Fünfundfünfzigstes Kapitel.

Enthält einige nähere Umstände in betreff des vorberührten Klopfens, und unter andern, auch interessante, für diese Geschichte bedeutsame Aufschlüsse in Beziehung auf Herrn Snodgraß und eine junge Dame.

Der Gegenstand, der sich den Blicken des erstaunten Schreibers darstellte, war ein junger, auffallend dicker Bursche in Livree, der kerzengerade und mit geschlossenen Augen, als ob er im Stehen schliefe, vor der Tür stand. Er hatte noch nie einen so fetten Burschen unter einer reisenden Karawane oder sonstwo gesehen, und dies, verbunden mit der äußersten Ruhe und Gelassenheit seiner Erscheinung, entsprach seinen Mutmaßungen über die Person, die dermaßen angeklopft, so wenig, daß er in die größte Verwunderung geriet.

»Was gibt’s?« fragte der Schreiber.

Der außerordentliche Bursche erwiderte kein Wort, sondern nickte bloß einmal, und dem Schreiber schien es, als ob er ein wenig schnarchte.

»Woher kommen Sie?« fragte der Schreiber.

Der Bursche machte kein Zeichen. Er atmete schwer, war aber sonst völlig bewegungslos.

Der Schreiber wiederholte die Frage dreimal, und da er keine Antwort erhielt, machte er Anstalten, die Tür wieder zu schließen, als der Bursche plötzlich die Augen aufschlug, mehrere Male winkte, einmal nieste und seine Hand erhob, als ob er das Klopfen wiederholen wollte. Da er die Tür offen fand, starrte er mit großem Erstaunen um sich herum und heftete endlich seine Augen auf Herrn Lowtens Gesicht.

»Warum zum Teufel haben Sie so toll geklopft?« fragte der Schreiber ärgerlich.

»Wie denn?« entgegnete der Bursche mit träger, schläfriger Stimme.

»Gerade wie vierzig Mietkutscher«, erwiderte der Schreiber.

»Weil mein Herr gesagt hat, ich solle in einem fort klopfen, bis man die Tür öffne, damit ich nicht einschlafe«, sagte der Bursche.

»Gut«, versetzte der Schreiber. »Was haben Sie denn hier zu bestellen?«

»Er ist unten«, versetzte der Bursche.

»Wer?«

»Mein Herr. Er wünscht zu wissen, ob Sie zu Hause sind.«

Lowten benützte diese Gelegenheit, um zum Fenster hinauszusehen. Als er nun einen offenen Wagen mit einem wohlbeleibten alten Herren darin erblickte, der sehr unruhig hinaufschaute, wagte er es, ihm zu winken, worauf der alte Herr sogleich heraussprang.

»Ist das Ihr Herr in dem Wagen?« fragte Lowten.

Der Bursche nickte.

Alle weiteren Nachfragen wurden überflüssig gemacht durch die Erscheinung des alten Wardle, der die Treppe hinaufrannte, Lowten flüchtig begrüßte und schnell in Herrn Perkers Zimmer ging.

»Ah, Pickwick«, rief der alte Herr: »Ihre Hand, mein Freund, Warum habe ich erst gestern gehört, daß Sie sich ins Gefängnis sperren ließen, und warum haben Sie es gelitten, Perker?«

»Ich bin unschuldig, mein lieber Herr«, erwiderte Perker mit einem Lächeln und einer Prise: «Sie wissen ja, wie eigensinnig er ist.«

»Ja, ja, das weiß ich«, versetzte der alte Herr: »aber dessenungeachtet freut es mich herzlich, ihn wieder zu sehen. Ich werde ihn auch sobald nicht wieder aus den Augen lassen.«

Mit diesen Worten schüttelte er Herrn Pickwick abermals die Hand, und nachdem er auch Perker die Hand geschüttelt, warf er sich in einen Lehnstuhl: sein lustiges rotes Gesicht glänzte wieder von Lächeln und Gesundheit.

»Nun«, sagte Wardle, »es gehen ja nette Dinge hier vor – eine Prise, Perker, mein Junge. Das sind einmal Zeiten!«

»Was meinen Sie?« fragte Herr Pickwick.

»Ei«, erwiderte Wardle, »ich glaube, die Mädchen sind samt und sonders toll geworden. Sie werden vielleicht sagen, das sei nichts Neues, und vielleicht ist es auch nichts Neues, aber wahr ist es.«

»Sie sind doch nicht ausdrücklich deshalb nach London gekommen, um uns das zu sagen, mein lieber Herr?« fragte Perker.

»Nein, das gerade nicht«, antwortete Wardle: »doch hängt es mit dem Hauptgrund meiner Reise zusammen. Wie steht es mit Arabella?«

»Sehr gut«, antwortete Herr Pickwick: »sie wird sich gewiß unendlich freuen, Sie zu sehen.«

»Das kleine schwarzäugige Hexlein. Ich hatte große Lust, sie selbst zu heiraten, und in dieser närrischen Zeit auch den Narren zu machen. Doch, ich bin auch so zufrieden; es freut mich sehr.«

»Wie haben Sie es erfahren?« fragte Herr Pickwick.

