Claude Frollo war nicht mehr in der Notre-Damekirche, als sein Adoptivsohn so rasch die verhängnisvolle Schlinge durchhieb, in welcher der unglückliche Archidiaconus die Zigeunerin und sich selbst gefangen hatte. Als er in die Sakristei zurückgekehrt war, hatte er sich Chorhemd, Chorrock und Stola vom Leibe gerissen, alles dem bestürzten Kirchendiener in die Hände geworfen, war durch die geheime Thüre des Klosters entwischt, hatte einem Bootführer im Terrain befohlen, ihn auf das linke Ufer der Seine überzusetzen, und sich in den hügeligen Straßen des Universitätsviertels verloren. Ohne zu wissen, wohin er ging, bleich, verstört, aufgeregter, geblendeter und grimmiger, als ein Nachtvogel, der am hellen Tage von einem Trupp Kinder aufgestört und verfolgt wird, traf er bei jedem Schritte aus Haufen von Männern und Weibern, die sich lustig und in der Hoffnung »noch zur rechten Zeit zu kommen«, nach der Sanct-Michaelsbrücke zu drängten, um die Hexe hängen zu sehen. Er wußte nicht mehr, wo er war, was er dachte, ob er träumte. Er ging, lief, eilte, schlug die Straßen auf gut Glück und ohne Wahl ein, immer nur von dem Gedanken an den Grèveplatz, an den schrecklichen Grèveplatz, den er in der Verwirrung hinter sich wähnte, vorwärts gestoßen.

Auf diese Weise ging er den Sanct-Genovevenberg entlang und verließ schließlich die Stadt durch die Pforte Saint-Victor. Er setzte seine Flucht so lange fort, als er, beim Rückwärtsschauen, den Thurmbereich des Universitätsviertels und die spärlichen Häuser der Vorstadt sehen konnte; aber als endlich eine Bodensenkung ihm dieses verhaßte Paris gänzlich aus dem Gesichtskreise brachte, als er sich hundert Meilen davon entfernt, in den Feldern, in einer Einöde wähnen konnte, da blieb er stehen und es schien ihm, als ob er wieder aufathmete.

Schreckliche Gedanken drängten sich jetzt in seinem Geiste. Er sah wieder klar in seine Seele, und er schauderte. Er dachte an dieses unglückliche Mädchen, das ihn und das er ins Verderben gestürzt hatte. Im Geiste warf er einen scheuen Blick auf den beiderseitigen verschlungenen Pfad, welchen das Verhängnis ihr jedesmaliges Schicksal hatte bis zu dem Schneidepunkte verfolgen lassen, wo es sie beide mitleidlos an einander zerschmettert hatte. Er dachte an die Thorheit ewiger Gelübde, an die Nichtigkeit der Keuschheit, der Wissenschaft, der Religion, der Tugend, an die Nutzlosigkeit Gottes. Mit Herzenslust versenkte er sich in die fürchterlichen Gedanken, und je tiefer er in sie hinabtauchte, desto mehr fühlte er, wie ein Satansgelächter in seinem Innern erschallte.

Und während er so sein Herz zerwühlte, als er sah, welchen weiten Spielplatz die Natur darin den Leidenschaften bereit gemacht hatte, lachte er noch bitterer. In der Tiefe seines Herzens rüttelte er seinen ganzen Haß, seine ganze Boshaftigkeit auf; und er erkannte mit dem kalten Blicke eines Arztes, der einen Kranken untersucht, daß dieser Haß, diese Boshaftigkeit nur verderbte Liebe wären; daß die Liebe, diese Quelle aller Tugenden im Menschen, im Herzen eines Priesters sich in Schrecknisse aller Art verwandelte, und daß ein Mensch, der geschaffen sei wie er, wenn er Priester werde, den Satan aus sich schüfe. Nun lachte er fürchterlich auf, und plötzlich erbleichte er wieder, als er die unheimlichste Seite dieser verhängnisvollen Leidenschaft: dieser zerstörenden, vergifteten, haßerfüllten, unversöhnlichen Liebe ins Auge faßte, welche für die eine nur zum Galgen, für den andern nur zur Hölle geführt hatte: sie, die verurtheilt, er, der verdammt war.

