In dem Augenblicke, wo die Bettler auf die Kirche Sturm gelaufen waren, schlief die Esmeralda.
Bald aber hatten der um die Kirche immer mehr wachsende Lärm, und das unruhige Blöken ihrer Ziege, die vor ihr erwacht war, sie aus diesem Schlafe gestört. Sie hatte sich auf ihrem Lager erhoben, hatte gehorcht und sich umgeschaut; dann hatte sie sich, erschreckt von der Helligkeit und dem Geräusche, aus der Zelle gestürzt und war hin gegangen, um nachzusehen. Das Aussehen des Platzes, die Erscheinung, die dort hin- und herflutete, die Verwirrung dieses nächtlichen Sturmes, dieser scheußliche Haufen, der wie ein Schwarm Frösche herumhüpfte und in der Finsternis nur halb zu erkennen war, das Gekreisch dieser heisern Menge, diese einzelnen rothschimmernden Fackeln, welche durch die Nacht hin- und hereilten und sich wie Irrlichter kreuzten, die über die düstre Fläche der Sümpfe streichen – diese ganze Scene machte auf sie den Eindruck eines Kampfes, der zwischen den Gespenstern des Hexensabbaths und den steinernen Ungethümen der Kirche sich entspann. Von Kindheit an mit den abergläubischen Anschauungen des Zigeunerstammes genährt, war ihr erster Gedanke, daß sie die seltsamen, der Nacht angehörigen Wesen bei ihrem teuflischen Treiben überrascht hätte. Nun eilte sie entsetzt davon, um sich in ihre Zelle zu kauern und auf ihrem Lager einen weniger fürchterlichen Traum zu suchen.
Nach und nach waren die ersten Betäubungen des Schreckens verschwunden; an dem unaufhörlich wachsenden Lärme und aus andern Anzeichen der Wirklichkeit hatte sie gemerkt, daß sie nicht von Gespenstern, sondern von menschlichen Wesen umringt sei. Da hatte ihre Angst, ohne sich zu steigern, eine andere Form angenommen. Sie hatte an die Möglichkeit eines Volksaufstandes, um sie ihrer Freistatt zu entreißen, gedacht. Der Gedanke, noch einmal das Leben, die Hoffnung, Phöbus, welchen sie immer mit ihrer Zukunft verbunden sah, wieder zu verlieren; die unendliche Nichtigkeit ihrer Schwäche, die versperrte Aussicht auf Flucht, die Schutzlosigkeit, ihre gänzliche Verlassenheit, ihre Absonderung – diese Gedanken und tausend andere hatten sie zu Boden gedrückt. Sie war auf die Kniee gesunken; den Kopf auf ihr Bett gelehnt, die Hände über ihrem Kopfe gefaltet, hatte sie voll Angst und Schauder, und obgleich sie als Zigeunerin Heidin und Götzendienerin war, angefangen mit Schluchzen den lieben Gott der Christen um Gnade zu bitten und zu Unserer lieben Frau, ihrer Schutzherrin, zu beten. Denn, glaubt man auch an nichts, so giebt es doch Augenblicke im Leben, in welchen man es stets mit der Religion des Tempels hält, den man in seiner Nähe hat.
So lag sie sehr lange im Gebete da, während sie in Wahrheit mehr zitterte, als betete, vor dem Keuchen der sich immer mehr nähernden, wüthenden Menge erstarrte, ohne etwas von dem Ansturme zu begreifen; ohne zu wissen, was man anzettelte, was man that, was man beabsichtigte, aber im Vorgefühle eines schrecklichen Ausganges.
Da, mitten in dieser Todesangst, hört sie neben sich gehen. Sie wendet sich um. Zwei Männer, von denen einer eine Laterne trug, waren soeben in ihre Zelle eingetreten. Sie stieß einen schwachen Schrei aus.
»Fürchtet nichts,« sagte eine Stimme, die ihr nicht unbekannt war, »ich bin es.«
»Wer? Ihr?« fragte sie.
»Peter Gringoire.«
Dieser Name flößte ihr wieder Muth ein. Sie schlug die Augen auf und erkannte in der That den Dichter. Aber bei ihm befand sich eine schwarze und vom Kopfe bis zu den Füßen verhüllte Gestalt, die ihr Stillschweigen auferlegte.
»Ach!« fuhr Gringoire mit vorwurfsvollem Tone fort, »Djali hatte mich eher, als Ihr erkannt.«
Die kleine Ziege hatte in der That nicht gewartet, bis Gringoire sich zu erkennen gab. Kaum war er eingetreten, als sie sich zärtlich an seine Kniee gedrängt hatte, wobei sie den Dichter mit Liebkosungen und weißen Haaren bedeckte; denn sie befand sich in der Härung. Gringoire beschenkte sie wieder mit Liebkosungen.
»Wer ist da bei Euch?« sprach die Zigeunerin mit leiser Stimme.
»Seid ruhig,« antwortete Gringoire. »Es ist einer von meinen Freunden.«
Darauf setzte der Philosoph seine Laterne auf den Boden, kauerte sich auf der Diele nieder und rief, Djali in seine Arme schließend, mit Entzücken aus: »Oh! es ist ein anmuthiges Thier, zweifelsohne bedeutender wegen ihrer Sauberkeit, als wegen ihrer Größe, aber gewitzt, scharfsinnig und gelehrt wie ein Grammatiker. Wir wollen sehen, meine Djali, hast du nichts von deinen hübschen Kunststücken vergessen?« Wie macht’s Meister Jacob Charmolue? …«
Der schwarze Mann ließ ihn nicht zu Ende kommen. Er näherte sich Gringoire und stieß ihn barsch gegen die Schulter. Gringoire stand auf.
»Es ist wahr,« sagte er, »ich vergaß, daß wir es eilig haben … Dennoch ist kein Grund vorhanden, lieber Meister, die Leute auf diese Weise rasend zu machen … Mein liebes schönes Kind, Euer Leben ist in Gefahr und auch dasjenige Djalis. Man will Euch wieder gefangen nehmen. Wir sind Euere Freunde, und wir kommen, um Euch zu retten. Folgt uns.«
»Ist es wahr?« rief sie außer Fassung aus.
»Ja, sehr wahr. Kommt schnell!«
»Ich will gern,« stammelte sie. »Aber warum spricht Euer Freund nicht?«
»Ach!« sagte Gringoire, »das kommt daher, daß sein Vater und seine Mutter phantastische Leute waren, die ihm eine schweigsame Gemüthsverfassung gegeben haben.«
Mit dieser Erklärung mußte sie sich zufrieden geben. Gringoire nahm sie bei der Hand; sein Begleiter ergriff die Laterne und ging voraus. Die Furcht machte das junge Mädchen bestürzt. Sie ließ sich wegführen. Die Ziege folgte ihnen springend, und war so fröhlich, Gringoire wieder zu sehen, daß sie ihn alle Augenblicke zum Stolpern brachte, weil sie mit ihren Hörnern zwischen seine Beine gerieth.
»So ist das Leben,« sagte der Philosoph jedesmal, wenn er beinahe gefallen war; »es sind oft unsere besten Freunde, welche uns zu Falle bringen!«
Sie stiegen eiligst die Treppe der Thürme hinab, durchschritten die Kirche, die voll Finsternis und öde war und vom Lärme fürchterlich wiederhallte, was einen schrecklichen Gegensatz bildete, und traten durch die Rothe Pforte in den Hof des Klosters ein. Das Kloster war verlassen, die Stiftsherren waren nach dem bischöflichen Palaste entflohen, um da gemeinschaftlich zu beten; der Hof war leer, einige aufgescheuchte Klosterdiener duckten sich verstört in die dunkeln Ecken. Die drei richteten ihre Schritte nach der Thüre, welche von diesem Hofe auf das Terrain führte. Der schwarze Mann öffnete sie mit einem Schlüssel, den er bei sich hatte. Unsere Leser wissen, daß das Terrain eine lange, nach der Altstadt hin von Mauern eingeschlossene Landzunge war, die dem Domkapitel von Notre-Dame gehörte und die Insel im Osten, hinter der Kirche, abgrenzte. Sie fanden diesen eingeschlossenen Platz gänzlich verlassen. Hier war schon weniger von dem Tumulte in der Luft zu hören; der Lärm vom Sturme der Bettler schlug hier dumpfer und nicht so kreischend an ihr Ohr. Der frische Luftzug, welcher dem Laufe des Flusses folgte, schüttelte die Blätter des einzigen Baumes, der an der Spitze des Terrains stand, mit einem schon bemerklichen Rauschen. Indessen waren sie der Gefahr noch sehr nahe. Die ihnen am nächsten liegenden Gebäude waren die bischöfliche Residenz und die Kirche. Drinnen in der Wohnung des Bischofs herrschte ersichtlich eine große Verwirrung. Ihre dunkle Masse war ganz von Lichtern erhellt, die dort von Fenster zu Fenster huschten, ähnlich, wie wenn man Papier verbrannt hat, nun ein dunkler Aschenbau übrig bleibt, in dem die muntern Fünkchen tausend wunderbare Läufe machen. Daneben glichen die riesigen Thürme von Notre-Dame, wenn man sie so von hinten mit dem langen Schiffe sah, über welches sie sich erhoben, und wie sie über den rothen und weithinleuchtenden Schein, der den Vorhof füllte, in das Dunkel emporragten, zwei gigantischen Feuerböcken eines Cyklopenherdes.
Was man von Paris nach allen Seiten hin sah, erzitterte vor dem Auge, wie ein mit Licht gemischter Schatten. Rembrandt hat solchen Hintergrund in seinen Gemälden.
Der Mann mit der Laterne ging gerade auf die Spitze des Terrains los. Dort, am äußersten Rande des Wassers, befanden sich die morschen Trümmer eines Pfahlzaunes aus Lattengitterwerk, um die ein niedriger Weinstock einige dürre Zweige schlang, die wie die Finger einer geöffneten Hand vorgestreckt waren. Dahinter, im Schatten, den dieser Zaun verursachte, lag ein kleiner Kahn versteckt. Der Mann gab Gringoire und seiner Begleiterin ein Zeichen hineinzusteigen. Die Ziege folgte ihnen dahin. Der Mann stieg zuletzt auch hinein; dann schnitt er den Strick des Kahnes durch, stieß mit einem langen Hakenstocke vom Lande ab, ergriff die zwei Ruder und setzte sich an das Vordertheil des Kahnes, wo er mit Aufgebot aller seiner Kräfte nach der Mitte des Stromes zu ruderte. Die Seine ist an dieser Stelle sehr reißend, und es kostete ihm ziemliche Mühe, von der Spitze der Insel wegzukommen.
Gringoires erste Sorge, als er in den Kahn gestiegen, war, die Ziege auf seine Kniee zu legen. Er nahm am Hintertheile Platz, und das junge Mädchen, welcher der Unbekannte eine unbeschreibliche Unruhe einflößte, setzte sich gleichfalls nieder und drängte sich an den Dichter heran.
Als unser Philosoph den Kahn sich in Bewegung setzen fühlte, klatschte er in die Hände und küßte Djali zwischen die Hörner.
»Oh!« sagte er, »jetzt sind wir alle vier gerettet.« Er fügte mit der Miene eines tiefen Denkers hinzu: »Bisweilen ist man dem Glücke, bisweilen der List für den glücklichen Ausgang großer Unternehmungen Dank schuldig.« Der Jahn bewegte sich langsam nach dem rechten Ufer hin. Das junge Mädchen beobachtete mit einer geheimen Furcht den Unbekannten. Dieser hatte sorgfältig das Licht seiner Blendlaterne verhüllt. Man sah ihn in der Dunkelheit auf dem Vordertheile des Kahnes wie ein Gespenst. Die immer noch herabgelassene Kapuze wurde für ihn zu einer Art Maske; und jedesmal, wenn er beim Rudern seine Arme ausstreckte, an denen lange schwarze Aermel herabhingen, hätte man sie für zwei große Fledermausflügel halten mögen. Uebrigens hatte er noch nicht ein Wort gesprochen, keinen Laut von sich gegeben. In dem Kahne hörte man kein anderes Geräusch, als die Hin- und Herbewegung der Ruder, welches sich in das Geplätscher der tausend Wasserkräuselungen längs des Kahnes mischte.