»Natürlich durch meine Mädchen«, antwortete Wardle. »Arabella schrieb vorgestern, sie habe sich heimlich und ohne Einwilligung des Schwiegervaters mit ihrem Manne verheiratet. Sie aber, Herr Pickwick, seien fortgereist, um die Einwilligung zu etwas einzuholen, was er nun einmal nicht mehr ändern könne. Ich hielt dies für eine sehr passende Gelegenheit, ein paar ernste Worte an meine Mädchen zu richten, und sagte ihnen, was es für eine schreckliche Sache sei, wenn Kinder ohne Erlaubnis ihrer Eltern heiraten und so weiter; aber wahrhaftig, ich konnte nicht den geringsten Eindruck auf sie hervorbringen. Sie fanden nichts Schreckliches darin, als daß die Hochzeit ohne Brautjungfern vor sich gegangen sei, und es war nicht anders, als wenn ich vor meinem Joe eine Predigt gehalten hätte.«

Hier hielt der alte Herr inne, um zu lachen, und als er sich nach Herzenslust ausgelacht, fuhr er also fort:

»Das ist aber noch lange nicht alles, sondern bloß die Hälfte von den Liebeshändeln und Komplotten, die gegenwärtig vor sich gehen. Wir sind in den letzten sechs Monaten auf Minen gewandelt, und nun sind sie endlich in die Luft geflogen.«

»Was meinen Sie damit?« rief Herr Pickwick erblassend: »hoffentlich doch keine zweite heimliche Heirat?«

»Nein, nein«, erwiderte der alte Wardle; »so schlimm steht es nicht aus.«

»Aber was ist’s denn?« fragte Herr Pickwick: »bin ich auch dabei interessiert?«

»Soll ich die Frage beantworten, Perker?« sagte Wardle.

»Wenn Sie sich nicht dadurch kompromittieren, mein lieber Herr.«

»Wohlan denn«, sagte Wardle: »Sie sind es allerdings.«

»Wieso?« fragte Herr Pickwick ängstlich. »Inwiefern?«

»Wahrhaftig«, erwiderte Wardle: Sie sind ein so temperamentvoller junger Bursche, daß ich mich beinahe fürchte, es Ihnen zu sagen. Aber wenn Perker sich zwischen uns setzen will, um Unheil zu verhüten, so will ich es wagen.«

Nachdem der alte Herr sofort die Tür geschlossen und sich mit einer neuen Prise aus Perkers Dose gestärkt hatte, fuhr er folgendermaßen in seiner wichtigen Erklärung fort.

»Die Sache ist die. Meine Tochter Bella – Sie wissen ja – Bella, die den jungen Trundle geheiratet hat?«

»Ja, ja, das wissen wir«, sagte Herr Pickwick ungeduldig.

»Machen Sie mir nur nicht gleich im Anfang Angst. Also meine Tochter Bella setzte sich, nachdem Emilie, die mir Arabellas Brief vorgelesen, mit Kopfschmerzen zu Bett gegangen war, vorgestern abend an meine Seite und fing an, von dieser Heiratsgeschichte zu sprechen. ›Nun, lieber Papa‹, sagte sie, ›was hältst du von der Sache?‹ – ›Ei, liebes Kind‹, antwortete ich, ›ich denke, es kann noch ganz gut gehen: ich hoffe das beste.‹ Ich antwortete so, weil ich gerade vor dem Feuer saß, etwas gedankenvoll meinen Grog trank und wußte, daß sie weitersprechen würde, wenn ich nur dann und wann ein unbestimmtes Wörtchen dazwischen würfe. Meine Mädchen sind beide die getreuen Abbilder ihrer seligen Mutter, und jetzt, da ich alt werde, sitze ich gern bei ihnen: denn ihre Stimmen und ihre Blicke führen mich in die glücklichste Periode meines Lebens zurück und machen mich für den Augenblick wieder so jung, wie ich damals war, obgleich mein Herz nicht wieder so leicht wird.«

›Es ist eine Neigungsheirat‹, sagte Bella nach kurzem Schweigen. – ›Ja, liebes Kind‹, erwiderte ich; ›allein solche Ehen sind nicht immer die glücklichsten.‹«

»Das bestreite ich Ihnen«, fiel Herr Pickwick mit vieler Wärme ein.

»Ganz gut«, antwortete Wardle: »bestreiten Sie, was Sie wollen, wenn die Reihe zu sprechen an Ihnen ist: aber unterbrechen Sie mich nicht.«

»Bitte um Verzeihung«, sagte Herr Pickwick.

»Schon verziehen«, erwiderte Wardle. ›Es tut mir leid, dich gegen Neigungsheiraten sprechen zu hören, Papa‹, sagte Bella, sich ein wenig verfärbend. – ›Ich hatte unrecht, ich hätte nicht so sagen sollen, liebes Kind‹, antwortete ich, indem ich sie so freundlich auf die Wange klopfte, wie ich rauhhaariger alter Bursche nur klopfen kann, ›denn deine Mutter hat auch aus Neigung geheiratet, und du ebenfalls.‹ – ›Das meinte ich eigentlich nicht, Papa‹, sagte Bella. ›Die Sache ist, ich wollte mit dir über Emilie sprechen.‹«

Herr Pickwick erschrak.

»Nun, was ist’s?« fragte Wardle, in seiner Erzählung innehaltend.

»Nichts«, erwiderte Herr Pickwick: »bitte, fahren Sie fort.«

»Ich habe nie eine Geschichte weitläufig ausspinnen können«, sagte Wardle schnell, »früher oder später muß die Sache doch heraus, und wenn es auf einmal kommt, so erspart man viel Zeit. Also kurz und gut: Bella bot endlich all ihren Mut auf, um mir zu sagen, Emilie sei höchst unglücklich. Sie und Ihr junger Freund Snodgraß hätten seit letzten Weihnachten in dauerndem Briefwechsel miteinander gestanden, und sie habe sehr pflichtgetreu beschlossen, in lobenswerter Nachahmung ihrer alten Freundin und Schulkameradin davonzulaufen. Inzwischen habe sie einige Gewissensbisse empfunden, weil ich von jeher gegen beide so gütig gewesen sei. Nun sei es aber in der ersten Instanz für besser erachtet worden, mir die Ehre zu erweisen und mich zu fragen, ob ich nichts dagegen einzuwenden habe, daß sie einander auf die gewöhnliche alltägliche Art heiraten. Wenn es Ihnen also möglich ist, Herr Pickwick, Ihre Augen wieder auf die gewöhnliche Größe zu reduzieren und mir hierin einen guten Rat erteilen, so werde ich mich Ihnen sehr verpflichtet erachten.«

Die wunderliche Art, wie der gute alte Herr den letzten Satz sprach, war nicht ganz ohne Veranlassung, denn Herrn Pickwicks Gesicht hatte einen Ausdruck von Verwunderung und Verlegenheit angenommen, der wirklich sehr lustig mit anzusehen war.