Und dann mußte er wieder lachen, wenn er daran dachte, daß Phöbus am Leben war, daß der Hauptmann nach alledem lebte, munter und vergnügt war, schönere Uniformen, als je trug, und eine neue Geliebte hatte, die er mitbrachte, um die alte hängen zu sehen. Sein Gelächter verdoppelte sich, wenn er bedachte, daß von den lebenden Wesen, deren Tod er bezweckt hatte, die Zigeunerin, das einzige Wesen, das er nicht haßte, auch die einzige war, die er nicht verfehlt hatte.

Dann schweiften seine Gedanken vom Hauptmanne zum Volke hin, und es packte ihn eine Eifersucht unerhörter Art. Er dachte daran, wie das Volk, das ganze Volk, das Weib, welches er liebte, im Hemde, fast nackt vor den Augen gehabt hätte. Er rang die Arme, wenn er sich vorstellte, daß dieses Weib, deren Formen von ihm allein in der Dunkelheit gesehen, die für ihn das höchste Glück gewesen wären, am hellen Tage, am hellen Mittage, gekleidet wie für eine wollüstige Nacht, dem ganzen Volke überlassen worden wäre. Er weinte vor Wuth über diese entweihten, besudelten, bloßgestellten und für immer geschändeten Geheimnisse der Liebe. Er weinte vor Wuth, wenn er sich vorstellte, wie viel unreine Blicke bei diesem ungenügend geschlossenen Hemde ihren Vortheil gefunden hätten; und daß dieses schöne Mädchen, diese ungebrochene Lilie, dieser Becher der Schamhaftigkeit und der Wonne, an den er seine Lippen nicht anders, als zitternd gesetzt, in eine Art gemeinsames Gefäß verwandelt worden sei, aus dem der niedrigste Pöbel von Paris, die Diebe, Bettler und Lakeien gemeinsam eine freche, unreine und verdorbene Lust zu stillen erschienen wären! Und wenn er versuchte, sich eine Vorstellung von dem Glücke zu machen, welches er auf Erden hatte finden können, wenn sie nicht Zigeunerin und er nicht Priester gewesen wäre, wenn es keinen Phöbus gegeben, und wenn sie ihn, den Archidiaconus, geliebt hätte; wenn er sich vorstellte, daß ein Leben voll Ruhe und Liebe für ihn, auch für ihn möglich gewesen wäre, daß es in diesem Augenblicke hier und da auf Erden glückliche Paare gäbe, die unter Orangenbäumen, am Ufer eines Baches, im Angesichte der untergehenden Sonne, einer gestirnten Nacht in ununterbrochene Plaudereien versunken seien; und daß, wenn Gott es gewollt hatte, er mit ihr eines dieser gesegneten Paare hätte bilden können, – da schwand sein Herz in Zärtlichkeit und in Verzweiflung hin.

»Ach! sie! sie ist es!« Das war die fixe Idee, die immer und immer wiederkehrte, die ihn marterte, ihm das Gehirn zernagte, die Eingeweide zerriß. Er bedauerte nichts, nichts bereute er; alles was er gethan hatte, war er bereit noch einmal zu thun; er wollte sie lieber in den Händen des Henkers, als in den Armen des Hauptmanns sehen. Aber er litt; er litt so sehr, daß er sich zeitweilig Büschel Haare ausriß, um sich zu überzeugen, ob sie nicht weiß würden.

Unter andern kam ein Augenblick, wo ihm in die Gedanken kam, daß dies vielleicht die Minute wäre, in der die fürchterliche Kette, die er am Morgen gesehen hatte, ihre eiserne Schlinge um diesen so zarten und zierlichen Hals zusammenziehen könnte. Dieser Gedanke ließ ihm den Schweiß aus allen Poren dringen.

