Geborgen vor Witterungsunbilden, notdürftig bekleidet, frei von den ärgsten Nahrungssorgen, hätten die Höhlenkinder bei ihrer Arbeit, die ihnen allmählich zu einem behaglicheren Leben verhalf, glücklich sein können. Aber gerade zu Beginn der Herbsternte fühlten sie sich wieder so matt und schlaff wie schon einmal.

Woher kam nur dieses Gefühl, das sie zeitweise so mutlos und verdrossen, so launenhaft und streitsüchtig machte? Sie wußten es nicht. Peter war bei aller Mattigkeit von einer unerklärlichen Unrast erfüllt. Überall stöberte er herum und wußte nicht, was er suchte. Als wieder ein mehrtägiger Regen einsetzte und die beiden zu Hause festhielt, verbrachten sie ihre Zeit meist untätig und verärgert, jeder in seiner Höhle. Wozu arbeiten, es hatte ja doch keinen Zweck! Dabei schaute Peter von seinem Lager aus ungeduldig in den herabströmenden Regen; ein geheimnisvoller Trieb lockte ihn hinaus und hinauf nach unerforschten Höhen.

Eva raffte sich zuweilen auf, besserte an ihren Balgkleidern herum und ärgerte sich dabei mehr als je über ihr wirres Blondhaar, das ihr immer wieder ins Gesicht fiel. Wütend griff sie nach einem Rindenstreifen und band sich ihn als Stirnband um den Kopf. Jetzt mußten die Haare Ruhe geben! Und angeregt durch die Erleichterung, beschloß sie, sich ein schönes Stirnband zu machen. So sehr reizte sie der Gedanke, daß sie ihre Trägheit überwand und Ruten vom Vorrat am Bach holte.

Peter bemerkte das Band über ihrer Stirn. Es gefiel ihm; auch ihm waren seine langen, vorfallenden Haarsträhnen lästig. Er machte sich auch ein Stirnband, nahm aber nicht Weidenrinde, sondern zwei übereinandergelegte Fellstreifen, heftete sie zusammen und steckte drei Geierfedern dazwischen.

Eva sah es nicht ohne Neid und nahm sich vor, ihr neues Stirnband noch schöner zu schmücken.

Am nächsten Tag hatte sie es fertig. Im Geflecht befestigte sie allerlei bunte Federn. Beim Kramen in Peters Allerlei kamen ihr gestreifte Schnirkelschnecken in die Hände, die sich leicht durchlochen und am Stirnband festnähen ließen.

Erwartungsvoll trat sie vor ihn hin: »Peter, was sagst dazu?«

»No ja«, meinte er geringschätzig, »schön bist schon. Zum Jagen wär‘ das kein Aufzug. Die Farben schreien ja! Die Spechte und die Häher täten’s im ganzen Wald rufen, daß da eine herumgeht, die sich mit ihren Federn aufputzt. Da, schau mich an: Ich hab‘ mich heut schon in aller Früh mit nassem Lehm angestrichen, heut wird sich vor mir kein Bock schrecken.«

In der Nacht hörte der Regen auf. Morgens unternahm Peter gutgelaunt einen Streifgang, und Eva durfte ihn begleiten.

Sie durchwateten an einer seichten Stelle den Klammbach und begannen ihre Bergwanderung über die noch schattenkühle Lehne, die jenseits der Quellgrotte anstieg.

Es wurde Mittag, ehe sie aus dem Bereich der verblühten Alpenrosen in Höhen hinaufdrangen, wo sie noch in voller Pracht standen.

Eva konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich einige der blaßroten Blütensträuße hinter das Stirnband zu stecken.

Peter erlegte ein Steinhuhn. Während er die Beute am Gürtel festband, machte sich Eva ans Einheimsen von Preiselbeeren. Da fand sie schütter im Gras stehenden Bergflachs, dessen Stengel kugelige Kapseln trugen. Eifrig sammelnd stieg sie langsam auf. Peter half ihr bei der Ernte. Dabei erzählte Eva, was sie von der Ahnl her vom Zurichten des Flachses noch wußte: Einwässern wollte sie die Stengel, in der Sonne dörren, mit den Händen brechen und dann aus den Fasern Fäden zwirbeln …

Bald hatten sie zwei große Bündel beisammen, und Peter mahnte zum Weitergehen; er wollte hoch oberhalb der Wohnhöhlen herumgehen und drüben an der Steinschlaglehne niedersteigen. Die Nacht durfte sie nicht in den Felsen überraschen. Inzwischen war es heiß geworden, der Durst meldete sich; immer matter werdend, stiegen die beiden mühsam weiter. Die hohen Kräuter und beerentragenden Stauden hörten allmählich auf. Nur da und dort leuchtete eine verspätete Erdbeere aus dem kurzen Gras.