»Snodgraß? – seit letzten Weihnachten?« waren die ersten abgebrochenen Worte, die über die Lippen des verdutzten Gentlemans kamen.

»Allerdings, seit letzten Weihnachten«, erwiderte Wardle. »Die Sache ist deutlich genug, und wir müssen sehr schlechte Brillen getragen haben, daß wir ihr nicht schon früher auf den Grund gekommen sind.«

»Ich begreife es wahrhaftig nicht«, sagte Herr Pickwick nachsinnend; »ich kann es rein nicht begreifen.«

»Die Sache ist nicht so unbegreiflich«, erwiderte der joviale Alte. »Wären Sie jünger gewesen, so würden Sie längst in das Geheimnis eingeweiht worden sein; und außerdem«, fügte Herr Wardle nach augenblicklichem Zögern hinzu, »muß ich gestehen, daß ich seit den letzten vier oder fünf Monaten Emilie einigermaßen gedrängt habe, die Bewerbungen eines jungen Mannes in unserer Nachbarschaft anzunehmen (natürlich nur, wenn sie selbst Liebe empfinden könnte; denn ich möchte den Neigungen einer Tochter nie Gewalt antun). Ich zweifle nicht, daß sie nach Mädchenart, um ihren eigenen Wert zu erhöhen und das Liebesfeuer des Herrn Snodgraß noch mehr anzuschüren, ihrem Geliebten die Sachen in den glühendsten Farben vorgestellt hat, und daß sie auf diesem Wege zu dem Schluß gelangt sind, sie seien schrecklich verfolgte unglückliche Leute, denen gar nichts mehr übrigbleibe, als sich heimlich zu heiraten oder Gas zu schlucken. Jetzt fragt es sich also, was zu tun ist.«

»Was haben Sie denn getan?« fragte Herr Pickwick.

»Ich?«

»Ja, ich meine, was Sie getan haben, als Ihre verheiratete Tochter Ihnen diese Mitteilung machte.«

»O, ich habe natürlich einen dummen Streich gemacht.«

»Das glaube ich«, fiel Perker ein, der dieses Zwiegespräch mit wiederholtem Zupfen an seiner Uhrkette, mit grimmigem Reiben an seiner Nase und andern Symptomen der Ungeduld begleitet hatte. – »Das ist ganz natürlich: aber erklären Sie sich näher.«

»Ich geriet in gewaltigen Zorn, so daß meine Mutter vor lauter Angst einen Anfall bekam.«

»Das war sehr gescheit«, bemerkte Perker: »und was weiter, mein lieber Herr?«

»Ich brummte und tobte den ganzen folgenden Tag und machte einen gewaltigen Lärm ins Haus«, fuhr der Alte fort. »Endlich wurde ich es müde, mich selbst zu ärgern und alle andern Leute in Jammer zu bringen; ich mietete daher in Muggleton einen Wagen, spannte meine eigenen Pferde davor und fuhr unter dem Vorwand, Emilie sollte Arabella besuchen, in die Stadt.«

»Miß Wardle ist also auch hier?« fragte Herr Pickwick.

»Freilich«, erwiderte Wardle, »und zwar befindet sie sich augenblicklich in Obornes Hotel in den Adelphis, wofern nicht etwa Ihr unternehmender Freund heute morgen mit ihr davongelaufen ist, seit ich hier bin.«

»Sie sind also wieder versöhnt?« sagte Perker.

»Ganz und gar nicht«, antwortete Wardle. »Sie hat die ganze Zeit über Gesichter geschnitten und geweint, ausgenommen gestern abend zwischen dem Tee und Abendessen, wo sie recht auffallend einen Brief schrieb. Ich tat währenddem, als merkte ich es nicht.«

»Sie wünschen also meinen Rat in dieser Sache zu vernehmen?« sagte Perker, von dem nachdenklichen Gesicht des Herrn Pickwick hinweg auf das strenge Antlitz Wardles sehend und hintereinander mehrere Prisen von seinem Lieblingsschnupfpulver nehmend.

»Ich dächte so«, sagte Herr Wardle, Herrn Pickwick anblickend.

»Ja gewiß«, erwiderte dieser Gentleman.

»Nun gut«, sagte Perker aufstehend und seinen Stuhl zurückschiebend: »mein Rat ist der, daß Sie beide miteinander fortgehen oder fortreiten, oder sich auf irgendeine Art aufmachen und die Sache überlegen, denn ich bin Ihrer müde. Haben Sie, bis wir uns das nächste Mal wiedersehen, einen Entschluß gefaßt, so will ich Ihnen sagen, was zu tun ist.«

»Wahrhaftig, ein köstlicher Rat«, versetzte Wardle, der kaum wußte, ob er lächeln oder sich beleidigt fühlen solle.

»Ach was, mein lieber Herr«, erwiderte Perker: »ich kenne Sie beide besser, als Sie sich selbst kennen. Sie haben in allen Beziehungen und Richtungen bereits einen Entschluß gefaßt.«

So sprechend, stieß der kleine Herr seine Schnupftabaksdose zuerst Herrn Pickwick auf die Brust und dann Herrn Wardle auf die Weste, worauf alle drei lachten, besonders aber die zwei letztgenannten Herren, die einander ohne besonderen Grund aufs neue die Hände schüttelten.

»Sie speisen doch mit mir zu Mittag?« sagte Wardle zu Perker, als er sie hinausbegleitete.