»Bei meiner Seele!« rief Gringoire plötzlich, »wir sind ja munter und fröhlich wie Ohreulen! Wir beobachten ein Stillschweigen wie Pythagoräer oder wie Fische! Beim allmächtigen Gott! meine Freunde, ich wünschte wohl, daß jemand mit mir sich unterhielte … Die menschliche Stimme ist für das menschliche Ohr eine Musik. Ich bin es nicht, der das behauptet, sondern Didymus von Alexandria, und es sind berühmte Worte … Gewiß, Didymus von Alexandria ist kein mittelmäßiger Philosoph … Ein Wort, mein schönes Kind! sagt mir, ich bitte Euch, ein Wort … Dabei fällt mir ein – Ihr hattet sonst einen schnurrigen, sonderbaren kleinen Zug um den Mund, macht Ihr den immer noch? Wißt Ihr, mein Herzchen, daß das Parlament volle Rechtsgewalt über die Asylorte hat, und daß Ihr große Gefahr liefet in eurem Zellchen in Notre-Dame? Ach! der kleine Vogel Kolibri baut sein Nest in den Rachen des Krokodils … Meister, seht doch, wie der Mond wieder heraustritt … Wenn man uns nur nicht bemerkt! Wir thun ein löbliches Etwas, indem wir das Jüngferchen retten, und doch würde man uns im Namen des Königs hängen, wenn man uns erwischte. Leider! können die menschlichen Handlungen von zwei Seiten angegriffen werden. Man brandmarkt an mir, was man an jenem krönt. Mancher bewundert Cäsar, welcher Catilina tadelt. Ist es nicht so, lieber Meister? Was sagt Ihr zu dieser Philosophie? Ich, für meine Person, ich habe die Philosophie des Instinkts, der Natur, ut apes geometriam … 83 Wahrhaftig, niemand antwortet mir! Was habt ihr doch alle Beide für verdrießliche Launen! Ich muß ganz allein sprechen. Das nennen wir in der Tragödie einen Monolog … Beim allmächtigen Gotte! … Ich theile Euch mit, daß ich eben Ludwig den Elften gesehen, und daß ich seitdem diesen Schwur behalten habe … »Beim allmächtigen Gotte« also! In der Altstadt erheben sie immer noch ein fürchterliches Geheul … Das ist ein häßlicher, boshafter, alter König. Er ist ganz mit Pelzwerk bedeckt. Er schuldet mir immer noch das Geld für mein Hochzeitsgedicht, und allerhöchstens hat er mich heute Abend nicht hängen lassen, was mir sehr ungelegen gewesen sein würde … Er ist filzig gegen die Leute von Verdienst. Er sollte doch die vier Bücher Salvians von Cöln »Adversus avaritiam« 84 lesen. In der That! er ist ein engherziger König in seinen Beziehungen zu den Gelehrten, und begeht dabei höchst barbarische Grausamkeiten. Er ist ein auf dem Volke liegender Schwamm, der das Geld einsaugt. Seine Sparsamkeit ist die Milzsucht, welche aus der Abzehrung aller andern Gliedmaßen anschwillt. Daher werden die Klagen über die Schwere der Zeit zu Murren über den Fürsten. Unter diesem milden und frommen Herrn krachen die Galgen von Gehängten, die Henkerblöcke faulen vom Blute, die Gefängnisse bersten wie zu volle Bäuche. Dieser König hat eine Hand, mit der er nimmt, und eine, mit der er hängt. Er ist der Anwalt der Frau Salzsteuer und des Herrn Galgen. Die Vornehmen werden ihrer Würden beraubt und die Geringen unaufhörlich mit neuen Lasten überhäuft. Er ist ein ungeheuerer Fürst. Ich liebe diesen Monarchen nicht. Und Ihr, theuerer Meister?«
Der schwarze Mann ließ den geschwätzigen Dichter seine boshaften Bemerkungen machen. Er kämpfte unausgesetzt gegen die heftige und geschlossene Strömung, welche den Vordertheil der Stadt von dem Hintertheile der Insel Notre-Dame trennt, und die wir jetzt die Insel des Heiligen Ludwig benennen.
»Da fällt mir ein, Meister!« begann Gringoire plötzlich wieder, »hat Euere Hochwürden in dem Augenblicke, wo wir mitten durch die wüthenden Bettler auf den Vorhof gelangten, jenen armen kleinen Teufel bemerkt, dem Euer Tauber eben das Gehirn am Treppengeländer zur Königsgalerie zerschmetterte? Ich bin kurzsichtig und habe ihn nicht zu erkennen vermocht. Wißt Ihr, wer es sein kann?«
Der Unbekannte antwortete mit keinem Worte. Aber er hörte plötzlich mit Rudern auf, seine Arme fielen wie gebrochen am Leibe herunter, sein Kopf fiel auf die Brust, und die Esmeralda hörte ihn krampfhaft schluchzen. Sie zuckte jetzt zusammen; sie hatte schon Seufzer, wie diese da gehört.
Das sich selbst überlassene Fahrzeug folgte nun einige Augenblicke dem Strome. Aber der schwarze Mann raffte sich wieder zusammen, nahm die Ruder wieder, und begann dem Strome entgegen zu steuern. Er segelte zum zweiten Male an der Spitze der Notre-Dameinsel vorüber und lenkte nach dem Landungsplatze der Heukähne zu.
»Ach!« sagte Gringoire, »sehet da unten das Haus Barbeau … Haltet, Meister, betrachtet jene Gruppe schwarzer Dächer, welche so sonderbare Winkel bilden, da, unter dieser Menge tiefhängender, zerrissener, durcheinandergezogener und grauer Wolken, hinter denen der Mond ganz zerdrückt und hingezogen ist, wie die Dotter eines Eies, dessen Schale zerbrochen worden … Das ist ein schönes Haus. Drin befindet sich eine Kapelle, die mit einer kleinen Wölbung voll reich gemeißelter Ausschmückungen gekrönt ist. Darüber könnt Ihr auch den sehr zart durchbrochenen Thurm sehen. Es ist auch ein Lustgarten dabei, welcher einen Weiher, ein Vogelhaus, ein Echo, eine Mailspielbahn, einen Irrgarten, ein Haus für die wilden Thiere, und eine Menge buschiger Baumgänge enthält, die der Venus sehr angenehm sind. Auch kann man noch einen schelmischen Baum dort sehen, welchen man »den Buhler« nennt, weil er den Lüsten einer berüchtigten Prinzessin und eines galanten und schöngeistigen Konnetabel von Frankreich mit seinem Schatten gedient hat … Ach! wir armen Philosophen, wir sind in den Augen eines Konnetabel das, was ein Kohl- oder Radieschenbeet für den Garten des Louvre ist. Was thut’s indessen? Das menschliche Leben ist für die Großen wie für uns aus Gutem und Bösem gemischt. Der Schmerz steht immer neben der Freude, der Spondäus bei dem Daktylus … Lieber Meister, ich muß Euch diese Geschichte des Hauses Barbeau erzählen. Es endigt auf eine tragische Weise. Sie ereignete sich im Jahre 1319, unter der Regierung Heinrichs des Fünften, des längsten aller Könige von Frankreichs. Die Moral der Geschichte ist, daß die Versuchungen des Fleisches gefährlich und boshaft sind. Wir sollen unsern Blick nicht zu oft auf das Weib unseres Nachbars werfen, so geschmeichelt unsere Sinne auch bei ihrer Schönheit sein mögen. Die Unzucht ist ein sehr frecher Gedanke. Der Ehebruch ist eine Neugierde nach dem Liebesgenusse eines andern … Hört nur! wie sich der Lärm da unten verdoppelt!«
In der That wuchs der Tumult rings um Notre-Dame. Sie horchten. Man hörte ziemlich deutlich Siegesgeschrei. Plötzlich verbreiteten sich Hunderte von Fackeln, welche Helme bewaffneter Männer erglänzen ließen, über die Kirche in allen Stockwerken, über die Thürme, die Galerien, über die Strebebogen. Diese Fackeln schienen nach Etwas zu suchen; und bald gelangten die entfernten Schreie deutlich vernehmbar zu den Flüchtlingen: »Die Zigeunerin! die Hexe! zum Tode mit der Zigeunerin!«
Die Unglückliche ließ das Haupt auf ihre Hände sinken, und der Unbekannte begann mit wüthender Anstrengung nach dem Ufer hin zu rudern. Während dem überlegte unser Philosoph. Er preßte die Ziege in seine Arme und rückte ganz sacht von der Zigeunerin weg, die sich immer mehr an ihn drängte, als den einzigen Schutz und Schirm, der ihr noch blieb.
Sicherlich befand sich Gringoire in einer grausamen Verlegenheit. Er dachte daran, daß »nach dem bestehenden Gesetze« auch die Ziege, wenn sie wieder eingefangen würde, gehangen werden würde; daß es doch sehr Schade sein würde um die arme Djali! Daß er zu viel hätte an zwei Verurtheilten, die sich so an ihn geklammert hätten; daß schließlich sein Gefährte nichts lieber wünschte, als sich der Zigeunerin anzunehmen. Es entstand ein heftiger Kampf zwischen seinen Gedanken, in welchem er, wie Zeus in der Iliade, abwechselnd die Zigeunerin und die Ziege nach ihrem Werthe abwog; und er betrachtete sie eine nach der andern mit thränenfeuchten Augen, während er zwischen den Zähnen sprach: »Ich kann euch doch nicht alle Beide retten.«
Ein Stoß unterrichtete sie endlich, daß der Kahn jetzt ans Land stieß. Das schreckliche Getöse erfüllte noch immer die Altstadt. Der Unbekannte erhob sich, trat an die Zigeunerin heran und wollte sie am Arme ergreifen, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Sie stieß ihn zurück und hing sich an Gringoires Aermel, der seinerseits, als mit der Ziege beschäftigt, sie fast von sich abwehrte. Nun sprang sie allein aus dem Kahne heraus ans Land. Sie war so verwirrt, daß sie nicht wußte, was sie that, noch wohin sie ging. So blieb sie einen Augenblick betäubt stehen und sah, wie das Wasser dahin floß. Als sie nach und nach wieder zu sich kam, war sie allein mit dem Unbekannten an der Landungsstelle. Es schien, daß Gringoire sich den Augenblick der Landung zu Nutze gemacht hatte, um mit der Ziege in dem Häuserviertel der Straße Grenier-sur-l’Eau zu verschwinden.
Die arme Zigeunerin schauderte, als sie sich mit diesem Manne allein sah. Sie wollte sprechen, schreien, Gringoire rufen; die Zunge in ihrem Munde war gelähmt, und kein Ton kam über ihre Lippen. Plötzlich fühlte sie die Hand des Unbekannten auf der ihrigen. Es war eine kalte und starke Hand. Ihre Zähne schlugen an einander, und sie wurde blasser, als der Strahl des Mondes, welcher sie beschien. Der Mann sprach kein Wort. Er begann mit starken Schritten nach dem Grèveplatze zu hinaufzugehen, indem er sie an der Hand festhielt. In diesem Augenblicke fühlte sie, daß das Schicksal eine unwiderstehliche Macht ist. Sie besaß keine Spannkraft mehr, sie ließ sich fortschleppen, lief, während daß der Unbekannte fortschritt. Der Flußdamm ging an dieser Stelle bergan; ihr schien es indessen, als ob sie einen Abhang hinabstieg.
Sie blickte sich nach allen Seiten um. Nicht ein lebendes Wesen war zu sehen. Der Flußdamm war völlig öde. Sie hörte kein Geräusch; sie merkte den Lärm von Menschen nur in der tobenden und feuergerötheten Altstadt, von der sie nur durch einen Arm der Seine getrennt war, und von woher ihr Name, untermischt mit Todesschreien, an ihr Ohr schlug. Das übrige Paris lag in großen, dunkeln Massen rings um sie ausgebreitet da.
