Cosette konnte nicht umhin von der Seite noch einen Blick auf die große Puppe zu werfen, die noch immer bei dem Spielzeughändler ausgestellt war. Dann klopfte sie. Die Thür öffnete sich. Die Thenardier erschien mit einem Lichte in der Hand.

»Ach, Du bist es, kleine Bettlerin? Du bist gar nicht lange geblieben! Sie wird gespielt haben, die Spitzbübin!«

»Madame,« fiel Cosette zitternd ein, »da ist ein Herr, der hier übernachten möchte.«

Die Thenardier nahm plötzlich statt ihrer barschen Miene ihre liebenswürdige Grimasse an, jene den Wirthen eigenthümliche Gesichtsveränderung, und sah sich gierig nach dem Angekommenen um.

»Ist das der Herr?« fragte sie.

»Ja, Madame,« antwortete der Mann, indem er mit der Hand seinen Hut berührte.

Die reichen Reisenden sind nicht so höflich. Jene Handbewegung, so wie die Musterung des Anzuges und des Gepäcks des Fremden, welchen die Thenardier mit einem einzigen Blick des Auges Revüe passiren ließ, ließen sofort die liebenswürdige Grimasse verschwinden und die mürrische Miene wieder erscheinen. Trocken fuhr sie fort:

»Treten Sie ein, guter Mann.«

Der »gute Mann« trat ein. Die Thenardier bettachtete ihn nochmals, musterte besonders seinen Rock, der ganz und gar abgeschabt war und seinen ein Wenig zerdrückten Hut. Mit einer gewissen Kopfbewegung, einem Naserümpfen und Augenblinzeln schien sie ihren Mann um seine Meinung zu fragen, welcher noch immer bei den Fuhrleuten saß und trank. Der Mann antwortete mit jener unmerklichen Daumenbewegung, die in Verbindung mit einem gewissen Anschwellen der Lippen in solchem Falle bedeutet: »ganz arm«. Darauf rief die Thenardier:

»Guter Mann, es thut mir leid, aber ich habe keinen Platz mehr.«

»Placiren Sie mich, wohin Sie wollen,« antwortete er, »auf den Boden, in den Stall. Ich bezahle so viel, wie für ein Zimmer.«

»Vierzig Sous?«

»Gut! Vierzig Sous.«

»Dann ist’s gut.«

»Vierzig Sous?« fragte ein Fuhrman leise die Thenardier; »es macht ja nur zwanzig.«

»Für ihn vierzig«, antwortete sie in demselben Tone. »Für weniger nehme ich Arme nicht auf.«

»Wirklich«, fügte er, der Thenardier, mit einer gewissen Milde hinzu: »Man verdirbt sich sein Haus, wenn man solches Volk aufnimmt.«

Unterdeß hatte sich der Mann, nachdem er Packet und Stock auf eine Bank gelegt, an einen Tisch gesetzt, wohin Cosette sich beeilte ihm eine Flasche Wein nebst einem Glase zu bringen. Der Kaufmann, der den Eimer mit Wasser verlangt hatte, war hinausgegangen, um ihn seinem Pferde selbst zu bringen. Cosette hatte ihren Platz unter dem Küchentische wieder ein-, so wie ihren Strumpf wieder zur Hand genommen.

Der Mann, welcher kaum die Lippen in dem Glase benetzt hatte, das er sich eingeschenkt, beobachtete das Kind mit einer sonderbaren Aufmerksamkeit.

Cosette war häßlich. Wäre sie glücklich gewesen, so würde sie vielleicht hübsch gewesen sein. Wir haben bereits eine Skizze dieser traurigen Gestalt entworfen. Sie war fast acht Jahre alt, sah aber kaum wie sechs Jahr alt aus, so mager und bleich war sie. Ihre großen Augen, welche wie im Schatten eingegraben in ihrem Kopfe lagen, waren in Folge von vielem Weinen fast erloschen. Ihre Mundwinkel hatten jenen Zug stehender Angst, welchen man bei Verurtheilten und hoffnungslosen Kranken findet. Die Hände hatte sie, wie ihre Mutter errathen, »voller Frostbeulen.« Das Feuer, welches sie in diesem Augenblick beschien, ließ die Ecken ihrer Knochen noch mehr heraustreten und gab ihrer Hagerkeit ein scheußliches Aussehen. Da sie immer fror, so drückte sie gewöhnlich die beiden Knie an einander. Ihre ganze Kleidung war ein Lumpen, der im Sommer Bedauern erregt haben würde, im Winter aber geradezu Schrecken einflößte. Sie trug nur zerrissenes Leinenzeug, nicht einen einzigen wollenen Lumpen. Hier und da sah man ihre Haut und bemerkte überall blaue oder schwarze Flecke, welche die Stellen bezeichneten, wo die Thenardier sie berührt hatte. Ihre nackten Beine waren roth und dünn. Der Anblick der Einsendung an den Schlüsselbeinen hätte zu Thränen rühren können. Die ganze Person dieses Kindes, ihre Haltung, ihr Gang, der Ton ihrer Stimme, die Pausen zwischen dem einen Worte und dem andern, ihr Blick, ihr Schweigen, ihre geringste Geberde drückten aus und übersetzten eine einzige Vorstellung: Furcht.

Das Gefühl der Furcht war über ihre ganze Person ausgebreitet, sie war davon, so zu sagen, bedeckt. Die Furcht zog ihre Ellenbogen gegen die Hüften, zog ihre Fersen unter das Röckchen zurück, hieß ihr so wenig als möglich Platz einnehmen, ließ ihr nur den allernöthigsten Athem und war, wie man sagen könnte, die Gewohnheit ihres Körpers geworden. Nur eine Aenderung kannte diese Gewohnheit: sich noch immer mehr fürchten. In der Tiefe ihrer Pupille lag ein Winkelchen und in diesem lauerte der Schrecken.

