Seitdem Peter Gringoire gesehen hatte, welches Ende dieser ganze Vorfall nehmen würde, und daß Strick, Galgen und andere Unannehmlichkeiten den Hauptpersonen dieser Komödie bevorstehen müßten, hatte er keine Sorge mehr getragen, sich hineinzumischen. Die Landstreicher, unter denen er, in Erwägung, daß es am Ende die beste Gesellschaft von Paris wäre, ausgeharrt hatte, – die Landstreicher also hatten nicht aufgehört, an der Zigeunerin Antheil zu nehmen. Er hatte das ganz natürlich an Leuten gefunden, die, wie sie, keine andere Aussicht, als Charmolue und Torterue hatten, und die, wie er, nicht in den Regionen der Phantasie auf den Flügeln des Pegasus sich tummelten. Er hatte aus ihren Reden erfahren, daß seine, beim zerbrochenen Topfe angetraute, Gattin sich in die Kirche Notre-Dame geflüchtet hätte, und er war sehr froh darüber. Aber er gerieth nicht einmal in die Versuchung, sie dort zu besuchen. Er dachte manchmal an die kleine Ziege, das war aber auch alles. Uebrigens machte er, um leben zu können, am Tage Kraftkunststücke, und des Nachts arbeitete er an einer Denkschrift gegen den Bischof von Paris; denn er hatte noch nicht vergessen, wie er von dessen Mühlrädern durch und durch naß geworden war, und bewahrte ihm deshalb einen alten Groll. Auch beschäftigte er sich damit, das schöne Werk von Baudry-le-Rouge, des Bischofs von Noyon und Tournay: » de Cupa Petrarum« mit Anmerkungen zu versehen, welches ihm eine heftige Neigung für die Baukunst eingeflößt hatte, eine Neigung, welche in seinem Herzen die Leidenschaft für den mystischen Unsinn verdrängt hatte, von der sie übrigens nur eine natürliche Folge war, da ja eine innige Verwandtschaft zwischen der Alchymie und der Freimaurerei stattfindet. Gringoire war von der Liebe zu einer Idee zur Liebe für die Gestaltung dieser Idee übergegangen.

Eines Tages war er in der Nähe von Saint-Germain-l’Auxerrois, an der Ecke eines Gebäudes, welches man das »Bischofsgericht« nannte, stehen geblieben, und welches einem andern, das »Königsgericht« genannt, gegenüber stand. Zu diesem Bischofsgerichte gehörte eine hübsche Kapelle aus dem vierzehnten Jahrhunderte, deren Chorseite nach der Straße zu lag. Gringoire untersuchte andächtig die äußern Bildhauerarbeiten daran. Er befand sich in einem jener Augenblicke selbstsüchtigen, ausschließlichen und höchsten Genusses, wo der Künstler in der Welt nichts als die Kunst und die Kunst in der Welt sieht. Plötzlich fühlte er, daß sich eine Hand schwer auf seine Schulter legte. Er drehte sich um. Da stand sein alter Freund, sein alter Lehrer, der Herr Archidiaconus vor ihm.

Er stand bestürzt da. Seit langem hatte er den Archidiaconus nicht gesehen, und Dom Claude war einer jener feierlichen und leidenschaftlichen Menschen, deren Begegnung stets das Gleichgewicht eines skeptischen Weltweisen stört.

Der Archidiaconus beobachtete einige Augenblicke lang Stillschweigen, während dessen Gringoire Muße hatte, ihn zu beobachten. Er fand Dom Claude sehr verändert: blaß wie einen Wintermorgen, hohläugig, das Haar fast ganz gebleicht. Endlich brach der Priester das Schweigen, indem er mit ruhigem, aber eisigem Tone sagte:

»Wie geht’s Euch, Meister Peter?«

»Mit meiner Gesundheit?« antwortete Gringoire. »Ei nun! man kann dies und jenes von ihr sagen. Bei alledem ist sie im Ganzen gut. Ich genieße von keiner Sache zu viel. Ihr wißt, Meister, das Geheimnis sich wohl zu befinden, » id est,« nach Hippokrates, » cibi, potus, somni, venus, omnia moderata sint61

»Ihr habt also keinen Kummer, Meister Peter?« fragte der Archidiaconus und sah Gringoire scharf an.