Dann kam ein anderer Moment, wo er für sich in ein teuflisches Lachen ausbrach, wenn er sich auf einmal die Esmeralda vorstellte, wie er sie am ersten Tage gesehen hatte: lebhaft, sorglos, heiter, herausgeputzt, tanzend, beflügelt und mit sich im Einklänge, und die Esmeralda vom letzten Tage: im Hemde, den Strick um den Hals, langsam mit ihren nackten Füßen die eckige Leiter zum Galgen hinaufsteigend; er vergegenwärtigte sich dieses zwiefache Gemälde mit einer derartigen Lebendigkeit, daß er einen entsetzlichen Schrei ausstieß.

Während daß dieser Sturm der Verzweiflung alles in seiner Seele durcheinander warf, zerbrach, niederriß, umbog und entwurzelte, sah er in die Natur rings um sich. Zu seinen Füßen durchsuchten einige Hühner pickend das Gebüsch, krochen die Goldkäfer im Sonnenscheine fort; über seinem Haupte zogen Gruppen von Schäfchenwolken am blauen Himmel dahin; am Horizonte durchbrach der Thurm der Abtei Sanet-Victor die Hügellinie mit seinem Schieferobeliske; und der Windmüller auf dem Hügel Copeaux sah pfeifend zu, wie sich die arbeitenden Flügel seiner Mühle drehten. Dieses ganze thätige, geordnete, ruhige, um ihn unter tausend Formen sich wiederholende Leben that ihm weh. Er begann sich von neuem auf die Flucht zu begeben.

So lief er quer durch die Felder bis zum Abende. Diese Flucht vor der Natur, vor dem Leben, vor sich selbst, vor dem Menschen, vor Gott, vor allem währte den ganzen Tag. Manchmal warf er sich mit dem Gesichte zur Erde nieder und riß mit seinen Nägeln das junge Getreide aus dem Boden. Bisweilen hielt er in einer öden Dorfstraße Rast; und seine Gedanken wurden so unerträglich, daß er mit beiden Händen nach seinem Kopfe faßte und versuchte, ihn von seinen Schultern zu reißen, um ihn auf dem Pflaster zu zerschmettern. Um die Stunde, wo die Sonne hinabsank, prüfte er sich von neuem, und er hielt sich für beinahe wahnsinnig. Der Sturm, welcher in seinem Innern seit dem Augenblicke wüthete, wo er die Hoffnung und die Willenskraft verloren hatte, die Zigeunerin zu retten, dieser Sturm hatte in seinem Bewußtsein nicht einen einzigen gesunden Begriff, nicht einen einzigen vernünftigen Gedanken übrig gelassen. Sein Verstand lag fast ganz zerstört in ihm darnieder. Es fanden sich nur noch zwei deutliche Vorstellungen in seinem Geiste: die Esmeralda und der Galgen; alles andere war dunkel. Diese miteinander verbundenen Bilder stellten sich ihm als eine entsetzliche Gruppe dar; und je mehr er das, was ihm an Aufmerksamkeit und Denkkraft geblieben war, darauf richtete, desto mehr sah er sie, zufolge eines phantastischen Fortganges, wachsen: die eine an Anmuth, an Reiz, an Schönheit, an Glanz, den andern an Schrecken; so daß schließlich die Esmeralda ihm wie ein Stern, der Galgen, wie ein ungeheurer, dürrer Arm erschien.

Ein merkwürdiger Umstand war dabei, daß während dieser ganzen qualvollen Lage der ernstliche Gedanke zu sterben ihm fern blieb. So war der Elende fertig. Er hing am Leben. Vielleicht sah er wirklich die Hölle im Hintergrunde.

