Neununddreißigstes Kapitel.


Neununddreißigstes Kapitel.

Wie Herr Winkle aus der Bratpfanne heraus hübsch ordentlich ins Feuer selbst gerät.

Nachdem der unter einem bösen Stern geborene Gentleman, der die unglückliche Ursache des von uns bereits beschriebenen ungewöhnlichen Lärms und der Störung sämtlicher Bewohner von Royal Crescent gewesen war, eine Nacht voll Bangigkeit und Angst zugebracht hatte, verließ er das Dach, unter dem seine Freunde noch schlummerten, und entfloh, ohne zu wissen wohin. Die vortrefflichen, edlen Gesinnungen, die Herrn Winkle zu diesem Schritte antrieben, können nie zu hoch oder zu warm gepriesen werden, »Wenn« – überlegte Herr Winkle bei sich selbst – »wenn dieser Dowler sich untersteht (und ich zweifle keineswegs daran), seine Drohungen persönlicher Gewalttätigkeiten gegen mich in Ausführung zu bringen, so werde ich nicht umhin können, ihn herauszufordern.

Er hat eine Frau. Diese Frau liebt ihn über alles und kann ohne ihn nicht leben. Gütiger Gott! wenn ich ihn in der Blindheit meines Zornes tötete, was für Gefühle würden mich dann verfolgen!« Dieser peinliche Gedanke wirkte so mächtig auf das Gemüt des menschenfreundlichen jungen Mannes, daß seine Knie zusammenschlugen und aus seinem Gesichte beunruhigende Merkmale von tiefer innerer Bewegung sich bekundeten. Unter dem Einflusse solcher Betrachtungen ergriff er daher seinen Koffer, schlich sich leise die Treppen hinab, verschloß die verwünschte Haustür so geräuschlos wie möglich und machte sich davon. Er lenkte seine Schritte gegen das Royal-Hotel, traf dort eine Kutsche, die im Begriff war, nach Bristol zu fahren; und da ihm Bristol für seine Zwecke ein ebenso guter Ort dünkte wie jeder andere, so stieg er auf den Bock und erreichte den Ort seiner Bestimmung so schnell, wie man den zwei Pferden, die täglich zwei oder mehrere Male den ganzen Tag hin und her machen mußten, billigerweise zumuten konnte.

Er nahm sein Quartier im Gasthof Zum Busch, und entschlossen, alle briefliche Verbindung mit Herrn Pickwick solange auszusetzen, bis Herrn Dowlers Zorn nach menschlicher Berechnung einigermaßen verraucht wäre, ging er aus, um sich die Stadt zu besehen, an der ihm weiter nichts auffiel, als daß sie noch ein wenig schmutziger war als jeder andere Ort, den er bisher in Augenschein genommen. Nachdem er die Docks, die Schiffswerft und die Kathedrale besichtigt, erfragte er den Weg nach Klifton und schlug sofort die Richtung ein, die man ihm bezeichnet hatte. Wie indessen das Pflaster von Bristol nicht das breiteste oder reinlichste auf Erden ist, so sind auch die Straßen dieser Stadt eben nicht die geradesten, und da Herr Winkle durch ihre mannigfaltigen Wendungen und Drehungen sehr verwirrt wurde, so sah er sich nach einem anständigen Laden um, wo er sich aufs neue Rat holen und Erkundigungen einziehen könnte.

Seine Augen fielen auf ein neu angestrichenes Haus, das vor kurzem in ein Mittelding zwischen einem Laden und einem Privathaus verwandelt worden war. Eine über das fächerförmige Fenster der Haustür vorhängende rote Lampe würde es deutlich genug als den Wohnsitz eines Heilkünstlers bezeichnet haben, hätte nicht auch das Wort »Chirurgenstube« in goldenen Buchstaben auf dem Getäfel geprangt, über dessen Fenster in früheren Zeiten die Vorderstube gewesen war. Da Herr Winkle dies für einen geeigneten Ort hielt, um seine Nachforschungen anzustellen, so trat er in den kleinen Laden, wo die mit vergoldeten Lettern überschriebenen Schubfächer und Flaschen sich befanden, und als er niemand traf, klopfte er mit einer halben Krone auf den Ladentisch, um die Aufmerksamkeit der Leute zu erregen, die sich vielleicht im Hinterzimmer befinden möchten. Dies Hinterzimmer hielt er für das innerste und ganz besondere Heiligtum der Anstalt, weil das Wort »Chirurgenstube« hier aufs neue, und zwar zur Abwechslung diesmal mit weißen Lettern an die Tür gemalt war. Auf sein erstes Klopfen hörte er ein bis jetzt wohl vernehmbares Geräusch, das demjenigen ähnlich, wenn mit Rapieren gefochten wird, plötzlich auf, und beim zweiten trat ein gelehrt aussehender junger Herr mit einer grünen Brille auf der Nase und einem gewaltigen Buch in der Hand ruhig in den Laden, stellte sich hinter den Tisch und fragte nach dem Begehren seines Gastes.

»Ich bedaure, wenn ich Sie störe, Sir«, sagte Herr Winkle, »aber würden Sie nicht die Güte haben, mir zu sagen, wo –«

»Ha! ha! ha!« lachte der gelehrte junge Herr, das große Buch in die Luft werfend und mit erstaunlicher Gewandtheit in demselben Augenblicke wieder auffangend, wo es sämtliche Flaschen auf dem Tisch zu Atomen zu zertrümmern drohte. »Das nenne ich einmal einen Zufall.«

Das war es auch wirklich, denn Herr Winkle war über das auffallende Benehmen des Äskulapsohnes so über die Maßen erstaunt, daß er unwillkürlich gegen die Tür zurücktrat und äußerst unruhig über diesen sonderbaren Empfang aussah.

»Wie, – kennen Sie mich nicht?« fragte der Medikus.

Herr Winkle murmelte, er habe nicht das Vergnügen.

»Nun«, fuhr der Doktor fort, »dann habe ich noch Hoffnung: wenn mir das Glück nur ein bißchen will, kann ich die Hälfte der alten Weiber von Bristol zu Kunden bekommen. Packe dich, du verschimmelter alter Spitzbube, fort mit dir!«

Unter dieser Verwünschung, die dem großen Buche galt, schleuderte der Doktor das Werk mit bewundernswürdiger Fertigkeit nach dem entfernten Ende des Ladens, nahm seine grüne Brille ab und ließ das leibhaftige Grinsen des Robert Sawyer Esquire, früher in Guys-Hospital, mit einer Privatwohnung in Landstreet, erkennen.

»Sie haben mich also nicht sogleich erkannt?« fragte Herr Bob Sawyer, mit freundschaftlicher Wärme Herrn Winkle die Hand schüttelnd.

»Auf Ehre nicht«, antwortete Herr Winkle, den Druck erwidernd.

»Haben Sie denn meinen Namen nicht gesehen?« fuhr Bob Sawyer fort, die Aufmerksamkeit seines Freundes auf die äußere Türe lenkend, wo ebenfalls weiß angemalt die Worte standen: »Sawyer, früher Nockemorf.«

»Ich habe es nicht bemerkt«, erwiderte Herr Winkle.

»Bei Gott, wenn ich gewußt hätte, daß Sie es sind, so wäre ich sogleich herausgestürzt und hätte Sie in meine Arme geschlossen«, sagte Bob Sawyer: »aber so wahr ich lebe, ich meinte es sei der Steuereinnehmer.«

»Wirklich?« fragte Herr Winkle.

»Ja«, antwortete Bob Sawyer: »und ich wollte eben sagen, ich sei nicht zu Hause. Möchte übrigens wissen, was er mir mitzuteilen hätte, denn er kennt mich so wenig wie der Beleuchtungs- und Pflastersteuereinnehmer. Der Steuerbote für die Kirche indes scheint zu erraten, wer ich bin, und der Wassersteuerbote kennt mich auch; denn diesem habe ich gleich nach meiner Ankunft einen Zahn ausgezogen. Doch kommen Sie jetzt, treten Sie herein.«

So schwatzend trieb Herr Bob Saywer seinen Freund Winkle in das Hinterzimmer, allwo niemand Geringerer als Herr Benjamin Allen saß und zu seinem Zeitvertreib mit einem glühenden Schüreisen kleine runde Löcher in das Kamingesims bohrte.

»Wahrhaftig«, sagte Herr Winkle, »das ist ein Vergnügen, das ich nicht erwartet hätte. Sie haben ja einen recht hübschen Platz hier.«

»O ja, so ziemlich«, erwiderte Bob Sawyer. »Ich machte bald nach unserer köstlichen Abendgesellschaft das Examen? meine Freunde schossen mir das Nötige zur Einrichtung vor, und nun legte ich mir einen schwarzen Anzug nebst einer Brille bei, um so feierlich wie möglich auszusehen, und kam hierher.«

»Sie haben ohne Zweifel ein recht hübsches Geschäftchen?« fragte Herr Winkle mit einem Kennerblick.

»O ja«, erwiderte Bob Sawyer; »so hübsch, daß Sie nach Verfluß von wenigen Jahren den ganzen Profit in ein Weinglas legen und mit einem Stachelbeerblatt bedecken können.«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?« meinte Herr Winkle. »Schon die Vorräte –«

»Lauter Larifari, Freundchen«, sagte Bob Sawyer. »In der einen Hälfte der Schubladen ist gar nichts, und die andern können nicht einmal herausgezogen werden.«

»Sie scherzen«, sagte Herr Winkle.

»Nein, auf Ehre«, erwiderte Bob Sawyer, in den Laden tretend und die Wahrhaftigkeit seiner Versicherung dadurch bekräftigend, daß er zu verschiedenen Malen vergeblich an den kleinen vergoldeten Knöpfen der falschen Schubladen zerrte.

»Im ganzen Laden ist kaum etwas Reelles, außer den Blutegeln, und auch diese haben schon einmal Dienste geleistet.«

»Das hätte ich nicht gedacht«, rief Herr Winkle sehr überrascht.

»Hoffentlich«, erwiderte Bob Sawyer; »denn was nützte mir sonst all das Scheingepränge. Doch, was wollen Sie jetzt genießen? Halten Sie es mit uns. Ben, mein lieber Kamerad, geh an den Schenktisch und hole uns den Patentverdauer.«

Herr Benjamin Allen gab seine Bereitwilligkeit durch ein Lächeln zu erkennen und zog aus dem Schrank an seinem Ellenbogen eine schwarze, halbvolle Branntweinflasche hervor.

»Sie trinken natürlich ohne Wasser?« fragte Bob Sawyer.

»Danke Ihnen«, erwiderte Herr Winkle,- »es ist noch ziemlich früh, und ich nehme lieber Wasser dazu, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Nicht das geringste, wenn Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren können«, erwiderte Bob Sawyer, mit großen Behagen ein Glas hinabstürzend. »Ben, die Kruke.«

Herr Benjamin Allen zog aus demselben Versteck einen kleinen messingenen Topf hervor, auf den Bob Sawyer stolz zu sein behauptete, besonders weil er so apothekermäßig aussehe. Das Wasser war in diesem kunstgerechten Topf mittels mehrerer Schaufeln Kohlen, die Herr Bob Sawyer aus einem bequemen, »Sodawasser« überschriebenen Wandschrank genommen hatte, zum Sieden gebracht. Dann mischte Herr Winkle seinen Branntwein, und die Unterhaltung fing bereits an, recht belebt zu werden, als sie durch einen jungen Burschen unterbrochen wurde, der in einer bescheidenen grauen Livree mit goldbetreßtem Hut und einem kleinen verdeckten Korb unter dem Arm in den Laden trat und von Herrn Bob Sawyer mit den Worten bewillkommt wurde:

»Kommst du endlich, Tom, du Tagedieb?«

Der Junge trat sogleich vor.

»Gewiß bist du wieder mit allen Gassenjungen von Bristol herumgeschlingelt, du fauler Spitzbube«, fuhr Herr Bob Sawyer fort.

»Nein, Sir, ganz gewiß nicht«, erwiderte der Knabe.

»Ich will es dir auch nicht raten«, sagte Herr Bob Sawyer mit drohender Geberde. »Wer wird auch wohl einen Geschäftsmann rufen lassen, wenn man sieht, daß sein Laufbursche auf der Gasse spielt wie kleine Kinder? Hast du denn gar keinen Sinn für dein Geschäft, du Gauner? Hast du die Arzneien alle abgegeben?«

»Ja, Sir.«

»Die Pulver für das Kind in dem großen Hause, wo die neue Familie wohnt, und die Pillen, die der übellaunige alte Herr mit seinem Podagra täglich viermal einzunehmen hat?«

«Ja, Sir.«

»Nun, so mach die Tür zu und besorge den Laden.«

»Nun«, sagte Herr Winkle, als der Knabe sich entfernt hatte: »die Sachen scheinen doch nicht so schlimm zu stehen, wie Sie mich glauben machen wollten. Sie haben doch jedenfalls einige Medizin auszuschicken.«

Herr Bob Sawyer sah in den Laden, ob kein Fremder ihn hören könne, dann aber beugte er sich zu Herrn Winkle und sagte leise:

»Er bringt sie alle in die falschen Häuser.«

Herr Winkle blickte äußerst verwundert um sich: Bob Sawyer aber und sein Freund lachten.

»Sehen Sie«, sagte Bob, »er geht in ein Haus, läutet, gibt dem Diener ein Paket ohne Aufschrift ab und entfernt sich wieder. Der Bediente bringt es in die Wohnstube, der Herr öffnet es und liest die Aufschrift: ›Ein Trank, vorm Schlafengehen einzunehmen – Pillen, wie das letztemal – Wasser, wie gewöhnlich – das Pulver. Nach den Vorschriften des Doktor Sawyer, früher Nockemorf, sorgfältig bereitet usw.‹ Er zeigt es seiner Frau, die liest die Aufschrift ebenfalls: dann geht das Paket wieder an die Dienerschaft zurück, und diese liest es auch. Am andern Tage kommt der Bursche wieder und sagt, es tue ihm sehr leid – er habe sich vergriffen – das große Geschäft – so viele Pakete zum Austragen – Komplimente von Herrn Sawyer, früher Nockemorf. Der Dame wird bekannt, und so, Freundchen, muß es ein Mediziner angreifen: ich versichere Sie, alter Freund, das wirkt weit besser als alle Ankündigungen von der Welt. Wir haben eine Vierunzenflasche, die schon in halb Bristol gewesen ist und noch in manche Häuser wandern muß.«

»Du mein Himmel, jetzt geht mir ein Licht auf«, bemerkte Herr Winkle. »Ein ganz vortrefflicher Plan.«

»O, Ben und ich haben schon ein Dutzend ähnliche ausgedacht«, erwiderte Bob Sawyer sehr vergnügt. »Der Lampenanzünder bekommt achtzehn Pence wöchentlich dafür, daß er jedesmal, wenn er vorbeigeht, zehn Minuten lang die Nachtglocke läutet, und mein Junge stürzt immer gerade während der kirchlichen Andacht, wenn die Leute nichts zu tun haben, als umherzusehen, in die Kirche und ruft mich hinaus, mit einem Gesicht, auf dem sich Schauder und Entsetzen malen. Ach Gott, sagt dann alles, es muß jemand plötzlich krank geworden sein. Man hat zu Sawyer, früher Nockemorf, geschickt. Welche Praxis der junge Mann schon hat!«

Nach dieser Enthüllung einiger Geheimnisse der Arzneiwissenschaft warfen sich Herr Bob Sawyer und sein Freund Ben Allen in ihre Stühle zurück und lachten aus vollem Halse. Als sie dieses Vergnügen nach Herzenslust genossen, wurde das Gespräch auf Gegenstände gelenkt, bei denen Herr Winkle unmittelbar interessiert war.

Wir haben, wenn wir nicht irren, schon früher einmal angedeutet, daß Herr Benjamin Allen nach dem Branntwein gewöhnlich sentimental wurde. Dieser Fall gehört nicht zu den seltenen, wie wir selbst bezeugen können, da wir es schon hier und da mit Patienten zu tun hatten, denen es ebenso erging. Herr Benjamin Allen war vielleicht gerade um diese Periode seines Daseins mehr als je zu diesem Zustand der Benebelung geneigt, und seine Krankheitsgeschichte ist kurz folgende: Er hatte sich schon beinahe drei Wochen bei Herrn Bob Sawyer aufgehalten; Herr Bob Sawyer zeichnete sich nicht gerade durch Mäßigkeit aus, so wenig wie Herr Benjamin Allen durch den Besitz eines extra festen Kopfes, und die Folge davon war, daß Ben während dieser Zeit zwischen teilweisem und gänzlichem Beschwipstsein geschwankt hatte.

»Mein teurer Freund!« sagte Herr Ben Allen, die zeitweise Abwesenheit des Herrn Bob Sawyer benutzend, der in den Laden gegangen war, um einige von den oben erwähnten gebrauchten Blutegeln abzugeben, »mein teurer Freund, ich bin sehr unglücklich.«

Herr Winkle sprach sein herzliches Bedauern darüber aus und wollte wissen, ob er nichts tun könne, um den Kummer des leidenden Studenten zu erleichtern.

»Ach nein, mein teurer Freund, nichts«, erwiderte Ben. »Sie erinnern sich Arabellas, Winkle – meiner Schwester Arabella: – ein kleines Mädchen, Winkle, mit schwarzen Augen – damals als wir bei Wardle waren? Ich weiß nicht, ob Sie sie zufällig bemerkt haben – ein hübsches, kleines Mädchen, Winkle. Vielleicht fällt sie Ihnen bei meiner Beschreibung wieder ein.«

Herr Winkle bedurfte keineswegs einer solchen Erklärung an die reizende Arabella, und zu seinem Glück; denn die Beschreibung ihres Bruders Benjamin hätte ohne Zweifel sein Gedächtnis nicht sehr aufgefrischt. Er antwortete daher mit aller Ruhe, die er aufzubieten vermochte, er erinnere sich der jungen Dame noch sehr gut und wünsche von Herzen, daß sie sich wohl befinde.

»Unser Freund Bob ist ein herrlicher Kerl, Winkle«, war die einzige Antwort des Herrn Ben Allen.

»Gewiß«, sagte Herr Winkle, dem diese nahe Zusammenstellung der beiden Namen keineswegs behagte.

»Ich hatte sie für einander bestimmt; sie waren für einander geschaffen, für einander in die Welt gesandt, für einander geboren, Winkle«, sagte Herr Ben Allen, indem er mit großem Nachdruck sein Glas niederstellte. »Es waltet ein besonderes Geschick in dieser Sache, mein lieber Herr; sie sind nur um fünf Jahre von einander im Alter getrennt und beider Geburtstage fallen in den August.«

Herr Winkle war zu begierig, zu hören, was folgen würde, als daß er großes Erstaunen über diesen außerordentlichen und wirklich wunderbaren Umstand ausgedrückt hätte. Herr Ben Allen erzählte ihm daher nach ein paar Tränen weiter, trotz aller seiner Achtung, Wertschätzung und Verehrung für seinen Freund, zeige Arabella unbegreiflicher- und pflichtvergessenerweise die entschiedenste Abneigung gegen seine Person.

»Ich glaube«, so schloß Herr Ben Allen, »ich glaube, es steckt eine frühere Neigung dahinter.«

»Haben Sie vielleicht eine Vermutung über die betreffende Person?« fragte Herr Winkle recht zögernd.

Herr Ben Allen ergriff das Schüreisen, schwang es nach Kriegerart über seinem Haupte, führte einen furchtbaren Schlag gegen einen in seiner Einbildung vorhandenen Hirnschädel und sagte in höchst bedeutsamem Tone, es sei sein einziger Wunsch, das erraten zu können.

»Ich würde ihm dann sagen, was ich von ihm denke«, sagte Herr Ben Allen und schwang aufs neue, noch drohender als zuvor, das Schüreisen.

All das mußte natürlich äußerst beschwichtigend auf die Gefühle des Herrn Winkle wirken, der ein paar Minuten lang stillschwieg, endlich aber sich den Mut faßte, zu fragen, ob Miß Allen in Kent sei?

»Nein, nein«, sagte Herr Ben Allen, das Schüreisen auf die Seite legend und sehr pfiffig dreinblickend: »Wardles Haus schien mir eben nicht der geeignetste Platz für ein widerspenstiges Mädchen. Da nun unsere Eltern tot sind und ich ihr natürlicher Beschützer und Vormund bin, so habe ich sie in der hiesigen Gegend auf ein paar Monate zu einer alten Tante gebracht, die in einem zwar etwas abgelegenen, aber dennoch recht hübschen Ort wohnt. Das soll sie schon kurieren, mein Freund. Wo nicht, so gehe ich ein Weilchen mit ihr ins Ausland und versuche, ob das nicht hilft.«

»Ah, die Tante ist also in Bristol?« stotterte Herr Winkle.

»Nein, nein: nicht in Bristol«, erwiderte Herr Ben Allen, den Daumen über seine rechte Schulter legend; »dort nach dieser Seite hin – da unten. Aber still jetzt; Bob kommt; kein Wörtchen, teuerster Freund, kein Wörtchen.« HZ

So kurz diese Unterhaltung gewesen war, so versetzte sie doch Herrn Winkle in die peinlichste Aufregung und Angst. Die mutmaßliche frühere Neigung nagte in seinem Herzen. War er vielleicht der Gegenstand derselben? Konnte die schöne Arabella um seinetwillen den luftigen Bob Sawyer verächtlich angeblickt haben, oder hatte er einen glücklichen Nebenbuhler? Er beschloß, sie um jeden Preis zu besuchen; aber hier stellte sich ihm ein unüberwindliches Hindernis entgegen, denn er konnte schlechterdings nicht erraten, ob Ben Allens erklärende Worte: »dort nach dieser Richtung« und »da unten« eine Entfernung von drei, dreißig oder dreihundert Meilen zu bedeuten hatten.

Indes war ihm für den Augenblick keine Muße gestattet, seinen Liebesgedanken länger nachzuhängen; denn Bob Sawyers Rückkehr war der unmittelbare Vorläufer einer noch warmen Fleischpastete, und der Hausbesitzer bestand darauf, er müsse sie verzehren helfen. Eine Frau, die Herrn Bob Sawyers Haushälterin vorstellte, deckte den Tisch: ein drittes Paar Messer und Gabeln wurde von der Mutter des Jungen in der grauen Livree entlehnt (denn Herrn Sawyers häusliche Einrichtungen befanden sich noch auf einem beschränkten Fuße); sodann setzten sie sich zu Tisch, und das Bier wurde, wie Herr Sawyer bemerkte, in vaterländischem Zinn aufgetragen.

Nach dem Essen ließ Herr Bob Sawyer den größten Mörser aus dem Laden holen und begann einen dampfenden Rumpunsch darin zu brauen, wozu er die Materialien in kundiger Apothekerweise mit dem Stößel umrührte und verband. Herr Sawyer hatte als Junggeselle nur ein einziges Glas im Haus, das ehrenhalber für Herrn Winkle als den Gast bestimmt wurde. Ben Allen erhielt daher einen unten mit einem Kork zugestopften Trichter und Bob Sawyer begnügte sich mit einem jener weitrandigen, von einer Menge kabalistischer Zeichen bedeckten Glasgefäße, in denen die Apotheker den betreffenden Vorschriften gemäß ihre Flüssigkeiten auszumessen pflegen. Nachdem diese Präliminarien im reinen waren, wurde der Punsch gekostet und für vortrefflich erklärt. Sofort wurde der Beschluß gefaßt, Bob Sawyer und Ben Allen sollten die Erlaubnis haben, zwei Gläser zu trinken, bis Herr Winkle mit einem fertig würde, und nach allen diesen Einleitungen begannen sie mit großem Vergnügen und guter Kameradschaftlichkeit das Gelage.

Gesungen wurde nicht, weil Herr Bob Sawyer es mit der Würde seines Amtes für unverträglich hielt. Um sich jedoch für diese Entbehrung zu entschädigen, schwatzten und lachten sie so laut, daß man sie am Ende der Straße hören konnte und wahrscheinlich auch hörte. Diese Unterhaltung erheiterte auch dem Laufburschen wesentlich seine Arbeit und trug zu seiner ferneren Ausbildung bei; denn statt den Abend seiner gewöhnlichen Beschäftigung zu widmen, nämlich seinen Namen auf den Ladentisch zu schreiben und dann wieder auszulöschen, schaute er heute durch die Glastür, wo er genug zu hören und zu sehen bekam.

Herrn Bob Sawyers Lustigkeit wurde schnell zur Ausgelassenheit; Herr Ben Allen fiel in seine Sentimentalität zurück, und der Punsch war beinahe ganz verschwunden, als der Bursche hereinstürzte und meldete, es sei soeben ein junges Frauenzimmer gekommen und habe gesagt, Herr Sawyer, früher Nockemorf, möchte sogleich einen Patienten besuchen, der ein paar Straßen entfernt wohne. Das war das Signal zum Ende des Gelages. Herr Bob Sawyer verstand die Botschaft, nachdem man sie ihm etliche zwanzigmal wiederholt hatte, band ein nasses Tuch um seinen Kopf, um sich wieder nüchtern zu machen, was ihm auch einigermaßen gelang, setzte sofort seine grüne Brille auf und ging seinem Berufe nach. Trotz aller Bitten, bis zu seiner Rückkehr zu bleiben, nahm Herr Winkle, da er es rein unmöglich fand, mit Herrn Ben Allen eine vernünftige Unterhaltung über den Gegenstand, der seinem Herzen am nächsten lag, oder sonst über etwas anderes anzuknüpfen, Abschied und kehrte in den Busch zurück.

Die ängstliche Aufregung seines Gemüts und die zahllosen Gedanken, die Arabella in ihm hervorgerufen, verhinderten es, daß seine Portion aus dem Punschmörser die Wirkung hervorbrachte, die unter andern Umständen unausbleiblich gewesen wäre. Nachdem er daher noch im Schenkstübchen ein Glas Whisky mit Soda getrunken, begab er sich, durch die Vorfälle des Abends mehr entmutigt als aufgerichtet, in das Gastzimmer.

Vorn am Kamin saß ein langer Herr in einem großen Überrock, der ihm den rücken zuwandte; sonst befand sich niemand in der Stube. Es war ein für diese Jahreszeit etwas kühler Abend, und der Herr schob seinen Stuhl auf die Seite, um dem neuen Gaste auch etwas vom Feuer zukommen zu lassen. Aber wer vermag Herrn Winkles Gefühle zu schildern, als er auf einmal das Gesicht und die Gestalt des rachsüchtigen, blutdürstigen Dowler erblickte!

Herrn Winkles erster Gedanke war, so stark wie möglich an der nächsten Klingelschnur zu ziehen; aber diese hing unglücklicherweise unmittelbar hinter Herrn Dowlers Kopf. Er hatte schon einen Schritt dahin getan, hielt aber auf einmal still, und als er das tat, zog sich Herr Dowler hastig zurück.

»Ach, Herr Winkle, seien Sie ruhig. Schlagen Sie mich nicht. Ich kann es nicht ertragen. Einen Schlag! Nein, nie!« sagte Herr Dowler, sah aber weit sanftmütiger aus, als Herr Winkle von einem so wilden Manne erwartet hatte.

»Einen Schlag, Sir?« stammelte Herr Winkle.

»Einen Schlag, Sir«, erwiderte Dowler. »Beruhigen Sie Ihre Gefühle. Setzen Sie sich. Hören Sie mich an.«

»Sir«, sagte Herr Winkle, von Kopf bis Füßen zitternd, »bevor ich mich darauf einlassen kann, ohne die Anwesenheit eines Kellners neben Ihnen oder Ihnen gegenüber zu sitzen, muß ich mich durch vorläufige Auseinandersetzung mit Ihnen verständigen. Sie haben gestern abend eine schreckliche Drohung gegen mich fallen lassen, Sir – ja, eine schreckliche Drohung, Sir!«

Bei diesen Worten wurde Herr Winkle leichenblaß und hielt inne.

»Allerdings«, sagte Dowler mit einem beinahe ebenso weißen Gesicht: »ich habe da« allerdings getan. Die Umstände waren verdächtig: sie sind geklärt worden. Ich achte Ihre Tapferkeit. Ihre Gesinnung ist aufrichtig. Bewußte Unschuld. Hier ist meine Hand. – Nehmen Sie sie.«

»Wirklich, Sir«, versetzte Herr Winkle, unschlüssig, ob er seine Hand geben solle oder nicht, denn er fürchtete beinahe, es möchte eine Schlinge sein: »wirklich, Sir, ich –«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, unterbrach ihn Dowler. »Sie fühlen sich beleidigt. Sehr natürlich. Es ginge mir auch so. Ich hatte unrecht. Ich bitte um Verzeihung. Seien Sie freundlich. Vergeben Sie mir.«

Mit diesen Worten ergriff Dowler gewaltsam Herrn Winkles Hand, schüttelte sie mit äußerster Heftigkeit, schwur, Herr Winkle sei ein Mann von außerordentlichem Mut, und er habe von ihm eine höhere Meinung als je.

»Jetzt«, sagte Dowler, »setzen Sie sich. Erzählen Sie alles. Wie fanden Sie mich? Wann sind Sie mir nachgereist? Seien Sie offen. Sprechen Sie.«

»Es ist ganz zufällig«, erwiderte Herr Winkle, in hohem Grade verblüfft über die sonderbare, unerwartete Art dieses Zusammentreffens: »reiner Zufall.«

»Freut mich«, sagte Dowler. »Ich wachte heute morgen auf. Ich hatte meine Drohungen vergessen. Ich lachte über die Geschichte. Ich hatte gar keine bösartigen Absichten. Ich sagte es auch sogleich.«

»Wem haben Sie es gesagt?« fragte Herr Winkle.

»Meiner Frau. – ›Du hast ein Gelübde getan‹, sagte sie. – ›Ja‹, sprach ich. – ›Es war recht unüberlegt‹, meinte sie. – ›Ich weiß wohl‹, sagte ich. ›Ich will es zurücknehmen. Wo ist er?‹«

»Wer?« fragte Herr Winkle.

»Sie«, erwiderte Dowler. »Ich ging die Treppe hinunter. Sie waren nicht zu finden. Pickwick sah recht ärgerlich aus. Schüttelte den Kopf. Hoffte, es würden keine Gewalttätigkeiten vorkommen. Ich sah alles ein, Sie fühlten sich beleidigt. Sie waren ausgegangen, vielleicht um einen Freund zu holen. Vielleicht auch um Pistolen. ›Großer Mut‹, sagte ich. ›Ich bewundere ihn.‹«

Herr Winkle hustete, und da er anfing, zu verstehen, was es geschlagen hatte, so nahm er eine höchst gewichtige Miene an.

»Ich habe ein Billett an Sie zurückgelassen«, fuhr Dowler fort. »Ich sagte, es tut mir leid. Es war auch so. Ein dringendes Geschäft rief mich hierher. Sie waren nicht zufrieden. Sie sind nachgereist. Sie verlangten eine nähere Erklärung. Sie haben recht gehabt. Jetzt ist alles vorbei. Mein Geschäft ist abgemacht. Morgen reise ich zurück. Gehen Sie mit mir.«

Je weiter Dowler in seiner Erklärung fortschritt, um so würdevoller wurde Herrn Winkles Antlitz. Die geheimnisvolle Art, wie ihre Unterhaltung anfing, war erklärt: Herr Dowler hatte ebenso viele Einwendungen gegen das Duell wie er selbst. Kurz und gut, dieser auftobende, schreckliche Mann war einer der herrlichsten Hasenfüße, so weit man um sich blickte. Er hatte Herrn Winkles Abwesenheit durch das Medium seiner eigenen Erschrockenheit betrachtet, hatte wirklich denselben Schritt getan wie jener und sich klüglich zurückgezogen, bis jede Aufregung des Gefühls sich gelegt haben konnte.

Als der wirkliche Stand der Sache in Herrn Winkles Kopf dämmerte, blickte er höchst furchtbar drein und sagte, er sei vollkommen befriedigt; er sagte das aber in einem Tone, woraus Herr Dowler notwendig schließen mußte, wenn dies nicht der Fall wäre, so hätte es unausweichbar zu einer höchst schauderhaften und zerstörenden Katastrophe kommen müssen. Herr Dowler schien von einem geziemenden Gefühl der Großmut und Herablassung des Herrn Winkle ergriffen zu sein, und die beiden kriegführenden Parteien verabschiedeten sich zur Nacht mit mannigfachen Versicherungen ewiger Freundschaft.

Ungefähr um halb ein Uhr, als Herr Winkle etliche zwanzig Minuten im vollen üppigen Genuß des ersten Schlafe« geschwelgt hatte, wurde er plötzlich durch lautes Klopfen an seine Kammertür geweckt, das sich mit vermehrter Heftigkeit erneuerte und ihn veranlaßte, im Bett aufzuspringen und zu fragen, wer da sei und was es gäbe?«

»Erlauben Sie, Sir, es ist ein junger Mann da, der sagt, er müsse Sie sogleich sehen«, antwortete die Stimme des Stubenmädchens.

»Ein junger Mann?« rief Herr Winkle.

»Ja, Sie werden es sogleich zu wissen bekommen, Sir«, ertönte eine andere Stimme durch das Schlüsselloch, »und wenn dieser interessante junge Mensch nicht unverzüglich hineingelassen wird, so wäre es sehr wohl möglich, daß seine Beine vor seinem Kopf hineinkämen.«

Der junge Mann stieß nach dieser sanften Andeutung recht artig an eins der unteren Bretter der Tür, als wenn er seiner Bemerkung Kraft und Nachdruck geben wollte.

»Sind Sie’s, Sam?« fragte Herr Winkle aus dem Bett springend.

»Nein unmöglich: einen Gentleman auch nur annähernd sicher zu erkennen, wenn man ihn nicht sieht, Sir«, erwiderte die Stimme dogmatisch.

Herr Winkle zweifelte nicht mehr, wer der junge Mann sei und öffnete die Tür. Auch hatte er es kaum getan, als Herr Samuel Weller mit großer Hast eintrat, sorgfältig von innen abschloß, mit großem Bedacht den Schlüssel in seine Westentasche steckte und, nachdem er Herrn Winkle von Kopf zu Fuß gemustert, also anhob:

»Sie sind ein sehr humoristischer junger Gentleman, Sir.«

»Was wollen Sie mit diesem Benehmen, Sam?« fragte Herr Winkle entrüstet. »Gehen Sie hinaus, Sir; im Augenblick! Was glauben Sie denn, Sir?«

»Was ich glaube?« erwiderte Sam. »Kommen Sie, Sir; das ist noch viel zu gut, wie die junge Dame sagte, als sie mit dem Pastetenbäcker Händel anfing, weil er eine Schweinspastete an sie verkaufte, wo das Inwendige nichts als lauter Fett war. Was ich glaube? Gut, ich glaube, daß das gar nicht so übel ist – gar nicht so übel.«

Öffnen Sie die Tür und verlassen Sie sogleich dies Zimmer«, sagte Herr Winkle.

»Ich werde dieses Zimmer hier ganz in dem nämlichen Augenblick verlassen, Sir, wenn Sie es verlassen«, antwortete Sam in höchst eindringlichem Tone und setzte sich dabei mit vollendeter Gravität nieder. »Wenn ich es für nötig finde, Sie auf den Rücken zu packen und fortzuführen, so werde ich das letzte bißchen Zeit nehmen, das noch dazu da ist. Aber erlauben Sie mir, die Hoffnung auszudrücken, daß Sie mich nicht zu diesem Äußersten treiben werden: und wenn ich das sage, so fällt mir der Edelmann ein, der die widerspenstige Auster mit der Nadel nicht herausholen konnte und sagte, er fürchte, er müsse sie zusammenschlagen.«

Am Ende dieser für ihn ungewöhnlich langen Rede stemmte Herr Weller seine Hände auf die Knie und sah Herrn Winkle mit einem Ausdruck ins Gesicht, worin deutlich zu lesen war, daß er nicht die entfernteste Absicht habe, sich durch Ausflüchte abspeisen zu lassen.

»Sie sind ein zu Scherzen aufgelegter junger Mann, Sir«, fuhr Herr Weller im Tone moralischen Vorwurfs fort, »daß Sie unsern lieben Herrn in alle möglichen Torheiten verwickeln, während es doch sein Grundsatz ist, überall den geraden Weg zu gehen. Sie sind noch viel schlimmer, Sir, als Dodson, und was Fogg betrifft, so betrachte ich ihn als einen geborenen Engel gegen Sie.«

Nachdem Herr Weller diese seine letzte Empfindung mit einem nachdrücklichen Schlag auf beide Knie begleitet hatte, kreuzte er mit sehr entrüsteter Miene die Arme und warf sich in seinen Stuhl zurück, als erwartete er die Verteidigung des Verbrechers.

»Mein guter Junge«, sagte Herr Winkle, die Hand ausstreckend und mit den Zähnen klappernd, denn er hatte während der ganzen Lektion des Herrn Weller in einem leichten Nachtgewande dagestanden, »mein guter Junge, ich achte Ihre Anhänglichkeit an meinen vortrefflichen Freund, und es tut mir in der Tat sehr leid, ihm Ursache zum Kummer gegeben zu haben. Da, Sam, da!«

»Gut«, sagte Sam mürrisch, obgleich er die hingebotene Hand ehrerbietig schüttelte – »es darf Ihnen wohl leid tun, und mich freut es sehr, daß Sie mich hier getroffen haben: denn wenn ich ihm dazu helfen kann, so soll ihm keine sterbliche Seele einen Kummer machen.«

»Da haben Sie ganz recht, Sam«, erwiderte Herr Winkle. »Aber jetzt gehen Sie zu Bett und morgen früh wollen wir weiter über die Sache sprechen.«

»Es tut mir sehr leid«, erklärte Sam, »aber ich kann nicht zu Bett gehen.«

»Nicht zu Bett gehen?« wiederholte Herr Winkle.

»Nein«, sagte Sam, den Kopf schüttelnd, »es kann nicht sein.«

»Sie werden doch nicht in der Nacht zurückreisen wollen, Sam?« drängte Herr Winkle sehr überrascht,

»Nein, außer wenn Sie es absolut wünschen«, versetzte Sam, »aber ich darf dieses Zimmer hier nicht verlassen. Der Herr hat mir ganz ausdrückliche Befehle gegeben.«

»Unsinn, Sam«, sagte Herr Winkle. »Ich muß zwei oder drei Tage hier bleiben, und was mehr ist, Sam, Sie müssen auch hier bleiben, um mir zu einer Zusammenkunft mit einer jungen Dame zu verhelfen – nämlich, mit Fräulein Allen. Sie erinnern sich ihrer; ich muß und will sie sehen, bevor ich Bristol verlasse.«

Statt aller Antwort auf diese Vorschläge schüttelte Sam mit großer Festigkeit sein Haupt und erwiderte ausdrucksvoll:

»Es kann nicht sein.«

Nach manchen Argumentationen und Vorstellungen von Herrn Winkles Seite jedoch und nach einer umständlichen Auseinandersetzung über das Zusammentreffen mit Dowler begann Sam zu schwanken, und zuletzt kam ein Vertrag zustande, dessen Hauptbedingungen folgende waren:

Daß sich Sam entfernen und Herrn Winkle im ungestörten Besitz seines Zimmers lassen solle, jedoch mit der Erlaubnis, die Tür von außen zu schließen und den Schlüssel mitzunehmen; dagegen habe er, im Fall ein Feuer ausbrechen oder sonst eine Gefahr eintreffen sollte, die Tür sofort zu öffnen. Ferner solle am nächsten Morgen in aller Frühe dem Herrn Dowler ein Brief an Herrn Pickwick mitgegeben werden, worin Sam und Herr Winkle um Erlaubnis bitten, zu dem bereits bezeichneten Zwecke in Bristol zu bleiben und um Antwort mit der nächsten Postkutsche ersuchen: falle diese günstig aus, so sollen die besagten Parteien bleiben – wenn nicht, unmittelbar nach Empfang des Schreibens nach Bath zurückreisen. Endlich solle Herr Winkle gehalten sein und sich verpflichten, in der Zwischenzeit nicht durch das Fenster, den Kamin oder sonst auf hinterlistige Art zu entweichen.

Nachdem diese Punkte festgesetzt waren, schloß Sam die Tür und ging.

Er war beinahe die Treppen heruntergegangen, als er stehenblieb und den Schlüssel aus der Tasche zog.

»Das Niederschlagen habe ich ganz vergessen«, sagte Sam, sich halb zurückwendend. »Der Herr hat es doch ausdrücklich gesagt. O, ich Allerweltsdummkopf! Doch, es macht nichts«, setzte er, plötzlich sich klar werdend, hinzu: »es läßt sich ja morgen leicht nachholen.«

Durch diesen Gedanken augenscheinlich sehr getröstet, steckte Herr Weller den Schlüssel abermals in die Tasche, ging ohne weitere Gewissensbisse die paar Treppen vollends hinunter und verfiel bald darauf, gleich den übrigen Bewohnern des Hauses, in tiefe Ruhe.

 

Vierzigstes Kapitel


Vierzigstes Kapitel

Herr Samuel Weller wird um Liebesboten ernannt und versieht sein Amt als solcher. Mit welchem Erfolg er agiert.

Am ganzen folgenden Tag behielt Sam Herrn Winkle fest im Gesicht, entschlossen, seine Augen keine Minute lang von ihm abzuwenden, bis er von der Hauptquelle aus bestimmte Instruktionen erhalten hätte. So unangenehm nun dieses strenge Aufpassen und die große Wachsamkeit des Herrn Weller für Winkle waren, so hielt er es doch für besser, sich darein zu fügen, als sich der Gefahr einer gewaltsamen Abführung auszusetzen, zumal da ihm Sam mehr als einmal deutlich zu verstehen gab, daß sein Pflichtgefühl ihm keinen andern Ausweg lasse. Man hat wenig Grund zu zweifeln, daß Sam seine Bedenklichkeiten sehr schnell beschwichtigt haben würde, wenn er Herrn Winkle an Händen und Füßen gebunden nach Bath zurückgebracht hätte. Allein die schnelle Aufmerksamkeit, die Herr Pickwick dem durch Dowler ihm zugeschickten Schreiben widmete, ließ es nicht soweit kommen. Kurz und gut, abends um acht Uhr trat Herr Pickwick in eigener Person ins Gastzimmer des Busches herein und sagte, Sam zu dessen großer Beruhigung zulächelnd, er habe seinen Auftrag ganz recht vollzogen, doch brauche er jetzt nicht länger Schildwache zu stehen.

»Ich hielt es für besser, selbst zu kommen«, fügte Herr Pickwick gegen Herrn Winkle hinzu, während ihm Sam seinen Überrock und seinen Reiseschal abnahm, »um mich, bevor ich die Verwendung Sams in dieser Sache zugebe, zu vergewissern, daß es Ihnen mit der jungen Dame vollkommen Ernst ist.«

»So wahr ich lebe«, antwortete Winkle mit vielem Feuer.

»Bedenken Sie wohl«, sagte Herr Pickwick mit blitzenden Augen, »daß wir sie im Hause unseres vortrefflichen, gastlichen Freundes getroffen haben. Es wäre schlechter Dank, wenn Sie mit den Neigungen dieser jungen Dame ein leichtfertiges, unüberlegtes Spiel treiben wollten. Ich werde das nie zugeben, Sir – niemals.«

»Ich habe auch keine solche Absicht«, rief Herr Winkle warm. »Ich habe die Sache schon lange Zeit wohl überlegt und fühle, daß mein Glück an Arabella hängt.«

»Dann hängt es an einem sehr kleinen Ding, Sir«, fiel Herr Weller mit scherzhaftem Lächeln ein.

Herr Winkle blickte, über diese Unterbrechung einigermaßen entrüstet, um sich, und Herr Pickwick bemerkte seinem Diener unwillig, er brauche mit einem der edelsten Gefühle der Natur keinen Scherz zu treiben, worauf Sam erwiderte, dieses werde er auch niemals mit Wissen tun: aber es gebe so vielerlei edele Gefühle, daß er kaum unterscheiden könne, welches das edelste sei.

Herr Winkle erzählte sofort, was in Beziehung auf Arabella zwischen ihm und Herrn Ben Allen vorgegangen, erklärte, er wünsche mit der jungen Dame zusammenzukommen, um ihr seine Liebe in aller Form zu gestehen, und drückte seine auf gewisse dunkle Winke und Andeutungen des besagten Ben gegründete Überzeugung aus, daß sie jedenfalls in der Nähe der Dünen eingesperrt sein müsse: darauf beschränkte sich indessen sein ganzes Wissen oder Vermuten in dieser Sache.

Mit diesem schwachen Leitfaden sollte Herr Weller nach einem Beschluß der Gesellschaft am nächsten Morgen eine Entdeckungsreise antreten! Es wurde aber festgesetzt, daß Herr Pickwick und Herr Winkle, die kein übertriebenes Vertrauen auf ihre Kräfte besaßen, einstweilen die Stadt durchwandern und zufällig bei Herrn Bob Sawyer einsprechen sollten, ob sie dort vielleicht über die Verhältnisse der jungen Dame etwas sehen oder hören könnten.

Demgemäß ging Sam Weller am nächsten Morgen auf Kundschaft aus, keineswegs eingeschüchtert durch die nicht sehr ermunternden Aussichten, die vor ihm lagen. Er wanderte eine Straße hinauf und eine hinab – wir wollten sagen, einen Hügel hinauf und einen andern hinunter, wenn in Clifton nicht alles Hügel wäre – ohne auf irgendein Ding oder eine Person zu stoßen, die das geringste Licht auf den Gegenstand seiner Forschungen geworfen hätte. Viel waren der Zwiegespräche, die Sam mit Dienern einleitete, die Pferde spazierenritten, und mit Kindermädchen, die mit ihren Kindern in den Gassen herumschlenderten. Aber er vermochte aus diesen beiden Arten von Menschenkindern nichts herauszulocken, was den mindesten Bezug auf seine schlau betriebenen Nachforschungen gehabt hätte. Es waren in sehr vielen Häusern sehr viele junge Damen, denen die männlichen und weiblichen Dienstboten scharfsichtig genug abgemerkt hatten, daß sie in irgend jemand sterblich verliebt oder jedenfalls im Begriff seien, bei der nächsten besten Gelegenheit, es zu werden. Da aber unter diesen jungen Damen kein Fräulein Arabella Allen war, so blieb Sam auf derselben Stufe der Weisheit stehen, von der er ausgegangen.

Herr Weller arbeitete sich gegen einen starken Hochwind die Dünen hindurch, voll Verwunderung, warum es in diesem Teil des Landes nötig sei, mit beiden Händen den Hut festzuhalten, und kam endlich in eine schattige Gegend, wo ihm mehrere kleine Landhäuser von ruhigem, abgeschlossenem Aussehen in die Augen sprangen. Am Ende einer langen Hintergasse ohne Ausgang faulenzte ein Reitknecht in halber Livree, der sich offenbar einredete, er stehe im Begriff, mit einem Spaten und einem Schiebkarren etwas zu arbeiten. Man erlaube uns hier die Bemerkung, daß wir nicht leicht in der Nähe eines Stalles einen Reitknecht in seinen müßigen Augenblicken gesehen haben, der nicht in größerem oder geringerem Maße das Opfer dieser seltsamen Selbsttäuschung gewesen wäre.

Sam dachte, er könne mit diesem Reitknecht so gut sprechen wie mit irgendeinem anderen Menschen, zumal da er etwas müde vom Gehen war und gegenüber dem Schiebkarren einen recht angenehmen breiten Stein erblickte. Er schlenderte also das Gäßchen hinab, setzte sich auf den Stein und leitete mit seiner merkwürdigen, ungezwungenen Offenheit ein Gespräch ein.

»Guten Morgen, alter Freund«, begann Sam.

»Guten Nachmittag, wollen Sie sagen«, erwiderte der Knecht mit einem grämlichen Blick.

»Sie haben recht, alter Freund«, sagte Sam, »ich wollte Nachmittag sagen. Wie geht es Ihnen?«

»Nicht viel besser darum, weil ich Sie sehe«, entgegnete der übelgelaunte Reitknecht.

»Das ist höchst sonderbar«, sagte Sam: »denn Sie sehen so ungemein lustig aus und scheinen überhaupt ein so munteres Kerlchen zu sein, daß es eine wahre Herzenslust ist. Sie anzuschauen.«

Der verdrießliche Bursche machte ein noch verdrießlicheres Gesicht, jedoch nicht grämlich genug, um irgendeine Wirkung auf Sam hervorzubringen, der sogleich sehr angelegentlich zu fragen begann, ob sein Herr nicht Walker heiße?

»Nein«, antwortete der Bursche.

»Oder Brown?«

»Nein.«

»Oder Wilson?«

»Nein, ebensowenig.«

»Gut«, erwiderte Sam, »dann habe ich mich geirrt, und er hat die Ehre meiner Bekanntschaft nicht, wie ich gedacht hatte. Warten Sie nur nicht aus Höflichkeit gegen mich hier außen«, setzte er hinzu, als der Knecht den Karren hineinschob und sich anschickte, das Tor zu verschließen. Es geht nichts über die Bequemlichkeit, alter Knabe: ich entschuldige Sie gern.«

»Und ich möchte Ihnen gern für eine halbe Krone den Schädel einschlagen«, erwiderte der griesgrämige Stallknecht, indem er den einen Torflügel zuschloß.

»Könnte es nicht so billig geschehen lassen«, entgegnete Sam. »Es würde Ihnen wenigstens eine lebenslängliche Verköstigung eintragen und wäre daher allzu wohlfeil. Melden Sie im Hause meine Empfehlung. Sagen Sie, man brauche mit dem Essen nicht auf mich zu warten und mir auch nichts aufzuheben: denn es würde doch kalt werden, bis ich komme.«

Der Knecht machte ein wütendes Gesicht und murmelte den Wunsch, jemanden den Kopf zusammenzuschlagen, verschwand jedoch, ohne jenen in Ausführung zu bringen und schlug ärgerlich die Tür hinter sich zu, indem er der zärtlichen Bitte Sams, ihm wenigstens eine Locke von seinen Haaren zu lassen, nicht die geringste Beachtung schenkte.

Sam blieb auf dem großen Stein sitzen. Er besann sich, was wohl jetzt das beste wäre und wälzte eben in seinem Geiste den Plan herum, fünf Meilen im Umkreise von Bristol an alle Türen anzuklopfen, indem er täglich etwa einhundertfünfzig oder zweihundert schaffen könnte, um dadurch Fräulein Arabella ausfindig zu machen, als ihm der Zufall unerwartet etwas in den Weg warf, was er bei jahrelangem Sitzen auf dem Stein nicht gefunden hätte.

