Schlangen in der Erdstube

Am nächsten Tag schleppten Peter und Eva ihre ganze Habe aus den Baumnestern ins Zelt und in die Erdstube. Der Speer, der bald als Waffe, bald als Bergstock diente und seit der Höhlenflucht als Zeitmesser auch die eingeritzten Tagmarken aufwies, ruhte jetzt als Tragstock auf den Schultern der beiden hintereinander Schreitenden. Er bog sich unter der Last der Vorräte, die nur wenig leichter waren als beim Auszug aus den Höhlen. Peter, der vorausging, hatte hinter dem Gürtel ein altes Steinbeil, und Eva trug den Feuerkorb, auf dessen Glut sie vermodertes Laub und Gras gelegt hatte; das gab einen dicken Qualm, der die Bären, an deren Höhlen sie vorübermußten, abhalten sollte. Als sie an der Moorbachquelle rasteten, schmückte Eva wie in sorglosen Zeiten ihr Stirnband mit Blumen. Mit Freude stellte sie fest, daß die Erdbeerstauden reichlich angesetzt hatten. Plötzlich fielen ihr die Heiligtümer ein – die waren ja noch in der Höhle! Doch Peter sagte rauh: »Deswegen gehen wir nicht zurück. Überhaupt sind sie dort besser aufg’hoben als am Moorbach.« Er mochte nicht an den Ort erinnert werden, wo seine durchlochte Steinaxt lag, eine Weihgabe, die er noch nicht verschmerzt hatte.

Eva begann, das neue Heim einzurichten. Sie war bedrückt. Selbstvorwürfe und bange Ahnungen quälten sie. Das war kein Wunder; denn war die neue Wohnung sicher, barg sie nicht unbekannte Gefahren? Die Sonnenscheibe war nicht mehr bei ihnen – wer sollte sie beschirmen, wenn Unheil drohte? Eva beschloß, bald, so bald als möglich eine Kostbarkeit, ein Goldopfer im Heiligtum niederzulegen.

Peter, der seine Zeit zwischen Fischfang, Holzholen und Goldsuchen teilte, wollte verhindern, daß Eva ihm nachgehe. Er brachte ihr einen grob zugehauenen Serpentinkeil, gab ihr das Bohrzeug, eine Bocksblase voll feingeschlagener Quarzsplitter und verlangte barsch, sie solle ihm das Steinbeil durchlochen; ja, er legte ihr zum Schleifen auch schon den Sandsteinblock hin. Widerwillig fügte sie sich. Sooft sie Peter fern wußte, verließ sie die aufgezwungene Arbeit und ging ihren eigenen Aufgaben und Sammelgelüsten nach. Als erstes lagerte sie ein Bündel Schößlinge von Weiden, Erlen und Hartriegel im Moorbach ein, sie brauchte neuen Bast, um ihre schadhaft gewordene Kleidung zu ersetzen; sie schleppte Stangenholz herbei, um ihre Erdstube nach vorn abzuschließen; dann aber machte sie verstohlen Grabversuche im Bachbett. Im Traum hatte sie dort kopfgroße Goldklumpen gefunden. So klein ihre Ausbeute war, sie gab die Hoffnung nicht auf und barg ihre Schätze – recht schlau, wie sie glaubte – auch unter ihrer Liegestatt; sie wußte nicht, daß Peter ein ähnliches Versteck hatte.

Schon reiften die Erdbeeren, und Evas Ahnungen schienen sich als grundlos zu erweisen. Ihr neues Heim, in dem jedes Gerät seinen Platz hatte, gefiel ihr um so besser, je mehr angenehme Nachbarn sie kennenlernte: drüben im Weißdornbusch ein Zaunkönigspärchen, mit seiner Geschäftigkeit und dem überlauten Singsang, der wie ein Tonwunder aus den winzigen Kehlen drang; in einer Astgabel des Haselnußstrauches dicht daneben bauten Zwergmäuse an ihrem kugelrunden Nest. Eva konnte sich an dem entzückenden Treiben der rotbraunen, weißbäuchigen Flechtkünstler nicht sattsehen, wie sie mit zierlichen Pfoten und Nagezähnen die Grashalme darunter und darüber schoben und mit klugen Äuglein das zusehends wachsende Werk von allen Seiten beguckten.

Den schönen Frühlingstagen folgte anhaltendes Regenwetter; eintönig trommelten die Tropfen auf das Schilfdach. So dicht auch die Balken mit Reisig, Moos und Blättern belegt waren, schließlich konnte die Decke den Regen nicht mehr abhalten.

Das Wasser rann an den sandigen Seitenwänden der Stube nieder. Eva entschloß sich, durch dicht nebeneinander eingerammte und der Quere nach verflochtene Stäbe, an denen ein Lehmbelag halten konnte, die Sandwände vor dem Niedergehen zu sichern. Das abschüssige Dach bedeckte sie dick mit Schilf und legte Steine darauf, damit das Regenwasser durch die abwärts gekehrten Rispen besser abfließen konnte. Den oberen Rand des Daches und das abstehende Erdreich deckte sie fugenlos mit Rasenflözen.

Den Stubenboden belegte sie mit einem zähen Brei aus nassem Gras und Lehm und deckte knöchelhoch trockenes Laub darüber. Dann führte sie gegen den Bach zu eine kniehohe Schutzmauer aus Steinen auf, deren Fugen sie mit Moos und Lehm abdichtete. Mit einem Weidengeflecht verschloß sie den Eingang bis auf eine schmale Öffnung. Über der mit Fellen verhängten Gittertür ließ sie eine Lücke, durch die der Rauch abziehen und Luft und Licht herein konnten.

Je wärmer die Tage wurden, um so unangenehmer machten sich allerlei Nachteile der Erdwohnung bemerkbar. Zecken, Asseln, Skorpione und anderes Ungeziefer stellten sich ein. Vom nahen Moor kamen ganze Wolken von Stechmücken, die besonders abends, wenn das Feuer niedergebrannt war, zur Plage wurden. Peter ging es in seinem Zelt etwas besser; ihn machte die schwere Arbeit an der Trift, wo er Tag für Tag Holz ins Trockene schleppte, so müde, daß er im Schlaf die Stiche gar nicht spürte. Ein weiterer Schutz mochte auch seine rußverschmierte Haut und die streng nach Rauch riechende Fellkleidung sein.

Eva aber litt sehr. Das hohe, aufdringliche Sirren der fliegenden Quälgeister ließ sie lange nicht einschlafen. Es war in der Nacht vor der Sommersonnenwende, als sie sich Selbstvorwürfe darüber machte, daß sie beide seit dem Verlassen der Heiligtümer die gemeinsamen Andachten vernachlässigt hatten. Sie warf sich vor, daß sie Peter wieder verwahrlosen ließ, der vor lauter Arbeit gar nicht dazu kam, sich seiner guten Vorsätze zu erinnern. Die vom Rauch gebeizten Augen auf das niedergebrannte Feuer gerichtet, lauschte sie dem Murmeln des Baches und den geheimnisvollen Lauten des Waldes. Da hörte sie im Dachgestänge ein leises Knistern. Sie hob den Blick und sah im schwachen Schein der Glut den braungelben, schwarzgetüpfelten Bauch einer Sandotter, die langsam durch das Reisig herabschlüpfte. Wie gelähmt folgten Evas Augen den Bewegungen des Tieres. Sie sah es in einer Ritze des Wandbelags zum Boden streben, wo es den aschgrauen, verschlungenen Leib der von der Feuerstelle ausstrahlenden Wärme aussetzte. Eva rührte sich nicht vor Angst, die Schlange zu reizen. Die Mücken wurden zudringlicher, bohrten die Rüssel in Evas Lippen und Augenwinkel, und sie mußte es geschehen lassen. Regungslos verharrte sie auf ihrem Lager auch dann, als sich zwei andere Ottern zu der ersten gesellten. Nun war die Strafe der gekränkten Gottheit für den Undank da! Eva betete ohne Zuversicht um Barmherzigkeit. Keine Flamme erhellte mehr den Raum; das Feuer glühte schwach und schwächer. Evas Angst wuchs in dem Maße, in dem ihre Augen versagten. Schließlich vermochten ihre Blicke die Finsternis nicht mehr zu durchdringen. Sie lauschte angestrengt, hörte das gedämpfte Raunen des Bachs, vernahm das Trippeln und Krabbeln unsichtbarer kleiner Tiere. Vom Walde her klang matt das Kreischen, Pfeifen und Kichern der Eulenvögel. Da! Ein kläglicher Aufschrei, vielleicht einer Wildtaube, die auf ihrem Nest von einem Marder oder einem Uhu gemordet wurde. Wieder das Trappeln kleiner Füße in unmittelbarer Nähe, dann das gereizte Zischen einer Schlange und das Schmatzen eines fressenden Tieres. Räumte ein Igel unter den Schlangen auf?

Erst als die Strahlenbündel der aufgehenden Sonne die Stube erhellten, wagte sich Eva von ihrem Lager. Die unheimlichen Besucher waren fort. Doch lag da nicht der Kopf einer Schlange? Vorsichtig näherte sie sich dem Rest der Igelmahlzeit. Angeekelt wich sie zurück. Ihr war, als hätte sich der Oberkiefer mit dem häßlichen, graubeschuppten Horn bewegt.

Mit einer langen Rute kehrte sie die Asche von den glimmenden Kohlen, schob den Schlangenkopf hinein und streute Reiser und Laub darauf. Als die ersten Flämmchen aufflackerten, trat sie ins Freie. Bis zu den Knöcheln im Bache stehend, wusch sie sich Kopf, Oberkörper und Arme. Die prickelnde Kälte des Wassers tat ihr wohl.

Sie suchte Peter auf und erklärte mit großer Bestimmtheit, sie werde nicht eine Nacht mehr in ihrer Erdstube zubringen, wo sie sich vor Ungeziefer und Schlangen nicht zu retten wisse. Er las die große Angst in ihren Augen und hatte Mitleid mit ihrer Pein. Ein Frösteln überlief seinen Leib. Er stellte sich vor, daß er vielleicht auch Schlangen in seinem Zelt beherbergt hatte und durch eine Bewegung im Schlaf ihre Angriffslust hätte reizen können. Doch als Eva darauf bestand, in ihr verlassenes Baumnest oder in die Höhle zurückzukehren, da schüttelte er den Kopf. Seine Augen waren auf die blinkende Wasserfläche des Moores gerichtet, aus dem die Birken herüberleuchteten. Er hob die Rechte und wies auf die schlanken, weißen Stämme. »Dort werden wir wohnen. Hast du das Vogelnest im Rohr gesehen, hoch über dem Wasser, wo keine Schlange es erreichen kann? Was der Vogel kann, können wir auch, aber wir machen es besser.«

Peter und Eva, die Höhlensiedler

Als mächtiger Feuerball stieg die Sonne an diesem Wintermorgen hinter dem breiten Massiv des Monte Cristallo empor, dessen Zinnen und Zacken in ihrer Lichtflut lagen. Fern im Westen glühten die eisgekrönten Hochgipfel, und das tieferliegende Bergland zwischen der Sonne und den Eisfeldern, die ihr Licht zurückwarfen, lag unter einem wallenden Nebelmeer.

Als die Sonne über dem Monte Cristallo stand, tauchten im Norden die Kuppen des Urgebirges, im Süden die Schroffen des wetterzerrissenen Dolomitkalks auf. Zwischen ihnen strömten, sich schiebend und drängend, die Nebel hin, getrieben vom Morgenwind. Als Wolkenfetzen stiegen sie an Halden und Wänden empor, lösten sich von den Firnen der Berge und verflüchtigten sich in der Wärme der Sonne.

Inmitten der hellen Firnfelder war ein fast viereckiger Nebelsee eingebettet, der einen tiefen Einsturzkessel füllte: den Heimlichen Grund, gemieden von Deutschen und Welschen, da so mancher von ihnen vom Steinschlag in der Klamm getötet worden war. Diese Klamm war der einzige Zugang zu der abgeschlossenen Stille des Heimlichen Grunds. Damals, als die Menschen noch an Hexen glaubten, wähnte das Volk, daß hier böse Mächte ihr Spiel trieben; niemand wagte sich durch die Klamm. Für Peter und Eva war die Furcht der anderen ein Schutz.

Höher stieg die Sonne, der Nebel begann an den in ihrem Lichte liegenden Klammwänden emporzuschweben. Als sie über dem Winkel zwischen den Salzwänden und den Grabwänden stand, wurden Moorleiten und Südwand frei. Zähe hafteten die Nebelmassen im wipfelreichen Urwald, der am rechten Klammbachufer den Salzwänden vorgelagert war.

Das Feuer in Peters Wohnhöhle war im Laufe der Nacht niedergebrannt, aber noch sandten die klobigen Steine, die die Feuerstelle umgaben, gelinde Wärme aus. Peter lag in seiner Schlafgrube, tief eingewühlt in die dicke Moosschicht über der Reisigunterlage, das Fell des besiegten Bären auf sich. Das ungewisse Dämmerlicht des Wintermorgens drang nur spärlich durch die Lichtluken im Brennholz, das zwischen der grobgefügten Schutzmauer und der Wölbung des Höhlentors verstaut war. Es störte den Schlaf des jungen Menschen nicht. Der hatte ja am Vortag schwere Arbeit getan. Vom glimmenden Buchenschwamm, der als Gluthalter in der Asche lag, kräuselte dünner Rauch zum Trockenboden hinauf, umzog einige dort aufgehängte Speckseiten und drang durch die dichten Lagen der Tannenreiser, die sich unter der Last angehäufter Vorräte bogen. Dann entwich er mit der Warmluft teils durch die kleine Öffnung in der Höhlendecke nach der großen Grotte im Berginnern, teils zog er durch den schrägen Gang an Peters Schlafgrube vorbei zur höher gelegenen Wohnhöhle Evas. Auch sie schlief noch unter ihrer Decke aus Rehfellen. Ihr Kopf lag auf dem mit Moos ausgestopften Hasenbalg; ihre Hände waren vor dem Mund gefaltet.

In Peters Höhle wurde es kalt. Prickelnd drang der Nebel in seine Nase. In dem gebräunten Gesicht zuckte es. Mit einem kräftigen »Haptschi!« erwachte Peter und strich sich die langen, dunklen Haare aus der Stirn. Widerwillig kroch er unter der Bärendecke hervor, stieg über den quer in der Höhle liegenden Steigbaum, den er abends zuvor hereingenommen hatte, stocherte die Glut unter der Asche auf und legte dürre Föhrenzweige und Prügelholz darauf. Dann kroch er noch einmal in sein warmes Nest zurück und ließ die Ereignisse jüngst vergangener Tage an sich vorüberziehen: wie er den Bären unten an der Fleischgrube getötet hatte, den Bären, dessen Fell ihm jetzt als Decke diente.

Auch das Feuer fiel ihm wieder ein, wie sie es gefunden, heimgebracht, gepflegt und genährt hatten, daß es nicht mehr ausging. Ja, viel haben wir erlebt und geschafft, dachte Peter.