Unterdessen ging der Tag immer mehr zur Neige. Das lebende Dasein, welches noch in ihm vorhanden war, dachte verwirrt an die Rückkehr. Er glaubte sich weit von Paris weg; aber als er sich über die Gegend orientirte, merkte er, daß er nichts anderes gethan hatte, als um die Umfassungsmauer des Universitätsviertels herumzugehen. Die Thurmspitze von Saint-Sulpice und die drei hohen Thürme von Saint-Germain-des-Prés ragten zu seiner Rechten über den Horizont hervor. Er wandte sich nach dieser Seite hin. Als er das »Wer-da?« der Ritter des Abtes um den zinnengeschmückten Wall von Saint-Germain herum vernahm, wandte er sich ab, schlug einen Pfad ein, welcher sich ihm zwischen der Mühle der Abtei und dem Spitale des Fleckens zeigte, und befand sich nach Verlauf einiger Augenblicke am Rande der Studentenwiese. Diese Wiese war wegen der Unruhen, die Tag und Nacht auf ihr sich ereigneten, berühmt; es war die Hyder der armen Mönche von Saint-Germain. ( Quod monachis Sancti Germani pratensis hydra fuit, clericis nova semper dissidorum capita suscitantibus.) 57 Der Archidiaconus fürchtete dort jemandem zu begegnen; er hatte vor jedem menschlichen Angesichte Furcht; eben war er dem Universitätsviertel, dem Flecken Saint-Germain ausgewichen; er wollte erst so spät wie möglich in die Straßen zurückkehren. Er ging längs der Studentenwiese hin, schlug den einsamen Pfad ein, welcher sie von Dieu-Neuf trennte, und langte endlich am Ufer des Wassers an. Da fand Dom Claude einen Fährmann, welcher ihn für einige Pariser Heller die Seine bis zur Spitze der Altstadt hinauffuhr, und ihn auf jener einsamen Landzunge absetzte, wo der Leser bereits Gringoire hat träumen sehen, und die sich jenseits der königlichen Gärten, gleichlaufend mit der Insel des Viehfährmanns, hinerstreckte.

Das einförmige Wiegen des Kahnes und das Rauschen des Wassers hatten den unglücklichen Claude gewissermaßen eingeschläfert. Als der Fährmann sich entfernt hatte, blieb er betäubt am Uferrande stehen, blickte vor sich hin und nahm die Gegenstände nur noch durch Vergrößerungsoscillationen wahr, die ihm aus allem eine Art Gaukelspiel machten. Nicht selten bringt die Ermüdung, welche ein großer Schmerz nach sich zieht, diese Wirkung auf den Geist hervor.

Die Sonne war hinter dem hohen Nesle-Thurme untergegangen. Die Abenddämmerung hatte begonnen. Der Himmel war blaß und ebenso das Wasser des Flusses. Zwischen diese zwei weißen Flächen schob das linke Seineufer, auf das er die Blicke geheftet hatte, seine düstere Masse hinein und streckte sich, durch die Perspective immer schmäler und schmäler geworden, wie ein schwarzer Pfeil in den Nebel des Horizontes hinaus. Dieses Ufer war mit Häusern bedeckt, von denen man nur den dunkeln Schattenriß erkannte, der sich in der Abenddämmerung scharf auf dem hellen Grunde des Himmels und des Wasserspiegels abhob. Hier und da begannen Fenster sich wie Feuerlöcher zu erhellen. Jener ungeheure, schwarze Obelisk, der zwischen den zwei weißen Flächen des Himmels und des Flusses isolirt, und an dieser Stelle sehr breit, dalag, machte auf Dom Claude einen sonderbaren Eindruck, der dem ähnlich war, was ein Mensch empfinden müßte, der, am Fuße des Straßburger Münsters auf dem Rücken liegend, die riesige Spitze über seinem Haupte sich in die Halbschatten der Abenddämmerung erheben sehen würde. Hier nur war es Claude, welcher aufrecht stand, und der Obelisk, welcher lag; aber da der Fluß, der den Himmel wiederspiegelte, die Tiefe unter ihm vergrößerte, so schien das ungeheure Vorgebirge ebenso kühn in die Leere emporgeschwungen, wie jeder Münsterthurm, und der Eindruck war derselbe. Dieser Eindruck hatte sogar das Seltsame und das mächtiger Wirkende an sich, als ob es wohl der Straßburger Münsterthurm, aber ein Straßburger Münster von zwei Meilen Höhe wäre, – d. h. also etwas Unerhörtes, Gigantisches, Unermeßliches; ein Bauwerk, wie kein menschliches Auge es gesehen hat, ein wahrer babylonischer Thurm! Die Schornsteine der Häuser, die Zinnen der Mauern, die zugespitzten Giebel der Dächer, der Thurm des Augustinerklosters, der Nesle-Thurm: alle diese Erhöhungen, welche aus dem Profile des kolossalen Obelisken heraustraten, trugen zur Täuschung bei, indem sie in seltsamer Weise dem Auge die Einschnitte einer phantastischen und sonnenbunten Sculptur darstellten. Claude glaubte im Zustande der Sinnestäuschung, in dem er sich befand, den Thurm der Hölle zu sehen, mit seinen leiblichen Augen zu sehen; die Tausende von Lichtern, die über die ganze Höhe des ungeheuern Thurmes zerstreut waren, erschienen ihm als ebenso viele Hallen im Innern des ungeheuern Brennofens; die Stimmen und der Lärm, welcher daraus erschallte, als ebenso viel Geschrei und Röcheln der Verdammten. Da packte ihn die Furcht, er hielt sich mit den Händen die Ohren zu, um nichts mehr zu hören, wandte den Rücken, um nichts mehr zu sehen, und entfernte sich mit großen Schritten von der furchtbaren Erscheinung.