In die Gasse, wo er saß, öffneten sich drei oder vier Gartentore, die zu ebenso vielen, nur durch die Gärten voneinander getrennten Häusern führten. Da diese Gärten groß, lang und dicht mit Bäumen bepflanzt waren, so standen die Häuser nicht bloß ziemlich weit voneinander entfernt, sondern waren auch meistenteils fast unsichtbar. Sam starrte weiter auf das staubige Tor, und zwar auf die Stelle, durch die der Knecht verschwunden war. Er war in tiefes Nachsinnen über die Schwierigkeiten seiner dermaligen Unternehmungen versunken, als das Tor sich öffnete und ein Mädchen auf die Gasse herauskam, um einige Teppiche auszuklopfen.

Sam war so durchaus mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, daß er höchstwahrscheinlich weiter keine Notiz von der jungen Dame genommen, sondern etwa nur den Kopf aufgerichtet und bemerkt hätte, es sei ein recht hübsches Figürchen, wären nicht seine Kavaliergefühle gewaltig durch die Beobachtung ermuntert worden, daß sie keinen Gehilfen hatte und die Teppiche für ihre einzelne Kraft offenbar zu schwer schienen. Herr Weller war ein Gentleman von großer Galanterie in seiner Art, und kaum hatte er diesen Umstand bemerkt, als er sich schleunigst von dem breiten Steine erhob und auf die Dame zuschritt.

»Mein liebes Kind«, sagte Sam, indem er mit großer Ehrerbietung auf sie zuschlenderte, »Sie schaden offenbar Ihrer über alle Maßen schönen Figur, wenn Sie die Teppiche allein ausstauben. Darf ich Ihnen Beistand leisten?«

Die junge Dame, die sich züchtiglich gestellt hatte, als wüßte sie nichts von der Nähe eines Gentleman, drehte sich bei dieser Anrede um – ohne Zweifel (denn sie sagte es nachher selbst), um das Anerbieten von einem ganz Unbekannten abzulehnen, aber statt zu sprechen, fuhr sie zurück und stieß einen halbunterdrückten Schrei aus. Sam war nicht viel weniger verblüfft, denn in dem Angesicht der wohlgestalteten Dame erblickte er die wohlbekannten Züge des hübschen Hausmädchens des Herrn Nupkins.

»Was sehe ich? meine liebe Marie«, sagte Sam.

»Ach nein, Herr Weller«, erwiderte Marie: »wie haben Sie mich erschreckt!«

Sam gab auf diese Klage keine Erwiderung mit Worten, auch können wir nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Erwiderung er gab. Nur soviel wissen wir, daß Marie nach einer kurzen Pause sagte: »Sie Böser, Sie: lassen Sie mich doch gehen, Herr Weller«, und daß ihm sein Hut wenige Augenblicke zuvor vom Kopf gefallen war, aus welchen beiden Zeichen wir nicht abgeneigt wären zu schließen, daß einer oder mehrere Küsse vorgefallen.

»Aber wie sind Sie denn hierher gekommen?« fragte Marie, als das Gespräch, das diese Unterbrechung erlitten hatte, wieder seinen Anfang nahm.

»Bloß, um nach Ihnen zu sehen, mein Schätzchen«, erwiderte Herr Weller, der seiner Leidenschaft den Sieg über seine Wahrheitsliebe einräumte.

»Woher haben Sie denn gewußt, daß ich hier bin?« fragte Marie. »Wer kann es Ihnen gesagt haben, daß ich in Ipswich zu einer andern Herrschaft ging, die dann hierher gezogen ist? Wer kann es Ihnen gesagt haben, Herr Weller?«

»Ja freilich«, sagte Sam mit pfiffigem Blick, »das ist eben die Frage: das möchten Sie gern wissen. Wer meinen Sie wohl, daß es mir gesagt habe?«

»Herr Muzzle vielleicht?« fragte Marie.

»O nein«, erwiderte Sam mit feierlichem Kopfschütteln: »Muzzle nicht.«

»Dann muß es die Köchin gewesen sein«, meinte Marie.

»Versteht sich«, sagte Sam.

»So was habe ich mein Lebtag nie gehört«, rief Marie aus.

»Ich auch nicht«, sagte Sam. »Aber meine liebste Marie« – hier wurden Sams Manieren ungemein zärtlich – »meine liebste Marie, ich habe gegenwärtig ein Geschäft, das äußerst dringend ist. Es ist da einer von meines Prinzipals Freunden – Herr Winkle – Sie erinnern sich seiner.«

»Der mit dem grünen Rock?« fragte Marie. »O ja, ich kann mir ihn noch recht gut vorstellen.«

»Nun sehen Sie«, fuhr Sam fort: »der ist schauderhaft verliebt, so daß er nimmer weiß, wo ihm der Kopf steht, und es bei ihm ordentlich rappelt.«

»Nein, aber so was!« rief Marie.

»Das wäre schon recht«, sagte Sam, »aber was hilft es, wenn wir die junge Dame nicht auffinden können?«

Nun stattete Sam unter manchen Abschweifungen über Maries persönliche Schönheit und die unaussprechlichen Qualen, die er ausgestanden, seit er sie zum letztenmal gesehen, einen getreuen Bericht über Winkles Lage ab.

»Hat man je so was gehört?« sagte Marie.

»Nein, ganz gewiß nicht«, erwiderte Sam. »Das hat noch niemand gehört und wird auch niemand hören, und ich laufe da herum wie der ewige Jude – ein komischer Kerl, von dem Sie vielleicht gehört haben, mein Schatz, der immer mit der Zeit um die Wette läuft und niemals schläft – und suche nach dem Fräulein Arabella Allen.«

»Was für ein Fräulein?« fragte Marie mit großem Erstaunen.

»Fräulein Arabella Allen«, wiederholte Sam.

»Ach du meine Güte«, rief Marie nach dem Gartentore hindeutend, das der griesgrämige Stallknecht hinter sich verschlossen Hütte. »Das ist ihr Haus dort, und sie ist schon seit sechs Wochen hier. Die Stütze, die zugleich das Stubenmädchen von der gnädigen Frau ist, hat es mir an einem Morgen zur Waschküche heraus gesagt, als die Herrschaft noch in den Federn war.«

»Was Sie nicht sagen! Also gerade neben Ihnen?« sagte Sam.

»Freilich, freilich«, erwiderte Marie.

Herr Weller war durch diese Nachricht so überwältigt, daß er es für unumgänglich notwendig hielt, sich mit beiden Armen auf seine schöne Auskunfterteilerin zu stützen, und erst nach verschiedenen kleinen Liebespassagen hatte er sich wieder gehörig gesammelt, um zur Hauptsache zurückzukommen.

»Wahrhaftig«, sagte Sam endlich, »wenn das nicht übers Hahnenfechten geht, so geht nichts darüber, wie der Lordmayor sagte, als der erste Staatssekretär nach dem Schmause die Gesundheit seiner Frau ausbrachte. Also gerade neben Ihrem Haus? Ich habe eine Botschaft an sie auszurichten, mit der ich mich den ganzen Tag abgequält habe.«

»Sie können sie auch jetzt nicht ausrichten«, sagte Marie, »weil sie nur abends im Garten spazierengeht, und allemal bloß ganz kurze Zeit; ausgehen tut sie gar nicht ohne die alte Dame.«

Sam sann einige Augenblicke nach und verfiel auf folgenden Operationsplan: Er wollte um die Dämmerung, zu welcher Zeit Arabella einen Tag wie den andern ihre Spaziergange machte, zurückkommen. Marie solle ihn in den Garten ihrer Herrschaft einlassen, dann wolle er, geschützt durch die überhängenden Zweige eines großen Birnbaums, unbemerkt über die Mauer klettern, seinen Auftrag ausrichten und womöglich auf den folgenden Abend um dieselbe Stunde eine Zusammenkunft zwischen dem Fräulein und Herrn Winkle einleiten. Nachdem er diesen Plan mit großer Eile auseinandergesetzt, half er Marien bei ihrem lange hinausgeschobenen Geschäft des Teppichausstäubens.

Das Teppichausstäuben ist nicht halb so unschuldig wie es aussieht – das Stäuben selbst zwar mag etwas ganz Harmloses sein, aber das Zusammenlegen ist eine sehr verfängliche Sache. Solange da» Stäuben dauert und beide Parteien auf Teppichlänge voneinander getrennt sind, ist es eine so unschuldige Ergötzlichkeit, wie man nur eine denken kann; wenn aber das Zusammenlegen beginnt und die Entfernung der Stäubenden von der Hälfte der früheren Länge zu einem Viertel, sodann zu einem Achtel, endlich zu einem Sechzehntel, und wenn der Teppich lang genug ist, zu einem Zweiunddreißigstel herabsinkt, da wird es höchst gefährlich. Wir vermögen nicht genau zu bestimmen, wie viele Teppiche im vorliegenden Falle zusammengelegt wurden, aber das können wir zu behaupten wagen, daß Sam das hübsche Mädchen sovielmal küßte, wie Teppiche da waren.

Herr Weller labte sich in der nächsten Kneipe bis es dunkel zu werden anfing und kehrte sodann in das Gäßchen ohne den Ausgang zurück. Nachdem ihn Marie in den Garten gelassen und mehrfache Ermahnungen für seine Sicherheit vor Hals- und Beinbruch erteilt hatte, kletterte Sam auf den Birnbaum, um Arabella zu erwarten.

Er mußte so lange angstvoll ausharren, daß er schon glaubte, sie werde nicht mehr kommen, als er auf einmal leichte Fußtritte auf dem Kies vernahm und bald darauf Arabella erblickte, die nachdenklich den Garten herabkam. Als sie in der Nähe des Baumes war, begann Sam, um seine Anwesenheit recht artig und zart zu erkennen zu geben, allerhand diabolische Töne auszustoßen, wie man sie etwa bei einer Person natürlich finden könnte, die von früherer Kindheit an fortwährend an Halsentzündung, Heiserkeit und Stickhusten gelitten hat.

Das Fräulein warf einen hastigen Blick nach der Stelle hin, von wo die furchtbaren Töne kamen, und ihr anfänglicher Schreck wurde keineswegs dadurch vermindert, daß sie einen Mann zwischen den Zweigen erblickte. Sie wäre gewiß entflohen und hätte Lärm im Hause gemacht: allein glücklicherweise nahm ihr die Furcht alle Kraft, sich zu rühren, und sie sank auf einen zum guten Glück dastehenden Gartenstuhl nieder.

»Sie wird ohnmächtig«, monologisierte Sam in großer Verlegenheit. »Das ist doch zu dumm, daß diese jungen Damen immer in Ohnmacht fallen wollen, wenn sie es nicht sollten. He da, Frauenzimmerchen, Fräulein Knochensägerin! – Herr Winkle – werden Sie munter.«

War es der Zauber des Namens ›Winkle‹ oder die Kühle der Abendluft oder eine dunkle Erinnerung an Herrn Wellers Stimme, was Arabella wieder zum Leben brachte – wir wissen es nicht. Aber sie erhob ihren Kopf und fragte mit matter Stimme:

»Wer ist da, und was wollen Sie?«

»Pst«, sagte Sam, sich auf die Mauer schwingend und sich dort auf den möglichst kleinen Raum zusammenkauernd; »Ich bin’s bloß, mein Fräulein, bloß ich.«

»Herrn Pickwicks Diener?« sagte Arabella ernst.

»Zu Befehl, mein Fräulein«, erwiderte Sam. »Herr Winkle ist hier, und ganz in der ärgsten Verzweiflung, mein Fräulein.«

»Ah«, sagte Arabella, näher an die Mauer tretend.

»Ja freilich«, erwiderte Sam. »Wir meinten schon gestern nacht, wir müßten ihm die Zwangsjacke anlegen. Er rast den ganzen Tag und sagt, wenn er Sie nicht vor morgen nacht zu sehen bekomme, so ertränke er sich oder werde sonst etwa« Schreckliches tun.«

»Um Gottes willen!« rief Arabella, die Hände zusammenschlagend.

»Ja, das hat er gesagt, mein Fräulein«, setzte Sam kaltblütig hinzu. »Er ist ein Mann von Wort, und ich bin überzeugt, daß er es tut. Der Knochensäger mit der Brille hat ihm von Ihnen erzählt!«

»Mein Bruder?« fragte Arabella, durch diese Andeutung einigermaßen auf die Spur geleitet.

»Ich weiß nicht recht, wer Ihr Bruder ist«, erwiderte Sam. »Ist es der Schmutzigere von den beiden?«

»Ja, ja, Herr Weller«, erwiderte Arabella: »aber nur weiter: beeilen Sie sich.«

»Nun schön, mein Fräulein«, sagte Sam, »er hat von ihm alles erfahren, und mein Prinzipal meinte, wenn er Sie nicht so bald wie möglich sehe, so würde der Knochensäger so viel Extrablei in den Kopf bekommen, daß die Entwicklung der Organe dadurch beschädigt werde, wenn man sie je nachher in den Spiritus lege.«

»Gott im Himmel, was kann ich denn tun, um diesen schrecklichen Streit zu verhindern?« rief Arabella.

»Die Vermutung einer früheren Neigung ist an der ganzen Geschichte schuld. Es wäre wirklich das beste, wenn Sie ihn sehen würden, mein Fräulein. «

»Aber wie und wo?« rief Arabella. »Ich darf das Haus nicht allein verlassen. Mein Bruder ist so unfreundlich wie unvernünftig. Ich weiß, wie auffallend diese Sprache Ihnen gegenüber erscheinen muß, Herr Weller, aber ich bin sehr, sehr unglücklich –« und hier fing die arme Arabella so bitterlich zu weinen an, das es Sam ganz mitleidig ums Herz wurde.

»Es mag sehr auffallend scheinen, daß Sie so mit mir sprechen, mein Fräulein«, sagte Sam mit großem Feuer; »aber ich kann Ihnen nur sagen, daß ich nicht bloß bereit, sondern auch fest entschlossen bin, alles zu tun, was die Sache zu einem guten Ende zu führen vermag. Und wenn man einen von den Knochensägern zum Fenster hinauswerfen muß, so bin ich der Mann dazu.«

Bei diesen Worten krempte Sam, um seine Bereitwilligkeit zur Erfüllung des Versprochenen an den Tag zu legen, mit augenscheinlicher Gefahr, von der Mauer herabzufallen, seine Ärmel zurück.

So schmeichelhaft diese Beweise von gutem Willen waren, so weigerte sich doch Arabella zu Sams größter Verwunderung entschieden, davon Gebrauch zu machen. Längere Zeit sträubte sie sich mit aller Macht gegen die von Sam so pathetisch verlangte Zusammenkunft mit Herrn Winkle. Endlich aber, als die Unterhaltung durch die unwillkommene Ankunft einer dritten Person unterbrochen zu werden drohte, gab sie ihm unter mannigfachen Versicherungen ihrer Dankbarkeit eiligst zu verstehen, es sei doch möglich, daß sie am nächsten Abend um eine Stunde später in den Garten komme. Sam verstand das ausgezeichnet. Arabella trippelte, nachdem sie ihn mit einem ihrer süßesten Lächeln beglückt, anmutig davon und ließ Herrn Weller mit seiner ungemeinen Bewunderung ihrer körperlichen und geistigen Vorzüge allein.

Nachdem Herr Weller sicher von der Mauer herabgestiegen war und nicht vergessen hatte, seinen eigenen Angelegenheiten in demselben Departement einige Augenblicke zu widmen, kehrte er so schnell wie möglich in den Busch zurück, wo seine lange Abwesenheit großes Kopfzerbrechen und viel Unruhe erregt hatte.

»Wir müssen bedächtig zu Werke gehen«, sagte Herr Pickwick, nachdem er Sams Bericht mit Aufmerksamkeit angehört; »nicht um unserer selbst, sondern um der jungen Dame willen. Wir müssen sehr vorsichtig sein.«

» Wir?« sagte Herr Winkle mit scharfer Betonung. ^

Herrn Pickwicks Gesicht verdüsterte sich vor Unwillen über den Ton dieser Bemerkung, nahm jedoch bald wieder seinen eigentümlich wohlwollenden Ausdruck an, als er erwiderte:

»Ja, Sir, wir – denn ich werde Sie begleiten.«

»Sie?« sagte Herr Winkle.

»Allerdings, ich«, entgegnete Herr Pickwick mit Milde. »Als die Dame Ihnen diese Zusammenkunft bewilligte, hat sie einen vielleicht natürlichen, aber immerhin sehr unklugen Schritt getan. Wenn ich dabei bin, ein beiderseitiger Freund, der alt genug ist, um der Vater von beiden sein zu können, dann kann sich die Stimme der Verleumdung nachmals nicht gegen sie erheben.«

Herrn Pickwicks Augen funkelten von gerechtem Entzücken über seine Vorsicht, als er so sprach. Herr Winkle war durch diesen Beweis zartsinniger Verehrung für die junge Schützlingin seines Freundes tief gerührt und ergriff seine Hand mit einem Gefühl, das an Ehrfurcht grenzte.

»Sie müssen mitgehen«, sagte er.

»Allerdings gehe ich mit«, erwiderte Pickwick. »Sam, halte meinen Überrock und Schal in Bereitschaft und bestelle auf morgen abend, etwas früher als unbedingt notwendig wäre, einen Wagen, damit wir zu rechter Zeit an Ort und Stelle gelangen.«

Herr Weller salutierte, die Hand an den Hut legend, um seinen Gehorsam zu versichern und entfernte sich, um die nötigen Vorbereitungen für die Expedition zu treffen.

Der Wagen fuhr zur bestimmten Stunde vor, und Herr Weller nahm, nachdem er Herrn Pickwick und Herrn Winkle pflichtgemäß hineingeholfen, seinen Sitz auf dem Bock neben dem Kutscher. Sie stiegen verabredetermaßen etwa eine Viertelmeile vom Ort des Stelldicheins ab, befahlen dem Kutscher, ihre Rückkehr zu erwarten, und machten den übrigen Weg zu Fuß.

Bis dahin war alles gediehen, als Herr Pickwick lächelnd und offenbar sehr selbstzufrieden aus einer seiner Rocktaschen eine Blendlaterne hervorzog, womit er sich ausdrücklich für diesen Fall versehen hatte, und deren große mechanische Schönheit er im Weitergehen zur nicht geringen Verwunderung der wenigen Leute, die ihnen begegneten, Herrn Winkle erklärte.

»Bei meiner letzten nächtlichen Gartenexpedition wäre mir ein solches Ding sehr zustatten gekommen, nicht wahr, Sam?« fragte Herr Pickwick, indem er mit vergnügtem Lächeln nach seinem Diener umsah, der hinter ihm hertrollte.

»Sehr hübsche Dinger, Sir, wenn man sie recht gebraucht«, erwiderte Herr Weller: »aber wenn man nicht gesehen sein will, so glaube ich, daß sie nützlicher sind, wenn das Licht ausgelöscht ist, als wenn es brennt.«

Herrn Pickwick schien Sams Bemerkung einzuleuchten, denn er steckte seine Laterne wieder in die Tasche, und nun gingen sie schweigend weiter.

»Da hinab«, sagte Sam: »lassen Sie mich den Weg zeigen. Hier ist die Gasse, Sir.«

Sie gingen die Gasse hinab und es war bereits ziemlich dunkel. Herr Pickwick nahm, als sie dahintappten, ein- oder zweimal die Laterne heraus, die einen sehr hellen Lichtkreis, jedoch bloß von einem Fuß Durchmesser, auf den Weg warf. Es war recht artig anzusehen, schien aber die Wirkung zu haben, die umgebenden Gegenstände noch dunkler zu machen.

Endlich kamen sie an den großen Stein, und hier empfahl Sam seinem Gebieter und Herrn Winkle, sich zu setzen, während er das Gelände auskundschaften und sich vergewissern wollte, ob Marie noch warte.

Nach einer Abwesenheit von fünf oder zehn Minuten kam Sam mit der Nachricht zurück, das Tor sei offen und alles ruhig. Herr Pickwick und Herr Winkle folgten ihm verstohlenen Tritts und befanden sich bald im Garten. Hier sagten alle drei gar manchesmal »Pst«, und keiner schien eine genaue Vorstellung von dem zu haben, was zunächst geschehen sollte.

»Ist Fräulein Allen schon im Garten, Marie?« fragte Herr Winkle sehr aufgeregt.

»Ich weiß es nicht, Sir«, erwiderte das hübsche Mädchen. »Das beste wird sein, Herr Weller hilft Ihnen auf den Baum hinauf und Herr Pickwick wird vielleicht die Güte haben, zu sehen, ob niemand die Gasse heraufkommt. Ich selbst will inzwischen am andern Ende des Gartens Schildwache stehen. Barmherziger Himmel, was ist das?«

»Die verdammte Laterne wird uns alle ins Unglück stürzen«, sagte Sam ärgerlich. »Nehmen Sie sich doch in acht, Sir: Sie werfen ja einen ganz hellen Lichtschein in das Fenster vom hintern Zimmer da.«

»Weiß Gott«, sagte Herr Pickwick, sich schnell auf die Seite wendend, »das habe ich nicht gewollt.«

»Jetzt ist’s im nächsten Hause, Sir«, eiferte Sam.

»Verdammt noch mal!« rief Herr Pickwick, sich abermals umwendend.

»Jetzt ist’s im Stalle, und die Leute werden meinen, es brenne darin«, sagte Sam; »machen Sie doch zu, Sir, können Sie nicht?«

»Das ist doch die sonderbarste Laterne, die ich je in meinem Leben gesehen habe«, rief Herr Pickwick, ganz verblüfft über die Wirkungen, die er so unabsichtlich hervorbrachte. »Ein so starker Reflektor ist mir noch nicht vorgekommen.«

»Er wird wohl zu stark für uns werden, wenn Sie ihn so fortleuchten lassen, Sir«, antwortete Sam, als Herr Pickwick nach mehreren vergeblichen Versuchen den Schieber endlich schloß. »Da kommt die junge Dame. Jetzt, Herr Winkle, schnell hinauf.«

»Halt, halt!« sagte Herr Pickwick, »ich muß zuerst mit ihr sprechen. Helfen Sie mir hinauf, Sam.«

»Nur sachte, Sir«, sagte Sam, seinen Kopf an die Mauer lehnend und aus seinem Nucken eine Plattform machend. »Treten Sie zuerst auf diesen Blumentopf, Sir. Jetzt schnell hinauf.«

»Ich fürchte, ich tue dir weh, Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Sorgen Sie sich nicht um mich, Sir«, erwiderte Sam. »Geben Sie ihm die Hand, Herr Winkle. Nur frisch zu, Sir: so ist es recht.«

Während Sam so sprach, gelang es Herrn Pickwick durch Anstrengungen, die bei einem Herrn in seinen Jahren und seinem

Gewicht fast übernatürlich zu nennen waren, Sams Rücken zu erklimmen: Sam richtete sich allmählich in die Höhe und Herr Pickwick hielt sich am Rande der Mauer fest, während Herr Winkle seine Beine umfaßte, so daß Herrn Pickwicks Brille gerade noch die Mauer überragte.

»Mein Liebe«, sagte Herr Pickwick, als er über die Mauer schaute und auf der andern Seite Arabella erblickte: »erschrecken Sie nicht, meine Liebe. – Ich bin’s nur.«

»Ich bitte, gehen Sie doch, Herr Pickwick«, erwiderte Arabella. »Sagen Sie ihnen allen, daß sie fortgehen, denn ich bin in der tödlichsten Angst. Lieber, lieber Herr Pickwick, bleiben Sie nicht länger da. Sie werden ganz gewiß herabfallen und nicht mehr aufstehen können.«

»Seien Sie ohne Sorgen, liebe« Kind«, versetzte Herr Pickwick beschwichtigend. »Ich versichere Sie, es ist nicht die geringste Gefahr vorhanden. Stehe fest, Sam«, setzte er hinzu, indem er unter sich blickte.

»Sehr wohl, Sir«, erwiderte Herr Weller. »Bleiben Sie nur nicht länger, als es durchaus notwendig ist, Sir: Sie sind ein bißchen schwer.«

»Nur noch einen Augenblick, Sam«, erwiderte Herr Pickwick.

»Ich wünschte Ihnen nur zu sagen, meine Liebe, daß ich meinem jungen Freund nicht gestattet haben würde, Sie auf diesem heimlichen Wege zu besuchen, wenn Ihre Verhältnisse ihm einen andern Ausweg übriggelassen hätten. Damit Ihnen nun die Ungebührlichkeit dieses Schrittes keine Unruhe verursache, mein liebes Kind, mag es Ihnen zur Befriedigung dienen, zu wissen, daß ich in der Nähe bin; mehr habe ich nicht zu sagen, meine Liebe.«

»Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden für Ihre rücksichtsvolle Güte, Herr Pickwick«, antwortete Arabella, mit ihrem Tuche die Tränen trocknend.

Sie hätte wahrscheinlich noch mehr gesagt, wenn nicht Herrn Pickwicks Kopf infolge eines falschen Trittes auf Sams Schulter, der ihn schnell auf die Erde brachte, plötzlich verschwunden wäre. Er stand jedoch im Augenblick wieder auf, ermahnte Herrn Winkle, sich zu beeilen und die Zusammenkunft nicht zu versäumen, und rannte sofort mit dem Mut und Feuer eines Jünglings auf die Gasse, um Schildwache zu stehen. Herr Winkle, den die gute Gelegenheit begeisterte, war im Nu auf der Mauer und hielt nur inne, um zu Sam zu sagen, er solle für seinen Herrn Sorge tragen.

»Das werde ich schon tun, Sir«, erwiderte Sam. »Überlassen Sie es nur mir.«

»Wo ist er? Was macht er, Sam?« fragte Herr Winkle.

»Gott segne seine alten Gamaschen«, erwiderte Sam, nach der Gartentür hinblickend. »Dort in der Gasse steht er mit seiner Blendlaterne Schildwache, wie ein liebenswürdiger Guy Fawkes10. Hab‘ meiner Lebtage nichts Schöneres gesehen. Der Teufel soll mich holen, wenn sein Herz nicht wenigstens fünfundzwanzig Jahre nach seinem Leibe auf die Welt gekommen ist.«

Herr Winkle nahm sich nicht die Zeit, die Lobrede auf seinen Freund anzuhören. Er war schnell die Mauer hinabgesprungen, hatte sich zu Arabellas Füßen geworfen und setzte ihr die Aufrichtigkeit seiner Leidenschaft mit einer Beredsamkeit auseinander, die Herrn Pickwicks selbst würdig gewesen wäre.

Während das alles im Freien vor sich ging, saß ein ältlicher Herr von wissenschaftlichem Rufe, der zwei oder drei Häuser vom Garten entfernt wohnte, in seinem Studierzimmer und schrieb eine philosophische Abhandlung, wobei er von Zeit zu Zeit aus einer achtunggebietenden Flasche, die danebenstand, seine Lippen und seine Arbeit mit einem Glas Bordeaux benetzte. Während seiner geistigen Geburtswehen blickte der gelehrte Herr bald auf den Teppich, bald zur Decke empor, bald an die Wand, und wenn weder Teppich, noch Decke, noch Wand den erforderlichen Grad von Begeisterung zu liefern vermochten, so sah er zum Fenster hinaus.

In einer dieser Pausen starrte das erfinderische Genie abstrakt in die dichte Finsternis hinaus, als er zu seiner höchsten Überraschung ein äußerst glänzendes Licht in geringer Entfernung über die Erde hin durch die Luft gleiten und beinahe augenblicklich wieder verschwinden sah. Nach kurzer Zeit wiederholte sich das Phänomen, nicht bloß ein- oder zweimal, sondern mehrere Male. Endlich legte der gelehrte Herr seine Feder nieder und begann darüber nachzudenken, welchen natürlichen Ursachen diese Erscheinungen wohl zuzuschreiben seien.

Meteore waren es nicht; sie waren zu niedrig. Johanniswürmer konnten es auch nicht sein; sie waren zu hoch. Es waren keine Irrlichter, es waren keine Feuerfliegen, es war kein Feuerwerk. Was konnte es wohl sein? Irgendein außerordentliches und wunderbares Naturphänomen, das noch kein Philosoph vor ihm gesehen, eine Erscheinung, deren Entdeckung ihm allein vorbehalten war, und die seinen Namen unsterblich machen mußte, wenn er sie zum Nutzen und Frommen der Nachwelt aufzeichnete. Voll von dieser Idee ergriff der gelehrte Herr seine Feder wieder und brachte verschiedene Bemerkungen über diese unvergleichbaren Erscheinungen mit Angabe des Tages, der Stunde, der Minute und Sekunde, in der sie sichtbar gewesen, zu Papier – Stoff genug, um ein umfangreiches, von großem Forschungsgeist und tiefer Gelehrsamkeit zeugendes Werk zu schreiben, zum Erstaunen aller atmosphärischen Narren in sämtlichen Teilen der zivilisierten Erdkugel.

Er warf sich in seinen behaglichen Sessel zurück, überwältigt von Betrachtungen über seine künftige Größe. Das geheimnisvolle Licht zeigte sich abermals, und zwar glänzender als zuvor; allem Anschein nach tanzte es die Gasse auf und ab, kreuzte herüber und hinüber und bewegte sich in so exzentrischen Bahnen, wie die Kometen selbst.

Der gelehrte Herr war Hagestolz. Er hatte keine Frau, die er hereinrufen konnte, damit sie sich wundere, und läutete daher seinem Diener.

»Pruffle«, sagte er, »es ist heute abend etwas ganz Außerordentliches in der Luft. Siehst du es dort?« fügte er hinzu, zum Fenster hinausdeutend, als das Licht wieder sichtbar wurde.

»Ja, Sir.«

»Was denkst du davon, Pruffle?«

»Was ich davon denke?«

»Nun ja. Du bist auf dem Lande aufgewachsen. Welcher Ursache würdest du diese Lichter zuschreiben?«

Der gelehrte Herr setzte lächelnd voraus, Pruffle werde antworten, er wisse die Ursache dieser Lichter schlechterdings nicht anzugeben. Pruffle sann nach.

»Ich denke, es sind Diebe«, sagte er endlich.

»Du bist ein Dummkopf und kannst dich entfernen«, schrie ihn der gelehrte Herr an.

»Danke Ihnen, Sir«, erwiderte Pruffle und ging.

Allein dem gelehrten Herrn ließ der Gedanke keine Ruhe, die scharfsinnige Abhandlung, die er bereits projektiert, möchte für die Welt verlorengehen, was unvermeidlich der Fall sein mußte, wenn die Ansicht des scharfsinnigen Herrn Pruffle nicht in der Geburt erstickt wurde. Er setzte daher den Hut auf und ging schnell in den Garten hinab, entschlossen, der Sache bis auf den tiefsten Grund nachzuspüren.

Kurz bevor der gelehrte Herr kam, war Herr Pickwick so schnell wie möglich die Gasse herabgelaufen und hatte blinden Lärm geschlagen, es komme jemand des Weges, wobei er zufällig die Laterne vor sich hinhielt, um nicht in den Graben zu fallen. Herr Winkle kletterte sogleich wieder über die Mauer, Arabella eilte ins Haus, das Gartentor wurde geschlossen und die Abenteurer eilten auf schnellstem Wege die Gasse hinab, als sie auf einmal von dem gelehrten Herrn erschreckt wurden, der sein Gartentor aufschloß.

»Halt!« flüsterte Sam, der natürlich voranging, »machen Sie jetzt nur auf eine Sekunde Licht, Sir.«

Herr Pickwick tat es, und Sam, der einen Mann sehr vorsichtig, bloß ein paar Schritte von ihm entfernt, aus dem Gartentor herausblicken sah, versetzte ihm mit der geballten Faust einen tüchtigen Schlag auf den Kopf, so daß dieser mit einem hohlen Schall gegen das Tor flog. Nachdem er mit großer Schnelligkeit und Gewandtheit diese Tat ausgeführt, nahm er Herrn Pickwick auf den Rücken und folgte Herrn Winkle die Gasse hinab mit einer bei seiner Bürde wahrhaft erstaunlichen Geschwindigkeit.

»Haben Sie sich jetzt wieder erholt, Sir?« fragte Sam, als er das Ende erreicht hatte.

»Vollkommen«, erwiderte Herr Pickwick.

»Nun, so kommen Sie«, fuhr Sam fort, indem er seinen Herrn wieder auf die Füße stellte. »Gehen Sie zwischen uns beiden, Sir. Wir haben keine halbe Meile mehr zu laufen. Stellen Sie sich vor, es gehe zum kühlen Trunke, Sir. Nur munter vorwärts.«

So ermutigt machte Herr Pickwick den möglichst besten Gebrauch von seinen Beinen, und man kann zuversichtlich behaupten, daß nicht leicht ein paar schwarze Gamaschen schneller über den Boden hüpften, als die des Herrn Pickwick bei dieser denkwürdigen Gelegenheit.

Der Wagen wartete, die Pferde waren frisch, die Straßen gut und der Kutscher voll guten Willens. Die ganze Gesellschaft langte sicher im Busche an, ehe Herr Pickwick wieder zu Atem kommen konnte.

»Schnell hinein, Sir«, sagte Sam, als er seinem Herrn heraushalf. »Nach dieser Motion dürfen Sie keine Sekunde auf der Straße bleiben. Bitte um Verzeihung, Sir«, fuhr er fort, seinen Hut anfassend, als Herr Winkle ausstieg. »Ich hoffe, es war keine andere Liebesneigung vorhanden?«

Herr Winkle nahm seinen devoten Freund bei der Hand und flüsterte ihm ins Ohr: »Es ist alles in Ordnung, Sir, ganz in Ordnung«, worauf Herr Weller zum Zeichen des Verständnisses dreimal tüchtig an seine Nase schlug. Sodann lächelte er, blinzelte und ging mit dem Ausdruck der lebhaftesten Freude im Gesicht die Treppen hinan.

Was den gelehrten Herrn betrifft, so bewies er in einer meisterhaften Abhandlung, diese wundervollen Lichter seien Wirkungen der Elektrizität, und erklärte dies deutlich durch die umständliche Erzählung, wie ihm, als er den Kopf zur Tür hinausgesteckt, ein blitzendes Leuchten vor den Augen getanzt und er einen Schlag erhalten habe, der ihn eine volle Viertelstunde seiner Sinne beraubt. Dieses Schriftchen ergötzte sämtliche gelehrte Gesellschaften über die Maßen und verschaffte dem Manne später ein allgemeines Ansehen als Leuchte und Zierde der Wissenschaft.

  1. Guy Fawkes, Hauptteilnehmer an der englischen Pulververschwörung 1605. Am 5. November wird noch in England der Guy-Fawkes-Day gefeiert, wobei eine Fawkes darstellende Strohpuppe verbrannt wird.

Einundvierzigstes Kapitel.


Einundvierzigstes Kapitel.

Das Herrn Pickwick in eine neue und hoffentlich nicht uninteressante Szene im großen Drama des Lebens führt.

Der Rest der Zeit, die Herr Pickwick für die Dauer seines Aufenthaltes in Bath bestimmt hatte, ging ohne einen Vorfall von Belang vollends dahin. Der Trinitystermin begann. Nach Verlauf seiner ersten Woche kehrten Herr Pickwick und seine Freunde nach London zurück, und ersterer Herr begab sich, natürlicherweise von Sam begleitet, geradenwegs in sein altes Quartier im Georg und Geier.

Am dritten Morgen nach ihrer Ankunft, als sämtliche Glocken in der City, jede einzelne neun und alle zusammen neunhundert schlugen und Sam eben im Hofe frische Luft schöpfte, rasselte ein sonderbares, frisch angestrichenes Fuhrwerk heran, aus dem mit großer Behendigkeit, die Zügel einem neben ihm sitzenden vierschrötigen Mann zuwerfend, ein sonderbarer Herr heraussprang, der ganz für das Fuhrwerk gemacht schien und das Fuhrwerk für ihn.

Dies Fuhrwerk war nämlich nicht ganz Kutsche und ebensowenig ein Stanhope11. Es war nicht, was man in der Regel einen Karren nennt, es war keine Kalesche, war kein guillotiniertes Kabriolett und doch hatte es etwas vom Charakter all‘ dieser Vehikel. Es war hellgelb angestrichen, die Deichsel und die Räder schwarz betupft, und der Kutscher saß in dem hohen Jagdstil auf Polstern, die etwa zwei Fuß höher waren als die Wagenleiter. Das Pferd war ein ziemlich munterer Brauner, hatte aber etwas Schmuckes und Bissiges an sich, was vortrefflich sowohl zu dem Fuhrwerk, wie zu dem Herrn paßte.

Der Herr selbst war etwa ein Vierziger und trug schwarze Haare nebst einem sorgfältig gekämmten Schnurrbart. Sein ganzer Anzug war auffallend glänzend und mit einer Menge Juwelen überladen, alle wenigstens dreimal so groß, wie man gewöhnlich zu tragen pflegt: das Ganze krönte ein grober Überrock. In eine Tasche dieses Überrocks steckte er beim Absteigen seine linke Hand, während er aus der andern mit seiner rechten ein sehr helles, funkelndes, seidenes Taschentuch zog, womit er ein paar Staubflecken von seinen Stiefeln abwischte, es sodann in der Hand zusammendrückte und endlich in den Hof hineinging.

Es war Sams Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß, als dieser Herr abstieg, ein schäbig aussehender Mann in einem braunen Überrock mit etlichen fehlenden Knöpfen, der vorher dem Wirtshause gegenüber auf- und abgewandelt war, auf einmal herüberkam und sich zu dem Ankömmling gesellte. Da ihm der Zweck eines Besuches von diesem Gentleman mehr als verdächtig erschien, ging ihm Sam in den Georg und Geier voran, wandte sich dann rasch um und pflanzte sich mitten auf der Haustürschwelle auf.

»Nun, Kamerad?« sagte der Mann in dem groben Rock mit herrischem Ton, indem er ihn zugleich wegzupuffen versuchte.

»Nun, Sir, was gibt’s?« entgegnete Sam, den Puff mit reichlichen Zinsen heimgebend.

»Komm Er mir nicht so, Mensch; Er wird nicht viel ausrichten«, sagte der Eigentümer des groben Rockes, seine Stimme erhebend und sehr weiß werdend – »hierher Smouch.«

»Nun, wo fehlt es denn?« murrte der Herr mit dem braunen Rock, der während dieses kurzen Zwiegesprächs sich allmählich durch den Hof hierhergeschlichen hatte.

»Bloß eine Unverschämtheit von diesem jungen Burschen«, sagte der Prinzipal, Sam einen neuen Stoß versetzend.

»Laß Er solche Späße bleiben«, murrte Smouch, indem er Sam ebenfalls einen recht derben Puff gab.

Dieser letzte Puff hatte die Wirkung, die der erfahrene Herr Smouch beabsichtigte, denn während Sam, um das Kompliment so schnell wie möglich heimzugeben, den Gentleman an den Türpfosten drückte, schlich der Prinzipal hinein und gelangte in die Gaststube, wohin ihm Sam unter allerhand bezeichnenden Bemerkungen gegen Herrn Smouch alsbald nachfolgte.

»Guten Morgen, liebes Kind«, sagte der Prinzipal mit kolonialer Ungezwungenheit und neusüdwälischer Artigkeit zu der jungen Dame in der Gaststube. »Wo ist Herrn Pickwicks Zimmer, meine Teuerste?«

»Zeigen Sie es ihm«, sagte das Mädchen zu einem Kellner, ohne den sonderbaren Gast eines weiteren Blickes zu würdigen.

Der Kellner ging die Treppe hinauf, der Mann mit dem groben Rock folgte und hinter ihm Sam, der unterwegs, zum unaussprechlichen Ergötzen des Gesindes und anderer Zuschauer, durch allerhand Gebärden seine überschwengliche Verachtung und einen herausfordernden Trotz an den Tag legte. Herr Smouch, der an einem trockenen Husten litt, blieb unten und wartete im Gang.

Herr Pickwick lag in tiefem Schlafe, als sein früher Gast, von Sam gefolgt, ins Zimmer trat. Das Geräusch, das sie machten, weckte ihn auf.

»Wasser zum Rasieren, Sam!« rief er hinter den Bettvorhängen.

»Rasieren Sie sich nur sogleich, Herr Pickwick«, sagte der Gast, den obersten Vorhang zurückschiebend. »Ich habe auf Verlangen der Bardell einen Exekutionsbefehl gegen Sie. – Da ist er, unterzeichnet vom Gericht. Hier meine Karte. Ich denke, Sie gehen mit mir in mein Haus.«

Und indem er Herrn Pickwick freundlich auf die Schulter klopfte, warf der Offiziant des Sheriffs – denn ein solcher war er – seine Karte auf die gesteppte Bettdecke und zog einen goldenen Zahnstocher aus seiner Westentasche.

»Namby ist mein Name«, sagte er, als Herr Pickwick seine Brille unter dem Kissen hervorzog und aufsetzte, um die Karte zu lesen. »Namby, Bell Alley in der Colemansstraße.«

Hier mischte sich Sam Weller, der seine Augen fortwährend auf Herrn Nambys glänzenden Castorhut geheftet hatte, ins Gespräch:

»Sie sind ein Quäker?« fragte er.

»Er wird es mit der Zeit schon erfahren, wer ich bin«, erwiderte der entrüstete Offiziant. »Ich will Ihn an einem schönen Vormittag schon Mores lehren, mein sauberer Bursche.«

»Danke schön«, sagte Sam: »ich will Ihnen denselben Gefallen erweisen. Nehmen Sie den Hut ab.«

Mit diesen Worten schlug er Herrn Namby so geschickt und kräftig den Hut vom Kopfe, daß jener beinahe noch obendrein seinen goldenen Zahnstocher verschluckt hätte.

»Sie sehen es, Herr Pickwick«, sagte der bestürzte Agent, nach Luft schnappend: »ich bin in der Ausübung meiner Amtspflicht von Ihrem Diener in Ihrem Zimmer angegriffen worden. Ich stehe in Gefahr und rufe Sie zum Zeugen auf.«

»Bezeugen Sie nichts, Sir«, unterbrach ihn Sam. »Machen Sie die Augen fest zu, Sir; ich will ihn zum Fenster hinauswerfen‘, nur schade, daß er nicht tief fallen kann.«

»Sam«, sagte Herr Pickwick in ärgerlichem Tone, als sein Diener allerhand feindselige Demonstrationen machte, »wenn du noch ein Wort sprichst oder diesem Herrn die geringste Beleidigung antust, so entlasse ich dich auf der Stelle.«

»Aber, Sir –« meinte Sam.

»Schweig«, versetzte Herr Pickwick, »und heb den Hut wieder auf.«

Dieses aber verweigerte Sam allerdings, und nachdem er von seinem Herrn einen strengen Verweis erhalten hatte, ließ sich der Agent, der Eile hatte, herab, ihn selbst aufzuheben, wobei er eine Masse Drohungen gegen Sam ausstieß, die dieser Gentleman mit vollkommener Gemütsruhe entgegennahm und bloß bemerkte, wenn Herr Namby die Güte haben wolle, seinen Hut wieder aufzusetzen, so werde er ihn bis ans letzte Ende der nächsten Woche herunterschlagen. Herr Namby, der von einem solchen Prozeß nicht viel Ersprießliches erwarten mochte, wollte Herrn Weller nicht in Versuchung führen und rief bald darauf Smouch herein. Diesem sagte er, der Fang sei gemacht, er solle warten, bis der Verhaftete sich vollends angekleidet hätte und stolzierte dann hinaus. Smouch forderte Herrn Pickwick in griesgrämigem Tone auf, sich möglichst zu beeilen, denn es gebe viel zu tun, stellte sofort einen Stuhl vor die Tür und setzte sich darauf, bis der alte Herr mit seiner Toilette fertig war. Nun wurde Sam nach einer Mietskutsche fortgeschickt, und das Triumvirat fuhr nach der Colemansstraße. Glücklicherweise war die Entfernung kurz, denn Herr Smouch, der eben kein bezauberndes Talent für Unterhaltung besaß, war bei dem physischen Gebrechen, dessen wir oben erwähnt, in einem so beschränkten Raum ein entschieden unangenehmer Gesellschafter.

Der Wagen fuhr in die sehr enge und düstere Straße und hielt vor einem Haus mit eisernen Gittern an sämtlichen Fenstern an; die Türpfosten schmückte die Aufschrift: »Namby, Agent der Sheriffs von London.« Das innere Tor wurde von einem Gentleman geöffnet, den man für einen verwahrlosten Zwillingsbruder des Herrn Smouch hätte halten können, und der für sein Amt mit einem gewaltigen Schlüssel versehen war. Dieser wies Herrn Pickwick in das Gastzimmer.

Das Gastzimmer war eine einfache Vorderstube, deren Haupteigenschaften in frischem Sand und veraltetem Tabaksrauch bestanden. Herr Pickwick verbeugte sich gegen die drei Personen, die drinnen saßen, befahl Sam, Herrn Perker zu holen, zog sich in einen dunklen Winkel zurück und betrachtete von da aus mit einiger Neugierde seine augenblicklichen Kameraden.

Einer davon war ein Bursche von neunzehn oder zwanzig Jahren, der, obgleich es erst zehn Uhr war, bereits Wacholderbranntwein mit Wasser trank und eine Zigarre dazu rauchte – Vergnügungen, denen er, nach seinem roten Gesicht zu schließen, die letzten zwei Jahre seines Lebens so ziemlich ganz gewidmet haben mußte. Ihm gegenüber saß, mit der Zehe seines rechten Fußes im Feuer herumstöbernd, ein plumper Bursche von etwa dreißig Jahren, mit bleichem Gesicht und rauher Stimme. Er besaß offenbar diejenige Weltkenntnis und die lockende Freiheit im Benehmen, die man sich in Kneipen und an gemeinen Billarden erwerben kann. Der dritte Insasse des Zimmers war ein Mann von mittleren Jahren: er hatte einen sehr alten, schwarzen Rock an, sah blaß und verstört aus und lief unaufhörlich auf und ab; nur von Zeit zu Zeit schaute er mit großer Ängstlichkeit zum Fenster hinaus, als erwartete er jemand, und begann dann sogleich seinen Spaziergang wieder.

»Sie können heute morgen mein Rasiermesser haben, Herr Ayresleigh«, sagte der Mann, der im Feuer stöberte, indem er seinem Freunde, dem jungen Burschen, zuwinkte.

»Danke, ich werde es nicht brauchen. Ich hoffe, etwa in einer Stunde frei zu kommen«, erwiderte der andere in hastigem Tone, ging sofort aus neue ans Fenster, und als er abermals getäuscht sich abwenden mußte, seufzte er tief und verließ das Zimmer, worüber die zwei andern in lautes Gelächter ausbrachen.

»Einen solchen Spaß habe ich noch nie erlebt«, sagte der Gentleman, der das Rasiermesser angeboten hatte und Price zu heißen schien. Er bekräftigte diese Versicherung mit einem Fluche und lachte dann aufs neue, worauf natürlicherweise der junge Bursche, der seinen Kameraden für einen der witzigsten Köpfe von der Welt hielt, auch lachte.

»Sie werden es kaum glauben«, sagte Herr Price, sich gegen Herrn Pickwick wendend, »daß dieser Mensch gestern schon eine Woche hier war und sich noch nie rasiert hat, weil er aufs bestimmteste wissen will, daß er in einer halben Stunde freikomme und deshalb glaubt, er könne es aufschieben, bis er wieder nach Hause komme.«

»Der arme Mann!« erwiderte Pickwick. »Hat er denn gar keine Aussicht, aus seiner schwierigen Lage loszukommen?«

»Nein, keine Spur«, erwiderte Price. »Ich wollte hundert gegen eins wetten, daß er binnen zehn Jahren auf keine Straße mehr kommt.«

Dabei schnalzte Herr Price verächtlich mit dem Finger und läutete.

»Geben Sie mir einen Bogen Papier, Crookey«, sagte er zu dem Aufwärter, der seiner Kleidung und ganzen Erscheinung nach ein Mittelding zwischen einem bankerotten Viehmäster und einem zahlungsunfähigen Pächter zu sein schien; »und ein Glas Branntwein mit Wasser. Verstehen Sie mich? Ich will meinem Vater schreiben und muß eine Stimulanz haben, sonst kann ich dem alten Knaben nicht eindringlich genug ins Gewissen reden.«

Es ist unnötig, hinzuzusetzen, daß der junge Bursche bei dieser scherzhaften Sprache vor lauter Lachen beinahe Krämpfe bekam.

»Bravo!« sagte Herr Price: »das ist ein Hauptspaß!«

»Ganz vortrefflich«, sagte der junge Gentleman.

»Sie haben eben Geist«, fuhr Price fort: »Sie kennen das Leben.«

»Das will ich meinen«, erwiderte der Bursche. Er hatte es durch die schmutzigen Scheiben einer Gaststube betrachtet.

Herr Pickwick, den die Unterhaltung sowie das ganze Benehmen der beiden Burschen nicht wenig anekelte, wollte eben fragen, ob man ihm kein Privatzimmer geben könne, als zwei oder drei Fremde von anständigem Aussehen eintraten, bei deren Anblick der Bursche seine Zigarre ins Feuer warf und Herrn Price zuflüsterte, sie seien gekommen, um seine Sachen in Ordnung zu bringen, worauf er sich mit ihnen an einen Tisch am andern Ende des Zimmers begab.

Es schien freilich, daß die Sachen nicht so leicht in Ordnung zu bringen waren, wie der junge Gentleman voraussetzte, denn es erfolgte eine sehr lange Unterhaltung, wovon Herr Pickwick unwillkürlich einige zornige Bemerkungen über liederlichen Lebenswandel und wiederholte Verzeihung mit anhörte. Endlich wurden von dem ältesten Herrn in der Gesellschaft sehr deutliche Anspielungen auf eine gewisse Whitecroßstraße12 gemacht, wobei der Jüngling, trotz seiner Munterkeit, trotz seines Witzes und seiner Lebenskenntnis obendrein, den Kopf auf den Tisch lehnte und jammervoll heulte.

Sehr zufrieden über das rasche Geducktwerden des jungen Renommisten läutete Herr Pickwick und wurde auf sein Verlangen in ein Privatzimmer geführt, das mit einem Teppich, einem Tische, mehreren Stühlen, einem Kredenztisch und Sofa versehen und mit einem Spiegel sowie mehreren alten Gemälden geschmückt war. Hier hatte er den Genuß, solange sein Frühstück bereitet wurde, unmittelbar über sich Frau Namby Klavier spielen zu hören, und als ersteres kam, erschien auch Herr Perker.