Inzwischen zog sie der Unbekannte immer mit demselben Schweigen und derselben Eile mit sich fort. Sie fand in ihrem Gedächtnisse keinen der Orte wieder, durch die sie jetzt dahineilte. Als sie an einem erleuchteten Fenster vorbeikam, überwand sie sich, sträubte sie sich plötzlich und schrie: »Hilfe!«
Der Bürger, welchem das Fenster gehörte, öffnete es, erschien an demselben im Hemde mit seiner Lampe, sah mit stumpfsinniger Miene auf den Flußdamm hinaus, sprach einige Worte, welche sie nicht verstand und schloß den innern Fensterladen wieder. Das war der letzte Hoffnungsschimmer, welcher erlosch.
Der schwarze Mann ließ keine Silbe vernehmen; er hielt sie fest, und fing an, schneller zu gehen. Sie leistete keinen Widerstand mehr und folgte ihm erschöpft. Von Zeit zu Zeit sammelte sie wieder ein wenig Kraft und sprach mit einer, von den Stößen des holprigen Pflasters und von der Athemlosigkeit des Laufes oft unterbrochenen Stimme: »Wer seid Ihr? Wer seid Ihr?« Er antwortete gar nicht.
So gelangten sie, immer längs des Flußdammes hineilend, an einen ziemlich großen Platz. Der Mond beleuchtete ihn ein wenig. Es war der Grèveplatz. Man bemerkte in der Mitte eine Art schwarzen Kreuzes ragen: es war der Galgen. Sie erkannte das alles wieder, und sah nun, wo sie sich befand. Der Mann blieb stehen, wandte sich nach ihr um, und schlug seine Kaputze zurück. »Ach!« stammelte sie versteinert, »ich wußte wohl, daß er es abermals war!«
Es war der Priester. Er sah wie sein Schatten aus. Das war die Wirkung des Mondlichtes. Es scheint, daß man in solchem Lichte nur die Schreckbilder der Dinge sieht.
»Höre zu,« sagte er zu ihr, und sie schauderte bei dem Tone dieser furchtbaren Stimme, die sie seit langem nicht gehört hatte. Er fuhr fort. Er sprach in solchen kurzen, keuchenden Satzgefügen, welche in ihrem ruckweisen Hervorquellen tiefes inneres Leben verriethen. »Höre an. Wir sind jetzt hier. Ich will mit dir reden. Das ist der Grèveplatz. Hier ist ein entscheidender Augenblick. Das Verhängnis überliefert uns einander. Ich will über dein Leben, du sollst über meine Seele entscheiden. Hier ist ein Ort und eine Nacht, jenseits welcher man nichts sieht. Höre mich also an. Ich will dir sagen … Zuerst rede mir nicht von deinem Phöbus. (Während er das sagte, ging er hin und her, wie ein Mensch, der nicht an einer Stelle ausdauern kann, und zog sie hinter sich her.) Sprich mir nicht von ihm. Siehst du, wenn du diesen Namen aussprichst, weiß ich nicht, was ich thun werde; aber es wird etwas Gräßliches geschehen.«
Als er so gesprochen, stand er wieder bewegungslos da, wie ein Körper, der seinen Schwerpunkt wieder findet; aber seine Worte verriethen noch eben soviel Unruhe. Seine Stimme wurde immer dumpfer.
»Wende deinen Kopf nur nicht so ab. Höre mich an. Es ist eine ernsthafte Angelegenheit. Zunächst vernimm, was sich ereignet hat … Man soll über alles das nicht lachen, schwöre ich dir … Was sagte ich denn eigentlich? Erinnere mich daran! Ach, ja! … Es liegt ein Parlamentsbeschluß vor, welcher dich dem Blutgerüste überliefert. Ich habe dich eben aus ihren Händen entrissen. Aber da sind sie, die dich verfolgen. Sieh hin.«
Er streckte den Arm nach der Altstadt hin aus. Die Nachsuchungen schienen in der That da drüben fortzudauern. Das verworrene Getöse kam näher; der Thurm auf dem Hause des Wachoffizieres, das dem Grèveplatze gegenüber lag, war voll Lärm und Licht; und man sah auf dem gegenüberliegenden Flußdamme Soldaten mit Fackeln und unter den Rufen: »Die Zigeunerin! wo ist die Zigeunerin! zum Tode mit ihr! zum Tode!« vorbeilaufen.
»Du siehst wohl, daß sie dich verfolgen, und daß ich nichts Unwahres behaupte. Ich – ich liebe dich … Oeffne den Mund nicht; sprich lieber nicht mit mir, wenn du mir sagen willst, daß du mich hassest. Ich bin entschlossen, das nicht mehr zu hören … Ich habe dich soeben gerettet … Laß mich zuerst zu Ende kommen … Ich kann dich gänzlich retten. Ich habe alles vorbereitet. Es liegt an dir, es zu wollen. So wie du willst, werde ich es vermögen.«
Er unterbrach sich gewaltsam. »Nein, das – das sollst du nicht sagen.«
Und eilends, und während er sie miteilen ließ – denn er ließ sie nicht los – ging er gerade auf den Galgen zu, zeigte mit dem Finger auf ihn hin und sagte mit eisigem Tone: »Wähle zwischen uns beiden.« Sie riß sich aus seinen Händen los, fiel am Fuße des Galgens nieder und umarmte dieses Todesgerüst; dann wandte sie ihr schönes Haupt halb zurück und blickte über ihre Schulter nach dem Priester hin. Man hätte sie für eine Heilige Jungfrau am Fuße des Kreuzes halten können. Der Priester war ohne Bewegung stehen geblieben; den Finger immer noch nach dem Galgen hin erhoben, verharrte er in seiner Stellung, wie eine Bildsäule.
Endlich sagte die Zigeunerin zu ihm:
»Er flößt mir noch weniger Entsetzen ein, als du.«
Da ließ er langsam seinen Arm niedersinken und blickte mit tiefer, schmerzlicher Niedergeschlagenheit zu Boden.
»Wenn diese Steine reden könnten,« murmelte er, »ja, sie würden sprechen, daß hier ein sehr unglücklicher Mensch steht.«
Er nahm wieder das Wort. Das junge Mädchen, die von ihren langen Haaren umflossen, vor dem Galgen auf den Knien lag, ließ ihn sprechen, ohne ihn zu unterbrechen. Er hatte jetzt einen klagenden und sanften Ton angenommen, der einen schmerzlichen Gegensatz zu der stolzen Herbheit seiner Züge bildete.
»Ich, ja, ich liebe Euch. Ach! das ist doch gewißlich wahr. Es geht doch nichts über dieses Feuer, welches mir das Herz verbrennt! Wehe! junges Mädchen, Nacht und Tag, ja, Nacht und Tag; verdient das kein Mitleiden? Es ist eine Liebe für Nacht und Tag, sage ich Euch, es ist eine Folter … Oh! ich leide zu viel, mein armes Kind! … Das ist ein Umstand, der des Mitleidens werth ist. versichere ich Euch. Ihr sehet, daß ich sanft mit Euch spreche. Ich möchte doch, daß Ihr nicht mehr diesen Abscheu vor mir hättet … Zuletzt, wenn ein Mann ein Weib liebt, so ist das nicht seine Schuld! … Oh! mein Gott! … Wie! niemals werdet Ihr mir also verzeihen? Ihr wollt mich immer hassen? Es ist also entschieden! Das gerade macht mich schlecht, seht Ihr? und mir selbst entsetzlich! … Ihr seht mich nicht einmal an! Ihr denkt an etwas Anderes; vielleicht, während ich hier stehe und zitternd an der Schranke unserer beider Ewigkeit mit Euch rede! Vor allem – sprecht nicht mit mir von dem Offiziere! … Was! … ich sollte mich zu Euern Knien niederwerfen; wie! ich sollte Euere Füße nicht – das möchtet Ihr nicht – sondern die Erde küssen, welche unter Euern Füßen ist; was! ich sollte wie ein Kind schluchzen; ich sollte aus meiner Brust nicht Worte, sondern mein Herz und meine Eingeweide herausreißen, um Euch zu sagen, daß ich Euch liebe: – alles würde vergeblich sein, alles! … Und dennoch ist Euere Seele nur voll Empfindung und Güte. Ihr strahlt die herrlichste Sanftmuth aus; Ihr seid ganz und gar anmuthig, gut, mitleidig und entzückend. Leider! habt Ihr für mich allein nur Bosheit! Oh! welches Mißgeschick!«
Er verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Das junge Mädchen hörte ihn weinen. Es war das erste Mal. Während er so von Schluchzen geschüttelt dastand, war er elender und erschien hilfeflehender, als wenn er auf die Knien gesunken wäre. So weinte er eine geraume Zeit.
»Genug!« fuhr er fort, als diese ersten Thränen vorüber waren, »ich finde keine Worte. Ich hatte doch so schön ausgedacht, was ich Euch sagen wollte. Jetzt zittere und bete ich, werde im entscheidenden Augenblicke schwach, ich empfinde etwas Allgewaltiges, das uns umgiebt, und ich stammele. Oh! ich werde zu Boden niedersinken, wenn Ihr kein Mitleid mit mir, keines mit Euch empfindet. Verdammet uns nicht alle Beide. Wenn Ihr wüßtet, wie sehr ich Euch liebe! Wo ist ein Herz wie das meinige! Ach! wie groß ist die Abtrünnigkeit von jeder Tugend! wie groß der verzweifelte Verrath an mir selbst! Als Gelehrter verhöhne ich die Wissenschaft, als Edelmann verunglimpfe ich meinen Namen; als Priester mache ich mein Meßbuch zu einem Kopfkissen der Wollust, speie in das Antlitz meines Gottes! Und das alles für dich, Zauberin! um deiner Hölle würdiger zu werden! Und du willst von dem Verdammten nichts wissen! Ach! könnte ich dir alles sagen! Noch mehr, etwas Schrecklicheres, ach! Schrecklicheres! …«
Während er diese letzen Worte sprach, wurde sein Gesichtsausdruck plötzlich ganz verwirrt. Er schwieg einen Augenblick; dann fuhr er, als ob er mit sich selbst spräche, mit starker Stimme fort:
»Kain, was hast du mit deinem Bruder angefangen?«
Wieder entstand eine Pause, und er fuhr dann fort:
»Was ich mit ihm angefangen habe, Herr des Himmels? Ich habe ihn aufgenommen, habe ihn erzogen, ihn ernährt, ihn geliebt, habe ihn abgöttisch geliebt, und habe ihn gemordet! Ja, Herr des Himmels, du weißt, daß man ihm eben vor meinen Augen das Haupt an dem Steine deines Hauses zerschmettert hat; und das meinetwegen, dieses Weibes wegen, ihretwegen …«
Sein Blick war irre. Seine Stimme erlosch nach und nach; er wiederholte noch mehrere Male mechanisch, in ziemlich langen Pausen, wie eine Glocke, die ihre letzte Schwingung verlängert: »Ihretwegen … ihretwegen …« Dann sprach seine Zunge keinen verständlichen Ton mehr, seine Lippen bewegten sich indessen noch immer. Plötzlich brach er in sich zusammen, wie ein einstürzender Gegenstand und blieb ohne Bewegung, das Haupt auf den Knien, am Boden liegen. Eine Streifung des jungen Mädchens, welche ihren Fuß unter ihm hervorzog, brachte ihn wieder zur Besinnung. Er fuhr langsam mit der Hand über seine eingefallenen Wangen und betrachtete einige Augenblicke betroffen seine Finger, welche feucht waren: »Was!« murmelte er, »ich habe geweint!«
Und er wandte sich plötzlich mit dem Ausdrucke unaussprechlicher Angst zur Zigeunerin hin:
»Wehe! Ihr habt mich weinen gesehen und seid kalt dabei geblieben? Kind, weißt du, daß diese Thränen Lavaströme sind? Ist es denn also wahr? An dem Menschen, welchen man haßt, rührt uns nichts? du könntest mich sterben sehen, und du würdest lachen. Ach! ich will dich nicht sterben sehen! Ein Wort! ein einziges Wort der Verzeihung! Sage mir nicht, daß du mich lieb hast, sage mir nur, daß du nichts dagegen hast; das soll genügen; ich werde dich retten. Wenn nicht … Ach! die Stunde eilt. Ich bitte dich inständig bei allem, was heilig ist, warte nicht, bis ich wieder zu Stein geworden bin, wie dieser Galgen, der dich auch beansprucht! Bedenke, daß ich unser Beider Schicksal in meiner Hand halte, daß ich unsinnig bin, es fürchterlich ist, daß ich alles hinstürzen lassen kann, und daß sich unter uns ein unergründlicher Abgrund befindet, Unglückliche, wohinein mein Sturz den deinigen die Ewigkeit hindurch nach sich ziehen wird! Ein gütiges Wort! sprich ein Wort! nur ein Wort!«
Sie öffnete den Mund, um ihm zu antworten. Er stürzte sich vor ihr auf die Kniee nieder, um mit Anbetung das vielleicht gerührte Wort zu vernehmen, welches über ihre Lippen kommen wollte. Sie sagte zu ihm:
»Ihr seid ein Mörder!«
Der Priester riß sie wüthend in seine Arme und begann in ein entsetzliches Gelächter auszubrechen.
