, darauf zu sprechen zu kommen. Meine liebe Miß Fitz-Jarndyce, unter uns gesagt, ich fürchte, ich bin manchmal ein wenig – zerstreut, wissen Sie.« – Sie deutete auf ihre Stirn – »Es ist weiter nichts.«

»Was wollten Sie mir denn sagen?« fragte ich lächelnd, denn ich sah, daß sie gern fortfahren wollte. »Sie haben mich neugierig gemacht, und ich lasse mich jetzt nicht so ohne weiteres abspeisen.«

Miß Flite sah in ihrem Dilemma Charley hilfesuchend an und freute sich dann über die Maßen, als Charley sagte: »Wenn Sie erlauben, Maam, aber es ist wohl am besten, Sie erzählen es selber.«

»Wie klug unsre junge Freundin ist«, sagte sie zu mir in ihrer geheimnisvollen Weise. »Winzig klein. Aber s-eh-r klug. Also, meine Liebe, eine hübsche kleine Anekdote. Weiter nichts. Aber ich halte sie für reizend. Wer, glauben Sie wohl, kam hinter uns her in der Landkutsche? Eine arme Person in einem höchst unmodischen Hut…«

»Jenny, wenn Sie erlauben, Miß«, erklärte Charley.

»Ganz richtig«, stimmte Miß Flite lebhaft bei. »Jenny. Jawohl. Und was erzählt sie unsrer jungen Freundin? Daß sich in ihrer Hütte eine verschleierte Dame nach dem Befinden meiner lieben Fitz-Jarndyce erkundigte und als kleines Andenken ein Taschentuch mitgenommen hat, bloß, weil es meiner liebenswürdigen Fitz-Jarndyce gehörte. Bloß deswegen nahm es die verschleierte Dame mit.«

»Wenn Sie erlauben, Miß«, erklärte mir Charley, als ich sie verwundert anblickte, »Jenny sagte, als ihr Kind starb, hätten Sie ein Taschentuch zurückgelassen. Sie hat es aufgehoben mit den andern kleinen Sachen. Ich glaube, wenn Sie erlauben, Miß, nicht nur, weil es das tote Kind zugedeckt hat, sondern weil es von Ihnen stammt.«

»Winzig klein«, flüsterte Miß Flite und machte allerhand merkwürdige Gesten vor ihrer Stirn, um auszudrücken, wie gescheit Charley sei. »Aber ausnehmend klug! Und so klar! Meine Liebe, sie drückt sich klarer aus als der beste Advokat, den ich jemals gehört habe.«

»Ja, Charley«, entgegnete ich. »Ich erinnere mich. Und weiter?«

»Ja, Miß, dies Taschentuch hat die Dame mitgenommen. Und Jenny wünscht, Sie wissen zu lassen, daß sie es nicht für einen Haufen Geld weggegeben hätte, aber die Dame hat es einfach genommen und Geld dafür hingelegt. Jenny kennt sie gar nicht, wenn Sie erlauben, Miß.«

»Wer mag das nur gewesen sein?«

»Meine Liebe«, meinte Miß Flite und brachte mit ihrer geheimnisvollen Miene ihre Lippen ganz nahe an mein Ohr. »Meiner Meinung nach – verraten Sie es unsrer kleinen Freundin nicht – war es des Lordkanzlers Gemahlin. Er ist verheiratet, müssen Sie wissen. Und wie ich höre, hat er ein Höllenleben bei ihr auszuhalten. Sie wirft Seiner Lordschaft Akten ins Feuer, meine Liebe, wenn er den Juwelier nicht bezahlen will.«

Ich machte mir damals nicht viel Gedanken über die unbekannte Dame und glaubte, es könnte vielleicht Caddy gewesen sein. Außerdem wurde meine Aufmerksamkeit ganz von meinem Besuch in Anspruch genommen. Von der Fahrt ganz durchgefroren und ausgehungert, hatte sie, als das Mittagessen aufgetragen wurde, einigen Beistand nötig, um sich zu ihrer Befriedigung mit einer jämmerlichen alten Schärpe und einem Paar sehr abgenutzter und oft geflickter Handschuhe, die, in Papier eingeschlagen, die Reise mitgemacht hatten, herauszuputzen. Ich hatte ihr außerdem bei dem Mahl, das aus einem Gericht Fisch, einem gebratenen Huhn, Gemüse, Madeira und Mehlspeise bestand, vorzulegen, und es war so hübsch anzusehen, wie sie es sich schmecken ließ und mit welchem Anstand und welcher Feierlichkeit sie sich dabei benahm, daß ich bald an weiter nichts dachte.