»Kann’s nicht versprechen, mein lieber Herr, kanns nicht versprechen«, erwiderte Perker. »Aber ich werde mich jedenfalls auf den Abend ein wenig einstellen.«

»Ich werde Sie um fünf Uhr erwarten«, sagte Wardle. »Heda, Joe!«

Und nachdem Joe endlich aufgerüttelt war, fuhren die beiden Freunde im Wagen des Herrn Wardle davon, der aus purer Menschenliebe hinten einen Rücksitz für den fetten Jungen hatte anbringen lassen; denn wäre dort ein bloßer Schemel gewesen, so würde er in seinem ersten Schläfchen herabgekollert und ums Leben gekommen sein.

Sie fuhren in den Georg und Geier, und erfuhren dort, daß Arabella mit ihrem Mädchen gleich nach Empfang eines kurzen Briefchens von Emilie, worin sie ihre Ankunft in der Stadt meldete, nach einer Mietkutsche geschickt habe und schleunigst in die Adelphi gefahren sei. Da Wardle Geschäfte in der City hatte, so schickte er den Wagen nebst dem fetten Burschen in sein Hotel und ließ durch ihn sagen, daß er und Herr Pickwick um fünf Uhr miteinander zum Diner kommen würden.

Mit dieser Botschaft kehrte der fette Bursche zurück, ebenso friedlich in seinem Rücksitz über den Steinen schlafend, als wäre es ein Flaumbett mit Sprungfedern gewesen. Infolge eines außerordentlichen Wunders erwachte er von selbst, als die Kutsche anhielt, schüttelte sich gewaltig, um seine Geisteskräfte anzuregen und ging die Treppe hinauf, um seinen Auftrag auszurichten.

Sei es nun, daß die Stöße des Wagens auf dem holperigen Pflaster die Geisteskräfte des fetten Jungen verwirrt, statt in die gehörige Ordnung gebracht, oder eine solche Menge neuer Ideen in ihm erweckt hatten, daß er die gewöhnlichen Formen und Zeremonien darüber vergaß, oder (was auch möglich ist) daß sie sein Einschlafen die Treppen hinauf nicht zu verhindern vermocht hatten, soviel ist ausgemachte Tatsache, daß er, ohne vorher anzuklopfen, ins Empfangszimmer hineinging und daselbst einen Gentleman erblickte, der seinen Arm um den Leib seiner jungen Gebieterin geschlungen hielt und sehr verliebt neben ihr auf einem Sofa saß, während Arabella und ihr hübsches Zöfchen sich stellten, als ob sie am andern Ende des Zimmers unaufhörlich zum Fenster hinaussähen. Beim Anblick dieses Phänomens stieß der fette Bursche einen Ausruf der Verwunderung aus, die Damen schrien und der Herr fluchte – alles zu gleicher Zeit.

»Elender Kerl, was machst du hier?« rief der Herr, von dem wir wohl nicht zu sagen brauchen, daß es Herr Snodgraß war.

Der fette Junge geriet in ziemliche Angst und sagte kurz:

»Fräulein!«

»Was willst du von mir?« fragte Emilie, ihr Gesicht abwendend, »du dummer Geselle!«

»Der Herr und Herr Pickwick kommen um fünf Uhr zum Mittagessen«, erwiderte der fette Bursche.

»Mach, daß du hinauskommst!« rief Herr Snodgraß mit wildem Blick dem verdutzten Burschen zu.

»Nein, nein, nein!« fügte Emilie hastig hinzu. »Rate mir doch, liebe Bella.«

Nun drängten sich Emilie und Herr Snodgraß nebst Arabella und Marie in eine Ecke und flüsterten mehrere Minuten lang sehr eifrig miteinander, während der fette Junge einschlummerte.

»Joe«, sagte Arabella endlich, mit dem bezauberndsten Lächeln um sich blickend: »wie geht es dir, Joe?«

»Joe«, sagte Emilie, »du bist ein ganz vortrefflicher Junge – ich werde dich nicht vergessen, Joe.«

»Joe«, sagte Herr Snodgraß, auf den erstaunten Burschen zuschreitend und seine Hand ergreifend: »ich habe dich vorhin gar nicht erkannt. Da hast du fünf Schillinge, Joe.«

»Und von mir auch fünf«, sagte Arabella: »du weißt ja, weil wir alte Bekannte sind.«

Und das einnehmendste Lächeln wurde an den beleibten Eindringling verschwendet.

Da die Fassungskraft des fetten Jungen etwas langsam war, so machte er bei diesen unerwarteten Gunstbezeugungen eine höchst verwunderte Miene und stierte auf eine wirklich beunruhigende Weise umher. Endlich begann sein breites Gesicht Symptome eines Grinsens von verhältnismäßig breiten Dimensionen zu zeigen; er versenkte in jede seiner Taschen eine halbe Krone, steckte eine Hand bis zum Gelenk hinein und brach dann in ein heiseres Lachen aus, das erste und einzige Mal in seinem Leben.

»Ich sehe schon, er versteht uns«, sagte Arabella.

»Er muß sogleich etwas zu essen bekommen«, bemerkte Emilie.

Der fette Junge lachte beinahe noch einmal, als er diese Erklärung hörte. Marie trippelte nach einigem weiteren Geflüster von der Gruppe hinweg und sagte:

»Ich will mit Ihnen zu Mittag speisen, Sir, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Meinetwegen«, sagte der fette Bursche vergnügt. »Es ist eine ganz hübsche Fleischpastete da.«

Mit diesen Worten ging der fette Junge wieder die Treppe hinab, während seine hübsche Begleiterin alle Kellner fesselte und alle Stubenmädchen ärgerte, als sie ihm ins Speisezimmer folgte.

Da stand die Fleischpastete, von der der Bursche mit so vielem Gefühl gesprochen hatte: ferner war ein Beefsteak da, ein Kartoffelgericht und ein Krug Porter.