»Aha, mein lieber Herr«, sagte das kleine Männchen: »endlich in die Falle gegangen? Ich gräme mich indessen nicht sehr darüber, denn jetzt werden Sie doch endlich die Abgeschmacktheit Ihres Benehmens einsehen. Ich habe mir den Betrag der Prozeßkosten, sowie die Entschädigungsgelder notiert, und es wäre am gescheitesten, wir machten die Sache mit einem Male und ohne Zeitverlust ab. Namby wird wohl jetzt zurückgekommen sein. Was meinen Sie, mein lieber Herr, soll ich Ihnen eine Anweisung niederschreiben?«

So sprechend rieb sich das Männchen mit erzwungener Lustigkeit die Hände, konnte aber, als er Herrn Pickwick ins Gesicht schaute, nicht umhin, zu gleicher Zeit einen verzweifelten Blick auf Sam Weller zu werfen.

»Perker«, sagte Herr Pickwick, »ich muß bitten, daß Sie mich nichts mehr davon hören lassen. Ich sehe nicht ein, warum ich noch länger hierbleiben soll und will deshalb heute nach noch ins Gefängnis gehen.«

»In die Whitecroßstraße können Sie unmöglich, mein teurer Sir«, erwiderte Perker. »Da sind sechzig Betten in einer Abteilung und die Riegel sechzehn Stunden täglich vorgeschoben.«

»Dann möchte ich lieber in ein anderes Gefängnis, wenn es möglich ist«, sagte Herr Pickwick. »Wo nicht, so muß ich mir’s dort bequem machen, so gut es angeht.«

»Sie können ins Fleet gehen, mein lieber Herr, wenn Sie überhaupt entschlossen sind, wohin zu gehen«, meinte Perker.

»Das will ich tun«, sagte Herr Pickwick; gleich nach dem Frühstück.«

»So warten Sie doch noch ein wenig, lieber Herr; es ist nicht der geringste Grund vorhanden, so schrecklich an einen Ort zu eilen, von dem sich die meisten andern Menschen ebenso gewaltig wegsehnen«, sagte der gutmütige kleine Anwalt. »Wir müssen ein habeas corpus auswirken und bis vier Uhr nachmittags warten, denn eher treffen wir keinen Richter an.«

»Ganz gut«, sagte Herr Pickwick mit unveränderlicher Geduld: »dann können wir um zwei Uhr hier ein Beefsteak speisen. Sieh danach, Sam, und bestelle es pünktlich.«

Da Herr Pickwick trotz aller Vorstellungen und Beweisgründe Perkers fest blieb, so erschienen und verschwanden die Beefsteaks zur bestimmten Zeit. Darauf wurde er in eine andere Mietskutsche gesetzt und in die Kanzleistraße geführt, nachdem er etwa eine halbe Stunde auf Herrn Namby gewartet, der eine erlesene Gesellschaft beim Mittagsmahle hatte und unter keinen Umständen früher gestört werden durfte.

Im Vorzimmer von Sergeants Inn waren zwei Richter, einer von der Kings Bench und einer von Common Pleas. Auch schienen hier gewaltig viele Geschäfte abgemacht zu werden, wenn man aus der Menge Advokatenschreiber, die mit Aktenstößen herein- und hinauseilten, einen Schluß ziehen darf. Als sie an den niedrigen Bogengang kamen, der den Eingang in das Inn bildet, zankte sich Herr Perker einige Minuten lang mit dem Kutscher um den Fuhrlohn, Herr Pickwick aber stellte sich auf die Seite, um dem Gedränge der Hinein- und Herausströmenden auszuweichen und blickte mit einiger Neugier um sich.

Die Leute, die seine Aufmerksamkeit am meisten anzogen, waren drei oder vier Herren von schäbig-kavaliermäßigem Aussehen. Sie zogen vor manchem der vorbeigehenden Anwälte die Hüte, und schienen ein Geschäft zu haben, dessen Art Herr Pickwick nicht erraten konnte. Sie bildeten eine höchst sonderbare Gruppe. Der eine war schlank und ein bißchen lahm, er hatte einen schmierigen schwarzen Rock an und ein weißes Halstuch; ein anderer war untersetzt gedrungen und gekleidet wie der erste, nur daß er ein großes, schwarzrotes Halstuch trug; ein dritter war klein von Gestalt, hatte ein finniges Gesicht und sah aus wie ein Trunkenbold. Sie schlenderten, die Hände auf dem Rücken, mit neugierigen Gebärden auf und ab und flüsterten von Zeit zu Zeit einigen von den Herren, die mit den Papieren hereinstürzten, etwas ins Ohr. Herr Pickwick erinnerte sich, sie schon oft unter dem Torweg, wenn er gerade vorüberging, faulenzen gesehen zu haben, und war neugierig, zu welcher Art von Profession diese schmierigen Tagediebe wohl gehören mochten.

Eben wollte er Namby, der sich dicht bei ihm aufhielt und an einem großen goldenen Ring seines kleinen Fingers lutschte, fragen, als Perker zu ihm herstürmte und ihm mit der Bemerkung, man habe keine Zeit zu verlieren, den Weg in den Saal zeigte. Als Herr Pickwick folgte, trat der Lahme zu. ihm, zog höflich den Hut und hielt ihm eine beschriebene Karte hin, die Herr Pickwick, der die Gefühle de« Mannes nicht durch eine Weigerung zu verletzen wünschte, freundlich annahm und in seine Westentasche steckte.

»Nun«, sagte Perker, der sich, bevor er in die Amtsstube trat, umwandte, ob seine Kameraden auch hinter ihm seien. »Hier herein, mein lieber Herr. He da, was wollen Sie?«

Diese letzte Frage galt dem Lahmen, der sich ohne Herrn Pickwicks Wissen an ihn angeschlossen hatte. Statt der Antwort zog der Mann mit aller erdenklichen Höflichkeit seinen Hut ab und deutete auf Herrn Pickwick.

»Nein, nein«, sagte Perker lächelnd; »wir bedürfen Eurer ganz und gar nicht, guter Freund.«

»Bitte um Vergebung, Sir«, erwiderte der Lahme. »Der Herr hat meine Karte angenommen. Ich hoffe. Sie werden mich verwenden, Sir. Der Herr hat mir zugenickt. Ich berufe mich auf den Herrn selbst. Nicht wahr, Sie haben mir zugenickt, Sir?«

»Ach was, Unsinn. Sie haben niemandem zugenickt, Pickwick. Ein bloßes Mißverständnis«, sagte Perker.

»Der Herr hat mir seine Karte angeboten«, erwiderte Herr Pickwick, sie aus der Tasche hervorziehend. »Ich nahm sie an, wie der Herr zu wünschen schien – ich war in der Tat einigermaßen neugierig, sie gelegentlich näher zu betrachten – ich –«

Der kleine Advokat brach in ein lautes Lachen aus, gab dem Lahmen die Karte zurück, sagte ihm, es sei ein Mißverständnis, und flüsterte Herrn Pickwick, als der Mann sich grimmig abwandte, ins Ohr, es sei dies nur ein Bürge.

»Ein was?« rief Herr Pickwick.

»Ein Bürge«, versetzte Perker.

»Ein Bürge?«

»Ja, mein lieber Herr: es ist ein halbes Dutzend solcher Leute hier. Sie verbürgen sich für jede beliebige Summe und verlangen nur eine halbe Krone. Nicht wahr, ein sonderbares Geschäft?« fügte Perker hinzu, indem er sich mit einer Prise Tabak labte.

»Wie?« rief Herr Pickwick, ganz erschrocken über diese Entdeckung: »Verstehe ich recht? Erwerben diese Leute wirklich dadurch ihren Lebensunterhalt, daß sie hier herumliegen und vor den Richtern des Landes Meineide schwören? Für eine halbe Krone ein Verbrechen?!«

»Meineid müssen Sie e» nicht gerade nennen, lieber Herr«, erwiderte der kleine Gentleman; »dieser Ausdruck ist wahrhaftig viel zu hart. Es ist eine Rechtsfiktion, mein lieber Herr, weiter nichts.«

Dabei zuckte das Anwältchen die Achseln, lächelte, nahm eine zweite Prise und ging voraus in das Gerichtszimmer.

Dies war ein Gemach von besonders schmutzigem Aussehen, mit einer sehr niedrigen Decke und alten in Vierecke geteilten Wänden. Dabei war es so finster, daß man bei hellem Tag auf den Schreibtischen große Talglichter brannte. An einem Ende war eine Tür, die in das Privatzimmer des Richters führte, um das sich eine Menge von Anwälten und Schreibern drängte, die hereingerufen wurden, sobald die Reihe des Dienstes an ihnen war. So oft diese Tür sich öffnete, um eine Partei hinauszulassen, machte eine nächste Parte! gewaltsame Versuche, hineinzudringen, und außer den zahlreichen Zwiegesprächen zwischen den Gentlemen, die auf den Anblick des Richters harrten, erhoben sich unter der Mehrzahl derer, die ihn bereits gesehen, allerhand persönliche Zwistigkeiten, so daß man sich in einem so kleinen Zimmer kaum ein betäubenderes Getöse denken kann.

Indessen waren die Unterhaltungen dieser Herren nicht die einzigen Töne, die das Ohr zerrissen. In einer Loge hinter einer hölzernen Schranke am andern Ende des Zimmers stand ein Schreiber mit der Brille auf der Nase, der die Advokatenschreiber schwören ließ und die Protokolle darüber haufenweise von Zeit zu Zeit dem Richter zur Unterzeichnung in sein Privatzimmer schickte. Eine Menge Advokatenschreiber wollten beeidigt werden, und da es rein unmöglich war, diesen Akt mit allen zugleich vorzunehmen, so gab es an der Schranke des bebrillten Herrn ein Stoßen und Drangen, wie manchmal am Eingang des Theaters, wenn Ihre Gnädigste Majestät dasselbe mit Höchst Ihrer Gegenwart beehrt. Ein anderer Mann von der Feder übte seine Lunge von Zeit zu Zeit damit, daß er die Namen der Beeidigten laut ausrief, um ihnen vom Richter unterzeichnete Atteste zurückzustellen, was natürlich wieder zu mehrfachen Püffen und Stößen Veranlassung gab. Da das alles zu gleicher Zeit geschah, so herrschte ein Durcheinander und Getöse, für dessen Lieblichkeit wir nicht jedermann Sinn und Empfänglichkeit zutrauen möchten. Es war schließlich noch eine andere Sorte von Leuten da, solche, die auf das Aufgerufenwerden ihrer Klienten warteten, wobei der Anwalt der Gegenpartei die Wahl hatte, solange zu bleiben oder nicht, und solche, die von Zeit zu Zeit den Namen des Gegenadvokaten ausrufen mußten, um sich zu vergewissern, daß er nicht ohne ihr Wissen vor Gericht stand.

Zum Beispiel: dicht neben Herrn Pickwicks Sitz lehnte sich ein vierzehnjähriger Bursche mit einer Tenorstimme an die Wand und neben ihm stand ein Schreiber mit einem tiefen Baß.

Ein anderer Schreiber huschte mit einem Pack Papiere herein und stierte umher.

»Sniggle und Blink!« rief der Tenor.

»Porkin und Snob!« brummte der Baß.

»Stumpy und Deacon!« sagte der neue Ankömmling.

Niemand antwortete, und der nächste Mann, der kam, wurde von allen Dreien begrüßt, worauf dieser laut nach einem andern schrie; dann brüllte sonst eine Stimme wieder nach einem noch andern und so ging es fort.

Die ganze Zeit über war der Mann mit der Brille fortwährend beschäftigt, die Schreiber zu beeidigen. Er tat dies ohne alle Abwechslung in der Betonung und leierte dem einen wie den andern den üblichen Eid vor, der folgendermaßen lautete:

»Nehmen Sie das Buch in die rechte Hand dies ist Ihr Name und Handschrift Sie schwören daß der Inhalt dieses Ihres Zeugnisses wahr ist so helfe Ihnen Gott Sie müssen einen Schilling bezahlen herausgeben kann ich nicht.«

»Nun, Sam«, sagte Herr Pickwick, »ich dächte, das Habeas Corpus könnte jetzt fertig sein.«

»Ja«, sagte Sam, »und ich wollte, man brächte seinen Korpus einmal heraus. Es ist eine sehr unangenehme Sache um das lange Warten da. Ich hätte in dieser Zeit ein halbes Dutzend solcher Korpus fertig gemacht und damit aufgepackt.«

Für was für eine beschwerliche und unbrauchbare Maschine Sam Weller die Ausstellung eines Habeas corpus hielt, wird nicht ganz klar, denn in diesem Augenblick kam Perker und nahm Herrn Pickwick mit sich fort.

Nachdem die gewöhnlichen Förmlichkeiten durchgemacht waren, wurde bald darauf der Leib Samuel Pickwicks der Bewachung des Gerichtsdieners übergeben und sofort dem Vorsteher des Fleetgefängnisses überantwortet, um solange in Verwahrung gehalten zu werden, bis die Entschädigungssumme an Frau Bardell und die Prozeßkosten auf Heller und Pfennig bezahlt sein würden.

»Da soll ihnen die Zeit lang werden«, sagte Herr Pickwick lachend. »Sam, hole einen Mietwagen. Perker, mein werter Freund, auf Wiedersehen!«

»Ich will mit Ihnen gehen, um mich von Ihrer glücklichen Ankunft zu überzeugen«, erwiderte Perker.

»Ich danke Ihnen«, sagte Herr Pickwick: »ich möchte nicht gern einen andern Begleiter haben als Sam. Sobald ich aber eingerichtet bin, werde ich Ihnen schreiben und Sie dann sogleich erwarten. Inzwischen leben Sie wohl.«

Also sprach Herr Pickwick und stieg in Begleitung des Gerichtsdieners in den Wagen. Sam setzte sich auf den Bock und sie fuhren ab.

»Ein ganz außerordentlicher Mann das«, sagte Perker, indem er stehenblieb, um seine Handschuhe anzuziehen.

»Er hätte einen prächtigen Bankerottmacher gegeben, Sir«, bemerkte Herr Lowten, der in der Nähe stand. »Der würde die Kommissare schinden und ihnen Trotz bieten, wenn sie auch tausendmal vom Verhaften sprächen.«

Der Anwalt schien darüber, wie sein Schreiber berufsmäßig Herrn Pickwicks Charakter schätzte, nicht sehr erbaut: denn er ging fort, ohne ihn einer Antwort zu würdigen.

Die Mietkutsche rumpelte die Fleetstraße entlang, wie Mietkutschen zu tun pflegen. Der Kutscher sagte, die Pferde gehen besser, wenn sie etwas vor sich sehen (und sie müssen wirklich einen erstaunlichen Schritt gelaufen sein, wenn nichts vorhanden war), und hielt sich daher hinter einem Karren: blieb dieser stehen, so blieb die Kutsche auch stehen, und setzte sich der Karren wieder in Bewegung, so tat sie desgleichen. Herr Pickwick saß dem Gerichtsdiener gegenüber, der seinen Hut zwischen den Knien hielt, ein Liebchen pfiff und fortwährend zum Fenster hinaus schaute.

Die Zeit vollbringt indessen Wunder, und mit der mächtigen Hilfe dieser alten Dame legt sogar ein Mietwagen eine halbe Meile Wegs zurück. Sie hielten endlich an, und Herr Pickwick stieg vor dem Tore des Fleetgefängnisses aus.

Der Gerichtsdiener blieb ihm dicht auf der Ferse und führte ihn ins Gefängnis: daselbst angekommen, wandten sie sich links und gelangten durch eine offene Tür in eine Vorhalle, aus der ein gewichtiges Tor, das dem Eingangstor gerade gegenüberstand und von einem stämmigen Kerkermeister mit dem Schlüssel in der Hand bewacht wurde, ins Innere des Gefängnisses führte.

Hier hielten sie an, bis der Gerichtsdiener seine Papiere abgegeben hatte, und man sagte Herrn Pickwick, er habe solange allda zu verweilen, bis er sich der dem Eingeweihten wohlbekannten Zeremonie unterworfen, das heißt, zu seinem Porträt gesessen hätte.

»Zu meinem Porträt gesessen?« fragte Herr Pickwick.

»Ja, Sir, damit wir Ihr Konterfei bekommen«, erwiderte der stämmige Schließer, »Wir sind Spezialisten im Abzeichnen, brauchen nur einen Augenblick dazu und treffen immer richtig. Tun Sie, als wenn Sie zu Hause wären, Sir.«

Herr Pickwick willfahrte der Aufforderung und setzte sich, worauf Herr Weller, der sich hinter seinem Stuhle aufgestellt, ihm zuflüsterte, da« »zum Porträtsitzen« wäre bloß ein anderer Ausdruck für die Beaugenscheinigung von seiten der verschiedenen Schließer, damit diese die Gefangenen von Besuchen unterscheiden könnten.

»Gut, Sam«, sagte Herr Pickwick, »dann wünschte ich, die Künstler kämen; das ist ein sehr öffentlicher Platz.«

»Sie werden wohl nicht lange ausbleiben«, versetzte Sam. »Da hängt eine hölzerne Schwarzwälderuhr.«

»Das sehe ich«, bemerkte Herr Pickwick.

»Und ein Vogelkäfig«, sagte Sam. »Reusen in Reusen, ein Gefängnis im Gefängnisse. Nicht wahr, Sir?«

Als Herr Weller diese philosophische Bemerkung machte, gewahrte Herr Pickwick, daß das Sitzen seinen Anfang genommen hatte. Der stämmige Schließer hatte das Schloß fahren lassen, sich niedergesetzt und betrachtete ihn nachlässig von Zeit zu Zeit. Dann starrte ihn ein langer, schmächtiger Bursche, der jenen abgelöst, und der sich mit den Händen unter den Rockschößen ihm gegenüber aufpflanzte, lange unverwandt an. Ein dritter Gentleman von etwas grämlichem Aussehen, der offenbar beim Tee gestört worden war, denn er verfügte bei seinem Eintritt gerade über den letzten Rest seiner mit Butter beschmierten Stulle, stellte sich dicht neben Herrn Pickwick, stemmte die Hände in die Seiten und beschaute ihn so nahe wie möglich, indessen noch zwei andere mit aufmerksamen, gedankenschweren Gesichtern seine Züge studierten. Herr Pickwick stampfte während der Operation zu wiederholten Malen mit den Füßen, und es schien ihm auf seinem Sitze nur gar nicht zu behage; er machte jedoch die ganze Zeit über keine Bemerkung, selbst gegen Sam nicht, der, an die Rückseite des Stuhles gelehnt, teils über die Lage seines Herrn, teils über das große Vergnügen nachdachte, das ihm ein feindlicher Angriff auf sämtliche Schließer gewähren würde, wenn er unter dem Schutz des Gesetzes und ohne Friedensbruch über einen nach dem andern herfallen dürfte.

Endlich war das »Porträtieren« vollendet, und man sagte Herrn Pickwick, er könne jetzt ins Gefängnis gehen.

»Wo werde ich heute nacht schlafen?« fragte er.

»Das weiß ich selbst nicht recht«, erwiderte der vierschrötige Schließer; »aber morgen bekommen Sie einen Stubenburschen und können sich dann ganz hübsch und bequem einrichten. In der ersten Nacht ist in der Regel noch nicht alles recht in Ordnung, aber morgen können Sie bekommen, was Sie wollen.«

Nach einigen Erörterungen ergab es sich, daß einer der Schließer ein Bett zu vermieten hatte, und Herr Pickwick war froh, es für die Nacht bekommen zu können.

»Wenn Sie mit mir kommen wollen, so will ich es Ihnen sogleich zeigen«, sagte der Mann. »Es ist zwar nicht besonders groß, aber es schläft sich ganz herrlich darin. Hier, Sir.«

Sie gingen durch das innere Tor und stiegen eine kurze Treppe hinab. Der Schlüssel wurde hinter ihnen herumgedreht, und Herr Pickwick befand sich zum ersten Male in seinem Leben innerhalb der Mauern eines Schuldturms.

  1. Leichter, offener, zwei- oder vierrädriger Wagen.
  2. Dort befand sich eine Straf- und Korrektionsanstalt.

Sechsundfünfzigstes Kapitel.


Sechsundfünfzigstes Kapitel.

Herr Salomo Pell ordnet mit Hilfe eines auserlesenen Kutscherkomitees die Angelegenheit des älteren Herrn Weller.

»Samuel«, sagt Herr Weller am Morgen nach dem Begräbnis zu seinem Sohne, »ich habe es gefunden, Sammy. Ich dachte wohl, es werde da sein.«

»Was habt Ihr gefunden?« fragte Sam.

»Das Testament deiner Stiefmutter, Sammy«, erwiderte Herr Weller, »kraft dessen die Anordnungen zu treffen sind, wovon ich dir gestern nacht gesagt habe, nämlich in Beziehung auf die Fonds.«

»Ei, hat sie denn nicht gesagt, wo sie es aufbewahrt hat?« fragte Sam.

»Kein Wörtlein, Sammy«, erwiderte Herr Weller. »Wir legten gerade unsere kleinen Zwistigkeiten bei, ich suchte sie aufzuheitern und aufrechtzuerhalten, und so vergaß ich alles darüber. Und wenn ich auch daran gedacht hätte, so weiß ich nicht, ob ich es wirklich getan haben würde«, fügte Herr Weller hinzu: »denn es ist eine ganz eigene Sache, Sammy, nach dem Vermögen eines Menschen zu schnüffeln, während man ihn auf dem Krankenbett pflegt. Das ist gerade, wie wenn man einem herabgefallenen Außenpassagier auf die Kutsche hinaufhilft und dabei die Hand in seine Tasche steckt, indem man ihn mit einem Seufzer fragt, wie er sich befinde.«

Bei dieser bildlichen Erläuterung seiner Ansichten öffnete Herr Weller seine Brieftasche und zog einen schmutzigen Bogen Briefpapier heraus, worauf allerlei Buchstaben in merkwürdigem Gemenge untereinander geschrieben waren.

»Dies da ist das Dokument, Sammy«, sagte Herr Weller. »Ich fand es in dem kleinen schwarzen Teetopf auf dem Sims im Kabinett. Sie pflegte ihre Banknoten darin aufzubewahren, ehe ich sie heiratete, Samuel. Ich habe hundertmal gesehen, wie sie den Deckel abnahm, um eine Rechnung zu bezahlen. Die arme gute Frau, sie hätte alle Teetöpfe im Hause mit Testamenten anfüllen können, ohne sich selbst etwas zu entziehen; denn sie trank in der letzten Zeit sehr wenig Tee, außer an den Mäßigkeitsabenden, wo man immer den Grund mit Tee legte, um die Geister munter zu erhalten.«

»Was steht denn darin?« fragte Sam.

»Was ich dir schon gesagt habe, mein Junge«, antwortete sein Vater. »Ein Schein von zweihundert Pfund für meinen Stiefsohn Samuel, und den ganzen Rest meines Vermögens, welcher Art und Gattung es sein möge, meinem Mann, Herrn Tony Weller, den ich zu meinem einzigen Testamentsvollstrecker ernenne.«

»Und ist das alles?« fragte Sam.

»Ja«, erwiderte Herr Weller. »Und da nun alles ganz recht und zu deiner und meiner Zufriedenheit ausgefallen ist und wir die einzigen Parteien sind, die die Sache angeht, so könnten wir ja ebensogut diesen Wisch ins Feuer werfen.«

»Ei, was seid Ihr doch für ein Mondkalb!« sagte Sam, seinem Vater das Papier entreißend, als dieser in aller Unschuld bereits das Feuer schürte, um seinem Worte Kraft zu geben. »Ihr seid mir ein sauberer Testamentsvollstrecker, Ihr.«

»Warum nicht?« fragte Herr Weller, indem er mit dem Schüreisen in der Hand schnell um sich blickte.

»Warum nicht?« rief Sam. – »Seht Ihr, es muß vorher bewiesen, gutbefunden, beschworen werden und eine Menge solcher Förmlichkeiten.«

»Ist das wirklich dein Ernst?« fragte Herr Weller, das Schüreisen niederlegend.

Sam steckte das Testament sorgfältig in eine Seitentasche und gab inzwischen durch einen Blick zu verstehen, daß er es wirklich so meine, und zwar in allem Ernst.

»Dann will ich dir sagen, was es ist«, sagte Herr Weller nach kurzem Nachdenken: »es ist das ein Fall für den vertrauten Freund des Lordkanzlers. Pell muß die Sache untersuchen, Sammy. Er ist der Mann für eine schwierige Rechtsfrage. Wir werden die Sache sogleich vor den Zahlungsunfähigkeits-Gerichtshof bringen, Samuel.«

»Ich habe meiner Lebtage noch nie einen so schwindelköpfigen, alten Kerl gesehen«, rief Sam gereizt. »Alte Kanzleien, Zahlungsunfähigkeits -Gerichtshof, Alibis und aller mögliche Unsinn gehen ihm beständig durch sein Hirn. Es wäre gescheiter. Ihr zöget Euren Sonntagsanzug an und ginget mit diesem Geschäft in die Stadt, als daß Ihr da über Sachen redet, von denen Ihr gar nichts versteht.«

»Ganz gut, Sammy«, erwiderte Herr Weller. »Ich bin mit allem einverstanden, was das Geschäft befördert, Sammy. Aber merk dirs wohl, mein Junge, niemand anders als Pell – niemand als Pell darf unser Advokat sein.«

»Ich verlange auch sonst niemand«, erwiderte Herr Weller, der, nachdem er mit Hilfe eines kleinen am Fenster hängenden Spiegels sein Halstuch zugeknöpft hatte, jetzt mit den größten Anstrengungen an seiner Oberkleidung herumarbeitete.

»Wart noch eine Minute, Sammy. Wenn du einmal so alt bist wie dein Vater, so wirst du auch nicht mehr ganz so leicht in dein Jackett hineinschlüpfen, wie du es jetzt tust, mein Junge.«

»Wenn ich es nicht leichter tun kann, als so, dann soll mich der Teufel holen, wenn ich überhaupt eines trage«, versetzte sein Sohn.

»So denkst du jetzt«, sagte Herr Weller mit der Würde des Alters, »du wirst aber schon finden, daß man um so weiser wird, je weiter oder dicker man wird. Dicke und Weisheit, Sammy, wachsen immer miteinander.«

Als Herr Weller diesen unfehlbaren Grundsatz, das Ergebnis vieljähriger persönlicher Erfahrung und Beobachtung, preisgab, gelang es ihm durch eine gewandte Drehung des Körpers, den untersten Rockknopf seiner Bestimmung gemäß anzuwenden. Nachdem er wenige Sekunden pausiert hatte, um wieder Atem zu schöpfen, bürstete er seinen Hut mit seinem Ellbogen und erklärte sich bereit.

»Vier Köpfe sind besser als zwei, Sammy«, sagte Herr Weller, als sie miteinander auf dem Postwagen nach London fuhren, »und da alle diese Habseligkeiten eine sehr große Versuchung für einen Advokaten sind, so wollen wir ein paar von meinen Freunden dazunehmen, die sehr schnell über ihn herfahren werden, wenn er sich eine Unregelmäßigkeit erlaubt: zwei von denen, die dich damals im Fleet besuchten. Sie sind die allerbesten Pferdekenner, die du je gesehen hast«, fügte Herr Weller in halbem Flüstern hinzu.

»Sind sie aber auch Advokatenkenner?« fragte Sam.

»Wer ein richtiges Urteil über ein Tier zu fällen imstande ist, kann auch ein richtiges Urteil über alles andere abgeben«, erwiderte sein Vater so überzeugt, daß Sam es nicht wagte, den Satz zu bestreiten.

Infolge dieser bemerkenswerten Entscheidung wurden die Dienste des pausbäckigen Herrn und zweier anderer sehr dicker Kutscher, die Herr Weller wahrscheinlich aus Rücksicht auf ihre Wohlbeleibtheit und auf die daraus folgende Weisheit auserwählt hatte, in Anspruch genommen. Sodann begab sich die Gesellschaft nach dem Gasthaus in der Portugalstraße, von wo aus sogleich ein Bote in den Zahlungsunfähigkeits-Gerichtshof hinübergeschickt wurde, um Herrn Salomo Pell zu bitten, daß er sich alsobald einfinden möchte.

Der Bote fand Herrn Salomo Pell glücklicherweise im Gerichtshofe mit einer nicht gar zu schweren Arbeit, nämlich mit einer kleinen kalten Zwischenmahlzeit, bestehend aus Abernethyzwieback und einem Hühnchen, beschäftigt. Die Botschaft war ihm kaum ins Ohr geflüstert, als er seinen Mundvorrat nebst verschiedenen amtlichen Dokumenten in seine Tasche steckte und mit solcher Munterkeit über den Weg eilte, daß er das Gastzimmer erreichte, ehe der Bote noch den Gerichtshof verlassen hatte.

»Meine Herren«, begann Herr Pell, seinen Hut berührend, »seien Sie mir alle gegrüßt. Ich sage es nicht, um Ihnen zu schmeicheln, meine Herren: aber es gibt nicht noch fünf andere Männer auf der Welt, denen zuliebe ich heute den Gerichtshof verlassen hätte.«

»So beschäftigt, he?« fragte Sam.

»O, außerordentlich«, erwiderte Pell: »ich bin ganz abgehetzt, wie mein Freund, der verstorbene Lordkanzler, manchesmal zu mir sagte, wenn er aus dem Oberhaus kam, wo man allerhand Fragen an ihn gerichtet hatte. Der arme Mann! Solche Anstrengungen griffen ihn sehr an, und die Fragen pflegten ihm außerordentlich ans Herz zu gehen. Ich glaubte wirklich mehr als einmal, er müsse unter der Last seiner Arbeiten notwendig erliegen.«

Hier schüttelte Herr Pell den Kopf und hielt inne, worauf der ältere Herr Weller seinen Nachbar mit dem Ellbogen stieß, um ihn auf die hohen Verbindungen des Anwalts aufmerksam zu machen, und fragte, ob die eben erwähnten Amtsgeschäfte irgend bleibende nachteilige Wirkungen auf das Befinden seines edlen Freundes hervorgebracht hätten.

»Ja«, versetzte Pell, »ich glaube, er hat sich nie mehr ganz davon erholt; sie haben ihm gewiß den Rest gegeben. ›Pell‹, pflegte er oft zu mir zu sagen, ›wie zum Henker Sie all diese Kopfarbeiten aushalten können, das ist mir ein wahres Rätsel.‹ – ›So wahr ich lebe‹, pflegte ich ihm zu antworten, ›ich begreife es selbst nicht.‹ – ›Pell‹, setzte er dann seufzend hinzu, indem er mich mit ein wenig Neid – einem freundschaftlichen Neid, müssen Sie wissen, meine Herren, einem reinen, freundschaftlichen Neid, an dem nichts Böses war – ansah, ›Pell, Sie sind ein wahrer Wundermann.‹ O, meine Herren, Sie hätten ihn gewiß auch sehr liebgehabt, wenn Sie ihn gekannt hätten. Heda, liebes Kind, bringen Sie mir doch für drei Pence Rum.«

Während Herr Pell diese letzte Bemerkung im Tone unterdrückten Schmerzes an die Kellnerin richtete, seufzte er, sah auf seine Schuhe hinab, dann zur Decke hinauf, und da der Rum inzwischen angekommen war, trank er ihn aus.

»Indes«, sagte Pell, indem er einen Stuhl an den Tisch rückte, »ein Geschäftsmann hat kein Recht, an seine Privatfreundschaften zu denken, wenn sein juristischer Beistand verlangt wird. Beiläufig gesagt, meine Herren, seit ich Sie das letztemal hier sah, haben wir ein sehr trauriges Ereignis zu beweinen gehabt.«

Herr Pell zog ein Taschentuch heraus, als er an das Wort »Weinen« kam, machte aber keinen weiteren Gebrauch davon, als daß er ein Tröpfchen Rum, das an seiner Oberlippe hängengeblieben war, damit abwischte.

»Ich habe es im Anzeiger gelesen, Herr Weller«, fuhr Pell fort. »Gütiger Gott, nicht mehr als zweiundfünfzig Jahre! Wahrhaftig – wenn ich nur daran denke.«

Diese Pröbchen von Nachdenklichkeit wurden an den pausbäckigen Mann gerichtet, der seine Augen zufällig auf Herrn Pell geheftet hatte, worauf der pausbäckige Mann, dessen Furcht vor Geschäftssachen im allgemeinen neblichter Natur war, sich unruhig auf seinem Sitze bewegte und seine Meinung dahin aussprach, daß er auf diese Art nicht einsehe, wie die Sachen weiter gefördert werden könnten: eine Bemerkung, die, da sie einen jener spitzfindigen Vorschläge in sich schloß, denen beim Disputieren schwer zu begegnen ist, von niemanden bekämpft wurde.

»Ich habe gehört, daß sie eine sehr schöne Frau gewesen, Herr Weller«, sagte Pell im Tone des Mitgefühls.

»Ja, Sir, das war sie«, erwiderte der ältere Herr Weller, dem diese Art, von der Sache zu sprechen, nicht sehr behagte, obgleich er fest glaubte, der Anwalt müsse von seiner langen vertrauten Bekanntschaft mit dem verstorbenen Lordkanzler her am besten wissen, was guter Ton sei. »Sie war eine sehr schöne Frau, Sir, als ich Sie kennenlernte. Sie war damals eine Witwe.«

»Nun, das ist doch sonderbar«, sagte Pell, mit kummervollem Lächeln um sich blickend; »meine Frau war ebenfalls eine Witwe.«

»Das ist ja ganz merkwürdig«, meinte der pausbäckige Mann.

»Wirklich ein seltsames Zusammentreffen«, sagte Pell.

»Nicht im geringsten«, bemerkte der ältere Herr Weller verdrießlich. »Es heiraten mehr Witwen als ledige Frauenzimmer.«

»Ganz gut, ganz gut«, sagte Pell; »Sie haben vollkommen recht, Herr Weller. Meine Gemahlin war eine sehr elegante und vollendete Frau. Ihr feiner Anstand war der Gegenstand allgemeiner Bewunderung in unserer Nachbarschaft. Ich war stolz, diese Frau tanzen zu sehen; sie hatte etwas so Festes, so Würdevolles und doch Natürliches in ihrer Bewegung. Ihr Benehmen, meine Herren, war die Einfachheit selbst. Doch gut, gut! Entschuldigen Sie die Frage, Herr Samuel«, fuhr der Anwalt mit gedämpfter Stimme fort. »War Ihre Stiefmutter schlank?«

»Nicht sehr«, antwortete Sam.

»Aber meine Gemahlin war eine schlanke Figur«, sagte Pell, »eine herrliche Frau mit einer edlen Haltung, und einer Nase, meine Herren, ganz dazu geschaffen, zu gebieten und majestätisch zu sein. Sie war mir sehr zugetan – sehr – hatte aber auch sehr vornehme Verwandte, meine Herren: ihrer Mutter Bruder, meine Herren, fallierte um achthundert Pfund als Staatspapierhändler.«

»Schon gut«, sagte Herr Weller, der während dieser Rede etwas unruhig geworden war: »aber gehen wir einmal ans Geschäft.«

Dieses Wort war Musik für Pells Ohren. Er hatte sich immer darüber besonnen, ob wohl ein Geschäft abgemacht werden solle, oder ob man ihn bloß zu einem freundschaftlichen Glas Grog oder einer Bowle Punsch oder sonst einem ähnlichen Achtungsbeweise eingeladen habe; und nun wurde sein Zweifel beseitigt, ohne daß er auf die Lösung desselben im mindesten gedrungen zu haben schien. Seine Augen funkelten, als er den Hut auf den Tisch legte und sagte:

»Was ist es für ein Geschäft? Wozu? – Wünscht einer von den Herren etwas beim Gerichtshof abzumachen? Wir verlangen einen richterlichen Ausspruch; mit einem freundschaftlichen richterlichen Ausspruch ist es geschehen, müssen Sie wissen; wir sind alle zusammen gute Freunde,«

»Das Dokument, Sammy«, sagte Herr Weller, das Testament seinem Sohne fortnehmend, der sich an der ganzen Verhandlung ungemein zu ergötzen schien. »Was wir verlangen, Sir, ist bloß eine Beglaubigung von diesem da.«

»Also eine gerichtliche Abschrift, mein werter Sir«, sagte Pell.

»Meinetwegen, Sir«, versetzte Herr Weller ärgerlich: »das wird wohl auf eines hinauskommen. Wenn Sie nicht verstehen, was ich meine, so werde ich schon andere Leute finden, die es tun.«

»Sie werden doch nicht böse sein, Herr Weller«, sagte Pell bescheiden. »Sie sind der Vollstrecker, wie ich sehe«, fügte er hinzu, indem er seine Augen auf das Papier warf.

»Ja, Sir«, erwiderte Herr Weller.

»Und diese andern Herren sind ohne Zweifel Legatare?« fragte Pell mit einem glückwünschenden Lächeln.

»Nein, Sammy ist der einzige Legatar«, erwiderte Herr Weller; »diese andern Herren sind Freunde von mir, und nur gekommen, um den Handel mit anzusehen: – eine Art Schiedsrichter.«

»Ah«, sagte Pell: »sehr gut. Ich habe durchaus nichts dagegen. Nur muß ich um fünf Pfund Vorschuß bitten, bevor ich anfange.«

Da« Komitee entschied, die fünf Pfund sollten vorgeschossen werden. Herr Weller bezahlte die Summe, und nun fand eine lange Beratung über die Sache im allgemeinen statt, wobei Herr Pell zur vollkommenen Befriedigung der Herren Schiedsrichter den Beweis führte, daß, wenn die Leitung des Geschäftes nicht ihm anvertraut worden wäre, es notwendig schief hätte gehen müssen, aus Gründen, die zwar nicht ganz klar, aber ohne Zweifel genügend waren. Nachdem dieser wichtige Punkt ins reine gebracht war, erfrischte sich Herr Pell auf Kosten der Beteiligten mit einigen guten Bissen, und zwar sowohl mit malzigen, als mit andern geistigen Getränken, worauf sie sich alle zu Doktors Commons begaben.

Am nächsten Tag war ein neuer Besuch in Doktors Commons, wo man viel mit einem zum Zeugen aufgerufenen Hausknecht zu schaffen hatte, der betrunken war und zum großen Ärgernis der Prokuratore und des Bevollmächtigten sich weigerte, andere als profane Eide zu schwören. In der folgenden Woche mußten abermals mehrere Besuche in Doktors Commons gemacht werden, sowie auch einer auf dem Vormundschaftsamt. Es mußten Pacht- und Geschäftsverträge eingehen, dieselben ratifiziert, Inventarien gemacht, Lunche eingenommen. Schmause gehalten und so viele profitable Dinge getan und eine solche Masse Papiere aufgehäuft werden, daß Herr Salomo Pell und der Bursche und der blaue Sack alle miteinander so dick wurden, daß niemand sie für denselben Mann, denselben Burschen und denselben Sack gehalten hätte, die vor wenigen Tagen um die Portugalstraße herumgeschlendert waren.

Nachdem diese wichtigen Angelegenheiten in Ordnung gebracht waren, wurde ein Tag festgesetzt, um die bestimmte Summe in den Fonds anzulegen, was durch Vermittlung des Staatspapiermaklers Wilkins Flasher Esq. in der Nähe der Bank von London geschah. Herr Salomo Pell hatte ihn dazu empfohlen.

Es war das eine festliche Veranlassung, und die beteiligten Personen schmückten sich daher auch angemessen. Herr Weller ließ sein Haar neu frisieren und ordnete seinen Anzug mit besonderer Sorgfalt; der pausbäckige Herr trug in seinem Knopfloch eine prachtvolle Dahlie mit vielen Blütenblättern, und die Röcke seiner zwei Freunde waren mit Loibeersträußen und anderm Immergrün geschmückt. Alle drei trugen den strengsten Festornat, d. h. sie hüllten sich bis ans Kinn ein und zogen so viele Kleider an, wie nur immer möglich war, was seit der Erfindung von Postkutschen bei den Postkutschern von jeher zum Begriff von großer Gala gehört hat und noch gehört.

Herr Pell erschien zur bestimmten Zeit am gewöhnlichen Versammlungsorte, und auch er trug ein paar Handschuhe und ein frisches Hemd, letzteres durch vieles Waschen am Kragen und den Vorderärmeln bedeutend abgescheuert.

»Ein Viertel auf drei«, sagte Pell, auf die Stubenuhr blickend. »Wenn wir ein Viertel danach zu Herrn Flasher kommen, so ist das gerade die beste Zeit.«

»Was würden Sie zu einem Tröpfchen Bier sagen, meine Herren?« meinte der pausbackige Mann.

»Und zu einem bißchen kalten Beefsteaks?« sagte der zweite Kutscher.

»Oder zu ein paar Austern?« fügte der dritte hinzu, der ein heiserer Herr war und von sehr runden Beinen getragen wurde.

»Hört! hört!« sagte Pell, »nur um Herrn Weller gratulieren zu können, daß er nunmehr in den Besitz seines Eigentums gekommen ist. Haha!«

»Vollkommen einverstanden, meine Herren«, erwiderte Herr Weller. »Sammy, läut einmal!«

Sam gehorchte. Der Porter, das kalte Beefsteak, die Austern wurden schnell gebracht, und dem Lunch widerfuhr reichlich Gerechtigkeit. Wo jedermann so tätigen Anteil nahm, da ist es beinahe gehässig, dem einen vor dem andern den Vorzug zu geben, aber wenn ein Individuum größere Fähigkeiten erprobte als ein anderes, so war es der Kutscher mit der heiseren Stimme, der ein ganzes Maß Weinessig zu seinen Austern nahm, ohne die geringste Bewegung zu verraten.

»Herr Pell«, sagte der ältere Herr Weller, ein Glas Branntwein mit Wasser emporhebend, welches Getränk jedem der Herren vorgesetzt wurde, als die Austernschalen entfernt waren: »Herr Pell, es war meine Absicht, bei dieser Gelegenheit die Fonds hochleben zu lassen, aber Samuel hat mir ins Ohr geflüstert –«

Hier rief Herr Samuel Weller, der mit ruhigem Lächeln schweigend seine Austern verzehrt hatte, mit sehr lauter Stimme: »Hört!«

– »Hat mir ins Ohr geflüstert«, fuhr sein Vater fort, »daß es schicklicher sein würde, das Glas auf Ihre Gesundheit und Ihr Wohlergehen zu trinken und Ihnen so für die Art zu danken, wie Sie dieses Geschäft da zustande gebracht haben. Also auf Ihr Wohl, Sir!«

»Aufgepaßt, meine Herren!« fiel der pausbackige Gentleman mit plötzlicher Energie ein; »schauen Sie einmal mich an, meine Herren!«

So sprechend, erhob sich der pausbackige Gentleman, und die andern Gentlemen erhoben sich auch. Der pausbackige Gentleman überschaute die Gesellschaft und streckte langsam seine Hand empor, worauf jeder der Herren (mit Einschluß des Pausbackigen) tief Atem holte und sein Glas an seine Lippen hob. In einem Augenblick drückte der pausbackige Gentleman seine Hand wieder herab, und sämtliche Gläser wurden leer auf den Tisch gestellt. Es ist unmöglich, die durchdringende Wirkung dieser bedeutsamen Zeremonie zu beschreiben – so würdevoll, feierlich und eindrücklich vereinigte sie alle Elemente des Großartigen in sich.

»Nun gut, meine Herren!« begann jetzt Herr Pell, »alles, was ich sagen kann, ist, daß solche Beweise von Vertrauen einem Geschäftsmanne im höchsten Grade erfreulich sein müssen. Ich möchte nicht gerne etwas sagen, was nach Selbstlob riechen könnte, meine Herren, aber um Ihrer selbst willen bin ich herzlich froh, daß Sie zu mir gekommen sind und damit Punktum. Wären Sie zu irgendeinem geringen Mitglied meines Standes gegangen, so ist es meine feste Überzeugung, und ich versichere es Ihnen wie eine Tatsache, daß Sie bald auf den Holzweg geführt worden wären. Ich möchte nur wünschen, mein edler Freund wäre noch am Leben gewesen, um meine Behandlung dieses Falles sehen zu können. Das sage ich nicht aus Stolz, aber ich denke – doch meine Herren, ich möchte Sie damit nicht langweilen. Ich bin in der Regel hier zu finden, meine Herren, aber wenn ich auch einmal nicht anwesend oder auf der Reise bin, so ist hier meine Adresse. Sie werden meine Bedingungen sehr wohlfeil und billig finden. Niemand ist tätiger für seine Klienten als ich, und ich hoffe von meinem Geschäfte etwas zu verstehen. Wenn Sie Gelegenheit haben, mich irgendeinem Freunde zu empfehlen, meine Herren, so werde ich Ihnen sehr verbunden sein, und Ihre Freunde werden es Ihnen ebenfalls danken, wenn sie mich einmal kennenlernen. Ihre Gesundheit, meine Herren!«

Mit dieser Darlegung seiner Gefühle legte Herr Salomo Pell Herrn Wellers Freunden drei kleine beschriebene Karten vor, sah dann wieder auf die Uhr und sagte, es sei Zeit zu gehen. Auf diese Andeutung hin bezahlte Herr Weller die Rechnung, und Testamentsvollstrecker, Erben, Advokaten und Schiedsrichter brachen auf, um ihre Schritte nach der City zu richten.

Das Büro des Wilkins Flasher Esq. von der Stockbörse war Parterre in einem Hofe hinter der Bank von England. Das Haus des Wilkins Flasher Esq. war in Brixton, Surrey; das Pferd und der Wagen des Wilkins Flasher Esq. standen in einem Mietstall in der Nähe; der Groom des Wilkins Flasher Esq. war auf dem Weg nach Westend, um einiges Wildpret abzuliefern. Der Schreiber des Wilkins Flasher Esq. war zum Mittagessen gegangen, und so rief Wilkins Flasher Esq. in eigener Person »herein«, als Herr Pell mit seinen Begleitern an die Tür des Kontors klopfte.

»Guten Morgen, Sir«, sagte Pell mit höflicher Verbeugung. »Wir möchten gerne eine kleine Übertragung machen, wenn es Ihnen gefällig ist.«

»Ah, schön!« sagte Herr Flasher. »Setzen Sie sich einen Augenblick. Ich werde Ihnen sogleich aufwarten.«

»Danke Ihnen, Sir«, sagte Pell, »es hat keine Eile. Nehmen Sie einen Stuhl, Herr Weller.«

Herr Weller nahm einen Stuhl, Sam nahm eine Kiste und die Schiedsrichter nahmen, was sie bekommen konnten und besahen sich den Kalender wie auch ein paar an die Wand geklebte Papiere mit so offenbarer Ehrfurcht, als ob es die schönsten Ausführungen alter Meister gewesen wären.

»Nun gut, ich wette ein halb Dutzend Flaschen Bordeaux: schlagen Sie ein«, sagte Wilkins Flasher Esq., die Unterhaltung wieder aufnehmend, die durch Herrn Pells Eintritt eine augenblickliche Unterbrechung erlitten hatte.

Diese Worte waren an einen sehr eleganten jungen Gentleman gerichtet, der seinen Hut auf seinem rechten Backenbart liegen hatte und, nachlässig über ein Pult hingestreckt, mit einem Lineal Mücken totschlug. Wilkins Flasher Esq. wiegte sich mit beiden Beinen auf einem Schreibbock, eine Oblatendose mit einem Federmesser durchspießend, das er dann und wann mit großer Gewandtheit gerade in den Mittelpunkt einer kleinen roten Oblate fallen ließ, die außen angeklebt war. Die beiden Gentlemen trugen sehr weit offenstehende Westen und sehr weit zurückgeschlagene Kragen, sehr kleine Stiefel und sehr dicke Ringe, sehr kleine Uhren und sehr große Uhrketten, knapp anliegende Hosen und duftende Taschentücher.

»Ich wette nie ein halbes Dutzend«, sagte der andere Gentleman. »Ein ganzes Dutzend muß es sein.«

»Gilt, Simmery, gilt!« sagte Wilkins Flasher Esq.

»Aber sogleich zu bezahlen«, bemerkte der andere.

»Versteht sich«, erwiderte Wilkins Flasher Esq.

Und Wilkins Flasher Esq. trug es in ein kleines Büchlein mit einer goldenen Bleistiftröhre ein, und der andere Gentleman trug es ebenfalls in ein anderes kleines Büchlein mit einer anderen goldenen Bleistiftröhre ein.

»Ach, da lese ich eben etwas über diesen Boffer«, bemerkte Herr Simmery. »Der arme Teufel wird heute aus dem Hause gejagt.«

»Ich wette zehn Guineen gegen fünf, daß er sich den Hals abschneidet«, sagte Wilkins Flasher Esq.

»Gilt!« erwiderte Herr Simmery.

»Halt!« sagte Wilkins Flasher Esq. gedankenvoll. »Vielleicht henkt er sich auch.«

»Auch gut«, meinte Herr Simmery, die goldene Bleistiftröhre wieder herausziehend. «Ich nehme die Wette auch so an. Sagen wir also – er macht seinem Leben ein Ende.«

»Er tötet sich selbst«, sagte Wilkins Flasher Esq.

»Ganz recht«, erwiderte Herr Simmery, es aufschreibend. »Flasher, zehn Guineen gegen fünf, Boffer tötet sich selbst. Binnen welcher Zeit wollen wir sagen?«

»Binnen vierzehn Tagen etwa«, versetzte Wilkins Flasher Esq.

»Gott bewahre, nein«, antwortete Herr Simmery, einen Augenblick innehaltend, um eine Mücke mit dem Lineal zu zerquetschen. »Sagen Sie eine Woche.«

»Wir wollen halbwegs zusammenkommen«, sagte Wilkins Flasher Esq., »und zehn Tage machen.«

»Gut, also zehn Tage«, erwiderte Herr Simmery.

Es wurde somit in die kleinen Büchlein eingetragen, daß Boffer binnen zehn Tagen sich selbst töten werde, oder Wilkins Flasher Esq. habe an Frank Simmery Esq. die Summe von zehn Guineen zu bezahlen: wenn sich aber Boffer binnen dieser Zeit selbst töte, so habe dagegen Frank Simmery Esq. an Wilkins Flasher Esq. fünf Guineen zu bezahlen.