»Gut denn, ja! Mörder!« sagte er, »und ich werde dich besitzen. Du willst mich nicht als Sklaven, du sollst mich zum Herrn haben. Ich will dich besitzen. Ich habe ein Versteck, wohin ich dich schleppen will. Du wirst mir folgen, du wirst mir wohl folgen müssen, oder ich überliefere dich dem Henker! du mußt sterben, meine Schöne, oder mir gehören! dem Priester gehören! dem Abtrünnigen, dem Mörder gehören! Von heute Nacht an, hörst du es? Wohlan denn! zur Lust! wohlan, küsse mich, Närrchen! Das Grab oder mein Bett!«
Sein Auge funkelte vor wollüstiger Gier und vor Wuth. Sein geiler Mund röthete den Hals des jungen Mädchens. Sie sträubte sich in seinen Armen. Er bedeckte sie mit schäumenden Küssen.
»Beiße mich nicht, Ungethüm!« schrie sie. »Ach! über den widerwärtigen, schändlichen Mönch! Laß mich los! Ich werde dir deine eklen, grauen Haare ausraufen und sie dir bündelweise ins Gesicht werfen!«
Er wurde roth und wieder blaß vor Zorn, dann ließ er sie los und betrachtete sie mit finsteren Blicken. Sie glaubte über den Priester gesiegt zu haben und fuhr fort:
»Ich sage dir, daß ich meinem Phöbus angehöre, daß Phöbus es ist, den ich liebe, daß Phöbus schön ist. Du, Priester, du bist alt, bist häßlich. Hebe dich weg!«
Er stieß einen heftigen Schrei aus, wie der Unglückliche, an den man ein glühendes Eisen legt. »Stirb denn!« sprach er mit Zähneknirschen. Sie sah seinen fürchterlichen Blick und wollte fliehen. Er packte sie wieder, schüttelte sie, warf sie zur Erde nieder und ging in eiligen Schritten auf die Ecke des Rolandsthurmes los, während er sie an ihren schönen Händen hinter sich her über den Boden schleifte. Hier angelangt, wandte er sich an sie:
»Zum letzten Male, willst du mein sein?«
Sie antwortete mit Nachdruck:
»Nein.«
Jetzt rief er mit lauter Stimme:
»Gudule! Gudule! Hier ist die Zigeunerin! räche dich!«
Das junge Mädchen fühlte, wie sie plötzlich am Ellbogen ergriffen wurde. Sie blickte auf. Es war ein fleischloser Arm, welcher aus einer Luke in der Mauer herauslangte und sie wie eine eiserne Hand festhielt.
»Halt fest!« rief der Priester; »es ist die entwischte Zigeunerin. Laß sie nicht los. Ich will die Gerichtsdiener holen. Du sollst sie hängen sehen.«
Ein dumpfes Lachen antwortete aus dem Innern der Mauer auf diese blutdürstigen Worte. »Ha! ha! ha!« Die Zigeunerin sah, wie sich der Priester eiligst in der Richtung der Notre-Damebrücke entfernte. Man hörte einen Reitertrupp auf dieser Seite.
Das junge Mädchen hatte die boshafte Klausnerin erkannt. Keuchend vor Entsetzen versuchte sie sich loszumachen. Sie wand sich, sie sprang vor Todesangst und Verzweiflung nach rechts und links, aber die Nonne hielt sie mit unerhörter Kraft fest. Die knochigen und magern Finger, die sie preßten, krampften sich um ihr Fleisch zusammen und schlossen sich fest herum. Man hätte glauben sollen, daß diese Hand an ihren Arm genietet sei. Es war mehr als eine Kette, mehr als eine Klammer oder eiserner Ring – es war eine geschickte und lebendige Zange, welche aus einer Mauer herausfuhr. Erschöpft sank sie an der Mauer nieder, und nun bemächtigte sich ihrer die Todesfurcht. Sie dachte an die Schönheit des Lebens, an die Jugend, an den Anblick des Himmels, an die Erscheinungen der Natur, an die Liebe, an Phöbus, an alles, was dahin floh und an alles, was ihr nahe trat, an den Priester, welcher sie angab, an den Henker, welcher kommen würde, an den Galgen, welcher dort stand. Da fühlte sie, wie ihr das Entsetzen bis in die Wurzeln der Haare stieg, und sie hörte das grausige Lachen der Klausnerin, die ganz leise zu ihr sprach: »Ha! ha! ha! du wirst gehangen werden!«
Sie wandte sich todesmatt nach der Luke hin und sah das fahle Gesicht der Büßerin durch die Gitterstäbe hindurch.
»Was habe ich Euch gethan?« sagte sie fast leblos.
Die Klausnerin antwortete nicht; sie begann in einem singenden, erregten und spöttischen Tone zu murmeln:
»Tochter Aegyptens! Tochter Aegyptens! Tochter Aegyptens!«
Die unglückliche Esmeralda ließ ihr Antlitz unter ihrem Haar verschwinden, und begriff, daß sie es nicht mit einem menschlichen Wesen zu thun hätte.
Plötzlich rief die Klausnerin, als ob diese Frage der Zigeunerin die ganze Zeit gebraucht hätte, um zu ihrem Bewußtsein zu gelangen:
»Was du mir zu Leide gethan? fragst du! Oh! was du mir angethan hast, Zigeunerin! – Gut denn! höre … Ich hatte ein Kind, ja ich! Siehst du? Ich hatte ein Kind! ein Kind, sage ich dir! … Ein reizendes kleines Mädchen! … Meine Agnes« fuhr sie verwirrt fort und küßte dabei etwas in der Dunkelheit … »Nun gut! siehst du, Tochter Aegyptens? Man hat mir mein Kind genommen, man hat mir mein Kind gestohlen; ja, man hat mir mein Kind gestohlen. Jetzt weißt du, was du mir Leids gethan hast.«
Das junge Mädchen antwortete wie das Lamm in der Fabel:
»Ach Gott! ich war damals vielleicht noch nicht geboren!«
»Oh! doch!« fuhr die Klausnerin fort, »du mußtest geboren sein. Du warst dabei. Sie würde in deinem Alter sein! Also! … Das sind nun fünfzehn Jahre her, daß ich hier bin; fünfzehn Jahre, daß ich dulde; fünfzehn Jahre, daß ich bete; fünfzehn Jahre, daß ich mit meinem Kopfe gegen die vier Mauern renne … Ich sage dir, es sind Zigeunerinnen, die mir es gestohlen haben, hörst du es? und die es mit ihren Zähnen gefressen haben … Hast du ein Herz? Denke dir, was ein Kind ist, das da spielt; ein Kind, welches an der Brust liegt; ein Kind, das schlummert. Es ist so unschuldig! … Nun also! das, das ist es, was man mir genommen, was man mir gemordet hat! Der liebe Gott weiß es ja! Heute ist die Reihe an mir; ich will Zigeunerfleisch essen … Oh! wie gern würde ich dich anbeißen, wenn mich die Gitterstäbe nicht verhinderten! Ich habe einen zu dicken Kopf! … Die arme Kleine! während daß sie schlief! Und wenn sie sie geweckt hätten, während sie sie raubten, sie würde vergeblich geschrien haben: – ich war nicht da! Ach! ihr Zigeunermütter, ihr habt meine Tochter gefressen! Kommt, und seht jetzt die eurige.«
Nun fing sie wieder an zu lachen oder mit den Zähnen zu knirschen – beides blieb sich in diesem wüthenden Gesichte gleich. Der Tag begann zu grauen. Ein Dämmerschein beleuchtete undeutlich diese Scene, und der Galgen wurde immer sichtbarer auf dem Platze. Von der andern Seite her, aus der Gegend der Notre-Damebrücke, glaubte die arme Verurtheilte den Lärm des Reitertrupps herankommen zu hören.
»Gute Frau!« rief sie mit gefalteten Händen, auf beide Knien gesunken, mit fliegendem Haar, entsetzt und vor Schrecken wahnsinnig, »gute Frau, habt Erbarmen. Sie kommen. Ich habe Euch nichts zu Leide gethan. Wollt Ihr mich auf diese schreckliche Art vor Euern Augen sterben sehen? Ihr seid mitleidig, ich bin dessen sicher. Es ist zu fürchterlich. Laßt mich Rettung suchen. Laßt mich los! Erbarmen! Ich will nicht so sterben!«
»Gieb mir mein Kind zurück!« sagte die Klausnerin.
»Gnade! Gnade!«
»Gieb mir mein Kind zurück!«
»Laßt mich los, im Namen des Himmels!«
»Gieb mir mein Kind zurück!«
Jetzt auf einmal sank das junge Mädchen erschöpft, gebrochen, schon mit dem gläsernen Blicke jemands, der im Grabe liegt, zu Boden.
»Ach Gott!« stammelte sie, »Ihr sucht Euer Kind, und ich, ich suche meine Eltern.«
»Gieb mir meine kleine Agnes zurück!« fuhr Gudule fort. »Du weißt nicht, wo sie ist? Dann stirb! … Ich will dir erzählen. Ich war ein Freudenmädchen, ich hatte ein Kind, man hat mir mein Kind genommen … Es sind die Zigeunerinnen gewesen. Du siehst wohl, daß du sterben mußt. Wenn deine Mutter, die Zigeunerin, kommen wird, um dich zurückzufordern, so will ich zu ihr sagen: »Mutter, blicke nach jenem Galgen! … Oder aber gieb mein Kind zurück … Weißt du, wo sie ist, meine kleine Tochter? Halt, daß ich dir etwas zeige. Da ist ihr Schuh – alles, was mir von ihr geblieben ist. Weißt du, wo der andere ist? Wenn du es weißt, sage es mir, und wenn er selbst am andern Ende der Welt sich befindet, auf den Knien hinrutschend will ich ihn holen.«
Bei diesen Worten hielt sie mit ihrem andern Arme, den sie aus der Luke herausgestreckt hatte, der Zigeunerin den kleinen gestickten Schuh hin. Es war schon ziemlich hell, um seine Form und Farben unterscheiden zu können.
»Zeigt mir diesen Schuh,« sprach die Zigeunerin zitternd. »Gott! Gott!« Und zu gleicher Zeit öffnete sie mit der Hand, welche sie frei hatte, leicht das kleine, mit grünen Glassteinen verzierte Säckchen, welches sie am Halse trug.