Doch die Vision war in seinem Innern.

Als er in die Straßen zurückkehrte, machten ihm die Leute, die sich im Scheine der Schaufenster durcheinander drängten, den Eindruck eines ewigen Hin- und Herrennens von Gespenstern um ihn herum. Er hörte seltsames Geräusch in seinen Ohren; sonderbare Bilder verwirrten seinen Geist. Er sah weder die Häuser, noch die Straße, noch Wagen, weder Männer noch Frauen, sondern ein Chaos von unbestimmten Gegenständen, die an den Rändern ineinander verschwammen. An der Ecke der Rue-de-la-Barillerie befand sich ein Materialwaarenladen, dessen Wetterdach seit undenklichem Herkommen in seinem Umfange mit blechernen Bügelhaken versehen war, an denen ein Kreis aus Holz nachgemachter Lichter hängt, die im Winde aneinander stoßen und wie Castagnetten klappern. Er glaubte in der Dunkelheit zu hören, wie die Skeletthaufen in Montfaucon aneinanderschlügen.

»Ach!« murmelte er, »der Nachtwind treibt sie gegen einander und vermischt den Lärm ihrer Ketten mit dem Lärme ihrer Knochen! Sie ist vielleicht auch da unter ihnen!«

In seinem Wesen ganz bestürzt, wußte er nicht, wohin er ging. Nachdem er einige Schritte gethan, befand er sich auf der Sanct-Michaelsbrücke. Am Fenster eines Erdgeschosses stand ein Licht; er trat heran. Durch eine zersprungene Scheibe sah er ein großes schmutziges Zimmer, das eine verworrene Erinnerung in seinem Geiste wach rief. In diesem Zimmer, das von einer kärglichen Lampe schlecht erleuchtet wurde, befand sich ein junger, blonder und kräftiger Mann, von fröhlichem Aussehen, der unter lautem Gelächter ein junges, sehr frech aufgeputztes Mädchen im Arme hatte; und bei der Lampe saß eine alte Frau, welche spann und mit meckernder Stimme dazu sang. Da der junge Mann nicht immer lachte, so gelangte das Lied der Alten bruchstückweise zum Ohre des Priesters; es enthielt unverständliches und abscheuliches Zeug:

Diebe schleichen durch die Nacht –
Spinn‘, mein Rädchen, spinn‘ mit Macht;
Spinn‘ dem Henker seinen Strick,
Frisch! es drängt der Augenblick. –
Diebe schleichen durch die Nacht.

Gebet Hanf zum Henkerband. –
Säet Hanf drum rings im Land;
Hanf nur sä’t und kein Getreide.
Manchem schnurrt mein Rad zum Leide
Gebet Hanf zum Henkerband.