»Es tut mir doch sehr leid«, sagte Wilkin« Flasher Esq., »daß er bankerott ist. Er hat so prächtige Diners gegeben.«

»Und so einen herrlichen Portwein gehalten«, bemerkte Herr Simmery. »Wir werden morgen unsern Kellermeister in die Auktion schicken, um etwas von seinem Vierundsechziger zu erstehen.«

»Fatal!« sagte Wilkin» Flasher Esq. »Der meinige geht auch hin. Fünf Guineen, daß mein Mann den Ihrigen überbietet.«

»Gilt!«

Es wurde ein neuer Eintrag mit den goldenen Bleistiftröhren in die kleinen Büchlein gemacht, und nachdem Herr Simmery sämtliche Mücken getötet und sämtliche Wetten aufgezeichnet hatte, begab er sich auf die Börse, um zu sehen, was dort vor sich gehe.

Jetzt ließ sich Wilkins Flasher Esq. herab, Herrn Salomo Pells Instruktionen zu empfangen, und nachdem er einige gedruckte Schemata ausgefüllt, ersuchte er die Gesellschaft, ihn auf die Bank zu begleiten, was diese auch tat. Herr Weller und seine drei Freunde starrten alles, was sie sahen, mit namenlosem Erstaunen an, Sam dagegen besichtigte jedes Ding mit einer Kälte, die nichts zu stören vermochte.

Sie kamen über einen Hofraum, wo großer Lärm und viel Geschäftigkeit war, sodann an ein paar Portiers vorbei, deren Kleidung der roten Feuerspritze glich, die in einen Winkel gebracht war, und traten sofort in ein Büro, wo das Geschäft abgemacht werden sollte, und wo Pell und Herr Flasher sie einige Augenblicke stehen ließen, indes sie selbst die Treppen hinauf auf das Vormundschaftsamt gingen.

»Was ist das für ein Platz?« flüsterte der pausbackige Gentleman dem älteren Herrn Weller zu.

»Das Konsolsbüro«, erwiderte der Testamentsvollstrecker flüsternd.

»Was sind das für Herren, die hinter den Tischen sitzen?« fragte der heisere Kutscher.

»Reduzierte Konsols ohne Zweifel«, erwiderte Herr Weller. »Sind das nicht die reduzierten Konsols, Samuel?«

»Ei, meint Ihr denn, die reduzierten Konsols seien lebendig?« fragte Sam mit einiger Verachtung.

»Wie kann ich das wissen«, erwiderte Herr Weller; »ich glaubte einmal, sie sehen so aus. Was sind sie denn?«

»Schreiber«, erwiderte Sam.

»Warum essen sie denn alle Schinken?« fragte sein Vater.

»Vermutlich, weil es zu ihrem Amte gehört«, erwiderte Sam: »es ist ein Teil des Systems und sie tun es den ganzen Tag.«

Herr Weller und seine Freunde hatten kaum einen Augenblick Zeit, über diese sonderbare, mit dem Münzsystem des Landes zusammenhängende Einrichtung nachzudenken, als Pell und Wilkins Flasher Esq. wieder zu ihnen kamen und sie an einen der Tische führten, über dem sich ein schwarzes rundes Brett mit einem großen W befand.

»Wozu ist das, Sir?« fragte Herr Weller, Pells Aufmerksamkeit auf das genannte Schild lenkend.

»Das ist der Anfangsbuchstabe der Verstorbenen«, erwiderte Pell.

»Ich sage nur«, sagte Herr Weller, sich an die Schiedsrichter wendend, »da steckt etwas Schlimmes dahinter. W ist unser Anfangsbuchstabe – so geht die Sache nicht.«

Die Schiedsmänner sprachen sich mit Bestimmtheit dahin aus, man könne unter dem Buchstaben W nicht gesetzlich in dem Geschäfte fortfahren, und aller Wahrscheinlichkeit nach wäre dasselbe zum mindesten noch um einen Tag hinausgeschoben worden, ohne das rasche, wiewohl auf den ersten Anblick nicht eben pflichtmäßige Benehmen Sams, der seinen Vater an den Rockschößen ergriff, an den Schreibtisch zog und daselbst so lange festhielt, bis er seine Unterschrift auf ein paar Bogen Papier gesetzt hatte, was bei Herrn Wellers Gewohnheit zu drucken so viel Arbeit und Zeit erforderte, daß der diensttuende Schreiber inzwischen drei große Apfel schälte und zerschnitt.

Da der ältere Herr Weller darauf bestand, seinen Anteil unverzüglich zu verkaufen, so begaben sie sich von der Bank aus nach dem Tore der Stockbörse, wo Wilkins Flasher Esq. nach kurzer Abwesenheit mit einem Wechsel auf Smith, Payen und Smith im Betrage von fünfhundertunddreißig Pfund zu ihnen zurückkehrte. Diese Summe hatte Herr Weller nach dem Marktpreis des Tages anzusprechen, hinsichtlich des Ausgleichs durch die von der zweiten Frau Weller angelegten Gelder. Sams zweihundert Pfund standen auf seinen Namen eingetragen, und Wilkins Flasher Esq. ließ, als man ihn für seine Bemühungen bezahlte, das Geld nachlässig in seine Rocktasche gleiten, worauf er nach seinem Büro zurückschlenderte.

Herr Weller war im Anfang hartnäckig entschlossen, seinen Wechsel bloß gegen Guineen auswechseln zu lassen. Als ihm aber die Schiedsrichter vorstellten, daß er einen kleinen Sack kaufen müßte, um sie nach Hause zu bringen, ließ er es sich gefallen, den Betrag in Fünfpfundnoten anzunehmen.

»Mein Sohn«, sagte Herr Weller, als sie von der Bank weggingen: »mein Sohn und ich haben heute nachmittag ein ganz besonderes Geschäft, und es wäre mir lieb, wenn wir diese Sache vorher ins reine brächten; wir wollen daher jetzt irgendwo hingehen und die Rechnungen nochmals überprüfen.«

Es war bald ein ruhiges Zimmer ausfindig gemacht, und die Rechnungen wurden hervorgezogen und geprüft. Herrn Pells Konto wurde von Sam taxiert, und einige Ansätze von den Schiedsrichtern gestrichen: aber trotz Herrn Pells Erklärungen und vielfachen feierlichen Versicherungen, daß man zu hart mit ihm umgehe, war dies doch in manchen Beziehungen das beste Geschäft, das er je gemacht hatte, denn er bestritt mit dem Betrag desselben sechs Monate lang Kost, Wohnung und Wäsche.

Nachdem die Schiedsrichter noch an einem Abschiedstrunk teilgenommen, schüttelten sie einander die Hände und reisten ab, da sie sämtlich noch vor Abend die Stadt verlassen mußten. Herr Salomo Pell nahm ebenfalls, sobald er sah, daß es nichts mehr zu essen und zu trinken gab, aufs freundschaftlichste Abschied, so daß Sam und sein Vater jetzt allein waren.

»Nun hätten wir also«, sagte Herr Weller, seine Brieftasche in seine Seitentasche steckend, »außer den Rechnungen für den Mietkontrakt und solche Geschichten elfhundertundachtzig Pfund beisammen. Jetzt, Samuel, kehre um und fahre nach dem Georg und Geier, mein Junge.«

Siebenundfünfzigstes Kapitel


Siebenundfünfzigstes Kapitel

Eine wichtige Beratung findet statt zwischen Herrn Pickwick und Samuel Weller, wobei sein Vater zugegen ist. – Ein alter Herr in schnupftabakfarbenen Kleidern tritt unerwartet auf.

Herr Pickwick saß allein auf seinem Zimmer und sann über mancherlei Dinge, besonders aber darüber nach, wie er am besten für das junge Paar sorgen könne, dessen gegenwärtige unsichere Lage für ihn ein Gegenstand ständiger Sorge und Unruhe war, als Marie schnell hereintrippelte, bis an den Tisch vorlief und hastig sagte:

»Ach, Sir, erlauben Sie, Samuel ist unten und fragt, ob er Sie mit seinem Vater besuchen dürfe.«

»Ja, warum nicht?« erwiderte Herr Pickwick.

»Danke Ihnen, Sir«, sagte Marie wieder auf die Tür zutrippelnd.

»Ist Sam schon lange hier?« fragte Herr Pickwick.

»Ach nein, Sir«, erwiderte Marie eifrig. »Er ist soeben erst nach Hause gekommen. Er sagt, er werde Sie von jetzt an um keinen Urlaub mehr bitten, Sir.«

Marie mochte selbst gefühlt haben, daß sie diese letzte Mitteilung mit mehr Wärme gemacht hatte, als eben notwendig war, oder hatte sie vielleicht das gutmütige Lächeln bemerkt, womit Herr Pickwick sie ansah, als sie mit ihrem Vortrag zu Ende war. Soviel ist gewiß, sie ließ den Kopf sinken und betrachtete den Zipfel ihrer sehr artigen kleinen Schürze mit weit mehr Aufmerksamkeit, als unumgänglich erforderlich schien.

»Sagen Sie ihnen, sie können immerzu sogleich heraufkommen«, sagte Herr Pickwick.

Marie, der es offenbar viel leichter ums Herz war, eilte mit ihrer Botschaft fort.

Herr Pickwick ging zwei- oder dreimal im Zimmer auf und ab, und schien, indem er sich mit der linken Hand das Kinn rieb, wie er gerne zu tun pflegte, in Gedanken verloren zu sein.

»Ja, ja«, sagte Herr Pickwick endlich in einem freundlichen, aber etwas wehmütigen Ton, »das ist die beste Art, wie ich ihn für seine Anhänglichkeit und Treue belohnen kann: so sei es denn in Gottes Namen. Es ist nun einmal das Los eines alten einsamen Mannes, daß seine Umgebungen neue und andere Verbindungen anknüpfen und ihn verlassen. Ich habe kein Recht, zu erwarten, daß es mit mir anders sein sollte. Nein, nein«, fügte er ein wenig heiterer hinzu, »es wäre selbstsüchtig und undankbar von mir. Ich muß mich freuen, eine Gelegenheit zu haben, ihn so gut zu versorgen, und ich freue mich auch wirklich.«

Herr Pickwick war dermaßen in diese Betrachtungen versunken, daß das Klopfen an seine Tür drei- oder viermal wiederholt werden mußte, bevor er es hörte. Er setzte sich schnell, raffte sich zu seinem gewöhnlichen freundlichen Blick wieder auf, gab die gewünschte Erlaubnis, und Sam Weller trat in Begleitung seines Vaters herein.

»Freut mich, dich wiederzusehen, Sam«, sagte Herr Pickwick. »Wie geht es Ihnen, Herr Weller?«

»Recht gut, danke Ihnen, Sir«, erwiderte der Witwer? »und Sie sind hoffentlich auch wohl, Sir?«

»O ja, ich danke Ihnen«, erwiderte Herr Pickwick.

»Ich möchte gern ein paar Wörtchen mit Ihnen sprechen, Sir, wenn Sie etwa fünf Minuten für mich erübrigen könnten«, sagte Herr Weller.

»Ei, warum nicht?« erwiderte Herr Pickwick. »Sam gib deinem Vater einen Stuhl.«

»Dank dir, Samuel: habe schon einen«, sagte Herr Weller, einen Sessel holend. »Ein außerordentlich schöner Tag heute«, setzte der alte Herr hinzu, indem er seinen Hut auf den Boden legte, während er sich setzte.

»Ja, sehr schön«, erwiderte Herr Pickwick. »Sehr angenehm.«

»Das angenehmste Wetter, das ich je gesehen habe, Sir«, versetzte Herr Weller.

Hier wurde der alte Herr von einem heftigen Husten befallen, und als dieser vorüber war, nickte er mit dem Kopfe, winkte und nickte bittend seinem Sohn zu, der aber hartnäckig darauf nicht reagierte.

Als Herr Pickwick die Verlegenheit des alten Herrn bemerkte, stellte er sich, als wäre er beschäftigt, ein neben ihm befindliches Buch aufzuschneiden, und wartete geduldig, bis Herr Weller mit dem Zweck seines Besuches herausrücken würde.

»Einen so gottlosen Buben, wie du bist, habe ich Tag meines Lebens nicht gesehen, Samuel«, sagte Herr Weller endlich mit einem unwilligen Blick auf seinen Sohn.

»Was tut er denn, Herr Weller?« fragte Herr Pickwick.

»Er will nicht anfangen, Sir«, erwiderte Herr Weller, »und weiß doch, daß ich mich nicht ausdrücken kann, wenn etwas Besonderes zu sagen ist: und da steht er nun und sieht mich da sitzen und Ihnen Ihre kostbare Zeit wegnehmen, macht mich zur komischen Figur, daß ich mich schämen muß, und kommt mir mit keiner Silbe zur Hilfe. Das ist kein kindliches Benehmen, Samuel«, fuhr Herr Weller fort, indem er sich die Stirn abwischte: »nein, das ist es gar nicht.«

»Ihr habt ja gesagt, Ihr wolltet selber sprechen«, erwiderte Sam: »wie konnte ich wissen, daß Ihr schon fertig sein würdet, noch ehe Ihr angefangen?«

»Du hättest es wohl sehen können, daß ich steckenblieb«, entgegnete sein Vater: »ich bin auf den falschen Weg gekommen und in Gräben und alle möglichen Lumpereien hineingeraten, und du streckst keine Hand aus, um mir zu helfen. Ich schäme mich deiner, Samuel.«

»Die Sache ist die, Sir«, sagte Sam mit einer leichten Verbeugung: »mein Vater hat sein Geld an sich gezogen.«

»Sehr gut, Samuel, sehr gut«, sagte Herr Weller, zufrieden mit dem Kopfe nickend: »ich habe es nicht so bös gemeint, Sammy. Sehr gut. So muß man anfangen: dann kommt man auf einmal ans Ziel. Sehr gut, in der Tat, Samuel.«

Herr Weller nickte im Übermaß seiner Befriedigung außerordentlich oft mit dem Kopfe und wartete voll Spannung, wie Sam seinen Bericht fortsetzen würde.

»Setz dich doch, Sam«, sagte Herr Pickwick, der fürchtete, die Zusammenkunft möchte leicht länger werden, als er erwartet hatte.

Sam verbeugte sich abermals und setzte sich: sein Vater blickte sich stolz um und der Sohn fuhr fort:

»Der Alte hat fünfhundertunddreißig Pfund an sich gezogen, Sir.«

»Reduzierte Konsols«, fiel Herr Weller senior in leiserem Tone ein.

»Daran liegt nicht viel, ob es reduzierte Konsols sind oder nicht«, sagte Sam: »funfhundertunddreißig Pfund ist die Summe, nicht wahr?«

»Ganz richtig, Samuel«, erwiderte Herr Weller.

»Zu dieser Summe kommt noch einiges für das Haus und das Geschäft –«

»Mietzins, Vergütung, Kapital, Niet- und Nagelfestes«, mischte sich Herr Weller ein.

»– So daß die ganze Summe elfhunderdundachtzig Pfund beträgt«, fuhr Sam fort.

»Wirklich?« sagte Herr Pickwick. »Das freut mich: ich gratuliere Ihnen, Herr Weller, daß Sie soviel zusammengebracht haben.«

»Warten Sie noch eine Minute, Sir«, sagte Herr Weller und hob bittend die Hand. »Fahre fort, Samuel!«

»Dies Geld da«, sagte Sam mit einigem Zögern, »dies Geld da möchte er nun irgendwo unterbringen, wo er es sicher weiß, und ich wünsche es auch sehr, denn wenn er es behält, so wird er es entweder ausleihen oder in Pferde stecken, oder seine Brieftasche irgend einmal verlieren, oder auf die eine oder andere Art sich selbst zu einer ägyptischen Mumie machen.«

»Sehr gut, Samuel«, bemerkte Herr Weller in so wohlgefälligem Tone, als ob Sam die höchsten Lobsprüche auf seine Klugheit und Vorsicht erhoben hätte. »Sehr gut.

»Aus diesen Gründen nun«, fuhr San» fort, heftig am Rande seines Hutes zupfend, »aus diesen Gründen nun hat er heute sein Geld an sich gezogen und ist mit mir hierher gekommen, um zu sagen, – um wenigstens anzubieten, oder mit andern Worten, um –«

»Und das zu sagen«, fiel der alte Herr Weller ungeduldig ein, »daß ich da« Geld nicht brauchen kann. Ich habe im Sinn, wieder eine regelmäßige Postkutsche zu führen und weiß keinen Ort, wo ich es aufbewahren soll, außer ich wollte den Schaffner dafür bezahlen, daß er acht darauf gibt, oder es in eine Kutschentasche stecken, was für die Passagiere drinnen eine große Versuchung sein würde. Wenn Sie es mir aufbewahren wollten, Sir, so würde ich Ihnen gar sehr verbunden sein. Vielleicht«, setzte Herr Weller bei, indem er Herrn Pickwick näher trat und ihm ins Ohr flüsterte, »vielleicht könnte es Ihnen ein bißchen dienen, wegen Ihrer Prozeßkosten. Ich will nur, daß Sie es solange behalten, bis ich es Ihnen wieder abfordere.«

Mit diesen Worten legte Herr Weller die Brieftasche in Herrn Pickwicks Hände, ergriff seinen Hut und rannte mit einer Geschwindigkeit zum Zimmer hinaus, die man von einem so wohlbeleibten Manne kaum hätte erwarten sollen.

»Halt ihn, Sam!« rief Herr Pickwick eifrig. »Spring ihm nach und bring ihn augenblicklich zurück. Herr Weller – aber bitte! – Kommen Sie zurück!«

Sam sah ein, daß den Befehlen seines Herrn der Gehorsam nicht verweigert werden durfte: er ergriff daher seinen Vater am Arm, als dieser die Treppe hinab wollte und schleppte ihn mit Gewalt zurück.

»Mein lieber Freund«, sagte Herr Pickwick, den alten Herrn bei der Hand fassend, »Ihr ehrliches Vertrauen rührt mich.«

»Ich sehe ganz und gar keinen Grund dazu, Sir«, erwiderte Herr Weller hartnäckig.

»Ich versichere Sie, mein lieber Freund, ich habe mehr Geld, als ich jemals bedarf, weit mehr, als ein Mann in meinem Alter je noch verbrauchen kann«, sagte Herr Pickwick.

»Niemand weiß, wieviel er brauchen kann, bis er es probiert hat«, bemerkte Herr Weller.

»Mag sein«, erwiderte Herr Pickwick. »Da ich aber durchaus keine Lust habe, solche Experimente anzustellen, so werde ich wahrscheinlich nicht leicht in Not kommen. Ich muß Sie daher bitten, Ihre Wechsel zurückzunehmen, Herr Weller.«

»Schon gut«, sagte Herr Weller mit sehr unzufriedenem Blick. »Doch merk‘, was ich dir sage, Sammy: ich werde mit diesem Gelde da etwas Verzweifeltes anfangen, etwas ganz Verzweifeltes!«

»Laßt das lieber bleiben«, erwiderte Sam.

Herr Weller besann sich einige Zeit, knöpfte dann mit großer Entschiedenheit seinen Rock auf und sagte:

»Ich will einen Schlagbaum pachten23«

»Was?« rief Sam.

»Einen Schlagbaum«, murmelte Herr Weller durch seine Zähne; »ich will Schlagbaumwärter werden. Nimm Abschied von deinem Vater, Samuel: ich widme den Rest meiner Tage einem Schlagbaum.«

Diese Drohung war so schrecklich, und Herr Weller schien so fest entschlossen, sie auszuführen, und durch Herrn Pickwicks Weigerung dermaßen gekränkt zu sein, daß dieser Herr nach kurzem Bedenken sagte:

»Nun gut, Herr Weller, ich will das Geld annehmen. Ich kann vielleicht mehr Gutes damit tun als Sie.«

»Eben das meine ich auch«, rief Herr Weller aufstrahlend: »Sie können es freilich, Sir.«

»Sprechen Sie nicht mehr davon«, sagte Herr Pickwick, die Brieftasche in sein Pult verschließend: »ich bin Ihnen herzlich verbunden, mein lieber Freund. Jetzt aber setzen Sie sich wieder, ich möchte Sie um Ihren Rat fragen.«

Das durch den großartigen Erfolg seines Besuches herbeigeführte innere Lachen, das nicht nur Herrn Wellers Gesicht, sondern auch seine Arme, Beine und seinen ganzen Leib erschüttert hatte, während seine Brieftasche eingeschlossen wurde, wich plötzlich der würdevollsten Gravität, als er diese Worte hörte.

»Sam, warte draußen ein paar Minuten«, sagte Herr Pickwick.

Sam zog sich sogleich zurück.

Herr Weller blickte ungemein weise und äußerst verwundert drein, als Herr Pickwick das Gespräch mit den Worten eröffnete:

»Sie sind, glaube ich, kein Verteidiger des Ehestandes?«

Herr Weller schüttelte den Kopf. Er war schlechterdings nicht imstande zu sprechen, denn unbestimmte Gedanken, es möchte irgendeine ruchlose Witwe mit ihren Plänen bei Herr Pickwick Erfolg gehabt haben, lähmten seine Zunge.

»Haben Sie vielleicht zufällig ein junges Mädchen unten gesehen, als Sie mit Ihrem Sohne kamen?«

»Ja – ich sah ein junges Ding«, erwiderte Herr Weller kurz.

»Was halten Sie von ihr? Aufrichtig gesprochen, Herr Weller, wie gefiel sie Ihnen?«

»Sie ist sehr stattlich und gut gebaut«, sagte Herr Weller mit kritischer Miene.

»Ja, das ist sie«, sagte Herr Pickwick: »ein recht hübsches Mädchen. Und wie hat Ihnen ihr Benehmen gefallen, soviel Sie von ihr gesehen haben?«

»Sie ist sehr angenehm«, erwiderte Herr Weller, »sehr angenehm und konform.«

Die eigentliche Bedeutung, die Herr Weller an diese letzte Bezeichnung knüpfte, war nicht so ganz klar; doch ging aus seinem Tone hervor, daß es ein günstiger Ausdruck war, und Herr Pickwick war daher ebenso damit zufrieden, als wenn er eine vollkommen klare Antwort erhalten hätte.

»Ich interessiere mich sehr für sie, Herr Weller«, sagte Herr Pickwick.

Herr Weller hustete.

»Das heißt«, fuhr Herr Pickwick fort, »ich interessiere mich insofern für sie, daß ich wünsche, es möchte ihr recht gut und glücklich ergehen. Sie verstehen mich?«

»Vollkommen«, erwiderte Herr Weller, der aber noch nicht das mindeste verstand.

»Diese junge Person«, sagte Herr Pickwick, »ist in Ihren Sohn verliebt.«

»In Samuel Weller?« rief der Vater.

»Ja«, sagte Herr Pickwick.

»Es ist natürlich«, sagte Herr Weller nach einigem Bedenken: »es ist natürlich, aber doch beunruhigend. Sammy soll sich nur in acht nehmen.«

»Wieso?« fragte Herr Pickwick.

»Ja er muß sich in acht nehmen, daß er nichts zu ihr sagt«, anwortete Herr Weller. »Er muß sich sehr in acht nehmen, daß er sich nicht in einem unschuldigen Augenblick verleiten läßt, etwas zu sagen, das zu einer Klage wegen Eheversprechens führen könnte. Man ist bei den Frauenzimmern niemals sicher, Herr Pickwick. Wenn sie einmal Absichten auf einen haben, so halten sie einen fest, ehe man daran denkt. So habe ich mich selbst das erstemal verheiratet, Sir, und Sammy war die Folge von dem Fehltritt.«

»Sie ermutigen mich nicht sehr bei dem, was ich sagen will«, bemerkte Herr Pickwick; »doch muß es einmal sein. Diese junge Person ist nicht nur in Ihren Sohn verliebt, Herr Weller, sondern Ihr Sohn ist auch in sie verliebt.«

»Schön«, sagte Herr Weller, »das sind ja saubere Sachen für eines Vaters Ohren.«

»Ich habe sie bei verschiedenen Gelegenheiten beobachtet«, fuhr Herr Pickwick fort, ohne von Herrn Wellers letzter Bemerkung weitere Notiz zu nehmen, »und ich hege nicht den mindesten Zweifel darüber. Wenn ich ihnen nun für irgendein kleines Geschäft oder eine Stellung sorgen wollte, wo sie anständig miteinander leben könnten, was würden Sie dazu sagen, Herr Weller?«

Im Anfang nahm Herr Weller mit allerhand Hin und Her den Vorschlag auf, der die Verheiratung eines Menschen bezweckte, für den er sich immerhin interessierte. Als aber Herr Pickwick näher mit ihm auf die Sache einging und großen Nachdruck auf das Faktum legte, daß Marie keine Witwe sei, so wurde er allmählich zugänglicher, und Herr Pickwick bekam großen Einfluß auf ihn. Auch war ihm Mariens Äußeres ausnehmend nett vorgekommen, und er hatte ihr bereits einige Male sehr unväterlich zugeblinzelt. Endlich sagte er, es würde ihm schlecht anstehen, sich Herrn Pickwicks Wünschen zu widersetzen, und er werde mit Freuden seinen Rat befolgen, worauf Herr Pickwick ihn fröhlich beim Worte nahm und Sam wieder hereinrief.

»Sam«, sagte Herr Pickwick sich räuspernd, »dein Vater und ich haben soeben von dir gesprochen.«

»Ja, von dir, Samuel«, sagte Herr Weller in eindrucksvollem Gönnerton.

»Ich bin nicht so blind, Sam«, fuhr Herr Pickwick fort, »um nicht schon geraume Zeit bemerkt zu haben, daß du gegen das Kammermädchen der Frau Winkle etwas mehr als freundschaftliche Gefühle hegst.«

»Hörst du, Samuel?« sagte Herr Weller in demselben richterlichen Tone wie zuvor.

»Ich hoffe, Sir«, antwortete Sam, sich an seinen Herrn wendend: »ich hoffe, daß Sie nichts Böses darin finden werden, wenn ein junger Mann seine Augen auf ein junges Frauenzimmer wirft, das ganz unbestreitbar hübsch aussieht und sich gut aufführt.«

»Sicherlich nicht«, sagte Herr Pickwick.

»Nein, nicht im geringsten«, stimmte Herr Weller in freundlichem, aber dennoch würdevollem Tone ein.

»Ich bin«, fuhr Herr Pickwick fort, »weit entfernt, an einem so natürlichen Benehmen etwas Unrechtes zu finden, daß ich vielmehr, deinen Wünschen in dieser Beziehung entgegenzukommen und sie zu fördern beabsichtige. Ich habe soeben mit deinem Vater eine kleine Unterredung darüber gehabt, und da ich finde, daß er meiner Meinung ist –«

»Weil nämlich das Frauenzimmer keine Witwe ist«, fiel Herr Weller erläuternd ein.

»Ja, weil das Frauenzimmer keine Witwe ist«, sagte Herr Pickwick lächelnd. »Ich wünsche also, dich von dem Zwang zu befreien, den dir deine gegenwärtige Stellung auferlegt, und dir meine Dankbarkeit für deine Treue und viele vortreffliche Eigenschaften dadurch zu beweisen, daß ich dich in den Stand setze, das Mädchen zu heiraten und für dich selbst mit einer Familie ein unabhängiges Leben zu führen. Ich werde stolz darauf sein, Sam«, fügte Herr Pickwick hinzu, dessen Stimme bisher ein wenig gebebt hatte, jetzt aber ihren gewöhnlichen Ton wieder annahm, »ich werde stolz darauf sein und mich glücklich schätzen, deine künftigen Aussichten im Leben zum Gegenstand meiner dankbaren und ganz besonderen Sorgfalt zu machen.«

Auf einige Augenblicke trat eine kurze Stille ein, dann aber sagte Sam mit etwas leiser und dumpfer, jedoch fester Stimme:

»Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Güte, Sir, die Ihnen ganz gleich sieht; aber es kann nicht sein.«

»Kann nicht sein?« rief Herr Pickwick erstaunt.

»Samuel!« sprach Herr Weller mit Würde.

»Ich sage, es kann nicht sein«, wiederholte Sam in lauterem Tone. »Was würde denn aus Ihnen werden, Sir?«

»Du bist ein guter Kerl!« erwiderte Herr Pickwick: »aber die neuerlichen Veränderungen unter meinen Freunden werden auch meine künftige Lebensweise ganz verändern: überdies werde ich älter und bedarf der Ruhe und Stille. Mein unruhiges, von Reisen erfülltes Leben ist zu Ende, Sam.«

»Das kann man noch nicht so bestimmt sagen«, meinte Sam. »Sie denken jetzt zwar so, aber wenn es Ihnen einmal wieder anders einfiele, was nicht unwahrscheinlich ist, denn Sie haben immer noch die Munterkeit eines Fünfundzwanzigers – was sollte dann aus Ihnen werden ohne mich? Es geht nicht, Sir, es geht nicht.«

»Sehr gut, Samuel, das ist einmal gescheit gesprochen«, sagte Herr Weller ermutigend.

»Ich spreche nach langer Überlegung, Sam, und mit der Gewißheit, daß ich mein Wort halten werde«, sagte Herr Pickwick, den Kopf schüttelnd. »Neue Schauplätze sind mir verschlossen: mein vagabundierendes Leben ist zu Ende.«

»Mag sein«, erwiderte Sam. »Aber eben das ist der beste Grund, warum Sie immer jemand bei sich haben müssen, der Sie versteht, Sie aufheitert und in eine gute Laune versetzt. Wenn Sie einen seineren, abgeschliffeneren Diener brauchen, – ganz recht: so nehmen Sie einen: aber mit oder ohne Lohn, mit oder ohne Anerkennung, mit oder ohne Wohnung, mit oder ohne Kost – Sam Weller, den Sie aus dem alten Wirtshause in Borough aufnahmen, bleibt bei Ihnen, es mag kommen, was da will: und wenn es noch so schlimm geht und die Leute noch so hart mit mir verfahren, nichts soll mich daran verhindern.«

Am Schluß dieser Erklärung, die Sam mit großer Bewegung gemacht hatte, sprang Herr Weller von seinem Sitze auf, vergaß alle Rücksichten auf Zeit, Ort und Schicklichkeit, schwenkte seinen Hut über dem Kopfe und brach in drei stürmische Hurras aus.

»Mein guter Junge«, sagte Herr Pickwick, als Herr Weller etwas beschämt über seinen Enthusiasmus sich wieder gesetzt hatte, »du mußt aber das junge Frauenzimmer doch auch bedenken.«

»Ich bedenke das junge Frauenzimmer immer wohl, Sir«, sagte Sam. »Ich habe das junge Frauenzimmer bedacht, ich habe mit ihr gesprochen, ich habe ihr gesagt, wie meine Lage ist: sie ist bereit zu warten, bis ich sie heiraten kann, und ich glaube auch, daß sie es tun wird. Tut sie es nicht, so ist sie nicht das junge Frauenzimmer, wofür ich sie halte, und ich lasse sie mit Vergnügen fahren. Sie haben mich schon vorher gekannt, Sir. Mein Entschluß ist gefaßt, und nichts kann ihn jemals ändern.«

Wer möchte gegen solche Gesinnungen anzukämpfen? Herr Pickwick einmal nicht. Er empfand in diesem Augenblick mehr Stolz und Wonne über die uneigennützige Anhänglichkeit seiner niedriggestellten Freunde, als zehntausend Freundschaftsversicherungen von den vornehmsten Leuten in seinem Herzen hätten erwecken können.

Während in Herrn Pickwicks Zimmer diese Unterhaltung vor sich ging, erschien unten ein kleiner alter Herr in schnupftabakfarbenen Kleidern, gefolgt von einem Träger mit einem kleinen Koffer; er bestellte sich ein Bett für die Nacht und fragte dann den Kellner, ob eine Frau Winkle hier wohne. Der Kellner bejahte.

»Ist sie allein?« fragte der kleine alte Herr.

»Ich glaube ja, Sir«, erwiderte der Kellner; »ich kann indessen ihr Kammermädchen rufen, Sir, wenn Sie –«

»Nein, ich brauche das nicht«, sagte der alte Herr schnell. »Führen Sie mich in ihr Zimmer, ohne mich anzumelden.«

»Wieso, Sir?« fragte der Kellner.

»Sind Sie taub?« fragte der kleine alte Herr.

»Nein, Sir.«

»Nun, so hören Sie mich gefälligst an. Können Sie mich jetzt anhören?«

»Ja, Sir.«

»Nun gut, so zeigen Sie mir der Frau Winkle Zimmer, ohne mich anzumelden.«

Während der kleine alte Herr diesen Befehl aussprach, ließ er fünf Schilling in die Hand des Kellners gleiten und sah ihn fest an.

»Wahrhaftig, Sir«, sagte der Kellner: »ich weiß wirklich nicht, Sir, ob – –«

»Ach, ich sehe schon. Sie wollen es tun«, sagte der kleine alte Herr. »Tun Sie es deshalb lieber gleich, dann sparen wir Zeit.«

Es lag etwas so Ruhiges und Gesammeltes im ganzen Benehmen des alten Herrn, daß der Kellner die fünf Schilling einsteckte und ihn ohne weitere Worte die Treppe hinaufführte.

»Dies ist also das Zimmer?« fragte der Herr. »Nun, so können Sie gehen.«

Der Kellner tat es, indem er sich sehr verwunderte, wer wohl der Herr sein möge und was er wolle; der kleine alte Herr wartete, bis er verschwunden war, und klopfte dann an die Tür.

»Herein!« rief Arabella.

»Hm! jedenfalls eine hübsche Stimme«, murmelte der kleine alte Herr, »doch das will noch nichts heißen.«

So sprechend, öffnete er die Tür und ging hinein. Arabella die gerade bei einer weiblichen Arbeit saß, erhob sich beim Anblick eines Fremdlings in einiger Verwirrung, die ihr aber allerliebst stand.

»Bitte, lassen Sie sich nicht stören, Madame«, begann der Unbekannte, hineintretend und die Tür hinter sich schließend. »Frau Winkle, wie ich glaube?«

Arabella neigte den Kopf.

»Frau Nathaniel Winkle, die den Sohn des alten Winkle von Birmingham geheiratet hat?« sagte der Fremde, Arabella mit sichtlicher Neugier betrachtend.

Arabella nickte abermals mit dem Köpfchen und blickte unruhig um sich, wie wenn sie sich besänne, ob sie nicht um Hilfe rufen solle.

»Wie ich sehe, habe ich Sie überrascht, Madame?« sagte der alte Herr.

»Ich kann es nicht leugnen«, erwiderte Arabella, sich immer mehr wundernd.

»Wenn Sie gestatten, setze ich mich, Madame«, sagte der Fremde.

Er setzte sich, zog sein Brillenfutteral aus der Tasche, nahm nachlässig eine Brille heraus und setzte sie auf seine Nase.

»Sie kennen mich nicht, Madame?« sagte er, Arabella so scharf ins Auge fassend, daß sie sich unheimlich zu fühlen begann.

»Nein, Sir«, antwortete sie schüchtern.

»Also wirklich nicht?« sagte der Herr, auf sein linkes Bein klopfend. »Ich wüßte auch nicht, woher Sie mich kennen sollten. Doch kennen Sie vielleicht meinen Namen, Madame?«

»Bitte um Verzeihung«, sagte Arabella zitternd, obgleich sie kaum wußte, warum. »Darf ich Sie vielleicht darum bitten?«

»Sogleich, Madame, sogleich«, sagte der Unbekannte, der seine Augen noch nicht von ihrem Gesicht abgewandt hatte. »Sie haben sich erst vor kurzem verheiratet, Madame?«

»Ja«, erwiderte Arabella in einem kaum hörbaren Ton, indem sie ihre Arbeit beiseite legte und sehr aufgeregt zu werden begann, als ein Gedanke, der ihr schon vorher gekommen war, sich ihr immer stärker aufdrängte.

»Ohne Ihrem Gemahl vorgestellt zu haben, daß es sich ziemen würde, seinen Vater, von dem er abhängig ist, zuerst um Rat zu fragen, nicht wahr?« sagte der Fremde.

Arabella hielt ihr Tuch vor die Augen.

»Ohne sich auch nur die Mühe zu nehmen, durch irgendeine indirekte Anfrage in Erfahrung zu bringen, wie der alte Mann über eine Sache denkt, die ihn natürlich in hohem Grade interessieren muß?« fuhr der Fremde fort.

»Ich kann es nicht leugnen, Sir«, sagte Arabella.

»Und ohne Vermögen genug zu besitzen, Ihrem Gemahl ein hinlängliches Auskommen zu verschaffen und ihn für die zeitlichen Vorteile zu entschädigen, die ihm natürlich nicht entgangen wären, wenn er den Wünschen seines Vaters gemäß geheiratet hätte«, setzte der alte Gentleman hinzu. »Knaben und Mädchen nennen dies uneigennützige Neigung, bis sie selbst Knaben und Mädchen haben und dann die Sache in einem trüben, ganz andern Lichte betrachten.«

Arabellas Tränen flossen reichlich, als sie zur Entschuldigung anführte, sie sei jung und unerfahren; Neigung allein habe sie zu diesem Schritte verleitet, und sie habe beinahe von Kindheit an den Rat sowie die Leitung ihrer Eltern entbehren müssen.

»Es war unrecht«, sagte der alte Herr in milderem Tone: »sehr unrecht. Es war romantisch, eines Geschäftsmannes unwürdig, töricht.«

»Es ist meine Schuld, ganz meine Schuld, Sir«, versetzte die arme Arabella weinend.

»Unsinn!« sagte der alte Herr, »gewiß war es nicht Ihre Schuld, daß er sich in Sie verliebte. Und doch ist es so«, fügte der alte Herr hinzu, indem er Arabella etwas schalkhaft anblicke, »und doch war es Ihre Schuld: er konnte nicht anders.«

Dieses kleine Kompliment oder des kleinen Herrn sonderbare Art, es zu machen, oder sein verändertes Benehmen – um vieles freundlicher, als im Anfang – oder all diese drei Umstände zusammen nötigten Arabella mitten unter ihren Tränen ein Lächeln ab.

»Wo ist denn Ihr Mann?« fragte der alte Herr schnell, ein Lächeln unterdrückend, das eben sein Gesicht überfliegen wollte.

»Ich erwarte ihn in jedem Augenblick«, sagte Arabella. »Ich sprach ihm zu, heut? früh einen Spaziergang zu machen. Er ist sehr niedergeschlagen und unglücklich, weil sein Vater nichts von sich hören läßt.«

»Niedergeschlagen?« fragte der alte Herr. »Geschieht ihm recht.«

»Ich fürchte, er ist es meinetwegen«, sagte Arabella: »und in der Tat, Sir, ich fühle es auch sehr schwer, denn ich bin allein schuld an seiner gegenwärtigen Lage.«

»Lassen Sie es sich um seinetwegen nicht so zu Herzen gehen, meine Liebe«, sagte der alte Herr. »Es geschieht ihm recht. Es freut mich – freut mich in der Tat, so weit es ihn betrifft.«

Kaum waren diese Worte über die Lippen des alten Herrn gekommen, als man die Treppe herauf Fußtritte hörte, die er und Arabella im selbigen Augenblick zu erkennen schienen. Der kleine Herr wurde blaß, gab sich indessen viele Mühe, ruhig zu erscheinen, und stand auf, als Herr Winkle ins Zimmer trat.

»Vater!« rief Herr Winkle, indem er verblüfft zurückprallte.

»Ja, Sir«, versetzte der kleine alte Herr. »Nun, Sir, was haben Sie mir zu sagen?«

Herr Winkle blieb still.

»Sie schämen sich hoffentlich Ihrer selbst, Sir?« fuhr der alte Herr fort.

Herr Winkle sprach immer noch nichts.

»Schämen Sie sich Ihrer selbst, Sir, oder schämen Sie sich nicht?« fragte der alte Herr.

»Nein, Vater«, erwiderte Herr Winkle, Arabellas Arm in den seinigen legend. »Ich schäme mich weder meiner selbst, noch meiner Frau.«

»Wirklich?« rief der alte Herr ironisch.

»Es tut mir sehr leid, etwas getan zu haben, was Ihre Neigung für mich verringert hat«, sagte Herr Winkle: »zugleich aber muß ich erklären, daß ich keinen Grund habe, mich dieser Frau zu schämen, und Sie ebensowenig, sich einer solchen Tochter zu schämen.«

»Gib mir die Hand, Nathaniel«, sagte der alte Herr mit veränderter Stimme. »Küssen Sie mich, mein liebe« Kind, Sie sind in der Tat ein allerliebstes Schwiegertöchterchen.«

Nach wenigen Minuten ging Herr Winkle auf Herrn Pickwicks Zimmer, kam mit diesem Herrn zurück und stellte ihn seinem Vater vor, worauf sie einander fünf Minuten lang ununterbrochen die Hände schüttelten.

»Herr Pickwick, ich danke Ihnen aufs herzlichste für all Ihre Freundschaft gegen meinen Sohn«, sagte der alte Herr Winkle mit seinem offenen, biderben Wesen. »Ich bin ein bißchen kurz angebunden, und als ich Sie das letztem«! sah, war ich ärgerlich und zu sehr überrascht. Ich habe mir nun die Sache überlegt und bin mehr als zufrieden. Soll ich noch mehr Entschuldigungen vorbringen, Herr Pickwick?«

»O keineswegs«, erwiderte Herr Pickwick. »Sie haben getan, was allein noch zur Vollendung meines Glücke« fehlte.«

Hierauf folgte ein neues fünf Minuten langes Händeschütteln, begleitet von einer Unmasse komplimentierender Redensarten, die. abgesehen von der darin sich beurkundenden Höflichkeit, auch noch die weitere und ganz neue Empfehlung hatten, aufrichtig gemeint zu sein.

Sam hatte seinen Vater pflichtgemäß nach Belle Sauvage begleitet, und auf dem Rückwege begegnete er im Hof dem fetten Jungen, der ein Billett von Emilie Wardle zu überbringen gehabt halte.

»Ich sage mir«, begann Joe, der ungewöhnlich redselig war; »ich sage nur, was diese Marie für ein hübsches Mädchen ist – nicht wahr, Sam? Ich bin ganz verliebt in sie.«

Herr Weller gab hierauf keine Erwiderung mit Worten, sondern ganz verblüfft über diese Vermessenheit, betrachtete er den fetten Jungen nur einen Augenblick, packte ihn dann am Rockkragen bis an die nächste Ecke und entließ ihn mit einem harmlosen, aber durchaus förmlichen Fußtritt, worauf er pfeifend ins Haus ging.

  1. Das Gewerbe der »Zöllner« galt damals für verächtlich. Die Drohung seines Vaters, Zöllner werden zu wollen und einen Schlagbaum zu pachten, muß daher den biedern Sam sehr erschrecken

Achtundfünfzigstes Kapitel.


Achtundfünfzigstes Kapitel.

In dem der Pickwick-Klub endlich aufgelöst wird und alles zur allgemeinen Zufriedenheit endet.

Eine ganze Woche lang nach der glücklichen Ankunft des Herrn Winkle von Birmingham waren Herr Pickwick und Sam Weller den ganzen Tag über von Haus abwesend und kehrten nur zum Mittagessen zurück, wobei sie ein geheimnisvolles, wichtiges Wesen zur Schau trugen, das ihren Naturen sonst ganz fremd war! Offenbar waren sehr ernste und ereignisschwere Dinge am Werk, über deren bestimmten Charakter allerhand Vermutungen schwebten. Einige – und unter ihnen Herr Tupman – waren geneigt, zu glauben, Herr Pickwick beabsichtige eine eheliche Verbindung: aber diese Idee wurde von den Damen aufs entschiedenste verworfen. Andere neigten sich der Ansicht zu, er trage sich mit einem großen Reiseprojekt und beschäftige sich gegenwärtig mit den vorläufigen Anordnungen dazu. Aber das wurde entschieden von Sam selbst verneint, der auf die Kreuz- und Querfragen seiner Marie unzweideutig erklärte, es würden keine neuen Reisen mehr unternommen. Endlich, als sich der ganze Freundeskreis sechs Tage lang durch fruchtlose Vermutungen das Gehirn abgemartert hatte, wurde einhellig beschlossen, Herrn Pickwick zur Erklärung seines Benehmens aufzufordern und ihn geradezu zu fragen, warum er sich auf diese Art von der Gesellschaft seiner ihn bewundernden Freunde zurückziehe.

In dieser Absicht lud Herr Wardle den ganzen Zirkel zum Mittagessen in die Adelphi ein, und man stellte die große Frage, als die Flaschen zweimal die Runde gemacht hatten.

»Wir sind allesamt sehr begierig, zu erfahren«, begann der alte Herr, »was wir Ihnen zuleide getan haben, daß Sie sich so gänzlich von uns absondern und immer diese einsamen Spaziergänge machen.«

»Möchten Sie es wirklich wissen?« fragte Herr Pickwick. »Merkwürdig, daß ich gerade heute im Sinn hatte, mich von freie» Stücken darüber zu erklären: geben Sie mir noch ein Glas Wein, so will ich Ihre Wißbegierde befriedigen.«

Die Flaschen gingen mit ungewohnter Schnelligkeit von Hand zu Hand, und Herr Pickwick fuhr, indem er mit vergnügtem Lächeln die Gesichter seiner Freunde nacheinander anschaute, also fort:

»Die Veränderungen, die in unserm Kreise stattgefunden haben, ich meine die bereits eingetretene und die demnächst bevorstehende Hochzeit nebst den Wandlungen, die notwendig daraus erfolgen werden, haben mich genötigt, ernstlich an einen künftigen Lebensplan für mich zu denken. Ich beschloß, mich in eine hübsche Gegend in der Nähe von London zur Ruhe zurückzuziehen und fand da ein Haus, das meinen Wünschen gänzlich entspricht. Ich habe es gemietet und wohnlich eingerichtet, so daß ich kommen kann, wann ich will. Ich gedenke nun in der nächsten Zeit meinen Einzug zu halten und hoffe noch manches friedliche Jährchen in stiller Zurückgezogenheit daselbst zuzubringen, während meines Lebens erfreut durch die Gesellschaft meiner Freunde, und nach meinem Tode fortlebend in ihrer liebevollen Erinnerung.«

Hier hielt Herr Pickwick inne, und ein leises Gemurmel lief rings um die Tafel.

»Das Haus, das ich gemietet habe«, sprach Herr Pickwick weiter, »liegt in Dulwich: es hat einen großen Garten und befindet sich in einer der reizendsten Gegenden von Londons Umgebung. Es ist die größte Aufmerksamkeit darauf verwendet worden, es so behaglich wie möglich, vielleicht auch ein bißchen elegant einzurichten! doch darüber sollen Sie selbst urteilen. Sam begleitet mich dahin. Ich habe auf Perkers Vorstellung eine Haushälterin in Dienst genommen – eine sehr alte Person – und werde noch so viele andere Domestiken annehmen, wie diese für nötig hält. Ich möchte nun mein kleines Idyll durch irgendeine Festlichkeit, die ich sehr gern feiern würde, eingeweiht sehen. Wenn mein Freund Wardle nichts dagegen hat, so möchte ich ihn bitten, die Vermahlung seiner Tochter in meinem neuen Hause an demselben Tage vollziehen zu lassen, wo ich Besitz davon nehme. Das Glück junger Leute«, sagte Herr Pickwick ein wenig bewegt, »war von jeher die größte Freude meines Lebens. Es wird mir das Herz erwärmen, unter meinem eigenen Dache Zeuge des Glückes meiner Freunde zu sein.«

Herr Pickwick hielt abermals inne: Emilie und Arabella schluchzten laut.

»Ich habe«, begann Herr Pickwick aufs neue, »dem Klub sowohl mündliche als schriftliche Mitteilungen gemacht und ihn von meinen Absichten in Kenntnis gesetzt. Er hat während unserer Abwesenheit viel durch innere Zwistigkeiten gelitten, und die Zurückziehung meines Namens, verbunden mit diesen und andern Umständen, hat seine Auflösung herbeigeführt. Der Pickwick-Klub existiert nicht mehr.«

»Ich werde es niemals bereuen«, setzte Herr Pickwick mit leiserer Stimme hinzu – »ich werde es niemals bereuen, daß ich mich beinahe zwei volle Jahre hindurch unter verschiedenen Gattungen und Schattierungen des menschlichen Charakters umhergetrieben habe, so töricht meine Abenteuersucht auch vielen erschienen sein mag. Fast mein ganzes früheres Leben war Geschäften und trockenem Gelderwerb gewidmet, jetzt aber bin ich mit zahlreichen Szenen bekannt geworden, von denen ich früher keine Ahnung gehabt hatte – und ich hoffe, daß sich mein geistiger Gesichtskreis dadurch erweitert und meinen Verstand mehr ausgebildet hat. Wenn ich nur wenig Gutes getan habe, so glaube ich doch, noch weniger Böses getan zu haben, und hoffe, daß meine sämtlichen Abenteuer mir am Abend meines Lebens nur eine Quelle angenehmer und ergötzlicher Erinnerungen sein werden. Gott segne euch alle.«

Bei diesen Worten füllte und leerte Herr Pickwick mit bebender Hand sein Glas; seine Augen feuchteten sich, als sämtliche Freunde sich wie verabredetermaßen erhoben und ihm von ganzem Herzen Bescheid taten.

Zur Vermählung des Herrn Snodgraß waren nur noch sehr wenige Vorbereitungen erforderlich. Da er weder Vater noch Mutter, und während seiner Minderjährigkeit unter Herrn Pickwicks Vormundschaft gestanden hatte, so kannte dieser seine Vermögens- und sonstigen Umstände aufs genaueste. Wardle war mit seiner Auskunft über beides vollkommen zufrieden; wie denn der gute alte Herr in dieser Zeit, wo er von Heiterkeit und Zärtlichkeit überfloß, fast mit allem zufrieden gewesen wäre. Emilien wurde eine hübsche Mitgift ausgesetzt und der vierte Tag zur Vermählung anberaumt; eine Eilfertigkeit, die drei Putzmacherinnen und einen Schneider bis an den Rand des Verrücktwerdens brachte.

Der alte Wardle nahm am folgenden Tage Postpferde, um seine Mutter nach der Stadt zu bringen. Da er der alten Dame diese Nachricht mit seinem charakteristischen Ungestüm mitteilte, so fiel sie augenblicklich in Ohnmacht, kam aber sehr bald wieder zu sich, befahl, das durchwirkte Seidenkleid einzupacken, und fing an, verschiedene Umstände ähnlicher Art, die sich bei der Verheiratung der ältesten Tochter der verstorbenen Lady Tollimglower zugetragen, herzuzählen, womit sie nach drei vollen Stunden noch nicht zur Hälfte fertig war.