Ihre Furcht war so groß, daß sie, obgleich ganz naß zurückgekommen, nicht wagte, an dem Feuer sich zu trocknen, sondern schweigend ihre Arbeit aufnahm.

Der Blick dieses achtjährigen Kindes sah gewöhnlich so düster und bisweilen so tragisch aus, daß es auf Augenblicke schien, als würde sie blödsinnig oder ein Teufel werden.

Nie hatte sie, wie wir schon bemerkten, erfahren, was Beten heißt, niemals hatte sie mit einem Fuß eine Kirche betreten.

»Habe ich denn Zeit?« sagte die Thenardier.

Der Mann im gelben Rocke ließ Cosette nicht aus den Augen.

Mit einem Male rief die Thenardier:

»Nun? Und das Brod?«

Cosette eilte, wie sie immer that, wenn die Thenardier ihre Stimme erhob, schleunigst unter dem Tische hervor. Das Brod hatte sie gänzlich vergessen. Sie griff zu dem gewöhnlichen Auskunftsmittel derjenigen Kinder, welche stets in Angst gehauen werden: sie log.

»Madame, der Bäcker hatte schon geschlossen.«

»Du hättest anpochen sollen.«

»Ich habe gepocht, Madame.«

»Nun?«

»Er hat nicht geöffnet.«

Ich werde mich morgen erkundigen, ob es wahr ist,« sagte hie Thenardier »und wenn Du lügst, setzt es einen Tanz, Mittlerweile gieb das Funfzehn-Sous-Stück wieder her!«

Cosette steckte die Hand in ihre Schürzentasche und wurde grün. Das Geldstück war nicht mehr darin.

»Nun, hast Du gehört?«

Cosette wendete die Tasche um. Es war nichts darin. Was konnte aus dem Gelde geworden sein? Die unglückliche Kleine fand kein Wort. Sie stand wie versteinert da.

»Hast Du das Geld verloren?« keuchte die Frau. »Oder willst Du mir es stehlen?«

Gleichzeitig griff sie nach der Strickpeitsche, welche beim Kamine hing.

Diese furchtbare Handbewegung gab Cosetten die Kraft auszurufen:

»Gnade, Madame! Madame, ich will’s nicht wieder thun.«

Die Thenardier nahm die Peitsche herunter.

Unterdeß hatte der Mann im gelben Rocke in seiner Westentasche gesucht, ohne daß man die Bewegung bemerkte. Freilich tranken die andern Reisenden oder spielten Karten und achteten auf nichts:

Cosette kauerte sich angstvoll in der Kaminecke zusammen und suchte ihre armen halbnackten Glieder zusammenzuziehen, und den Schlägen zu entziehen. Die Thenardier erhob den Arm.

»Verzeihen Sie, Madame,« sagte der Mann, »ich habe so eben etwas aus der Schürzentasche der Kleinen fallen sehen, das hierher rollte. Vielleicht ist es das Geld.«

Zugleich bückte er sich und schien einen Augenblick am Boden zu suchen.

»Richtig, da liegt es,« setzte er hinzu, indem er sich wieder aufrichtete.

Er reichte der Thenardier ein Geldstück hin.

»Ja, das ist es,« sagte sie.

Es war es nicht, denn es war ein Zwanzigsousstück, die Thenardier aber fand Gewinn dabei. Sie steckte das Geld in ihre Tasche und begnügte sich einen wilden Blick auf das Kind zu werfen, wobei sie sagte:

»Daß das nicht wieder geschieht.«

Cosette kroch in ihre »Nische« zurück, wie die Thenardier es nannte. Ihre großen Augen, die sich unverwandt auf den unbekannten Reisenden richteten, nahmen einen Ausdruck an, den sie noch nicht gehabt hatten. Es war ein naives Erstaunen, in welches sich verdutztes Zutrauen mischte.

»Wollen Sie zu Abend speisen?« fragte die Thenardier den Fremden.

Er antwortete nicht. Er schien in tiefe Gedanken versunken zu sein.

»Was ist’s mit diesem Manne?« murmelte sie vor sich hin. »Ein schrecklicher Armer! Er hat nicht einmal einen Sous zum Abendbrod. Wird er mir nur mein Logis bezahlen? Ein Glück, daß es ihm nicht einfiel, das Geldstück vom Boden zu stehlen.«

Mittlerweile hatte sich eine Thür geöffnet und Eponine und Azelma waren eingetreten.

Es waren wirklich zwei hübsche kleine Mädchen, mehr städtisch als dörflich, reizend, die eine mit glänzenden braunen Flechten, die andere mit langen schwarzen Zöpfen, welche längs des Rückens herabfielen, beide lebhaft, proper, fleischig, frisch und gesund, daß es Einen freute, wenn man sie ansah. Sie waren warm gekleidet und mit solcher mütterlicher Kunst, daß die Dicke des Stoffes die Coquetterie des Anzuges nicht beeinträchtigte. Es war für den Winter gesorgt, ohne daß das Frühjahr unterdrückt war. Licht und Helle lag in ihnen. Sie waren die Herrscher im Hause. In ihrem Anzüge in ihrer Heiterkeit, in dem Lärm, den sie machten, lag Souveränität. Als sie eintraten, sagte die Thenardier in einem Tone, welcher grollend war, aber doch zugleich die Vergötterung der Mutter ausdrückte:

»Ha, da seid Ihr also!«

Dann zog sie eine nach der anderen zwischen ihre Knie, glättete ihnen das Haar, zupfte die Bänder zurecht und ließ sie darauf mit jener süßen Art zu schütteln wieder los, welche den Müttern eigenthümlich ist.