Als wir fertig waren und unser bescheidenes Dessert vor uns stand, mit Blumen geschmückt von den Händen meines Lieblings, war Miß Flite so heiter gestimmt und gesprächig, daß ich auf den Einfall kam, sie auf ihre eigne Lebensgeschichte zu bringen, denn ich wußte, daß sie immer gern von sich sprach.

Ich fing mit der Frage an: »Sie haben den Lordkanzler wohl schon viele Jahre besucht, Miß Flite?«

»Oh, viele, viele, viele Jahre, meine Liebe. Aber ich erwarte ein Urteil. Binnen kurzem.«

Selbst aus ihrem hoffnungsfreudigen Wesen blickte jetzt eine schmerzliche Spannung durch und ließ mich zweifeln, ob ich recht getan hätte, die Sache erwähnt zu haben. Ich nahm mir vor, lieber nicht mehr davon anzufangen.

»Mein Vater erwartete schon ein Urteil«, fuhr Miß Flite nach einer Weile fort. »Mein Bruder, meine Schwester, sie alle erwarteten ein Urteil. Dasselbe, das ich erwarte.«

»Sie sind alle…«

»Jaaaa. Tot natürlich, meine Liebe.«

Da ich sah, daß sie durchaus fortfahren wollte, hielt ich es für das Beste, doch auf das Thema einzugehen, anstatt ihm auszuweichen.

»Wäre es nicht vielleicht klüger«, sagte ich, »nicht länger auf dieses Urteil zu warten?«

»Natürlich, meine Liebe«, antwortete sie auf der Stelle, »wäre es das.«

»Und den Gerichtshof nicht länger mehr zu besuchen.«

»Ebenso natürlich. Es ist sehr aufreibend, immer auf etwas zu warten, das nie kommt, meine liebe Fitz-Jarndyce! Aufreibend bis auf die Knochen, versichere ich Ihnen.«

Sie zeigte mir einen Augenblick ihren Arm, der wirklich schrecklich abgezehrt aussah.

»Aber, meine Liebe«, fuhr sie geheimnisvoll fort, »der Ort übt eine schreckliche Anziehungskraft aus. Still! Erwähnen Sie nichts davon gegen unsre kleine Freundin, wenn sie hereinkommt. Es könnte sie erschrecken. Mit gutem Grund. Der Ort übt eine grausame Anziehungskraft aus. Sie können ihn nicht verlassen. Sie müssen auf etwas warten.«

Ich versuchte, ihr das auszureden. Sie hörte mich geduldig und lächelnd an, war aber gleich mit ihrer Antwort zur Hand.

»Jajaja! Sie denken so, weil ich etwas zerstreut bin. Seh-r absurd, so zerstreut zu sein, nicht wahr? Und seh-r konfus. Im Kopf. Es kommt mir so vor. Aber, meine Liebe, ich bin seit vielen Jahren dort und habe scharf acht gegeben. Es geht von dem Szepter und dem Siegel auf dem Tisch aus.«

»Wieso von dem Szepter und dem Siegel?« fragte ich.

»Sie saugen und ziehen! Sie ziehen die Leute an, meine Liebe. Ziehen den Frieden aus ihrer Seele. Den Verstand. Das gute Aussehen. Die guten Eigenschaften ziehen sie heraus. Ich habe gefühlt, wie sie mir sogar in der Nacht die Ruhe entzogen. Kalte und glitzernde Teufel.«

Sie tippte verschiedne Male auf meinen Arm und nickte mir gutmütig zu, als liege ihr wohl viel daran, mich zu überzeugen, daß ich aber keine Ursache habe, mich vor ihr zu fürchten, wenn sie mir so düstere und schreckliche Geheimnisse anvertraute.

»Warten Sie «, sagte sie, »ich will Ihnen meine eigne Geschichte erzählen. Ehe sie mich anzogen, die glitzernden Teufel, womit beschäftigte ich mich da? – Mit Tambourinspielen? Nein, Tambourarbeit allerdings. Ich und meine Schwester machten nämlich Tambourierstickerei. Unser Vater und unser Bruder waren Baumeister. Wir wohnten alle zusammen. Seh-r respektabel, meine Liebe. Zuerst zogen sie meinen Vater weg. Langsam. Die ganze Häuslichkeit zog es mit ihm. In wenigen Jahren war er ein mürrischer, verbitterter, bankrotter Mann, der für niemanden ein gutes Wort oder einen freundlichen Blick mehr hatte.