»Setzen Sie sich«, sagte der fette Junge. »Ach du lieber Himmel, wie prächtig! Ich bin so hungrig.«

Nachdem er so in einer Art Verzückung fünf- oder sechsmal den lieben Himmel angeredet hatte, nahm der Bursche oben an dem Tische Platz, und Marie setzte sich unten hin.

»Wollen Sie auch etwas davon?« fragte der fette Junge, Messer und Gabel bis ans Heft in die Pastete versenkend.

»Ein bißchen, wenn ich bitten darf«, erwiderte Marie.

Der fette Bursche verhalf Marie zu einer kleinen, sich selbst aber zu einer großen Portion, und war eben im Begriff, das Essen zu beginnen, als er auf einmal Messer und Gabel niederlegte, sich in seinem Stuhl vorwärtsbeugte, seine Hände samt dem Messer und der Gabel auf seine Knie fallen ließ und sehr langsam sagte:

»Aber wie hübsch Sie aussehen!«

Das wurde in bewunderndem Tone gesprochen und deshalb nicht ärgerlich aufgenommen: doch lag in den Augen des jungen Gentlemans immer noch soviel Kannibalisches, daß das Kompliment zweifelhaft erscheinen mußte.

»Mein Gott, Joe!« sagte Marie, indem sie sich stellte, als ob sie errötete: »was fällt Ihnen ein?«

Der fette Junge, der allmählich seine frühere Haltung wieder einnahm, antwortete nur mit einem tiefen Seufzer, blieb einige Augenblicke in Gedanken versunken und tat endlich einen langen Zug aus dem Porterkruge. Nachdem er diese Tat vollbracht, seufzte er wieder und machte sich dann mit vielem Eifer weiter über die Pastete her.

»Was für eine artige junge Dame doch Emilie ist!« sagte Marie nach langem Schweigen.

Der fette Junge war inzwischen mit der Pastete fertig geworden. Er heftete seine Augen auf Marie und erwiderte:

»Ich kenne noch eine artigere.«

»Wirklich?« sagte Marie.

»Ja, in der Tat«, erwiderte der fette Junge mit ungewohnter Lebhaftigkeit.

»Wie heißt sie denn?« fragte Marie.

»Wie heißen Sie?«

»Marie.«

»So heißt sie auch«, sagte der fette Junge. »Sie sind es selbst.«

Der Bursche grinste, um seinem Kompliment mehr Nachdruck zu geben, und verdrehte seine Augen zu einem halb schielenden, halb scharfen Blick, was, wie man Grund zu vermuten hat, ein Liebäugeln bedeuten sollte.

»So etwas müssen Sie nicht zu mir sprechen«, sagte Marie: »es ist doch nicht Ihr Ernst.«

»So? meinen Sie?« erwiderte der fette Bursche; »ich sage Ihnen––––«

»Nun?«

»Kommen Sie öfters hierher?«

»Nein«, antwortete Marie, ihren Kopf schüttelnd: »ich gehe noch heute abend wieder fort. – Aber warum?«

»O!« sagte der fette Bursche recht bewegt, »was für eine angenehme Gesellschaft hätten wir beim Essen aneinander gehabt, wenn Sie hiergeblieben wären!«

»Vielleicht komme ich hier und da, um nach Ihnen zu sehen«, sagte Marie, mit erkünstelter Sprödigkeit ihre Serviette zusammenlegend. »Aber Sie müssen mir einen Gefallen tun.«

Der fette Junge blickte von der Pastetenschüssel auf die mit dem Beefsteak, als ob er glaubte, eine Gefälligkeit müsse auf irgendeine Weise mit einem eßbaren Gegenstande im Zusammenhange stehen: dann zog er eine seiner halben Kronen heraus und schaute sie mit Behagen an.

»Verstehen Sie mich nicht?« sagte Marie, ihm schalkhaft in das fette Gesicht schauend.

Er blickte abermals seine halbe Krone an und sagte mit schwacher Stimme:

»Nein.«

»Die Damen bitten Sie, dem alten Herrn nichts von dem jungen Herrn zu sagen, der oben war, und ich bitte Sie auch darum.«

»Ist das alles?« sagte der fette Junge, dem es augenscheinlich viel leichter ums Herz war, als er seine halbe Krone wieder einstecken konnte. »Ich will gewiß nichts sagen.«

»Sie sehen«, fuhr Marie fort, »Herr Snodgraß ist sehr verliebt in Fräulein Emilie und Fräulein Emilie in ihn, und wenn Sie etwas davon sagten, so würde der alte Herr sie viele Meilen weit in eine Gegend fortschaffen, wo sie niemand zu sehen bekäme.«

»Nein, nein, ich sage gewiß nichts«, wiederholte der fette Junge entschlossen.

»So ist’s recht«, sagte Marie. »Jetzt muß ich aber hinaufgehen und mein Fräulein zum Mittagessen anziehen helfen.«

»O, bleiben Sie doch noch ein wenig!« drängte der fette Junge.

»Ich muß«, erwiderte Marie. »Leben Sie wohl. Auf Wiedersehen!«

Der fette Junge streckte mit Elefantenanmut seine Arme aus, um einen Kuß zu rauben: da es aber keine große Flinkigkeit erforderte, ihm auszuweichen, so war seine schöne Herzensbezwingerin verschwunden, ehe er die Arme wieder geschlossen hatte, worauf der gleichmütige Bursche etwa ein Pfund Beefsteak mit sentimentalem Gesicht verzehrte und dann fest einschlief.