Frau Trundle mußte ebenfalls von den gewaltigen Vorbereitungen zu London in Kenntnis gesetzt werden, und da sie sich in einem zarten Gesundheitszustände befand, so erfolgte die Mitteilung durch Herrn Trundle selbst, damit ihr die Überraschung nicht schaden möchte. Allein sie schadete ihr keineswegs: denn sie schrieb sogleich nach Muggleton, bestellte sich eine neue Haube und ein schwarze« Atlaskleid und erklärte, unter allen Umstanden an der Hochzeitsfeier teilnehmen zu wollen. Herr Trundle ließ den Arzt rufen, und der Arzt sagte, Frau Trundle müsse am besten wissen, wie sie sich befinde, worauf Frau Trundle erwiderte, sie fühle sich vollkommen stark genug und habe einmal ihren Kopf darauf gesetzt, mitzugehen, worauf wiederum der Arzt, der ein weiser und verständiger Arzt war, und wußte, was sowohl für ihn selbst als für andere Leute gut war, erklärte, wenn Frau Trundle zu Hause bliebe und sich ärgerte, so würde ihr dies vielleicht mehr schaden, als wenn sie ginge, und deshalb würde sie vielleicht besser daran tun, mitzureisen. Sie reiste also wirklich mit, nachdem ihr der Arzt mit gewissenhafter Sorgfalt ein halbes Dutzend Arzneiflaschen zugesandt hatte, die sie unterwegs austrinken sollte.

Zu den Aufträgen, die Herr Wardle bekommen hatte, gehörte auch die Besorgung zweier Briefchen an zwei junge Dämchen, die die Brautjungfern vorstellen sollten und durch diese Einladung in Verzweiflung gerieten, denn sie jammerten, sie hätten gar keine Sachen in Bereitschaft für ein so wichtiges Geschäft und könnten sich in der kurzen Zeit auch nicht mehr damit versehen: ein Umstand, der den beiden würdigen Papas der beiden jungen Dämchen nicht ganz unerfreulich zu sein schien. Indessen wurden alte Kleider neu zugestutzt, neue Hauben gemacht, und die jungen Dämchen sahen darin so gut aus, wie man von ihnen nur erwarten konnte; da sie überdies während der Trauung bei den geeigneten Stellen weinten und immer zur rechten Zeit zitterten, so erwarben sie sich die Bewunderung sämtlicher Zuschauer.

Wie die zwei armen Bäschen nach London kamen, ob zu Fuß, zu Wagen oder zu Pferd, ist unbekannt. Jedenfalls aber trafen sie vor Wardle ein, und die ersten Leute, die an dem Hochzeitsmorgen an Herrn Pickwicks Haustür anklopften, waren die zwei armen Bäschen, hochaufgedonnert und voll Freundlichkeit.

Sie wurden indessen aufs herzlichste bewillkommt, denn Reichtum und Armut hatten keinen Einfluß auf Herrn Pickwick. Die neuen Diener waren die Munterkeit und Bereitwilligkeit selbst; Sam befand sich in der unvergleichlichsten Festlaune, und Marie glänzte von Schönheit und prächtigen Bändern.

Der Bräutigam, der sich schon zwei oder drei Tage vorher im Hause aufgehalten hatte, fuhr stattlich angetan in die Dulwicher Kirche, begleitet von Herrn Pickwick, Ben Allen, Bob Sawyer und Herrn Tupman, auch Sam Weller nicht zu vergessen, der im Knopfloch eine weiße Bandschleife, ein Geschenk der Dame seines Herzens trug, und überdies in einer neuen, prachtvollen, ausdrücklich für den Tag erfundenen Livree prangte. Sie trafen dort Herrn und Frau Wardle, Herrn und Frau Winkle, Braut und Brautjungfern und Herrn und Frau Trundle! und nach beendigter Feierlichkeit rasselten sämtliche Kutschen zum Frühstück nach Herrn Pickwicks Hause, wo der kleine Herr Perker sie bereits erwartete.

Nachdem sich hier die leichten Wolken des ernsteren und feierlichen Teils der Tagesereignisse zerteilt hatten, erglänzten alle Gesichter von Freude, und man hörte nichts als Glückwünsche und Lebehochrufe. Es war alles so schön! Der Grasplatz vor dem Hause, der Garten hinter demselben, das kleine Gewächshaus, das Speise-, das Gesellschafts-, das Rauch- und die Schlafzimmer, vor allem aber das Studierzimmer mit seinen Gemälden, den behaglichen Sesseln, den merkwürdigen Wandschränken, den sonderbar geformten Tischen und zahllosen Büchern, nebst seinem großen heiteren Fenster, das sich gegen einen hübschen Grasplatz hin öffnete und eine reizende Landschaft beherrschte: hübsche Villen im Grün der Bäume; und dann die Vorhänge, die Teppiche, die Stühle und die Sofas – alles war so schön, so sein berechnet, so zierlich und so geschmackvoll, daß jedermann sagte, man wisse wirklich nicht, was am meiste» Bewunderung verdiene.

Und mitten zwischen alledem stand Herr Pickwick, dessen Gesicht von einem seligen Lächeln strahlte, dem das Herz keines Mannes, keiner Frau, keines Kindes widerstehen konnte: er selbst der Glücklichste im ganzen Kreise, immer denselben Leuten wieder die Hände schüttelnd, und wenn die seinigen nicht gerade geschüttelt wurden, sie voll Vergnügen reibend; bei jedem neuen Ausbruch der Freude voll Teilnahme sich überall hinwendend und durch seine wonnestrahlendcn Blicke alle begeisternd.

Das Frühstück wird angekündigt. Herr Pickwick führt die alte Dame, die sehr beredt über das Thema von der Lady Tollimglower gewesen, oben an die lange Tafel hin; Wardle setzt sich an das andere Ende, die Freunde reihen sich auf beiden Seiten, Sam faßt hinter dem Stuhle seines Herrn Posten, das Gelächter und Geplauder hört auf; Herr Pickwick spricht das Tischgebet, schweigt dann einen Augenblick und blickt rund um sich; aber wahrend er das tut, rollen ihm in der Fülle seiner Freundlichkeit die Tränen über die Wangen herab.

Und nun laßt uns von unserm alten Freunde Abschied nehmen – in einem jener Augenblicke ungetrübten Glückes, von denen uns, wenn wir sie nur suchen, immerhin einige zur Erheiterung unseres flüchtigen Daseins beschieden sind. Die Erde hat finstere Schatten, aber der Kontrast hebt ihre Lichtseiten um so stärker hervor. Es gibt Leute, die wie die Fledermäuse und Eulen bessere Augen für die Finsternis haben, als für das Licht; wir, denen solche optische Fähigkeiten nicht gegeben sind, finden mehr Vergnügen daran, den geträumten Gefährten mancher einsamen Stunden unsern letzten Abschiedsblick zuzuwerfen, wenn der kurze Sonnenschein der Welt in vollem Glänze über sie erstrahlt.

 

Es ist das Los der meisten Menschen, die sich in der Welt bewegen und es zu einem gewissen Alter bringen, daß sie sich viele wirkliche Freunde erwerben und sie durch den Lauf der Natur wieder verlieren. Es ist das Los aller Autoren oder Dichter, daß sie sich eingebildete Freunde schaffen und sie im Verlauf der Kunst wieder verlieren. Damit ist indessen das Maß ihres Unglücks noch nicht erschöpft: man verlangt von ihnen auch noch eine umständliche Erzählung, was aus diesen allen geworden ist.

Indem wir uns hiermit dieser unbestreitbaren bösen Gewohnheit fügen, setzen wir noch einige wenige biographische Notizen über die bei Herrn Pickwick versammelte Gesellschaft bei.

Herr und Frau Winkle, von dem alten Herren vollkommen in Gnaden aufgenommen, bezogen bald darauf ein eigenes neugebautes Haus, nur eine halbe Meile von Herrn Pickwick entfernt. Herr Winkle wurde der Cityagent oder Stadtkorrespondent seines Vaters, vertauschte sein altes Kostüm mit der gewöhnlichen Kleidung der Engländer und zeigte hernach immer das Äußere eines zivilisierten Christen.

Herr und Frau Snodgraß ließen sich in Dinglen Dell nieder, wo sie mehr der Beschäftigung als des Gewinn« halber ein kleines Gut kauften und bewirtschafteten. Herr Snodgraß, der zuweilen zerstreut und melancholisch ist, gilt bis auf den heutigen Tag unter seinen Freunden und Bekannten für einen großen Dichter, obgleich wir nicht finden, daß er je etwas geschrieben hätte, was diesen Glauben bestätigen könnte. Wir kennen freilich viele literarische, philosophische und andere Berühmtheiten, deren bedeutender Ruf keinen festeren Boden hat.

Herr Tupman ließ sich, als seine Freunde geheiratet und Herr Pickwick sich zurückgezogen hatte, in Richmond nieder, allwo er bis setzt geblieben ist. In den Sommermonaten geht er beständig auf der Terrasse spazieren, und zwar mit einer jugendlichen Munterkeit, die ihm die Bewunderung all der zahlreichen ältlichen Damen ledigen Standes gewonnen hat, die in der Nähe wohnen. Er hat indessen nie wieder einen Heiratsantrag gemacht.

Herr Bob Sawyer inserierte einige Male in den Zeitungen und ging dann, begleitet von Herrn Benjamin Allen, nach Bengalen, beide als wohlbestellte Chirurgen in Diensten der ostindischen Kompagnie. Sie haben vierzehnmal das gelbe Fieber gehabt und sich endlich zu einiger Enthaltsamkeit entschlossen. Seitdem ergeht es ihnen sehr gut.

Frau Bardell vermietete ihr Haus noch an manchen umgänglichen ledigen Herrn mit großem Profit, hat jedoch seitdem nicht mehr wegen gebrochenen Eheversprechens geklagt. Ihre Anwälte, die Herren Dodson und Fogg, betreiben ihr Geschäft noch immer mit gewohnter Rührigkeit, beziehen ein bedeutendes Einkommen daraus und gelten allgemein für die Schlauesten unter den Schlauen.

Sam Weller hielt sein Wort und blieb noch zwei Jahre unverheiratet. Als nach Verfluß dieser Zeit die alte Haushälterin starb, beförderte Herr Pickwick Marie zu diesem Posten, jedoch unter der Bedingung, Herrn Weller unverweilt zu heiraten, was sie ohne Murren tat. Aus dem Umstand, daß am Tore des Gartens hinter dem Hause zu wiederholten Malen ein paar derbe kleine Buben erblickt worden sind, glauben wir schließen zu können, daß Sam Familie hat.

Der ältere Herr Weller regierte noch zwölf Monate lang eine Postkutsche, bekam aber die Gicht, die ihn nötigte, sich zurückzuziehen. Herr Pickwick hatte den Inhalt seiner Brieftasche so gut für ihn angelegt, daß er eine recht hübsche jährliche Rente besitzt, von der er gemächlich in einem vortrefflichen Gasthause in der Nähe von Shooters Hill lebt. Dort wird er als ein wahres Orakel verehrt; er rühmt sich gewaltig seiner vertrauten Freundschaft mit Herrn Pickwick und hegt fortwährend den unüberwindlichen Widerwillen gegen Witwen.

Herr Pickwick aber wohnt dauernd in seinem neuen Hause und verwendet seine Mußestunden dazu, die Memoiren aufzuzeichnen, die er später dem Sekretär des einst so berühmten Klubs mitteilt. Oder er ist damit beschäftigt, sich von Sam Weller vorlesen zu lassen, dessen Bemerkungen, wie sie sich ihm gerade aufdrängen, Herrn Pickwick stets großes Vergnügen bereiten. Im Anfang wurde er sehr durch die zahlreichen Gesuche der Herren Snodgraß, Winkle und Trundle belästigt, bei ihrer Nachkommenschaft Gevatter zu stehen; allein er hat sich setzt daran gewöhnt und betrachtet diesen Dienst als eine Sache, die sich nun einmal nicht abändern läßt. Er hat niemals Veranlassung gehabt, seine Güte gegen Herrn Jingle zu bereuen; denn sowohl er als Job Trotter sind mit der Zeit würdige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden, haben indessen jede Aufforderung, nach den Schauplätzen ihres früheren Unwesens zurückzukehren, standhaft zurückgewiesen. Herr Pickwick ist etwas kränklich geworden, sein Geist aber hat alle seine Jugendfrische behalten, und man sieht ihn noch häufig die Gemälde in der Dulwicher Galerie betrachten, oder an schönen Tagen in seiner hübschen Nachbarschaft lustwandeln. Die Armen in der Gegend kennen ihn alle und unterlassen es nie, mit großer Ehrerbietung die Hüte abzuziehen, wenn er vorübergeht. Die Kinder vergöttern ihn, und die ganze Nachbarschaft tut es wahrhaftig auch. Er begibt sich alljährlich zu einem großen Familienfest in Herrn Wardles Haus; und, wie überall hin, begleitet ihn auch hier der getreue Sam. Zwischen diesem und seinem Herrn waltet eine feste Anhänglichkeit, der nur der Tod ein Ende machen wird.

 

Fünfunddreißigstes Kapitel


Fünfunddreißigstes Kapitel

Das einzig und allein einem ausführlichen und wahrheitsgemäßen Bericht über die denkwürdige Gerichtsverhandlung in der Sache Bardell gegen Pickwick gewidmet ist.

»Ich möchte nur wissen, was der Obmann der Geschworenen heute gefrühstückt hat«, sagte Herr Snodgraß an dem verhängnisvollen Morgen des 14. Februar, um ein Gespräch anzuknüpfen.

»Nun«, meinte Perker, »ich hoffe, er wird etwas Gutes bekommen haben.«

»Und warum hoffen Sie das?« fragte Herr Pickwick.

»Das ist sehr wichtig, mein lieber Herr, sehr wichtig«, erwiderte Perker; »denn von einem wohlgesättigten, zufriedenen Geschworenen läßt sich etwas Tüchtiges erwarten. Übelgelaunte oder hungrige Geschworene aber, mein lieber Herr, sind schon von vornherein für den Kläger eingenommen.«

»Aber woher mag denn das kommen?« fragte Herr Pickwick, sehr mutlos dareinblickend, »warum sind sie so?«

»Das weiß ich selbst nicht«, erwiderte der kleine Mann gleichgültig; »ohne Zweifel, um Zeit zu sparen. Wenn die Stunde des Mittagessens heranrückt und die Geschworenen sich zurückgezogen haben, zieht der Obmann seine Uhr heraus und sagt: ›Bei Gott, meine Herren, nur noch zehn Minuten bis fünf. Ich speise um fünf Uhr, meine Herren.‹ – ›Ich auch‹, sagt dann einer nach dem andern, bis auf zwei, die um drei Uhr gespeist haben und deshalb schon eher geneigt sind, auszuhalten. Der Obmann lächelt und steckt seine Uhr wieder ein. ›Nun gut, meine Herren, was wollen wir sagen? – Kläger oder Beklagter, meine Herren? – Was mich betrifft, meine Herren, so dächte ich – ich sage: ich dächte – aber Sie brauchen sich dadurch nicht bestimmen zu lassen – ich dächte, der Kläger hat recht.‹ Hierauf erklären sicherlich zwei oder drei andere, sie dächten ebenso, wie es auch wirklich der Fall sein mag, und so kommt leicht ein einstimmiger Beschluß zustande. Zehn Minuten über neun«, fügte der kleine Mann, auf seine Uhr sehend, hinzu. »Es ist Zeit, aufzubrechen, mein lieber Herr; ein gebrochenes Eheversprechen – bei solchen Fällen ist der Gerichtssaal gewöhnlich sehr voll. Sie sollten nach einem Wagen schicken, lieber Herr, sonst kommen wir zu spät.«

Herr Pickwick klingelte alsbald; der Wagen kam, die vier Pickwickier und Herr Perker schlüpften hinein und fuhren nach Guildhald: Sam Weller, Herr Lowten und der blaue Sack folgten in einer Droschke.

»Lowten«, sagte Perker, als sie in die Vorhalle des Gerichtshofs kamen, »führen Sie Herrn Pickwicks Freunde zu den Sitzen der Studenten: Herr Pickwick selbst bleibt besser bei mir. Hierher, lieber Herr, hierher.«

Dabei faßte der kleine Mann Herrn Pickwick am Rockärmel und führte ihn an eine niedrige Bank, gerade unter das Pult des königlichen Prokurators, das zur Bequemlichkeit der Sachwalter angebracht ist, damit sie von hier aus dem Hauptanwalt ins Ohr flüstern können, wenn sie während des Fortgangs der Verhandlung noch einige Instruktionen für nötig erachten. Der großen Masse der Zuschauer sind die hier Sitzenden unsichtbar, da die Bank viel niedriger ist als der Platz für die Anwälte oder für das Publikum. Letzeren kehren sie also den Rücken, dem Richter dagegen das Gesicht zu.

»Dies ist wohl die Zeugenloge?« fragte Herr Pickwick, links auf eine Art Katheder mit messingenem Geländer zeigend.

»Ja, mein lieber Herr«, erwiderte Perker, eine Menge Papiere aus dem blauen Sack hervorziehend, die Lowton soeben zu seinen Füßen niedergelegt hatte.

»Und dort«, fragte Herr Pickwick, auf ein paar Sperrsitze zur Rechten zeigend, »dort sitzen wohl die Geschworenen?«

»Erraten, mein lieber Herr«, erwiderte Perker, auf den Deckel seiner Schnupftabaksdose klopfend.

Herr Pickwick stand in großer Unruhe auf und überschaute den ganzen Saal. Es hatten sich bereits eine bunte Schar von Zuschauern auf der Galerie und zahlreiche Exemplare von Herren mit Perücken auf den Bänken der Anwälte eingefunden, die als eine Körperschaft jene lustige und reiche Mannigfaltigkeit an Nasen und Backenbärten darboten, wodurch der englische Advokatenstand mit Recht so berühmt ist. Diejenigen von den Herren, die einen Prozeß zu führen hatten, trugen die Aktenstücke so sehr wie möglich zur Schau und kratzten sich gelegentlich die Nasen damit, um auf die beobachtenden Blicke der Zuschauer einen starken Eindruck zu machen. Andere, die keine Prozeßinstruktionen aufzuweisen vermochten, trugen gewaltige Oktavbände unter den Armen, mit einem Einband, der unter dem technischen Namen »Juristen-Kalbsleder« bekannt ist. Wieder andere, die weder Akten noch Bücher hatten, steckten ihre Hände in die Taschen und blickten so weise um sich, wie sie ziemlicherweise nur konnten, während noch andere mit großer Unruhe und unendlicher Wichtigtuerei hin- und herliefen, zufrieden, die Bewunderung und das Erstaunen der uneingeweihten Fremdlinge zu erregen. Zu Herrn Pickwicks großer Verwunderung hatte sich die ganze Zunft in kleine Gruppen zerteilt, wo sie so gleichgültig wie möglich über die Tagesneuigkeiten hin und her schwatzten, als ob es sich im Augenblicke nicht über einen bedeutenden Rechtsstreit gehandelt hätte.

Eine Verbeugung von Herrn Phunky, der eintrat und sich hinter die für den königlichen Anwalt bestimmte Bank setzte, zog Herrn Pickwicks Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte sie kaum erwidert, als der Herr Prokurator Snubbin erschien, gefolgt von Herrn Mallard, der einen gewaltigen karmoisinroten Beutel auf den Tisch legte, wodurch der Prokurator beinahe verdeckt wurde. Nachdem er Perker die Hand gedrückt, entfernte er sich. Sodann kamen noch zwei oder drei Prokuratoren herein, und unter ihnen einer mit einem dicken Bauch und einem roten Gesicht, der dem Herrn Prokurator Snubbin freundlich zuwinkte und zu ihm sagte:

»Ein schöner Morgen, heute.«

»Wer ist der Herr mit dem roten Gesicht, der unserm Anwalt zuwinkte und sagte, es sei ein schöner Morgen?« flüsterte Herr Pickwick.

»Das ist der Herr Prokurator Buzfuz«, erwiderte Perker; »der erste Sachwalter unserer Gegenpartei. Der Herr hinter ihm heißt Skimpin und ist sein Assistent.«

Herr Pickwick stand eben im Begriff, mit großem Abscheu vor der kaltblütigen Schlechtigkeit des Mannes zu fragen, wie Herr Prokurator Buzfuz, der Anwalt der Gegenpartei, so unverschämt sein könne, zum Herrn Prokurator Snubbin, seinem eigenen Sachwalter, zu sagen: es sei ein schöner Morgen, als er durch allgemeines Aufstehen der Anwälte und lautes Stillgebot seitens der Gerichtsdiener daran verhindert wurde. Er sah um sich und fand, daß soeben der Richter eingetreten war.

Herr Stareleigh, der an diesem Tage die Stelle des wegen Krankheit abwesenden Lord-Oberrichters einnahm, war ein auffallend kleiner Mann, und dabei so kugelrund, daß man nichts als Gesicht und Bauch zu sehen glaubte. Er watschelte auf zwei kleinen krummen Beinen herein, und nachdem er sich gravitätisch gegen die Advokaten und die Advokaten sich gegen ihn verbeugt hatten, streckte er die kleinen Beine unter den Tisch und legte seinen kleinen dreispitzigen Hut auf den Tisch. Nun aber konnte man nichts mehr von ihm sehen als zwei wunderlich kleine Äuglein und ein breites rosiges Gesicht, das zur Hälfte aus einer großen, höchst possierlichen Perücke hervorblickte.

Kaum hatte der Richter seinen Sitz eingenommen, als ein Gerichtsdiener mit gebieterischem Tone im Saale Schweigen gebot, worauf ein anderer Diener auf der Galerie mit zorniger Stimme »Still!« rief, und sodann drei oder vier andere Stimmen in unwillig tadelndem Tone ebenfalls Ruhe befahlen. Als das geschehen war, rief ein schwarzgekleideter, etwas niedriger als der Richter sitzender Herr die Namen der Geschworenen auf, und nach langem Geschrei ergab es sich, daß nur zehn Mitglieder der Spezial-Jury zugegen waren. Prokurator Buzfuz trug die Wahl von Ersatzmännern an, worauf der schwarzgekleidete Herr zwei Mitglieder der allgemeinen Jury in das Spezial-Geschworenengericht preßte, indem er geradezu einen Gewürzkrämer und einen Apotheker dafür bestimmte.

»Geben Sie Antwort auf den Namenaufruf, meine Herren, damit man Sie vereidigen kann«, sagte der schwarz gekleidete Herr.

»Richard Upwitch!«

»Hier!« sagte der Gewürzkrämer.

»Thomas Groffin!«

»Hier!« erwiderte der Apotheker.

»Nehmen Sie das Buch, meine Herren. Sie wollen gut und gewissenhaft untersuchen – –«

»Ich bitte den Gerichtshof um Nachsicht«, sagte der Apotheker, ein langer, hagerer Mann von gelber Gesichtsfarbe, »aber ich hoffe, der Gerichtshof wird mir dies Geschäft erlassen.«

»Was haben Sie für Gründe, Sir?« fragte der Richter Stareleigh.

»Ich habe keinen Gehilfen, Mylord«, antwortete er.

»Da kann ich nicht helfen, Sir«, erwiderte Herr Stareleigh. »Sie sollten sich einen halten.«

»Ich kann die Kosten nicht erschwingen, Mylord«, versetzte der Apotheker.

»Dann sollten Sie sich Mühe geben, sie erschwingen zu können, Sir«, sagte der Richter und wurde feuerrot: denn sein, nämlich Herrn Stareleighs Temperament war sehr reizbarer Natur, und er konnte keinen Widerspruch ertragen.

»Ich weiß wohl, daß ich es sollte, wenn es mir nach Verdienst erginge,- aber das ist nicht der Fall, Mylord«, antwortete der Apotheker.

»Vereidigen Sie den Herrn«, sagte der Richter gebieterisch.

Der Beamte kam mit der Verlesung der Eidesformel nicht weiter als eben vorhin, denn der Apotheker unterbrach ihn aufs neue.

»Ich soll also vereidigt werden, Mylord?« sagte er.

»Allerdings, Sir«, erwiderte der eigensinnige kleine Richter.

»Sehr gut, Mylord«, sagte der Apotheker in ergebungsvollem Ton. »Aber Sie haben weiter nichts davon, als daß es noch vor Ende der Sitzung einen Mord gibt. Vereidigen Sie mich immerhin, Sir, wenn Sie wollen.«

Und der Apotheker war vereidigt, bevor der Richter noch Worte finden konnte.

»Ich wollte nur noch bemerken, Mylord«, sagte der Apotheker, indem er mit großer Fassung seinen Sitz einnahm, »daß ich niemand, als einen Laufbuben in meinem Laden zurückgelassen habe. Es ist ein recht wackerer Knabe, Mylord, der sich aber auf die Arzneimittel noch nicht ganz versteht, und ich weiß, daß er besonders die Eigenheit hat, Sauerkleesäure für Epsomsalz und Laudanum für Sennessyrup anzusehen. Das ist alles, Mylord.«

Nach dieser Rede setzte sich der lange Apotheker in eine behagliche Stellung, nahm eine zufriedene Miene an und schien auf das Schlimmste gefaßt zu sein.

Herr Pickwick betrachtete ihn eben mit Gefühlen des tiefsten Grauens, als im Hintergrund des Saales eine Bewegung entstand, und unmittelbar darauf wurde Frau Bardell, gestützt auf Frau Cluppins, in einem schmachtenden Zustande hereingeführt und ihr am andern Ende derselben Bank, worauf Herr Pickwick saß, ein Platz angewiesen. Herr Dodson reichte ihr einen Schirm von ungewöhnlicher Größe, Herr Fogg ein paar Überschuhe, und diese beiden Herren hatten für die heutige Sitzung höchst mitleidsvolle und melancholische Gesichter angenommen. Sodann erschien Frau Sanders, die den jungen Bardell hereinführte. Beim Anblick ihres Kindes fuhr Frau Bardell auf, dann aber faßte sie sich schnell wieder und küßte es wie wahnsinnig. Sofort versank die gute Dame aufs neue in einen Zustand hysterischer Stumpfheit und fragte, wo sie denn eigentlich sei? Statt aller Antwort wandten Frau Cluppins und Frau Sanders die Köpfe von ihr ab und weinten, während die Herren Dodson und Fogg die Klägerin baten, sie möchte sich doch beruhigen. Prokurator Buzfuz rieb sich mit einem großen, weißen Taschentuche die Augen beinahe wund und warf einen appellierenden Blick auf die Geschworenen. Der Richter aber schien sichtlich ergriffen zu sein, und mehrere von den Zuschauern versuchten, ihre Rührung hinweg zu husten.

»Wahrhaftig, ein herrlich angelegter Plan«, flüsterte Perker Herrn Pickwick hinzu. »Das sind Haupthähne, dieser Dodson und dieser Fogg; wirklich, eine vortreffliche Effektberechnung, mein lieber Herr.«

Während Perker so sprach, begann Frau Bardell allmählich wieder zu sich zu kommen, während Frau Cluppins den jungen Herrn Bardell nach sorgfältiger Musterung seiner Knöpfe und der Knopflöcher, in die sie gehörten, gerade vor seine Mutter stellte – eine gebietende Stellung, in der er nicht verfehlen konnte, das volle Erbarmen und Mitgefühl sowohl des Richters als der Geschworenen zu erwecken. Das geschah aber nicht ohne bedeutende Widersetzlichkeit. Auch nicht ohne eine Menge Tränen des jungen Herrn, der eine gewisse Ahnung hatte, diese seine unmittelbare Ausstellung vor den Augen der Richter sei bloß ein formelles Vorspiel zu seiner baldigen Hinrichtung oder allerwenigstens zu seiner Strafversendung über das Meer für die ganze Zeit seines leiblichen Lebens.

»Bardell und Pickwick«, rief der schwarzgekleidete Herr, den Prozeß anmeldend, der als der erste auf der Liste stand.

»Ich trete für die Klägerin auf, Mylord«, sagte der Herr Prokurator Buzfuz.

«Wer assistiert Ihnen, Kollege Buzfuz?« fragte der Richter.

Herr Skimpin verbeugte sich zum Zeichen, daß er es sei.

»Ich bin für den Beklagten erschienen, Mylord«, sagte der Herr Prokurator Snubbin.

»Und wer ist Ihr Assistent, Kollege Snubbin?« fragte der Richter.

»Herr Phunky, Mylord«, erwiderte der Advokat.

»Prokurator Buzfuz und Herr Skimpin für die Klägerin«, sagte der Richter, indem er die Namen in sein Notizbuch einschrieb und zugleich vorlas, »für den Beklagten Prokurator Snubbin und Herr Monkey5

»Bitte um Verzeihung, Mylord, Phunky.«

»Ah, sehr gut«, jagte der Richter; »ich hatte noch nie das Vergnügen, den Namen des Herrn zu hören.«

Herr Phunky verbeugte sich und lächelte. Der Richter verbeugte sich ebenfalls und lächelte, und Herr Phunky, der bis in das Weiße seiner Augen rot wurde, suchte sich das Ansehen zu geben, als wisse er nicht, daß alle Augen auf ihn gerichtet seien: ein Bestreben, womit sich noch niemand aus der Verlegenheit geholfen hat und aller Wahrscheinlichkeit nach auch niemand helfen wird.

»Beginnen wir jetzt«, sagte der Richter.

Die Gerichtsdiener geboten abermals Stillschweigen, und Herr Skimpin schritt zur Eröffnung der Verhandlung, Der Fall schien sehr wenig Redestoff darzubieten; denn der Advokat behielt die ihm bekannten besonderen Umstände gänzlich für sich und setzte sich nach drei Minuten wieder, so daß er die Geschworenen ganz auf derselben hohen Stufe der Weisheit ließ, die sie zuvor innehatten.

Prokurator Buzfuz erhob sich sofort mit aller Majestät und Würde, die die ernste Natur der Verhandlung erheischte. Nachdem er Dodson einige Worte zugeflüstert, auch mit Fogg ein wenig konferiert hatte, zupfte er seinen Mantel über die Schultern, machte seine Perücke zurecht und hielt seine Rede an die Geschworenen.

Er begann mit der Erklärung, daß ihm während seiner ganzen Praxis, ja vom ersten Augenblick an, da er sich auf das Studium und die Ausübung des Rechtes gelegt, noch nie ein Fall vorgekommen sei, der ihn so im Innersten ergriffen oder mit einem solch klaren Bewußtsein der auf ihm lastenden Verantwortlichkeit erfüllt habe, – einer Verantwortlichkeit, unter deren Gewicht er erlegen wäre, hätte ihn nicht die feste, ja einer positiven Gewißheit gleichkommende Überzeugung aufrechterhalten, daß die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit, oder mit andern Worten, die Sache seiner schwer verletzten und auf schmähliche Art Hintergangenen Klientin bei den edelgesinnten und einsichtsvollen zwölf Männern, die er vor sich sehe, obsiegen müsse.

Die Sachwalter beginnen in der Regel auf diese Art, weil sie sich dadurch bei den Geschworenen in ein gutes Licht setzen, und ihnen eine ungeheure Meinung von ihrem eigenen Scharfsinn beibringen. Auch hatte diese Einleitung sogleich eine sichtbare Wirkung, denn mehrere Geschworene fingen mit dem größten Eifer an, lange Notizen aufzuzeichnen.

»Sie haben von meinem gelehrten Freunde vernommen«, fuhr Prokurator Buzfuz fort, obgleich er wohl wußte, daß die Herren von der Jury von seinem gelehrten Freunde so gut wie nichts vernommen hatten. »Sie haben von meinem gelehrten Freunde vernommen, meine Herren, daß es sich hier um den Bruch eines Eheversprechens handelt und ein Schadenersatz von 1 500 Pfund verlangt wird. Aber die näheren Tatsachen und Umstände haben Sie von meinem gelehrten Freunde nicht vernommen, wie es meinem gelehrten Freunde auch nicht zukam, sie Ihnen zu sagen. Diese Tatsachen und Umstände, meine Herren, werde ich Ihnen nunmehr ausführlich auseinandersetzen und Ihnen eine unverwerfliche Zeugin vorführen, die sie beweisen wird.«

Um dem Wort »beweisen« einen kraftvollen Nachdruck zu geben, schlug Herr Prokurator Buzfuz gewaltig auf den Tisch und blickte die Herren Dodson und Fogg an, die ihm Bewunderung seines Talents und dem Beklagten eine trotzige Herausforderung zuwinkten.

»Die Klägerin, meine Herren«, fuhr Prokurator Buzfuz mit einer sanften, melancholischen Stimme fort, »die Klägerin ist eine Witwe: ja, meine Herren, eine Witwe. Der selige Herr Bardell schied, nach dem er sich viele Jahre lang als Wächter der königlichen Einkünfte der Achtung und des Vertrauens seines Souveräns erfreut, sanft und lautlos aus dieser Welt, um in einer andern die Ruhe und den Frieden zu suchen, die ein Zollhaus nimmermehr gewähren kann.«

Bei dieser pathetischen Beschreibung vom Abscheiden des Herrn Bardell, der in einem Wirtshauskeller mit einer Bierkanne in den Kopf geschlagen worden war, bebte die Stimme des gelehrten Anwalts, und er fuhr mit großer Rührung also fort:

»Einige Zeit vor seinem Tode erblickte er noch sein Ebenbild in einem Söhnlein, und mit diesem Söhnlein, dem einzigen Liebespfand von ihrem entschlafenen Zollbeamten, zog sich Frau Bardell von der Welt zurück, suchte die Abgeschiedenheit und Ruhe der Goswellstraße, und dort hing sie an ihrem vorderen Fenster eine Anzeige aus, des Inhalts: ›Möblierte Zimmer für einen ledigen Herrn. Zu erfragen drinnen.‹«

Prokurator Buzfuz hielt hier inne, während mehrere Herrn von der Jury sich dieses Dokument aufzeichneten.

»Hatte die Anzeige kein Datum?« fragte einer der Geschworenen.

»Nein, mein Herr«, erwiderte Prokurator Buzfuz, »aber ich bin ermächtigt zu sagen, daß sie gerade vor drei Jahren ans Fenster der Klägerin gesteckt wurde. Ich muß die Aufmerksamkeit der Herren Geschworenen auf die wörtliche Abfassung dieses Dokuments lenken. ›Möblierte Zimmer für einen ledigen Herrn.‹ Frau Bardells Ansichten über das andere Geschlecht gründeten sich auf eine lange Beobachtung der unschätzbaren Eigenschaften ihres verstorbenen Gatten. Sie hatte keine Furcht – sie hegte kein Mißtrauen – sie hegte keinen Verdacht – sie war voll argloser Zuversicht. ›Herr Bardell‹, sagte die Witwe, ›Herr Bardell war ein Mann von Ehre – Herr Bardell war ein Mann von Wort – Herr Bardell war kein Betrüger – Herr Bardell war auch einmal ein lediger Herr; bei ledigen Herren will ich daher Schutz, Beistand, Hilfe und Trost suchen – in ledigen Herren werde ich beständig etwas sehen, was mich daran erinnert, wie Herr Bardell war, als er das erstemal die Neigung meines jungen, unerfahrenen Herzens gewann; an einen edigen Herrn will ich also meine Wohnung vermieten.‹ Beseelt von diesem schönen, rührenden Beweggrund (einer der besten Beweggründe unserer unvollkommenen Natur) trocknete die einsame, verlassene Witwe ihre Tränen, möblierte ihren untern Stock, drückte ihren unschuldigen Knaben an den mütterlichen Busen und hing die Anzeige an das Fenster. Blieb sie lange dort? Nein. Die Schlange war bereits auf der Lauer, die Linie war gezogen, die Mine war gegraben, der Pionier und Mineur waren in voller Arbeit. Kaum hing die Anzeige drei Tage am Fenster – drei Tage, meine Herren – als ein zweibeiniges Wesen, das ganz die äußere Gestalt eines Mannes, nicht die eines Ungeheuers hatte, an Frau Bärbells Haustür anklopfte. Er erkundigte sich, mietete die Wohnung und nahm am nächstfolgenden Tage Besitz davon. Dieser Mann war Pickwick – Pickwick der Beklagte.«

Prokurator Buzfuz hatte mit solcher Zungenfertigkeit gesprochen, daß sein Gesicht ganz karmoisinrot geworden war und er innehalten mußte, um Atem zu schöpfen. Sein Schweigen erweckte den Herrn Richter Stareleigh, der sogleich mit einer uneingetunkten Feder etwas schrieb und ganz außerordentlich vertieft aussah, um die Geschworenen glauben zu machen, er habe mit geschlossenen Augen der Sache bis in ihren innersten Grund nachgeforscht. Prokurator Buzfuz fuhr fort:

»Von diesem Pickwick werde ich nicht viel sagen: die Person bietet nicht sehr viel Anziehendes, und ich, meine Herren, bin nicht der Mann, so wenig wie Sie, meine Herren, die Männer sind, bei der Betrachtung empörender Herzlosigkeit und systematischer Schlechtigkeit mit Lust zu verweilen.«

Hier fuhr Herr Pickwick, der sich seit einiger Zeit ruhig Notizen aufgeschrieben hatte, heftig auf, wie wenn sich ihm ein vager Wunsch aufgedrängt hätte, in Gegenwart des versammelten ehrwürdigen Gerichtshofes dem Prokurator Buzfuz zu Leibe zu gehen. Eine abmahnende Geberde von Perker hielt ihn jedoch zurück, und er hörte den ferneren Vortrag des gelehrten Herrn mit einer Entrüstung an, die den stärksten Gegensatz zu den von Bewunderung strahlenden Gesichtern der Frauen Cluppins und Sanders bildete.

»Ich sage, systematische Schlechtigkeit, meine Herren«, fuhr Prokurator Buzfuz fort, indem er Herrn Pickwick mit seinen Blicken durchbohren zu wollen schien, »und wenn ich ›systematische Schlechtigkeit‹ sage, so lassen Sie mich dem beklagten Pickwick, wenn er sich, wie ich gehört habe, im Saale befindet, erklären, daß es weit anständiger und schicklicher, weit gescheiter und vernünftiger gewesen wäre, er hätte sich ferngehalten. Lassen Sie mich ihm sagen, meine Herren, daß alle Zeichen von Meinungsverschiedenheit oder Mißbilligung, die er sich im Gerichtssaale erlauben könnte, bei Ihnen nichts fruchten werden, und daß Sie dieselben wohl zu schätzen und zu würdigen wissen: und lassen Sie mich ihm ferner sagen, wie Seine Lordschaft Ihnen, meine Herren, ebenfalls sagen wird, daß ein Anwalt in Erfüllung seiner Pflichten gegen seinen Klienten sich weder einschüchtern noch betäuben oder zum Schweigen bringen läßt, und daß jeder Versuch, das eine oder das andere, das erste oder das letzte zu tun, auf das Haupt dessen zurückfällt, der den Versuch wagt, sei es nun der Kläger oder der Beklagte, möge er nun Pickwick oder Noakes, Stoakes oder Stiles, Brown oder Thompson heißen.«

Diese kleine Abschweifung von der Sache konnte die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlen, aller Augen auf Herrn Pickwick zu lenken. Nachdem Prokurator Buzfuz der moralischen Entrüstung, zu der er sich hatte hinreißen lassen, wieder einigermaßen Meister geworden war, fuhr er fort:

»Ich werde Ihnen nachweisen, meine Herrn, daß Pickwick zwei Jahre lang dauernd, ohne Unterbrechung im Hause der Frau Bardell gewohnt hat. Ich werde Ihnen nachweisen, daß ihn Frau Bardell diese ganze Zeit über bediente, auf jede Art für seine Behaglichkeit sorgte, ihm kochte, seine Wäsche zur Wäscherin schickte, sie flickte, lüftete und überhaupt wieder instandsetzte, mit einem Wort, daß sie sich seines vollkommensten Vertrauens erfreute. Ich werde Ihnen nachweisen, daß er ihrem kleinen Knaben manchmal einen halben Penny, einige Male sogar sechs Pence schenkte, und ich werde Ihnen durch einen Zeugen, dessen Aussagen mein gelehrter Freund weder zu entkräften, noch zu bestreiten imstande sein wird, dartun, daß er einmal den Knaben auf den Kopf tätschelte, und nachdem er ihn gefragt, ob er neulich viele Marmeln oder Murmeln (beides, wie ich höre, besondere Arten von Marmorkugeln, die von der Jugend unserer Stadt sehr geschätzt werden,) gewonnen habe, sich der bemerkenswerten Äußerung bediente: ›würde es dich freuen, wenn du wieder einen Vater bekämest?‹ Ich werde Ihnen ferner nachweisen, meine Herren, daß Pickwick vor etwa einem Jahre plötzlich mehrere Male auf längere Zeit verreiste, wie wenn er im Sinn hätte, allmählich mit meiner Klientin zu brechen. Aber ich werde Ihnen auch dartun, daß er sich in seinem Entschluß damals noch nicht gehörig befestigt hatte, oder daß seine besseren Gefühle, wenn er überhaupt deren fähig ist, obsiegten, oder daß die Neize und Vorzüge meiner Klientin feinen unwürdigen Plan über den Haufen warfen. Denn ich werde Ihnen beweisen, daß er eines Tages, als er vom Lande zurückkehrte, ihr in ganz deutlichen Worten und Ausdrücken einen Heiratsantrag machte, wobei er freilich die besondere Vorsicht gebraucht hatte, daß bei dem feierlichen Versprechen keine Zeugen zugegen waren. Ja, ich bin imstande, durch das Zeugnis von dreien seiner eigenen Freunde – höchst unfreiwillige Zeugen, meine Herren, höchst unfreiwillige Zeugen – zu beweisen, daß man ihn an demselbigen Morgen antraf, wie er eben die Klägerin in seinen Armen hielt und ihre Aufregung durch Schmeicheleien und Liebkosungen zu beschwichtigen suchte.«

Dieser Teil der Rede des gelehrten Prokurators brachte einen sichtlichen Eindruck auf das Publikum hervor. Er zog nun zwei ganz schmale Papierstreifen aus der Tasche und sprach also weiter:

»Und nun, meine Herren, nur noch ein Wort: Es sind zwischen den Parteien zwei Briefe gewechselt worden, Briefe, deren Handschrift der Beklagte als die seinige anerkennt und deren Inhalt von höchster Wichtigkeit ist. Diese Briefe werfen ein helles Licht auf den Charakter des Mannes. Es sind keine offenen, feurigen, beredten Episteln, die nichts als die Sprache leidenschaftlicher Liebe atmen: nein, es sind versteckte, schlaue, zweideutige Mitteilungen, die aber glücklicherweise mehr Aufschlüsse geben, als wären sie in der glühendsten Sprache und in den poetischsten Bildern abgefaßt – Briefe, die man mit vorsichtigem, argwöhnischem Auge betrachten muß – Briefe, durch die Pickwick offenbar etwaige dritte Personen, denen sie vielleicht in die Hände geraten könnten, hinters Licht zu führen und auf eine falsche Spur zu leiten beabsichtigte. Lassen Sie mich den ersten vorlesen:

›Garraway um 12 Uhr. Liebe Frau B.!

Kotelettes und Tomatensauce.

Der Ihrige Pickwick.‹

Was soll man davon denken, meine Herren? ›Kotelettes und Tomatensauce. Der Ihrige, Pickwick!‹ Koteletten! Gütiger Gott! und Tomatensauce! Meine Herren, darf das Glück einer gefühlvollen

und arglosen Frau durch so elende Kunstgriffe zu Boden getreten werden? Das zweite Billett hat gar kein Datum, wodurch es schon von selbst verdächtig wird.

»›Liebe Frau B., ich werde erst morgen nach Hause kommen. Langsame Kutsche.‹ Und dann folgt noch der sehr bemerkenswerte Zusatz: ›Machen Sie sich keine Sorge wegen der Bettflasche.‹ – Die Bettflasche! Wie, meine Herren, wer macht sich denn Sorgen wegen einer Bettflasche? Wann wurde je der Seelenfriede eines Mannes oder einer Frau durch eine Bettflasche gestört oder vernichtet, die an sich selbst ein harmloses, nützliches und, meine Herren, ich will noch hinzufügen, ein komfortables Hausgerät ist? Warum wird Frau Bardell so angelegentlich ersucht, sich wegen der Bettflasche keine Sorgen zu machen, wenn diese nicht (wie hier offenbar der Fall ist) ein verborgenes Feuer bedecken soll – wenn sie nicht bloß die Stelle eines zärtlichen Wortes oder Versprechens vertritt, gemäß einem verabredeten Korrespondenzensystem, das Pickwick behufs seiner längst beabsichtigten Treulosigkeit mit Vorbedacht ausgeheckt hat und das ich nicht näher erklären kann? Und was soll diese Anspielung auf die langsame Kutsche bedeuten? So weit ich die Sache zu durchschauen vermag, bezieht sie sich auf Pickwick selbst, der in der Tat während dieses ganzen Verhältnisses eine verdammt langsame Kutsche gewesen ist, eine Kutsche, die indessen sehr unerwartet in schnellen Lauf gebracht, und deren Räder, wie er auf seine Kosten erfahren wird, von Ahnen sehr bald geschmiert werden dürften.«

Hier machte Herr Prokurator Buzfuz eine Pause, um zu sehen, ob die Geschworenen zu seinem Witz lächelten: da dies aber niemand tat als der Gewürzkrämer, dessen Empfänglichkeit dafür höchst wahrscheinlich dadurch hervorgerufen wurde, daß er erst diesen Morgen noch an einer Kutsche obgedachtes Geschäft verrichtet hatte, so hielt es der gelehrte Redner für ratsam, vor dem Schlusse seines Vortrags noch ein wenig auf die Rührung der Richter zu wirken.

»Doch genug hiervon, meine Herren«, sprach Herr Prokurator Buzfuz; »es ist schwer, mit blutendem Herzen zu lächeln, es scherzt sich nicht leicht, wenn unsere tiefsten Sympathien aufgeregt sind. Alle Hoffnungen und Aussichten meiner Klientin sind vernichtet, und es ist keine bloße Phrase, wenn ich sage, daß es um ihren Lebensunterhalt geschehen ist. Die Anzeige hängt nicht mehr am Fenster, und doch wohnt kein Herr im Hause. Es kommen ledige Herren, unter denen man auswählen könnte, genug am Hause vorüber – aber es ist keine Einladung mehr vorhanden, einzuziehen. Düsteres Schweigen herrscht setzt in dieser Wohnung. Selbst die Stimme des Knaben ist verhallt; seine kindlichen Spiele machen ihm kein Vergnügen mehr, wenn seine Mutter weint! seine Marmeln und Murmeln sind ihm gleichgültig geworden. Er überhört die Aufforderung seiner Kameraden zum ›Wolf heraus‹, und wollen sie ›Gerade oder Ungerade‹ mit ihm spielen, so rührt er seine Hand nicht. Aber Pickwick, meine Herren, Pickwick, der mitleidslose Zerstörer dieser häuslichen Oase in der Wüste der Goswellstraße – Pickwick, der die Quelle verstopft und auf den grünen Rasen Asche gestreut hat – Pickwick, der mit seiner herzlosen Tomatensauce und seiner Bettflasche heute vor Ihnen erscheint – Pickwick erhebt noch immer mit frecher Schamlosigkeit sein Haupt und blickt ohne einen Seufzer auf die Verwüstung hin, die er angerichtet hat. Eine Geldentschädigung, meine Herren, eine bedeutende Geldentschädigung ist die einzige Strafe, womit Sie ihn heimsuchen, der einzige Ersatz, den Sie meiner Klientin gewähren können. Um diese Geldentschädigung nun wendet sie sich hiermit an eine erleuchtete, großherzige, taktbegabte, gewissenhafte, leidenschaftslose, mitfühlende und einsichtsvolle Jury ihrer gebildeten Mitbürger.«

Mit dieser schönen Wendung setzte sich der Herr Prokurator Buzfuz nieder, und der Herr Stareleigh erwachte zum zweiten Male. Nach einer Minute erhob sich Prokurator Buzfuz wieder mit erneuter Kraft und verlangte, daß Elisabeth Cluppins gerufen würde.

Der nächststehende Gerichtsdiener rief Elisabeth Tuppins, ein anderer in einiger Entfernung fragte nach Elisabeth Jupkins und ein dritter rannte atemlos in die Königstraße, und schrie sich heiser nach einer Elisabeth Muffins.

Mittlerweile wurde Frau Cluppins durch die vereinigte Hilfe der Frauen Bardell und Sanders, sowie der Herren Dodson und Fogg in die Zeugenloge gebracht, und als sie sicher auf die oberste Stufe gelangt war, stellte sich Frau Bardell an die unterste, mit dem Taschentuch und den Überschuhen in der einen Hand, und einer Flasche, die ungefähr ein Viertelpfund Riechsalz enthalten mochte, in der andern, um für alle Fälle bereit zu sein. Frau Sanders, deren Augen unverwandt am Gesichte des Richters hingen, pflanzte sich mit dem großen Regenschirm dicht neben sie und hielt mit ernstem Gesicht ihren rechten Daumen an das Schloß ihrer Tasche gedrückt, um nötigenfalls sogleich ein Stärkungsmittel hervorzuholen.

»Frau Cluppins«, redete Prokurator Buzfuz sie an, »ich bitte Sie, beruhigen Sie sich doch, Madame.«

Und diese Erinnerung war keineswegs unnötig, denn Frau Cluppins schluchzte und seufzte, daß sich ein Stein hätte erbarmen mögen, ja es stellten sich mehrere beunruhigende Symptome einer herannahenden Ohnmacht ein, denn sie konnte, wie sie später sagte, ihre Gefühle kaum meistern.

»Erinnern Sie sich, Frau Cluppins«, sagte Prokurator Buzfuz nach einigen unwichtigen Fragen, »erinnern Sie sich, an einem gewissen Morgen des vergangenen Juli in einem Hinterstübchen der Frau Bardell gewesen zu sein, als sie eben das Zimmer des Herrn Pickwick ausstäubte?«

»Ja, Mylord und meine Herrn Geschworenen, ich erinnere mich«, erwiderte Frau Cluppins.

»Aber Herrn Pickwicks Wohnzimmer war ja, wie ich glaube, im ersten Stock und nach der Straße zu?«

»Ja, Sir«, antwortete Frau Cluppins.

»Was hatten Sie denn im Hinterstübchen zu schaffen, Madame?« fragte der kleine Richter.

»Mylord und meine Herren Geschworenen«, sagte Frau Cluppins in rührender Aufregung, »ich will Sie nicht täuschen.«

»Sie würden auch nicht wohl daran tun«, bemerkte der kleine Richter.

»Ich war dort«, erzählte Frau Cluppins, »ohne daß Frau Bardell es wußte. Ich war mit einem kleinen Korb ausgegangen, meine Herren, um drei Pfund rote Kartoffeln zu kaufen, was im Ganzen dritthalb Pence ausmacht, als ich die Haustür der Frau Bardell offen sah. Ich ging also hinein, meine Herren, um ihr guten Morgen zu wünschen, lief aber in Gedanken die Treppe hinauf und in das Hinterzimmer. Meine Herren, da hörte ich im Vorderzimmer mehrere Stimmen, und –«

»Und Sie horchten ohne Zweifel, Frau Cluppins?« unterbrach sie Prokurator Buzfuz.

»Bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte Frau Cluppins in majestätischem Ton; »so etwas zu tun, dafür bin ich mir zu gut! Die Stimmen waren sehr laut, Sir, und drängten sich mit Gewalt meinen Ohren auf.«

»Nun gut, Frau Cluppins, Sie horchten also nicht, hörten aber dennoch die Stimmen. War eine derselben die des Herrn Pickwick?«

»Ja, Sir.«

Und Frau Cluppins trug jetzt, nachdem sie deutlich angegeben, daß Herr Pickwick mit Frau Bardell gesprochen habe, langsam und mit vielen Umschweifen die unsern Lesern bereits bekannte Unterhaltung vor.

Die Geschworenen sahen bedenklich drein und Herr Prokurator Buzfuz setzte sich lächelnd. Noch unheimlicher wurden aber ihre Mienen, als Herr Prokurator Snubbin erklärte, er könne die Zeugin nicht mehr ausfragen, denn Herr Pickwick selbst müsse eingestehen, daß ihre Aussage im wesentlichen richtig sei.

Da nun Frau Cluppins einmal das Eis gebrochen hatte, so hielt sie dies für eine günstige Gelegenheit, sich auf eine kurze Darstellung ihrer eigenen häuslichen Verhältnisse einzulassen; sie benachrichtigte daher den Gerichtshof geradezu, daß sie in diesem Augenblick Mutter von acht Kindern sei und die zuversichtliche Hoffnung nähren dürfe, nach etwa sechs Monaten Herrn Cluppins mit einem neunten zu beschenken. Bei dieser interessanten Mitteilung legte sich der kleine Richter voll Zorn ins Mittel, und die Folge davon war, daß sowohl die würdige Dame, als auch Frau Sanders unter Begleitung des Herrn Jackson ohne weitere Umstände aus dem Gerichtssaal hinausgeführt wurden.

»Nathaniel Winkle!« rief Herr Skimpin.

»Hier!« erwiderte eine schwache Stimme.

Herr Winkle trat in die Zeugenloge und verbeugte sich, nachdem er den vorgeschriebenen Eid geschworen, ehrfurchtsvoll gegen den Richter.

»Sehen Sie mich nicht an, Sir«, sagte der Richter, statt für den Gruß zu danken, in verweisendem Tone: »sehen Sie nur auf die Geschworenen!«

Herr Winkle gehorchte dem Befehl und sah nach dem Platze, wo seiner Wahrscheinlichkeitsberechnung nach die Geschworenen sein mußten, denn in seinem verwirrten Geisteszustand war es ihm schlechterdings unmöglich, etwas genau zu sehen.

Herr Winkle wurde sofort von Herrn Skimpin, einem vielversprechenden jungen Manne von 42 bis 43 Jahren, verhört, dem natürlich alle« daran gelegen sein mußte, einen bekanntermaßen für die Gegenpartei eingenommenen Zeugen so sehr wie möglich aus dem Konzept zu bringen.

»Nun, Sir«, sagte Herr Skimpin, »haben Sie die Güte, Seine Lordschaft und die Jury Ihren Namen wissen zu lassen.«

Und Herr Skimpin neigte den Kopf auf die eine Seite, um die Antwort recht genau zu hören, indessen er den Geschworenen einen Seitenblick zuwarf, der deutlich genug sagte, bei Herrn Winkles natürlichem Hange zur Lüge könne man von ihm auch die Angabe eines falschen Namens erwarten.

»Winkle«, antwortete der Zeuge.

»Ihr Taufname, Sir?« fragte der kleine Richter ärgerlich.

»Nathaniel, Sir.«

»Daniel – vielleicht noch andere Taufnamen?«

»Nathaniel, Sir – Mylord, wollte ich sagen.«

»Nathaniel Daniel oder Daniel Nathaniel?«

»Nein, Mylord, blos Nathaniel, nicht Daniel.«

»Warum sagten Sie denn vorhin. Sie hießen Daniel, Sir?« fragte der Richter.

»Das habe ich nicht gesagt, Mylord«, antwortete Herr Winkle.

»Freilich haben Sie es gesagt, Sir«, erwiderte der Richter mit strengem Stirnrunzeln; »wie hätte ich denn Daniel aufschreiben können, wenn Sie nicht so gesagt hätten, Sir?«

Auf diesen Beweisgrund ließ sich natürlich nichts antworten.

»Herr Winkle hat ein kurzes Gedächtnis, Mylord«, fiel Herr Skimpin mit einem abermaligen Blick auf die Geschworenen ein; »ich denke aber, wir sollten Mittel finden, es aufzufrischen, bevor wir mit ihm fertig sind.«

»Nehmen Sie sich in acht, Sir«, rief der kleine Richter mit einem unheimlichen Blick nach dem Zeugen hin.

Der arme Herr Winkle verneigte sich und gab sich alle Mühe, unbefangen zu scheinen, gewann aber in seiner Verlegenheit weit eher das Aussehen eines aufs Eis geführten Taschendiebs.

»Jetzt, Herr Winkle«, sagte Herr Skimpin, »geben Sie gefälligst auf meine Fragen acht, Sir, und folgen Sie um Ihrer selbst willen meinem Rat, der Ermahnungen Seiner Lordschaft eingedenk zu sein. So viel ich weiß, sind Sie ein vertrauter Freund Herrn Pickwicks, des Angeklagten, nicht wahr?«

»Wenn ich mich in diesem Augenblick recht erinnere, so kenne ich Herrn Pickwick beinahe –«

»Ich muß bitten, Herr Winkle, daß Sie keine ausweichende Antworten geben. Sind Sie wirklich ein vertrauter Freund des Angeklagten, oder sind Sie es nicht?«

»Ich wollte soeben sagen, daß –«

»Wollen Sie meine Frage beantworten, Sir, oder nicht?«

»Wenn Sie nicht antworten, so laß ich Sie einsperren, Sir«, fiel der kleine Richter ein, indem er über sein Notizbuch herüberblickte.

»Nur vorwärts, Sir«, sagte Herr Skimpin. »Ja oder Nein.«

»Ja, ich bin’s«, antwortete Herr Winkle.

»Sie sind es freilich. Warum haben Sie es nicht sogleich gesagt, Sir? Vielleicht kennen Sie auch die Klägerin – wie, Herr Winkle?«

»Nein, ich kenne sie nicht; aber gesehen habe ich sie schon.«

»So, Sie kennen sie nicht, haben sie aber gesehen? Nun, so haben Sie die Güte, den Herren Geschworenen zu sagen, was Sie damit meinen, Herr Winkle.«

»Ich meine damit, daß ich nicht genauer mit ihr bekannt bin, sie aber gesehen habe, wenn ich Herrn Pickwick in der Goswellstraße besuchte.«

»Wie oft haben Sie sie gesehen, Sir?«

»Wie oft?«

»Ja, Herr Winkle, wie oft? Ich will Ihnen die Frage ein Dutzendmal wiederholen, Sir, wenn Sie es verlangen, Sir.«

Dabei stemmte der gelehrte Herr mit einem entschiedenen Stirnrunzeln die Hände in die Seite und lächelte den Geschworenen verschmitzt zu.

Diese Frage führte das erbauliche Stirnrunzeln herbei, das bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich ist. Zuvörderst sagte Herr Winkle, es sei ihm rein unmöglich, anzugeben, wie oft er Frau Bardell gesehen habe. Dann fragte man ihn, ob er sie vielleicht zwanzigmal gesehen, und er erwiderte: »gewiß – auch noch öfter.« Hierauf wollte man wissen – ob er sie hundertmal gesehen – ob er nicht schwören könne, daß er sie mehr als fünfzigmal gesehen – ob er nicht angeben könne, daß er sie mehr als fünfundsiebzigmal gesehen – und so fort; wodurch man endlich zu dem befriedigenden Schlüsse gelangte, ihn nochmals zu ermahnen, er solle sich wohl in acht nehmen und bedenken, was er sage. Nachdem nun der Zeuge auf diese Art so verwirrt worden war, daß er kaum mehr wußte, wo ihm der Kopf stand, wurde das Verhör folgendermaßen fortgesetzt.

»Erinnern Sie sich, Herr Winkle, an einem gewissen Morgen im vergangenen Juli den beklagten Pickwick in seiner Wohnung bei der Klägerin in der Goswellstraße besucht zu haben?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Hatten Sie damals einen Freund, Namens Tupman, und einen andern, Namens Snodgraß bei sich.«

»Ja.«

»Sind sie hier?«

»Ja«, erwiderte Herr Winkle, sehr angelegentlich nach dem Platz blickend, wo seine Freunde saßen.

»Sehen Sie gefälligst mich an, Herr Winkle, und nicht Ihre Freunde«, sagte Herr Skimpin mit einem neuen ausdrucksvollen Lächeln auf die Jury. »Die Herren müssen ihre Aussagen ohne vorherige Beratung mit Ihnen ablegen, falls solche etwa nicht schon stattgefunden hat (abermals ein Blick auf die Jury). Nun, Sir, sagen Sie jetzt den Herren Geschworenen, was Sie am selbigen Morgen beim Eintritt ins Zimmer des Beklagten gesehen haben? Nur heraus damit, Sir, wir müssen es früher oder später doch erfahren.«

»Der Beklagte, Herr Pickwick, hielt die Klägerin in seinen Armen und hatte mit seinen Händen ihren Leib umschlungen«, erwiderte Herr Winkle mit natürlichem Zögern, »und die Klägerin schien in Ohnmacht gefallen zu sein.«

»Hörten Sie Beklagten etwas sprechen?«

»Ja, ich hörte, daß er Madame Bardell ›liebe Frau‹ nannte und sie bat, sich zu beruhigen; dann, was man glauben müßte, wenn jemand käme, und ähnliche Redensarten.«

»Jetzt, Herr Winkle, habe ich nur noch eine einzige Frage an Sie zu richten, und ich bitte Sie, hierbei der Ermahnung seiner Gnaden wohl eingedenk zu sein. Wollen Sie beschwören, daß beklagter Pickwick bei dieser Gelegenheit nicht gesagt hat: ›meine gute Bardell, Sie sind eine liebe Frau; beruhigen Sie sich, es wird schon noch dazu kommen‹, oder dem ähnliche Redensarten?«

»Ich – ich – habe es wahrhaftig nicht so verstanden«, sagte Herr Winkle, erstaunt über die sinnreiche Verdrehung der wenigen Worte, die er gehört hatte. »Ich war noch auf der Treppe und konnte es nicht deutlich hören; aber der Eindruck, den es auf mich machte, ist –«

»Die Herren Geschworenen wollen nichts von den auf Sie gemachten Eindrücken, Herr Winkle, die, fürchte ich, ohnehin ehrlichen und rechtschaffenen Leuten wenig nützen würden«, unterbrach ihn Herr Skimpin. »Sie waren also auf der Treppe und hörten es nicht deutlich, wollen aber nicht beschwören, daß Pickwick sich der von mir erwähnten Ausdrücke nicht bedient hat? Habe ich es so zu verstehen?«

»Nein, ich will es nicht beschwören«, erwiderte Herr Winkle, und Herr Skimpin setzte sich mit triumphierender Miene.

Herrn Pickwicks Sache hatte bis jetzt keinen so überaus günstigen Verlauf gehabt, daß sie noch neue Verdachtsgründe ertragen konnte. Da sie jedoch möglicherweise noch in ein besseres Licht zu stellen war, so erhob sich Herr Phunky, um seinerseits Herrn Winkle auch einige wichtige Aufschlüsse zu entlocken. Ob ihm das glückte oder nicht, wird sich sogleich ergeben.

»Ich glaube, Herr Winkle«, begann er, »Herr Pickwick ist kein junger Mann mehr?«

»O nein«, erwiderte Herr Winkle, »er könnte mein Vater sein.«

»Sie haben meinem gelehrten Freunde gesagt, Sie kennen Herrn Pickwick schon lange. Hatten Sie jemals Grund zu vermuten oder zu glauben, er beabsichtige, sich zu verheiraten?«

»Nein, niemals«, antwortete Herr Winkle mit solchem Eifer, daß ihn Herr Phunky so schnell wie möglich aus der Zeugenloge hätte entfernen mögen. In den Augen der Rechtsgelehrten gibt es zwei Arten besonders schlechter Zeugen: solche, die gar nichts, und solche, die zu viel aussagen. Herrn Winkles Schicksal wollte, daß er beide Arten in sich vereinigte.

»Ich will sogar noch weiter gehen, Herr Winkle«, fuhr Phunky in einem sehr freundlichen und gefälligen Tone fort. »Bemerkten Sie in Herrn Pickwicks Benehmen gegen das andere Geschlecht je etwas, was Sie hätte auf den Glauben bringen können, daß er in den letzten Jahren überhaupt Heiratsgedanken hege?«

»O nein, nicht das mindeste«, erwiderte Herr Winkle.

»War sein Benehmen in Gesellschaft von Damen nicht das eines Mannes, der, an Jahren schon ziemlich vorgerückt, nur noch an seine Geschäfte oder Vergnügungen denkt und sie bloß behandelt, wie ein Vater seine Töchter?«

»Daran ist kein Zweifel«, antwortete Herr Winkle in der Fülle seines Herzens. »Das heißt – ja – o ja –«

»Sie haben also in seinem Benehmen gegen Frau Bardell oder sonst gegen eine Dame nie etwas auch nur im mindesten Verdächtiges wahrgenommen?« fragte Herr Phunky und wollte sich eben niedersetzen, denn Prokurator Snubbin hatte ihm einen Wink gegeben.

»Nein, nein«, erwiderte Herr Winkle; »außer in einem einzigen unbedeutenden Fall, der sich aber, wie ich nicht zweifle, leicht wird aufklären lassen.«

Hätte sich der unglückliche Phunky sogleich gesetzt, als Sergeant Snubbin ihm zuwinkte, oder wäre Prokurator Buzfuz gleich im Anfang gegen dieses unstatthafte Zeugenverhör aufgetreten (allein er hütete sich wohl, es zu tun, da er Herrn Winkles Ängstlichkeit bemerkte und alle Hoffnung hatte, diese zu seinem Vorteil ausbeuten zu können), so wäre dieses unglückselige Geständnis Herrn Winkle nicht entlockt worden. Kaum aber waren diese Worte seinen Lippen entschlüpft, so setzte sich Phunky, und Prokurator Snubbin rief ihm im größten Eifer zu, er solle die Zeugenloge verlassen, wozu er sich auch mit aller Bereitwilligkeit anschickte, als Prokurator Buzfuz es verhinderte.

»Bleiben Sie, Herr Winkle«, sagte er: »bleiben Sie. Wollen Eure Gnaden die Güte haben, ihn zu fragen, was dieser einzige Fall war, wo ihm das Benehmen dieses Herrn, der sein Vater sein könnte, gegen Damen verdächtig vorkam?«

»Sie hören, was der gelehrte Anwalt sagt«, bemerkte der Richter, sich gegen den armen, von neuem Schreck ergriffenen Winkle wendend. »Erklären Sie sich näher über den Fall, den Sie angedeutet haben.«

»Mylord«, sagte Herr Winkle, zitternd vor Angst, »ich – ich möchte es lieber nicht sagen.«

»Das ist wohl möglich«, sagte der kleine Richter, »aber Sie müssen.«

Unter dem tiefsten Schweigen der ganzen Versammlung erklärte also Herr Winkle mit stotternder Stimme: der einzige unbedeutende Vorfall, der Verdacht erregen könne, sei, daß man Herrn Pickwick einmal um Mitternacht im Schlafzimmer einer Dame gefunden habe, und, soviel er wisse, sei infolge dieser Entdeckung die projektierte Heirat besagter Dame rückgängig gemacht worden; auch wisse er bestimmt, daß alle dabei Beteiligten mit Gewalt vor Georg Nupkins, Esquire, den Friedensrichter, und Mayor von Ipswich, geführt worden.

»Jetzt können Sie die Zeugenloge verlassen, Sir«, sagte Prokurator Snubbin.

Herr Winkle tat es und rannte wie besessen nach dem George und Geier, allwo der Kellner ihn einige Stunden nachher jammervoll stöhnend und ächzend, den Kopf in die Sofakissen begraben, entdeckte.

Tracy Tupman und Augustus Snodgraß wurden hierauf hintereinander in die Zeugenloge gerufen. Beide bestätigten die Aussage ihres unglücklichen Freundes, und beide wurden durch verfängliche Fragen aus der Fassung gebracht.

Jetzt wurde Susanna Sanders aufgerufen und zuerst von Prokurator Buzfuz, sodann von Prokurator Snubbin befragt. Sie habe, erklärte sie, immer gesagt und geglaubt, Herr Pickwick werde Frau Bardell heiraten. Sie wisse, daß nach der Ohnmachtsgeschichte im Juli die ganze Nachbarschaft von nichts gesprochen habe, als von dem Verlöbnis zwischen Frau Bardell und Herrn Pickwick; sie habe es Frau Muderry, die eine Wäschemangel besitze, und Frau Bunkin, die Weißnäherin sei, mehr als einmal sagen hören, obgleich sie keine von beiden hier im Saale erblicke. Sie habe gehört, wie Herr Pickwick das Kind gefragt, ob es sich freuen würde, wenn es wieder einen Vater bekäme. Sie wisse nichts davon, daß Frau Bardell um diese Zeit ein vertrautes Verhältnis mit dem Bäcker gehabt, nur soviel könne sie sagen, daß der Bäcker damals ledig gewesen sei, sich aber jetzt verheiratet habe. Sie könne nicht darauf schwören, daß Frau Bardell nicht sehr verliebt in den Bäcker gewesen sei, glaube aber, der Bäcker müsse nicht sehr verliebt in Frau Bardell gewesen sein, weil er sonst gewiß keine andere geheiratet hätte. Sie glaube, Frau Bardell sei an jenem Julimorgen in Ohnmacht gefallen, weil Herr Pickwick in sie gedrungen habe, den Hochzeitstag zu bestimmen; sie erinnere sich wohl noch, daß sie (die Zeugin) wie tot niedergefallen sei, als Herr Sanders sie gebeten, den Tag festzusetzen, und sie glaube, daß es jeder anständigen Dame unter ähnlichen Umständen ebenso ergehen werde. Sie habe ferner gehört, wie Herr Pickwick den Knaben wegen seinen Marmeln gefragt habe, sie könne aber bei einem Eid nicht einmal den Unterschied zwischen Marmeln und Murmeln angeben.

Auf weitere Fragen des Richters erzählte sie noch, sie habe während ihres Verhältnisses mit Herrn Sanders auch Liebesbriefe von ihm erhalten wie andere Damen. Herr Sanders habe sie in seiner Korrespondenz zwar oft eine Gans genannt, niemals aber Kotelettes oder Tomatensauce. Er habe die Gänse für sein Leben gern gegessen. Vielleicht würde er, wenn er ebenso gern Kotelettes und Tomatensauce gegessen hätte, sie in seiner Zärtlichkeit auch so geheißen haben.

Prokurator Buzfuz erhob sich jetzt, wenn es möglich gewesen wäre, mit größerer Wichtigkeit, als er jemals an den Tag gelegt, und rief:

»Samuel Weller soll jetzt kommen.«

Es war höchst unnötig, so laut zu schreien, denn Samuel Weller befand sich in der Zeugenloge, als sein Name kaum ausgesprochen war. Er legte seinen Hut neben sich auf den Boden, die Arme auf das Geländer, besah sich die Anwälte aus einer Vogelperspektive und nahm mit merkwürdiger Unbefangenheit und Heiterkeit einen umfassenden Überblick über die Herren Richter.

»Wie heißen Sie, Sir?« fragte der Richter.

»Sam Weller, Mylord«, erwiderte dieser Gentleman.

»Schreiben Sie sich mit dem V oder mit dem W?« fragte der Richter weiter.

»Das kommt ganz auf den Geschmack und das Belieben des Schreibenden an, Mylord«, erwiderte Sam: »ich selbst habe bloß ein paarmal in meinem Leben Veranlassung gehabt, meinen Namen zu schreiben, aber ich machte immer ein V.«

Hier rief eine Stimme von der Galerie herab laut:

»Ganz recht, Samuel, ganz recht: machen Sie ein V, Mylord, machen Sie ein V.«

»Wer ist es, der es wagt, den Gerichtshof anzureden?« rief der kleine Richter, in die Höhe blickend. »Gerichtsdiener!«

»Hier, Mylord!«

»Führt diese Person sogleich vor.«

»Sehr wohl, Mylord.«

Da aber der Gerichtsdiener die Person nicht fand, so führte er sie auch nicht vor. Unter großem Geräusch setzten sich die Leute alle wieder, die aufgestanden waren, um den Verbrecher zu sehen. Das Richterlein wandte sich aufs neue an den Zeugen, sobald seine Entrüstung ihm zu sprechen erlaubte und sagte:

»Wissen Sie, wer das war, Sir?«

»Mylord«, antwortete Sam: »ich vermute fast, mein Vater, war’s.«

»Sehen Sie ihn noch jetzt?« fragte der Richter.

»Nein, Mylord«, antwortete Sam, indem er gerade nach der Laterne stierte, die unter der Decke des Gerichtssaales hing.

»Wenn Sie ihn mir hätten zeigen können, so hätte ich ihn sogleich verhaften lassen«, sagte der Richter. (Sam verbeugte sich dankbar und wandte sich dann mit unverminderter Heiterkeit gegen den Prokurator Buzfuz.)

»Nun, Herr Weller?« begann der Prokurator Buzfuz.

»Nun, Sir?« erwiderte Sam.

»Ich glaube, Sie stehen im Dienst des Herrn Pickwick, der hier der Beklagte ist. Sprechen Sie gefälligst geradeheraus, Herr Weller.«

»Ich werde schon geradeheraus sprechen«, erwiderte Sam. »Ich stehe allerdings im Dienste dieses Gentleman, und es ist ein sehr guter Dienst.«

»Wenig zu tun und recht viel zu verdienen – nicht wahr?« meinte der Prokurator Buzfuz scherzend.

»O gerade genug zu verdienen, Sir, wie der Soldat sagte, als man ihm dreihundertfünfzig Stockprügel aufmaß«, antwortete Sam.

»Sie brauchen uns nicht zu sagen, was der Soldat oder sonst jemand gesagt hat«, schnauzte ihn der Richter an, »das ist keine Zeugenaussage.«

»Sehr wohl, Mylord«, antwortete Sam.

»Erinnern Sie sich irgendeines besonderen Umstandes von dem Morgen her, wo der Beklagte Sie in seine Dienste nahm, Herr Weller?« fragte der Prokurator Buzfuz.

»Jawohl, Sir«, antwortete Sam.

»Haben Sie die Güte, den Geschworenen zu sagen, was es war.«

»Ich bekam an diesem Morgen einen ganz neuen Anzug, meine Herren Geschworenen«, sagte Sam, »und das war für mich in selben Tagen ein sehr besonderer und ungewöhnlicher Umstand.«

Hierüber entstand ein allgemeines Gelächter. Der kleine Richter blickte zornentbrannt über seinen Schreibtisch hinüber und sagte:

»Nehmen Sie sich wohl in acht, Sir.«

»So sagte damals auch Herr Pickwick, Mylord«, antwortete Sam, »und ich nahm mich mit diesen Kleidern sehr in acht; sehen Sie nur, wie ich sie geschont habe, Mylord.«

Der Richter blickte Sam zwei Minuten lang streng an; aber Sams Züge waren so vollkommen ruhig und heiter, daß er nichts zu sagen wußte, und daher den Prokurator Buzfuz aufforderte, fortzufahren.

»Herr Weller«, sagte der Prokurator Buzfuz, indem er würdevoll die Arme kreuzte und sich halb gegen die Geschworenen wandte, als wollte er sie stumm versichern, daß er diesen Zeugen schon fangen werde. »Wollen Sie damit wirklich sagen, Herr Weller, daß Sie nichts davon gesehen haben, wie die Klägerin ohnmächtig in des Beklagten Armen lag, was die Zeugen vorhin bereits ausführlich erzählt haben?«

»Habe wirklich nichts gesehen«, erwiderte Sam. »Ich war im Gang, bis man mich rief, und dann war die alte Dame schon nicht mehr da.«

»Merken Sie wohl auf, Herr Weller«, sagte der Prokurator Buzfuz, eine große Feder in das vor ihm stehende Tintenfaß tauchend, damit Sam Angst bekommen und glauben solle, er wolle seine Antwort niederschreiben. »Sie waren im Gang und haben nichts von dem gesehen, was vorging? Haben Sie nicht ein paar Augen im Kopf, Herr Weller?«

»Ja, wohl habe ich ein paar Augen«, erwiderte Sam, »und eben das ist’s. Wären es ein paar Patent-Doppel-Millionen-Vergrößerungsgläser von Extragüte, so hätte ich vielleicht durch ein paar Treppen und eine eichene Tür gesehen; aber da es bloß ganz einfache Augen sind, so ist mein Gesichtskreis beschränkt.«

Bei dieser Antwort, die ohne den geringsten Anschein von Aufregung und mit der vollkommensten Unbefangenheit und Gleichmütigkeit gegeben wurde, kicherten die Zuschauer, der kleine Richter lächelte, und Prokurator Buzfuz schaute ausnehmend albern darein. Nach einer kurzen Beratung mit Dodson und Fogg wandte sich der gelehrte Prokurator aufs neue gegen Sam, und sagte, mit peinlicher Anstrengung seinen Ärger verbergend:

»Jetzt, Herr Weller, werde ich Ihnen, wenn Sie erlauben, eine Frage über einen andern Punkt vorlegen.«

»Ganz, wie es Ihnen beliebt«, erwiderte Sam, mit der besten Laune von der Welt.

»Erinnern Sie sich noch, im vergangenen November einmal bei Nacht zu Frau Bardell gegangen zu sein?«

»O ja, recht gut.«

»So, Sie erinnern sich dessen also, Herr Weller?« fragte Prokurator Buzfuz, neuen Mut fassend, »Ich dachte mir’s doch, wir würden am Ende schon noch etwas von Ihnen erfahren.«

»Das habe ich mir auch gedacht, Sir«, entgegnete Sam.

Und die Zuschauer kicherten aufs neue.

»Gut; Sie gingen ohne Zweifel zu ihr, um mit ihr ein bißchen über den Prozeß zu sprechen, nicht wahr, Herr Weller?« fragte Prokurator Buzfuz, den Geschworenen bedeutsame Blicke zuwerfend.

»Ich ging hin, um die Miete zu bezahlen: aber wir sprachen allerdings auch über den Prozeß«, erwiderte Sam.

»Ah, Sie sprachen auch über den Prozeß?« sagte Buzfuz, strahlend im Vorgenuß einer wichtigen Entdeckung. »Nun, was wurde denn über den Prozeß gesprochen? Wollen Sie die Güte haben, es uns zu sagen, Herr Weller?«

»Mit dem größten Vergnügen, Sir«, erwiderte Sam. »Nach einigen unwichtigen Bemerkungen von den zwei tugendfesten Damen, die vorhin befragt wurden, brach die Gesellschaft in sehr große Bewunderung aus über das ehrenwerte Benehmen der Herren Dodson und Fogg, die hier neben Ihnen sitzen.«

Dies zog natürlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf Dodson und Fogg, die möglichst tugendsame Gesichter schnitten.

»Die Sachwalter der Klägerin?« fragte Prokurator Buzfuz. »Die Damen haben also mit großem Lob von dem ehrenhaften Benehmen der Herren Dodson und Fogg, der Sachwalter der Klägerin, gesprochen?«

»Ja«, sprach Sam: »sie sagten, es sei doch sehr großmütig von ihnen, daß sie den Prozeß auf Spekulation übernommen haben, und sich nichts für ihre Unkosten bezahlen lassen wollen, außer wenn Herr Pickwick verurteilt werde.«

Bei dieser höchst unerwarteten Antwort kicherten die Zuschauer abermals. Die Herren Dodson und Fogg wurden feuerrot, beugten sich gegen Prokurator Buzfuz hin und flüsterten ihm hastig etwas ins Ohr.

»Sie haben vollkommen recht«, sagte Prokurator Buzfuz laut, mit erzwungener Ruhe. »Es ist durchaus nutzlos, Mylord, von der unverbesserlichen Dummheit dieses Zeugen irgendeinen Aufschluß zu erwarten. Ich will den Gerichtshof nicht länger damit aufhalten, daß ich noch mehr Fragen an ihn lichte. Entfernen Sie sich, Sir.«

»Hat einer von den Herren vielleicht Lust, mich noch etwas zu fragen?« sagte Sam, indem er seinen Hut nahm und sehr bedächtig um sich blickte.

»Ich nicht, Herr Weller, danke Ihnen«, antwortete Prokurator Snubbin lachend.

»Sie können sich entfernen, Sir«, sagte Prokurator Buzfuz, ungeduldig mit der Hand winkend.

Sam trat demgemäß ab, nachdem er der Sache der Herren Dodson und Fogg den größtmöglichen Schaden zugefügt, über Herrn Pickwick aber so wenig wie möglich ausgesagt hatte, was beides von Anfang an seine Absicht gewesen war.

»Ich habe keine Einwendung mehr zu machen, Mylord«, sagte Prokurator Snubbin, »wenn ein weiteres Zeugenverhör durch den Umstand erspart wird, daß Herr Pickwick sich von den Geschäften zurückgezogen hat und ein bedeutendes unabhängiges Vermögen besitzt.«

»Sehr gut«, sagte der Prokurator Buzfuz, dem Sekretär die zwei Briefe übergebend, um zu lesen. »Dann ist es meine Sache, Mylord.«

Prokurator Snubbin hielt jetzt eine sehr lange und nachdrucksvolle Rede zugunsten des Beklagten an die Geschworenen, worin er dem Lebenswandel und Charakter des Herrn Pickwick die größten Lobsprüche erteilte. – Da indessen unsere Leser weit besser als der Prokurator Snubbin imstande sind, sich ein richtiges Urteil über die Verdienste und Vollkommenheiten dieses Gentleman zu bilden, so fühlen wir uns nicht berufen, uns ausführlich auf die Bemerkungen des gelehrten Herrn einzulassen. Er versuchte, darzutun, daß die zum Vorschein gebrachten Billette sich lediglich auf Herrn Pickwicks Mittagessen oder auf die Vorbereitungen zu seinem Empfang bezogen, wenn er von einem ländlichen Ausflug zurückkehrte. – Es genüge, im allgemeinen hinzuzufügen, daß er für Herrn Pickwick sein möglichstes tat, und nach der ewigen Autorität des alten allbekannten Sprichwortes kann man vom besten Manne nicht mehr verlangen.

Der Herr Richter Stareleigh zog das Fazit in der althergebrachten und überall üblichen Form. Er las den Geschworenen so viel von seinen Notizen vor, wie er bei der Schnelligkeit, mit der er sie niedergeschrieben, entziffern konnte, und ließ allgemeine Bemerkungen mit einfließen, wie z.B. wenn Frau Bardell recht habe, so sei es sonnenklar, daß Herr Pickwick unrecht habe, und wenn die Geschworenen die Aussagen der Frau Cluppins glaubwürdig finden, so werden sie ihnen Glauben schenken, wo nicht, so werden sie es nicht tun. Wenn sie überzeugt seien, daß ein Eheversprechen nicht gehalten worden sei, so werden sie der Klägerin eine angemessene Entschädigung zuerkennen, wenn sie dagegen glauben, das Eheversprechen habe überhaupt nicht stattgefunden, so werden sie den Beklagten vollkommen freisprechen. Die Geschworenen zogen sich hierauf in ihr besonderes Zimmer zurück, um die Sache zu beraten, und der Richter begab sich auf sein Privatzimmer, um sich an einer Hammelkeule und einem Glas Sekt zu laben.

Es verstrich eine ängstliche Viertelstunde: die Geschworenen kamen zurück und der Richter wurde hereingeholt. Herr Pickwick setzte seine Brille auf und starrte mit unruhevollem Gesicht und schnellklopfendem Herzen nach dem Obmann hin.

»Meine Herren«, fragte das schwarzgekleidete Individuum, »haben Sie sich über Ihren Ausspruch geeinigt?«

»Ja«, antwortete der Obmann.

»Für wen haben Sie sich entschieden, meine Herren, für die Klägerin oder den Beklagten?«

»Für die Klägerin.«

»Welche Entschädigung erkennen Sie ihr zu?«

»Siebenhunderundfünfzig Pfund.«

Herr Pickwick nahm seine Brille herunter, wischte die Gläser sorgfältig ab, steckte sie ins Futteral und dieses in die Tasche. Sodann zog er mit großer Pünktlichkeit seine Handschuhe an, und nachdem er diese ganze Zeit über den Obmann angestarrt hatte, folgte er mechanisch Herrn Perker und dem blauen Sack zum Saale hinaus.

Sie begaben sich in ein Seitenzimmer, wo Perker die Gebühren bezahlte und wohin bald darauf auch Herrn Pickwicks Freunde kamen. Hier trafen sie auch die Herren Dodson und Fogg, die sich mit allen Zeichen innerer Zufriedenheit die Hände rieben.

»Nun, meine Herren?« sagte Herr Pickwick.

»Nun, Sir?« sagte Herr Dodson für sich und seinen Kompagnon.

»Sie bilden sich wahrscheinlich ein, daß Sie Ihre Kosten erhalten werden, meine Herren?« sagte Herr Pickwick.

Fogg erwiderte, sie zweifelten nicht daran; und Dodson meinte, sie würden es schon auf einen Versuch ankommen lassen.

»Versuchen Sie es, so lange Sie wollen, meine Herren Dodson und Fogg«, sagte Herr Pickwick heftig, »aber Sie erhalten von mir keinen Heller Kosten oder Entschädigung, und wenn ich mein ganzes noch übriges Leben im Schuldturm zubringen müßte.«

»Ha, ha!« meinte Dodson, »Sie werden sich noch vor dem nächsten Gerichtstag eines Besseren besinnen, Herr Pickwick.«

»Hihihi«, grinste Fogg: »das wollen wir bald sehen, Herr Pickwick.«

Sprachlos vor Entrüstung ließ sich Herr Pickwick von seinem Anwalt und seinen Freunden hinausführen und stieg in eine Mietkutsche,

die der allzeit aufmerksame Sam Weller für diesen Zweck herbeigeholt hatte.

Sam hatt den Tritt hinaufgeschlagen und wollte eben auf den Bock springen, als ihn jemand auf die Schulter klopfte. Er sah sich um, sein Vater stand vor ihm. Das Gesicht des alten Herrn trug den Ausdruck tiefer Betrübnis; er schüttelte ernsthaft sein Haupt und sagte im warnenden Tone:

»Ich wußte wohl, was dabei herauskommen würde, wenn man die Sache so angreift. O Sammy, Sammy, warum habt ihr kein Alibi nachgewiesen?«

  1. Affe.

Sechsunddreißigstes Kapitel.


Sechsunddreißigstes Kapitel.

Worin es Herr Pickwick fürs beste hält, nach Bath zu gehen, was er auch ausführt.

»Aber wahrhaftig, mein lieber Herr«, sagte der kleine Perker, als er am andern Morgen nach der Gerichtssitzung in Herrn Pickwicks Zimmer kam, – »es wird Ihnen doch wahrhaftig nicht Ernst sein, – wir wollen jetzt ohne Spaß und ohne Aufregung davon sprechen – Sie werden doch nicht im Ernst die Unkosten und die Entschädigung verweigern wollen?«

»Nicht einen halben Penny bezahle ich«, sagte Herr Pickwick fest, »keinen halben Penny.«

»Es geht nichts über feste Grundsätze, wie der Wucherer sagte, als er den Wechsel nicht prolongieren wollte«, bemerkte Herr Weller, der die Reste des Frühstücks abräumte.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, »sei so gut und geh hinunter.«

»Sogleich, Sir«, erwiderte Herr Weller, und zog sich auf diesen freundlichen Wink zurück.

»Nein, Perker«, fuhr Herr Pickwick mit großer Ernsthaftigkeit fort; »meine Freunde hier haben sich alle Mühe gegeben, mir diesen Entschluß auszureden; allein vergebens. Ich werde mich wie gewöhnlich beschäftigen; bis die Gegenpartei das Recht hat, zwangsweise Beitreibung gegen mich zu verlangen, und wenn sie niedrig genug denkt, sich derselben zu bedienen und mich verhaften zu lassen, so werde ich mich fröhlich und zufrieden darein geben. Wann können die Spitzbuben das tun?«

»Wegen der Entschädigung und den Prozeßkosten, mein lieber Herr«, antwortete Perker, »können sie bei den nächsten Gerichtssitzungen, das heißt, gerade in zwei Monaten, Exekution verlangen.«

»Sehr gut«, sagte Herr Pickwick. »Bis dahin, weiter Freund, lassen Sie mich nichts mehr von der Sache hören, und jetzt«, fuhr er fort, indem er sich mit vergnügtem Lächeln und funkelnden Augen, deren Glanz selbst durch die Brille nicht verdunkelt werden konnte, an seine Freunde wandte, »jetzt handelt es sich bloß darum: wohin begeben wir uns zunächst?«

Herr Tupman und Herr Snodgraß waren von dem Heroismus ihres Freundes zu sehr hingerissen, als daß sie sogleich eine Antwort hätten finden können; Herr Winkle hatte sich noch nicht hinlänglich von der Erinnerung an seine Zeugenschaft erholt, um ein Wörtchen mitzusprechen, und so wartete Herr Pickwick vergebens auf Antwort.

»Also schön«, sagte er endlich, »wenn Sie die Bestimmung mir überlassen wollen, so schlage ich Bath6 vor. So viel ich weiß, ist noch keiner von uns dort gewesen.«

Es war wirklich so, und da Perker, der es für höchst wahrscheinlich hielt, daß Herr Pickwick nach einiger Luftveränderung und Zerstreuung sich eines Besseren besinnen und den Schuldturm in einem anderen Lichte betrachten werde, den Vorschlag eifrig unterstützte, so wurde die Reise einstimmig beschlossen und Sam sogleich nach dem Weißen Roß abgeschickt, um auf dem am nächsten Morgen um halb acht Uhr abgehenden Postwagen fünf Plätze zu bestellen.

Es waren nur noch zwei Plätze innen und drei außen zu vergeben. Sam Weller nahm sie alle, und nachdem er mit dem Postkassierer wegen eines bleiernen halben Talers, den man ihm herausgeben wollte, einige Komplimente gewechselt, ging er nach dem Georg und Geier zurück, allwo er sich bis zum Schlafengehen eifrigst damit beschäftigte, die Kleider und Wäsche in den möglichst kleinen Raum zu zwängen, und sein ganzes mechanisches Genie aufbot, um durch allerhand sinnreiche Kunstgriffe die Koffer zu verschließen, die keine Schlösser hatten.

Der nächste Morgen war höchst ungünstig für eine Reise – es herrschte trüber, dunstiger Nebel; auch regnete es. Die Pferde vor dem Postwagen, die gerade von der City herkamen, dampften so, daß die außen fahrenden Passagiere ganz unsichtbar waren. Die Zeitungsverkäufer sahen aus wie aus dem Wasser gezogen und rochen dunstig. Der Regen troff von den Hüten der Oangenverkäufer, wenn sie die Köpfe in die Kutschenfenster reckten und wässerte den Kutschenraum auf eine erfrischende Weise. Die Juden mit den fünfzigklingigen Federmessern steckten ihre Messer verzweifelt ein, und die Männer, die Taschenbücher feilboten, machten wirklich Taschenbücher daraus. Ebensowenig konnten die andern Händler ihre Uhrketten und Röstgabeln, ihre Bleistifthalter und Schwämme losschlagen.

Als der Wagen anhielt, überließen Herr Pickwick und seine Freunde Sam Weller die Sorge, das Gepäck aus den Händen der sieben oder acht Träger zu retten, die wütend darüberherfielen, und da sie um zwanzig Minuten zu früh gekommen waren, suchten sie Schutz im Wartezimmer – dem letzten Zufluchtsort menschlichen Elends.

Das Wartezimmer im Weißen Roß ist, wie es sich von selbst versteht, alles andere als behaglich: es wäre ja sonst kein Wartezimmer. Es ist die Stube rechter Hand, hat aber mehr Ähnlichkeit mit einer Küche, wo Schüreisen, Feuerzangen und Schaufeln unordentlich beieinander liegen. Zur Beförderung der Geselligkeit der Reisenden ist es in mehrere abgesonderte Verschlage geteilt und mit einer Glocke, einem Spiegel, sowie mit einem Kellner möbliert, welch letzterer Artikel sich an einem Wasserkübel befindet, um die Gläser zu spülen.

In einem dieser Verschlage saß damals ein grimmig dreinblickender Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, mit glänzend kahler Stirn, jedoch starkem schwarzen Haar an den Schläfen sowie auf dem Hinterkopf und einem großen schwarzen Backenbart. Er hatte seinen braunen Rock bis unter das Kinn zugeknöpft, trug eine große Reisemütze von Seehundsfell; ein Überrock nebst Mantel lag neben ihm auf dem Stuhl. Als Herr Pickwick eintrat, blickte er mit trotziger, gebieterischer Miene, die viel Würdevolles hatte, von seinem Frühstück auf, und nachdem er diesen Herrn samt seinen Gefährten so lange es ihm gefiel gemustert, summte er ein Liedchen in einer Art, die zu sagen schien, wer mit ihm anbinden wolle, dem werde er schon seinen Mann stellen.

»Kellner«, rief der Herr mit dem Backenbart.

»Sir«, erwiderte ein junger Mensch mit schmutzigem Gesicht und gleichem Handtuch, der aus der Ecke des Zimmers auftauchte.

»Noch mehr geröstete Brotschnitten.«

»Sogleich, Sir.«

»Geröstete Brotschnitten mit Butter: verstehen Sie mich wohl«, sagte der Herr im barschen Ton.

»Ganz recht, Sir«, erwiderte der Kellner.

Der Herr mit dem Backenbart summte sein Liedchen auf dieselbe Art wie vorhin, näherte sich sodann in Erwartung der Brotschnitten dem Kamin, nahm seine Rockschöße unter den Arm, blickte auf seine Stiefel nieder und schien in tiefes Nachdenken zu versinken.

»Ich bin doch begierig, wo unsere Kutsche in Bath anhält«, sagte Herr Pickwick in freundlichem Ton zu Herrn Winkle.

»He – wie – was ist das?« fiel der Fremde ein.

»Sir«, erwiderte Herr Pickwick, stets bereit, auf eine Unterhaltung einzugehen, »ich sagte zu meinem Freunde, ich wolle doch sehen, wo die Kutsche in Bath anhält. Vielleicht können Sie mir Auskunft geben?«

»Reisen Sie nach Bath?« fragte der Fremde.

»Ja, Sir«, antwortete Herr Pickwick.

»Und die andern Herren?«

»Sie reisen auch mit.«

»Aber doch nicht im Wagen drinnen – ich will verdammt sein, wenn sie im Wagen fahren«, sagte der Fremde.

»Wir alle allerdings nicht«, sagte Herr Pickwick.

»Nein, Sie alle gewiß nicht«, versetzte der Fremde mit Nachdruck. »Ich habe zwei Plätze genommen. Wenn man sechs Leute in diesen verwünschten Kasten hineinzwängen will, der nur für vier Raum hat, so nehme ich Extrapost und klage. Ich habe mein Reisegeld bezahlt und dabei dem Sekretär ausdrücklich gesagt, daß dies ein für allemal nicht angeht. Ich weiß, daß diese Burschen es häufig so machen. Ich weiß, daß sie sich’s alle Tage herausnehmen: aber bei mir sollen sie schon ein Haar darin finden. Wer mich kennt, weiß, daß ich mir nicht im Bart kratzen lasse. Zum Donnerwetter, ja!«

Hier klingelte der wilde Herr mit großer Heftigkeit und schnauzte den Kellner an, er solle die gerösteten Brotschnitten binnen fünf Sekunden bringen oder er wolle ihn Mores lehren.

»Mein lieber Herr«, sagte Herr Pickwick, »erlauben Sie mir. Ihnen zu bemerken, daß Sie sich ganz unnötigerweise so ereifern. Ich habe nur zwei Plätze innen genommen.«

»Das freut mich«, sagte der bärbeißige Mann: »ich nehme meine Ausdrücke zurück. Ich bitte um Entschuldigung. Hier ist meine Karte. Schenken Sie mir Ihre Bekanntschaft.«

»Mit größtem Vergnügen, Sir«, erwiderte Herr Pickwick. »Wir werden Reisegefährten sein und, wie ich hoffe, gegenseitig unsere Gesellschaft angenehm finden.«

»Das hoffe ich auch«, sagte der wilde Herr. »Ja, ich weiß es schon im voraus. Sie gefallen mir. Meine Herren, reichen wir uns die Hände, und sagen wir uns gegenseitig die Namen, kernen Sie mich kennen.«

Auf diese entgegenzukommende Aufforderung fanden natürlicherweise freundschaftliche Begrüßungen statt, und der grimmige Herr benachrichtigte die Freunde in denselben kurz abgebrochenen und abgestoßenen Sätzen wie zuvor, sein Name sei Dowler, er reise zu seinem Vergnügen nach Bath, habe früher in der Armee gedient aber seinen Abschied genommen, lebe jetzt standesgemäß von seinen Renten, und der zweite Platz, den er bestellt, sei für keine geringere Person bestellt, als für Frau Dowler, seine edle Gemahlin.

»Sie ist eine schöne Frau«, fügte Herr Dowler hinzu. »Ich bin stolz auf sie. Ich habe Ursache.«

»Ich hoffe, ich werde das Vergnügen haben, mich selbst davon zu überzeugen«, sagte Herr Pickwick lächelnd.

»Das sollen Sie auch«, erwiderte Dowler. »Sie soll Ihre Bekanntschaft machen – sie wird Sie hochachten. Ich bewarb mich um sie unter seltsamen Umständen. Ich gewann sie durch ein übereiltes Gelübde. Die Sache war so. Ich sah sie; ich liebte sie; ich erklärte mich; sie gab mir einen Korb. – ›Lieben Sie einen andern?‹ – ›Ersparen Sie mir ein Erröten!‹ – ›Ich kenne ihn.‹ – ›Das weiß ich!‹ – ›Schon gut: wenn er hier bleibt, so werde ich ihn zu Frikassee verarbeiten.‹«

»Gott steh mir bei«, rief Herr Pickwick unwillkürlich aus.

»Und haben Sie den Herrn wirklich zu Frikassee verarbeitet, Sir?« fragte Herr Winkle mit sehr blassem Gesicht.

»Ich schrieb ihm ein Billett. Ich sagte, es sei eine fatale Sache. Und das war es auch.«

»Will’s wohl glauben«, meinte Herr Winkle.

»Ich sagte, ich habe mein Wort als Gentleman verpfändet, ihn zu Frikassee zu verarbeiten. Meine Ehre stehe auf dem Spiel, ich hatte keine Wahl mehr. Als Offizier in den Diensten Seiner Majestät müsse ich es tun. Ich bedaure die Notwendigkeit, allein es lasse sich nicht mehr ändern. Er war empfänglich für Vernunftgründe. Er sah ein, daß man den Gesetzen des Dienstes den Gehorsam nicht verweigern dürfe. Er floh. Ich heiratete sie. Hier kommt die Kutsche. Da sieht sie eben heraus.«

Herr Dowler zeigte nach dem offenen Fenster des soeben angekommenen Postwagens, aus dem ein recht hübsches Gesichtchen unter einer hellblauen Haube auf die im Hofe stehende Gruppe herausschaute, höchst wahrscheinlich den grimmigen Mann suchend. Herr Dowler bezahlte seine Rechnung und eilte mit seiner Reisekappe, seinem Stock und Mantel hinaus: Herr Pickwick und seine Freunde folgten ihm, um sich ihrer Plätze zu versichern.

Herr Tupman und Herr Snodgraß stiegen hinten hinauf, Herr Winkle war in den Wagen selbst gestiegen, und Herr Pickwick war im Begriff, ihm zu folgen, als Sam Weller zu seinem Herrn trat und ihm mit äußerst geheimnisvoller Miene zuflüsterte, er habe ihm etwas zu sagen.

»Nun, Sam«, meinte Herr Pickwick, »was gibt’s denn?«

»Eine schöne Geschichte, Sir«, antwortete Sam.

»Und was denn?« fragte Herr Pickwick.

»Ich fürchte sehr«, antwortete Sam, »daß der Eigentümer dieser Kutsche uns einen schnöden Streich gespielt hat.«

»Wieso, Sam?« fragte Herr Pickwick; »sind etwa die Namen nicht in die Karte eingetragen?«

»O freilich, Sir«, erwiderte Sam, »sie sind nicht nur in die Karte eingetragen, sondern einer davon ist sogar auf die Kutschentür gemalt.«

Mit diesen Worten deutete Sam auf den Teil der Tür, wo gewöhnlich der Name des Eigentümers« steht, und wirklich war hier in stattlichen vergoldeten Buchstaben der englische Name Pickwick zu lesen.

»Seltsam«, rief Herr Pickwick, verblüfft über dies Zusammentreffen! »wahrhaftig sehr seltsam.«

»Das ist noch nicht alles«, sagte Sam, indem er die Aufmerksamkeit seines Herrn von neuem auf die Kutschentür lenkte: »sie haben nicht nur Pickwick daraufgeschrieben, sondern auch noch Moses davor gesetzt, und das nenne ich eine Verhöhnung neben der Beleidigung, wie der Papagei sagte, als man ihn nicht nur aus seinem Vaterland entführte, sondern später auch noch zwang, englisch zu lernen.«

»Es ist wirklich höchst auffallend, Sam«, sagte Herr Pickwick, »aber wenn wir noch lange da stehenbleiben und schwatzen, so werden wir unsere Plätze verlieren.«

»Aber, aber, wollen Sie denn gar nichts dagegen tun, Sir?« rief Sam, höchst verwundert über die Kaltblütigkeit, mit der Herr Pickwick sich anschickte, einzusteigen.

»Was soll ich denn tun?« sagte Herr Pickwick: »was soll ich denn tun?«

»Soll denn niemand für diese Frechheit gestraft werden, Sir?« sagte Herr Weller, der zum mindesten den Auftrag erwartet hatte, den Schaffner und den Kutscher zu einem Faustkampf an Ort und Stelle herauszufordern.