Duft und Wärme des Feuers stiegen auch zu Eva empor und ließen sie von Dingen träumen, die viel, viel weiter zurücklagen als Peters Erlebnisse. Im Traum wurde längst Vergangenes zur Gegenwart. Sie war wieder die kleine Eva, die mit den Püppchen aus Galläpfeln, Eicheln und Rosengallen spielte. Plötzlich stand der Knecht des Kohlbauern bei der Großmutter, der Ahnl, und flüsterte ihr mit heiserer Stimme ins Ohr: »Stoderin, wahr‘ dich beizeiten, die vom Gericht steigen durch die Geierwänd‘ auf; sie wollen dich verbrennen, als Hex‘.« – Und dann erlebte Eva wieder die hastige Flucht durch Wald und Nacht. Sie sah den Ähnl stürzen, begraben vom Steinschlag in der Klamm; sie fühlte die ziehende Hand der Ahnl, die mit ihr und Peter dem Heimlichen Grund zustrebte; sie sah die müde alte Frau einschlafen unter dem überhängenden Stein und wollte sie wachrütteln, aber die Ahnl war tot. – Dann ging Eva mit Peter über das Steinfeld, den Klammbach aufwärts. Gewitterschwüle lagerte in dem von Felswänden umgebenen Kessel des Heimlichen Grunds. Ein Blitz fuhr hernieder und traf die Wetterfichte am Sonnstein. Im Klammbach, der den Felsen umfloß, spiegelte sich die flammende Lohe. Eva und Peter schwangen brennende Äste und trieben zwei mächtige Bären vor sich her quer über das Steinfeld den Südwänden zu. Dann gingen sie einträchtig bachaufwärts und lagerten die Feuerbrände auf den Boden der unteren Höhle.

Peter verspürte Hunger. Er stand auf und wusch sich im Wasserkorb. Dann ritzte er einen neuen Tagstrich über seinem Lager in die Felswand, schnitt mit dem Steinmesser eine Handvoll Kastanien auf und legte sie zwischen die glimmenden Holzkohlen an den Rand des Feuers. Der Duft ihrer Lieblingsspeise weckte Eva. Nachdem sie vor den Ahnenbildern Zwiesprache mit Gott und den guten Heimgeistern gehalten hatte, ordnete sie ihren Lendenschurz und den Schultermantel, die sie während des Schlafes zerknittert hatte. Auch sie wusch sich in ihrem Wasserkorb, fuhr sich mit ihrem groben Kamm aus angekohlten und zurechtgeschliffenen Holzstäbchen durch das Haar, legte das Stirnband an und stieg durch den Gang zu Peter hinunter. Beim Frühmahl sprach er von der Tagesarbeit, die er ihr zugedacht hatte. Das gestern gesammelte Holz müsse zum Trocknen um die Feuerstelle geschichtet werden; das Gedärm des Bären sei zu reinigen und zu spannen. Nichts, aber auch nichts dürfe verloren gehen. Er selbst mußte wieder Holz holen, bevor es zu tauen begann.

Fast den ganzen Tag verbrachte Eva allein bei der Arbeit. Beim Wenden und Spülen des Gedärms verdroß es sie nicht wenig, daß Peter ihr gern Arbeiten zuschob, die ihm zuwider waren. Erst als sie mit Aschenlauge und Lehm die Hände gesäubert, allen Abfall durch den Müllschacht hinausgefegt und in der Höhle aufgeräumt hatte, schwand ihr Zorn. Sie sagte sich, daß Peter draußen härtere Arbeit verrichtete als sie daheim. Nun, dafür sollte er auch etwas Ordentliches zu essen bekommen. Sie schlitzte mit dem Steinmesser ein Stück gesalzenes Bärenfleisch und tat Speck, Bergsaturei und Lauch hinein. Nun konnte der Braten gedeihen!

Gerade als die Mahlzeit bereit war, hörte sie Peter mit seinem Schlitten heranstapfen. Als er, noch immer schwer atmend, über den Steigbaum herauf in die Höhle trat, beeilte sie sich, ihm mit dem Föhrenbesen den Schnee von der Fellkleidung zu streifen und ihm die durchnäßten Fellwickel von den Füßen zu lösen. Peter fiel, wie immer, wenn er von der Außenarbeit kam, über das Essen her, daß ihm das Fett vom Kinn tropfte. Beide aßen um die Wette, bis nur noch abgenagte Knochen dalagen, während die zum Nachtisch bestimmten Kastanien in der Glut hüpften. Je dunkler es draußen wurde, um so behaglicher wurde es in der hell erleuchteten, warmen Höhle.

Opfergaben

Wie früher im Sommer und Herbst, als Peter und Eva Blumen und Früchte auf das Grab der Ahnl gelegt hatten, so opferten sie zur Winterszeit in der oberen Grotte vor den Bildstöcken der Ahnen vom Besten, das sie besaßen. Und merkwürdig, was sie am Abend geopfert hatten, das war am nächsten Morgen verschwunden. Ein freudiges und zugleich unheimliches Gefühl – halb Andacht, halb Furcht bemächtigte sich der Höhlensiedler. Nun waren sie fest davon überzeugt, daß die Geister ganz nahe bei ihnen waren als Zeugen ihres Tuns und Lassens, als Helfer in Nöten und Beschützer in Gefahren.

Peter, den die Sorge um das Brennholz zu immer längeren Wanderungen zwang, überließ die Pflege des kleinen Heiligtums der stillen Eva. Halbe Tage lang kauerte sie vor dem Herdfeuer, entkernte Bucheckern oder versuchte, das noch immer nicht durchlochte Steinbeil mit einem Jaspissplitter zu durchbohren.

Der Kampf um das tägliche Brot und die Zeit, die vergangen war, hatte aus dem Knaben Peter einen jungen Mann gemacht. Auch Eva war kein Kind mehr, sondern ein nachdenkliches junges Mädchen, das oft vor sich hinsann. Aber das Heim vernachlässigte sie nie, nicht das Herdfeuer, nicht die Heiligtümer. Je mehr ihre Seele mit den Geistern der Ahnen sprach, um so selbständiger wurde sie, auch Peter gegenüber. Sie dachte nicht mehr daran, bei jedem Splitter, den sie sich eingezogen hatte, seine Hilfe zu suchen. Solches und andere kleine Leiden machte sie mit sich allein ab. Wenn sie sich nicht gesund fühlte, bereitete sie auf gut Glück eine Arznei aus gesammelten Heilkräutern, wie sie es oft von der Ahnl abgeguckt hatte, und betete zum Schöpfer, daß er ihr helfe.

Als im Laufe des Winters nicht nur die Opfergaben, sondern auch manche Mahlzeitreste über Nacht verschwanden, glaubten die Höhlenmenschen allen Ernstes, Berg- und Waldgeister seien die Diebe. In einer lauen Nacht aber entdeckte Peter zwei Mäuse, die an einem saftigen Knochen nagten. Von da an fing er sie in Fallen, das waren schräg aufgestellte Steinplatten, die er mit Holzstäbchen abstützte. Die Fettbrocken, die er daran band, dienten als Lockspeise.

Langsam gingen die Wochen des Nachwinters dahin; Schneestürme tobten, naßkaltes Tauwetter setzte ein, gefolgt von Frost und Eis – es war eine wechselvolle, unbehagliche Zeit. An Tagen, wo das vom Fels tropfende Wasser vor dem Höhlentor einen starren Vorhang aus Eiszapfen bildete, fühlten sich die jungen Menschen wie abgeschieden von der Außenwelt. Sie sehnten sich nach wärmeren Tagen. Ihre Blickte richteten sich zum Himmel, und sie lernten, auf seine Zeichen zu achten. Daß die Zeit fortschritt, merkten sie am auffälligsten daran, wie der Mond wuchs und abnahm, verschwand und wieder erschien, und wie die Sonne beim Untergehen täglich ein wenig von der Stelle wegrückte, wo sie am Vortag untergegangen war. Sie sank nicht mehr hinter dem Horn hinab, sie kam Tag für Tag näher an die Henne heran, den merkwürdigen Berggipfel über den Klammwänden, hinter dem sie im Herbst untergegangen war. Der Weg, den sie jetzt tagsüber am Himmel beschrieb, wurde länger und so auch die Dauer der Tageshelle. Vom Eisvorhang vor dem Höhlentor fiel Zapfen um Zapfen klirrend ab.

Die gelben Knospen des kleinen Winterlings hoben sich aus dem vermoderten Laub unter dem Gebüsch – ja, schon durchbrachen sie da und dort die dünn gewordene Schneedecke. Und bald darauf schoben sich die weißlichen Blüten des Frühlingskrokus aus moosigem Wiesengrund ans Licht.

In den lauen Nächten schallte aus dem Dunkel des Waldes das jammervolle Miauen der Wildkatzen und das unheimliche Paarungslied der großen Waldohreulen. Der dröhnende Donner stürzender Schneelawinen, das Prasseln und Knattern der Steinschläge steigerten die Einzugsmusik des Frühlings zu wildem Festgetön.

Immer häufiger wurden die föhnigen Tage, an denen es wegen der Lawinenstürze nicht ratsam war, auszugehen. Da arbeiteten die Höhlenbewohner in ihrem Heim. Peter, dessen Bärenfell von Tag zu Tag unangenehmer roch, entschloß sich endlich, es mit Aschenlauge zu reinigen, mit Salz und Lehm einzureiben, es zu räuchern und dann durch Klopfen und Dehnen geschmeidig zu machen. Den Schädel des Bären hatte er über dem Höhlentor neben dem Geierbalg befestigt. Nur die mächtigen Eckzähne hatte er ihm ausgebrochen und durchlöchert; nun trug er sie an einer Darmsaite um den Hals. Das Fleisch hängte er in die Räucherkammer; die meisten Knochen aber kamen ins Allerlei. Der Salzvorrat ging zur Neige. An einem frostklaren Morgen unternahm Peter den unaufschiebbaren Aufstieg zur Salzlecke des Steinwildes. In halber Bergeshöhe blieb er ausruhend stehen und sah in die Tiefe zurück. Ihm schien, als teilte das noch eisgesäumte Rinnsal des Klammbaches den Talgrund in zwei Reiche: links, soweit der blaue Schatten der Grableiten reichte, glanzlos überreifte Nadelholzbestände und das Steinfeld mit seinen reifüberhauchten fahlen Gräsern, Disteln und Karden – rechts die besonnte, im ersten Grün prangende Heide, der Urwald und die knospenden Laubbestände unter der Südwand. Die flimmernde Talsohle stieg drüben zur Hochfläche des Moores an, hinter dem sich das glänzende Grau des Glimmerschiefers scharf von aufgelagerten, rot und weiß leuchtenden Marmorschichten abhob. Und fern über den Klammwänden ragten eisgekrönte Berggipfel in den hellblauen Himmel hinein, jene Gipfel, an denen die Höhlenmenschen das Weiterrücken der Sonne abschätzten: gegen Mittag das Winterhorn, im Abendrot die Henne und gegen Mitternacht der Sommerspitz.

Ein sonderbares Knattern von der Salzlecke herüber ließ Peter zusammenzucken. Dort fochten zwei Steinböcke ungeachtet des schmalen Standplatzes einen Zweikampf aus, der damit endete, daß eines der Tiere kopfüber die steile Wand hinabstürzte. Beim ersten Geräusch, das Peter mit seinem Bergstock verursachte, verschwand der siegreiche Bock in der Wand. Nach einer lebensgefährlichen Kletterei über vereiste Stellen langte Peter mit zerschundenen Knien und blutenden Händen an der Salzwand an und füllte ein Rehfell zur Hälfte mit dem kostbaren Gewürz. Dann suchte er auf Umwegen die Stelle der Schutthalde auf, wo der gestürzte Bock mit gebrochenem Rückgrat tot zwischen Steinblöcken lag. Mühsam schleifte er erst den Bock, dann den zurückgelassenen Salzschlauch heim. Eva war nicht da.

Als er den neuen Salzvorrat in harzgedichteten Körben untergebracht hatte, kam sie. Flüchtig sah sie Peters Ausbeute an und hielt ihm einen Strauß Winterlinge entgegen, aus dem ein blühender Seidelbast ragte: »Da schau, der Frühling ist da.«

Peter mußte lächeln. »Weißt du auch, daß der Seidelbast giftig ist?«

»Wenn auch«, sagte Eva, »ich geb‘ die Blumen der Ahnl, die hat’s gern heim’bracht von ihren ersten Ausgängen nach dem Winter.«

Da füllte Peter drei kleine Bockshörner mit Wasser und bat sie: »Gib auch meiner Mutter und dem Ähnl von den Blumen.«

Und als die einfachen Gefäße, zwischen Steinen eingeklemmt, mit den ersten Frühlingsboten vor den Ahnenbildern standen, verharrten die Höhlensiedler eine Weile schweigend davor und gedachten ihrer Toten.

Brunnstube

Als der Weg durch die Tropfsteinhöhlen zur Salzkammer vollendet war, verloren die anfangs als Wunder angestaunten Grotten den Reiz der Neuheit. Die leicht zugänglichen, weiten Hallen des Berginnern waren ein Stück Alltag geworden; Salzkammer und Quellsee gehörten nun zu den Stätten, wo auf leichte Art Wertvolles zu holen war: Salz und Wasser. Wäre nur der Weg durch die zugigen Tropfsteingrotten nicht so umständlich gewesen!

Im Hintergrund der unteren Wohnhöhle war der schräge Schacht zum Quellsee, den Peter damals, als er die Wohnung einrichtete, zugedeckt hatte. Ein paar Stöße mit dem Speerschaft genügten, um die morsche Holzdecke zu entfernen. Blaugrün schimmerte unten das vom Höhlentor des Baches her erhellte Wasser.

Vorsichtig begann Peter an der neuen Verzimmerung des Schachtes zu arbeiten, die ein tragfähiger Steg werden sollte. Nach genauen Maßen schlug er aus armdicken Eichenstämmen die Querbalken zurecht. Aber die Arbeit mit Steinbeil und Säge ging ihm viel zu langsam, er nahm das fressende Feuer zu Hilfe. Vier Stämmchen zugleich legte er quer über die Einfassungssteine der Mauerung, streute unter die Stellen, die er durchbrennen wollte, Fichtenreisig und sah dann vergnügt zu, wie die Flammen das Eichenholz angriffen. Damit sie nicht weiter fraßen, als ihm lieb war, legte er nasses Moos auf die Stellen, die geschützt werden sollten. Dieses Verfahren ersparte ihm viel Mühe, schonte sein Werkzeug und machte das Bauholz haltbarer. Eva meinte, es wäre gut, die Stämme an der ganzen Oberfläche anzukohlen, und Peter gab ihr recht. Obwohl das Feuer die Arbeit erleichterte und beschleunigte, brauchte er länger als eine Woche, bis er genug Balken für den Steg beisammen hatte. Das Bauen selbst ging schnell. Fest verkeilt zwischen den Wänden der harten Felsen bildeten die Querhölzer in zwei Schichten eine schmale Brücke zu jener Stelle, unter der sich das Wasser befand. Zum Heraufholen des kostbaren Nasses verwendete Peter einen gut verpichten Korb, der sich an zwei aneinandergebundenen Haselstämmchen hinunterlassen und heraufziehen ließ. Ein Übel aber war immer noch da. Eva beklagte sich darüber, daß der kalte Luftstrom, der vom offenen Wasserloch heraufstrich, beide Wohnhöhlen stark abkühlte.