»Meiner Treu, nein!«

»Und was treibt Ihr denn jetzt?«

»Ihr seht es, lieber Meister. Ich untersuche den Schnitt dieser Steine und die Art und Weise, in der dieses Basrelief ausgearbeitet ist.«

Der Priester begann zu lächeln, aber mit jenem bittern Lächeln, welches nur einen Mundwinkel verzieht.

»Und daran habt Ihr Gefallen?«

»Es ist mein Paradies!« rief Gringoire aus. Und indem er sich auf die Bildhauerarbeiten mit der verzückten Miene eines Menschen neigte, der lebende Erscheinungen erklärt, sagte er: »Findet Ihr, zum Beispiel, diese Verwandlung in halb erhabener Arbeit nicht mit vieler Geschicklichkeit, Zartheit und Geduld ausgeführt? Betrachtet dieses Säulchen. Um welchen Säulenkopf herum habt Ihr wohl zartere und vom Meißel mit mehr Liebe gearbeitete Blätter gesehen? Hier sind drei Haut-Reliefs von Jean Maillevin. Es sind nicht die schönsten Arbeiten dieses großen Genies. Nichtsdestoweniger machen die Naivetät und Lieblichkeit der Gesichter, die Heiterkeit der Stellungen und Gewandungen, und diese unaussprechliche Lieblichkeit, welche sich mit allen seinen Fehlern verbindet, diese Figuren höchst anmuthig und sehr zierlich, vielleicht sogar beides zu sehr. Findet Ihr nicht, daß dies unterhaltend ist?«

»Ganz gewiß!« sagte der Priester.

»Und wenn Ihr das Innere der Kapelle sähet!« fuhr der Dichter mit seiner geschwätzigen Begeisterung fort. »Ueberall Sculpturen. Sie ist ganz dick belaubt davon, wie der Herzkern eines Kohlkopfes. Der Chor hat eine sehr erhabene und so eigenartige Form, daß ich nichts derartiges anderswo gesehen habe!«

Dom Claude unterbrach ihn:

»Ihr seid also glücklich?«

Gringoire antwortete mit Feuer:

»Auf Ehre, ja! Ich habe zuerst Weiber, dann Thiere geliebt. Jetzt liebe ich Steine. Das ist alles ebenso ergötzlich, als Thiere und Weiber, und vor allen ist es nicht so treulos.«

Der Priester legte seine Hand auf die Stirn. Es war das eine gewöhnliche Geberde von ihm.

»In Wahrheit?«

»Wisset!« sagte Gringoire, »man hat seltene Genüsse.« Er nahm den Arm des Priesters, welcher sich ihm überließ, und führte ihn in den kleinen Treppenthurm des Bischofsgerichtes. »Das nenne ich mir eine Treppe! Jedesmal, wenn ich sie sehe, bin ich ganz glücklich. Das ist eine Treppe von der einfachsten und in Paris seltensten Art. Alle Stufen sind nach unten abgerundet. Ihre Schönheit und ihre Einfachheit besteht in der Trittbreite aller, die einen Fuß oder nahe daran beträgt; dazu sind sie ineinander geschlungen, eingelocht, gefügt, verkettet und ineinander gearbeitet, und halten auf eine wahrhaft feste und zierliche Weise zusammen.«

»Und Ihr wünscht nichts weiter?«

»Nein.«

»Und bereuet nichts?«

»Weder Reue noch Wunsch. Ich habe mein Leben geordnet.«

»Was die Menschen ordnen,« sagte Claude, »werfen die Umstände über den Haufen.«

»Ich bin ein zweifelsüchtiger Philosoph,« antwortete Gringoire, »und ich halte alles im Gleichgewichte.«

»Und wie erwerbt Ihr Euern Lebensunterhalt?«

»Ich mache hier und da noch Heldengedichte und Trauerspiele; aber was mir am meisten einträgt, das ist der Erwerbszweig, der Euch bekannt ist, mein Lehrer: Pyramiden aus Stühlen auf meinen Zähnen zu tragen.«

»Das Gewerbe ist plump für einen Philosophen.«

»Das gehört auch zum Gleichgewicht,« sagte Gringoire. »Wenn man einen Gedanken hat, so findet man ihn in allem wieder.«

»Ich kenne das,« antwortete der Archidiaconus.