Diebe schleichen durch die Nacht –
Schönes Mädchen, hab‘ nur Acht.
Die sich deiner Lieb‘ heut freuen,
Morgen dich dem Galgen weihen. –
Diebe schleichen durch die Nacht.

Darauf lachte der junge Mann und liebkoste das Mädchen. Die Alte war die Falourdel, das Mädchen eine öffentliche Dirne, der junge Mann war sein Bruder Johann.

Er sah unverwandt hinein. Dieses Schauspiel war eins wie alle andern.

Er sah, wie Johann nach einem Fenster hinging, das im Hintergrunde des Zimmers war, es öffnete, einen Blick auf den Flußdamm warf, wo in der Ferne tausende von erleuchteten Fenstern schimmerten; und er hörte dann, während dieser das Fenster schloß, wie er sagte:

»Bei meiner Seele! da haben wir’s, es ist Nacht. Die Bürger zünden ihre Lichter und der liebe Gott seine Sterne an.«

Dann kam Johann zu der Dirne zurück und zerbrach eine Flasche, die auf dem Tische stand, wobei er ausrief:

»Schon leer, Donnerwetter! und ich habe kein Geld mehr! Isabeau, mein Liebchen, ich werde erst dann mit Jupiter zufrieden sein, wenn er Eure beiden weißen Brüste in zwei schwarze Flaschen verwandelt hat, aus denen ich Tag und Nacht Beaune-Wein 58 saugen will.«

Dieser hübsche Scherz brachte das Freudenmädchen zum Lachen, und Johann ging weg.

Dom Claude hatte nur so viel Zeit, sich auf die Erde zu werfen, um von seinem Bruder nicht getroffen, ins Gesicht gesehen und erkannt zu werden. Glücklicherweise war die Straße dunkel, und der Student war betrunken. Er bemerkte jedoch den Archidiaconus, der auf dem Pflaster im Schmutze lag.

»Oh! Oh!« sagte er, »da liegt einer, der heute ein lustiges Leben geführt hat.«

Er bewegte mit dem Fuße den Archidiaconus, der seinen Athem anhielt.

»Toll und voll,« fuhr Johann fort. »Wirklich, er ist dick. Der reine Blutegel, der von einer Tonne abgefallen ist. Es ist ein Kahlkopf,« fügte er, sich bückend, hinzu; »es ist ein Greis! Fortunate senex!« 59

Darauf hörte Dom Claude, wie er sich mit den Worten entfernte:

»Es ist einerlei: die Vernunft ist eine herrliche Sache, und mein Bruder, der Archidiaconus, ist sehr glücklich, weil er weise ist und Geld hat.«

Der Archidiaconus erhob sich nun und lief in einem Athem nach Notre-Dame hin, deren mächtige Thürme er in der Dunkelheit sich über die Häuser erheben sah.

Im Augenblicke, wo er ganz athemlos auf dem Platze ankam, wich er zurück und wagte nicht die Blicke auf das unselige Gebäude zu erheben.

»Ach!« sagte er mit schwacher Stimme, »ist es denn wirklich wahr, daß sich so etwas heute, an diesem Morgen sogar, hier zugetragen hat?«

Indessen erkühnte er sich, die Kirche anzusehen. Die Façade war in Dunkel gehüllt; im Hintergrunde funkelte der Himmel im Sternenlichte. Die Mondsichel, welche sich eben über den Horizont erhob, stand in diesem Augenblicke über der Spitze des Thurmes zur Rechten, und schien wie ein leuchtender Vogel auf dem Rande des in Kleeblattform durchbrochenen Geländers zu sitzen.

Die Thür zum Kloster war verschlossen; aber der Archidiaconus hatte den Schlüssel zum Thurme, in dem sich sein Laboratorium befand, immer bei sich. Er bediente sich dessen jetzt, um in die Kirche hineinzugelangen.