»Seid Ihr liederlich!« rief sie.

Sie setzten sich in die Ecke beim Heerd. Sie hatten eine Puppe, welche sie auf ihren Knieen hin- und herwendeten und dabei allerlei lustiges Zeug plauderten. Von Zeit zu Zeit blickte Cosette von ihrem Strickstrumpf auf und sah betrübt ihrem Spiele zu.

Eponine und Azelma sahen nach Cosetten gar nicht hin. Sie war für sie so viel als ein Hund. Diese drei kleinen Mädchen zahlten zusammen nicht vierundzwanzig Jahre und repräsentirten schon die ganze menschliche Gesellschaft: auf der einen Seite Neid, auf der andern Verachtung.

Die Puppe der Schwestern war sehr verschossen, sehr alt und zerdrückt, kam aber nichtsdestoweniger Cosetten bewunderungswürdig vor, welche in ihrem ganzen Leben noch keine Puppe gehabt hatte, eine »wirkliche Puppe«, um uns eines Ausdrucks zu bedienen, den alle Kinder verstehen werden.

Mit einem Male bemerkte die Thenardier, welche im Zimmer hin und herging, daß Cosette, statt zu arbeiten, zerstreut war und sich mit den Kleinen, welche spielten, beschäftigte.

»Ha! Ertappe ich Dich!« rief sie. »So arbeitest Du also! Ich werde Dich bald mit der Peitsche arbeiten lehren!«

Der Fremde wendete sich, ohne von dem Stuhle aufzustehen, an die Thenardier:

»Madame,« sagte er mit einem beinahe furchtsamen Lächeln; »lassen Sie sie spielen.«

Von Seiten jedes andern Reisenden, der ein Stück Schöpsenkeule gegessen und zum Abendbrod zwei Flaschen Wein getrunken, auch nicht ein so abscheulich armseliges Aussehen gehabt, wäre ein ähnlicher Wunsch Befehl gewesen. Aber daß ein Mann mit einem solchen Hute sich erlaubte, einen Wunsch zu haben, daß ein Mann in einem solchen Rocke einen Willen zu haben sich unterstand, das glaubte die Thenardier nicht dulden zu dürfen. Aergerlich antwortete sie:

»Sie muß arbeiten, weil sie ißt. Zum Faullenzen füttere ich sie nicht.«

»Was hat sie denn zu thun?« fragte der Fremde weiter mit jener sanften Stimme, welche in so seltsamem Gegensatz zu seinen Bettlermanieren und seinen breiten Lastträgerschultern stand.

»Strümpfe zu stricken, wenn Sie erlauben,« geruhte die Thenardier zu antworten, »Strümpfe für meine Mädchen, welche keine mehr haben und bald barfuß werden gehen müssen.«

Der Mann betrachtete die rothen Beine Cosettens und fuhr fort:

»Wann wird sie mit diesem Paar Strümpfe fertig werden?«

»Die Faullenzerin hat wenigstens noch drei bis vier ganze Tage daran zu arbeiten.«

»Und wie viel ist das Paar Strümpfe werth, wenn es fertig ist?«

Die Thenardier warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Wenigstens dreißig Sous.«

»Gäben Sie es für fünf Francs?« fragte der Mann weiter.

»Donnerwetter!« rief mit lautem Lachen ein Fuhrmann, der zuhörte. »Fünf Francs! Ich glaube gar! Donnerwetter! Fünf Francs!«

Jetzt glaubte Thenardier das Wort ergreifen zu müssen.

»Ja wohl, mein Herr, wenn Sie dieses Paar Strümpfe haben wollen, so sollen Sie dieselben für fünf Francs erhalten. Wir dürfen den Reisenden nichts abschlagen.«

»Es muß aber gleich bezahlt werden,« setzte die Frau in ihrer kurzen, peremptorischen Art hinzu.

»So kaufe ich dieses Paar Strümpfe,« antwortete der Mann, »und bezahle sie;« setzte er hinzu«, indem er ein Fünffrancstück aus der Tasche nahm und es auf den Tisch legte. Dann wendete er sich zu Cosette:

»Nun ist Deine Arbeit mein. Spiele, mein Kind.«

Der Fuhrmann war von dem Fünffrancstück so aufgeregt, daß er sein Glas stehen ließ und hinzutrat.

»Es ist wirklich ächt!« rief er, indem er es prüfend betrachtete; »es ist nicht falsch!«

Thenardier trat hin und steckte stillschweigend das Geld in seine Tasche.

Sie, die Thenardier, wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie biß sich auf die Lippen und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck des Hasses an.

Cosette zitterte zwar, wagte aber doch zu fragen:

»Ist es wahr, Madame? Darf ich spielen?«

»Spiele!« sagte die Thenardier in schrecklichem Tone.

»Ich danke, Madame,« sagte Cosette. Und, während ihr Mund der Frau dankte, dankte ihre ganze kleine Seele dem Fremden.

Thenardier hatte sich wieder zum Trinken hingesetzt. Seine Frau flüsterte ihm ins Ohr:

»Was kann der gelbe Mann wohl sein?«

»Ich habe,« antwortete Thenardier in überlegenem Tone, »ich habe Millionäre in solchen Röcken gesehen.«

Cosette hatte ihren Strickstrumpf hingelegt, sich aber von ihrem Platz nicht weggerührt. Sie rührte sich immer so wenig wie möglich. Aus einem Kasten hinter ihr hatte sie einige alte Lumpen und ihren kleinen bleiernen Säbel herausgenommen.