»Nein, nein«, erwiderte Herr Pickwick eifrig: »unter gar keinen Umständen. Steige jetzt auf deinen Platz.«

»Ich fürchte beinahe«, murmelte Sam, als er sich abwandte, »ich fürchte beinahe, mit meinem Herrn ist es nicht ganz richtig, sonst wäre er nicht so ruhig geblieben. Der Prozeß wird ihm doch hoffentlich nicht seine Courage genommen haben; doch es sieht schlimm aus, sehr schlimm.«

Herr Weller schüttelte bedenklich den Kopf. Wie sehr er sich die Sache zu Herzen nahm, wird daraus klar, daß er kein Wort mehr sprach, bis die Kutsche am Kensingtoner Schlagbaum anhielt; es war ihm vielleicht in seinem ganzen Leben noch nie vorgekommen, daß er so lange geschwiegen hatte.

Sonst trug sich während der Reise nichts von besonderem Belang zu. Herr Dowler erzählte eine Menge Anekdoten, die sämtlich seinen Mut und seine Tollkühnheit zum Thema hatten, und appellierte dabei an seine Gemahlin, die sie bestätigte und als Anhang jedesmal noch irgendeinen merkwürdigen Umstand hinzufügte, den Herr Dowler vergessen oder vielleicht auch aus Bescheidenheit übergangen hatte. Sämtliche Zusätze liefen nämlich darauf hinaus, zu beweisen, daß Herr Dowler noch ein viel wundervollerer Mann sei, als er sich selbst gab. Herr Pickwick und Herr Winkle hörten mit großer Bewunderung zu und unterhielten sich zuweilen mit Frau Dowler, die eine sehr angenehme und bezaubernde Dame war. So schwand zwischen den Geschichten des Herrn Dowler, den Reizen seiner Gemahlin, der guten Laune des Herrn Pickwick und dem trefflichen Hörtalent des Herrn Winkle der Gesellschaft im Wagen ihre Zeit aufs angenehmste dahin.

Mit den äußeren Passagieren ging es wie gewöhnlich. Sie waren beim Anfang jeder Station sehr lustig und gesprächig, in der Mitte langweilig und schläfrig und gegen das Ende wieder sehr aufgeräumt und munter. Ein in einen Gummimantel gekleideter junger Herr rauchte den ganzen Tag Zigarren, ein anderer junger Herr in einer Parodie auf einen großen Mantel zündete gleichfalls eine Menge Giftnudeln an, fühlte sich aber nach dem zweiten Zuge unwohl und warf sie wieder weg, wenn er von niemand gesehen zu werden glaubte. Ein Dritter kramte seine Kenntnisse in der Viehzucht aus, und ein alter Mann, der hinten saß, gab seine landwirtschaftlichen Erfahrungen zum besten. Auf jeder Station stiegen Reisende ab und kamen andere hinzu, zum Teil in Bauernkitteln, die als blinde Passagiere bei dem Schaffner aufsaßen und sich rühmen konnten, jedes Pferd und jeden Hausknecht auf dieser Straße zu kennen. Dabei machten sie zugleich ihre Bemerkungen über das Mittagessen und meinten, es wäre nicht um eine halbe Krone zu teuer gewesen, wenn man Zeit gehabt hätte, es aufzuessen. Endlich um sieben Uhr abends langten Herr Pickwick und seine Freunde, sowie Herr Dowler und seine Gemahlin in Bath an und stiegen im Hotel Zum weißen Hirsch, dem großen Brunnensaal gegenüber, ab. Dort könnte man die Kellner wegen ihrer Tracht leicht mit jungen Gymnasiasten aus Westminster verwechseln, wenn die Illusion nicht sogleich dadurch gestört würde, daß erstere sich weit besser zu benehmen wissen.

Am folgenden Morgen war das Frühstück kaum abgetragen, als ein Kellner eine Karte von Herrn Dowler brachte, der um Erlaubnis bat, einen Freund vorstellen zu dürfen. Gleich darauf traten die beiden Herren ein.

Der Freund war ein sehr einnehmender junger Mann von nicht viel mehr als fünfzig Jahren und trug einen sehr glänzenden blauen Rock mit funkelnden Knöpfen, schwarze Beinkleider und möglichst feine, blank geputzte Stiefel. Eine goldene Lorgnette hing an einem breiten schwarzen Bande an seiner Brust; in der linken Hand trug er nachlässig eine goldene Tabaksdose, an seinen Fingern glänzten zahllose goldene Ringe, und über seinem Busenstreif strahlte eine in Gold gefaßte Diamantnadel. Außerdem trug er eine goldene Uhr an einer goldenen Kette mit großen goldenen Petschaften, und in der Hand hatte er einen feinen Stock von Ebenholz mit einem schweren goldenen Knopf. Seine Wäsche war so weiß, so fein und so glatt, wie man sich nur denken kann; seine Perücke ungemein glänzend, schwarz und lockig. Sein Schnupftabak war Prinzenmischung, sein Duft Bouquet du Roi. Seine Züge umschwebte ein beständiges Lächeln, und seine Zähne hatte er in so vortrefflicher Ordnung erhalten, daß es in einiger Entfernung schwer war, die natürlichen von den falschen zu unterscheiden.

»Herr Pickwick«, sagte Dowler, »mein Freund Angelo Cyrus Bantam, Esquire, Kurdirektor Bantam – Herr Pickwick. Lernen Sie einander kennen.«

»Willkommen in Ba-ath, Sir. – In der Tat eine herrliche Errungenschaft, dieses Ba-ath. Herzlich willkommen in Ba-ath, Sir. Es ist lange her – sehr lange, Herr Pickwick, daß Sie den Brunnen nicht getrunken haben. Es deucht mir, eine Ewigkeit zu sein, Herr Pickwick. Me-erkwürdig!«

So sprechend ergriff Angelo Cyrus Bantam, Esquire, Herrn Pickwicks Hand, hielt sie in der seinen fest und zuckte unter beständigen Verbeugungen die Achseln, als ob er wirklich nicht imstande wäre, sie wieder loszulassen.

»Es muß allerdings schon sehr lange her sein, daß ich den Brunnen nicht getrunken habe«, antwortete Herr Pickwick, »denn meines Wissens war ich noch nie hier.«

»Noch nie in Ba-ath, Herr Pickwick?« rief der Kurdirektor aus und ließ voll Erstaunen dessen Hand fahren. »Noch nie in Ba-ath? Hihi! Herr Pickwick, Sie sind ein Spaßvogel. Nicht übel, nicht übel. Gut, gut. Hihihi! Me-erkwürdig!«

»Ich muß zu meiner Schande bekennen, daß es mir vollkommen Ernst ist«, versetzte Herr Pickwick. »Ich bin wirklich noch nie dagewesen.«

»O, ich weiß wohl«, rief der Kurdirektor äußerst vergnügt: »ja, ja – gut, ganz gut – besser und immer besser. Sie sind der Herr, von dem wir gehört haben. Ja, wir kennen Sie, Herr Pickwick, wir kennen Sie.«

»Diese verwünschten Zeitungsberichte über meinen Prozeß!« dachte Herr Pickwick. »Sie wissen alles von mir.«

»Sie sind der Herr, der in Clapham Green wohnt und den Gebrauch seiner Glieder dadurch verlor, daß er sich erkältete, nachdem er Portwein getrunken – der sich wegen heftiger Schmerzen nicht rühren konnte, und dem man das Wasser vom Königsbad hundertunddrei Grad stark nach London auf sein Zimmer schickte, wo er badete, nieste und an demselben Tage wieder genas. Äußerst me-erkwürdig!«

Herr Pickwick erkannte das in dieser Annahme liegende Kompliment an, besaß jedoch Selbstverleugnung genug, es gleichwohl abzulehnen, und benutzte ein augenblickliches Stillschweigen des Herrn Bantam, um ihm seine Freunde, die Herren Tupman, Winkle und Snodgraß vorzustellen. Natürlich war der Kurdirektor ganz überwältigt von Entzücken und Ehre.

»Bantam«, sagte Herr Dowler: »Herr Pickwick und seine Freunde sind Fremde. Sie müssen ihre Namen einschreiben. Wo ist das Buch?«

»Das Verzeichnis der ausgezeichneten Gäste in Ba-ath wird um zwei Uhr im Brunnensaal aufliegen«, erwiderte der Kurdirektor. »Wollen Sie vielleicht unsre Freunde in dieses Prachtgebäude führen und mich in den Stand setzen, ihre persönlichen Namensunterschriften zu bekommen?«

»Sehr gern«, versetzte Dowler. »Das ist übrigens ein langer Besuch. Es ist Zeit, daß wir gehen: ich werde in einer Stunde wieder hier sein. Kommen Sie!«

»Es ist heute abend Ball«, sagte der Kurdirektor und ergriff zum Abschiede Herrn Pickwicks Hand abermals. »Die Ballabende in Ba-ath sind paradiesische Momente, zauberhaft durch Musik, Schönheit, Eleganz, guten Ton, Etikette – und – und – durch die Abwesenheit aller Handels- und Gewerbsleute, die sich mit dem Begriff eines Paradieses durchaus nie vereinigen lassen und alle vierzehn Tage in Guildhall als gleich zu gleich sich gern gesellen, was zum mindesten merkwürdig ist. Adieu indessen!«

Und nachdem er die ganze Treppe hinab beteuerte, er sei unendlich befriedigt, entzückt, überwältigt und geschmeichelt, stieg Angelo Cyrus Bantam, Esquire und Kurdirektor, in einen sehr eleganten Wagen, der ihn vor der Tür erwartete, und rasselte davon.

Zur bestimmten Stunde begaben sich Herr Pickwick und seine Freunde von Dowler begleitet nach dem Brunnensaal und schrieben ihre Namen in das Fremdenbuch ein – ein Beweis von Herablassung, wodurch sich Angelo Bantam noch mehr überwältigt fühlte als zuvor. Die ganze Gesellschaft sollte Einlaßkarten zur Abend- Reunion haben; allein, da sie noch nicht fertig waren, so erklärte Herr Pickwick trotz aller Gegenvorstellungen Angelo Bantams, er werde um vier Uhr seinen Sam nach der Wohnung des Kurdirektors in Queensquare schicken, um sie abzuholen. Nachdem sie sofort einen kurzen Spaziergang durch die Stadt gemacht und einstimmig erklärt hatten, die Parkstraße habe sehr große Ähnlichkeit mit jenen senkrechten Straßen, die man in Träumen sieht und um alles in der Welt nicht hinaufgehen kann, kehrten sie in den Weißen Hirsch zurück, und Sam wurde mit dem eben erwähnten Auftrag fortgeschickt.

Sam Weller setzte seinen Hut sehr leicht und graziös auf den Kopf, steckte die Hände in die Seitentaschen und schritt mit gutem Bedacht nach Queensquare, indem er unterwegs etliche der beliebtesten Lieder des Tags, wie sie mit ganz neuen Variationen für das edle Instrument, Leierkasten genannt, komponiert wurden, vor sich hin pfiff. Vor der ihm bezeichneten Nummer in Queensquare angelangt, hörte er auf zu pfeifen und klopfte munter ans Haus, das sogleich von einem bepuderten Portier in prachtvoller Livree und von ebenmäßigem Körperbau geöffnet wurde.

»Wohnt hier Herr Bantam, Kollege?« fragte Sam Weller, nicht im mindesten eingeschüchtert durch den Strahlenglanz, den die Person des gepuderten Lakaien mit der prachtvollen Livree um sich verbreitete.

»Warum, junger Mann?« war die stolze Gegenfrage des Gepuderten.

»Weil Sie, wenn es sich so verhält, mit dieser Karte zu ihm gehen und ihm sagen sollen, Herr Weller sei da. Ist’s gefällig?« sagte Sam, trat dabei höchst kaltblütig in die Hausflur und setzte sich nieder.

Der gepuderte Lakai schlug die Tür heftig zu und schnitt ein grimmiges Gesicht; allein diese beiden Demonstrationen verfehlten ihren Eindruck auf Sam, der mit allen äußern Zeichen kritischer Billigung einen Mahagonischrank betrachtete.

Offenbar hatte die Art, wie sein Herr die Karte aufgenommen, den Gepuderten günstiger für Sam gestimmt; denn er kehrte freundlich lächelnd zurück und sagte, die Antwort werde sogleich folgen.

»Schon gut«, erwiderte Sam. »Sagen Sie dem alten Herrn, er brauche sich nicht zu eilen. Es hat keine große Eile, Herr Sechsfuß. Ich habe bereits zu Mittag gespeist.«

»Sie speisen also früh, Sir?« bemerkte der Gepuderte.

»Ich finde, daß mir dann das Abendessen besser schmeckt«, erwiderte Sam.

»Sind Sie schon lange in Bath, Sir?« fragte der Gepuderte. »Ich habe noch nie das Vergnügen gehabt, von Ihnen zu hören.«

»Ich habe bisher noch kein großes Aufsehen hier gemacht«, erwiderte Sam, »denn ich und die anderen Herren sind erst heute abend angekommen.«

»Ein schöner Ort, Sir«, meinte der Gepuderte.

»Scheint so«, bemerkte Sam.

»Eine angenehme Gesellschaft, Sir«, fuhr der Portier fort. »Sehr artige Dienerschaften, Sir.«

»Das will ich meinen«, erwiderte Sam. »Freundliche, nicht eingebildete Leute, die nicht viel Federlesens machen.«

»Ja, das ist wahr, Sir«; sagte der gepuderte Lakai, der Sams Bemerkung offenbar für ein großes Kompliment hielt. »Das ist wahr. Belieben Sie ein Prischen, Sir?« fügte er hinzu, indem er ihm eine kleine Schnupftabaksdose mit einem Fuchskopf auf dem Deckel hinbot.

»Ich muß zu sehr niesen«, erwiderte Sam.

»Ja, Sir«, sagte der lange Portier, »das Schnupfen ist allerdings schwer; doch nach und nach geht es schon. Am besten lernt man es am Kaffee. Ich habe lange Kaffe geschnupft, Sir. Er sieht ganz aus, wie der Rappee7

Hier versetzte ein scharfes Klingeln den gepuderten Lakaien in die schmähliche Notwendigkeit, den Fuchskopf wieder einzustecken und mit unterwürfiger Miene in Herrn Bantams »Studierzimmer« zu eilen. Beiläufig gesagt, wir haben nicht leicht einen Mann gekannt, der lesen oder schreiben konnte, und nicht irgendein kleines Hinterzimmer in seinem Hause sein Studierzimmer genannt hätte.

»Hier ist die Antwort, Sir«, sagte der Gepuderte. »Ich fürchte fast, sie ist ihrer Größe wegen etwas unbequem.«

»Hat nichts zu sagen«, erwiderte Sam, einen Brief in einem kleinen Kuvert in Empfang nehmend. »Möglich, daß meine erschöpfte Natur das noch tragen kann.«

»Ich hoffe, wir werden uns wiedersehen, Sir«, sagte der Gepuderte, indem er sich die Hände rieb und Sam bis an die Tür begleitete.

»Sie sind gar zu gütig, Sir«, erwiderte Sam. »Strengen Sie sich nur nicht über Ihre Kräfte an. Bedenken Sie, was Sie der menschlichen Gesellschaft schuldig sind, und schaden Sie sich nicht durch zu vieles Arbeiten. Um Ihrer Mitgeschöpfe willen halten Sie sich so ruhig wie möglich, und überlegen Sie wohl, wie schmerzlich man Ihren Verlust empfinden würde.«

Mit diesen pathetischen Worten entfernte sich Sam wieder.

»Ein höchst sonderbarer junger Mensch«, meinte der bepuderte Lakai, Herrn Weller mit einer Miene nachblickend, in der deutlich geschrieben stand, daß er aus ihm nicht klug werden konnte.

Sam seinerseits sprach nichts mehr. Er blinzelte, schüttelte den Kopf, lächelte, blinzelte abermals und lief lustig seines Wegs dahin, mit einem Ausdruck auf seinem Gesicht, das nicht daran zweifeln ließ, daß ihm irgend etwas großes Vergnügen machen müsse.

Präzis zwanzig Minuten vor acht Uhr am selben Abend sprang Angelo Cyrus Bantam, Esquire, der Kurdirektor, vor dem Kurhaus aus seinem Wagen mit derselben Perücke, denselben Zähnen, derselben Uhr nebst Petschaft, denselben Ringen, derselben Busennadel und demselben Stocke. Die einzigen bemerkbaren Veränderungen in seinem Aufzuge bestanden darin, daß er einen noch glänzenderen blauen Frack mit weißseidenem Futter, enge, schwarze Beinkleider, schwarze seidene Strümpfe, Tanzschuhe und eine weiße Weste trug, und dabei womöglich noch etwas süßer duftete.

So geschmückt, begab sich der Kurdirektor zur pünktlichen Erfüllung der wichtigen Obliegenheiten seines hochwichtigen Amtes in die Gemächer, um die Gesellschaft zu empfangen.

Da Bath sehr besucht war, so strömten sowohl Gäste wie Fünfpfennig-Kavaliere zum Tee in Massen herein. Im Ballsaal, in dem achteckigen Spielzimmer, in dem langen Spielzimmer, auf den Treppen und in den Gängen, überall herrschte Gedränge und verworrenes Summen, so daß man kaum sein eigen Wort hörte. Kleider rauschten, Federn schwankten, Kerzen leuchteten und Juwelen funkelten. Musik ertönte – nicht die Tanzmusik, die noch nicht begonnen hatte, sondern die Musik zarter und sanfter Fußtritte, und dann und wann jenes leise Kichern und Flüstern weiblicher Stimmen, das so angenehm für das Ohr ist – in Bath, wie überall. Von allen Seiten glänzten und funkelten strahlende Augen voll wonniger Erwartung. Wohin man blickte, schwebte eine herrliche Gestalt anmutvoll durch das Gedränge, und war kaum verschwunden, als eine andere, ebenso schöne und bezaubernde an ihre Stelle trat.

Im Teezimmer und an den Kartentischen erblickte man eine große Anzahl wunderlich ausstaffierter alter Damen und abgelebter alter Herren, die all das abgeschmackte Tagesgeschwätz und Geklatsch mit sichtbarer Freude und Vergnügen abhandelten. Unter diesen Gruppen befanden sich drei oder vier Ballmütter, die ihre Töchter gern unter die Haube gebracht hatten und in die Unterhaltung, an der sie teilnahmen, ganz vertieft zu sein schienen, dabei aber nicht ermangelten, von Zeit zu Zeit ihren lieben Kinderchen besorgte Seitenblicke zuzuwerfen. Diese, der mütterlichen Ermahnungen, ihre Blütezeit zu benutzen, eingedenk, hatten bereits ihre kleinen Koketterien begonnen, indem sie absichtlich verlegte Halstücher suchten, Handschuhe anzogen, Tassen auf den Tisch stellten usw.; dem ersten Anschein nach unbedeutende Dinge, mit denen man aber bei einiger Übung und Erfahrung erstaunlich viel erreichen kann.

An den Türen und den entfernten Winkeln trieben sich größere oder kleinere Haufen alberner junger Herren herum, naseweise Zierbengel, die durch kindisches Benehmen und Abgeschmacktheiten allen verständigen Leuten zum Gespött wurden. Sie fühlten sich überglücklich in dem Gedanken, Gegenstände der allgemeinen Bewunderung zu sein – eine weise, barmherzige Fügung Gottes, worüber kein gutgesinnter Mensch klagen kann.

Auf einigen der hintern Bänke endlich hatte eine Anzahl unverheirateter Damen, die ihr gefährliches Alter bereits hinter sich hatten, ihre Plätze für den Abend eingenommen. Sie tanzten nicht, weil sich keine Tänzer für sie fanden, spielten auch nicht Karten, um nicht unrettbar ledig zu bleiben. Daher befanden sie

sich in der günstigen Lage, über jedermann schimpfen zu können, ohne an sich selbst zu denken, – wir sagen: über jedermann, denn es war alles da, und alles war Fröhlichkeit, Glanz und Pracht, lauter elegant gekleidete Herren und Damen, prachtvolle Spiegel, glänzende Fußböden, duftende Blumenkränze, strahlende Wachskerzen. Überall aber hüpfte in stiller Freundlichkeit von Ort zu Ort, bald vor dieser Gesellschaft demütig sich verbeugend, bald jener vertraulich zuwinkend und alle wohlgefällig anlächelnd, die zierlich geschniegelte Person des Kurdirektors Angelo Cyrus Esquire umher.

»Kommen Sie in das Teezimmer. Trinken Sie für Ihre sechs Pence. Man gießt siedendes Wasser auf und nennt es Tee. Trinken Sie«, sagte Herr Dowler mit lauter Stimme zu Herrn Pickwick, der mit Frau Dowler am Arm der kleinen Gesellschaft voranging.

Herr Pickwick verfügte sich in das Teezimmer, und als Herr Vantam, Esquire umher.[** hier fehlt etwas**] zieher durch das Gedränge und bewillkommte ihn mit Begeisterung.

»Mein teurer Herr, ich fühle mich unendlich geehrt. Ba-ath darf sich glücklich schätzen. Madame Dowler, Sie verschönern diese Räume. Ich gratuliere Ihnen zu Ihren Federn. Fa-belhaft.«

»Sind Herrschaften hier?« fragte Dowler zweifelhaft.

»Herrschaften! – Die Elite von Ba-ath! Herr Pickwick, sehen Sie die Dame dort mit dem Gazeturban.«

»Die dicke alte Frau?« fragte Herr Pickwick unschuldig.

»Pst, mein teurer Herr – in Ba-ath ist niemand dick oder alt. Es ist die verwitwete Lady Snuphanuph.«

»Wirklich?« fragte Herr Pickwick.

»Wie ich Ihnen sage, keine geringere Person«, entgegnete der Kurdirektor. »Kommen Sie doch näher, Herr Pickwick. Sie sehen wohl den prachtvoll gekleideten jungen Herrn dort?«

»Den mit den langen Haaren und der auffallend niedrigen Stirne?« fragte Herr Pickwick.

»Ja; das ist gegenwärtig der reichste junge Mann in Ba-ath, der junge Lord Mutanhed.«

»Donnerwetter!« sagte Herr Pickwick.

»Sie werden ihn sogleich sprechen hören, Herr Pickwick. Er wird sich mit mir unterhalten. Der andere Herr bei ihm mit der roten Weste und dem dunklen Backenbart ist der ehrenwerte Herr Crushton, sein Busenfreund. Wie befinden Sie sich, Mylord?«

»Sehw heiß hiew, Bantam«, bemerkte seine Lordschaft, die beim Aussprechen des ›R‹ einige Schwierigkeiten fand.

»Es ist allerdings sehr warm, Mylord«, bemerkte der Kurdirektor.

»Verteufelt heiß«, bekräftigte der ehrenwerte Herr Crushton.

»Haben Sie den Postwagen Seiner Herrlichkeit schon gesehen, Bantam?« fragte er nach einer kurzen Pause, während der der junge Lord Mutanhed Herrn Pickwick durch vornehm stolzes Mustern aus der Fassung zu bringen versuchte und Herr Crushton sich besonnen hatte, über welchen Gegenstand Seine Herrlichkeit wohl am besten sprechen könne.

»Nein, noch nicht«, antwortete der Kurdirektor. »Ein Postwagen? Welch ein herrlicher Einfall! Me-erkwürdig!«

»Gütigew Gott«, sagte Seine Lordschaft, »ich dachte, jedewmann müsse den neuen Postkawwen schon gesehen haben; es ist das netteste, ziemlichste, awtigste Ding, was je auf Wädewn gelaufen ist, woth angemalt und mit einem isabellfawbigen Schecken davow.«

»Und mit einem wirklichen Briefkasten, alles ganz vollständig«, setzte der ehrenwerte Herr Crushton hinzu.

»Und einem kleinen Nowsitz mit eisewnew Lehne füw den Kutschew«, ergänzte Seine Lordschaft. »Ich fuhw gestewn Mowgen damit in einem Kawmoisinwock nach Bwistol und ließ zwei Dienew eine Viewtelstunde hinten nachweiten; und da waw es zu schön, wie die Leute aus den Häusewn stüwzten und mich anhielten und fwagten, ob ich nichts füw sie hätte. Das waw ein Hauptspaß.«

Bei dieser Anekdote lachte Seine Lordschaft recht herzlich und die Zuhörer natürlich auch. Sodann schob er seinen Arm durch den des dienstfertigen Herrn Crushton und entfernte sich.

»Ein entzückender junger Mann, dieser Lord«, sagte der Kurdirektor.

»Es scheint so«, bemerkte Herr Pickwick trocken.

Nachdem alle nötigen Einleitungen und Anordnungen zum Tanze getroffen waren und derselbe seinen Anfang genommen hatte, suchte Angelo Bantam Herrn Pickwick wieder auf und führte ihn ins Spielzimmer.

Eben als sie eintraten, umschwebten die verwitwete Lady Snuphanuph und zwei andere Damen von antikem, whistlustigem Aussehen einen unbesetzten Spieltisch. Kaum erblickten sie Herrn Pickwick in Begleitung des Herrn Angelo Bantam, so wechselten sie bedeutsame Blicke mit einander, in denen klar und unverkennbar lag, das sei gerade der Mann, dessen sie bedürften, um ein Spielchen zu machen.

»Mein lieber Bantam«, sagte die verwitwete Lady Snuphanuph in schmeichelnder Weise, »tun Sie uns doch den Gefallen und suchen Sie uns einen passenden Mitspieler.«

Da Herr Pickwick in diesem Augenblick zufällig nach einer andern Seite sah, so winkte Ihre Herrlichkeit mit dem Kopf nach ihm und runzelte ausdrucksvoll die Stirne.

»Mylady«, sagte der Kurdirektor, der den Wink verstand, »mein Freund, Herr Pickwick, wird sich unendlich glücklich schätzen. Herr Pickwick – Lady Snuphanuph – Frau Oberst Wugsby – Fräulein Bolo.«

Herr Pickwick verbeugte sich vor jeder der drei Damen, und da er einsah, daß hier kein Entrinnen war, so ergab er sich in sein Schicksal. Herr Pickwick und Fräulein Bolo spielten gegen Lady Snuphanuph und die Frau Oberst Wugsby.

Eben als die zweite Partie begann und der Trumpf schon auflag, rannten zwei junge Damen ins Zimmer und stellten sich von beiden Seiten neben dem Stuhl der Frau Oberst Wugsby auf, wo sie geduldig warteten, bis das Spiel vorüber war.

»Nun, Jane«, sagte die Frau Oberst, sich gegen eines der Mädchen wendend, »was gibt’s?«

»Ich möchte Sie nur fragen, Mama, ob ich mit dem jüngsten Herrn Crawlei tanzen darf«, flüsterte die hübschere und jüngere der beiden Töchter.

»Um Gottes Willen, Jane, wie kannst du an so etwas denken?« erwiderte die Mutter entrüstet. »Hast du nicht schon oft genug gehört, daß sein Vater bloß achthundert Pfund jährlich besitzt, die mit seinem Tode wegfallen? Ich muß mich für dich in die Seele hinein schämen. Nein, um keinen Preis.«

»Mama«, flüsterte die andere, die viel älter als ihre Schwester und dabei unendlich einfältig und affektiert war, »Lord Mutanhed ist mir vorgestellt worden. Ich habe gesagt, ich sei, glaube ich, nicht engagiert, Mama.«

»Du bist mein liebes Kind«, erwiderte die Frau Oberst, mit dem Fächer auf die Wange der Tochter klopfend; »auf dich kann ich mich immer verlassen. Er ist unermeßlich reich, meine Liebe. Gott segne dich.«

Mit diesen Worten küßte sie ihre älteste Tochter aufs zärtlichste, runzelte gegen die andere warnend die Stirn und mischte die Karten.

Der arme Herr Pickwick! Er hatte noch nie mit drei ausgelernten Whistspielerinnen gespielt. Sie waren so verzweifelt aufmerksam, daß ihm angst und bang wurde. Spielte er eine falsche Karte aus, so drohte ihm ein ganzes Arsenal von Dolchen aus den Augen der Miß Bolo; besann er sich einen Augenblick, so warf sich Lady Snuphanuph in ihren Stuhl zurück und lächelte mit einem teils ungeduldigen, teils mitleidigen Blick der Frau Oberst Wugsby zu, worauf Frau Oberst Wugsby die Achseln zuckte und hustete, als wollte sie sagen, es werde sie doch wundern, wann er endlich beginne. Nach jedem Spiel fragte Miß Bolo mit verdrießlichem Gesicht und vorwurfsvollem Seufzer, warum Herr Pickwick nicht Karo nachgespielt, oder Kreuz angespielt, oder Pik gestochen, oder Herz gebracht, oder das Aß herausgeholt, oder auf den König gespielt habe, oder sonst etwas Ähnliches. Auf alle diese schweren Vorwürfe wußte Herr Pickwick schlechterdings keine Rechtfertigung vorzubringen, weil er inzwischen das ganze Spiel vergessen hatte. Überdies störte es ihn, daß alle Augenblicke Leute kamen und zusahen. Hauptsächlich aber brachte ihn Angelo Bantam aus dem Konzept, der ganz in der Nähe mit den beiden Fräulein Matinter plauderte, die sitzengeblieben waren und deshalb dem Kurdirektor große Aufmerksamkeit schenkten, um durch seine Vermittlung wenigstens hier und da einen übrig gebliebenen Tänzer zu bekommen. All das, verbünden mit dem Lärm der Musik und den vielen andern Unterbrechungen durch das beständige Auf- und Abgehen von Zuschauern, machte, daß Herr Pickwick ziemlich schlecht spielte. Außerdem hatte er kein Glück, und als sie zehn Minuten nach elf Uhr aufhörten, erhob sich Fräulein Bolo in großer Aufregung vom Tische und ließ sich unter einer Flut von Tränen in einer Sänfte nach Hause tragen.

Herr Pickwick kehrte sofort mit seinen Freunden, die sämtlich versicherten, nicht leicht einen Abend angenehmer zugebracht zu haben, nach dem Weißen Hirsch zurück, und nachdem er seine Gefühle mit einigen warmen Flüssigkeiten beschwichtigt, ging er zu Bett, um augenblicklich einzuschlafen.

  1. Alte malerische Stadt am Avon im südwestlichen England, im 18. Jahrhundert einen der beliebtesten Kurorte der vornehmen Welt.
  2. Eine seinerzeit beliebte Schnupftabakmarke.

Siebenunddreißigstes Kapitel.


Siebenunddreißigstes Kapitel.

In dessen Hauptzügen man eine authentische Version des Märchens vom Prinzen Bladud findet, und worin zugleich von einem höchst merkwürdigen Unglück berichtet wird, das Herrn Winkle widerfuhr.

Da Herr Pickwick wenigstens zwei Monate in Bath zu bleiben gedachte, so hielt er es für ratsam: für sich und seine Freunde eine Prioatwohnung zu nehmen; er mietete daher, sobald sich eine günstige Gelegenheit zeigte, zu einem mäßigen Preis den obern Teil eines Hauses im Royal Crescent, der jedoch mehr Raum bot, als sie brauchten, weshalb Herr Dowler und seine Gemahlin sich erboten, ihnen ein Schlaf- und ein Wohnzimmer abzunehmen. Dieser Vorschlag wurde sogleich angenommen, und in drei Tagen waren sie alle in ihrer neuen Wohnung eingerichtet, worauf Herr Pickwick mit dem größten Eifer den Brunnen zu trinken begann. Er ging dabei ganz systematisch zu Werke, Vor dem Frühstück trank er ein Viertelliter und ging dann einen Hügel hinauf spazieren; das zweite Viertelliter trank er nach dem Frühstück und spazierte dann einen Hügel hinab; nach jedem neuen Viertelliter erklärte aber Herr Pickwick aufs feierlichste und nachdrücklichste, er fühle sich um ein Gutes besser, worüber seine Freunde äußerst entzückt waren, obgleich sie vorher nie etwas von einem Unwohlsein an ihm bemerkt hatten.

Der große Brunnensaal ist sehr geräumig, mit korinthischen Säulen, einer Musikgalerie, einer Tompionglocke, einer Statue von Nash und einer goldenen Inschrift verziert, die alle Wassertrinker wohl beachten sollten, denn sie appelliert an sie im Namen christlicher Menschenliebe. Das Wasser wird aus einer großen marmornen Vase geschöpft, um die herum eine Menge gelbliche Trinkgläser stehen, und es ist ein höchst erbaulicher und befriedigender Anblick, mit welcher Beharrlichkeit und mit welchem Ernst dieselben geleert werden. Es sind Bäder in der Nähe, die ein Teil der Gesellschaft gebraucht. Hinterher spielt eine Kapelle, um denen, die sich gebadet haben, Glück zu wünschen. Es ist noch ein zweiter Brunnensaal da, in dem gebrechliche Herren und Damen mittels einer so erstaunlichen Menge und Mannigfaltigkeit von Sänften und Stühlen herumgeführt werden, daß derjenige, der keck genug ist, mit der regelmäßigen Anzahl von Zehen einzutreten, in augenscheinlicher Gefahr schwebt, ohne dieselben wieder herauszukommen. In einen dritten Brunnensaal gehen alle ruheliebenden Leute, denn es wird dort weniger Geräusch gemacht als in den andern. Auch an Spaziergängen ist großer Überfluß vorhanden, wo man eine Menge Leute mit und ohne Krücken, mit Stöcken und ohne Stöcke antrifft; es geht dabei sehr lebhaft, lustig und unterhaltend zu.

Jeden Morgen trafen sich die regelmäßigen Wassertrinker, Herr Pickwick unter ihnen, im Brunnensaal, tranken ihr Viertelliter aus und gingen dann pflichtgemäß spazieren. Auf der Nachmittagspromenade fanden sich Lord Mutanhed, der ehrenwerte Herr Crushton, die verwitwete Lady Snuphanuph, die Frau Oberst Wugsby und all die vornehmen Herrschaften, sowie sämtliche Wassertrinker vom Morgen zusammen. Sodann gingen oder fuhren sie spazieren oder ließen sich in Sesseln schieben und trafen dann einander nachher wieder. Die Herren begaben sich hierauf in das Lesezimmer, allwo sie verschiedene Gruppen bildeten, und gingen dann nach Hause. War abends Theater, so trafen sie sich vielleicht dort; war Reunion, so suchten sie einander in den Sälen auf; jedenfalls kamen sie am folgenden Tage wieder zusammen – eine höchst angenehme Lebensweise, vielleicht nur etwas zu einförmig.

Nach einem solchen Tag saß Herr Pickwick, als seine Freunde bereits zu Bett gegangen waren, noch über seinem Tagebuch, als es auf einmal leise an seiner Tür klopfte.

»Bitte um Verzeihung, Sir«, sagte seine Hauswirtin, Frau Craddock, den Kopf hereinstreckend, »wünschen Sie vielleicht noch etwas, Sir?«

»Nein, Madame«, erwiderte Herr Pickwick.

»Mein Mädchen ist zu Bett gegangen, Sir«, fuhr Frau Craddock fort, »und Herr Dowler will die Güte haben, auf seine Gemahlin zu warten, da die Gesellschaft erst spät auseinandergehen wird. Wenn Sie daher nichts mehr bedürfen, Herr Pickwick, so möchte ich ebenfalls zu Bette gehen.«

»Nur zu, Madame«, erwiderte Herr Pickwick.

»Dann wünsche ich gute Nacht, Sir«, sagte Frau Craddock.

»Gute Nacht, Madame«, dankte Herr Pickwick.

Frau Craddock entfernte sich und Herr Pickwick schrieb weiter.

Nach einer halben Stunde war er mit seinen Einträgen fertig. Er drückte das Löschblatt sorgfältig auf die letzte Seite, schloß das Buch, wischte die Feder an seinem untern Rockfutter ab und öffnete die Schublade des Schreibpultes, um sie hineinzulegen. Hier erblickte er einige engbeschriebene Bogen Papier, die so zusammengelegt waren, daß der von guter deutlicher Hand geschriebene Titel ihm geradezu in die Augen fiel. Da er nun hieraus sah, daß es kein Privatdokument war, und da es außerdem Beziehung auf Bath zu haben schien und sich durch seine Kürze empfahl, so nahm er das Manuskript, zündete einstweilen sein Nachtlicht an, damit es gut brennen möchte, bis er fertig wäre, rückte sofort seinen Stuhl näher ans Feuer und las wie folgt:

Die wahrhaftige Geschichte vom Prinzen Bladud.

»Vor nicht ganz 200 Jahren las man auf einem der öffentlichen Bäder in dieser Stadt eine nunmehr verschwundene Inschrift zu Ehren ihres mächtigen Erbauers, des berühmten Prinzen Bladud.

Schon viele hundert Jahre vorher hatte sich von Generation zu Generation eine alte Sage fortgepflanzt, der erlauchte Prinz habe, weil er mit dem Aussatz behaftet gewesen, nach seiner Rückkehr von dem alten Athen, allwo er sich eine reiche Ernte von Kenntnissen gesammelt, den Hof seines königlichen Vaters gemieden und trübsinnig unter Hirten und Schweinen gelebt. Unter der Herde befand sich (so erzählt die legende) ein Schwein mit einer ernsten feierlichen Miene, mit dem der Prinz sympathisierte – denn auch er war sehr ernst gestimmt – ein Schwein von nachdenklichem, zurückhaltendem Wesen: ein Tier, das allen andern weit überlegen, dessen Grunzen schrecklich und dessen Biß scharf war. Der junge Prinz seufzte tief, sobald er das Gesicht des majestätischen Schweines sah: er dachte an seinen königlichen Vater, und seine Augen benetzten sich mit Tränen.

Dieses kluge Schwein badete sich gern in tiefem Schlamm; jedoch nicht im Sommer, wie gewöhnliche Schweine jetzt zu tun pflegen, um sich abzukühlen, und schon in jenen seinen Zeiten taten (ein Beweis, daß das Licht der Zivilisation schon damals, wiewohl nur schwach, heraufzudämmern begonnen hatte), sondern in schneidend kalten Wintertagen. Es hatte immer ein so reines Fell und sah so gesund aus, daß der Prinz sich entschloß, die reinigenden Kräfte desselben Wassers zu erproben, dessen sich sein Freund bediente. Unter diesem schwarzen Schlamm sprudelten die heißen Quellen von Bath. Er badete sich und wurde kuriert. Nun eilte er an den Hof seines Vaters, bezeugte ihm seine Ehrfurcht, kehrte aber schnell wieder hierher zurück und gründete diese Stadt mit ihren berühmten Bädern.

Er suchte das Schwein mit allem Eifer früherer Freundschaft auf – aber ach, das Wasser war sein Tod geworden. Es hatte unvorsichtigerweise bei zu heißer Temperatur ein Bad genommen, und der Naturphilosoph war nicht mehr. Er hatte später in Plinius einen Nachfolger, der ebenfalls ein Opfer seines Durstes nach Kenntnissen wurde.

So die Sage: die wahre Geschichte aber lautet folgendermaßen:

Vor vielen hundert Jahren blühte in Pracht und Herrlichkeit der weltberühmte Lud Hudibras, König von Britannien. Er war ein mächtiger Monarch und er war so außerordentlich stark, daß die Erde unter seinen Fußtritten erbebte. Sein Volk sonnte sich in dem Leuchten seines Angesichts, so rot und strahlend war dasselbe. Er war wirklich jeder Zoll ein König. Und er maß viele Zoll; denn obgleich er nicht ungewöhnlich groß war, so hatte er dagegen einen merkwürdigen Umfang, und die Zolle, die seiner Länge abgingen, wurden durch seine Dicke ersetzt. Könnte irgendein entarteter Monarch heutigentags einigermaßen mit ihm verglichen werden, so würde ich sagen, der verehrungswürdige König Cole sei dieser erlauchte Potentat.

Diesem guten König hatte seine Gemahlin vor achtzehn Jahren einen Sohn geboren, der den Namen Bladud erhielt. Er wurde bis in sein zehntes Jahr einer Erziehungsanstalt des Landes anvertraut und dann unter der Obhut eines zuverlässigen Mannes nach Athen geschickt, um dort seine Studien zu vollenden. Hier blieb er acht volle Jahre, nach deren Verlauf der König, sein Vater, den Lord Kammerherrn hinüberschickte, um seine Rechnungen zu bezahlen und ihn nach Hause zu geleiten. Der Lord Kammerherr wurde mit Jubel empfangen und bekam von Stund an ein bedeutendes Gehalt.

Als der König Lud den Prinzen, seinen Sohn, zu einem so schönen jungen Mann herangewachsen sah, dachte er sogleich, wie nett es wäre, wenn er ihn ohne Aufschub verheiratete, damit durch seine Kinder das glorreiche Geschlecht der Lud bis auf die spätesten Zeiten der Welt fortgepflanzt würde. Deshalb schickte er eigens eine aus vornehmen Hofleuten, die weiter nichts zu tun hatten und ein so einträgliches Amt brauchen konnten, bestehende Gesandtschaft zu einem benachbarten König und verlangte dessen schöne Tochter für seinen Sohn. Zugleich ließ er ihm melden, daß ihm alles daran liege, mit seinem Bruder und Freund in den besten Verhältnissen zu bleiben. Wenn aber die Vermählung nicht zustande kommen sollte, so werde er sich in die unangenehme Notwendigkeit versetzt sehen, sein Königreich anzugreifen und ihm die Augen auszustechen.

Darauf antwortete der andere König, der der Schwächere war, er sei seinem Freund und Bruder für alle seine Güte und Großmut sehr verbunden, und auch seine Tochter habe nichts gegen die Vermählung einzuwenden, sobald es dem Prinzen Bladud gefällig sein würde, zu kommen und sie zu holen.

Diese Antwort hatte Britannien kaum erreicht, als die ganze Nation außer sich war vor Freude. Man hörte von allen Seiten nichts als Töne des Jubels und Entzückens, freilich aber auch das Geklingel des Geldes, das der königliche Schatzmeister von dem Volke einsammelte, um die Kosten des glücklichen Ereignisses zu bestreiten. Aus dieser Veranlassung auch geschah es, daß König Lud im versammelten Rat, hoch auf seinem Thron sitzend, der Freude seines Herzens vollen Lauf ließ und dem Lord Oberrichter befahl, die edelsten Weine und die Minnesänger kommen zu lassen – ein Akt der Gnade, der durch die Unwissenheit gegenseitig sich abschreibender Historiker dem König Cole zugeschrieben wurde, und zwar in jenen berühmten Zeilen, in denen von Seiner Majestät gesagt wird:

»Er heischt die Pfeife, und er heischt sein Glas, ›die Fiedler‹, ruft er, sollen jetzt erscheinen.«

Das ist jedoch eine offenbare Ungerechtigkeit gegen das Andenken des Königs Lud und eine unbillige Übertreibung der Vorzüge des Königs Cole.

Doch inmitten aller dieser Feste und Lustbarkeiten war ein Trauriger, der seine Lippen nicht netzte, wenn die funkelnden Weine eingegossen wurden, und nicht tanzte, wenn die Barden spielten. Das war niemand anders als der Prinz Bladud selbst, dessen Glück zu Ehren in diesem Augenblick ein ganzes Volk sowohl seine Kehlen wie sein Geldbeutel anstrengte. Der Prinz hatte sich nämlich, ohne Rücksicht auf das unzweifelhafte Recht des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten, sich für ihn zu verlieben, sowie allen politischen und diplomatischen Gebräuchen zuwider, bereits auf eigene Faust ein Liebchen ausgesucht und sich heimlich mit der schönen Tochter eines edlen Atheners verlobt.

Hier haben wir einen schlagenden Beweis von den mannigfaltigen Vorteilen der Zivilisation und feinerer Gesittung. Hätte der Prinz in späteren Zeiten gelebt, so hätte er sich ohne weiteres mit dem Gegenstande der Wahl seines Vaters vermählt und sodann allen Ernstes daran gedacht, sich von der Bürde zu befreien, die so schwer auf ihm lastete. Er hätte sich bemüht, sie durch systematische Mißhandlungen und Vernachlässigungen ins Grab zu bringen, oder wenn der gute Takt ihres Geschlechts und ein stolzes Bewußtsein, daß sie diese Unbilden nicht verdient, sie dennoch aufrechterhalten hätte, so wäre er zu schnelleren und sichereren Mitteln, sie loszuwerden, geschritten. Dem Prinzen Bladud dagegen fiel keiner dieser Auswege ein – er bat seinen Vater um eine geheime Unterredung und eröffnete sich ihm.

Es ist ein altes Vorrecht der Könige, alles zu beherrschen, nur ihre Leidenschaften nicht. König Lud geriet in eine schreckliche Wut, schleuderte seine Krone bis an die Zimmerdecke empor und fing sie wieder auf – in jenen Tagen hatten nämlich die Könige ihre Kronen auf dem Kopf und nicht im Tower – er stampfte auf den Boden, schlug sich vor die Stirn, jammerte, daß sein eigen Fleisch und Blut sich gegen ihn empöre, endlich aber rief er seine Leibwache und befahl ihr, den Prinzen alsbald in einen tiefen Turm zu werfen. Das war die gewöhnliche Art, wie die Könige in früheren Zeiten mit ihren Söhnen verfuhren, wenn sie im Punkte der Vermählung andere Absichten hegten, als ihre Väter.

Nachdem der Prinz Bladud beinahe ein Jahr lang in dem hohen Turm eingesperrt gewesen, ohne eine andere Aussicht für seine leiblichen Augen als eine steinerne Wand, oder für die Augen seines Geistes als langwierige Gefangenschaft, begann er natürlich einen Plan zur Flucht zu entwerfen, den er nach mondenlangen Vorbereitungen glücklich ausführte. Er ließ absichtlich sein Tischmesser im Herzen des Kerkermeisters stecken, damit der arme Bursche, der Familie hatte, von dem rasenden König nicht als Beförderer seiner Flucht angesehen und bestraft werden möchte.

Der König war wie wahnsinnig ob des Entrinnens seines Sohnes. Lange wußte er nicht, an wem er seinen Kummer und Zorn auslassen konnte, bis er sich zum Glück des Lord Kammerherrn erinnerte, der den Prinzen nach Hause begleitet hatte, und dem er seine Pension und seinen Kopf zugleich nahm. Mittlerweile durchwanderte der junge Prinz, gut verkleidet, zu Fuß die Reiche seines Vaters, in allem Ungemach aufrechterhalten und erfreut durch den süßen Gedanken an die atheniensische Jungfrau, die die unschuldige Ursache seiner grausamen Prüfungen war. Eines Tages wollte er in einem Dorfe Ruhe suchen, und da er sah, daß auf dem Rasen lustig getanzt wurde und alle Gesichter vor Freude glänzten, so wagte er es, einen der Fröhlichen, der neben ihm stand, nach der Ursache dieser allgemeinen Freude zu fragen.

›O Fremdling‹, war die Antwort, ›wißt Ihr denn nichts von der neuesten Proklamation unseres gnädigen Königs?‹

›Proklamation? Nein. Was für eine Proklamation?‹ erwiderte der Prinz, denn er war bisher nur auf ziemlich unbesuchten Nebenwegen gewandert und wußte nichts von allem, was auf den öffentlichen Straßen und überhaupt im Reiche vorging.

›Nun‹, sagte der Bauer: ›die fremde Dame, die unser Prinz zu heiraten wünschte, hat sich mit einem vornehmen Manne in ihrem eigenen Lande vermählt. Dies ließ der König verkünden und zugleich große öffentliche Festlichkeiten anordnen; denn natürlich wird der Prinz Bladud jetzt zurückkehren und die Dame heiraten, die sein Vater ihm ausersehen hat, zumal, da sie schön sein soll wie die Mittagssonne. Eure Gesundheit, Sir. Gott erhalte den König.‹

Der Prinz wollte nichts mehr hören. Er floh von dem Platze und drang in die dichteste Wildnis eines nahen Waldes. So wanderte er Tag und Nacht fort unter der brennenden Sonne, wie unter dem kalten, blassen Mond, durch die dürre Hitze des Mittags, sowie durch den feuchten Frost der Nacht, in dem grauen Licht des Morgens, wie in dem roten Glanz des Abends. Er achtete so wenig auf Zeit und Weg, daß er, statt nach Athen zu gelangen, sich nach Bath verirrte.

Da, wo jetzt Bath steht, war dazumal noch keine Stadt. Man sah hier keine Spur von einer menschlichen Wohnung, kein Zeichen von Menschenhand: allein die Gegend war damals schon ebenso reizend, dieselbe herrliche Abwechslung von Hügeln und Tälern, derselbe schöne Fluß, der sich hindurchschlängelt, dieselben hohen Berge, die gleich den Mühseligkeiten des Lebens, von ferne betrachtet, und teilweise durch den glänzenden Nebel des Morgens verborgen, ihre herbe Rauheit verlieren und mild und freundlich erscheinen. Von der lieblichen Schönheit dieser Landschaft ergriffen, sank der Prinz auf den grünen Rasen nieder und badete seine wunden Füße mit seinen Tränen.

›Ach‹, rief der unglückliche Bladud, indem er die Hände rang und trauervoll seine Augen gegen den Himmel erhob: ›möchten doch meine Wanderungen hier zu Ende gehen und meine ergebungsvollen Tränen, womit ich jetzt verfehlte Hoffnungen und verschmähte Liebe beklage, auf immer im Frieden dahinfließen.‹

Sein Wunsch wurde erhört. Es war zur Zeit der heidnischen Gottheiten, die die Leute manchmal beim Worte nahmen, und zwar mit einer Schnelligkeit, die ihnen oft sehr ungelegen kam. Der Boden öffnete sich unter des Prinzen Füßen: er sank hinab in den Abgrund, und alsbald schloß sich die Erde wieder über seinem Haupte, abgesehen von der Stelle, wo seine heißen Tränen durch sie heraufquellen und wo sie seitdem unaufhörlich geströmt sind.

Es ist bemerkenswert, daß bis auf den heutigen Tag große Scharen von Damen und Herren, die sich in ihrer Hoffnung, Lebensgefährten zu bekommen, getäuscht sahen, und beinahe ebensoviel junge Damen und Herren, die sich sehnen, solche zu bekommen, alljährlich nach Bath kommen, um die Wasser zu trinken und daraus große Stärkung und Tröstung schöpfen: – ein höchst gewichtiger Beweis für die Wirksamkeit der Tränen des Prinzen Bladud, und ein Umstand, wodurch die Wahrheit dieser Geschichte außer allen Zweifel gestellt wird.«

 

Herr Pickwick gähnte zu verschiedenen Malen. Als er ans Ende dieses kleinen Manuskripts gelangt war, faltete er es sofort sorgfältig wieder zusammen, legte es an seinen alten Platz in die Schublade des Schreibpults hinein, zündete sodann mit einem Gesicht, worauf die äußerste Müdigkeit zu lesen war, sein Nachtlicht an und begab sich die Treppe hinauf nach seinem Schlafzimmer.