»Genug! genug!« murmelte Gudule, »durchsuche dein Teufelsamulet!« Plötzlich unterbrach sie sich, zitterte am ganzen Leibe und rief mit einer Stimme, die aus der tiefsten Tiefe des Herzens kam:
»Meine Tochter!«
Die Zigeunerin hatte eben einen kleinen Schuh aus dem Säckchen gezogen, der dem andern zum Verwechseln ähnlich sah. An diesem kleinen Schuhe war ein Pergamentstreifen befestigt, auf welchem folgender Knüttelreim geschrieben stand:
Wenn du mein Ebenbild entdeckt,
Der Mutterarm dir entgegen sich streckt.
In weniger Zeit, als ein Blitz dauert, hatte die Klausnerin die beiden Schuhe verglichen, die Aufschrift des Pergamentstreifens gelesen und ihr von einer himmlischen Regung strahlendes Gesicht an die Gitterstäbe der Luke gepreßt:
»Meine Tochter! meine Tochter!« rief sie.
»Meine Mutter!« antwortete die Zigeunerin.
Hier unterlassen wir, die Scene auszumalen.
Die Mauer und die eisernen Gitterstäbe befanden sich zwischen ihnen beiden.
»Ach! die Mauer!« rief die Klausnerin.
»Oh! sie zu sehen und nicht umarmen zu können! Deine Hand! Deine Hand!«
Das junge Mädchen streckte ihren Arm durch die Luke; die Klausnerin warf sich über diese Hand her, preßte ihre Lippen darauf, und blieb, in diesem Kusse versunken, darüber geneigt, ohne ein anderes Lebenszeichen mehr von sich zu geben, als ein Schluchzen, welches von Zeit zu Zeit ihren Leib durchzuckte. Während dem vergoß sie schweigend, in der Dunkelheit ihrer Zelle, Ströme von Thränen gleich einem nächtlichen Regengusse. Die arme Mutter leerte in Fluten über dieser angebeteten Hand den dunkeln und tiefen Thränenquell, der in ihr quoll, und aus dem ihr ganzer Schmerz seit fünfzehn Jahren tropfenweise hervorgequollen war.
Plötzlich richtete sie sich wieder in die Höhe, strich ihre langen, grauen Haare von der Stirn, und ohne ein Wort zu sagen, fing sie an, mit ihren beiden Händen an den Gitterstäben ihrer Zelle wüthender als eine Löwin zu rütteln. Die Stäbe hielten aus. Jetzt holte sie aus einem Winkel ihrer Zelle einen schweren Stein, der ihr als Kopfkissen diente, und schleuderte ihn mit solcher Macht gegen dieselben, daß einer von den Eisenstäben unter heftigem Funkensprühen zerbrach. Ein zweiter Schlag zertrümmerte vollständig das alte eiserne Kreuz, welches die Luke versperrte. Dann zerbrach und entfernte sie mit ihren beiden Händen völlig die verrosteten Stumpfe der Gitterstäbe. Es giebt Augenblicke, in denen die Hände eines Weibes übermenschliche Stärke besitzen.
Als die Bahn gebrochen war, und dazu bedurfte es weniger als einer Minute, faßte sie ihre Tochter um die Mitte des Leibes und zog sie in ihre Zelle hinein. »Komm! damit ich dich aus dem Abgrunde des Verderbens herauslange!« murmelte sie.
Als ihre Tochter sich in der Zelle befand, setzte sie sie sanft auf den Boden nieder, nahm sie dann wieder auf, trug sie in ihren Armen, als ob sie immer noch ihre kleine Agnes wäre, und ging in der engen Zelle berauscht, wie rasend sich geberdend, fröhlich, schreiend, singend und ihre Tochter küssend hin und her; sprach mit ihr, brach in Gelächter aus und vergoß Thränen – alles durch einander und in leidenschaftlichem Ausbruche.
»Meine Tochter! meine Tochter!« sprach sie. »Ich habe meine Tochter! Da ist sie! Der liebe Gott hat sie mir wiedergegeben. Nun ihr – kommt alle her! Ist jemand hier, der sehen will, daß ich meine Tochter habe? Herr Jesus, wie schön sie ist! Du hast mich fünfzehn Jahre warten lassen, mein lieber Gott, aber nur, um sie mir so schön zurückzugeben … Die Zigeunerinnen hatten sie also nicht gegessen! Wer hatte das behauptet! Meine kleine Tochter! meine kleine Tochter! küsse mich. O diese guten Zigeunerinnen! Ich liebe die Zigeunerinnen! – Du bist es wirklich. Das also ist der Grund, warum mir jedesmal das Herz hüpfte, wenn du vorbeigingst. Ich aber hielt es für Haß! Vergieb mir, meine Agnes, vergieb mir! Du hast mich für sehr boshaft gehalten, nicht wahr? Ich liebe dich … dein kleines Mal am Halse, hast du es immer noch? Laß sehen. Sie hat es immer noch. Oh! du bist schön. Ich bin es, der dir diese großen Augen da gegeben hat, Jungfer. Küsse mich. Ich liebe dich. Das ist mir nun sehr gleichgültig, daß andere Mütter Kinder haben; was schere ich mich jetzt um sie. Sie brauchen nur zu kommen. Hier ist meins. Seht da seinen Hals, seine Augen, sein Haar, seine Hand. Suchet mir etwas Schöneres, als das! Oh! ich stehe Euch dafür, daß sie Liebhaber finden wird, die da! Ich habe fünfzehn Jahre lang geweint. Meine ganze Schönheit ist vergangen, und sie hat sie geerbt. Küsse mich!«
Sie führte mit ihr zahllose andere närrische Unterhaltungen, deren Ausdruck die ganze Anmuth bildete, brachte die Kleider des armen Kindes so in Unordnung, daß diese darüber roth wurde, glättete ihr das Seidenhaar mit der Hand, küßte ihr den Fuß, die Kniee, die Stirn, die Augen, und gerieth über alles außer sich vor Entzücken. Das junge Mädchen ließ sie gewähren, während sie manchmal ganz leise und mit unendlicher Anmuth wiederholte: »Meine Mutter!«
»Siehst du, mein Töchterchen,« fuhr die Klausnerin fort, wobei sie alle ihre Worte mit Küssen unterbrach, »siehst du! ich will dich recht lieb haben. Wir wollen von hier weg gehen. Wir werden recht glücklich werden. In Reims, in unserer Heimat, habe ich etwas geerbt. Du weißt, Reims? Du, ach nein, du weißt das nicht; du warst zu klein! Wenn du wüßtest, wie hübsch du mit vier Monaten warst! Füßchen, die man der Seltenheit wegen zu sehen aus Epernay herkam, das sieben Stunden entfernt ist! Wir werden ein Feld und Haus besitzen. Ich will dich in mein Bett legen. Mein Gott! mein Gott! wer hätte das glauben sollen? Ich habe meine Tochter wieder!«
»O meine Mutter!« sagte das junge Mädchen, die endlich die Kraft fand, in ihrer Gemüthserregung zu sprechen, »die Zigeunerin hat es mir wohl gesagt. Es war eine gute Zigeunerin unter unsern Leuten, die im vergangenen Jahre gestorben ist, und die sich immer um mich wie eine Amme gekümmert hat. Die ist es, die mir das Säckchen um den Hals gehängt hat. Sie pflegte mir immer zu sagen: ›Kleine, bewahre ja dies Kleinod. Es ist ein Schatz. Es wird dich deine Mutter wiederfinden lassen. Du trägst deine Mutter an deinem Halse.‹ Sie hatte es vorhergesagt, die Zigeunerin!«
Die Nonne schloß ihre Tochter von neuem in ihre Arme.
»Komm, laß dich küssen! Du erzähltest das hübsch. Wenn wir in unserer Heimat sein werden, wollen wir einem Jesuskinde in der Kirche die kleinen Schuhe anziehen. Wir sind das wohl der guten heiligen Jungfrau schuldig. Mein Gott! was du für eine hübsche Stimme hast! Als du eben mit mir sprachst, war das eine Musik! Oh! mein Gott und Herr! ich habe mein Kind wieder gefunden! Aber ist diese Geschichte da wohl glaublich? Man stirbt an nichts, denn ich bin nicht vor Freude gestorben.«
Und dann fing sie wieder an in die Hände zu klatschen und zu lachen und zu rufen: »Wir wollen glücklich werden!«
In diesem Augenblicke hallte die Zelle von einem Waffengeklirre und Pferdegalopp wieder, die von der Notre-Damebrücke herzukommen und sich mehr und mehr auf dem Flußdamme zu nähern schienen. Die Zigeunerin warf sich voll Todesangst in die Arme der Büßerin.
»Rettet mich! rettet mich! meine Mutter! Das sind sie, die herankommen!«
Die Klausnerin wurde blaß. ^
»O Himmel! was sagst du da? Ich hatte vergessen! Man verfolgt dich! Was hast du denn gethan?«
»Ich weiß nicht,« antwortete das unglückliche Kind, »aber ich bin verurtheilt, zu sterben.«
»Sterben!« sagte Gudule wankend wie von einem Blitzstrahle getroffen. »Sterben!« wiederholte sie langsam und sah ihre Tochter mit einem starren Blicke an.
»Ja, meine Mutter,« versetzte das junge Mädchen entsetzt, »sie wollen mich tödten. Horch, wie man kommt, mich zu greifen. Jener Galgen ist für mich! Rettet mich! rettet mich! Sie kommen schon! Rettet mich!«
Die Klausnerin stand mehrere Augenblicke starr wie ein versteinertes Bildnis da; dann schüttelte sie zum Zeichen des Zweifels den Kopf, dann brach sie plötzlich in ein lautes Gelächter aus, aber in ihr fürchterliches Lachen, das ihr wieder gekommen war. »Ho! ho! nein! es ist ein Traum, den du mir da erzählst. Ah, ja! ich sollte sie verloren haben, das sollte fünfzehn Jahre gedauert haben! und dann sollte ich sie wiederfinden, und das sollte eine Minute dauern! Und man sollte sie mir wiedernehmen! und jetzt gerade, wo sie schön ist, wo sie groß ist, wo sie mit mir spricht, wo sie mich liebt; und jetzt gerade sollten sie kommen, mir sie aufzufressen, vor meinen eigenen Augen – ich, die ich die Mutter bin? Oh, nein! Das sind Dinge, die nicht möglich sind. Der liebe Gott giebt so etwas nicht zu!«
Hier schien der Reitertrupp Halt zu machen, und man hörte eine Stimme in der Ferne, welche rief: »Hierher, Herr Tristan! Der Priester sagte, daß wir sie im Rattenloche finden werden.« Das Pferdegetrappel fing von neuem an.
Die Klausnerin richtete sich mit einem verzweifelten Schrei hoch auf.
»Rette dich! rette dich! mein Kind! Es fällt mir alles wieder ein. Du hast Recht. Es ist dein Tod! Entsetzen! Flucht! Rette dich!«
Sie steckte den Kopf in die Luke und zog ihn schnell wieder zurück.
»Bleibe,« sagte sie mit leisem, kurzem und traurigem Tone, während sie krampfhaft die Hand der Zigeunerin umklammerte, die mehr todt als lebend war. »Bleibe! athme nicht! Ueberall sind Soldaten. Du kannst nicht hinauskommen. Es ist zu hell.«
Ihre Augen waren trocken und glühend. Sie verharrte einen Augenblick im tiefen Schweigen; sie ging nur in großen Schritten in der Zelle umher, und blieb zuweilen stehen, um sich ganze Büschel ihrer grauen Haare auszuraufen, die sie dann mit den Zähnen zernagte.
Plötzlich sagte sie:
»Sie kommen heran. Ich will mit ihnen sprechen. Verstecke dich in diesem Winkel. Sie werden dich nicht sehen. Ich will ihnen sagen, du seiest entwischt, ich hätte dich, meiner Treu! losgelassen.«
Sie setzte ihre Tochter, die sie immer noch trug, in einem Winkel der Zelle nieder, den man von draußen nicht sehen konnte. Sie drückte sie nieder, setzte sie sorgfältig zurecht, sodaß weder ihr Fuß noch ihre Hand aus der Dunkelheit hervorragten, band ihr die schwarzen Haare los; welche sie über ihr weißes Kleid ausbreitete, um es zu verdecken, stellte ihren Krug und ihren Stein, die einzigen Geräthschaften, welche sie besaß, vor sie hin, in der Meinung, daß dieser Krug und Stein sie verbergen würden. Und als das beendigt war, ließ sie sich, ruhiger geworden, auf die Kniee nieder und betete. Der Tag, welcher erst graute, ließ noch viel Finsternis im Rattenloche zurück.