Bei der schroffen Bergwand über der Schutthalde angelangt, standen die beiden ausruhend still. Die helle Pracht der Talsohle tief unten fesselte den Blick. Mitten durch die grüne Fläche des Steinfeldes, dessen Ecken stumpf abgeschrägt waren, schlängelte sich, von Buschwerk gesäumt, der schmale Klammbach. Wo der Wald aufhörte, umfloß die Wasserader in enger Gabelung den turmartigen Sonnstein, dessen Abbruchsteilen in der Sonne glitzerten. Von der links im Schatten liegenden Grableiten mit ihren Heidelbeerbüschen, Fichten und Birken glitten die Blicke zu den Klammwänden, in deren Spalt der Bach verschwand. Dahinter hoben sich in weiter Ferne drei Hochgipfel vom Himmel ab.

Der südlichste dieser Gipfel hatte die Gestalt eines sanft nach Norden gekrümmten Horns, der nördlichste ragte als steile Spitze empor, während der mittlere einer sitzenden Riesenhenne glich. Peter und Eva stellten fast gleichzeitig diese Ähnlichkeit fest. Vergnügt darüber, daß sie darin einig waren, ließen sie ihre Blicke weiter schweifen. Da sahen sie tief rechts, jenseits des Klammbachs, wo ein schilfgesäumtes Wässerchen ihm zufloß, eine breite Bodenstufe, die sich in ihrem gleichmäßigen Grün vom unruhigen Hintergrund der buschbewachsenen Halden eigenartig abhob. Das Grasland war durchsetzt von kleinen runden, blanken Wasserspiegeln; da und dort standen weißleuchtende Birken, vom Winddruck schräg herübergeneigt, und kleine Gruppen silbrig schimmernder Laubbäume. Das mochten wohl Weiden sein. An der sanften Lehne gegen die Felswand zu stiegen sie in zwei Reihen auf. Von dorther glitzerte zwischen Buschwerk ein Bächlein, das sich im Sumpf der Bodenstufe verlor und später als Bach im Moor sichtbar wurde. Hinter dem Sumpfland zog sich längs der rechten Klammwand eine schmale, mit einzelnen Nadelbäumen bewachsene Halde hin. Rechts oberhalb der Schilf- und Buchenbestände des Moores stieg das Land zu einer breiten Lehne an, die von steilen Wänden abgeschlossen war. Dort floß in weißschimmernden Wasserfällen der Moorbach nieder. Bis zur halben Höhe war die Felswand, aus welcher der Bach kam, dunkelgrau und glänzte matt im Sonnenschein. Darüber hob sich in braunroten und weißen Schichten der aufgelagerte Kalkfels vom unteren Urgestein ab. Während Peter noch die merkwürdige dreifarbige Wand anstarrte, betrachtete Eva die rechts daran anschließende Südwand. Hellfarbig stieg diese im vollen Lichte auf, ihre scharfen Grate leuchteten, und an ihrem Fuße standen mächtige Laubbäume mit rundlichen Kronen.

Eva zeigte hinüber: »Schau, Peter, stehen dort nicht die Maronibäume, von denen die Ahnl erzählt hat?«

»Das können nicht lauter Kastanienbäume sein«, bemerkte er, »die Kronen sind ungleich. Buchen dürften drunter sein, vielleicht auch Walnußbäume, vielleicht gar Vogelkirschen oder wilde Birnbäume.«

»Gehen wir schauen, ob die Maroni schon reif sind«, schlug Eva vor.

»Du lieber nicht«, versetzte Peter nachdenklich, »dahinter ist’s nicht geheuer. Siehst du die Höhlen in der Südwand? Dort dürften die Bären hausen, die ich am Steinschlag getroffen hab‘. Schau, rechts davon ist die Geröllhalde, wo sie den Rumpf von meinem Bock aufg’fressen haben. Wo mögen die Steinböcke sein?«

Als erfahrener Hirtenbub erwartete Peter, irgendwo scheckige Nachkommen der weißen Ziege und eines braungrauen Steinbocks zu entdecken, und sei es auch noch so hoch in der Wand.

Von der sonndurchglühten Felswand, an der sich die Kinder zur Rast niedergelassen hatten, ging eine Hitze aus, die ihr Durstgefühl noch steigerte. Und der Boden unter ihren Füßen war trocken, nirgends eine feuchte Stelle, die eine Quelle verriet.

Die beiden brachen wieder auf. Die Augen auf den Boden gerichtet, schritt Peter voran, an der Wand entlang, dem schwindelerregenden Absturz zu, unter dem die Quellhöhle des Klammbachs und die Wohnhöhlen lagen. Plötzlich kauerte er sich nieder, um etwas zu untersuchen, das da vor ihm lag.

Aufgeregt winkte er Eva heran: »Kennst du die Losung?« flüsterte er, und seine Augen leuchteten.

»Von Geißen, glaubst?« fragte sie unsicher. »Oder von Steinböcken«, versetzte er eifrig, »und weit können’s nicht sein, die Losung ist frisch. – Du bleibst da!« befahl er in der Art, die keinen Widerspruch zuließ.