Vor Herrn Dowlers Tür blieb er, wie gewöhnlich, stehen und klopfte an, um ihm gute Nacht zu sagen.

»Ah«, sagte Dowler, »Sie gehen zu Bett? Ich wollte, ich läge schon drin. Eine widerwärtige Nacht. Nicht wahr, sehr windig?«

»Ja«, versetzte Herr Pickwick: »gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Herr Pickwick ging auf sein Schlafzimmer und Herr Dowler nahm seinen Sitz vor dem Feuer wieder ein, um sein übereiltes Versprechen zu halten, bis zur Rückkehr seiner Gemahlin aufbleiben zu wollen.

Es gibt nicht leicht etwas Unangenehmeres, als nachts auf jemanden zu warten, besonders wenn dieser Jemand in einer Gesellschaft ist. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, wie schnell den Leuten dort die Zeit vergeht, die sich für uns so träge dahinschleppt, und je mehr man daran denkt, desto mehr schwindet die Hoffnung auf die baldige Ankunft des Erwarteten. Auch ticken die Uhren so laut, wenn man so allein dasitzt, und man meint – wenigstens geht es uns immer so – man habe Unterkleider voll Ungeziefer an. Zuerst juckt es einen am rechten Knie, und dann stellt sich derselbe Reiz am linken ein. Ändert man seine Stellung, so kommt es in die Arme, und wenn man seine Beine in allen möglichen Richtungen die Kreuz und die Quere herumgeworfen hat, so juckt es einen plötzlich an der Nase, an der man sofort reibt, als wollte man sie hinwegreiben, was man gewiß auch täte, wenn es möglich wäre. Auch die Augen machen viel Unbehagen, und der Docht eines Lichtes wird anderthalb Zoll lang, bis man ihn putzt. Diese und andere kleine Nervenstimmungen machen das lange Aufbleiben, wenn alle übrigen schon zu Bett gegangen sind, keineswegs zu einem lustigen Zeitvertreib.

So dachte Herr Dowler, als er vor dem Feuer saß, und er ärgerte sich im Innersten seines Herzens über all die gefühllosen Leute auf dem Ball, die ihn solange hinhielten. Seine Laune wurde nicht verbessert durch den Gedanken, daß er es sich am Abend in den Kopf gesetzt hatte, Kopfweh haben zu wollen und deswegen zu Hause geblieben war. Endlich, nachdem er zu wiederholten Malen eingenickt und gegen den Kamin hin vorgefallen war, sich aber immer wieder bald genug zurückgeworfen hatte, um das Gesicht nicht zu verbrennen, beschloß Herr Dowler, sich auf das Bett im Hinterzimmer zu legen und daselbst seinen Gedanken nachzuhängen – natürlich nicht um zu schlafen.

»Ich habe einen harten Schlaf«, sagte Herr Dowler, als er sich aufs Bett warf. »Ich muß wach bleiben; hier werde ich das Klopfen wohl hören können. Ja. Ich dachte es doch. Ich kann den Nachtwächter hören. Da unten geht er. Jetzt schon leiser. Eben geht er um die Ecke. Ah!«

Als Herr Dowler soweit gekommen war, wandte auch er sich um die Ecke, an der er solange gezögert hatte, und versank in einen festen Schlaf.

Schlag drei Uhr wurde eine Sänfte, mit Frau Dowler darin, vor das Haus gebracht. Die Träger waren ein kurzer, fetter Knirps und ein himmellanger Bursche, die auf dem Wege viel Mühe hatten, ihre Körper und vollends gar die Sänfte senkrecht zu erhalten; auf der Höhe und in der Nähe des Halbmondplatzes aber wütete und stürmte der Wind, der ihn von allen Seiten überstreifen konnte, so abscheulich, als wollte er das Straßenpflaster aufreißen; sie waren daher herzlich froh, die Sänfte endlich an Ort und Stelle niedersetzen zu können und fingen an, tüchtig an die Tür zu klopfen.

Sie warteten einige Zeit, aber es kam niemand,

»Das Gesinde liegt gewiß in den Armen des Porpus8«, sagte der kurze Sänftenträger, indem er sich die Hände an der Fackel des begleitenden Fackelbuben wärmte.

»Ich wollte, er kneipte sie, daß sie aufwachten«, bemerkte der Lange.

»Haben Sie die Güte, doch noch einmal zu klopfen«, rief Frau Dowler von der Sänfte herab. »Klopfen Sie noch zwei- oder dreimal.«

Der Kurze, der seinen Auftrag sobald wie möglich los zu werden wünschte, stellte sich an die Tür und polterte aus Leibeskräften darauf los, zuerst in Absätzen von vier oder fünf, sodann von acht bis zu zehn Schlägen, während der Lange sich auf die Straße stellte, ob er etwa an einem Fenster Licht bemerken könnte.

Niemand kam. Alles war still und finster wie zuvor.

»Mein Gott«, sagte Frau Dowler; »Sie müssen noch einmal klopfen.«

»Ist vielleicht eine Glocke da?« fragte der Kurze.

»O freilich«, fiel der Fackelträger ein; »ich habe schon in einem fort daran geläutet.«

»Bloß der Handgriff ist da«, sagte Frau Dowler; »der Draht ist gerissen.

»Ich wollte. Ihrer Dienerschaft würden die Schädel eingeschlagen«, knurrte der Lange.

»Ich muß Sie bemühen, gefälligst noch einmal zu klopfen«, sagte Frau Dowler mit der größten Höflichkeit.

Der Kurze klopfte noch mehrere Male, aber ohne den geringsten Erfolg. Dem Langen riß jetzt die Geduld, er löste ihn ab und klopfte in einem fort mit gewaltigen Doppelschlägen an die Tür wie ein wahnsinniger Briefträger.

Endlich begann Herr Winkle zu träumen, er sei in einem Klub. Die Mitglieder hätten Streit miteinander bekommen und der Präsident sei genötigt, gewaltig auf den Tisch zu hämmern, um die Ordnung wieder herzustellen: sodann schwebte ihm dunkel ein Auktionszimmer vor, wo es an Kaufliebhabern fehlte und der Auktionator alles selbst kaufen mußte; endlich fing er an zu denken, es könne in den Grenzen der Möglichkeit liegen, daß jemand an die Haustür klopfe. Um jedoch ganz sicher zu gehen, blieb er noch etwa zehn Minuten ruhig im Bett und horchte. Erst als er zwei- oder dreiunddreißig Schläge gezählt hatte, gab er sich zufrieden und bildete sich nicht wenig auf seine Wachsamkeit ein.

»Rap rap – rap rap – rap rap – ra, ra, ra, ra, ra, rap«, erschallte der Klopfer an der Haustür.

Höchst verwundert, was dies wohl sein könne, sprang Herr Winkle aus dem Bett, zog schleunigst Strümpfe und Pantoffeln an, wickelte seinen Schlafrock um sich, zündete an dem Nachtlicht, das auf dem Kamin brannte, eine kleine Kerze an und eilte die Treppe hinab.

»Endlich kommt doch jemand, Madame«, sagte der kleine Sänftenträger.

»Ich wollte, ich wäre mit der Hetzpeitsche hinter ihm her«, murrte der Lange.

»Wer ist draußen?« rief Herr Winkle, den Riegel zurückschiebend.

»Frag‘ nur nicht, du Eselskopf«, erwiderte in großem Ärger der Lange, der nicht anders glaubte, als der Fragende sei ein Diener. »Aufgemacht!«

»Vorwärts! schnell! Du Faultier!« fügte der Kurze aufmunternd hinzu.

Herr Winkle, der noch halb im Schlaf war, gehorchte dem Befehl mechanisch, öffnete die Tür ein wenig und blickte hinaus.

Das erste, was er sah, war der rote Glanz der Fackel. Bei diesem unerwarteten Anblick erschrak er, und in der Meinung, das Haus stehe in Flammen, stieß er schnell die Tür weit auf, hielt das Licht über seinen Kopf empor und starrte geradeaus vor sich hin, ohne sich überzeugen zu können, ob das, was er erblickte, eine Sänfte sei oder eine Feuerspritze, In diesem Augenblick kam ein heftiger Windstoß, das Licht wurde ausgeblasen, Herr Winkle ward unwiderstehlich auf die Tritte vor der Haustür hingeweht, und die Tür selbst schlug mit lautem Krachen zu.

»Da haben Sie’s, junger Mann«, sagte der kleine Sänftenträger.

Als Herr Winkle durch das Fenster der Sänfte hindurch das Gesicht einer Dame erblickte, wandte er sich eiligst um, klopfte aus Leibeskräften an die Tür und schrie den Trägern wie wahnsinnig zu, sie sollten mit der Sänfte ihres Weges gehen.

»Fort damit! fort damit!« rief Herr Winkle. »Da kommt jemand aus einem andern Hause: laßt mich in die Sänfte hinein. Versteckt mich, helft mir.«

Dabei schauerte er vor Kälte, und jedesmal, wenn er die Hand nach dem Klopfer erhob, faßte der Wind auf eine höchst unzarte Weise seinen Schlafrock.

»Da kommen ja Leute. Es sind Damen dabei; bedeckt mich doch mit irgend etwas; stellt euch vor mich hin«, heulte Herr Winkle. Allein die Sänftenträger waren zu sehr durch Lachen in Anspruch genommen, als daß sie ihm den geringsten Beistand hätten leisten können, und die Damen kamen mit jedem Augenblick naher und immer näher.

Herr Winkle tat einen letzten hoffnungslosen Schlag. Die Damen waren nur noch einige Häuser entfernt. Er warf das ausgelöschte Licht, das er in der ganzen Zeit über seinen Kopf emporgehalten hatte, weg und stürzte geradezu auf die Sänfte los, worin Frau Dowler saß.

Jetzt hatte Frau Craddock endlich auch das Klopfen und Lärmen gehört, und nachdem sie sich bloß soviel Zeit genommen, um eine andere Kopfbedeckung als ihre Nachthaube aufzusetzen, rannte sie in das vordere Wohnzimmer, um zu sehen, ob es die rechten Leute seien, und rückte das Schiebefenster gerade in dem Augenblick zurück, als Herr Winkle auf die Sänfte losstürzte. Kaum aber hatte sie gesehen, was unten vorging, so erhob sie ein gewaltiges Jammergeschrei und weckte Herrn Dowler mit der Bemerkung, er solle doch sogleich aufstehen, denn seine Frau laufe mit einem andern Herrn davon.

Herr Dowler sprang vom Bett auf wie ein Gummielastikumball, stürzte in das vordere Zimmer, kam in demselben Augenblick an ein Fenster, wo Herr Pickwick ein anderes aufriß, und das erste, was sich ihren erstaunten Blicken darbot, war Herr Winkle, der in die Sänfte hineinstürmen wollte.

»Nachtwächter!« schrie Dowler wütend, »fangt ihn – packt ihn – haltet ihn fest, bis ich hinabkomme. Ich will ihm die Kehle abschneiden – gebt mir ein Messer – ja, von einem Ohr bis zum andern, Frau Craddock.«

Und trotz des Jammergeschreis der Hausfrau, in das Herr Pickwick mit einstimmte, ergriff der entrüstete Ehemann ein kleines Tischmesser und stürzte auf die Straße hinunter.

Aber Herr Winkle erwartete ihn nicht. Kaum hörte er die schreckliche Drohung des tapfern Dowler, so sprang er ebenso schnell wieder aus der Sänfte heraus, wie er hineingesprungen war, schleuderte seine Pantoffeln auf die Straße, gab Fersengeld und rannte, hitzig verfolgt von Dowler und dem Nachtwächter, um den Halbmondplatz herum. Er behielt immer einen Vorsprung, und als er zum zweitenmal vor das Haus kam und die Tür offen fand, stürzte er hinein, warf sie Dowler vor der Nase zu, sprang in sein Schlafzimmer, verschloß die Tür, pflanzte zur Verrammlung einen Toilettentisch nebst einigen Kommoden davor auf und packte einige notwendige Sachen zusammen, in der Absicht, mit Tagesanbruch zu entfliehen.

Dowler kam vor seine Tür, erklärte durch das Schlüsselloch hinein seinen festen Entschluß, Herrn Winkle am folgenden Tag die Kehle abzuschneiden, und nach einem gewaltigen, verworrenen Lärm im Salon, wobei man vor allem Herrn Pickwicks Stimme vernahm, der Frieden zu stiften bemüht war, zerstreuten sich die Hausgenossen nach ihren verschiedenen Schlafgemächern, worauf alles wieder ruhig wurde.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß hier die Frage aufgeworfen wird, wo Herr Weller diese ganze Zeit über gewesen? Wir werden uns im nächsten Kapitel darüber erklären.

  1. Morpheus.

Achtunddreißigstes Kapitel.


Achtunddreißigstes Kapitel.

Erteilt genügende Auskunft über Herrn Wellers Abwesenheit und enthält die Beschreibung einer Soiree, zu der er eingeladen war. Zugleich berichtet es, wie ihm von Herrn Pickwick eine geheime Sendung von großer Wichtigkeit und Zartheit anvertraut wird.

»Herr Weller«, sagte Frau Craddock am Morgen dieses verhängnisvollen Tage«, »hier ist ein Brief für Sie.«

»Das ist sehr kurios«, meinte Sam. »Ich fürchte fast, es muß etwas dahinter stecken, denn ich erinnere mich in meinem Kreis von Bekanntschaften keines Gentlemans, der imstande wäre, einen Brief zu schreiben.«

»Vielleicht hat sich etwas Außerordentliches ereignet«, bemerkte Frau Craddock.

»Das muß freilich etwas Außerordentliches sein, was einem meiner Freunde einen Brief ablocken könnte«, erwiderte Sam, zweifelhaft den Kopf schüttelnd. »Von meinem Vater kann der Brief auch nicht kommen«, fügte er hinzu, indem er die Handschrift betrachtete; »der druckt immer, weil er das Schreiben an den großen Anschlagzetteln vor den Buchhandlungen gelernt hat. Es ist mir ganz unerklärlich, woher der Brief wohl kommen mag.«

Zugleich tat Sam, was sehr viele Leute tun, wenn sie über den Schreiber eines Billetts im Ungewissen sind, d.h. er beschaute das Siegel, sodann den vorderen, dann den hinteren Teil, hierauf die Seiten und endlich die Überschrift; für das allerletzte Auskunftsmittel mochte er wohl den Inhalt ansehen, um ganz gewiß aus der Sache klar zu werden.

»Er ist auf goldgerandetes Papier geschrieben«, sagte Sam, als er ihn entfaltete, »und mit braunem Siegellack petschiert, und zwar mit der Spitze eines Türschlüssel«. Nun, wir wollen einmal sehen.«

Und mit sehr ernstem Gesicht las Herr Weller langsam wie folgt:

»Eine auserlesene Gesellschaft von den Bather-Lakaien empfiehlt sich Herrn Weller und bittet um das Vergnügen seiner Gesellschaft auf diesen Abend zu einem freundschaftlichen Schmause, bestehend aus einer gekochten Hammelkeule nebst dem übrigen Zubehör. Präzis halb zehn Uhr wird serviert.«

Diese Einladung war in ein anderes Billett folgenden Inhalts eingeschlossen:

»Herr John Smauker, der Gentleman, der das Vergnügen hatte, Herrn Weller vor einigen Tagen im Hause ihres gemeinschaftlichen Bekannten, des Herrn Bantam, kennenzulernen, gibt sich die Ehre, Herrn Weller die beifolgende Einladung zuzuschicken. Wenn Herr Weller Herrn John Smauker um neun Uhr abholen will, so wird Herr John Smauker das Vergnügen haben, Herrn Weller einzuführen.

(Unterzeichnet) John Smauker.«

Die Adresse lautete: »An Weller, Esquire bei Herrn Pickwick«, und in der linken Ecke stand als Instruktion für den Überbringer in Paranthese das Wort: »Dienerglocke«.

»Gut«, sagte Sam? »das gefällt mir nicht übel. Ich habe mein Lebtag noch nie gehört, daß man eine gekochte Hammelkeule einen Schmaus genannt hätte. Wie würden sie wohl eine gebratene nennen?«

Ohne sich jedoch lange den Kopf darüber zu zerbrechen, begab sich Sam sogleich zu Herrn Pickwick und bat ihn für den Abend um Urlaub, der gern bewilligt wurde. Mit dieser Erlaubnis und dem Hausschlüssel in der Tasche ging Sam Weller etwas vor der bestimmten Zeit aus und schlenderte gemächlich dem Queensquare zu, wo er kaum angelangt war, als er das Vergnügen hatte, Herrn John Smauker in einiger Entfernung seinen bepuderten Kopf an einen Laternenpfahl lehnen und aus einer Bernsteinröhre eine Zigarre rauchen zu sehen.

»Guten Tag, wie geht’», Herr Weller?« rief ihm Herr John Smauker zu, mit der einen Hand graziös den Hut lüftend, während er ihm mit der andern freundlich und herablassend zuwinkte. »Wie geht’s, Sir?«

»Recht ordentlich«, erwiderte Sam. »Und wie geht es Ihnen, lieber Kamerad?«

»So so, la la«, sagte John Smauker.

»Sie haben sich gewiß zu sehr angestrengt«, bemerkte Sam. »Ich fürchtete es immer; aber es führt zu nichts; Sie müssen Ihrem Eifer und Fleiß Zaum und Gebiß anlegen.«

»Ach nein«, erwiderte Herr John Smauker, »es kommt nicht sowohl davon her, als von dem schlechten Wein; ich glaube, ich bin ein bißchen liederlich gewesen.«

»Aha, geht’s da hinaus?« sagte Sam. »Das ist freilich eine schlimme Sache.«

»Aber«, bemerkte Herr John Smauker, »Sie wissen ja, daß die Verführung immer so groß ist.«

»Freilich«, erwiderte Sam.

»Wenn man so mitten in den Wirbel der Gesellschaft hineingezogen wird, Herr Weller, – Sie wissen ja schon«, sagte Herr John Smauker mit einem Seufzer.

»Ja, es ist schrecklich«, meinte Sam.

»Aber es geht immer so«, sagte Herr John Smauker; »wenn das Schicksal einen ins öffentliche Leben und in eine öffentliche Stellung führt. Da ist man Versuchungen ausgesetzt, von denen andere Leute nichts wissen, Herr Weller.«

»Gerade das sagte auch mein Onkel, als er ins öffentliche Leben getreten und ein Wirt geworden war«, bemerkte Sam; »und der alte Herr hatte ganz recht; denn in weniger als einem Vierteljahr trank er sich tot.«

Herr John Smauker sah sehr entrüstet aus über die zwischen ihm und dem besagten seligen Herrn gezogene Parallele. Da indessen Sams Gesicht in dem unveränderlichen Zustand der Ruhe blieb, so besann er sich eines bessern und wurde wieder freundlich.

»Es wird wohl Zeit, zu gehen«, sagte Herr Smauker und zog eine kupferne Uhr, die auf dem Grunde einer tiefen Uhrtasche wohnte und vermittels eines schwarzen Bandes an die Oberfläche heraufgezogen wurde, auch am andern Ende mit einem kupfernen Schlüssel versehen war, zu Rate.

»Ich denke auch«, erwiderte Sam; »das Essen möchte sonst kalt werden.«

»Haben Sie den Brunnen schon getrunken, Herr Weiler?« fragte sein Kamerad, als sie nach der Hochstraße zuschritten.

»Ein einziges Mal«, erwiderte Sam.

»Und wie fanden Sie ihn, Sir?«

»Ganz abscheulich widerlich«, erklärte Sam.

»Ah«, sagte Herr John Smauker, »vielleicht behagt Ihnen der Mineralgeschmack nicht?« 99

»Davon verstehe ich nichts«, sagte Sam, »aber es kam mir vor, als hätte der Brunnen einen scharfen, brandigen Geruch, wie von glühenden Bügeleisen.«

»Das ist eben das Mineralische, Herr Weller«, bemerkte Herr John Smauker verächtlich.

»Meinetwegen: es ist aber ein sehr unverständliches Wort«, sagte Sam. »Es mag aber schon so sein, denn ich verstehe nicht viel von chemischen Geschichten, kann also nichts sagen.«

Und nun begann Sam Weller zum großen Entsetzen des Herrn John Smauker zu pfeifen.

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Weller«, sagte Herr John Smauker, schaudernd über die nicht eben lieblichen Töne. »Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?«

»Danke, Sie sind gar zu gütig: ich will Sie nicht bemühen«, erwiderte Sam. »Wenn Sie nichts dagegen haben, so stecke ich lieber meine Hände in die Taschen.«

Sam tat das auch sogleich und pfiff noch lauter als zuvor.

»Auf diesem Weg«, sagte sein neuer Freund, dem es offenbar viel leichter ums Herz wurde, als sie in eine Nebenstraße kamen, »auf diesem Weg werden wir bald dort sein.«

»So?« sagte Sam, ganz ungerührt durch die Ankündigung seiner unmittelbaren Nähe bei der auserwählten Gesellschaft der Bather-Lakaien.

»Ja«, sagte Herr John Smauker. »Seien Sie nur nicht zu schüchtern, Herr Weller.«

»O gewiß nicht«, sagte Sam.

»Sie werden einige sehr schöne Uniformen sehen, Herr Weller«, fuhr Herr John Smauker fort, »und vielleicht werden Sie auch finden, daß etliche von diesen Herren die Nase ein bißchen hoch tragen: allein Sie werden sie schon zu gewinnen wissen.«

»Das wäre sehr schön«, erwiderte Sam.

»Und Sie wissen«, fuhr Herr John Smauker mit erhabener Protektormiene fort, »Sie wissen, da Sie ein Fremder sind, so wird man Ihnen im Anfang vielleicht scharf zu Leib gehen.«

»Sie werden doch nicht gar grausam gegen mich sein?« fragte Sam.

»Nein, nein«, erwiderte Herr John Smauker, den Fuchskopf hervorziehend und eine gentlemanische Prise nehmend: »doch es sind einige lustige Käuze darunter, die werden ihren Witz an Ihnen auslassen wollen, aber Sie müssen sich nur nicht darum kümmern.«

»Ich werde es ihnen schon heimzugehen wissen«, erwiderte Sam.

»Das ist recht«, sagte Herr John Smauker, den Fuchskopf einsteckend und seinen eigenen emporhebend; »ich werde Ihnen beistehen.«

Inzwischen hatten sie einen kleinen Gemüseladen erreicht; in den Herr John Smauker eintrat, gefolgt von Sam, der, während er hinter ihm herging, ganz offen und unwillkürlich zu lachen begann und durch andere Zeichen verriet, daß er sich in einem sehr beneidenswerten Zustande inneren Vergnügens befand.

Sie gingen durch den Laden, legten ihre Hüte in dem kleinen Gang dahinter ab und kamen in ein kleines Zimmer, allwo der volle Glanz der Szene Herrn Weller alsbald in die Augen sprang.

Mitten in der Stube waren ein paar Tische zusammengerückt, bedeckt mit drei oder vier Tüchern von verschiedenem Alter und verschiedenem Datum der Wäsche, die jedoch so arrangiert waren, daß sie so sehr wie möglich über ihr verschiedenes Aussehen hinwegtäuschten. Auf den Tischen lagen Messer und Gabeln für sechs oder acht Personen. Einige von den Messergriffen waren grün, andere rot und noch andere gelb; die Gabeln dagegen waren sämtlich schwarz, und diese Farbenkombination bildete einen sehr scharfen Kontrast. Die Teller für eine entsprechende Anzahl Gäste wurden hinter dem Kaminrost gewärmt, und die Gäste selbst wärmten sich vor demselben. Der Angesehenste und Bedeutendste unter ihnen schien ein stattlicher Herr in karmoisinrotem Rock mit langen Schößen, hellroten Hosen und mit einem aufgestülpten Hut zu sein, der mit dem Rücken gegen das Feuer stand, und offenbar soeben erst gekommen sein mußte; denn er hatte nicht nur seinen aufgestülpten Hut noch auf dem Kopf, sondern auch in seiner Hand einen langen Stab, wie ihn die Gentlemen seiner Profession schief über die Kutschendächer hinauszuhalten pflegen.

»Smauker, alter Kerl«, sagte der Gentleman mit dem aufgestülpten Hut.

Herr Smauker fügte das oberste Gelenk des kleinen Finger seiner rechten Hand in das entsprechende des Gentleman mit dem aufgestülpten Hut und sagte, »er sei entzückt, ihn so wohl zu sehen.«

»Ja, die Leute sagen, ich sehe recht blühend aus«, begann der Mann mit dem aufgestülpten Hut, »und das ist wirklich ein Wunder. In den letzten vierzehn Tagen bin ich tagtäglich zwei Stunden hinter unserer alten Dame hergelaufen; und wenn man ständig sehen muß, wie sie ihr verteufeltes, altes, lavendelfarbiges Kleid hinten zu hat; wenn das einen braven Kerl auf die Dauer nicht in die bitterste Verzweiflung bringt, so verzichte ich auf meinen nächsten Arbeitslohn.«

Die versammelten Notabilitäten lachten herzlich, und ein Gentleman in einer gelben, mit einer Kutscherborte besetzten Weste flüsterte einem Nachbar in grünsamtenen Kniehosen zu, »Tuckle sei heute abend sehr aufgeräumt.«

»Unter uns gesagt«, bemerkte Herr Tuckle, »mein lieber Smauker, Sie – –«, der Rest des Satzes wurde Herrn John Smauker ins Ohr hineingeflüstert.

»Ach, wahrhaftig, das habe ich ganz vergessen«, sagte Herr John Smauker. »Meine Herren – mein Freund, Herr Weller.«

»Es tut mir leid, Weller, daß ich Ihnen vor dem Feuer stehe«, sagte Herr Tuckle herablassend. »Ich hoffe, es wird Ihnen nicht zu kalt sein, Weller?«

»Nicht im geringsten, Feuerbrand«, erwiderte Sam. »Das müßte doch ein recht frostiger Bursche sein, den es frieren könnte, wenn Sie ihm gegenüberstehen. Mit Ihnen könnte man Kohlen ersparen, wenn man Sie in einem Wirtshaus hinter das Kaminfeuer stellte.«

Da diese Bemerkung offenbar eine persönliche Anspielung auf Herrn Tuckles karmoisinrote Livree enthielt, so blickte dieser Gentleman einige Sekunden lang majestätisch drein, schob sich jedoch allmählich vom Feuer weg, brach in ein erzwungenes Lachen aus und sagte, »der Witz gefalle ihm nicht übel«.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre gute Meinung, Sir«, entgegnete Sam. »Wir werden schon warm miteinander werden.«

Hier wurde die Unterhaltung durch die Ankunft eines Gentleman in orangefarbigen Plüschhosen unterbrochen, der ein anderes Kabinettstück in purpurfarbigem Rocke und mit ungeheuren langen Strümpfen mit sich brachte. Nachdem die neuen Gäste von den alten bewillkommt waren, schlug Herr Tuckle vor, mit dem Essen zu beginnen, was einstimmig angenommen wurde.

Der Gemüsehändler und seine Frau trugen jetzt die gekochte Hammelkeule, noch siedendheiß, mit einer Kapernsoße nebst Rüben und Kartoffeln auf den Tisch. Herr Tuckle nahm den Präsidentenstuhl ein und ans andere Ende des Tisches setzte sich als Vizepräses der Gentleman in den orangefarbigen Plüschhosen. Der Gemüsehändler zog waschlederne Handschuhe an, um die Teller umherzureichen, und stellte sich hinter den Stuhl des Herrn Tuckle.

»Harris!« sagte Herr Tuckle in befehlendem Tone.

»Sir«, antwortete der Gemüsehändler.

»Haben Sie die Handschuhe angezogen?«

»Ja, Sir.«

»So nehmen Sie den Deckel hinweg.«

»Sehr wohl, Sir.«

Der Gemüsehändler tat mit großer Unterwürfigkeit wie ihm befohlen wurde und reichte Herrn Tuckle dienstbeflissen das Vorlegemesser, wobei er jedoch zufällig gähnte.

»Was soll das bedeuten, Sir?« ließ ihn Herr Tuckle sehr rauh an.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte der erschrockene Gemüsehändler, »ich habe es nicht absichtlich getan, Sir: ich war in der letzten Nacht so lange auf, Sir.«

»Ich will Ihnen sagen, was ich von Ihnen denke, Harris«, sagte Herr Tuckle mit höchst nachdrucksvoller Geberde: »Sie sind ein ganz dummer Kerl.«

»Meine Herren«, antwortete Harris, »ich hoffe, Sie werden nicht so streng mit mir verfahren, meine Herren. Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden, meine Herren, für Ihre Gönnerschaft und auch für Ihre Empfehlungen, meine Herren, wenn irgendwo zur Aushilfe ein Aufwärter nötig ist. Ich hoffe, meine Herren, daß ich Sie zur Zufriedenheit bediene.«

»Nein, das tun Sie nicht, Sir«, antwortete Herr Tuckle; »weit gefehlt, Sir.«

»Wir halten Sie für einen unachtsamen Bengel«, sagte der Gentleman in den organgefarbigen Plüschhosen.

»Und für einen niederträchtigen Dieb«, fügte der Gentleman in den grünsamtenen Kniehosen hinzu.

»Und für einen unverbesserlichen Taugenichts«, rief der Gentleman in dem Purpurgewand.

Der arme Gemüsehändler verbeugte sich demutsvoll, während er im echten Geist kleinlicher Tyrannen mit diesen hübschen Ehrentitelchen belegt wurde. Als nun jeder, um seine Oberherrlichkeit über ihn zu beweisen, etwas gesagt hatte, begann Herr Tuckle die Hammelkeule zu tranchieren und der Gesellschaft vorzulegen.

Kaum war dieses wichtigste Geschäft des Abends angefangen, als die Tür hastig aufgerissen wurde und ein anderer Gentleman in hellblauem Rock mit bleiernen Knöpfen hereintrat.

»Gegen die Ordnung«, sagte Herr Tuckle. »Zu spät, zu spät.«

»Nein, nein; ich konnte wahrhaftig nicht anders«, erwiderte der Blaue. »Ich appelliere an die Gesellschaft – ein galantes Abenteuer – ein Stelldichein im Theater.«

»Wirklich?« fragte der Gentleman in den orangenen Plüschhosen.

»Ja, auf meine Ehre«, sagte der Blaue. »Ich hatte versprochen, unsere jüngste Tochter um halb zehn Uhr abzuholen, und sie ist ein so schönes Frauenzimmer, daß ich es nicht übers Herz bringen konnte, sie warten zu lassen. Ich wollte die Gesellschaft dadurch nicht beleidigen, Sir, aber eine Schürze, Sir – eine Schürze, Sir, da kann man nicht widerstehen.«

»Sie Schwerenöter, Sie«, sagte Tuckle, als der neue Ankömmling sich neben Sam setzte. »Es ist mir schon ein paarmal aufgefallen, daß sie sich sehr fest an Ihre Schultern lehnt, wenn sie in den Wagen hinein- oder heraussteigt.«

»Ja freilich, freilich, Tuckle: aber von so etwa« darf man nicht reden«, sagte der Blaurock; »es schickt sich nicht. Ich habe vielleicht zu einem oder zwei Freunden gesagt, daß sie ein göttliches Geschöpf ist, und ohne einleuchtende Gründe schon einen oder zwei Anträge zurückgewiesen hat; aber – – nein, nein, nein, wahrhaftig, Tuckle – und besonders vor Fremden – das ist nicht recht – Sie sollten es nicht tun. Zartgefühl, mein teurer Freund, Zartgefühl!«

Und der Blaurock ordnete sein Halstuch, zupfte seine Handkrausen zurecht, blinzelte und schnitt dabei Grimassen, als ob er noch viel sagen könnte, wenn er wollte, und wenn ihm nicht die Ehre zu schweigen geböte.

Da der Blaue ein blondlockiger, steifnackiger, munterer, unbefangener Bursche von keckem, prahlhansigem Aussehen war, so hatte er gleich im Anfang Herrn Wellers besondere Aufmerksamkeit erregt. Als er sich aber vollends auf diese Art auszulassen begann, fühlte Sam noch größere Lust, seine Bekanntschaft zu machen und knüpfte daher mit seiner charakteristischen Ungezwungenheit ohne weiteres eine Unterhaltung mit ihm an.

»Ihre Gesundheit, Sir«, sagte er zu ihm. »Sie gefallen mir. Wir müssen Freundschaft schließen.«

Der Blaurock lächelte, als wäre er an Komplimente dieser Art längst gewöhnt, blickte jedoch Sam freundlich an und sagte, »er hoffe, näher mit ihm bekannt zu werden, denn er scheine ihm ohne alle Schmeichelei ein ganz angenehmer Bursche zu sein – ganz der Mann nach seinem Herzen.«

»Sie sind gar zu gütig, Sir«, erwiderte Sam. »Was für ein Glückskind Sie sind!«

»Wie meinen Sie das?« fragte der Gentleman im blauen Rock.

»Ich meine die junge Dame«, erwiderte Sam. »Die wird schon wissen, was sie zu tun hat. Ich verstehe wohl.«

Herr Weller schloß ein Auge und schüttelte seinen Kopf auf eine Art, die für die persönliche Eitelkeit des Gentleman im blauen Gewand höchlich befriedigend war.

»Ich fürchte, Sie sind ein verfluchter Kerl, Herr Weller«, sagte er.

»Nein, nein«, erwiderte Sam. »Ich überlasse das Ihnen. Sie haben weit mehr davon als ich, wie der Gentleman auf der sicheren Seite der Gartenmauer zu dem Manne draußen sagte, während der wütende Stier die Gasse hinausjagte.«

»Na schön, Herr Weller«, sagte der Blaurock, »ich dächte wenigstens, sie hat meine Art und mein Wesen wohl bemerkt, Herr Weller.«

»Das soll mich nicht im geringsten wundern«, erwiderte Sam.

»Haben Sie auch so eine kleine Geschichte dieser Art, Sir?« antwortete der begünstigte Gentleman im blauen Rock, indem er einen Zahnstocher au« seiner Westentasche zog.

»So eigentlich nicht«, antwortete Sam. »In meinem Hause gibt es keine Töchter, sonst würde ich mich natürlich auch an eine herangemacht haben. So aber würde ich es unter einer Marquise nicht tun. Doch ließe ich mir zur Not noch eine junge Dame mit großem Vermögen gefallen, wenn sie auch keinen Titel hätte, aber recht rasend in mich verliebt wäre, sonst durchaus nicht.«

»Das will ich doch meinen, Herr Weller«, sagte der Blaue. »Man darf sich nicht wegwerfen, und wir, wir als Männer von Welt und Erfahrung, wissen, Herr Weller, daß eine hübsche Uniform bei den Damen früher oder später immer ihre Wirkung tut. Unter uns gesagt, das ist auch das einzige, warum es sich der Mühe lohnt, in einen Dienst zu gehen.«

»Ganz recht«, sagte Sam, »so denke ich auch.«

Als dieses vertrauliche Zwiegespräch soweit gediehen war, wurden Gläser gebracht und jeder der Gentlemen bestellte, was er wollte, bevor das Wirtshaus geschlossen wurde. Der Blaue und der Orangefarbene, die die Häupter dieser auserlesenen Gesellschaft waren, bestellten »kalten Shrub«9 und Wasser; das Lieblingsgetränk der andern aber schien Wacholderbranntwein und Zucker zu sein. Sam nannte den Gemüsehändler einen fürchterlichen Dummkopf und bestellte eine große Bowle Punsch, zwei Heldentaten, die ihn in den Augen dieser Notabilitäten sehr zu heben schienen.

»Meine Herren«, rief der Blaurock mit dem Anstand und den Gebärden des vollendetsten Dandy, »die Damen sollen leben!«

»Hört, hört«, sagte Sam. »Die jungen Bälger.«

Jetzt wurde laut zur Ordnung gerufen, und Herr John Smauker, als der Gentleman, der Herrn Weller in die Gesellschaft eingeführt hatte, nahm sich die Freiheit, ihm zu bemerken, der Ausdruck, dessen er sich bedient, sei unparlamentarisch.

»Welchen andern hätte ich denn wählen sollen, Sir?« fragte Sam.

»Bälger, Sir?« erwiderte Herr John Smauker mit beunruhigendem Stirnrunzeln. »Wir erkennen solche Definitionen nicht an.«

»Ah, sehr gut«, sagte Sam, »so will ich die Bemerkung verbessern und sie mit Erlaubnis des Herrn Feuerbrand süße Engelein nennen.«

Im Gemüt des Gentleman mit den grünen Samthosen schien einiger Zweifel vorzuwalten, ob man den Präsidenten füglich Feuerbrand nennen könne; da die Gesellschaft sich aber nicht daran stieß, so wurde die Frage nicht aufgeworfen. Der Mann mit dem aufgestülpten Hut atmete kurz und blickte Sam lange an, hielt es aber offenbar für geratener, nichts zu sagen, um nicht noch schlimmer wegzukommen.

Nach einer kurzen Pause rührte ein Gentleman mit einem bordierten Rock, der ihm bis an die Fersen ging, und ebensolcher Weste, die eine Hälfte seiner Beine warm hielt, mit großer Energie seinen Wacholderbranntwein und Wasser, erhob sich dann auf einmal mit gewaltiger Anstrengung und sagte, er wünsche der Gesellschaft einiges mitzuteilen, worauf der Herr mit dem aufgestülpten Hut durchaus nicht zweifelte, daß die Gesellschaft sich sehr glücklich schätzen werde, einiges zu hören, was der Herr mit dem langen Rock ihr vorzutragen wünsche.

»Meine Herren«, begann dieser; »nur mit großer Schüchternheit wage ich es, vor Sie zu treten, da ich das Unglück habe, ein Kutscher zu sein und nur als Ausnahmegast zu diesen angenehmen Schmausereien zugelassen bin. Aber, meine Herren, ich fühle mich verbunden – in die Ecke getrieben – wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf – eine betrübende Tatsache bekanntzumachen, die mir zu Ohren gekommen ist, und von der ich wohl sagen darf, daß sie mir den ganzen Tag vor den Augen geschwebt hat. Meine Herren, unser Freund, Herr Whiffers (aller Augen richteten sich auf den Orangefarbigen), unser Freund, Herr Whiffers, hat gekündigt.«

Allgemeines Erstaunen lag über den Zuhörern. Jeder sah seinen Nachbar an und ließ dann die Blicke wieder auf den stehenden Kutscher gleiten.

»Ja, meine Herren«, fuhr dieser fort, »Sie haben Ursache, verwundert zu sein. Ich will es nicht wagen, mich über die Gründe dieses unersetzlichen Verlustes für den Dienst auszulassen, aber ich möchte Herrn Whiffers bitten, dieselben zur Belehrung und Nachahmung seiner bewundernden Freunde selbst anzugeben.«

Da der Antrag mit lautem Beifall angenommen wurde, so erklärte sich Herr Whiffers bereit. Er sagte, er hätte allerdings wünschen können, den Posten, den er nunmehr aufgegeben, länger zu behalten. Die Uniform sei glänzend und kostbar gewesen, die Frauenzimmer in der Familie äußerst angenehm und die Pflichten seiner Stellung, wie er nicht anders sagen könne, keineswegs zu beschwerlich, denn sein Hauptdienst habe darin bestanden, in Gesellschaft eines andern Gentleman, der ebenfalls gekündigt habe, soviel wie möglich aus dem Fenster neben dem Hausflur hinauszusehen. Er hätte der Gesellschaft gern die widrigen und empörenden Details, auf die er eingehen müsse, erspart, da man aber eine Erklärung von ihm gefordert, so habe er keine andere Wahl, als deutlich und geradeheraus zu gestehen, daß man ihm zugemutet habe, kalte Küche zu essen.

Es ist unmöglich, die Entrüstung zu begreifen, die diese Mitteilung in den Busen der Zuhörer erweckte. Ein lautes Geschrei: »Pfui! pfui!« mit Murren und Gezische vermischt, dauerte wenigstens eine Viertelstunde.

Herr Whiffers fügte jetzt hinzu, er fürchte, einen Teil dieser Schmach durch sein nachgiebiges und geduldiges Wesen selbst verschuldet zu haben. Er erinnere sich deutlich, daß er sich einmal herabgelassen habe, gesalzene Butter zu essen, und ein andermal, als jemand im Hause plötzlich erkrankt sei, habe er sich sogar soweit vergessen, einen Kohleneimer in den zweiten Stock hinauf zu tragen. Er hege die Zuversicht, daß er durch dieses offene Geständnis seiner Fehler in der guten Meinung seiner Freunde nicht gesunken sei, oder wenn dies geschehen sein sollte, so hoffe er, daß die Schnelligkeit, womit er die soeben erzählte letzte schamlose Verletzung seiner Gefühle gerächt habe, ihn in ihre Achtung wieder einsetzen werde.

Herrn Whiffers Rede belohnte schallender Bewunderungszuruf, und voll Enthusiasmus wurde die Gesundheit des hochsinnigen Märtyrers getrunken. Der Märtyrer dankte und brachte einen Toast auf ihren Gast, Herrn Weller, aus – einen Gentleman, den er zwar nicht das Vergnügen habe, genauer zu kennen, der aber der Freund des Herrn John Smauker sei, was in jeder Gesellschaft von Gentlemen als ein hinreichender Empfehlungsbrief betrachtet werden müsse. Deshalb würde er sich gedrungen gefühlt haben, Herrn Wellers Gesundheit mit allen Ehren auszubringen, wenn seine Freunde Wein tränken; da sie aber der Abwechslung halber Branntwein vorgezogen, und es nicht ratsam sein möchte, bei jedem Toaste einen Humpen zu leeren, so schlage er vor, die Ehren stillschweigend vorauszusetzen.

Beim Schluß dieser Rede schlürften alle zu Ehren Sams ein wenig aus ihren Bechern, und nachdem Sam sich selbst zu Ehren zwei volle Gläser Punsch herausgeschöpft und hinabgestürzt hatte, dankte er in einer wohlgesetzten Rede.

»Kameraden«, begann er, indem er so unbefangen wie möglich sein Glas füllte; »ich bin sehr verbunden für dieses Kompliment, das mich beinahe zu Boden drückt, da es von solchen Ehrenmännern kommt. Ich habe schon viel von Ihnen als Korporation gehört, aber das muß ich sagen, ich hätte nie geglaubt, daß Sie so außerordentlich angenehme Leute wären, wie ich jetzt in Ihnen gefunden habe. Ich hoffe nur, daß Sie acht auf sich selbst nehmen und Ihrer Würde nichts vergeben, denn es ist sehr hübsch anzusehen, wenn einer auf der Straße geht, und dieser Anblick hat mir von jeher sehr viel Vergnügen gemacht, schon als ich noch ein Knabe war und kaum halb so hoch als der mit einem Messingknopf versehene Stock meines ehrenwerten Freundes Feuerbrand da. Was das Opfer der Unterdrückung in dem Schwefelkleide betrifft, so kann ich weiter nichts sagen, als daß ich hoffe, er werde einen so guten Platz bekommen, wie er es verdient, in welchem Fall man ihm sehr wenig mit kalter Küche beschwerlich fallen wird.«

Hier setzte sich Sam mit einem anmutsvollen Lächeln; seine Rede wurde stürmisch beklatscht, und ein Teil der Gesellschaft machte Anstalt, aufzubrechen.

»Wie, Sie werden doch nicht im Ernst schon gehen wollen, alter Kollege«, sagte Sam Weller zu seinem Freunde, Herrn John Smauker.

»Ach Gott, ich muß«, erwiderte Herr Smauker: »ich habe es Bantam versprochen.«

»Dann ist’s was anderes«, erwiderte Sam. »Vielleicht würde er kündigen, wenn Sie lange auf sich warten ließen. Aber Sie gehen doch noch nicht, Feuerbrand?«

»O freilich«, erwiderte der Mann mit dem aufgestülpten Hut.

»Wie, und Dreiviertel einer Punschbowle zurücklassen?« eiferte Sam. »Das wäre ja Unsinn! Setzen Sie sich wieder.«

Herr Tuckle vermochte dieser Einladung nicht zu widerstehen. Er stellte den aufgestülpten Hut sowie den Stock, den er soeben ergriffen hatte, wieder auf die Seite und sagte, um der guten Kameradschaft willen wolle er noch ein Gläschen trinken.

Da der hellblaue Gentleman denselben Heimweg hatte wie Herr Tuckle, so ließ auch er sich überreden, noch zu bleiben. Als der Punsch etwa halb getrunken war, bestellte Sam noch Austern aus des Gemüsehändlers Laden, und die Wirkung von beiden war so außerordentlich erheiternd, daß Herr Tuckle mit seinem aufgestülpten Hut und Stock auf dem Tische zwischen den Austernschalen den Froschhornpipe tanzte, während ihm der hellblaue Gentleman auf einem sinnreichen Instrument, bestehend aus einem Haarkamm und einem Papierstreif, dazu aufspielte. Endlich, als der Punsch getrunken und die Nacht so ziemlich vorüber war, machten sie sich auf, in der Absicht, ein Haus weiterzugehen. Kaum war Herr Tuckle an der frischen Luft, als ihn auf einmal der Wunsch ankam, sich auf das Straßenpflaster niederzulegen, und Sam, der es für eine Sünde gehalten hätte, ihm zu widersprechen, ließ ihn gewähren. Da jedoch der aufgestülpte Hut leicht hätte verdorben werden können, wenn man ihn hier ließ, so drückte er denselben klugerweise dem hellblauen Herrn auf den Kopf, gab ihm den dicken Stab in die Hand, lehnte ihn sofort an seine Haustür, läutete und ging ruhig nach Hause.

An diesem Morgen war Herr Pickwick früher als gewöhnlich aufgestanden; er ging vollständig angekleidet die Treppen hinab und läutete.

»Sam«, sagte er, als Herr Weller auf das Geklingel erschien, »schließ die Tür zu.«

Herr Weller tat es.

»Wir haben«, fuhr Herr Pickwick fort, »heute Nacht einen unglückseligen Vorfall gehabt, infolgedessen Herr Winkle Gewalttätigkeiten von Herrn Dowler befürchten muß.«

»Ich habe es schon von der Alten unten gehört«, erwiderte Sam.

»Und«, erzählte Herr Pickwick mit höchst verdrießlicher Miene weiter, »ich muß leider hinzufügen, daß Herr Winkle sich aus Furcht vor diesen Gewalttätigkeiten davongemacht hat.«

»Davongemacht?« sagte Sam.

»Er hat diesen Morgen sehr früh, ohne die geringste Beratung mit mir, das Haus verlassen«, erklärte Herr Pickwick. »Und er ist davongegangen, ohne daß ich weiß, wohin.«

»Er hätte dableiben und die Sache ausfechten sollen, Sir«, versetzte Sam verächtlich. »Ich wollte mit diesem Dowler schon fertig werden, Sir.«

»Gut, Sam«, sagte Herr Pickwick; »auch ich habe meine Zweifel an seiner großen Tapferkeit und Entschlossenheit. Aber dem sei wie ihm wolle, Herr Winkle ist nun einmal nicht mehr da. Er muß aufgesucht und zu mir zurückgebracht werden, Sam.«

»Wenn er aber nicht mehr kommen will, Sir?« fragte Sam.

»So muß man ihn dazu zwingen, Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Und wer soll das tun, Sir?« fragte Sam mit einem Lächeln.

»Du«, erwiderte Herr Pickwick.

»Sehr wohl, Sir.«

Mit diesen Worten verließ Herr Weller das Zimmer, und man hörte ihn bald nachher die Haustür schließen. Zwei Stunden nachher kehrte er so ruhig zurück, als hätte man ihn mit dem allergewöhnlichsten Auftrag abgesandt, und brachte die Nachricht, ein Individuum, dessen Beschreibung in jeder Beziehung auf Herrn Winkle passe, sei heute morgen mit der Postkutsche von Royal- Hotel weg nach Bristol gefahren.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, seine Hand ergreifend: »du bist ein Kapitalkerl, den man in Gold fassen sollte. Du mußt ihm nachreisen, Sam.«

»Sehr wohl, Sir«, erwiderte Herr Weller.

»Sobald du ihn entdeckst, schreibst du es mir auf der Stelle, Sam«, fuhr Herr Pickwick fort: »und wenn er einen Versuch macht, zu entfliehen, so schlägst du ihn zu Boden oder sperrst ihn ein. Du hast meine unumschränkte Vollmacht, Sam.«

»Ich werde alles getreu befolgen«, erwiderte Sam.

»Sage ihm«, setzte Herr Pickwick hinzu, »ich sei im höchsten aufgebracht, erzürnt und empört über das äußerst auffallende benehmen, das er sich habe zuschulden kommen lassen.«

»Das will ich, Sir«, erwiderte Sam.

»Sage ihm ferner«, fuhr Herr Pickwick fort, »wenn er nicht mit dir in dieses Haus zurückkehren wolle, so werde er mit mir zurückkehren müssen, denn ich würde selbst kommen und ihn holen.«

»Ich werde es ausrichten, Sir«, versprach Sam.

»Meinst du wirklich, daß du ihn finden werdest, Sam?« fragte Herr Pickwick, ihm scharf in’s Gesicht sehend.

»O ich will ihn schon finden, er mag sein, wo er will«, erwiderte Sam mit großer Zuversicht.

»Sehr gut«, sagte Herr Pickwick; »so reise je eher, je lieber, ab.«

Mit diesen Instruktionen drückte Herr Pickwick seinem getreuen Diener eine Summe Geldes in die Hand und befahl ihm, sogleich nach Bristol abzureisen, um den Flüchtling einzuholen.

Sam packte einige notwendige Sachen in einen Koffer und war bereit, aufzubrechen. Am Ende des Ganges blieb er stehen, kehrte noch einmal um und steckte den Kopf durch die Tür.

»Sir«, flüsterte Sam.

»Was ist’«, Sam?« erwiderte Herr Pickwick.

»Ich habe doch meine Instruktionen recht verstanden, Sir?« fragte Sam.

»Ich hoffe wenigstens«, sagte Herr Pickwick.

»Habe ich das mit dem Niederschlagen buchstäblich zu verstehen?« fragte Sam weiter.

»Allerdings«, erwiderte Herr Pickwick: »ganz buchstäblich. Tu, was du für nötig hältst. Du hast meine Vollmacht.«

Sam nickte einverstanden, zog seinen Kopf aus der Tür und begab sich leichten Herzens auf seine Wanderschaft.

  1. Zucker, Branntwein und Zitronensaft.