Man hatte sich ebensoviel zu sagen, und es waren so viele Pläne zur Flucht und heimlichen Verheiratung zu besprechen, im Fall der alte Wardle bei seiner Grausamkeit verharren sollte, daß Herr Snodgraß erst eine halbe Stunde vor dem Mittagessen zum letzten Male Abschied nahm. Die Damen eilten in Emiliens Schlafzimmer, um ihre Toilette zu machen, und der Liebhaber nahm seinen Hut und entfernte sich aus dem Zimmer. Kaum war er vor der Tür draußen, als er die laute Stimme des Herrn Wardle vernahm und vom Geländer herab denselben in Begleitung einiger andern Herren geradezu die Treppe heraufkommen sah. Da Herr Snodgraß im Hause unbekannt war, so eilte er in seiner Verwirrung nach dem eben verlassenen Zimmer zurück, ging von da in ein inneres Zimmer (Herrn Wardles Schlafgemach) und schloß sachte die Tür in dem Augenblick zu, wo die Herren, die er gesehen, ins Wohnzimmer traten. Es waren dies Herr Wardle, Herr Pickwick, Herr Nathaniel Winkle und Herr Benjamin Allen; er erkannte sie ohne Mühe alle an ihren Stimmen.

»Ich darf von Glück sagen, daß ich Geistesgegenwart genug besaß, ihnen auszuweichen«, dachte Herr Snodgraß mit einem Lächeln, indem er sich auf den Zehen einer andern Tür neben dem Bette näherte: »diese da führt auf denselben Gang hinaus, und ich kann mich jetzt in Ruhe und Frieden davonschleichen.«

Diesem ruhigen und friedlichen Davonschleichen stellte sich aber nur ein einziges Hindernis in den Weg, nämlich die Tür war verschlossen und der Schlüssel abgezogen.

»Geben Sie uns heute von Ihren besten Weinen«, sagte der alte Wardle, die Hände reibend.

»Sie sollen ganz vortreffliche bekommen, Sir«, erwiderte der Kellner.

»Lassen Sie die Damen wissen, daß wir hier sind.«

»Sehr wohl, Sir.«

Sehnlich und feierlich wünschte Herr Snodgraß, die Damen möchten wissen, daß er hier sei. Er wagte es, ein einziges Mal durch das Schlüsselloch »Kellner!« zu flüstern: da sich ihm aber die Wahrscheinlichkeit aufdrang, daß ein falscher Kellner ihm zu Hilfe kommen könnte, und ebenso das Bewußtsein der starken Ähnlichkeit zwischen seiner eigenen Lage und derjenigen, in der ein anderer Gentleman erst vor kurzem in einem benachbarten Hotel angetroffen wurde (über dessen Mißgeschick die Morgenblätter unter der Rubrik »Polizeisachen« berichtet hatten), so ließ er sich, am ganzen Leibe zitternd, auf einen Koffer nieder.

»Wir wollen nicht auf Perker warten«, sagte Wardle, auf seine Uhr sehend: »er ist immer pünktlich. Wenn er kommen will, so kommt er zur Zeit, und hat er nichts mit im Sinne, so hilft auch das Warten nichts. Ah, da ist ja Arabella!«

»Schwester!« rief Herr Benjamin Allen, sie höchst romantisch in seine Arme schließend.

»Aber, lieber Ben, wie du nach Tabak riechst!« sagte Arabella, durch dieses Zeichen von Zärtlichkeit beinahe überwältigt,

»Wirklich?« sagte Herr Benjamin Allen. »Rieche ich wirklich nach Tabak, Bella? Nun, es wäre möglich.«

Es war allerdings möglich, denn er hatte soeben noch mit zwölf Studierenden der Medizin in einem kleinen Hinterstübchen bei einem großen Feuer eine lustige kleine Rauchpartie gemacht.

»Ich bin ganz entzückt, dich zu sehen«, sagte Herr Ben Allen. »Grüß dich Gott, Bella.«

»Ach!« sagte Arabella, sich vorwärtsbeugend, um ihren Bruder zu küssen; »halte mich nicht so fest, lieber Ben, du bringst ja meine Kleider ganz in Unordnung.«

Nach dieser Versöhnungsszene ließ sich Herr Ben Allen von seinen Gefühlen, den Zigarren und dem Porter überwältigen; er blickte mit feuchter Brille die Zuschauer ringsherum an.

»Und mir hat man gar nichts zu sagen?« rief Wardle mit offenen Armen.

»O, sehr viel«, flüsterte Arabella, als sie des alten Herrn herzliche Liebkosungen und Glückwünsche empfing. »Sie sind ein hartherziges, gefühlloses, grausames Ungeheuer!«

»Und Sie eine kleine Rebellin«, erwiderte Wardle in demselben Ton: »ich fürchte sehr, ich werde mich genötigt sehen, Ihnen das Haus zu verbieten. Leute wie Sie, die jedermann zum Trotze heiraten, sollte man nicht auf die Gesellschaft loslassen. Aber kommen Sie«, fügte der alte Herr laute hinzu: »es ist aufgetragen: Sie müssen neben mir sitzen. Joe! Was der Teufel, der Bursche ist wach!«

Zur großen Verwunderung seines Herrn war der fette Junge allerdings in einem Zustand merkwürdiger Wachsamkeit: seine Augen standen weit offen und sahen aus, als ob sie es so bleiben sollten. In seinem ganzen Wesen lag eine rein unerklärliche Munterkeit: so oft seine Blicke denen Emiliens oder Arabellas begegneten, schmunzelte und grinste er. Einmal hätte Wardle sogar darauf schwören können, er habe ihn blinzeln gesehen.

Diese Veränderung im Benehmen des fetten Jungen kam von dem vergrößerten Gefühl seiner Wichtigkeit und von der Würde her, die er sich dadurch erworben, daß die jungen Damen ihn mit ihrem Vertrauen beehrt hatten. Sein fortwährendes Schmunzeln, Grinsen und Blinzeln war daher bloß eine herablassende Versicherung, daß sie auf seine Treue bauen könnten. Da aber diese Zeichen mehr geeignet waren, Verdacht zu erwecken als zu beschwichtigen und überdies Verlegenheit herbeiführen konnten, so erwiderte sie Arabella gelegentlich mit einem Stirnrunzeln oder Kopfschütteln, was der fette Junge als Winke betrachtete, daß er auf seiner Hut sein solle. Darum deutete er mit verdoppeltem Eifer durch Schmunzeln, Grinsen und Blinzeln an, daß er sie vollkommen verstehe.