In der Kirche befand sich alles in der Dunkelheit und Stille eines Grabes. An den langen Schatten, die von allen Seiten in breiten Streifen herabfielen, erkannte er, daß die Behänge der Feierlichkeit vom Morgen noch nicht abgenommen worden waren. Das große silberne Kreuz funkelte hinten in der Dunkelheit, von einigen schimmernden Punkten überstreut, wie die Milchstraße dieser Grabesnacht. Die langen Chorfenster zeigten über den schwarzen Behängen die äußerste Bogenspitze, deren Scheiben, in die ein Mondstrahl fiel, nur die zweifelhaften Farben der Nacht: eine Art Violet, Weiß und Blau, als jene Farbe, die man nur auf Todtengesichtern findet, erkennen ließen. Als der Archidiaconus ringsum im Chore diese bleichen Bogenspitzen bemerkte, glaubte er die Mützen verdammter Bischöfe zu sehen. Er schloß die Augen, und als er sie wieder öffnete, glaubte er, daß sie einen Kreis blasser Gesichter bildeten, die ihn anschauten.

Er begann quer durch die Kirche zu fliehen. Da schien es ihm, als ob die Kirche gleichfalls wankte, sich bewegte, sich beseelte und lebte; als ob jede große Säule eine ungeheure Tatze würde, die den Boden mit ihrer breiten Steinsohle berührte, und als ob die gigantische Kathedrale nur eine Art riesenhafter Elephant wäre, der schnob und auf seinen Säulen anstatt Füßen, mit seinen zwei Thürmen anstatt Rüssel, und in dem ungeheuern schwarzen Tuche anstatt Schabracke, einherwandle.

So war das Fieber oder die Verrücktheit zu einem solchen Stärkegrade gelangt, daß die äußere Welt für den Unglücklichen nur noch eine Art sichtbarer, greifbarer, schrecklicher Apokalypse wurde.

Einen Augenblick lang fühlte er Linderung. Als er in eines der niedrigen Seitenschiffe eintrat, bemerkte er hinter einem Pfeilerschafte einen röthlichen Schimmer. Er eilte wie auf einen Stern darauf los. Es war die ärmliche Lampe, die Tag und Nacht das öffentliche Gebetbuch von Notre-Dame unter dem eisernen Gitter beleuchtete. Er warf sich begierig über das heilige Buch, in der Hoffnung, etwas Trost oder einige Ermuthigung darin zu finden. Das Buch war an jener Stelle des Hiob geöffnet, welche sein starres Auge überflog:

»Und ein Geist ging vor meinem Angesichte vorüber, und ich vernahm einen leisen Odem, und die Haare meines Leibes sträubten sich.«

Beim Lesen dieser Klageworte empfand er das, was der Blinde empfindet, der sich von dem Stabe, den er aufgehoben hat, verwundet fühlt. Seine Knie brachen unter ihm zusammen, und er sank auf die Steinplatten nieder, als er an diejenige dachte, die im Laufe des Tages gestorben war. Er fühlte in seinem Gehirne so viele entsetzliche Dünste vorüberfliegen und aussteigen, daß es ihm vorkam, als ob sein Kopf eine der Essen der Hölle geworden wäre.

In dieser Lage, scheint es, blieb er ziemlich lange, ohne mehr zu denken, in sich selbst versunken und machtlos in der Gewalt des Teufels. Endlich erlangte er einige Kraft wieder; er dachte daran, seine Zuflucht in den Thurm, zu seinem treuen Quasimodo zu nehmen. Er erhob sich und weil er Furcht hatte, nahm er, um sich auf dem Wege zu leuchten, die Lampe neben dem Gebetbuche mit. Das war ein Frevel; aber er dachte nicht mehr daran, auf so Geringfügiges zu achten.

Er klomm langsam die Treppe zu den Thürmen empor, von einem geheimen Schrecken erfüllt, der sich selbst den vereinzelten Passanten des Vorhofes mittheilen mußte, als das geheimnisvolle Licht seiner Lampe so spät von Luke zu Luke nach der Höhe des Glockenturmes sich noch fortbewegte.