Da umbauten die Höhlensiedler die Brücke mit einer zweifachen, moosgedichteten Gitterwand, die sie außerdem noch mit Lehm verstrichen. Eine geflochtene, in Weidenschlingen drehbare Tür wurde eingelassen. Und sooft Peter in der neuen Brunnstube Wasser schöpfte, leuchtete ihm Eva mit einem Kienspan.

Die Überschwemmung der Höhle

Die hochaufgewehten Schneemassen im Heimlichen Grund begannen zu schwinden. Föhnstürme brausten, Lawinen stürzten donnernd zu Tal, Steinschläge polterten, es wurde ungewöhnlich warm. Im jungen Grün der Wiesen prangten gelb, weiß und blau die Frühlingsblumen, und aus den knospenden Bäumen flöteten und schmetterten Bergfinken und Ringdrosseln.

Peter lagerte alles, was er an den Lawinen- und Steinschlaglehnen an Fellen erbeuten konnte, in den Gerbtümpel ein; Eva sammelte junges Wildgemüse, und beide fanden, daß der Heimliche Grund ein gesegneter Ort sei. Ihre Wintervorräte an Fisch, Dörrobst und Kastanien waren noch nicht aufgebraucht; nur die Beeren und Pilze hatte der Schimmel verdorben. Aber es gab ja frisches Gemüse! Peter und Eva lebten recht sorglos dahin.

Als jedoch eine Reihe sommerlich warmer Tage kam und der im Winter fast ausgetrocknete Bocksgrabenbach wieder anschwoll, da machte ihnen die vorzeitige Wärme bange; sie trieb aus den Firnen oberhalb der Salzwände die Schmelzwasser ab. Die Besorgnis wuchs, als auch der Klammbach stieg und, sein Höhlentor füllend, tosend aus der Felswand hervordrängte. Er führte weiße Brocken abgebrochener Tropfsteinsäulen mit sich und drückte das Gebüsch des Ufergeländes nieder, das er weithin mit Schotter vermurte. Peter erklärte sich die Überschwemmung nicht anders, als daß die ungewöhnlich frühe und anhaltende Wärme das Eis der Gletscher und Firne oberhalb der Salzwände zum Schmelzen brachte. Er tröstete Eva damit, das Wasser werde sich verlaufen, sobald wieder kühlere Witterung eintrete. Als er aber beim Schöpfen merkte, daß er den Wasserspiegel im Brunnen mit der Hand berühren konnte, griff auch ihm die Angst ans Herz. Kurz nachdem Eva ihr Lager aufgesucht hatte, schlich Peter wieder in die Brunnstube. Steigt das Wasser immer noch? Ja, es stieg. Schon schlug es leise plätschernd an die Zimmerung des Brückenbodens.

Jetzt traf Peter Vorbereitungen zur Flucht. Im Halblicht des verlöschenden Feuers packte er in ein Rehfell alles, was er an Steinwerkzeugen, Specksteinschalen, Hörnern und unentbehrlichen Rohstoffen hineinstopfen konnte. Eva, die nicht hatte einschlafen können, kam herab und fragte verwundert: »Peter, was machst du denn?« Er deutete auf die Brunnstube: »Das Wasser kommt herauf, wir müssen woanders hin.«

Schlaff hingen ihre Arme herab – ein trauriger Blick umfaßte den Raum und den Rest von Speck und geräucherten Forellen, die am Gestänge des Trockenbodens hingen. Dann aber meinte sie entschlossen: »Tragen wir halt alles zu mir hinauf.« Peter aber schüttelte den Kopf: »Auch dorthin kann’s Wasser noch kommen.« Ratlos, fassungslos stand Eva neben ihm. Plötzlich schrie sie gellend auf: »Das Wasser ist da!« und sprang zur Seite. Sie zeigte entsetzt auf ein dünnes Rinnsal, das, unter der Wand der Brunnstube hervorquellend, sich über den Lehmboden schlängelte, gerade auf das Herdfeuer zu. Peter griff nach dem nächstbesten Hartstein und ritzte dem Wasser den Weg vor zur Felsrinne, wo der Steigbaum zu lehnen pflegte. Er stieß das Türgitter hinaus und ließ den Steigbaum hinuntergleiten. Dann warf er ein Bündel Reisig in die Herdflammen, daß sie prasselnd aufloderten, und begann hastig den Trockenboden auszuräumen.

Da kam auch schon Eva mit Rehfell und Matte, die sie von ihrem Lager genommen hatte, kniete auf den Boden der Höhle und packte kunterbunt ein, was ihr an Genießbarem in die Hände geriet. Als Peter ihre Bündel fest verschnürt hatte, hob er ihr das eine auf den Rücken und drängte ihr das andere in die Linke. So schwer hatte sie noch nie getragen. Mit tränenerstickter Stimme fragte sie: »Wohin willst du denn?« – Er aber war nicht mehr neben ihr. Sein schweres Bündel auf dem Kopf, die Linke am Holz des Steigbaumes, in der Rechten seinen Speer, kletterte er langsam hinab. Zaghaft begann auch sie den Abstieg. Ihr Leib schauerte vor Kälte.

Wortlos stapfte Peter nach rechts voraus, den sandigen Saum der Felswand entlang. Eva folgte ihm weinend. Wohin wollte er? Auf der Wiese zwischen der Salzlehne und dem Bocksgrabenbach glitzerte das Wasser über den Grashalmen. Trocken überragte der Fuchsenbühel die unruhige Flut. Dort hinüber watete Peter. Unter der hohen Buche, die den Hügel krönte, blieb er stehen und legte seine Last ab. Als Eva, die ihre ganze Kraft brauchte, um ihre Bündel nicht ins Wasser gleiten zu lassen, nachgekommen war, sagte er, heiser vor Erregung: »Da droben in der Buche bau‘ ich mir ein Nest, und du kannst dir eine von den Fichten aussuchen.« Eva wählte nicht lange. Sie ließ ihre Lasten am Fuße der nächsten Fichte liegen, die in Rufweite von der Buche stand. Dann begannen beide ohne Zeitverlust, Holz zum Nestbau zu sammeln. Der Vollmond gab Licht genug, daß sie die notwendigsten Querhölzer zusammensuchen und auf die Äste auflegen konnten. Todmüde krochen sie in ihre Lager.

Die Nestsiedler

Grelle Sonnenstrahlen weckten Eva aus ihrem unruhigen Schlaf. Verständnislos schaute sie von ihrem Nest aus auf ihre Umgebung: Bäume und Wasser.

Sie fand sich in der Krone einer Fichte, deren Stamm sie krampfhaft umfaßt hielt. Ihre Glieder schmerzten vom Druck der Querstäbe, die, mit wenigen Zweigen bedeckt, auf dem Astquirl ruhten. Die Äste, schwer vom Gezweig, senkten sich so stark nach außen, daß Eva sich wunderte, im Schlaf nicht hinabgerutscht zu sein. Von der Buche herüber drang das Knicken und Brechen von Zweigen. Eva setzte sich auf und sah Peter damit beschäftigt, eine Art Dach zu flechten, indem er durch die Zweige der nächsthöheren Äste Reiser flocht und mit Waldreben festband.

Am Fuße der Buche lagen die geretteten Geräte und Nahrungsvorräte der Höhlensiedler verstreut. Evas Blicke schweiften weiter. Mit Entsetzen nahm sie wahr, daß die Grashalme und Disteln der Wiese vom Wasser überflutet waren und der Bocksgrabenbach sich oberhalb des Fuchsenbühels geteilt hatte. Seine lehmigen Wellen umspülten die kleine Insel und vereinigten sich unterhalb davon mit dem Wasser auf der Wiese: Ein See dehnte sich hinüber bis in den Urwald!

Eva fühlte sich auf der Insel sicher. Hier ließ sich das Fallen des Wassers abwarten. An Nahrung fehlte es nicht. Von Astquirl zu Astquirl niedersteigend, gelangte sie auf die Erde und holte sich eine geräucherte Forelle. Während sie nachdenklich aß, wurde sie von Peter angesprochen.

»Lang darfst du nicht herumstehen, das Wasser steigt. Schau, daß dein Nest ein Dach kriegt! Mach dich auf Regen gefaßt, der Wind kommt von der Klamm her.« Sie watete, noch immer essend, zum Jungholz, das den Hügel säumte, und begann Ruten zu brechen und Waldreben auszureißen. Damit durchflocht sie den Astquirl oberhalb ihres Lagers und legte Fichtenzweige auf das Geflecht, so daß ein spitzrundes Dach zustande kam, dessen Außenränder, durch Waldreben und Zweige mit den Ästen des unteren Quirls verbunden, sich als struppige Wand niederzogen. Dann belegte sie ihr Lager mit einer Schicht Moos, das sie unter den Fichten und von der Wetterseite der Stämme abgelöst hatte.

Beruhigt suchten die beiden ihre Lager auf und schliefen trotz der ungewohnten Umgebung bald ein. Mitten in der Nacht wurden sie von grellen Blitzen und rollenden Donnerschlägen geweckt. Wie seltsam, ein Gewitter so früh im Jahr! Unsicher, ob das eine Verschlimmerung oder eine Verbesserung ihrer Lage bedeute, konnten sie nicht mehr einschlafen. Am Einschlupf ihrer Baumnester festgeklammert, starrten sie immer wieder auf die überhell beleuchtete Wasserfläche und lauschten beklommen dem Sausen des Sturmes, der auch ihre Baumkronen zauste und an ihren Nesthütten zerrte. Hastig begannen die Nestsiedler die Bindungen fester anzuziehen.

Als in Bogenschußweite vor ihnen eine hohe Fichte vom Blitz gefällt hoch aufloderte und ein knatternder Donnerschlag folgte, schrien sie gleichzeitig auf und begannen laut zu beten. Entmutigend kam ihnen als schwere Schuld zum Bewußtsein, daß sie alles, was Gott geweiht war, in der gefährdeten Höhle gelassen hatten. Ihre Aufregung wuchs, als weithin leuchtend das Feuer im Urwald um sich griff und der Sturm den heißen Rauch herübertrug. Als aber ein wolkenbruchartiger Regen den Waldbrand löschte, beruhigten sie sich. Das Gewitter zog bald vorüber. Von Schlafmangel und ausgestandener Angst erschöpft, kauerten sich die beiden auf ihre Liegestätten zu kurzer Ruhe.

Der Morgen war kalt, aber wohltuend still; die von der Sonne matt durchschienenen Nebel strichen, vom Winde leise bewegt, an den Lehnen und Wänden empor. Es begann sachte wieder zu regnen. Gewohnt, den Tag tätig zu verbringen, machten sie sich daran, auf dem Eiland Holz zu sammeln und ihre Nester ringsum sorgfältig zu umflechten. Sie konnten ja nicht wissen, wie lange sie darin hausen mußten.

Mit einem Male erzitterten die Bäume unter ihnen, die Erde bebte; ein Dröhnen, ein Knattern und Prasseln kam von der Klamm her. Schreckensstarr lauschten die beiden in die Ferne. Was war dort geschehen? Das ferne Rauschen des Klammbachs, das sonst als ein gewohnter, ununterbrochener Grundton alle Laute im Heimlichen Grund begleitet hatte, war plötzlich verstummt, und der neue Wasserfall, der aus der verlassenen Wohnhöhle stürzte, war aufdringlich laut geworden. Was war geschehen? »Ob eine Klammwand niedergegangen ist?« Zögernd sprach Peter es aus. Mit Schaudern dachte er an die Folgen.

Wenn die Klamm versperrt war und das Wasser nicht mehr durch die Schlucht abfließen konnte, dann mußte es steigen, steigen – vielleicht gar über die Baumwipfel, bis es die Höhe der stauenden Felsmassen in der Klamm erreicht hatte! Diese Gedanken sprach Peter nicht aus. Langsam glitt er zum Boden nieder. Am Stamm eines Ahornbäumchens, dessen Wurzeln vom steigenden Wasser bespült wurden, brachte er mit seinem Steinbeil scharfe Schnitte an, immer einen um einen Handbreit höher als den anderen, so weit er reichen konnte. Dann stieg er in sein Nest hinauf, kauerte sich am Einschlupf nieder und starrte unverwandt auf die Wassermarken. Lange schien es ihm, als bliebe der Wasserstand gleich. Vor Anstrengung begannen ihm die Augen zu schmerzen, er mußte sie schließen.

In sein Bangen und Sinnen klang das aufgeregte Gezwitscher der Zaunkönige und Bergfinken, die, von ihren Nistplätzen im Tale verdrängt, in großer Zahl im Gezweig der Buche herumflatterten. Und zum erstenmal beneidete er die gefiederten Bewohner des Heimlichen Grunds um ihr Flugvermögen. Oh, wenn auch er Flügel hätte! Und Eva! Fliegend würden sie sich emporheben und fortschweben in ein fernes Land …

Plötzlich riß er die Augen auf und starrte hinunter zum Ahorn. Das Wasser war gestiegen! Mit Entsetzen sah er, wie es sich schon der zweiten Marke näherte. Als das Wasser die fünfte Marke erreicht und die Kleintiere sich auf ein winziges Fleckchen um die Buche herum zusammengedrängt hatten, gab Peter alles Hoffen auf.

Er drückte die geballten Fäuste gegen seine Augen und begann zu schluchzen. Und Eva mochte fragen, was er denn auf einmal habe, er gab keine Antwort. Es mußte etwas Furchtbares geschehen sein! Weinend warf sie sich auf ihr Lager.

Das Wasser stieg und stieg. Auf seinen Fluten trieben lebende und tote Tiere dahin: Igel, Mäuse, Bilche, Maulwürfe. Was an den Baumstämmen emporklimmen konnte, verlor sich im Gezweig. Gemeinsame Todesgefahr hatte den Unterschied zwischen Raub- und Beutetier ausgelöscht. Schlangen kletterten an den Menschen vorüber in das Geäst. Als die Insel gegen Abend völlig überflutet war und die Krone des jungen Ahorns langsam in den ziehenden Fluten verschwand, als das steigende Wasser die untersten Äste der Wohnbäume erreichte, da schrien die Nestsiedler laut auf, daß es schauerlich von den Felswänden des Heimlichen Grunds widerhallte. Sie hatten die heiligen Bilder dem Wasser preisgegeben; jetzt kam die Strafe!