»Joe«, sagte Herr Wardle nach einer erfolglosen Durchsuchung aller seiner Taschen, »sieh einmal, ob meine Dose nicht auf dem Sofa liegt?«

»Nein, Sir«, erwiderte der fette Junge.

»Ach! ich erinnere mich: ich habe sie heute früh auf meinem Waschtische liegenlassen«, sagte Wardle. »Geh ins Nebenzimmer und hole sie.«

Der fette Junge ging ins Nebenzimmer und kam etwa nach einer Minute mit der Dose und dem bleichsten Gesicht zurück, das je ein fetter Junge zur Schau gestellt hat.

»Was ist denn los mit dem Burschen!« rief Wardle.

»Gar nichts«,rief Joe zitternd.

»Hast du vielleicht Geister gesehen?« fragte der alte Herr.

»Oder Geist genossen?« fügte Ben Allen hinzu.

»Sie werden wohl recht haben«, flüsterte Wardle über den Tisch hinüber. »Gewiß ist er betrunken.«

Ben Allen erwiderte, das glaube er auch; und da dieser Gentleman schon sehr viele Krankheitsfälle dieser Gattung gesehen hatte, so wurde Wardle in einer Meinung bestärkt, die er bereits seit einer halben Stunde gehegt hatte; und er kam zu dem Schluß, der fette Junge sei sehr betrunken.

»Behalten Sie ihn nur noch einige Minuten im Auge«, murmelte Wardle. »Wir werden bald finden, ob er es ist oder nicht.«

Der unglückliche Jüngling hatte nur ein Dutzend Worte mit Herrn Snodgraß gewechselt, der ihn beschworen, durch irgend jemand seine Erlösung zu bewerkstelligen und ihn dann mit der Dose hinausgestoßen hatte, damit seine verlängerte Abwesenheit nicht zur Entdeckung führen möchte. Er besann sich ein wenig mit höchst verstörtem Ausdruck im Gesichte und verließ dann das Zimmer, um Marie aufzusuchen.

Zu allem Unglück aber war Marie, nachdem sie ihrer Gebieterin beim Ankleiden Dienste geleistet, ausgegangen, und der fette Junge kam noch verstörter als vorher zurück.

Wardle und Herr Ben Allen wechselten Blicke.

»Joe«, sagt Wardle.

»Hier, Sir.«

»Warum bist du soeben hinausgegangen?«

Der fette Junge stierte hoffnungslos alle am Tische Sitzenden der Reihe nach an und stammelte endlich, er wisse es selbst nicht.

»Ah, so«, sagte Wardle; »du weißt es selbst nicht? Gib diesen Käse Herrn Pickwick.«

Herr Pickwick war in der rosenfarbigsten Laune von der Welt; er war das ganze Essen über sehr vergnügt gewesen und unterhielt sich in diesem Augenblick sehr lebhaft mit Emilie und Herrn Winkle. Im Eifer des Gesprächs hatte er den Kopf höflich vorgebeugt, agierte ein wenig mit seiner linken Hand, um seinen Bemerkungen Kraft zu geben, und glühte ganz von stiller Wonne. Er nahm ein Stückchen Käse vom Teller und war eben im Begriff, die Unterhaltung zu erneuern, als der fette Junge, der sich so gestellt hatte, daß er seinen Kopf in die gleiche Höhe mit dem des Herrn Pickwick brachte, mit dem Daumen über seine Schulter deutete und das sonderbarste, groteskeste Gesicht machte, das man je außerhalb einer Pantomime gesehn hat.

»Mein Gott!« sagte Herr Pickwick erschreckend, »was für ein – ein wie?«

Er hielt inne, denn der fette Junge hatte sich wieder emporgerichtet und schlief entweder wirklich oder stellte sich wenigstens so.

»Was gibt’s denn?« fragte Wardle.

»Ihr Diener ist doch ein ganz sonderbarer Kerl«, meinte Herr Pickwick mit einem unruhigen Blick auf den Burschen. »Man sagt es zwar nicht gern, aber auf mein Wort, ich fürchte, daß er zuweilen einen kleinen Sparren hat.«

»O, Herr Pickwick, bitte, sprechen Sie nicht so«, riefen Emilie und Arabella, beide zugleich.

»Ich kann es natürlich nicht mit Gewißheit sagen«, fuhr Herr Pickwick bei dieser Stille und allgemeiner Verstimmung fort; »allein sein Benehmen gegen mich in diesem Augenblick war wirklich sehr beunruhigend. O weh!« rief er mit einem kurzen Schrei, plötzlich aufspringend. »Ich bitte um Verzeihung, meine Damen; aber er hat mich in diesem Augenblick mit einem spitzen Instrument ins Bein gestochen. Er ist wahrhaftig nicht recht bei Trost.«

»Nein, betrunken ist er«, brüllte der alte Wardle ingrimmig. »Klingeln Sie, rufen Sie die Kellner; er ist betrunken.«

»Nein, ich bin es gewiß nicht«, jammerte der fette Junge, auf die Knie fallend, als sein Herr ihn am Kragen faßte. »Ich bin gewiß nicht betrunken.«

»Dann bist du toll, und das ist noch schlimmer. Rufen Sie die Kellner«, sagte der alte Herr.

»Ich bin nicht toll, ich bin ganz vernünftig«, erwiderte der fette Junge und fing an zu schreien.

»Was zum Teufel stichst du denn Herrn Pickwick scharfe Instrumente ins Bein?« fragte Wardle zornig.