Nach einer Pause fuhr der Priester fort:

»Ihr seid nichtsdestoweniger recht elend.«

»Elend, ja; aber unglücklich nicht.«

In diesem Augenblicke ließ sich ein Pferdegetrappel hören, und unsere zwei sich unterhaltenden Freunde sahen am Ende der Straße eine Compagnie Bogenschützen von der königlichen Leibwache mit aufgerichteten Speeren, den Offizier an der. Spitze, vorüberziehen. Der Aufzug war glänzend, und das Pflaster ertönte unter ihm.

»Wie Ihr jenen Offizier mit Euern Blicken verfolgt!«, sagte Gringoire zum Archidiaconus.

»Weil ich ihn wieder zu erkennen glaube.«

Wie nennt ihr ihn?«

»Ich glaube,« sagte Claude, »daß er Phöbus von Châteaupers heißt.«

»Phöbus! ein merkwürdiger Name! Es giebt noch einen Phöbus, Grafen von Foix. Ich erinnere mich, ein Mädchen gekannt zu haben, die nur bei dem Namen Phöbus schwur.«

»Kommt mit,« sagte der Priester, »ich habe Euch etwas zu sagen.«

Seitdem dieser Soldatentrupp vorübergezogen war, brach eine gewisse Unruhe aus der eisigen Hülle des Archidiaconus hervor. Er begann sich auf den Weg zu machen. Gringoire folgte ihm, gewohnt, ihm zu gehorchen, wie alles, was einmal mit der gewaltigen Natur dieses Mannes in Berührung gekommen war. Schweigend schritten sie so bis zur Bernhardinerstraße, welche ziemlich einsam war. Dom Claude blieb jetzt stehen.

»Was habt Ihr mir mitzutheilen, lieber Meister?« fragte ihn Gringoire.

»Findet Ihr nicht,« antwortete der Archidiaconus mit der Miene tiefen Nachdenkens, »daß das Gewand dieser Reiter, welche wir soeben gesehen haben, schöner ist, als Eures und meins?«

Gringoire schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Meiner Treu! meine gelbe und rothe Joppe ist mir lieber, als jene eisernen und stählernen Schuppenröcke. Ein schönes Vergnügen fürwahr, beim Gehen denselben Lärm zu verursachen, wie die Boutiquen auf dem Trödlerdamme bei einem Erdbeben!«

»Also, Gringoire? Ihr habt niemals diese schönen Burschen in ihren Kriegsröcken beneidet?«

»Neid auf was, Herr Archidiaconus? Etwa auf ihre Stärke, ihre Rüstung, ihre Mannszucht? Besser sind fürwahr die Weltweisheit und die Unabhängigkeit in Lumpen. Ich will lieber ein Fliegenkopf, als ein Löwenschwanz sein.«

»Das ist sonderbar,« sagte der Priester in Gedanken versunken. »Eine schöne Uniform bleibt doch schön.«

Gringoire, der ihn so nachdenklich sah, trat zur Seite, um die Vorhalle eines benachbarten Hauses zu bewundern. Er kam zurück und schlug in die Hände.

»Wenn Ihr weniger für die Waffenröcke der Kriegsleute eingenommen wäret, Herr Archidiaconus, so würde ich Euch bitten, mitzukommen und jenes Thor zu betrachten. Ich habe es immer gesagt, das Haus des Herrn Aubry hat den prachtvollsten Eingang von der Welt.«

»Peter Gringoire,« sagte der Archidiaconus, »was habt Ihr mit der kleinen Zigeunertänzerin angefangen?«

»Der Esmeralda? Ihr ändert sehr plötzlich die Unterhaltung.«

»War sie nicht Eure Frau?«

»Ja, infolge eines zerbrochenen Kruges. Wir hatten uns für vier Jahre … Aber,« fügte Gringoire mit einer halb spaßhaften Miene hinzu, während er den Archidiaconus ansah, »wie? Ihr denkt also noch immer daran?«