Eponine und Azelma achteten auf nichts von dem, was vorging. Sie hatten so eben etwas sehr Wichtiges unternommen, sie hatten sich der Katze bemächtigt. Die Puppe hatten sie auf die Erde geworfen. Eponine, die Aeltere, wickelte das Kätzchen, trotz seines Miauens und Sträubens, in eine Menge rother und blauer Fleckchen ein. Während dieser ernsten und schwierigen Arbeit sagte sie zu ihrer Schwester in der so süßen, anbetungswürdigen Sprache der Kinder, deren Anmuth ähnlich dem Glanz des Flügels der Schmetterlings verschwindet, sobald man ihn festhalten will:

»Siehst Du, Schwester, diese Puppe ist unterhaltender als die andere. Sie bewegt sich, sie schreit, sie ist warm. Mit der wollen wir spielen. Sie kann mein kleines Töchterchen sein. Ich bin eine Dame und komme mit ihm zu Dir zum Besuch. Du besiehst das Kind. Da siehst Du, daß es einen Schnurrbart hat und wunderst Dich. Dann siehst Du die Ohren und den Schwanz und wunderst Dich wieder. Da sagst Du zu mir: »Ach, mein Gott!« und ich sage: »Ja, Madame, meine Kleine ist so. Die kleinen Kinder sehen jetzt so aus.«

Azelma hörte Eponine mit Verwunderung an.

Unterdeß hatten die trinkenden Gäste ein obscönes Lied angestimmt, worüber sie lachten, daß die Decke zitterte. Thenardier ermuthigte und begleitete sie.

Wie die Vögel ihr Nest aus Allem bauen, machen die Kinder aus den unbedeutendsten Dingen eine Puppe. Während Eponine und Azelma das Kätzchen einwickelten, wickelte Cosette ihrerseits ihren Säbel ein. Dann legte sie denselben auf ihren Arm schlafen und sang, um ihn einzuschläfern.

Die Puppe ist eines der dringendsten Bedürfnisse und zugleich die Aeußerung des reizendsten Triebes der weiblichen Kindheit. Das Pflegen, Anziehen, Anputzen, Ankleiden, Auskleiden, Wiederankleiden, Belehren, Ausschelten, Wiegen, Einschläfern, Verzärteln, das ist die Zukunft des Weibes. In diesem Traum und Geplauder, unter dem Nähen der kleinen Ausstattungen, Schürzen, Kleider, Mieder und dergleichen wird das Kind ein kleines Mädchen, aus dem kleinen wird ein großes Mädchen und aus dem großen Mädchen eine Frau. Ihr erstes Kind ist die Fortsetzung ihrer letzten Puppe.

Ein kleines Mädchen ohne Puppe ist fast so unglücklich und grade ebenso unmöglich, wie eine Frau ohne Kinder.

Cosette hatte sich also aus dem Säbel eine Puppe gemacht.

Die Frau Thenardier war zu dem »Gelben« getreten. Sie dachte bei sich: »Mein Mann hat Recht; Vielleicht ist’s Herr Lafitte. Es giebt ja so närrische reiche Leute.«

Sie stemmte sich an seinem Tische auf.

»Mein Herr,« sagte sie.

Bei dem Worte »mein Herr« wendete sich der Mann um. Bis dahin hatte ihn die Thenardier nur »guter Mann« genannt.

»Sehen Sie, mein Herr;« fuhr sie fort, indem sie ihre süßliche Miene annahm, welche einen noch widerwärtigeren Eindruck machte, als ihr rauhes Wesen, »ich lasse das Kind gern spielen, ich habe nichts dagegen, aber das geht jetzt einmal, weil Sie so freigebig sind. Sehen Sie, sie hat nichts. Sie muß arbeiten.«

»Es ist also nicht Ihr Kind?« fragte der Mann.

»Ach, mein Gott, nein, mein Herr! Wir haben die arme Kleine nur aus Barmherzigkeit aufgenommen. Sie ist beinahe blödsinnig, sie wird wohl Wasser im Kopf haben. Sie hat auch einen dicken Kopf, wie Sie sehen. Wir thun für sie was wir können, denn wir sind nicht reich. Es nützt uns nichts, wenn wir auch in ihre Heimat schreiben, seit einem halben Jahre bekommen wir keine Antwort mehr. Wahrscheinlich ist ihre Mutter gestorben.«

»Ach!« antwortete der Mann und versank wieder in seine Träumerei.

»Viel ist an der Mutter auch nicht gewesen,« setzte die Frau hinzu. »Sie ließ ihr Kind im Stich.«

Während dieser Unterhaltung hatte Cosette, als wenn der Instinkt ihr sage, daß man von ihr spreche, die Augen von der Thenardier nicht abgewendet. Sie horchte und verstand hier und da ein paar Worte.

Indeß wiederholten die Trinkenden, die alle drei Viertel betrunken waren, mit doppelter Lust den schmutzigen Refrain. Die Thenardier lachte mit. Cosette, welche unter dem Tische saß, sah in das Feuer, das sich in ihren stieren Augen spiegelte. Sie hatte wieder angefangen, ihr Wickelkind zu wiegen, und dabei sang sie leise: »Meine Mutter ist todt! Meine Mutter ist todt! Meine Mutter ist todt!«

Auf das wiederholte Andrängen der Wirthin willigte der gelbe Mann, »der Millionär«, endlich ein, zum Abend zu essen.