Früher war er so ganz anders gewesen, Fitz-Jarndyce! Es zog ihn ins Schuldgefängnis. Dort starb er. Dann zog es unsern Bruder – rasch – zur Trunksucht und Herabgekommenheit. Und Tod. Dann zog es meine Schwester. Still. Fragen Sie mich nicht, zu was. Dann wurde ich krank. Und darbte. Und ich hörte, wie schon oft vorher, daß all das das Werk des Kanzleigerichts sei. Als ich mich erholte, sah ich mir das Ungeheuer an. Und dann entdeckte ich, wie es war, und es zog mich, dort zu bleiben.«

Nach und nach, wie sie mit der kurzen Schilderung ihres Lebens fertig wurde, mit unterdrückter gepreßter Stimme sprechend, als stünde all das Leiden noch in frischer Erinnerung vor ihr, und zu Ende kam, nahm sie ihre gewohnte Miene liebenswürdiger Wichtigtuerei wieder an.

»Sie schenken mir nicht vollen Glauben, meine Liebe. Gut, gut. Eines Tages werden Sie es schon tun. Ich bin ein wenig zerstreut. Aber ich habe beobachtet. Ich habe manches neue Gesicht arglos in den Bereich des Einflusses des Szepters und des Siegels kommen sehen in diesen vielen Jahren. Meinen Vater. Meinen Bruder. Meine Schwester. Mich selbst. Ich höre Konversationskenge und alle übrigen zu den neuen Gesichtern sagen: Das ist die kleine Miß Flite. Oh, Sie sind zum ersten Mal hier? Da müssen wir Ihnen doch die kleine Miß Flite vorstellen! Sehr gut! Und ich bin über die Ehre natürlich sehr stolz. Und wir alle lachen. Aber, Fitz-Jarndyce, ich weiß, was vor sich geht. Ich weiß viel besser als sie, wann die Anziehungskraft zu wirken begonnen hat. Ich kenne die Zeichen, meine Liebe. Ich sah den Anfang bei Gridley. Und ich sah das Ende. Meine liebe Fitz-Jarndyce«, sagte sie wieder mit leiserer Stimme, »ich sah, wie es anfing bei unserm Freund, dem Mündel in Sachen Jarndyce. Sagen Sie doch, man solle ihn zurückhalten. Oder es wird ihn ins Verderben ziehen.«

Einige Augenblicke lang sah sie mich schweigend an, dann wurde ihre Miene langsam wieder ein Lächeln. Sie schien zu fürchten, sie habe mir zu trübe Dinge erzählt, und schien gleichzeitig den Zusammenhang zu verlieren, denn sie sagte höflich und nippte dabei an ihrem Glas Wein: »Ja, meine Liebe, wie ich schon sagte, ich erwarte ein Urteil. Binnen kurzem. Dann schenke ich meinen Vögeln die Freiheit wieder, wie Sie wissen, und verteile Güter.«

Ihre Anspielung auf Richard ergriff mich tief. Ihre verkümmerte Gestalt war trotz des unzusammenhängenden Sinns ihrer Rede ein furchtbares und trauriges Beispiel. Zum Glück für sie war sie jetzt wieder seelenvergnügt und wurde wieder ganz Lächeln und Nicken.

»Aber, meine Liebe«, sagte sie heiter und legte ihre Hand auf die meine, »Sie haben mir noch nicht wegen meines Arztes gratuliert. Wirklich, noch nicht ein einziges Mal.«

Ich mußte gestehen, daß ich nicht recht wußte, was sie meinte.

»Wegen meines Arztes, Mr. Woodcourt, meine Liebe, der so außerordentlich aufmerksam zu mir war! Obgleich er mir seine Dienste gratis zur Verfügung stellte. Bis der Tag des Gerichts kommt. Ich meine den Tag des Urteils, der den Zauber vernichtet, den Szepter und Siegel auf mich ausüben.«

»Mr. Woodcourt ist jetzt so weit weg«, sagte ich, »daß ich glaubte, eine solche Gratulation käme verspätet, Miß Flite.«

»Aber, mein Kind«, entgegnete sie, »ist es denn möglich, daß Sie nicht wissen, was geschehen ist?«

»Was denn? Ich weiß von nichts.«

»Es war doch in jedermanns Munde, meine liebe Fitz-Jarndyce. Und Sie wissen es wirklich nicht?«

»Nein. Sie vergessen, wie lange ich hier krank lag.«

»Sehr wahr. Meine Liebe, wirklich, sehr wahr. Ich muß mich selbst tadeln. Aber mein Gedächtnis ist mit allem andern aus mir herausgezogen worden von… Sie wissen schon. Seh-r starker Einfluß, nicht wahr? Ja, ja, meine Liebe. Dort im indischen Ozean hat ein schrecklicher Schiffbruch stattgefunden.«