»Und Ihr, Ihr denkt nicht mehr daran?«

»Wenig … Ich habe mancherlei andere Dinge! … Mein Gott, wie reizend war die kleine Ziege!«

»Hatte Euch diese Zigeunerin nicht das Leben gerettet?«

»Bei Gott, das ist wahr.«

»Nun denn! was ist aus ihr geworden? Was habt Ihr mit ihr angefangen?«

»Ich kann es Euch nicht sagen. Ich glaube, sie haben sie gehangen.«

»Ihr glaubt?«

»Ich weiß es nicht gewiß. Als ich gesehen habe, daß die Leute sie hängen wollten, habe ich mich vom Spiele zurückgezogen.«

»Ist das alles, was Ihr von ihr wißt?«

»Wartet doch. Man hat mir erzählt, sie hätte sich in die Kirche Notre-Dame geflüchtet und wäre dort in Sicherheit; und ich bin erfreut darüber, und ich habe nicht entdecken können, ob sich die Ziege mit ihr gerettet hat, und das ist alles, was ich davon weiß.«

»Ich will Euch noch mehr wissen lassen,« schrie Dom Claude, und seine bis dahin leise, langsame und fast dumpfe Stimme war donnernd geworden. »Sie hat in der That ihre Zuflucht zur Kirche Notre-Dame genommen. Aber in drei Tagen wird die Gerechtigkeit sie dort wieder ergreifen, und sie wird auf dem Grèveplatze gehangen werden. Es liegt ein Parlamentsbeschluß vor.«

»Das ist traurig,« sagte Gringoire.

Der Priester war im Nu wieder kalt und ruhig geworden.

»Und wer Teufel,« begann der Dichter wieder, »hat sich denn das Vergnügen gemacht, ein Ergänzungsurtheil zu beantragen. Konnte man das Parlament nicht in Frieden lassen? Was macht es, wenn ein armes Mädchen sich hinter den Strebepfeilern von Notre-Dame, neben den Schwalbennestern, in Sicherheit bringt?«

»Es giebt Satane in der Welt,« antwortete der Archidiaconus.

»Das ist verteufelt schlecht eingefädelt,« bemerkte Gringoire.

Der Archidiaconus nahm nach einer Pause wieder das Wort:

»Also sie hat Euch das Leben gerettet?«

»Bei meinen guten Freunden, den Landstreichern. Es fehlte noch ein Haar breit und ich wurde gehangen. Es müßte ihnen heute noch leid thun.«

»Wollt Ihr denn gar nichts für sie thun?«

»Ich wünsche nichts mehr, als das, Dom Claude; aber wenn ich mir eine häßliche Geschichte auf den Hals lade!«

»Was thut’s?«

»Bah! was es thut? Ihr seid sehr gütig, Ihr, lieber Meister! Ich habe zwei große Werke angefangen.«

Der Priester schlug sich vor die Stirne. Ungeachtet der Ruhe, die er erkünstelte, zeigte von Zeit zu Zeit eine heftige Geberde seine innern Zuckungen.

»Wie sie retten?«

Gringoire sagte zu ihm:

»Theurer Meister, ich will Euch antworten: » Il padelt«, was auf türkisch heißt: Gott ist unsere Hoffnung.«

»Wie sie retten?« wiederholte Claude in Nachdenken versunken.

Jetzt schlug sich Gringoire vor die Stirn.

»Höret, lieber Meister, ich besitze Phantasie, ich will Euch Mittel und Wege zu finden suchen. Wie, wenn man den König um Begnadigung bäte?«

»Ludwig den Elften! Um Begnadigung?«

»Warum nicht?«

»Geh und nimm dem Tiger seinen Knochen!«

Gringoire begann nach neuen Lösungen zu suchen.

»Nun gut! Halt! … Wollt Ihr, daß ich an die Matronen eine Bittschrift richte mit der Erklärung, daß das Mädchen schwanger ist?«

Hier sprühte das hohle Auge des Priesters Flammen.