»Was wünscht der Herr?«

»Brod und Käse,« sagte der Mann.

»Er ist doch ein Bettler,« dachte die Thenardier.

Die Betrunkenen sangen immer noch ihr Lied und das Kind unter dem Tische sang das seinige. Mit einem Male aber unterbrach sich Cosette. Sie hatte sich umgedreht und die Puppe bemerkt, welche die kleinen Thenardiers wegen der Katze hatten fallen lassen und welche einige Schritte vom Küchentisch auf der Erde lag. Da ließ sie ihren eingewickelten Säbel fallen, der sie nur halb befriedigte, und sah sich langsam rings in der Stube um. Die Thenardier sprach leise mit ihrem Manne und zählte Geld; Ponine und Azelma spielten mit der Katze; die Reisenden aßen oder tranken oder sangen, Niemand achtete auf sie. Sie hatte keinen Augenblick zu verlieren. Sie kroch unter dem Tische hervor, kroch auf Knieen und Händen, überzeugte sich noch einmal, daß sie unbeachtet sei, schob dann schnell zur Puppe und ergriff sie. Im nächsten Augenblicke saß sie wieder auf ihrem Platze. Unbeweglich saß sie da und zwar mit ihrem Rücken so gewendet, daß die Puppe, welche sie auf dem Arme hatte, ganz im Schatten verborgen war. Das Glück mit einer Puppe zu spielen war für sie etwas so seltenes, daß sie dabei eine wahre Wollust empfand.

Niemand hatte sie gesehen, als der Fremde, der langsam seine magere Suppe verzehrte.

Die Freude dauerte etwa eine Viertelstunde.

Welche Vorsicht Cosette aber auch gebrauchte, so bemerkte sie doch nicht, daß das eine Bein der Puppe hervorguckte und das Feuer des Kamins es beschien. Dieses helle rothe Bein, welches aus dem Schatten hervorragte, traf plötzlich der Blick Azelma’s, welche zu Eponine sagte:

»Siehe nur Schwester!«

Die beiden kleinen Mädchen hielten erstaunt in ihrem Spiel inne, Cosette hatte sich erdreistet, sich ihre Puppe zu nehmen!

Eponine stand auf, ging, ohne die Katze loszulassen, zu ihrer Mutter und zupfte sie am Kleide.

»So laß mich doch!« sagte die Mutter. »Was willst Du denn von mir?«

Mutter,« sagte das Kind, »sieh nur!«

Dabei zeigte sie mit dem Finger auf Cosette.

Diese aber, ganz entzückt über ihren Besitz, sah und hörte nichts mehr.

Das Gesicht der Thenardier nahm jenen eigenthümlichen Ausdruck au, welcher aus dem Schrecklichen besteht in Verbindung mit den Nichtigkeiten des Lebens und welcher Veranlassung giebt, solche Weiber Megären zu nennen.

Diesmal steigerte der verletzte Stolz noch ihren Zorn. Cosette hatte alle Schranken überstiegen, sie hatte gegen die Puppe »der Demoiselles« ein Attentat gewagt. Eine russische Kaiserin, welche sähe, das ein Muschick das große blaue Ordensband ihres kaiserlichen Sohnes sich umlegte, würde nicht anders aussehen.

Mit einem vor Wuth heiseren Tone rief sie:

»Cosette!«

Cosette zitterte als wenn die Erde unter ihr gebebt hätte. Dann sah sie sich um.

»Cosette!« wiederholte die Thenardier.

Cosette nahm die Puppe und legte sie mit einer Art mit Verzweiflung gemischter Verehrung leise auf den Boden. Dann faltete sie, ohne die Augen von der Puppe abzuwenden, die Hände und, was bei einem Kinde von diesem Alter schrecklich zu sagen ist, überbrach sie sich. Darauf weinte sie. Kein Vorgang an diesem Tage, nicht der Weg im Walde, nicht die Schwere des Eimers, nicht das Verlieren des Geldes, nicht der Anblick der Peitsche hatte sie zum weinen bringen können. Jetzt weinte, jetzt schluchzte sie.

Der Fremde war aufgestanden.

»Was giebts?« fragte er die Thenardier.

Sehen Sie es denn nicht?« antwortete diese, indem sie mit dem Finger das corpus delicti, die Puppe zeigte, welche zu den Füßen Cosettens lag.

»Nun, was ist denn?«

»Diese Bettlerin,« antwortete die Thenardier, »hat sich erdreistet, die Puppe der Kinder anzugreifen.«

»Deßhalb all dieser Lärm!« sagte der Mann. »Was ist denn dabei, wenn sie mit der Puppe spielt?«

»Sie hat sie mit ihren schmutzigen Händen angefaßt;« fuhr die Thenardier fort, »mit ihren abscheulichen Händen.«

Cosette schluchzte noch stärker.

»Willst Du still sein!« schrie die Thenardier.

Der Mann ging grade auf die nach der Straße führenden Thür zu, machte sie auf und ging hinaus.

Sobald er fort war, benutzte die Thenardier seine Abwesenheit und versetzte der unter dem Tisch sitzenden Cosette einen Fußtritt, daß sie laut aufschrie.

Die Thür öffnete sich wieder, der Mann kam zurück, trug in beiden Händen die fabelhafte Puppe, von der wir gesprochen haben und die vom frühen Morgen an von allen Kindern des Dorfes betrachtet worden war, stellte sie vor Cosette und sagte:

»Da, sie ist Dein.«

Er mußte die erleuchtete Spielwaarenbude seit der Stunde, während welcher er sich auf seinem Platz in der Kneipe befand, von hier aus mitten in seinen Träumereien durch das Fenster bemerkt haben.