»Mr. Woodcourt ist untergegangen!!!«

»Regen Sie sich nicht auf, meine Liebe. Er ist gerettet. Eine grauenerregende Szene. Der Tod in allen Gestalten. Hunderte von Toten und Sterbenden. Feuer, Sturm und Finsternis. Eine Menge von Ertrinkenden auf einen Felsen geworfen. Dort, und die ganze Zeit über, war mein lieber Arzt ein Held. Ruhig und tapfer in jeder Gefahr. Rettete vielen das Leben, klagte nie über Hunger und Durst, hüllte Nackte in seine eignen Kleider, übernahm die Führung, riet ihnen, was sie tun sollten, pflegte die Kranken, begrub die Toten und brachte die armen Überlebenden endlich in Sicherheit. Meine Liebe, die armen ausgehungerten Geschöpfe beteten ihn fast an. Sie fielen vor ihm auf die Knie und segneten ihn, als sie endlich gerettet wurden. Das ganze Land spricht davon. Warten Sie. Wo ist mein Dokumentenbeutel? Ich hab es mit. Und Sie sollen es lesen, Sie sollen es lesen.«

Und ich las die ganze herrliche Geschichte.

Wenn auch nur sehr langsam und unvollkommen damals, denn meine Augen waren so getrübt, daß ich die Worte nur schwer unterscheiden konnte, und ich weinte soviel, daß ich oft den langen Zeitungsausschnitt weglegen mußte. Ich fühlte mich so glücklich, den Mann gekannt zu haben, der so edle und tapfere Taten vollbracht, sein Ruhm erfüllte mich mit solcher Begeisterung, und ich bewunderte ihn so sehr wegen dessen, was er getan, daß ich die sturmgepeitschten Unglücklichen, die vor ihm auf die Knie gesunken waren und ihn als ihren Retter gesegnet hatten, beneidete. Ich selbst hätte vor ihm niederknien und ihn segnen mögen in meinem Entzücken, daß er sich so wahrhaft edel und tapfer benommen. Ich fühlte, daß niemand – weder Mutter, Schwester noch Gattin – ihn höher halten könnte als ich. Ja, als ich, das fühlte ich.

Die arme kleine Miß Flite schenkte mir den Bericht, und als sie bei herannahendem Abend aufstand, um sich zu verabschieden, um nicht die Rückfahrt mit der Landkutsche zu versäumen, sprach sie noch immer von dem Schiffbruch. Ich war meinerseits noch zu sehr außer Fassung, um ihn in allen seinen Einzelheiten zu begreifen.

»Meine Liebe«, sagte sie, als sie Schärpe und Handschuhe sorgfältig eingewickelt hatte, »mein wackerer Arzt sollte einen Titel bekommen. Jedenfalls wird das auch geschehen. Sie sind doch auch der Meinung?«

»Daß er gewiß einen verdiente, ja. Daß er einen bekommen wird, nein.«

»Warum nicht, Fitz-Jarndyce?« fragte sie etwas gereizt.

Ich erklärte ihr, es sei in England nicht Sitte, für verdienstvolle Taten in Friedenszeiten, wie bedeutend sie auch immer wären, Titel zu verleihen. Außer, gelegentlich, wenn diese Taten in der Aufhäufung irgendeiner großen Summe Geldes bestünden.

»Aber, Gott im Himmel«, sagte Miß Flite, »wie können Sie so etwas sagen! Sie wissen doch, meine Liebe, daß die größten Zierden Englands in Wissenschaft, Kunst, Humanität und Fortschritten aller Art adlig geworden sind. Blicken Sie um sich, meine Liebe. Jetzt müssen Sie ein wenig zerstreut sein, glaube ich, wenn Sie nicht wissen, daß das allein der Grund ist, weshalb in England der Adel nie aussterben wird.«

Ich fürchte, sie glaubte wahrhaftig, was sie sagte. Es gab Augenblicke, wo sie wirklich ganz verrückt war.

Und jetzt muß ich wohl das kleine Geheimnis verraten, das ich bis jetzt für mich zu behalten versucht habe. Ich hatte mir manchmal gedacht, Mr. Woodcourt liebe mich und würde, wenn er reicher gewesen wäre, es mir vielleicht vor seiner Abreise gesagt haben. Ich dachte mir manchmal, ich würde mich gefreut haben, wenn er es mir gesagt hätte. Aber wieviel besser war es jetzt, daß es nicht der Fall gewesen! Was hätte ich leiden müssen, wenn ich ihm hätte schreiben und sagen müssen, daß die armseligen Gesichtszüge, die er als die meinen gekannt, jetzt so verändert seien und daß ich ihn freiwillig seiner Verpflichtung gegen eine, die er nie gesehen, so verändert habe sie sich, entbinde. Oh, wieviel besser war es so! Nichts war jetzt ungeschehen zu machen, für mich keine Kette zu lösen, für ihn keine Kette zu schleppen, und ich konnte, so es Gott gefiel, meinen einfachen Weg auf dem Pfade der Pflicht verfolgen und er seinen besseren Weg auf der breiteren Straße gehen.