»Er wollte mich nicht ansehen, und ich hätte ihm doch gern etwas gesagt«, erwiderte der Bursche.

»Was hättest du ihm gern gesagt?« fragten ein halbes Dutzend Stimmen zugleich.

Der fette Junge stöhnte, blickte nach der Tür des Schlafzimmers, stöhnte abermals und wischte sich mit den Knöcheln seiner Finger zwei Tränen aus den Augen.

»Was wolltest du sagen?« fragte Wardle, ihn rüttelnd.

»Halt!« sagte Herr Pickwick: »erlauben Sie. Was wolltest du mir mitteilen, armer Junge?«

»Ich wollte Ihnen etwas ins Ohr flüstern«, erwiderte der fette Junge.

»Du wolltest ihm wahrscheinlich sein Ohr abbeißen«, sagte Wardle. »Gehen Sie nicht so nahe zu ihm, er ist toll; klingeln Sie, der Kellner soll ihn hinabbringen.«

In dem Augenblick, da Herr Winkle die Klingelschnur in die Hand nahm, wurde er durch einen allgemeinen Ausdruck des Erstaunens zurückgehalten: denn plötzlich trat mit einem vor Beschämung glühenden Gesichte der gefangene Liebhaber aus dem Schlafzimmer und verbeugte sich vor der ganzen Gesellschaft.

»Donnerwetter!« rief Wardle, den Kragen des fetten Jungen loslassend und zurücktaumelnd. »Was ist das?«

»Ich befand mich seit Ihrer Rückkehr im anstoßenden Zimmer versteckt, Sir«, erklärte Herr Snodgraß.

»Emilie! Mädchen!« sagte Wardle in vorwurfsvollem Tone: »ich verabscheue Unwürdigkeit und Betrug: das ist im höchsten Grade unzart und kann schlechterdings nicht entschuldigt werden. Ich habe es wahrhaftig nicht um dich verdient, Emilie.«

»Teuerster Papa!« rief Emilie, »Arabella weiß es – jedermann hier weiß es – Joe weiß es, daß ich dabei die Hand nicht im Spiele gehabt habe. August, erklären Sie uns um Himmels willen, wie es zuging.«

Herr Snodgraß, der nur auf geneigtes Gehör gewartet hatte, erzählte jetzt sogleich, wie er in diese peinliche Lage geraten sei; wie die Besorgnis, häusliche Zwistigkeiten zu veranlassen, ihn allein bewogen habe, Herrn Wardle bei seiner Ankunft auszuweichen, und wie er durch eine andere Tür entwischen zu können geglaubt, diese aber verschlossen gefunden habe und dadurch genötigt geworden sei, gegen seinen Willen zu bleiben. Seine Lage sei peinlich gewesen, indessen bedaure er sie jetzt keineswegs, da sie ihm Gelegenheit verschaffe, vor ihren gemeinschaftlichen Freunden das Bekenntnis abzulegen, daß er Herrn Wardles Tochter aus tiefstem Herzen und aufrichtig liebe, daß er stolz darauf sei, sagen zu können, daß seine Empfindungen erwidert würden, und daß er, wenn auch Tausende von Meilen zwischen ihnen lägen oder Ozeane ihre Wasser zwischen ihnen wälzten, doch keinen Augenblick die seligen Tage vergessen könnte, da er zum erstenmal – usw. usw.

Nach dieser Erklärung verbeugte sich Herr Snodgraß abermals, schaute in seinen Hut und schritt auf die Tür zu.

»Halt!« rief Wardle. »Bei allem, was –«

»Entzündbar ist«, fiel Herr Pickwick freundlich ein, denn er glaubte, es werde etwas Schlimmeres kommen.

»Nun gut – bei allem, was entzündbar ist«, sagte Wardle, den Ausdruck aufgreifend. »Warum haben Sie mir das alles nicht schon früher gesagt?«

»Oder sich mir anvertraut?« fügte Herr Pickwick hinzu.

»Du lieber Gott«, sagte Arabella, die Verteidigung übernehmend, »was nützt all das Fragen, da man doch weiß, daß Sie Ihr habgieriges altes Herz an einen reicheren Schwiegersohn gehängt haben und überdies so wild und bärbeißig sind, daß jedermann vor Ihnen Angst hat, nur ich nicht. Geben Sie ihm die Hand und lassen Sir ihm um Gottes Barmherzigkeit willen etwas zu essen kommen, denn er sieht halb verhungert aus; und dann bestellen Sie auch einmal Ihre Weine, denn Sie werden ja doch nicht eher erträglich, als bis Sie zum mindesten zwei Flaschen getrunken haben.«

Der würdige alte Herr zupfte Arabella am Ohr, küßte sie ohne die mindeste Bedenklichkeit, küßte auch seine Tochter mit vieler Zärtlichkeit und schüttelte Herrn Snodgraß herzlich die Hand.

»In einem Punkt hat sie jedenfalls recht«, sagte der alte Herr vergnügt. »Läute, daß der Wein gebracht wird.«

Der Wein kam, und in demselben Augenblick ging Perker die Treppe hinauf. Herr Snodgraß bekam an einem Seitentisch etwas zu essen, und als er damit fertig war, rückte er ohne den mindesten Einspruch des alten Herrn seinen Stuhl unmittelbar neben Emilie.

Der Abend war herrlich. Der kleine Herr Perker zeigte sich wundervoll: er erzählte allerhand komische Geschichten und sang ein ernsthaftes Lied, das beinahe ebenso drollig klang wie seine Anekdoten. Arabella war höchst bezaubernd, Herr Wardle höchst jovial, Herr Pickwick höchst harmonisch, Herr Ben Allen höchst lärmend, die Liebenden höchst schweigsam, Herr Winkle höchst redselig, und alle miteinander höchst vergnügt.