Cosette schlug die Augen auf. Sie sah den Mann mit der Puppe auf sich zukommen als käme die Sonne zu ihr; sie hörte die unglaublichen Worte »sie ist Dein!« Sie sah den Mann, dann die Puppe an und wich langsam zurück, sie verkroch sich ganz unter dem Tische in der Mauerecke. Sie weinte nicht mehr, sie sprach nicht, sie sah aus als wage sie nicht zu athmen.

Die Thenardier, Eponine und Azelma waren ebenfalls erstaunt.

Selbst die Trinkenden machten eine Pause.

In dem ganzen Hause trat eine feierliche Stille ein.

Die Thenardier, stumm und versteinert, begann ihre Muthmaßungen wieder: »Was ist der Alte? Ein Armer? Ein Millionär? Vielleicht beides, das heißt ein Spitzbube.«

Auf dem Gesichte des Mannes der Thenardier erschien jene ausdrucksvolle Falte, welche das menschliche Gesicht jedesmal bezeichnet, wenn der vorherrschende Instinkt mit seiner ganzen bestialischen Gewalt herantritt. Der Wirth betrachtete wechselsweise die Puppe und den Fremden; Er schien nach dem Manne zu wittern, wie nach einem Geldsacke. Dies dauerte aber nur so lange, wie etwa ein Blitz. Er trat zu seiner Frau und sagte leise zu ihr:

»Das Ding kostet wenigstens dreißig Franks. Keine Dummheiten! Hübsch artig gegen den Mann.«

Die rohen Naturen haben mit den naiven das gemeinsam, daß sie keine Uebergänge kennen.

»Nun Cosette,« sagte die Thenardier mit einer Stimme, welche sanft sein sollte, aber ganz aus dem bitteren Honig der bösen Weiber zusammengesetzt war.

»Willst Du denn Deine schöne Puppe nicht nehmen?«

Cosette wagte aus ihrem Loch herauszukommen.

»Cosettchen,« sagte Thenardier mit schmeichelnder Geberde, »der Herr schenkt Dir eine Puppe. Nimm sie, sie ist Dein.«

Cosette betrachtete die Puppe mit einer gewissen Scheu. Ihr Gesicht war noch von Thränen überströmt, ihre Augen aber begannen sich zu füllen mit seltsamen Strahlen der Freude, wie der Himmel in der Dämmerung des Morgens. Was sie in diesem Augenblicke empfand, glich ein wenig dem, was sie empfunden haben würde, wenn man ihr plötzlich gesagt hätte: »Kleine, Du bist Königin von Frankreich.«

Sie glaubte, daß, wenn sie die Puppe berühre, der Donner sich aus derselben entladen würde. Und das war in gewisser Hinsicht richtig, denn sie sagte sich, die Thenardier würde sie schelten und schlagen.

Die Anziehung, welche die Puppe auf sie ausübte, trug jedoch den Sieg davon. Sie trat endlich hinzu und fragte schüchtern die Thenardier:

»Darf ich also Madame?« ‚

Kein Wort könnte ihre zugleich verzweiflungsvolle, erstaunte und entzückte Miene wiedergeben.

»Zum Teufel!« sagte die Thenardier; »sie gehört ja Dir. Der Herr schenkt sie Dir ja.«

»Ist’s wahr, mein Herr?« fragte Cosette. »Ist’s wahr? Die Dame gehört mir?«

Der Fremde schien die Augen voll Thränen zu haben. Er schien bei dem Grade der Rührung angelangt zu sein, wo man nicht spricht, um nicht zu weinen. Er machte mit dem Kopfe Cosetten ein Zeichen und legte die Hand der »Dame« in ihre kleine Hand.

Cosette zog ihre Hand rasch zurück, als brenne die der »Dame« und sah auf den Boden. Wir müssen auch hinzusetzen, daß sie in diesem Augenblicke die Zunge sehr weit heraussteckte. Plötzlich wendete sie sich um, faßte schnell die Puppe, und sagte:

»Ich will sie Katharina nennen.«

Es war ein wunderlicher Moment, als die Lumpen Cosetten’s die Bänder und das frische rosa Muslinkleid der Puppe berührten.

»Madame«, fragte sie; »darf ich sie auf einen Stuhl setzen?«

»Ja, mein Kind,« antwortete die Thenardier.

Jetzt betrachteten Eponine und Azelma Cosetten mit den Augen des Neides.

Diese setzte ihre Katharina auf einen Stuhl, sich selbst vor dieselbe auf die Erde und blieb so unbeweglich, ohne ein Wort zu sagen, in Betrachtung sitzen.

»Spiele doch Cosette!« sagte der Fremde.

»O, ich spiele ja,« antwortete dies Kind.

»Diesen Fremden, diesen Unbekannten, der aussah wie ein Besuch, welchen die Vorsehung Cosetten machte, haßte in diesem Augenblicke die Thenardier mehr als irgend Etwas in der Welt. Sie mußte sich jedoch bezwingen. Aber sie fühlte mehr in sich als sie ertragen konnte, so sehr sie auch durch das Beispiel ihres Mannes, den sie in Allem nachzuahmen suchte, an Verstellung gewöhnt war. Sie beeilte sich ihre Töchter zu Bett zu schicken, dann bat sie den Fremden um die »Erlaubniß;« auch Cosetten zu Bett gehen zu lassen, die »heute so sehr müde sei,« wie sie mit mütterlicher Miene hinzusetzte. Cosette ging zu Bett und nahm ihre Katharina in ihren Armen mit sich.