Peter gelobte auf Evas Anraten, das Kostbarste zu opfern, das er besaß, seine durchlochte und geschliffene Steinaxt, wenn Gott die stauenden Steinmassen in der Klamm von den Wassern wegräumen ließe. Die Flut aber stieg unaufhaltsam. Hoffnungslos und untätig warteten die Entmutigten auf den Augenblick, wo das Wasser sie erreichte und mit sich fortführte.

Von Schlafmangel entkräftet, brachten sie nicht mehr den Willen auf, die Dächer ihrer Nesthütten zu zerstören und höher in die Baumwipfel zu klettern. Dumpf vor sich hinbrütend, kauerten sie in ihren Nestern, ohnmächtig der unaufhaltsam steigenden Flut preisgegeben, die den Talgrund füllte, Felsen und Wälder bedeckte und alles Leben zerstörte – die Sintflut.

Wild im Steinschlag

Am nächsten Morgen wachten sie früh auf und sahen hinaus: Es regnete, und es regnete fort, stetig und reichlich.

Tagelang eingeregnet in den Höhlen!

Anfangs ertrugen sie ihre Gefangenschaft tapfer. Einmütig arbeiteten sie an einem Tragkorb, der, größer und fester als der erste, Peter dienen sollte und auf seinen Wunsch zwei seitlich angebrachte Henkel erhielt, damit er ihn auf dem Rücken tragen konnte. Sooft der Regen ein wenig nachließ, suchten sie sich draußen ihre kargen Mahlzeiten. Trotz der Arbeit war die Eßlust der beiden nicht groß. Beeren und Wurzeln schmeckten ihnen nicht mehr. Die Körperkräfte ließen nach, Niedergeschlagenheit stellte sich ein, sie wurden ganz mutlos. In dieser gedrückten Stimmung fiel ihnen vieles Unangenehme auf, das sie bisher nicht beachtet hatten. Ihre Haare, nur mit den Fingern gekämmt, waren wirr, die Kleider vom Herumstreifen durch dornige Stauden zerrissen; Peters Hemd hatte Löcher an den Ellbogen und einen Riß an der Schulter. Sie brauchten warme Kleidung, ehe der harte Winter kam. Das waren ernste Sorgen.

Peter lag mit offenen Augen und starrte durch die Dämmerung zur verräucherten Decke seiner Höhle empor. Da hörte er plötzlich ein donnerartiges Getöse, als ob Steinmassen stürzten. Hatte nicht der Boden unter ihnen gezittert? Lauschend setzte er sich auf. Und noch einmal donnerte es; schweres Poltern folgte, klatschendes Aufschlagen von Felstrümmern, Prasseln von springenden Steinen. Peter fühlte sein Herz klopfen bis herauf zum Hals. – Stürzte die Höhle über ihnen zusammen? Er wunderte sich, daß nach dem Lärm eine Stille eintrat, in der sein scharfes Ohr vom Walde her das Knistern niedergetretener Reiser vernahm: Wild, das vor dem Getöse des Steinschlages flüchtete. Das also war der Schrecken des Heimlichen Grunds.

Peter sprang von seinem Lager auf. Das mußte er sehen. Was der Regen oben an Gestein locker gemacht hatte, das lag unten, und mehr kam jetzt an der gleichen Stelle gewiß nicht herab. Ohne sich von Eva zu verabschieden, griff er nach dem Tragkorb und tat seinen Fauststein und ein Steinmesser hinein. Hastig brach er auf; er wollte zurück sein, ehe Eva aufstand.

Dort rechts an der Felswand, wo mittags die Sonne grell hinbrannte, mußte es gewesen sein! Mit ein paar Sätzen war er im Wald, watete durch den regenfeuchten Modergrund und kletterte über morsche, gestürzte Baumriesen. Der Regen hatte nachgelassen, war in ein stilles Rieseln übergegangen, bei dem es Peter zu frösteln begann.

Beim Anblick einer hohlen Buche kam ihm ein Gedanke. Wie wär’s, wenn er da sein durchnäßtes Gewand versteckte, statt es auf dem Leibe zu lassen und es beim Kriechen durchs Strauchwerk noch mehr zu zerfetzen? Kaum hatte er sich der nassen Kleidung entledigt, hörte das Frösteln auf. An einem Stock wollte er Hemd und Hose in die Baumhöhlung hängen.

Plötzlich hörte er im Baum ein Knistern und Summen; rasch entschlossen stieß er den Stock höher in den hohlen Stamm hinein. Da fielen schwere, gelbbraune Waben herunter, auf denen graubepelzte Bienen herumkrochen, starr von der Regenkühle. Peter schaffte die Waben ins nasse Gras des Waldbodens und kehrte die Bienen mit einem Tannenzweig ab. Die honigschweren Waben tat er in seinen Korb. In eine aber biß er, vom Duft verlockt, hinein. Ob Honig oder Larven in den Zellen waren – er aß darauf los. Das ausgesaugte Wachs aber ballte er zu einer Kugel zusammen und tat es auch in den Korb. Wer weiß, wozu es taugen mochte.

Die Bangigkeit, die sich Peters bemächtigt hatte, während er durch die versumpfte Niederung des Urwaldes gedrungen war, wich beherzter Zuversicht, als er in den Eichenbestand des oberen Waldes kam, durch dessen Blätterdach das erste Sonnenlicht sickerte. Ohne sich lange aufzuhalten, hob er da und dort einen genießbaren Pilz vom Boden auf, tat ihn in den Korb und ging weiter. Da bemerkte er Wildspuren und Losung, die er nicht kannte. Sein lauschendes Ohr vernahm wieder das Knistern niedergetretener Reiser. Vom Stamm einer Eiche gedeckt, spähte er nach vorn. Dort – kaum einen Steinwurf weit sah er eine Wildsau mit acht Frischlingen. Das graue Borstenkleid des mächtigen Tieres hob sich glänzend vom braunen Waldboden ab, während die Frischlinge mit ihrem rötlichen, gelbweiß gestreiften Jugendkleid sich so fremd ausnahmen, als gehörten sie nicht in die düstere Umgebung. Peter stand regungslos vor Schreck und Verwunderung. Was er einst vom Ähnl über die Wildheit der Muttertiere bei der Verteidigung ihrer Jungen gehört hatte, ließ ihn um sein Leben zittern. Schleichend wollte er in weitem Bogen um die Tiere herumkommen. Trotz aller Vorsicht trat er immer wieder auf dürre Zweige, dessen Knacken durch die Stille hallte. Die Wildsau hob den mächtigen Kopf, glotzte mit ihren auffallend kleinen Augen sekundenlang das sonderbare Wesen an, das sich zaghaft davonbewegte, und wühlte dann, behaglich schmatzend, weiter im Morast.

Langsam und nicht ohne Beklemmung arbeitete sich Peter durch das Buschwerk des Waldsaumes. Sträucher waren vom Steinfall geknickt und starke Bäume in geringer Höhe über dem Boden scharf abgeschnitten. Die Halde an der Felswand zeigte kein Grün außer den zerbrochenen Knieföhren, die mit wirrem Wurzelwerk unter und zwischen niedergegangenen Steinplatten und -blöcken herumlagen, halbbedeckt von kopfgroßen Stücken Kalksteins, die gegen die Wand zu in feinen Bruchsand übergingen. Peter stolperte zwischen den Steintrümmern umher.

Da! – Das Herz stand ihm still.

Ein Ziegenfuß ragte aus dem Schutt. Aber die Hufe waren stärker, die Beine dicker als die einer gewöhnlichen Ziege, auch fiel ihm die hellbraune Behaarung der Innenseite auf.

Sogleich machte er sich ans Ausgraben. Alles um sich her vergessend, fing er an, die Steine abzutragen; bald hatte er das Bein bloßgelegt; rastlos arbeitete er weiter, bis er so weit war, daß er das Bein fassen und daran zerren konnte. Wie verankert lag der Vorderkörper im Gestein. Es galt nun, den verklemmten Kopf mit dem Gehörn freizulegen.

Peters Hände waren zerschrammt, stellenweise quoll neben den Nägeln das Blut heraus, aber er ließ nicht nach.

Endlich lag vor Peters Augen ein Horn frei. Noch nie hatte er dergleichen gesehen. Armdick, schön gebogen und länger als sein ausgestreckter Arm, mit starken Querwülsten – ein prächtiges Gebilde. Jetzt faßte er es an und hob damit auch den Kopf mit dem zweiten Horn aus dem Geröll. Der schwarze Kinnbart des Tieres war viel kleiner als der eines gewöhnlichen Ziegenbocks – Peter hatte einen alten Steinbock vor sich! Was nun? Ausweiden und abhäuten! Nur blitzartig durchzuckte ihn der Gedanke, die gute Eva könnte sich um ihn bangen, wenn er so lange ausblieb. Aber das braune, dichte Fell des Tieres wollte er nicht im Stich lassen. Er dachte an den Winter. Schon kniete er und begann mit dem Steinmesser die Haut an der Brustseite aufzuschneiden. Schwer kam er durch. Auch das Auslösen ging nicht leicht. Oft mußte Peter mit einem scharfkantigen Stein nachhelfen. Das Abhäuten dauerte viel, viel länger, als Peter gedacht hatte. Und jetzt stand die Sonne schon hoch.

Um schneller fortzukommen, entschloß er sich, den Schädel einstweilen in der Haut zu lassen, den Rumpf aber herauszulösen und ihn den Raubtieren zu opfern. Das Fleisch des alten Bockes war ja zu zähe. Beim Durchtrennen der Gelenke und der Wirbelsäule erwies sich Peters Fauststein als ein sehr brauchbares Hack- und Schneidewerkzeug.

Endlich konnte er den schweren Rumpf herauswälzen.

Aber ganz sollten ihn die Geier und Füchse nicht haben! Das Herz des starken Tieres wollte Peter essen, um seine Kraft in sich aufzunehmen. Und das Gedärm wollte er auch nicht verderben lassen. Er packte es zwischen Klettenblätter, Reisig und Waldreben. Dann tat er es samt Lunge und Leber in seinen Buckelkorb unter die Honigwaben.

Besser als die zähen Herzmuskeln schmeckten ihm zu einigen Bärenlauchblättern die Klumpen geronnenen Blutes aus den Herzkammern. Wunderbar gekräftigt erhob er sich, nahm den Korb auf den Rücken und schleifte die Bockshaut an den Hörnern quer durch den Wald. Der Regen hatte aufgehört. Durch die Baumkronen sickerte das Sonnenlicht auf den spärlich bewachsenen Boden. Die Augen auf die Spuren gerichtet, die er beim Herweg in den Moder getreten hatte, drang Peter tiefer in den Wald ein. Glücklich kam er bei der hohlen Buche an, wo seine Kleider hingen. Er fand sie umwimmelt von aufgeregten Bienen, die, unter der Sonnenwärme wieder beweglich geworden, eifrig damit beschäftigt waren, von den herumliegenden Bruchstücken ihrer Waben den Honig aufzunehmen.

Beim ersten Versuch, seine Kleider zu fassen, schrie Peter vor Schmerz auf. Einige der gereizten Wildbienen hatten ihm ihre Giftstacheln in die Haut gebohrt. Und jetzt erhob sich der Schwarm.

Entsetzt wich der Junge zurück, nahm Korb und Gehörn auf und rannte, das Fell nachschleifend, über gestürzte Bäume und üppige Farnkräuter davon. Sein nackter Körper bot den Verfolgern zuviel Angriffsflächen. Aufschreiend vor Schmerz, sooft ein neuer Stich ihn traf, suchte er nach einem Versteck. Neben einem Regentümpel, der eine seichte Senke des aufgeweichten Waldbodens füllte, warf er den Korb von der Schulter. Hier wollte er Linderung finden. Da versank er bis über die Hüften im Schlamm, kauerte sich vollends nieder und schleuderte den wütenden Bienen mit den Händen Wasser entgegen. Das half. Sie zogen sich zurück. Er fühlte, wie unter der Wirkung des kühlen Erdbreies der Schmerz nachließ.

Ein wohliges Gefühl ließ ihn eine geraume Zeit im Schlammbad bleiben. Jetzt erst kam ihm zu Bewußtsein, daß die Bockshaut sein erstes selbsterworbenes Gewand werden könnte. Die zerfetzten Kleider hätten ja ohnehin nicht mehr lange gehalten, und er hatte keine Lust, sie aus dem Bereich der wilden Bienen zu holen. Mit Hilfe eines Schneidsteins löste er mühsam den Schädel aus dem Fell, das er sich als Schutz um den Leib wand. Dann stapfte er quer durch den Wald den Wohnhöhlen zu.

Als er nur noch wenige Schritte davon entfernt war, überlegte er sich, wie er Eva überraschen wollte. Leise trat er aus dem Wald. Jedem dürren Zweig aus dem Wege gehend, näherte er sich der Felswand. Vorsichtig brachte er den Bocksschädel in seine Höhle, legte ihn möglichst wirkungsvoll ins Licht, stellte den Korb mit den Waben dazu, und dann rief er, zappelnd vor Vorfreude: »Everl, Everl, komm herunter!«

Keine Antwort. »Schlafhauben, wach auf! Ich hab‘ was mitgebracht!«

Nichts regte sich.

Beunruhigt stieg er hinauf. Eva war nicht zu sehen. Er durchwühlte das Laub ihres Lagers. Das war kühl, sie mußte schon lange fort sein. Er drückte sich in den dunklen Felsspalt, der ins Innere des Berges führte, und mit einer vor Angst und Zorn überschnappenden Stimme rief er wieder: »Everl, Everl!«

Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke: Peter, du bist dumm! – Sie ist draußen und sucht dich!

Hastig warf er das Gedärm des Bocks aus dem Korb, tat dann zu Lunge, Leber und Honigwaben eine Handvoll Gundelkraut, Bärenlauch, Wurzeln, Schneidstein und Rehkrickel. Den Fauststein in der Rechten, kletterte er den Steigbaum hinab. Dann durchstreifte er den Wald kreuz und quer und ließ erst fragend, dann ungeduldig und zornig seinen Ruf ertönen: »Eva! Eva!« Scheue Spechte schwirrten auf, Krähen und Eichelhäher verließen krächzend und ratschend ihre Nester in den Baumwipfeln, aber von Eva kam keine Antwort.

Peter wandte sich dem Bache zu, durchwatete ihn, brach durch das Buschwerk und suchte, beständig rufend, den Hang ab, wo er mit ihr Heidelbeeren gepflückt hatte. Noch immer keine Antwort! Wenn sie einem Bären zum Opfer gefallen wäre? Schaudernd schloß er die Augen. Im nächsten Augenblick suchte er sich einzureden, es gebe überhaupt keine Bären mehr im Heimlichen Grund, sie seien den Steinschlägen erlegen. Eva sei wahrscheinlich ermüdet irgendwo eingeschlafen – vielleicht unterm Felsendach, am Grab der Großmutter; ja, dort, dort war sie am ehesten.