»Schwanger? Bursche! weißt du vielleicht etwas davon?«

Gringoire war entsetzt über sein Aussehen. Er fuhr schnell fort:

»Oh! ich ganz und gar nicht. Unsere Ehe war ein echtes foris maritagium. 62 Ich bin draußen geblieben.

Aber schließlich würde man einen Aufschub damit erlangen.«

»Dummheit! Schande! Schweig‘!«

»Ihr habt unrecht, Euch zu erzürnen,« murmelte Gringoire. »Man erlangt eine Frist: das verursacht niemandem Schaden, und die Matronen, welche arme Frauen sind, gewinnen dabei vierzig Pariser Heller.«

Der Priester hörte nicht auf seine Worte.

»Und doch muß sie von dort fort!« murmelte er. »Das Urtheil wird binnen drei Tagen vollstreckbar! Uebrigens würde gar kein Parlamentsbeschluß gekommen sein … dieser Quasimodo! Die Weiber haben mitunter sehr verdorbene Geschmacksrichtungen!«

Er erhob seine Stimme: »Meister Peter, ich habe reiflich überlegt; es giebt nur ein Rettungsmittel für sie.«

»Welches? Ich, für meine Person, ich sehe keins mehr.«

»Höret zu, Meister Peter, erinnert Euch, daß Ihr dem Mädchen das Leben verdankt. Ich will Euch offen meinen Gedanken sagen. Die Kirche ist Tag und Nacht bewacht; man läßt nur diejenigen wieder heraus, welche man hat hineingehen sehen. Ihr könnt also hineingehen. Ihr werdet hinkommen. Ich werde Euch zu ihr führen. Ihr sollt die Kleider mit ihr vertauschen. Sie wird Euer Wamms, Ihr sollt ihren Rock anziehen.«

»So weit geht die Sache gut,« bemerkte der Philosoph. »Und dann?«

»Und dann? Sie wird in Euern Kleidern herauskommen; Ihr werdet in den ihrigen dortbleiben. Man hängt Euch vielleicht; aber sie wird gerettet werden.«

Gringoire kratzte sich mit sehr ernster Miene hinter dem Ohre.

»Wisset!« sagte er, »das ist fürwahr eine Idee, die mir nicht von allein eingefallen wäre.«

Bei dem unerwarteten Vorschlage Dom Claude’s hatte sich der offene und gutmüthige Gesichtsausdruck des Dichters plötzlich verfinstert, wie eine lachende Landschaft Italiens, wenn auf einmal ein unglücklicher Windstoß einherfährt, der eine Wolke über die Sonne deckt.

»Nun? Gringoire, was sagt Ihr zu diesem Mittel?« »Ich sage, theurer Meister, daß man mich nicht vielleicht hängen, sondern daß es mir ohne Zweifel den Hals kosten wird.«

»Das geht uns nichts an.«

»Den Teufel auch!« sagte Gringoire.

»Sie hat Euch das Leben gerettet. Es ist eine Schuld, die Ihr abtragt.«

»Ich habe deren noch viele andere, die ich nicht bezahle!«

»Meister Peter, Ihr müßt unweigerlich.«

Der Archidiaconus sprach im befehlenden Tone.

»Höret, Dom Claude,« antwortete der Dichter ganz bestürzt. »Ihr haltet an diesem Gedanken fest, und Ihr habt unrecht. Ich sehe nicht ein, warum ich mich an Stelle eines andern soll hängen lassen.«

»Was habt Ihr denn, was Euch so sehr ans Leben fesselt?«

»Oh! tausend Gründe.«

»Welche? wenn ich fragen darf.«

»Welche? Die Luft, den Himmel, den Morgen, den Abend, den Mondschein, meine guten Freunde die Landstreicher, die lustigen Streiche mit den Mädchen, die schönen Baudenkmäler von Paris zu studiren, drei dicke Bücher zu schreiben, davon eins gegen den Bischof und seine Mühlen, und Gott weiß, was noch? Anaxagoras sagte, daß er auf der Welt wäre, um die Sonne zu bewundern. Und dann habe ich das Glück, alle meine Tage, vom Morgen bis zum Abende, mit einem Menschen von Genie zu verleben, nämlich mit mir selbst, und das ist sehr angenehm.«