In diesem Augenblicke erklang die Stimme des Priesters, diese höllische Stimme, ganz dicht bei der Zelle; er rief:
»Hierher, Hauptmann Phöbus von Châteaupers!«
Bei diesem Namen, dieser Stimme machte die Esmeralda, welche in ihrer Ecke kauerte, eine Bewegung.
»Rühre dich nicht,« sagte Gudule.
Sie endigte kaum, als ein Getümmel von Männern, Degen und Pferden sich rings um die Zelle verbreitete. Die Mutter erhob sich sehr schnell und stellte sich vor ihrer Luke auf, um sie zu versperren.
Sie sah einen großen Haufen bewaffneter Männer zu Fuß und zu Pferde, die auf dem Grèveplatz in Reih und Glied aufgestellt waren. Derjenige, welcher sie befehligte, setzte den Fuß auf die Erde und kam auf sie zu.
»Alte,« sagte dieser Mann, der einen grausamen Gesichtsausdruck hatte, »wir suchen eine Hexe, die wir hängen wollen; man hat uns gesagt, daß du sie bei dir hättest.«
Die arme Mutter nahm die gleichgültigste Miene an, die sie vermochte, und antwortete:
»Ich weiß nicht recht, was Ihr sagen wollt.«
Der andere versetzte:
»Bei Gottes Haupte! was schwatzte denn dieser tolle Narr von Archidiakonus? Wo ist er?«
»Gnädiger Herr,« sagte ein Soldat, »er ist verschwunden.«
»Wohlan, alte Närrin,« nahm der Befehlshaber wieder das Wort, »lüge mir nichts vor. Man hat dir eine Hexe zu bewachen gegeben. Was hast du mit ihr angefangen?«
Die Klausnerin wollte nicht alles läugnen, aus Furcht Argwohn zu erwecken, und antwortete in einem aufrichtigen und mürrischen Tone:
»Wenn Ihr von einem großen, jungen Mädchen sprecht, welches man mir vorhin in die Hände gegeben, so muß ich Euch sagen, daß sie mich gebissen hat, und daß ich sie losgelassen habe. Nun wißt Ihr es. Laßt mich in Ruhe.«
Der Befehlshaber machte ein enttäuschtes Gesicht.
»Lüge mir nur nichts vor, altes Gespenst,« versetzte er. »Ich heiße Tristan l’Hermite und bin des Königs Gevatter. Tristan l’Hermite, hörst du?« Er fügte hinzu, während er rings um sich einen Blick auf den Grèveplatz warf: »Das ist ein Name, der hier Widerhall findet.«
»Und wenn Ihr Satan l’Hermite wäret,« entgegnete Gudule, die wieder Hoffnung schöpfte, »so würde ich Euch nichts anderes zu sagen haben und keine Furcht vor Euch zeigen.«
»Beim Haupte Gottes!« sagte Tristan, »das nenne ich mir eine Gevatterin! Ah! die Hexendirne hat sich gerettet! Und wohin hat sie die Flucht ergriffen?«
Gudule antwortete in sorglosem Tone:
»Durch die Rue-du-Mouton, glaube ich.«
Tristan wandte den Kopf zurück und gab seinem Trupp ein Zeichen, sich zum Abmarsch bereit zu machen. Die Klausnerin athmete auf.
»Gnädiger Herr,« sagte plötzlich ein Bogenschütze, »fraget doch die alte Zauberin, warum die Gitterstäbe ihres Lukenfensters so herausgebrochen sind.«
Diese Frage ließ die Todesangst wieder in das Herz der unglückseligen Mutter zurückkehren. Dennoch verlor sie nicht alle Geistesgegenwart.
»Sie sind immer so gewesen,« stotterte sie.
»Ach was!« versetzte der Bogenschütze, »noch gestern bildeten sie ein schönes schwarzes Kreuz, das Andacht einflößte.«
Tristan warf einen Seitenblick auf die Klausnerin.
»Ich glaube die Gevatterin geräth in Verwirrung!«
Die Unglückliche fühlte, daß alles von ihrer Fassung abhinge, und, den Tod in der Seele, fing sie höhnisch zu lachen an. Alte Weiber haben eine Stärke darin.
»Unsinn!« sagte sie, »dieser Mensch ist betrunken. Es ist länger, als ein Jahr her, daß das Hintertheil eines mit Steinen beladenen Karrens in meine Luke gestoßen und das Gitter darin zerbrochen hat. Wie habe ich deswegen den Fuhrmann ausgescholten!«
»Es ist wahr,« sagte ein anderer Häscher, »ich war dabei.«
Ueberall finden sich stets Leute, welche alles gesehen haben. Diese unerhoffte Zeugenaussage des Häschers belebte die Klausnerin wieder, für welche dieses Verhör den Gang über einen Abgrund auf der Schneide eines Messers bedeutete.
Aber sie war zu einem fortwährenden Wechsel zwischen Hoffnung und Schrecken verurtheilt.
»Wenn das ein Karren gethan hat,« nahm der erste Soldat wieder das Wort, »so müßten die Stücke der Stäbe nach innen gestoßen worden sein, während sie nach außen zu herausgeschlagen sind.«
»Ei! ei!« sagte Tristan zu dem Soldaten, »du Nase wie ein Untersuchungsrichter im Châtelet. Antwortet auf das, was er sagt, Alte.«
»Mein Gott!« rief sie zum Aeußersten gebracht, und mit einer wider ihren Willen von Thränen erstickten Stimme, »ich schwöre Euch zu, gnädiger Herr, daß nur ein Wagen diese Gitterstäbe zerbrochen hat. Ihr höret, daß dieser Mann es gesehen hat. Und dann, was hat denn das mit Euerer Zigeunerin zu thun?«
»Hm!« brummte Tristan vor sich hin.
»Zum Teufel!« nahm der Soldat, von dem Lobe des Profoß geschmeichelt, wieder das Wort, »die Brüche des Eisens sind ganz frisch!«
Tristan schüttelte den Kopf. Sie erblaßte.
»Wie lange Zeit ist es her, sagt Ihr, mit diesem Karren?«
»Vier Wochen, vierzehn Tage vielleicht, gnädiger Herr, ich – ich weiß nicht mehr.«
»Sie hat zuerst gesagt, länger als ein Jahr,« bemerkte der Soldat.
»Wahrhaftig, das sind faule Fische!« sagte der Profoß.
»Gnädiger Herr,« rief sie immer an die Luke gelehnt und zitternd, daß der Argwohn jene antreiben könnte, den Kopf herein zu stecken und in die Zelle zu blicken, »gnädiger Herr, ich schwöre Euch, daß gewiß ein Wagen dieses Gitter zerbrochen hat. Ich schwöre es Euch bei den Engeln des Paradieses. Wenn es nicht ein Wagen gethan hat, so will ich ewig verdammt sein, und ich verläugne Gott!«
»Du legst sehr viel Feuer in diesen Schwur!« sagte Tristan mit seinem Glaubensrichterblicke.
Das arme Weib fühlte, wie ihre Zuversicht mehr und mehr hinschwand. Sie war nahe daran, Ungeschicklichkeiten zu begehen, und sie begriff mit Entsetzen, daß sie nicht das sagte, was sie hätte sagen müssen.
Jetzt kam ein anderer Soldat herbei und rief:
»Gnädiger Herr, die alte Zauberin lügt. Die Hexe hat sich nicht durch die Rue-du-Mouton gerettet. Die Kette der Straße ist die ganze Nacht gespannt gewesen, und der Kettenwächter hat niemanden hindurchgehen gesehen.«
Tristan, dessen Gesichtsausdruck von Minute zu Minute Unheil verkündender wurde, forderte sie zur Entgegnung auf:
»Was hast du hierauf zu erwiedern?«
Sie versuchte abermals, diesem neuen Einwurfe die Spitze zu bieten.
»Daß ich nicht weiß, gnädiger Herr; daß ich mich habe täuschen können. Ich glaube, sie ist in der That über das Wasser entkommen.«
»Das ist die entgegengesetzte Seite,« sagte der Profoß. »Doch hat es keine große Wahrscheinlichkeit, daß sie in die Altstadt hat zurückkehren wollen, wo man sie verfolgte. Du lügst, Alte!«
»Und dann,« fügte der erste Soldat hinzu, »ist weder auf dieser Seite des Wassers, noch auf der andern ein Kahn zu sehen.«
»Sie wird hindurchgeschwommen sein,« antwortete die Klausnerin, die das Terrain Schritt für Schritt vertheidigte.
»Schwimmen denn die Frauenzimmer?« sagte der Soldat.
»Beim Haupte Gottes! Alte, du lügst! du lügst!« versetzte Tristan zornig.
»Ich habe große Lust, jene Hexe da laufen zu lassen, und dich in Person mitzunehmen. Eine Viertelstunde Folter wird dir vielleicht die Wahrheit aus der Kehle holen. Wohlan! du kannst uns folgen.«
Sie nahm diese Worte mit Begierde auf.
»Wie Ihr wollt, gnädiger Herr. Greift zu! greift zu! Die Folter! Ich bin es zufrieden. Führt mich weg. Schnell! schnell! Wir wollen sofort davongehen …« »Während der Zeit da,« dachte sie, »kann meine Tochter sich retten.«
»Gottes Tod!« sprach der Profoß, »welche Begierde nach der Folterbank. Ich werde aus dieser Närrin nicht klug.«
Ein alter Sergeant von der Nachtwache, mit grauem Kopfe, trat aus den Gliedern heraus und wandte sich an den Profoß:
»Närrin in der That, gnädiger Herr. Wenn sie die Zigeunerin freigelassen hat, so ist das nicht ihre Schuld, denn sie hat die Zigeunerinnen nicht gern. Es sind nun fünfzehn Jahre, daß ich die Nachtrunde mache, und daß ich sie mit endlosen Verwünschungen die Zigeunerweiber verfluchen höre. Wenn diejenige, auf welche wir fahnden, wie ich glaube, die kleine Tänzerin mit der Ziege ist, so verabscheuet sie diese vor allen andern.«
Gudule machte eine Bewegung und sagte:
»Jene vornehmlich.«
Das einstimmige Zeugnis der Leute von der Nachtwache bestätigte in den Augen des Profoß die Worte des alten Sergeanten. Tristan l’Hermite, der die Hoffnung aufgab, etwas aus der Klausnerin herauszubringen, kehrte ihr den Rücken zu, und sie sah mit unaussprechlicher Angst, wie er langsam auf sein Pferd losschritt.