Schon vom Sonnstein aus merkte Peter, daß am Grab der Ahnl etwas Ungewöhnliches vorging. Eine Krähenschar hielt die Birken und Föhren oberhalb des Grabes besetzt. Krächzend erhoben sich die Vögel und ließen sich sofort wieder nieder. Beim Näherkommen gewahrte Peter einen riesigen Raubvogel, der vom Felsendach über dem Grab abstrich und sich dann in trägem Fluge zum Steinfeld senkte, und da war noch einer und ein dritter. Wie angewurzelt blieb Peter stehen. Was wollten die Geier dort?

Peter ließ den Fauststein in den Korb gleiten und sammelte kniend Steine auf, die er mit der Linken an die Brust preßte; einen faustgroßen Kiesel nahm er in die Rechte. So schlich er sich an, von Busch zu Busch, immer in Deckung.

Da hörte er einen durchdringenden Schrei: »Peter! Peter!« Aber er hütete sich, Antwort zu geben. Näher schlich er; Eva stand neben dem Grab und schleuderte einen Stein. Der Geier, dem der Wurf gegolten hatte, trippelte nur ein paar Schritte weiter weg und schob den Kopf auf dem langen Halse einigemal vor und zurück, zog ihn dann bis zur Halskrause ein und verharrte ruhig abwartend wie seine beiden Genossen. Geier haben Zeit.

Peter war kaum zehn Schritte von dem nächsten entfernt. Jetzt konnte er den Wurf wagen. Weit holte er aus, der Stein traf den Hinterkopf des Raubvogels. Aufschreiend warf sich der Geier rücklings auf den Boden, drehte sich flügelschlagend um sich selbst, hackte mit dem Schnabel in die Luft und griff mit den gewaltigen Fängen ins Leere. Mit schweren Schwingenschlägen erhoben sich die beiden anderen und flogen den Klammwänden zu.

Peter schleuderte noch einen kopfgroßen Stein auf die Brust des Getroffenen. Ein Zittern ging durch die mächtigen Schwingen, dann lagen sie regungslos, die Fänge krampften sich zusammen, und der Kopf sank zu Boden.

Jetzt trat Peter an Eva heran. Schluchzend fiel sie ihm um den Hals, und stoßweise brachte sie die Worte hervor: »Peter, geh nie mehr fort von mir! Tu mir das nimmer an!« Sie hielt und drückte ihn, daß ihm schier der Atem verging. Mit beiden Händen hielt er ihren Kopf umfaßt, und große Tränen flossen über seine Wangen.

Ihre Arme sanken schlaff herab. Peter trat an das Grab der Ahnl. Die hageren Hände mit den zerdrückten und verwelkten Blumen waren bloßgelegt. Das hatten Füchse getan, und sie waren offenbar von den Geiern überrascht worden. Eva erzählte nun: »Mir war zum Sterben angst, weil ich dich nicht hab‘ rufen können. Ich wollt‘ beten gehen, zum Grab.«

»Everl, wir müssen die Großmutter besser begraben, jetzt gleich. Lauter große Steine müssen aufs Grab. Hilfst mir?« Damit faßte Peter die nächstliegende Steinplatte und löste sie mit kräftigem Ruck aus dem moosigen Grund.

Eva half schleppen. Ihre vor Verwunderung weiten Augen musterten sein Fellkleid, aber noch fragte sie nicht, wie er dazu gekommen sei.

Sie trugen Steine herbei, so groß wie sie sie schleppen konnten, und Peter legte Stein neben Stein. Dann streuten sie Sand, Erde und Laub darüber, und zum Schluß deckten sie Moospolster über die Ruhestätte. Nach getaner Arbeit stiegen sie zum Bach, um sich die Erde von den Händen und die Tränen von den Wangen zu waschen.

»Everl«, fragte der Bub plötzlich, »hast Hunger?«

»Ich hab‘ heut noch nix ‚gessen, gar nix«, war die Antwort.

Da führte er sie zum Korb, nahm ihn auf und stieg voraus, die Grablehne empor. Oben ließen sie sich nieder, und Peter teilte auf Lattichblättern ihr und sich das Mahl zu, Lunge und Leber vom Bock, dazu Bärenlauch und Wurzeln. Beide aßen heißhungrig. Als Nachspeise verzehrten sie Honig mit Bienenlarven. Den Rest von Lunge und Leber warf Peter weg, er hätte sich doch nicht gehalten. Eine Handvoll herber Heidelbeeren mundete köstlich nach der sonderbaren Mahlzeit. Jetzt erst erzählte Peter von seinem Beuteglück und von den Bienen.

Noch waren seine Arme von den Stichen verschwollen, wenn auch das Schlammbad die Schmerzen genommen hatte.

Den erlegten Raubvogel in der Linken, Evas Hand in der Rechten, so schritt Peter am Ende des ereignisreichen Tages dem Heim zu, und dort erst freute er sich richtig, als Eva staunend das mächtige Gehörn des Steinbocks hin und her wendete.

Peter zieht hinaus und Eva schafft zu Haus

Peters Schlaf wurde in den Morgenstunden unruhig. Im Traum war er in schwindelnde Höhen hinaufgestiegen, wo Steinböcke grasten. Mit einem erlegten Bock war er abgestürzt. Als ein Geier mit vorgestreckten Fängen auf ihn niederstieß, schrie Peter auf und – erwachte. Neben ihm lagen das stinkende Fell und der Schädel des Steinbockes, nicht weit davon der ausgebalgte Geier. Von den üblen Gerüchen war der böse Traum gekommen.

Er mußte etwas tun, um den Bälgen den üblen Geruch zu nehmen. So stieg er hinunter zum Bach, wusch sich, holte einen Hartsteinsplitter, schabte von den Häuten alles anhaftende Fett und rieb die Bälge auf der Innenfläche mit nassem Lehm ein; die Erde sollte den argen Geruch in sich aufnehmen. Dann nahm er den Schädel des Bocks wieder vor. Er löste die Zunge heraus, wusch sie im Bach und schlitzte sie mit seinem Steinmesser der Länge nach vielfach auf. Dann stach er Lauchzwiebeln aus, pflückte ein Büschel blühenden Gundelkrauts, würzte damit die Zunge und wickelte sie in ein Klettenblatt. Das Fleisch von Kiefer und Schädeldecke loszuschaben, gelang ihm nicht, so daß er es den Ameisen, Wespen und Schmeißfliegen überließ. Die abgelösten Fleischfetzen legte er als Köder für Wildzeug auf einen Stein, den er von der Höhle aus sehen konnte. Vielleicht fand sich ein Fuchs oder ein Rabe auf dem Köderplatz ein.

Dann trieb er einen Holzstab, den er mit Hilfe eines Schneidkeils angespitzt hatte, schräg in eine Felsritze über den Eingang seiner Höhle und steckte den Schädel des Steinbocks darauf. In den Geierbalg führte er kreuzweise zwei Spannstäbe ein, stopfte ihn mit Moos und Wacholderreisig aus und machte ihn neben dem Steinbockschädel fest. Der Harzduft mochte das Ungeziefer fernhalten.

Auch Eva hatte schlecht geträumt.

Er führte sie zur Lichtluke. »Schau, Everl, heut wird’s schön. Der Sonnstein schaut schon licht herüber; die Klammwänd‘ und die Firne leuchten rot. Komm zum Bach!« Das Waschen im kalten Bachwasser machte sie munter und froh. Unterwegs zur Höhle mühte sich Eva, mit den Fingern ihr wirres Haar zu ordnen, und Peter zeigte ihr stolz den Schmuck über dem Höhlenzugang.

»Jetzt essen wir aber!« Die zähe Bockszunge war mit harter Haut bedeckt und trotz aller Würze ungenießbar. Enttäuscht gingen sie an eine Arbeit, die recht unangenehm war, die aber nicht aufgeschoben werden durfte.

Die Gedärme des Bocks mußten gereinigt werden. Peter wußte von früher her, wie er das anzupacken hatte. Erst wurde es zwischen Holz und Stein vom anhaftenden Fett freigeschabt, an einem Ende vorgestülpt und unter dem Druck des einströmenden Bachwassers das Innere nach außen gekehrt, so daß sich der Darminhalt in den Bach entleerte. Dann wurde es mit einem Schabholz von den Schleimhäuten befreit und gewaschen und schließlich noch durch die Hand gezogen und die eingedrungene Luft hinausgedrückt.

Am Gedärm des Eichhörnchens, das lose vor der Höhle hing, hatte Peter die Erfahrung gemacht, daß es beim Trocknen zu einem hornigen Klumpen eingeschrumpft war. Deshalb verwandelte er das Bocksgedärm durch Drehen in eine Art Saite, die er dann zum Trocknen spannte.

Nun sah er sich nach etwas um, womit er sie glatt machen könnte. Er fand am Bachrande einen dazu tauglichen Oberschenkelknochen eines Rehes. Wo das Grübchen unterm Rollgelenk war, durchlochte er den Knochen mittels eines spitzen Hartsteinsplitters so, daß er das obere Ende der Saite durchfädeln konnte. Dann band er die Saite an einem Eschenbäumchen fest, drückte sie mit dem Daumen über das glatte Rollgelenk und setzte sich rückschreitend in Bewegung. So mußte die Saite durch das Loch im Knochen gleiten, wobei die Luftbläschen in ihrem schlaff herabhängenden Teile weitergetrieben wurden. Der neue Saitenglätter entließ die Saite wie rundgeschliffen und spannte sie gleichzeitig. Sie wurde länger. Seiner Erfindung froh, verwahrte Peter das gelungene Werkzeug nach Beendigung dieser Arbeit zu künftigem Gebrauch. Dann wickelte er die Saite so straff auf einen Stab, daß sich dieser bog. Das gab zwölf Mannslängen starken Bindfaden. Diesen kostbaren Vorrat trug er zur Höhle hinauf und hängte ihn ans obere Ende des Steigbaums.

Jetzt erinnerte sich Peter des Bocksrumpfes, den er an der Steinschlaglehne gelassen hatte. Ob dort das Raubzeug schon beim Fraße war?

Er schulterte seinen Korb, nahm den Faustkeil an sich und sagte Eva, daß er allein fortgehen wolle.

Sie wollte ihn nicht von sich lassen.

Da stellte er sich herrisch vor sie hin: »Das Jagen ist Männersach‘. Du wärst mir nur im Weg. Mach du zu Haus deine Arbeit.« Seine Stimme klang rauh.

»Ja, was denn?« wandte sie weinerlich ein.

»Ordentliche Körb‘ mit runden Böden.«

»Aus freier Hand geht’s nicht«, gab sie zurück.

»So, dann will ich dir eine Unterlag‘ bringen.« Und fort war er.

Durch einen Tränenschleier sah Eva ihm nach; so grob hatte er sie noch nie behandelt. Erbitterung überkam sie. Sie hörte, daß er mit wuchtigen Hieben irgendein Holz bearbeitete. Er blieb lange aus. Dann sah sie, wie er keuchend einen Baumstrunk heranwälzte, rührte sich aber nicht von der Stelle, um ihm zu helfen.

Als er mit dem unförmigen Ding vor der Höhle angelangt war und sich den Schweiß von der Stirn strich, tat er ihr wohl leid, aber sie rührte keine Hand. Da fuhr er sie an: »Steh nicht so da, der Werkstrunk muß ’nauf. Ich heb‘ ihn und du ziehst.«

Langsam und sperrig ließ sich die Last emporschieben. Endlich langten die beiden oben an. Peter, noch atemlos, bearbeitete schon den Lehmboden, um für die Wurzelstummel des Strunkes Vertiefungen auszuheben. Dann aber mußte er die splittrige, quer von Ameisengängen durchzogene Bruchfläche des Strunkes lange mit Schneid- und Schlagsteinen bearbeiten, bis sie nur halbwegs eben wurde. Zum Schluß holte er einen grobkörnigen Granitbrocken und raspelte damit die letzten Unebenheiten weg.

Dann rutschte er über die Felsrinne hinunter und holte Waldreben. Mit Fäustel und Steinmesser hackte und schnitt er die schmiegsamen, oft wirr ineinanderverflochtenen Ranken nahe über dem Boden ab, bis er einen schweren Bund beisammen hatte. Den schaffte er in die Höhle, kniete sich vor den Strunk und begann die Flechtarbeit, wie er sich’s ausgedacht hatte.

Eva reichte ihm neue Ranken zu, die er zur Verdichtung des Grundsterns als Zwischenstrahlen einlegte, dann über den Rand umknickte und unter einer Ranke durchzog, die als Reifen herumgelegt war, so daß die Gestalt des Korbes sich abzeichnete.

Jetzt legte Eva ihre Hände auf seine Rechte und hinderte ihn am Weiterarbeiten. »Laß gehen, das schaff‘ ich schon …«

Mit einem Schmunzeln überließ er ihr die Arbeit, tat Steinmesser und Krickel in den Spitzkorb und verließ die Höhle, den Faustkeil in der Rechten. Er stapfte der Steinschlaglehne zu und brannte vor Ungeduld, dort Füchse, Raben und Geier bei der Mahlzeit zu beschleichen. Vielleicht waren auch Bären da. Felle mußte er haben, ehe der Winter kam, zu Kleidern und Schlafdecken für sich und Eva!

Gut gedeckt hinter Haselschößlingen spähte Peter aufgeregt zwischen den vom Steinschlag verstümmelten Bäumen und geknicktem Buschwerk nach der Trümmerhalde. Er vernahm das heisere Krächzen streitender Raben und Nebelkrähen. Und dort an der Stelle, wo die Überreste des Bocks lagen, bewegte sich etwas Großes, Plumpes, Dunkelbraunes, ein rundlicher Fleck und noch einer. Unter Peters Fuß knackte ein dürres Reis. Da erhoben sich die braunen Körper: Zwei Bären standen da, zur vollen Höhe aufgerichtet. Die kurzohrigen, breitstirnigen, spitzschnäuzigen Köpfe mit den kleinen Augen herübergewandt, die Vorderpranken gesenkt, horchten sie. Peters Herz ging in raschen Schlägen; sollte er fliehen oder bleiben? Noch hatten die Bären ihn nicht gewittert. Doch jetzt schienen sich die Tiere beruhigt zu haben, sie ließen sich wieder einträchtig zum Fraße nieder. Peter schlich näher heran; er wollte die ganze Halde übersehen.

Da droben, nah an der Wand, wo der feine Geröllsand lag, gewahrte er fünf Füchse, zwei alte und drei halbwüchsige, die scharrend etwas freizulegen suchten. Es mochte ein im Steinschlag gestürztes Tier sein.

Wie stachen Peter die roten Fuchspelze in die Augen! Er schlich sich bis auf wenige Schritte heran.

Ein Wimmern, ein langgezogenes »Errr« ganz in seiner Nähe ließ ihn zusammenschrecken. Er neigte sich vor.