Die Thenardier ging von Zeit zu Zeit an das andere Ende der Stube, wo ihr Mann saß, »um sich das Herz leicht zu machen.«

Sie wechselte mit ihm einige Worte, die um so wüthender waren, da sie dieselben nicht laut auszusprechen wagte.

»Das alte Vieh! Was hat er nur im Leibe? Kommt her und bringt Alles in Unordnung! Will, daß das kleine Ungethüm spiele! Ihr eine Puppe zu geben. Ihr, der Hündin, welche ich für vierzig Sous weggeben möchte, eine Puppe für 40 Francs! Wenn’s noch lange dauert, nennt er sie Majestät wie die Herzogin von Berry! Ist da Sinn und Verstand darin? Er muß verrückt sein, der alte geheimnißvolle Kerl!«

»Warum? Es ist ganz einfach,« antwortete Thenardier. »Wenn es ihm Spaß macht! Dir machts Spaß, daß die Kleine arbeitet, ihm, wenn sie spielt. Er ist in seinem Recht. Ein Reisender thut, was er will, wenn er’s nur bezahlt. Was geht’s Dich an, wenn der Alte ein Philanthrop ist? Und wenn er ein Schafskopf ist, es geht Dich auch nichts an. Was kümmerst Du Dich darum, da er doch Geld hat?«

Worte des Herrn und Logik des Wirths, welche eine Gegenrede nicht zuließen.

Der Mann hatte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch gestützt und hatte wieder seine frühere, träumerische Haltung eingenommen. Alle anderen Reisenden, Kauf- und Fuhrleute, hatten sich zum Theil schon entfernt und sangen nicht mehr. Sie betrachteten ihn von weitem mit einer gewissen ehrfurchtsvollen Scheu. Dieser sonderbare, so ärmlich gekleidete Mann, der so gleichgültig Geldstücke aus der Tasche nahm und an kleine Aschenbrödel riesige Puppen verschwendete, war gewiß ein mächtiger, gefürchteter Mann.

Mehrere Stunden vergingen. Die Mitternachtsmesse war vorüber, das Essen war vorbei, die Trinkenden hatten sich entfernt, das Haus war geschlossen, die niedrige Gaststube leer, das Feuer ausgegangen und der Fremde saß immer noch an derselben Stelle und in derselben Haltung. Von Zeit zu Zeit wechselte er mit den Ellenbogen, auf die er sich stützte. Das war Alles. Seit Cosette sich entfernt, hatte er kein Wort mehr gesprochen.

Nur die Thenardiers waren aus Höflichkeit und aus Neugierde in der Stube geblieben.

»Will er denn die Nacht so zubringen?« brummte die Thenardier. Als es zwei Uhr früh schlug, erklärte sie sich für überwunden und sagte zu ihrem Manne: »Ich gehe zu Bett. Mach Du mit ihm, was Du willst.« Der Ehemann setzte sich an einen Tisch in einer Ecke, zündete ein Licht an und las im »Französischen Courier.«

So verging eine gute Stunde. Der würdige Wirth hatte wenigstens dreimal Alles vom Datum bis zum Namen des Buchdruckers gelesen. Der Fremde rührte sich nicht.

Thenardier bewegte sich, hustete, kratzte sich, spuckte aus, schnaubte und knarrte mit dem Stuhle. Der Mann machte keine Bewegung. Vergebens. – »Schläft er denn?« dachte Thenardier. Der Mann schlief nicht, aber nichts konnte ihn erwecken.

Endlich nahm Thenardier seine Mütze ab, näherte sich leise und wagte zu sagen:

»Will der Herr sich nicht zur Ruhe begeben?«

»Will der Herr nicht schlafen gehen, wäre zu familiär gewesen. »Zur Ruhe begeben klang besser und achtungsvoll. Solche Worte haben die geheimnißvolle und bewunderungswürdige Eigenthümlichkeit die Summe der Rechnung am anderen Morgen anzuschwellen. Ein Zimmer, in dem man schläft, kostet zwanzig Sous; ein Zimmer, in welchem man ruht, kostet zwanzig Francs.

»Ja, Sie haben Recht«, sagte der Fremde. »Wo ist Ihr Stall?«

»Ich werde den Herrn führen,« entgegnete Thenardier lächelnd.

Er nahm das Licht, der Mann nahm sein Packet und seinen Stock. Thenardier führte ihn in ein Zimmer des ersten Stocks, welches in einem seltenen Glanz stand und ganz mit Mahagoni und einem Bett mit rothkattunenen Vorhängen möblirt war.

»Was soll das heißen?« fragte der Reisende.

»Es ist unser eigenes Hochzeitszimmer,« sagte der Wirth; »wir bewohnen aber ein anderes, meine Frau und ich. Nur drei bis vier Mal im Jahre wird das Zimmer betreten.«

»Ich würde eben so gern im Stall übernachtet haben,« sagte der Mann.

Thenardier that so, als höre er diese so wenig verbindliche Bemerkung nicht. Er zündete zwei ganz frische Wachslichter an, die auf dem Kamine standen. Ein ziemlich gutes Feuer brannte in dem Kamine.

Auf demselben, unter einer Glasglocke, lag ein weiblicher Kopfputz von Silbergeflecht und Orangeblumen.

»Was ist das hier?« fragte der Fremde.

»Der Brautstaat meiner Frau,« sagte Thenardier.