»Ein Hartkopf, um eine Schelle daraus zu machen!« brummte der Archidiaconus … »Ei! sprich doch, wer hat dir das Leben, das du dir so angenehm machst, erhalten? Wem verdankst du es, daß du diese Luft athmest, diesen Himmel erblickst, daß du deinen Lerchenkopf noch mit Albernheiten und Possen ergötzen kannst! Wo wärest du, ohne sie? Du bringst es also über dich, daß sie stirbt, sie, durch die du das Leben hast? Sie soll sterben, dieses schöne, süße, anbetungswürdige, zum Lichte der Welt nothwendige Geschöpf, die göttlicher ist, als Gott selbst; während du, halb gescheit und halb närrisch, ein leeres Erzeugnis von irgend etwas, eine Art Pflanze, die zu wandeln und zu denken meint – während du das Leben weiterleben willst, das du ihr gestohlen hast, und das eben so nutzlos ist, wie eine Kerze am hellen Mittage? Wohlan! habe ein wenig Mitleid, Gringoire; jetzt sei du großmüthig, denn sie hat damit den Anfang gemacht.«

Der Priester war heftig geworden. Gringoire hörte ihn anfangs mit unentschlossener Miene an, dann wurde er weich, und schnitt endlich eine tragische Grimasse, die sein blasses Gesicht demjenigen eines Neugeborenen ähneln ließ, welches Leibschneiden hat.

»Ihr seid voll Pathos!« sagte er und trocknete eine Thräne. »Nun gut! ich werde es mir überlegen … Es ist eine närrische Idee, die Ihr da gehabt habt … Überhaupt,« fuhr er nach einer Pause fort, »wer weiß! Vielleicht werden sie mich nicht hängen. Nicht immer folgt die Hochzeit auf die Verlobung. Wenn sie mich in jenem Kämmerchen finden sollten, so wunderlich in Weiberrock und Haube herausgeputzt, so werden sie vielleicht in Lachen ausbrechen … Und dann, wenn sie mich hängen, ei nun! der Strick ist eine Todesart, wie jede andere, oder besser gesagt, es ist kein Tod, wie ein anderer. Es ist ein des Weisen würdiger Tod, welcher sein ganzes Leben hindurch geschwankt hat: ein Tod, der nicht Fleisch und nicht Fisch ist, wie der Geist des echten Skeptikers, ein Tod, der ganz die Zweifelsucht und Unschlüssigkeit ausdrückt, der die Mitte zwischen Himmel und Erde hält, der einen in der Schwebe hält. Es ist der Tod eines Philosophen, und ich bin vielleicht vom Schicksale dazu auserwählt. Es ist prächtig zu sterben, wie man gelebt hat.«

Der Priester unterbrach ihn: »Sind wir einig?«

»Was ist der Tod, alles in allem genommen?« fuhr Gringoire mit Überspanntheit fort. »Ein schlechter Augenblick, eine Zollstätte, der Uebergang vom Wenig zum Nichts. Als jemand den Kerkidas von Megalopolis gefragt hatte, ob er gern stürbe: ›Warum nicht?‹ antwortete er; ›denn nach meinem Tode werde ich jene großen Männer: einen Pythagoras unter den Philosophen, Hekatäus unter den Geschichtsschreibern, Homer unter den Dichtern, Olympus unter den Musikern sehen.«

Der Archidiaconus reichte ihm die Hand hin: »Es ist also abgemacht? Ihr werdet morgen kommen?«

Diese Bewegung brachte Gringoire zur Wirklichkeit zurück.

»Ach, meiner Treu, nein!« sagte er im Tone eines Menschen, der aus dem Traume erwacht. »Gehangen werden? Das ist zu albern. Ich mag nicht.«

»Gott befohlen denn!« Und der Archidiaconus fügte, zwischen den Zähnen murmelnd, hinzu: »Ich werde dich wiederfinden!«