Da stand dicht vor ihm, harmlos äugend, ein Bärenjunges und schnupperte zu ihm herüber. Es war drollig in seiner Plumpheit; noch hatte es den weißlichen, halbmondförmigen Halsstreifen, den alle jungen Bären haben. Am liebsten hätte Peter es lebend eingefangen und heimgenommen. Aber eines der Alttiere schickte sich an, nach dem Jungen zu sehen. Leise zog sich der Jäger zurück. In großen Sätzen suchte er das Weite und wagte lange nicht, sich umzusehen. Aber die Bären folgten ihm nicht.

Je mehr er sich dem heimischen Waldrand näherte, um so zuversichtlicher schritt Peter dahin. Er dachte wieder an Eva und an das Essen, das er noch besorgen mußte.

Am Fuß einer alten Föhre sah er zwei schöne, nußbraune Steinpilze und daneben ein Nest von Eierpilzen. Nahe dabei standen zwei junge Schirmpilze und ein Satanspilz, dessen brauner Hut dem eines dunklen Herrenpilzes glich; aber der rotschimmernde, dunkel geäderte Strunk warnte Peter vor der Verwechslung. Dankbar dachte er an die Ahnl, die ihn gelehrt hatte, giftige Pilze von ungiftigen zu unterscheiden. Er hob die genießbaren aus und fädelte sie mit den Strünken an einen Buchenzweig. Jetzt noch einige Wurzeln, und für die nächste Mahlzeit war gesorgt.

Auf einem sumpfigen Rasenstreifen, in dessen Moos sich das Wasser staute, das von der Felswand sickerte, sah er Hunderte schlanker Wiesendisteln, deren rote Blütenköpfe auf den karg beblätterten Stengeln im Winde schwankten. Die kannte er gut. Mit beiden Händen faßte er die Stengel samt den bodenständigen Blattsternen und zog daran. Der kriechende Wurzelstock mit einem ganzen Nest fingerlanger, rübchenartiger Wurzeln löste sich aus dem Grund. Drei solche Stauden genügten. Zum Überfluß plünderte er noch einen Weißdornbusch, der eine Fülle halbreifer, hellroter Früchte trug.

Eva empfing ihn mit hellem Jubel: Einen rundbödigen Korb hielt sie ihm entgegen, bei dessen Flechten ihr das Rehkrickel als Vorstecher gedient hatte. Die abstehenden Enden hatte sie mit den Zähnen abgebissen. Auch einen zweiten Korb hatte sie schon begonnen.

»Das hast gut g’macht!« beeilte sich Peter zu loben, »einen für mich und einen für dich, so ist’s recht. Schau, die Mehlbeeren sind schon bald reif, und jetzt nach dem Regen gibt’s Pilzlinge, haufenweis‘. Da können wir heut noch anfangen mit dem Eintragen und Dörren für den Winter. – Weißt, wie zu Ahnls Zeiten. Es wird eine hungrige Zeit werden, mach dich darauf gefaßt, uns wird allerhand schmecken müssen.«

Obwohl es noch Vormittag war, fielen die beiden über die Wurzeln und Beeren her. Von den Pilzen genossen sie nur das Fleisch der Hüte, die Häute waren zu herb.

Regelmäßige Mahlzeiten gab es nicht; beide aßen, wenn der Hunger mahnte und wenn es etwas Genießbares gab. Kauend erzählte Peter, was er gesehen hatte. Er hielt sich beinahe an die Wahrheit; nur waren seine Bären von riesenhafter Größe, das machte seine Zurückhaltung begreiflich, oder nicht? In Evas Augen las er trotzdem Bewunderung.

Während er sich beim Erzählen alles vergegenwärtigte, tauchte in ihm die Frage auf, wie er seinen Arm verlängern könnte, um sein Stoßmesser dem Feind zwischen die Rippen zu bohren, ohne sich in den Bereich seiner Pranken zu begeben. Da kam ihm der schier selbstverständliche Gedanke, den Steindolch am Ende einer Stange zu befestigen. Er wählte eine halbdürre Jungfichte, schlug sie mühsam über den Wurzeln ab, säuberte sie von Astwerk und Wipfelzweigen und kehrte zur Höhle mit einem Speerschaft zurück, der anderthalbmal so lang war wie er selbst.

Und Eva, der die Flechtarbeit nun flink von der Hand ging, wurde mit ihrem zweiten Korb fertig, ehe es ihm gelungen war, den Speerschaft mit einem Sandstein zu glätten und zu spalten. Drei Steinkeile zersprangen, als er sie mit dem Fauststein einzutreiben versuchte. Erst als er mit einem Holzknüttel einen Hartsteinkeil ins Stämmchen trieb, gelang es ihm, das Holz zu spalten. Eva holte den Spannstab mit dem Bocksgedärm herbei, das die Bindung abgeben sollte.

Während Peter sich noch mühte, den Steindolch in den Spalt des Schaftes zu zwängen, zupfte sie spielend an den gespannten Saiten. Den Kopf vorgeneigt, lauschte sie den leisen, schnarrenden Tönen nach, die durch die Schwingungen der Darmsaiten entstanden.

Als Peter ein Stück Saite zum Festbinden seiner Lanzenspitze vom Spannstab gelöst und den Rest festgebunden hatte, nahm Eva ihr Spiel wieder auf, während er zum Bach eilte, um das Darmstück anzufeuchten und geschmeidiger zu machen. Vom Köderplatz wehte ihm der Gestank des Bockfleisches zu, und zwei Kolkraben flogen auf. Er nickte vergnügt vor sich hin: Der Köder zog das Raubwild an.

Auf Eva, die noch immer mit den Saiten des Spannbogens spielte, achtete er nicht. Sie hielt den Handteller gegen die schwingenden Saiten und freute sich, wie es dabei auf der Haut kitzelte. Dann versuchte sie, ob eine schwingende Saite ein Blatt oder einen Zweig fortzuschleudern vermöchte, und lachte hell auf, als eine Zweiggabel, die sie rittlings auf sämtliche Saiten gelegt hatte, beim Losschnellen auf Peter zuflog, der gerade herüberschaute.

Da sprang er auf: »Gib das Ding her! Ich bring’s weiter!«

Er packte den Bogen mit der Linken, legte einen fingerdicken Stab auf, umfaßte ihn über den zusammengedrückten Saiten mit Daumen und Zeigefinger seiner Rechten, zog, daß sich der Bogen krümmte, zielte auf den nächsten Baum und – ließ los. Der Stab flog zwar um Baum vorbei, drang aber jenseits des Zieles so tief ins dürre Laub ein, daß Peter eine Waffe erahnte, die die Kraft seines Armes in die Ferne tragen konnte.

Im Gebüsch suchte er sich die schönsten Gerten. Aber das grüne Holz war zu schwer, es flog in steilem Bogen abwärts und kam nicht weit. Dann fand er, daß die Geschosse besser in der Zielrichtung blieben, wenn sie vorn schwerer waren als hinten. Sofort spaltete er einen Holunderstengel und klemmte einen Steinsplitter in den Spalt. Jetzt behielt der Pfeil besser die Richtung zum Ziel.

Den Rest des Tages und die nächsten Tage war Peter zu keiner Arbeit zu haben. Besessen von seiner neuen Leidenschaft, übte er sich im Bogenschießen und überließ es Eva, das Essen zu beschaffen.

Er merkte, daß die Vielzahl der Saiten nur ein Hindernis war; eine einzige diente besser. Und er drehte sich eine Saite zurecht, die glatt und fehlerfrei war, und spannte sie an einen daumendicken Stab, länger als er selbst. Dennoch hatte er beim Zielen nach Eichhörnchen und anderem Kleinwild keinen Erfolg. Die Holzpfeile waren zu plump. Er mußte sich leichtere beschaffen, deren Wucht nur in der Steinspitze liegen sollte.

Und während Eva in der nächsten Umgebung der Höhle eifrig Pilze sammelte, strich Peter bachabwärts und suchte die Gebüsche nach abgestorbenen Schößlingen von Holunder und Schierling ab. Auf diesen Streifzügen kam er weit unterhalb des Sonnsteins an eine Stelle, wo ein zweiter Bach in den Klammbach mündete. Hier stand zu beiden Seiten des versickernden Wassers ein Schilfdickicht. Peter suchte sich einen fingerstarken, geraden Rohrhalm, schnitt ihn auf Armlänge zu und versah ihn am unteren Halmknoten mit einem Steinsplitter. Am oberen Knoten, wo er die Saite auflegen wollte, brachte er die Kerbe an und gewann so einen leichten Pfeil. Durch die Schwere der Steinspitze wich dieser Pfeil weit weniger von der Zielrichtung ab und flog auch schneller dahin, so daß es Peter nach einigen Versuchen gelang, am Köderplatz eine Nebelkrähe zu erlegen.

Nun machte sich der Glückliche, der aus einem Spielzeug Evas eine brauchbare Waffe geschaffen hatte, daran, einen großen Vorrat von Pfeilschäften anzulegen.

Auf dem Heimweg ersann er noch ein Verfahren, das Halmende, in dem die Steinspitze saß, vor dem Zersplittern zu bewahren. Er mischte Harz, Wachs und ein wenig Lehmstaub zu einem streichbaren Brei. Handwarm haftete er gut an Stein und Holz, erkaltet wurde er steinhart. Mit dieser Masse kittete er die Steinspitze im Schilfhalm ein, so daß sie unverrückbar fest war.

*

Eva beeilte sich unterdessen, Wintervorräte von Pilzen und Beeren anzulegen, die sie zerkleinerte und in der Sonne trocknete.

Das Fleisch der Nebelkrähe war zähe und ungenießbar; aber der Balg, in den Peter kreuzweise Spannstäbe eingezogen hatte, machte Eva viel Freude. Sobald sie genug Vogelbälge beisammen hatte, wollte sie sich daraus ein Kleid machen.

Die Aussicht auf Nahrungsvorräte und Kleidung für den Winter stimmte die Kinder froh.

Bildsteine und Nadeln

Die nächsten Tage und Wochen brachten viel Arbeit. Peter und Eva sammelten ein, was sie finden konnten. Er, der keinen Weg ohne Pfeil und Bogen machte, jagte Häher und Eichhörnchen, die jetzt, zur Zeit der Haselnußreife, leicht zur Beute fielen. Auf den Halden waren die Schwarzwurzeln bereits so weit gediehen, daß sich das Ausgraben dieses Wildgemüses lohnte; in Sand gelegt, blieb es lange genießbar. Die Brombeerstauden gaben jetzt, im Spätsommer, ausgiebige Ernte. Zu den Heidelbeeren, die nur noch auf höheren Lehnen reichlicher standen, kamen die Preiselbeeren. Während Eva beim Herumstreifen nebenbei Bergflachs für Bindfäden sammelte, schoß Peter eine Menge Waldtauben und Alpendohlen, die leichter zu beschleichen waren als Krähen. Er sammelte von Fichten und Föhren, deren Rinde er mit seinem Fäustel angeritzt hatte, das herausgetretene Harz, das er zum Schäften seiner Pfeilspitzen und Steinwerkzeuge brauchte.

Beim ersten länger dauernden Regen waren beide in der Höhle tüchtig an der Arbeit. Von der Ahnl her wußten sie, daß getrocknete Pilze und Beeren luftig aufbewahrt werden mußten; sie machten sich daran, unter den Höhlendecken Trockenböden einzurichten. Peter rammte armdicke Stämmchen in den Lehmboden, schmächtige Jungfichten, die im Schatten hoher Waldbäume nicht richtig gedeihen konnten. Er legte auf Astgabeln über Kopfhöhe Querhölzer, belegte sie mit Zweigen, dürren Tannenreisern und großen Blättern und verflocht sie mit Waldrebenranken. Der Baumstrunk, der Eva zum Korbflechten gedient hatte, erwies sich dabei als brauchbarer Hocker zum Draufsteigen.

Als die Vorräte auf den Trockenböden in beiden Höhlen ausgebreitet waren, benutzte Peter den Strunk als Werktisch, in dessen Ritzen sich die Hartsteine beim Herrichten neuer und beim Ausbessern der abgenutzten Steinwerkzeuge gut festmachen ließen. Peter, dem die scharfen Kanten der Steinwerkzeuge beim Festhalten während der Arbeit Handfläche und Finger blutig rissen, sann auf Abhilfe. Er nahm länglichrunde Bachkiesel und schlug damit – natürlich mit aller Vorsicht – die vorstehenden schneidenden Ränder dort ab, wo er das Werkzeug halten wollte. Trotzdem sprang mancher langkantige Stein in Stücke, die dann nur noch als Kratzer und Schaber brauchbar waren. Nun versuchte er, die abstehenden Kanten mit dem Schlagstein abzudrücken. Das gelang schon besser; allerdings sprang durch den Druck von Hartstein auf Hartstein mehr ab, als Peter lieb war. Erst als er den Druckstein durch ein Rehkrickel ersetzte, gingen feine Splitter ab.

Eva sammelte die Hartsteinabfälle, um sie als Bohrer oder Vorstecher beim Zusammenheften von Fellen zu benützen. Da sie aus freier Hand die Steinspitze nicht in das nachgiebige Fell treiben konnte, spannte sie es über den Werkstrunk, so daß es dem beim Stechen ausgeübten Druck nicht ausweichen konnte. In die so erhaltenen Löcher ließen sich die Fäden leicht einführen und zwei Fellränder aneinander binden.

An den Zweigstummeln der Trockenbodenstützen baumelten Kräuterbündel, Waffen und Gerätschaften. Zum Aufhängen der frischen Bälge hatte Peter in einen Winkel ein verdorrtes Fichtenstämmchen gestellt, dessen Astquirle auf halbe Armlänge verkürzt und dessen Wurzeln mit Steinen beschwert waren.

*

Es war nun recht wohnlich in den Höhlen, in denen es nach gedörrten Früchten, Pilzen und Würzkräutern roch, aber auch nach rohen Fellen. Die Kinder fühlten sich geborgen und sahen sorglos in den Regen hinaus. Eva nähte sich aus Vogelbälgen und Kleintierfellen einen Lendenschurz und einen Schultermantel. Was sie an Kleidern mitgebracht hatte, war ja beim Schlüpfen durch Dornen und Gestrüpp zerfetzt. Für Peter fertigte sie einen Gürtel an, den er über dem Lendenschurz tragen sollte. An dem Gürtel befestigte sie ungeschlitzte Eichhörnchenfelle, die als Taschen für Pfeile, Steinwerkzeuge, Grabkrickel und dergleichen dienen sollten.

So saßen die beiden, jeder für sich beschäftigt, im Schutze der Höhlen. Wenn sie Hunger hatten, aßen sie von den Vorräten und taten es unbesorgt, draußen war ja noch so viel. Plaudernd gingen sie die Ereignisse ihres neuen Lebens im Heimlichen Grund durch, und Peter, der das Erlebte irgendwie festhalten wollte, ergänzte seine Tagstriche an der Höhlenwand durch Merksteine. Das waren dünne Mergelplatten, auf deren glatten Flächen sich Zeichnungen einritzen ließen. Leicht war es nicht, den Jaspissplitter so zu führen, daß deutliche Umrisse entstanden. Unter dem kratzenden Griffel erschienen ganz einfache Abbilder der Gestalten, die Peter in seiner Seele schaute.