Der Reisende betrachtete den Gegenstand mit einem Blicke, der zu sagen schien: »Dieses Ungethüm ist also auch einmal eine Jungfrau gewesen.«

Uebrigens log Thenardier. Als er die Bude gepachtet hatte, um ein Wirthshaus daraus zu machen, hatte er dieses Zimmer bereits so ausgestattet gefunden und hatte er die Möbels und den Schmuck mit den Orangenblumen in der Erwartung gekauft, es werde dies auf seine Gemahlin einen graziösen Schatten werfen und seinem Hause das geben, was die Engländer respectable nennen.

Als der Reisende sich umdrehte, war der Wirth verschwunden; Thenardier war heimlich »verduftet,« ohne zu wagen eine gute Nacht zu wünschen, da er einen Mann, welchen er am anderen Tage königlich zu rupfen gedachte, nicht mit respectswidriger Vertraulichkeit behandeln wollte.

Der Wirth zog sich in sein Zimmer zurück. Seine Frau hatte sich bereits zu Bett gelegt, sie schlief aber noch nicht. Als sie den Schritt ihres Mannes hörte, drehte sie sich um und sagte:

»Daß Du es weißt, morgen werfe ich Cosetten aus dem Hause!«

Thenardier antwortete kalt:

»Wie Du auch bist.«

Sie sprachen nichts weiter mehr mit einander und einige Augenblicke später wurde das Licht ausgelöscht.

Der Reisende seiner Seits hatte seinen Rock und sein Packet in eine Ecke gelegt. Als der Wirth fort gegangen, setzte er sich auf einen Stuhl und blieb einige Zeit nachdenklich sitzen. Darauf zog er die Schuhe aus, nahm eines der beiden Wachslichter, löschte das andere aus, öffnete die Thür, verließ sein Zimmer und sah sich um wie Jemand, der etwas sucht. Er ging über den Corridor und gelangte an die Treppe. Hier hörte er ein leises Geräusch, das dem Athmen eines Kindes ähnlich war. Er folgte diesem und kam an eine Art dreiseitige Vertiefung welche unter der Treppe angebracht oder vielmehr von dieser selbst gebildet war. Es war ein Raum unter den Stufen. Hier unter allerlei alten Körben und altem Gerümpel, in Staub und Spinneweben, befand sich ein Bett, wenn man einen durchlöcherten Strohsack, an den man das offene Stroh sah, und eine zerrissene wollene Decke, aus welcher ebenfalls das Stroh heraussah, ein Bett nennen kann. Laken gab’s nicht. Es lag am Boden. In diesem Bett schlief Cosette.

Der Mann trat näher und betrachtete sie.

Cosette lag, völlig angekleidet, in tiefem Schlafe. Im Winter zog sie sich nicht aus, um weniger zu frieren.

Fest an sich gedrückt hielt sie die Puppe, deren große offene Augen im Dunkel glänzten. Von Zeit zu Zeit seufzte sie tief als wolle sie erwachen und drückte die Puppe fast krampfhaft in ihre Arme. Neben ihrem Bette lag nur einer ihrer Holzschuhe.

Durch eine offene Thür neben der Kammer Cosetten’s konnte man in ein großes, dunkles Zimmer sehen. Der Fremde trat hinein. Im Hintergrunde, vor einer Glasthür, gewahrte man zwei gleiche, kleine, sehr weiße Betten. Das waren die Betten Eponine’s und Azelma’s. Hinter denselben war halb und halb eine Korbwiege ohne Vorhänge zu sehen, in welcher der kleine Junge schlief, der den ganzen Abend über geschrien hatte.

Der Fremde vermuthete, daß dies Zimmer mit dem der Eheleute Thenardier in Verbindung stehe. Er wollte sich zurückziehen, als sein Blick auf den Kamin fiel, einen jener großen Wirthshauskamine, in welchen so wenig Feuer brennt, (wenn überhaupt welches darin ist,) daß man sie nur anzusehen braucht, um zu frieren. In diesem brannte kein Feuer, nicht einmal Asche war darin; was aber die Aufmerksamkeit des Reisenden besonders erregte, waren zwei niedliche Kinderschuhe von verschiedener Größe. Der Reisende erinnerte sich der uralten, reizenden Gewohnheit der Kinder, in der Weihnachtsnacht ihr Schuhwerk in den Kamin zu stellen, damit ihnen ihre gute Fee in der Dunkelheit irgend ein glänzendes Geschenk hineinlege. Eponine und Azelma konnten nicht fehlen und hatten deshalb auch einen ihrer Schuhe in den Kamin gestellt.

Der Reisende bückte sich.

Die Fee, das heißt die Mutter, war schon dagewesen und man sah in jedem Schuh ein ganz neues Zehnsousstück glänzen.

Der Mann richtete sich wieder auf und schickte sich zum Fortgehen an, als er ganz hinten, bei Seite, im dunkelsten Winkel des Kamins, einen anderen Gegenstand bemerkte. Er sah genauer hin und erkannte, daß es ein Holzschuh sei, ein schwerer, halb zerbrochener und schmutziger Holzschuh. Es war der Schuh Cosetten’s. Cosette hatte ihn mit jenem rührenden Kindesvertrauen, das immer getäuscht werden kann, ohne den Muth zu verlieren, auch in den Kamin gestellt.

Die Hoffnung in einem Kinde, das nichts weiter als Verzweiflung kennen gelernt, ist etwas Erhabenes und Reizendes.

In dem Holzschuh war nichts.

Der Fremde suchte in seiner Westentasche, bückte sich und legte in den Holzschuh Cosetten’s einen Louisd’or.

Dann ging er leise wie ein Wolf in sein Zimmer zurück.