Dann schlich er vorwärts, die Rechte tastend an der Wand, in der Linken den Speer, die Augen suchten den Boden ab. Da – zwei eng zusammenstehende Hufspuren und noch ein Paar – und jetzt mehrere Paare nebeneinander! Der Bruchsand war hart am Felsen zu einem schmalen Wildpfad niedergetreten, und die vertieften Spitzen der frischen Hufabdrücke deuteten alle nach vorn. Die Bodenstufe wurde breiter. Peter folgte erregt den Spuren. Auf einmal hörten sie im Sande auf. Und wieder war es die Losung der Tiere, die dem Jäger den weiteren Weg wies. In einer Felsenritze, fußhoch über der Lehmstufe, lagen braune Bohnen, und die vorspringenden Steine an der Wand waren glattgeschliffen von Huftritten. Also da hinauf ging der Wechsel! Peters Durst, seine Mattigkeit waren vergessen. Um ungehindert klettern zu können, legte er Korb und Bogen ab und klomm die Wand schräg hinan, wobei ihm der Speer als Bergstock gute Dienste leistete, wenn es galt, einen Felsspalt zu überspringen. So gelangte er an einen waagrechten, breiten, stufenartigen Vorsprung, der wieder leicht zu begehen war.

Eine feuchte, zähe Lehmschicht, die hier den Boden bedeckte, wies zahlreiche Hufspuren auf, und der Fels zeigte, von Sickerwasser verursacht, eine dunklere Färbung. Die Stufe verbreiterte und senkte sich zu einem seichten Becken. Von der überhängenden, naß glänzenden Wand tropfte Wasser. Peter, der während des Steigens nur an die Steinböcke und andere Wildziegen gedacht hatte, verspürte beim Anblick des Wassers wieder Durst. Er legte sich flach auf den nassen Boden und sog mit gespitztem Munde das Wasser aus einer Mulde. Im ersten Augenblick schmeckte es erfrischend kühl, dann aber – salzig!

Beinahe hätte er aufgeschrien, erinnerte sich aber rechtzeitig der Wildziegen. Schweigend spähte er nach vorn, sah hinunter in die schwindelnde Tiefe und die Felswand empor.

Was er dort oben erblickte, ließ ihn das gesuchte Wild vergessen. Weiße, eisähnliche Krusten zogen sich in Streifen an der überhängenden Wand herab und glitzerten im Sonnenschein. Unten aber war der nasse Fels dunkel und glatt; Peter stand an einer vielbesuchten Salzlecke des Wildes, das vor langer Zeit die Stelle entdeckt haben mochte, wo das Salzwasser aus dem Berginnern sickerte. Mit der Steinspitze seines Speeres schlug er ein Stück des weißen Belags vom Fels los und fing es auf. Er leckte daran. Es war Salz – reines, köstliches Salz!

Ein Gefühl wundersamer Erquickung durchrieselte ihn. Und jetzt ließ Peter einen Juchzer erschallen, daß es weithin hallte von Wand zu Wand: »Juhuhuhuu! – Huhuu!« Was lag ihm nun an den Wildziegen! Die mußten ja wiederkommen. Das Salz war’s gewesen, das ihm und Eva gefehlt hatte!

Begierig stocherte er mit der Speerspitze so viel Salzsinter herab, wie er erlangen konnte, las jeden Splitter auf und stopfte davon in die Gürteltaschen, soviel hineinging. Die Pfeile steckte er unter den Gürtel.

Als er zu Eva zurückkehrte, trug er einen Salzvorrat bei sich, der einige Wochen lang reichen konnte.

»Wo sind die Ziegen?« Mit dieser Frage wurde er empfangen.

Eine wegwerfende Handbewegung: »Ach was, Ziegen! Ich hab‘ was Besseres.« Und er reichte Eva auf der hohlen Hand einige Salzkörner. »Kost‘ einmal!«

Sie berührte die weißen Körner mit der Zungenspitze. Ihre Züge verklärten sich. Salz! »Das liebe Salz«, hätte die Ahnl gesagt. Und Peter erzählte von seiner Kletterei und von seinem Trunk an der Salzlecke.

Trotz ihres Durstes stiegen die Kinder froh und eilig zu ihrem Heim hinab. Erst am Klammbach hatten sie Gelegenheit zum Trinken. Als die Sonne zwischen Henne und Horn hinter der Klamm sank und die Felsen oberhalb der Südwand mit zartem Rot überhauchte, wurden sie sich ihres neuen Glücks erst richtig bewußt.

Voll Dank gegen Gott, den die Ahnl vor ihrem Tode angerufen hatte, sagte er, dem sinkenden Sonnenball zugewandt: »Ich dank‘ dir schön, du lieber Gott, daß du mir den Wechsel der Geißen gezeigt hast und daß du mich den Weg hast finden lassen zur Salzlecke. Gelt, du hilfst auch weiter?« – »Und dank‘ dir schön für den vielen, vielen Flachs, ich werd‘ ihn schon verarbeiten«, fügte Eva hinzu.

In der langen Dämmerung des Sommerabends wurde das Abendessen bereitet und verzehrt.

Wie schmeckte das weichgeklopfte Fleisch des erlegten Steinhuhns, gewürzt mit Salz, Gundelkraut und Lauch! Dem Salz aber wurde auf einer großen Mergelplatte ein reines Plätzchen bereitet. Es war ein Schatz, der behütet werden mußte.