Er zeichnete das Begräbnis der Großmutter, das Auffinden des Steinbocks im Steinschlag, die Begegnung mit den Geiern, das erste Abenteuer mit den Bären, die Erfindung von Bogen und Pfeil; ihm und Eva blieb diese Niederschrift für immer lesbar.

Peters Arbeitsgerät wurde täglich reichhaltiger. Während ihm der auch von Eva benutzte Baumstrunk als Arbeitstisch diente, bot ein anderer eine Sitzgelegenheit. Auch Eva hatte einen Sitzblock bekommen und ein neues Arbeitstischchen. Ein viel gebrauchtes Steinmesser, Peters längstes, war nun recht schartig geworden. Schon wollte er es zu Pfeilspitzen verarbeiten, da fuhr er, angeregt durch die Zickzacklinie der gebrauchten Kante, prüfend mit dem Daumen darüber. Die Zacken ritzten die Haut! Dann mochten sie auch zum Ritzen von Holz taugen … in der Tat, es ging! Und so war ohne Peters Absicht aus dem Messer eine Art Säge geworden, mit der sich ein Stab rundherum so tief einkerben ließ, daß er an der Kerbe leicht abzubrechen war. Peter schäftete sie in einen Stab und befestigte sie mit Harz und Wachs. Zum Ankerben eines Baumes war die kleine Säge unbrauchbar. Dazu brauchte er eine größere. Um ein längeres Sägeblatt zu bekommen, zerschlug Peter einen großen Hornsteinknollen. Unter allen Splittern, die er erhielt, war nur einer spannenlang. Durch den muscheligen Bruch war ein haardünner Rand entstanden. Von diesem drückte Peter mit einem Rehkrickel so viele Kerben ab, daß eine grobe Zähnung zustande kam. Die Säge hatte einen breiten Rükken, so daß sie gut in der Hand lag.

Als wieder sonnige Tage kamen, waren bei den Erntegängen Pfeil und Bogen, Faustkeil und Steinsäge Peters ständige Begleiter. Eichhörnchen und Waldvögel fielen seiner geübten Hand zum Opfer. Ja, Peters Geschicklichkeit im Bogenschießen wurde so groß, daß er selbst Schlangen, die seinen Weg kreuzten und denen er sonst scheu ausgewichen war, mit sicherem Pfeilschuß traf.

Zwischen Eva und Peter hatte sich ganz von selbst eine weitgehende Arbeitsteilung ergeben. Er war der Erwerbende geworden, sie hielt Ordnung in den Wohnstätten und kümmerte sich um die Vorräte.

Aber er war nicht bloß Jäger, ihm fielen auch alle anstrengenden Arbeiten zu. Holzhauer war er und Steinarbeiter. Auf seinen Streifzügen stets zu Angriff und Verteidigung bereit, schärfte er sein Auge und war unablässig darauf bedacht, Dinge zu sammeln, deren Gestalt und Farbe ihm auffielen, obwohl er nicht immer sofort wußte, wozu sie taugen mochten. Zwischen ihm und den vielerlei Dingen – Steine, knorrige oder gerade Hölzer, Knochen oder Ranken – bestand eine innige Beziehung, die sich oft in Worten kundtat, mit denen er sie anredete.

Mißerfolge verstimmten ihn nicht lange. So war er von den Füchsen, denen er als Köder Fleisch hingelegt hatte, wiederholt genarrt worden. Den ganzen Tag hatte er am Köderplatz gelauert, und in der Nacht wurden die Köder weggeputzt! Und von den Füchsen war nur die Losung da.

Dennoch fuhr er unverdrossen fort, alle Fleischabfälle als Lockspeise auszulegen, immer an derselben Stelle, um das Raubwild an den Futterplatz zu gewöhnen. Ließ sich da auch noch kein Fuchs ertappen, so erlagen doch Nebelkrähen, ja sogar Kolkraben Peters Pfeilen.

Und bald konnte sich Eva aus den Kleinbälgen, die sie mit Lehm ausgestrichen und entfettet hatte, einen bis zu den Knien reichenden Rock und ein weites Schultermäntelchen heften und sich einigermaßen vor Stechmücken und Bremsen schützen. Daß die Vogelbalgkleider für den Winter nicht taugen würden, wußte sie wohl. Die Bälge waren brüchig, sie raschelten bei jeder Bewegung und verbreiteten bei feuchtem Wetter einen widerlichen Geruch. Aber Eva trug sie mit nicht geringem Stolz und mit der nötigen Vorsicht, schon um die Verwendbarkeit ihrer Arbeit zu beweisen.

Peter hielt von der Dauerhaftigkeit dieser neuen Kleider nicht viel und sprach viel von den Füchsen, denen er die Bälge abziehen wollte. Vom Köderplatz aus folgte er ihren Spuren und fand in der Nähe der Steinschlaglehne ihren Bau. Auf einem mit hohen Bäumen bestandenen Hügel entdeckte er die drei vom Buschwerk gedeckten Zugänge. Lange lauerte er vor den Röhren, bekam aber keinen der Füchse zu sehen. Alles, was er an Fraßresten vor dem Bau fand – Röhrenknochen, Schulterblätter und Schädel von Rehkitzen und Alpenhasen – hamsterte er in seinen Korb und trug es heim. So wuchs sein Allerlei, in dem er kramen konnte, wenn er etwas brauchte, und Peter fühlte sich reich.

Auch Eva wußte dieses Allerlei zu schätzen. Aus gebleichten Schädeldecken, die längst nicht mehr rochen, schlug und schliff sie handliche Trinkgefäße zurecht, auch Schalen, in denen sie Hartsteinsplitter, nach der Größe gesondert, aufbewahrte; aus dünnen Vogelknochen machte sie Vorstecher für ihre Näharbeit.

Die Höhle brachte Peter der Bären wegen in verteidigungsfähigen Zustand. Steintrümmer, größer als sein Kopf, türmte er am Rande des Höhleneingangs zu einer Schutzmauer auf, die, einem Druck von innen nachgebend, einen anstürmenden Bären erschlagen konnte.

So verging der Spätsommer. Schon waren die blauen Blüten der Alpenwaldrebe abgefallen, und an ihrer Stelle glänzten silbrig die krausen Büschel der langbehaarten, zum Abfliegen bereiten Samen.

Während die Kinder Tag für Tag von morgens bis abends unaufhörlich auf der Suche nach Nahrung waren oder andere dringende Arbeiten verrichteten, konnten sie für ihr Äußeres wenig tun. Wohl strichen sie die wirren, nur mit den Fingern gekämmten Haare ab und zu aus der Stirn, Hand- und Fußnägel stießen und rieben sie sich beim Arbeiten ab, Sorge aber machte ihnen die unvollkommene Kleidung, denn die Kälte konnte nicht mehr lange ausbleiben.

Um seinen Lendengürtel, der sich unter der Last der Steinwerkzeuge verzogen hatte, mehr Halt zu geben, verwendete Peter zopfartig verflochtene Rindenstreifen junger Schößlinge. Er entnahm sie Evas Flachsrutenvorrat, den sie im Bach unter Steinen beschwert eingelagert hatte. Vom Wasser aufgequollen, ließ sich die Rinde samt dem Bast leicht vom Holze lösen und flechten. Die zurückgebogenen Enden des Gurtes wurden mit vorher gewässertem, mehrfach zusammengedrehtem und getrocknetem Gedärm überbunden, so daß sie nicht mehr aufgehen konnten.

Als Gürtelschließe diente Peter eine Art Spange, die er aus einer gedrehten Darmschlinge und einer aufgefädelten Eichel angefertigt hatte. Nun sollte Eva die Bälge an den Gurt heften.

Aber das war schwieriger, als sie gedacht hatte. Am leichtesten war das Vorstechen der Löcher; mit einem spitzen Steinbohrer oder einem zugeschliffenen Knochensplitter ging es ganz gut, wenn auch langsam; viel schwerer war es aber, den Faden durch den Gurt zu ziehen. Die Spitze der Saite franste aus und spießte sich da und dort, und Eva, der die Geduld ausging, warf den Gürtel zornig von sich. Mit einem geringschätzigen Blick nahm Peter die Arbeit auf. Er versuchte es mit knöchernen Häkchen. Es ging langsam. Suchend sah er sich nach etwas um, womit er den Faden führen konnte. Ein spitzes, gespaltenes Holzstäbchen tat den Dienst schlecht, er mußte den eingeklemmten Faden immer wieder aufs neue befestigen. Peter stand auf und musterte pfeifend sein Allerlei. Vogelkrallen wären zwar brauchbar gewesen, aber selbst die vom Kolkraben waren nicht lang genug. Da fielen ihm die Fänge des Geiers ein.

Er brach dem Geier, der noch immer über der Höhle hing, eine Zehe ab, löste die Kralle aus, durchbohrte sie an ihrem breiten Ende mit einem Steinbohrer, zog einen Faden durch und begann die Näharbeit. Leider war die Nadel an ihrem Öhr-Ende zu breit; er schabte sie ab und nähte weiter. Dann merkte er, daß die starke Krümmung der Nadel die Fadenführung hemmte. Knurrend legte er sie weg und stöberte wieder in seinem Allerlei, fand das Schienbein eines Hasen und musterte es kritisch. Daran hing noch das schmale, harte Wadenbein – ja, das mußte den Faden führen. Doch eine große Geduldsprobe war es, das Wadenbein am stumpfen Ende mit dem verbesserten Steinbohrer zu durchlochen, weil dort der Knochen sehr dicht war. Das Verschmälern des Knochens am Öhr-Ende und das Zuspitzen am schräg abgebrochenen anderen Ende machten nicht so viel Mühe. Peter schliff die beiden Enden an der rauhen Bruchfläche eines feinkörnigen Granits zurecht. Nun hatte er eine fast fingerlange, sehr grobe Nadel, die sich mit einigem Druck durchs Geflecht treiben ließ.

Als Eva sah, wie vergnügt Peter die neue Nadel handhabte, nahm sie ihm die Arbeit aus der Hand und nähte den Gürtel mit großen Heftstichen fertig. Damit die brüchigen Bälge geschmeidiger wurden, rieb Peter sie auf der nackten Innenseite mit einem Klumpen Bockstalg ein, zog, spannte und walkte sie über dem Werkstock so lange, bis sie nicht mehr raschelten. Als er aber Evas Schultermäntelchen, das sie bei der Arbeit abgelegt hatte, ebenfalls so behandelte, erntete er keinen Dank. Sie, deren Nase offenbar empfindlicher war als seine, spuckte vor Ekel aus und behauptete weinend, nun sei ihr Kleid durch das stinkende Bocksfett verdorben. Eilends rieb sie mit Moos und Lehmstaub das ranzige Fett ab, und tatsächlich: der üble Geruch ließ ein wenig nach.

Peter brauchte etwas, um einen Vorrat von langen Pfeilen am Gürtel zu tragen. Aus dem Röhrenknochen eines Rabenbeines schliff und bohrte er eine lange Nadel. Damit nähte er zwei handbreit gedehnte und zugeschnittene Eichhörnchenfelle, Haarseite nach innen, der Länge nach zusammen. Eva freute sich, daß er dabei einen Vorteil benützte, den er ihr abgeguckt hatte: Selbst er wäre nicht imstande gewesen, ein Fell aus freier Hand zu zerschneiden, wenn er es nicht über eine Unterlage gespannt hätte. Auch das Nähen machte er Eva nach.

Aus zwei kurzen Eichhornfellen war nun ein langer Köcher entstanden. Andere Bälge an seinem Gürtel dienten als Taschen für Rehkrickel, Fäustel, Steinmesser und Steinsäge – das alles brauchte er auf seinen Streifzügen, denn er wollte die Hände frei haben. Der Gürtel hatte kein geringes Gewicht, schmiegte sich aber fest um Peters Hüften.

Trotz der vorgeschrittenen Tageszeit ging Peter aus.

Während er draußen umherstreifte, begann Eva, für sich einen Gürtel zu flechten, nicht aus Rindenstreifen, sondern aus Bergflachsstengeln, die sie durch Wässern, Dörren und Klopfen von der Rinde befreit hatte. Als der zopfartige Gürtel geflochten war, nähte sie den Schurz aus Vogel- und Eichhornbälgen darunter und ließ es nicht dabei bewenden, sondern nähte Eichelhäherflügel und Spechtbälge daran und schmückte das neue, bis zu den Knien reichende Kleidungsstück mit weißen, blauen, grünen und grellroten Federn.

Nun lagerte sie ihren Bergflachs wieder im Sickerwasser des Baches, legte Weidenruten dazu und deckte Steine darüber. Ein scharf würziger Duft reizte ihre Neugierde. Sie suchte nach der Ursache und stieß auf hohe Stauden mit bläulich-grauen Blütenständen. Daher also kam der Duft! Da hatte sie ja ein wirksames Mittel, um den Gestank der Felle zu übertönen! Mit diesen Blüten wollte sie die Innenseite ihrer Felle so lange einreiben, bis sie nicht mehr rochen. Fröhlich erkletterte sie den Steigbaum und setzte sich in die Lichtluke ihrer Höhle.

Lange spähte sie vergeblich nach Peter aus.

Dann aber sah sie drüben unweit der Grableiten etwas Helles schimmern, es bewegte sich langsam von Busch zu Busch. Doch erst in der Dämmerung tauchte der Ersehnte am Waldrand unter der Höhle auf. Langsam kam er daher und schien verdrossen.

In der Höhle angekommen, legte er eine Blatt-Tüte voll roter Kornelkirschen vor Eva hin, lobte geschwind ihr neues Kleid und fing dann gleich von seinem mißglückten Jagdgang an.

Vorsichtig habe er sich an den Rehbock herangepirscht, der droben bei der Grableiten äste. Ehe er aber zum Speerwurf gekommen sei, habe der Bock herübergeäugt und sei plötzlich auf und davon.

»Er wird dich halt früher gesehen haben«, versetzte Eva, »das war‘ kein Wunder, mir bist auch von weitem aufgefallen, so hell hat sich dein Leib abgehoben vom grünen Busch und Gras.«

Peter horchte auf. »Ah, du meinst, meine Haut hätt‘ den Bock g’schreckt?«

Das Abendessen schmeckte weder Peter noch Eva sonderlich, obwohl sie tagsüber nichts Rechtes zu sich genommen hatten. Sie aßen nur, um den ärgsten Hunger zu stillen; ihren Mägen behagte die Kost nicht mehr, alles schmeckte fad. Die Kornelkirschen aber waren noch zu herb und mußten nachreifen. Der Gedanke, das Wild ängstige sich schon von ferne vor seiner Hautfarbe, beunruhigte Peter. Er grübelte so lange, bis ihm einfiel, wie dem Übel abzuhelfen sei. Wie, wenn er seinen Leib mit nassem Lehm bestriche? Das müßte doch seiner hellen Haut eine stumpfe, unauffällige Farbe geben!

Mit diesem Gedanken schlief er ein.