»Genug,« sagte er zwischen den Zähnen, »vorwärts! Wir wollen uns wieder auf die Suche machen! Ich will kein Auge zuthun, bevor die Zigeunerin nicht gehangen ist.«
Indessen zögerte er noch eine Zeitlang, ehe er sein Pferd bestieg. Gudule zuckte zwischen Leben und Tod, als sie ihn den Platz ringsherum mit jener unruhigen Miene eines Jagdhundes betrachten sah, welcher in seiner Nähe das Lager des Wildes spürt und Widerstreben zeigt, sich zu entfernen. Endlich schüttelte er den Kopf und sprang in den Sattel. Das so fürchterlich gepreßte Herz Gudules erweiterte sich, und sie sprach mit leiser Stimme, während sie einen Blick auf ihre Tochter warf, welche sie, solange jene da waren, nicht anzublicken gewagt hatte: »Gerettet!«
Das arme Kind war diese ganze Zeit hindurch ohne zu athmen, ohne sich zu rühren und mit dem Gedanken an. den vor ihr stehenden Tod, in ihrer Ecke geblieben. Sie hatte nichts von jener Scene zwischen Gudule und Tristan überhört, und jede der Todesqualen ihrer Mutter hatte in ihrem Herzen Nachhall gefunden. Sie hatte das ununterbrochene Knacken des Fadens vernommen, der sie über dem Abgrunde in der Schwebe hielt; zwanzig Mal hatte sie geglaubt, ihn reißen zu sehen, und jetzt endlich begann sie auszuathmen und den Fuß auf dem festen Boden zu fühlen. – In diesem Augenblicke hörte sie eine Stimme, welche zum Profoß sagte:
»Donner und Wetter! Herr Profoß, meine Sache als Kriegsmann ist es nicht, Hexen zu hängen. Das Volksgesindel ist niedergemacht. Ich überlasse Euch, das Uebrige ganz allein zu besorgen. Ihr werdet es billigen, daß ich zu meiner Compagnie zurückkehre, weil sie ohne Hauptmann ist.«
Diese Stimme war diejenige des Phöbus von Châteaupers. Was in ihr vorging ist unaussprechlich. Er war also hier, ihr Freund, ihr Beschützer, ihre Hilfe, ihre Zuflucht, ihr Phöbus! Sie erhob sich, und ehe ihre Mutter sie daran hatte verhindern können, hatte sie sich an die Luke geworfen und rief:
»Phöbus! zu mir, mein Phöbus!«
Phöbus war nicht mehr da. Er war soeben im Galopp um die Ecke der Rue-de-la-Coutellerie gesprengt. Aber Tristan war noch nicht abgezogen.
Die Klausnerin stürzte sich mit einem Wuthschrei auf ihre Tochter. Sie riß sie ungestüm nach hinten zurück, wobei sie ihr die Nägel in den Hals bohrte. Eine Mutter, die zur Tigerin wird, nimmt es dabei nicht so genau. Aber es war zu spät. Tristan hatte gesehen.
»Ih! ih!« rief er mit einem Lachen, das alle seine Zähne bloßlegte und sein Gesicht dem Rachen eines Wolfes ähnlich machte, »zwei Mäuse in der Mausefalle!«
»Ich vermuthete es,« sagte der Soldat.
Tristan schlug ihn auf die Schulter:
»Du bist eine gute Katze! … Frisch!« fügte er hinzu, »wo ist Henriet Cousin?«
Ein Mann, der weder die Kleidung noch den Gesichtsausdruck eines Soldaten hatte, trat aus ihren Reihen heraus. Er trug einen halb grauen, halb braunen Anzug, glatt anliegende Haare, lederne Aermel und ein Bündel Stricke in seiner plumpen Hand. Dieser Mensch begleitete immer Tristan, der wieder stets in Ludwigs des Elften Gesellschaft sich befand.
»Freund,« sagte Tristan l’Hermite, »ich vermuthe, daß die Hexe, die wir suchen, dort steckt. Du sollst mir sie hängen. Hast du deine Leiter?«
»Dort im Schuppen des Säulenhauses befindet sich eine« antwortete der Mann.
»Sollen wir die Sache an jenem Hochgerichte da abmachen?« fuhr er fort, indem er auf den steinernen Galgen zeigte.
»Ja.«
»Oh! he!« versetzte der Mensch mit einem lauten, noch bestialischeren Gelächter, als dasjenige des Profoß war, »da werden wir keinen weiten Weg zu machen haben.«
»Beeile dich!« sagte Tristan, »du kannst nachher lachen.«
Die Klausnerin indessen hatte, seitdem Tristan ihre Tochter gesehen und jede Hoffnung geschwunden war, noch nicht ein Wort gesprochen. Sie hatte die arme Zigeunerin halb todt in den Winkel der Höhle geworfen, und sich wieder an die Luke gestellt, nachdem sie ihre beiden Hände wie zwei Krallen in die Ecke des Gesimses gestützt. In dieser Stellung sah man sie, wie sie ihren Blick, der wieder wild und irrsinnig geworden war, über alle die Soldaten schweifen ließ. In dem Augenblicke, wo sich Henriet Cousin der Zelle näherte, zeigte sie ihm ein so wildes Gesicht, daß er zurückfuhr.
»Gnädiger Herr,« sagte er zum Profoß zurückkehrend, »welche soll ich festnehmen?«
»Die Junge.«
»Um so besser. Denn die Alte scheint unbequem.«
»Die arme kleine Tänzerin mit der Ziege!« sagte der alte Sergeant von der Wache.
Henriet Cousin näherte sich der Luke wieder. Der Blick der Mutter war so, daß er seine Augen niederschlug. Er sagte ziemlich furchtsam:
»Gute Frau …«
Sie unterbrach ihn mit sehr leiser, vor Wuth zitternder Stimme:
»Was wünschest du?«
»Von Euch nichts,« sagte er, »von der andern.«
»Welche andere?«
»Die Junge.«
Sie begann den Kopf zu schütteln und rief:
»Niemand ist hier! Niemand ist hier! Niemand ist hier!«
»Doch!« entgegnete der Henker, »Ihr wißt es wohl. Laßt mich die Junge ergreifen. Euch will ich nichts zu Leide thun, nicht Euch.«
Sie sagte mit einem sonderbaren Hohnlachen:
»Ah! mir willst du nichts zu Leide thun, mir nicht?«
»Ueberlaßt mir die andere, gute Frau; der Herr Profoß will es so.«
Sie wiederholte mit aberwitziger Miene:
»Hier ist niemand.«
»Und ich behaupte: Doch!« entgegnete der Henker; »wir haben alle gesehen, daß Ihr zwei waret.«
»Sieh lieber herein!« sagte die Klausnerin hohnlachend. »Stecke deinen Kopf durch die Luke.«
Der Henker betrachtete die Nägel der Mutter, und wagte es nicht.
»Beeile dich!« rief Tristan, der eben seinen Trupp um das Rattenloch aufgestellt hatte, und der zu Pferde neben dem Galgen hielt.
Henriet kam noch einmal und ganz verlegen zum Profoß zurück. Er hatte seinen Strick auf die Erde niedergelegt, und drehte mit linkischer Geberde seinen Hut in den Händen.
»Gnädiger Herr,« fragte er, »auf welchem Wege soll ich hineingelangen?
»Durch die Thüre.«
»Es ist keine da.«
»Durch das Fenster.«
»Das ist zu eng.«
»Mache es weiter,« sagte Tristan zornig. »Hast du keine Spitzhacken?«
Aus der Tiefe ihrer Höhle sah die Mutter, die immer noch in Erwartung war, zu. Sie hoffte nichts mehr, sie wußte nicht mehr, was sie wollte; aber sie wollte nicht zugeben, daß man ihr die Tochter nähme. Henriet Cousin holte den Kasten mit Henkerhandwerkszeug aus dem Schuppen des Säulenhauses. Er zog auch die Doppelleiter daraus hervor, welche er sogleich an den Galgen anlegte. Fünf oder sechs Leute des Profoß bewaffneten sich mit Hacken und Brecheisen, und Tristan schlug mit ihnen die Richtung nach dem Lukenfenster ein.
»Alte,« sagte der Profoß im strengen Tone, »liefere uns dieses Mädchen gutwillig aus.«
Sie sah ihn an, wie wenn man jemanden nicht versteht.
»Beim Haupte Gottes,« nahm Tristan wieder das Wort, »was hast du denn davon, diese Hexe zu hindern, sich hängen zu lassen, wie es dem Könige gefällt?«
Die Elende begann ihr wildes Lachen aufzuschlagen.
»Was ich davon habe? Es ist meine Tochter.«
Der Ton, mit dem sie dieses Wort sprach, ließ sogar Henriet Cousin selbst erschaudern.
»Das thut mir Leid,« versetzte der Profoß, »allein es ist des Königs Wille.«
Während sie ihr schreckliches Lachen verdoppelte, rief sie:
»Was in aller Welt geht mich dein König an? Ich sage dir, daß es meine Tochter ist!«
»Brecht die Mauer durch,« sagte Tristan.
Um eine hinlänglich große Oeffnung zu machen, genügte es, eine Lage Steine unterhalb der Luke loszubrechen. Als die Mutter hörte, wie die Hacken und Brechstangen ihre Festung untergruben, stieß sie einen fürchterlichen Schrei aus; dann begann sie mit erschreckender Schnelligkeit rings in ihrer Zelle herumzugehen, eine Gewohnheit wilder Thiere, welche der Käfig ihr gegeben hatte. Sie sprach nichts mehr, aber ihre Augen flammten. Die Soldaten waren in der Tiefe ihres Herzens erstarrt. Plötzlich griff sie nach ihrem Steine, lachte auf und warf ihn mit beiden Händen auf die Arbeiter. Der schlecht geworfene Stein (denn ihre Hände zitterten) traf niemanden, und rollte zwischen die Füße von Tristans Pferde. Sie knirrschte mit den Zähnen.
Während dem wurde es heller Tag, wiewohl die Sonne noch nicht aufgegangen war; ein schönes rosiges Roth glänzte an den alten, baufälligen Schornsteinen des Säulenhauses. Es war die Stunde, wo die im ersten Morgenroth schimmernden Fenster auf den Dächern der großen Stadt sich fröhlich öffneten. Einige Landleute, einige Obsthändler, welche auf ihren Eseln nach den Markthallen ritten, begannen über den Grèveplatz zu ziehen; sie machten einen Augenblick vor dieser Soldatengruppe, die rings um das Rattenloch aufgestellt war, Halt, betrachteten dieselben mit erstaunter Miene und zogen weiter.
Die Klausnerin hatte sich neben ihrer Tochter niedergesetzt, deckte sie mit ihrem Körper von vorn, und hörte mit starrem Blicke auf das arme Kind, welches sich nicht rührte und mit leiser Stimme nur das eine Wort: »Phöbus! Phöbus!« murmelte. In dem Maße, wie die Arbeit der Zerstörer fortzuschreiten schien, wich die Mutter unwillkürlich zurück und preßte das junge Mädchen mehr und mehr gegen die Mauer. Plötzlich sah die Klausnerin den Stein sich fortbewegen (denn sie paßte auf und ließ ihn nicht aus dem Auge), und sie hörte die Stimme Tristans, welcher die Arbeiter anfeuerte. Jetzt erwachte sie aus der Niedergeschlagenheit, in die sie seit einigen Augenblicken gesunken war, und sie schrie laut auf; und während die Worte ihrem Munde entflohen, zerriß ihre Stimme bald wie eine Säge das Ohr, bald stammelte sie, als ob alle Flüche sich auf ihren Lippen zusammengedrängt hätten, um auf einmal hervorzubrechen.
»Ho! ho! ho! Aber das ist schrecklich! Ihr seid Räuber! Kommt ihr wirklich, um mir meine Tochter zu entreißen? Ich sage euch ja, es ist meine Tochter! Oh! ihr Feiglinge! Oh! ihr Henkersknechte! ihr elenden Mordbuben! Hilfe! Hilfe! Feuer! Aber wollen sie mir wirklich mein Kind so entreißen? Wer ist denn der, den man den lieben Gott nennt?«
Darauf wandte sie sich wuthschäumend, mit verstörtem Blicke, wie ein Panther auf allen Vieren und mit zu Berge stehenden Haaren an Tristan:
»Komm einmal her, mir mein Kind zu nehmen! Verstehst du wirklich nicht, was ich, das Weib dir sagte, daß das meine Tochter ist? Weißt du, was das ist: ein Kind, das man besitzt? He! Luchs, hast du niemals bei deiner Wölfin gelegen? Hast du niemals ein Junges von ihr gehabt? Und wenn du Kleine hast, wenn sie heulen, hast du nichts im Leibe, was das bewegt?«
»Werft den Stein nieder,« sagte Tristan, »er hält nicht mehr.«
Die Brechstangen hoben den mächtigen Stein in die Höhe. Er war, wie wir schon gesagt haben, die letzte Schutzwehr der Mutter. Sie warf sich darüber her; sie wollte ihn festhalten; sie kratzte mit ihren Nägeln in den Stein, aber der schwere Block, der von sechs Männern in Bewegung gesetzt wurde, entschlüpfte ihrer Hand und glitt langsam an den eisernen Brechstangen entlang zur Erde herab.