Plötzlich fühlte er einen kalten Luftzug in seinem Gesichte, und befand sich unter der Thür zur höchsten Galerie. Die Luft war kalt, am Himmel zogen Wolken hin, deren große, weiße Wellen eine über die andere strömten, während sie sich an den Ecken zerdrückten und den Eisgang eines Flusses im Winter darstellten. Die Mondsichel, die mitten in diesen Wolken schwebte, machte den Eindruck eines himmlischen Schiffes, das in diesen luftigen Eisschollen festsaß.

Er senkte den Blick und betrachtete einen Augenblick lang, zwischen dem Gitter von Säulchen hindurch, welches die beiden Thürme verband, in der Ferne durch einen Dunst und Nebelschleier hindurch, die Menge schweigender Dächer von Paris, die spitz, zahllos, aneinandergequetscht und klein, wie die Wogen eines ruhigen Meeres in einer Sommernacht sich hinzogen. Der Mond warf einen schwachen Schein, der dem Himmel und der Erde ein aschfarbiges Aussehen verlieh.

In diesem Augenblicke ließ die Thurmuhr ihre helle und schrillklingende Stimme erschallen. Mitternacht ertönte. Der Priester dachte an Mittag; es waren die zwölf Schläge, welche wiederkehrten.

»Ach!« sagte er sich ganz leise, »sie muß jetzt kalt sein!«

Plötzlich löschte ein Windstoß seine Lampe aus, und fast zur selben Zeit sah er im entgegengesetzten Winkel des Thurmes einen Schatten, eine weiße Gestalt, ein Weib erscheinen. Er zitterte. Neben diesem Weibe befand sich eine kleine Ziege, die ihr Blöken mit dem letzten Schlage der Glocke vereinigte.

Er hatte die Stärke hinzusehen. Sie war es.

Sie war blaß und schwermüthig. Ihre Haare fielen auf die Schultern, wie am Morgen; aber am Halse hatte sie keinen Strick mehr, ihre Hände waren nicht mehr gebunden: sie war frei, sie war todt.

Sie war in Weiß gekleidet und hatte einen weißen Schleier auf dem Haupte. Sie kam langsam auf ihn zu, wobei sie die Blicke zum Himmel hob. Die geisterhafte Ziege folgte ihr. Er fühlte sich versteinert und zu unbeholfen, um zu fliehen. Bei jedem Schritte, den sie vorwärts that, machte er einen rückwärts, und das war alles. So kam er unter das dunkle Treppengewölbe zurück. Er war bei dem Gedanken erstarrt, daß sie vielleicht auch dorthin folgen könnte; wenn sie es gethan hätte, wäre er vor Schrecken todt gewesen.

Sie kam in der That vor die Thür der Treppe, blieb dort einige Augenblicke stehen, sah starr in das Dunkel, aber ohne daß sie den Priester da zu sehen schien, und ging vorbei. Sie erschien ihm viel größer, als da sie am Leben war; er sah den Mond durch ihr weißes Gewand; er hörte ihren Athem.

Als sie vorüber war, begann er mit der Langsamkeit, die er an dem Gespenst gesehen hatte, die Treppe wieder herabzusteigen. Scheu, das Haar ganz gesträubt, die erloschene Lampe immer noch in der Hand, hielt er sich selbst für ein Gespenst; und während er so die Wendeltreppe herabstieg, hörte er. ganz deutlich in seinem Ohre eine Stimme, die lachend die Worte wiederholte:

»… Ein Geist ging vor meinem Angesichte vorüber, und ich hörte einen leisen Odem, und die Haare an meinem Leibe sträubten sich.«

  1. Lateinisch: Weil die Wiese für die Mönche von Saint-Germain die Hyder war, welche beim Streite der Studenten immer wieder von neuem die Köpfe erhob. Anm. d. Uebers.
  2. Beaune-Wein, berühmter Rothwein aus dem Departement Côte d’or (Südfrankreich).
  3. Lateinisch: Glückseliger Greis. Anm. d. Uebers.