Salz

Geborgen vor Witterungsunbilden, notdürftig bekleidet, frei von den ärgsten Nahrungssorgen, hätten die Höhlenkinder bei ihrer Arbeit, die ihnen allmählich zu einem behaglicheren Leben verhalf, glücklich sein können. Aber gerade zu Beginn der Herbsternte fühlten sie sich wieder so matt und schlaff wie schon einmal.

Woher kam nur dieses Gefühl, das sie zeitweise so mutlos und verdrossen, so launenhaft und streitsüchtig machte? Sie wußten es nicht. Peter war bei aller Mattigkeit von einer unerklärlichen Unrast erfüllt. Überall stöberte er herum und wußte nicht, was er suchte. Als wieder ein mehrtägiger Regen einsetzte und die beiden zu Hause festhielt, verbrachten sie ihre Zeit meist untätig und verärgert, jeder in seiner Höhle. Wozu arbeiten, es hatte ja doch keinen Zweck! Dabei schaute Peter von seinem Lager aus ungeduldig in den herabströmenden Regen; ein geheimnisvoller Trieb lockte ihn hinaus und hinauf nach unerforschten Höhen.

Eva raffte sich zuweilen auf, besserte an ihren Balgkleidern herum und ärgerte sich dabei mehr als je über ihr wirres Blondhaar, das ihr immer wieder ins Gesicht fiel. Wütend griff sie nach einem Rindenstreifen und band sich ihn als Stirnband um den Kopf. Jetzt mußten die Haare Ruhe geben! Und angeregt durch die Erleichterung, beschloß sie, sich ein schönes Stirnband zu machen. So sehr reizte sie der Gedanke, daß sie ihre Trägheit überwand und Ruten vom Vorrat am Bach holte.

Peter bemerkte das Band über ihrer Stirn. Es gefiel ihm; auch ihm waren seine langen, vorfallenden Haarsträhnen lästig. Er machte sich auch ein Stirnband, nahm aber nicht Weidenrinde, sondern zwei übereinandergelegte Fellstreifen, heftete sie zusammen und steckte drei Geierfedern dazwischen.

Eva sah es nicht ohne Neid und nahm sich vor, ihr neues Stirnband noch schöner zu schmücken.

Am nächsten Tag hatte sie es fertig. Im Geflecht befestigte sie allerlei bunte Federn. Beim Kramen in Peters Allerlei kamen ihr gestreifte Schnirkelschnecken in die Hände, die sich leicht durchlochen und am Stirnband festnähen ließen.

Erwartungsvoll trat sie vor ihn hin: »Peter, was sagst dazu?«

»No ja«, meinte er geringschätzig, »schön bist schon. Zum Jagen wär‘ das kein Aufzug. Die Farben schreien ja! Die Spechte und die Häher täten’s im ganzen Wald rufen, daß da eine herumgeht, die sich mit ihren Federn aufputzt. Da, schau mich an: Ich hab‘ mich heut schon in aller Früh mit nassem Lehm angestrichen, heut wird sich vor mir kein Bock schrecken.«

In der Nacht hörte der Regen auf. Morgens unternahm Peter gutgelaunt einen Streifgang, und Eva durfte ihn begleiten.

Sie durchwateten an einer seichten Stelle den Klammbach und begannen ihre Bergwanderung über die noch schattenkühle Lehne, die jenseits der Quellgrotte anstieg.

Es wurde Mittag, ehe sie aus dem Bereich der verblühten Alpenrosen in Höhen hinaufdrangen, wo sie noch in voller Pracht standen.

Eva konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich einige der blaßroten Blütensträuße hinter das Stirnband zu stecken.

Peter erlegte ein Steinhuhn. Während er die Beute am Gürtel festband, machte sich Eva ans Einheimsen von Preiselbeeren. Da fand sie schütter im Gras stehenden Bergflachs, dessen Stengel kugelige Kapseln trugen. Eifrig sammelnd stieg sie langsam auf. Peter half ihr bei der Ernte. Dabei erzählte Eva, was sie von der Ahnl her vom Zurichten des Flachses noch wußte: Einwässern wollte sie die Stengel, in der Sonne dörren, mit den Händen brechen und dann aus den Fasern Fäden zwirbeln …

Bald hatten sie zwei große Bündel beisammen, und Peter mahnte zum Weitergehen; er wollte hoch oberhalb der Wohnhöhlen herumgehen und drüben an der Steinschlaglehne niedersteigen. Die Nacht durfte sie nicht in den Felsen überraschen. Inzwischen war es heiß geworden, der Durst meldete sich; immer matter werdend, stiegen die beiden mühsam weiter. Die hohen Kräuter und beerentragenden Stauden hörten allmählich auf. Nur da und dort leuchtete eine verspätete Erdbeere aus dem kurzen Gras.

Bei der schroffen Bergwand über der Schutthalde angelangt, standen die beiden ausruhend still. Die helle Pracht der Talsohle tief unten fesselte den Blick. Mitten durch die grüne Fläche des Steinfeldes, dessen Ecken stumpf abgeschrägt waren, schlängelte sich, von Buschwerk gesäumt, der schmale Klammbach. Wo der Wald aufhörte, umfloß die Wasserader in enger Gabelung den turmartigen Sonnstein, dessen Abbruchsteilen in der Sonne glitzerten. Von der links im Schatten liegenden Grableiten mit ihren Heidelbeerbüschen, Fichten und Birken glitten die Blicke zu den Klammwänden, in deren Spalt der Bach verschwand. Dahinter hoben sich in weiter Ferne drei Hochgipfel vom Himmel ab.

Der südlichste dieser Gipfel hatte die Gestalt eines sanft nach Norden gekrümmten Horns, der nördlichste ragte als steile Spitze empor, während der mittlere einer sitzenden Riesenhenne glich. Peter und Eva stellten fast gleichzeitig diese Ähnlichkeit fest. Vergnügt darüber, daß sie darin einig waren, ließen sie ihre Blicke weiter schweifen. Da sahen sie tief rechts, jenseits des Klammbachs, wo ein schilfgesäumtes Wässerchen ihm zufloß, eine breite Bodenstufe, die sich in ihrem gleichmäßigen Grün vom unruhigen Hintergrund der buschbewachsenen Halden eigenartig abhob. Das Grasland war durchsetzt von kleinen runden, blanken Wasserspiegeln; da und dort standen weißleuchtende Birken, vom Winddruck schräg herübergeneigt, und kleine Gruppen silbrig schimmernder Laubbäume. Das mochten wohl Weiden sein. An der sanften Lehne gegen die Felswand zu stiegen sie in zwei Reihen auf. Von dorther glitzerte zwischen Buschwerk ein Bächlein, das sich im Sumpf der Bodenstufe verlor und später als Bach im Moor sichtbar wurde. Hinter dem Sumpfland zog sich längs der rechten Klammwand eine schmale, mit einzelnen Nadelbäumen bewachsene Halde hin. Rechts oberhalb der Schilf- und Buchenbestände des Moores stieg das Land zu einer breiten Lehne an, die von steilen Wänden abgeschlossen war. Dort floß in weißschimmernden Wasserfällen der Moorbach nieder. Bis zur halben Höhe war die Felswand, aus welcher der Bach kam, dunkelgrau und glänzte matt im Sonnenschein. Darüber hob sich in braunroten und weißen Schichten der aufgelagerte Kalkfels vom unteren Urgestein ab. Während Peter noch die merkwürdige dreifarbige Wand anstarrte, betrachtete Eva die rechts daran anschließende Südwand. Hellfarbig stieg diese im vollen Lichte auf, ihre scharfen Grate leuchteten, und an ihrem Fuße standen mächtige Laubbäume mit rundlichen Kronen.

Eva zeigte hinüber: »Schau, Peter, stehen dort nicht die Maronibäume, von denen die Ahnl erzählt hat?«

»Das können nicht lauter Kastanienbäume sein«, bemerkte er, »die Kronen sind ungleich. Buchen dürften drunter sein, vielleicht auch Walnußbäume, vielleicht gar Vogelkirschen oder wilde Birnbäume.«

»Gehen wir schauen, ob die Maroni schon reif sind«, schlug Eva vor.

»Du lieber nicht«, versetzte Peter nachdenklich, »dahinter ist’s nicht geheuer. Siehst du die Höhlen in der Südwand? Dort dürften die Bären hausen, die ich am Steinschlag getroffen hab‘. Schau, rechts davon ist die Geröllhalde, wo sie den Rumpf von meinem Bock aufg’fressen haben. Wo mögen die Steinböcke sein?«

Als erfahrener Hirtenbub erwartete Peter, irgendwo scheckige Nachkommen der weißen Ziege und eines braungrauen Steinbocks zu entdecken, und sei es auch noch so hoch in der Wand.

Von der sonndurchglühten Felswand, an der sich die Kinder zur Rast niedergelassen hatten, ging eine Hitze aus, die ihr Durstgefühl noch steigerte. Und der Boden unter ihren Füßen war trocken, nirgends eine feuchte Stelle, die eine Quelle verriet.

Die beiden brachen wieder auf. Die Augen auf den Boden gerichtet, schritt Peter voran, an der Wand entlang, dem schwindelerregenden Absturz zu, unter dem die Quellhöhle des Klammbachs und die Wohnhöhlen lagen. Plötzlich kauerte er sich nieder, um etwas zu untersuchen, das da vor ihm lag.

Aufgeregt winkte er Eva heran: »Kennst du die Losung?« flüsterte er, und seine Augen leuchteten.

»Von Geißen, glaubst?« fragte sie unsicher. »Oder von Steinböcken«, versetzte er eifrig, »und weit können’s nicht sein, die Losung ist frisch. – Du bleibst da!« befahl er in der Art, die keinen Widerspruch zuließ.

Dann schlich er vorwärts, die Rechte tastend an der Wand, in der Linken den Speer, die Augen suchten den Boden ab. Da – zwei eng zusammenstehende Hufspuren und noch ein Paar – und jetzt mehrere Paare nebeneinander! Der Bruchsand war hart am Felsen zu einem schmalen Wildpfad niedergetreten, und die vertieften Spitzen der frischen Hufabdrücke deuteten alle nach vorn. Die Bodenstufe wurde breiter. Peter folgte erregt den Spuren. Auf einmal hörten sie im Sande auf. Und wieder war es die Losung der Tiere, die dem Jäger den weiteren Weg wies. In einer Felsenritze, fußhoch über der Lehmstufe, lagen braune Bohnen, und die vorspringenden Steine an der Wand waren glattgeschliffen von Huftritten. Also da hinauf ging der Wechsel! Peters Durst, seine Mattigkeit waren vergessen. Um ungehindert klettern zu können, legte er Korb und Bogen ab und klomm die Wand schräg hinan, wobei ihm der Speer als Bergstock gute Dienste leistete, wenn es galt, einen Felsspalt zu überspringen. So gelangte er an einen waagrechten, breiten, stufenartigen Vorsprung, der wieder leicht zu begehen war.

Eine feuchte, zähe Lehmschicht, die hier den Boden bedeckte, wies zahlreiche Hufspuren auf, und der Fels zeigte, von Sickerwasser verursacht, eine dunklere Färbung. Die Stufe verbreiterte und senkte sich zu einem seichten Becken. Von der überhängenden, naß glänzenden Wand tropfte Wasser. Peter, der während des Steigens nur an die Steinböcke und andere Wildziegen gedacht hatte, verspürte beim Anblick des Wassers wieder Durst. Er legte sich flach auf den nassen Boden und sog mit gespitztem Munde das Wasser aus einer Mulde. Im ersten Augenblick schmeckte es erfrischend kühl, dann aber – salzig!

Beinahe hätte er aufgeschrien, erinnerte sich aber rechtzeitig der Wildziegen. Schweigend spähte er nach vorn, sah hinunter in die schwindelnde Tiefe und die Felswand empor.

Was er dort oben erblickte, ließ ihn das gesuchte Wild vergessen. Weiße, eisähnliche Krusten zogen sich in Streifen an der überhängenden Wand herab und glitzerten im Sonnenschein. Unten aber war der nasse Fels dunkel und glatt; Peter stand an einer vielbesuchten Salzlecke des Wildes, das vor langer Zeit die Stelle entdeckt haben mochte, wo das Salzwasser aus dem Berginnern sickerte. Mit der Steinspitze seines Speeres schlug er ein Stück des weißen Belags vom Fels los und fing es auf. Er leckte daran. Es war Salz – reines, köstliches Salz!

Ein Gefühl wundersamer Erquickung durchrieselte ihn. Und jetzt ließ Peter einen Juchzer erschallen, daß es weithin hallte von Wand zu Wand: »Juhuhuhuu! – Huhuu!« Was lag ihm nun an den Wildziegen! Die mußten ja wiederkommen. Das Salz war’s gewesen, das ihm und Eva gefehlt hatte!

Begierig stocherte er mit der Speerspitze so viel Salzsinter herab, wie er erlangen konnte, las jeden Splitter auf und stopfte davon in die Gürteltaschen, soviel hineinging. Die Pfeile steckte er unter den Gürtel.

Als er zu Eva zurückkehrte, trug er einen Salzvorrat bei sich, der einige Wochen lang reichen konnte.

»Wo sind die Ziegen?« Mit dieser Frage wurde er empfangen.

Eine wegwerfende Handbewegung: »Ach was, Ziegen! Ich hab‘ was Besseres.« Und er reichte Eva auf der hohlen Hand einige Salzkörner. »Kost‘ einmal!«

Sie berührte die weißen Körner mit der Zungenspitze. Ihre Züge verklärten sich. Salz! »Das liebe Salz«, hätte die Ahnl gesagt. Und Peter erzählte von seiner Kletterei und von seinem Trunk an der Salzlecke.

Trotz ihres Durstes stiegen die Kinder froh und eilig zu ihrem Heim hinab. Erst am Klammbach hatten sie Gelegenheit zum Trinken. Als die Sonne zwischen Henne und Horn hinter der Klamm sank und die Felsen oberhalb der Südwand mit zartem Rot überhauchte, wurden sie sich ihres neuen Glücks erst richtig bewußt.

Voll Dank gegen Gott, den die Ahnl vor ihrem Tode angerufen hatte, sagte er, dem sinkenden Sonnenball zugewandt: »Ich dank‘ dir schön, du lieber Gott, daß du mir den Wechsel der Geißen gezeigt hast und daß du mich den Weg hast finden lassen zur Salzlecke. Gelt, du hilfst auch weiter?« – »Und dank‘ dir schön für den vielen, vielen Flachs, ich werd‘ ihn schon verarbeiten«, fügte Eva hinzu.

In der langen Dämmerung des Sommerabends wurde das Abendessen bereitet und verzehrt.

Wie schmeckte das weichgeklopfte Fleisch des erlegten Steinhuhns, gewürzt mit Salz, Gundelkraut und Lauch! Dem Salz aber wurde auf einer großen Mergelplatte ein reines Plätzchen bereitet. Es war ein Schatz, der behütet werden mußte.