Als die Mutter sah, daß der Zugang geöffnet war, stürzte sie quer vor der Oeffnung nieder, verbarrikadirte die Bresche mit ihrem Körper, rang die Arme, stieß den Kopf gegen den Fußboden, und schrie mit einer vor Ermattung so heiseren Stimme, daß man sie kaum hörte:
»Hilfe! Feuer! Feuer!«
»Ergreift jetzt das Mädchen,« sagte Tristan noch immer empfindungslos.
Die Mutter sah die Soldaten in einer so fürchterlichen Weise an, daß diese mehr Lust verspürten zurückzuweichen, als hineinzudringen.
»Ich dächte gar,« fuhr der Profoß fort. »Henriet Cousin, thue deine Pflicht!«
Niemand hob einen Fuß.
Der Profoß fluchte:
»Beim Haupte Christi! meine Krieger! Furcht vor einem Weibe!«
»Gnädiger Herr,« sagte Henriet, »Ihr nennt das ein Weib?«
»Sie hat eine Löwenmähne!« sagte ein anderer.
»Vorwärts,« wiederholte der Profoß, »das Loch ist breit genug. Dringt drei Mann hoch hinein, wie in die Bresche bei Pontoise. Wir wollen ein Ende machen, beim Tode Muhameds! Den Ersten, der weicht, haue ich in Stücke!«
Die Soldaten, die zwischen den Profoß und die Mutter gestellt, von beiden Seiten bedroht waren, schwankten einen Augenblick, dann gingen sie entschlossen auf das Rattenloch los.
Als die Klausnerin das sah, richtete sie sich plötzlich auf ihren Knien auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht, und ließ darauf ihre magern und wundgeriebenen Hände auf ihre Schenkel niedersinken. Jetzt rollten dicke Thränen eine nach der andern aus ihren Augen; sie flossen in einer Falte über ihre Backen herab, wie ein Sturzbach in dem Bette, das er sich ausgehöhlt hat. Zugleich begann sie zu sprechen, aber mit einer so flehenden, so sanften, so demüthigen und eindringlichen Stimme, daß in Tristans Umgebung mehr als ein alter Haudegen, der Menschenfleisch verschlungen haben würde, sich die Augen trocknete.
»Gnädige Herren! meine Herren Häscher, ein Wort! Es ist etwas, was ich euch erzählen muß. Das ist meine Tochter, seht ihr? Meine theuere kleine Tochter, die ich verloren hatte! Höret mich an. Es ist eine Geschichte. Stellt euch vor, daß ich die Herren Häscher sehr gut kenne. Sie sind immer gütig gegen mich zu der Zeit gewesen, als die kleinen Knaben mit Steinen nach mir warfen, weil ich ein Liebesleben führte. Seht ihr? ihr werdet mir mein Kind lassen, wenn ihr das wißt! Ich bin ein armes Freudenmädchen. Die Zigeunerinnen haben sie mir gestohlen. Selbst ihren Schuh habe ich fünfzehn Jahre lang aufgehoben. Sehet, da ist er, solch einen Fuß hatte sie. In Reims, die Chantefleurie! In der Straße Folle-Peine! Ihr habt sie vielleicht gekannt. Das war ich. In euerer Jugend, damals war eine schöne Zeit, man verlebte schöne Augenblicke. Ihr werdet Mitleid mit mir haben, nicht wahr, gnädige Herren? Die Zigeunerinnen haben sie mir gestohlen; sie haben sie mir fünfzehn Jahre lang verheimlicht. Ich hielt sie für todt. Stellt euch vor, meine lieben Freunde, daß ich sie für todt hielt. Ich habe fünfzehn Jahre hier verlebt in diesem Keller, den Winter ohne Feuer. Es ist hart, das. Der arme liebe kleine Schuh! Ich habe so lange geschrien, bis der liebe Gott mich erhört hat. Heute Nacht hat er mir meine Tochter wiedergegeben. Es ist ein Wunder des lieben Gottes. Sie war nicht todt. Ihr werdet sie mir nicht nehmen, ich bin dessen sicher. Wenn ich es noch wäre, wollte ich nichts einwenden; aber sie, ein Kind von sechzehn Jahren! Lasset ihr Zeit, die Sonne zu sehen! … Was hat sie euch gethan? Gar nichts. Ich auch nicht. Wenn ihr wüßtet, daß ich nur sie habe, daß ich alt bin, daß es ein Segen ist, den mir die Heilige Jungfrau schickt! Und dann seid ihr alle ja so gut! Ihr wußtet nicht, daß es meine Tochter ist; jetzt wißt ihr es. Ach! ich habe sie lieb! Gewaltiger Herr Profoß, ich möchte lieber ein Loch in meinem Herzen haben, als eine Schramme an ihrem Finger sehen! Ihr habt das Aussehen eines gütigen Herrn! Was ich Euch da sage, erklärt Euch die Sache, nicht wahr? Oh! wenn Ihr eine Mutter gehabt habt, gnädiger Herr! Ihr seid der Hauptmann, laßt mir mein Kind! Bedenket, daß ich Euch auf den Knien bitte, wie man zu Jesu Christo betet! Ich verlange von niemandem etwas; ich bin von Reims, gnädige Herren; ich habe ein kleines Feld von meinem Onkel Mahiet Pradon. Ich bin keine Bettlerin, ich mag nichts, aber ich will mein Kind! Ach! ich will mein Kind behalten! Der liebe Gott, welcher der Herr über Alles ist, hat es mir nicht umsonst wiedergegeben! Der König! Ihr sagt, der König! Das wird ihm doch nicht viel Vergnügen machen, daß man meine kleine Tochter tödtet! Und dann ist der König gütig! Es ist meine Tochter! es ist meine Tochter, meine eigene! Sie gehört nicht dem Könige! sie gehört nicht euch! Ich will fort von hier! Wir wollen beide fort von hier! Mit einem Worte: zwei Frauen, welche fortziehen, von denen eine die Mutter, die andere die Tochter ist, die läßt man ziehen! Laßt uns ziehen! Wir sind von Reims. Ach! ihr seid sehr gütig! Meine Herren Häscher, ich habe euch alle lieb. Ihr könnt mir meine liebe Kleine nicht nehmen, das ist unmöglich! Nicht wahr, das ist durchaus unmöglich! Mein Kind! mein Kind!«
Wir wollen es nicht versuchen, eine Vorstellung zu geben von ihrer Geberde, von dem Ausdrucke ihrer Worte, von den Thränen, die sie beim Sprechen schluckte, von den gefalteten und gerungenen Händen, von dem herzzerreißenden Lachen, von den nassen Blicken, von dem Wimmern und den Seufzern, von dem kläglichen und ergreifenden Geschrei, das sie in ihre unmäßigen, wahnwitzigen und zusammenhangslosen Worte mengte. Als sie schwieg, runzelte Tristan l’Hermite die Stirn, um eine Thräne zu verbergen, die in sein Tigerauge trat. Er überwand jedoch diese Schwäche, und sagte in kurzem Tone:
»Der König will es.«
Dann neigte er sich zu Henriet Cousins Ohre und sagte ganz leise:
»Mach schnell ein Ende!« Der furchtbare Profoß fühlte vielleicht, daß es auch ihm schwach ums Herz wurde.
Der Henker und Häscher drangen in die Zelle ein. Die Mutter leistete gar keinen Widerstand; sie schleppte sich nur nach ihrer Tochter hin, und warf sich mit Ungestüm über sie her. Die Zigeunerin sah die Soldaten hereintreten. Das Entsetzen vor dem Tode belebte sie wieder:
»Meine Mutter!« rief sie mit einem Tone fürchterlicher Seelenangst, »meine Mutter! sie kommen! vertheidige mich!«
»Ja, meine Liebe, ich vertheidige dich!« antwortete die Mutter mit tonloser Stimme; und während sie sie fest in ihre Arme preßte, bedeckte sie sie mit Küssen. Alle beide, Mutter und Tochter, die so auf dem Boden lagen, boten einen erbarmungswürdigen Anblick.
Henriet Cousin faßte das junge Mädchen unter ihren schönen Schultern mitten um den Leib. Als sie diese Hand spürte, stieß sie ein »Wehe!« aus und fiel in Ohnmacht. Der Henker, welcher eine dicke Thräne nach der andern auf sie herabfließen ließ, wollte sie in seinen Armen wegtragen. Er versuchte die Mutter loszureißen, die ihre beiden Hände gleichsam um den Gürtel ihrer Tochter ineinandergeknotet hatte; aber sie hatte sich so außerordentlich an ihr Kind festgeklammert, daß es unmöglich war, sie davon zu trennen. Henriet Cousin zerrte das junge Mädchen nun aus der Zelle heraus und die Mutter hinter ihr her. Die Mutter hatte ihre Augen gleichfalls geschlossen.
In diesem Augenblicke hob sich die Sonne über den Horizont, und auf dem Platze war schon ein ziemlich zahlreicher Volkshaufen versammelt, der in der Entfernung mit ansah, was man so über den Boden weg nach dem Galgen hin schleppte. Denn das war die Art und Weise des Profoßes Tristan bei öffentlichen Hinrichtungen. Er hatte die fixe Idee, die neugierigen Gaffer fernzuhalten.
An den Fenstern war niemand zu erblicken. Man sah nur in der Ferne, an demjenigen auf der Höhe der Notre-Damethürme, welches die Aussicht auf den Grèveplatz eröffnet, zwei dunkel am lichten Morgenhimmel sich abhebende Männer, welche zuzusehen schienen.
Henriet Cousin hielt mit dem, was er hinter sich herzerrte, am Fuße der verhängnisvollen Leiter an, und fast athemlos – so sehr hatte der Vorgang ihn in Mitleid versetzt – schlang er den Strick um den entzückenden Hals des jungen Mädchens. Das unglückselige Kind empfand die fürchterliche Umschlingung des hanfenen Strickes. Sie schlug die Augenlider auf und sah den dürren Arm des steinernen Galgens über ihrem Kopfe ausgestreckt. Sie wurde da von einem Schauder geschüttelt und schrie mit lauter und herzzerreißender Stimme: »Nein! nein! ich will nicht!« Die Mutter, deren Kopf in den Kleidern ihrer Tochter vergraben und versteckt war, sprach kein Wort; man sah nur ihren ganzen Körper beben und hörte sie ihre Küsse an ihrem Kinde verdoppeln. Der Henker benutzte diesen Augenblick, um schnell die Arme loszumachen, mit denen sie die Verurtheilte umklammert hielt. War es Erschöpfung oder war es Verzweiflung, sie ließ ihn machen. Dann nahm er das junge Mädchen auf seine Schulter, von der das reizende Wesen gebrochen über seinen breiten Kopf zurücksank. Nun setzte er den Fuß auf die Leiter, um hinaufzusteigen.
In diesem Augenblicke öffnete die auf dem Boden hockende Mutter plötzlich die Augen. Ohne einen Schrei auszustoßen, richtete sie sich mit einem fürchterlichen Gesichtsausdrucke auf; dann stürzte sie sich, wie ein Thier auf seine Beute, auf die Hand des Henkers und biß hinein. Das war wie ein Blitzstrahl. Der Henker heulte vor Schmerz auf. Man eilte herbei und riß mit Mühe seine blutende Hand aus den Zähnen, der Mutter heraus. Sie beharrte in tiefem Schweigen. – Man stieß sie ziemlich heftig zurück, und beobachtete, wie ihr Kopf schwer auf den Boden niederschlug; man richtete sie wieder auf, sie ließ sich von neuem niedersinken. Sie war nämlich todt.
Der Henker, welcher das junge Mädchen nicht losgelassen hatte, begann die Leiter hinaufzusteigen.