»Ich mag nicht, daß dieser Teufel von Menschen mich wiederfinde,« dachte Gringoire; und er lief hinter Dom Claude her. »Wartet doch, Herr Archidiaconus, kein Groll unter alten Freunden! Ihr interessirt Euch für dieses Mädchen, für meine Frau, will ich sagen, das ist gut. Ihr habt eine Kriegslist ausgedacht, um sie heil aus Notre-Dame herauszubringen, aber Euer Mittel ist äußerst unangenehm für mich, den Gringoire … Wenn ich nun dafür ein anderes hätte! … Ich will Euch nun mittheilen, daß mir eben plötzlich, in diesem Augenblicke, ein sehr lichtvoller Gedanke gekommen ist … Wenn ich nun einen rathsamen Einfall hätte, um sie aus dem schlimmen Handel herauszuziehen, ohne daß mein Hals mit der kleinsten Strickschleife in Collision geriethe? Was würdet Ihr dazu sagen? Würde Euch das gar nicht zufrieden stellen? Ist es unbedingt nothwendig, daß ich gehangen werde, damit Ihr zufrieden seid?«

Der Priester riß vor Ungeduld die Knöpfe von seinem Oberkleide ab. »Eine Flut von Worten! … Worin besteht dein Mittel?«

»Ja,« versetzte Gringoire, indem er in sich hineinsprach, und zum Zeichen der Ueberlegung den Zeigefinger an seine Nase legte … »das ist’s!« … Die Landstreicher sind tapfere Burschen … Die Zigeunerhorde liebt sie! … Ein Handstreich … Mit Hilfe der Verwirrung wird man sie leicht entführen können!… Schon morgen Abend … Sie können es nicht besser wünschen.«

»Das Mittel! sprich!« sagte der Priester ihn schüttelnd.

Gringoire wandte sich würdevoll nach ihm um: »Laßt mich doch zufrieden! Ihr seht ja wohl, daß ich eben entwerfe.« Er überlegte noch einige Augenblicke, dann fing er an, bei seinem Gedanken in die Hände zu klatschen, indem er rief: »Bewunderungswürdig! sicherer Erfolg!«

»Das Mittel!« wiederholte Claude zornig.

Gringoire strahlte vor Freude.

»Kommt, ich will es Euch ganz leise sagen. Es ist wahrhaftig eine kühne Gegenlist, die uns alle aus der fatalen Lage herauszieht. Bei Gott! Ihr müßt gestehen, daß ich kein Dummkopf bin!«

Er unterbrach seine Rede:

»Ach so! befindet sich die kleine Ziege bei dem Mädchen?«

»Ja. Daß dich der Teufel hole!«

»Diese würden sie auch gehangen haben, nicht wahr?«

»Was geht mich das an?«

»Ja, sie würden sie gehangen haben. Sie haben ja auch im vergangenen Monate ein Schwein gehangen. Der Henker thut das gern; nachher verzehrt er das Thier. Meine reizende Djali hängen! Armes kleines Lamm!«

»Verflucht!« rief Dom Claude aus. »Der Henker bist du. Welches Rettungsmittel hast du denn ausfindig gemacht, Narr? Soll man dir deine Idee mit der Geburtszange entreißen?«

»Gemach, Meister! Eben sollt Ihr sie erfahren.«

Gringoire neigte sich zum Ohre des Archidiaconus und sprach ganz leise mit ihm, wobei er einen unruhigen Blick von einem Ende der Straße zum andern warf; auf der doch niemand hinging. Als er geendigt hatte, ergriff ihn Dom Claude bei der Hand und sagte kalt zu ihm:

»Es ist gut. Auf morgen also!«

»Auf morgen,« wiederholte Gringoire.

Und während sich der Archidiaconus nach einer Seite entfernte, ging er nach der entgegengesetzten davon, währenddem er mit halber Stimme zu sich sprach: »Das ist ein kühnes Unternehmen, Herr Peter Gringoire. Thut nichts; es ist nicht gesagt, daß, weil man ein geringer Mann ist, man vor einem großen Unternehmen erschrecken soll. Biton trug einen großen Stier auf seinen Schultern; die Bachstelzen, die Grasmücken und Schwarzkehlchen fliegen über den Ocean.«

  1. Lateinisch: Das ist, alles: Speise, Trank, Schlaf, Liebe mit Maß genießen. Anm. d. Uebers.
  2. Lateinisch: Eine Ehe außerhalb des Hauses. Anm. d. Uebers.