Eva räumt auf

In der Abenddämmerung des schönen Herbsttages kehrten die Kinder heim zum Feuer, müde und mit kalten Beinen, die nicht warm werden wollten. Da kam Eva, die beim Wegräumen der Asche festgestellt hatte, daß die Herdsteine heiß waren, auf den Gedanken, sich einen in das Laub ihres Lagers zu legen. Da sie ihn mit den Händen nicht fortschaffen konnte, half sie sich mit dem zu einem Doppelhaken gestutzten Astquirl eines starken Fichtenwipfels, und Peter machte es ihr nach.

Die Wärmsteine zu Füßen, kuschelte sich jedes auf seinem Lager zusammen; sie spürten bald, wie das Kältegefühl wohltuender Wärme wich.

Am nächsten Morgen unternahm Peter wieder einen Erntegang. Er war darauf gefaßt, in der Gegend der Südwand oder in einem neuen Steinschlag Bären zu begegnen, und hatte für sie einige Pfeile stark mit Harz bestrichen. Eva mußte daheim bleiben und das Feuer hüten.

Bei der angefangenen Brücke am Bocksgrabenbach angelangt, dessen Wasser bereits stark gesunken war, flocht er, um das Brücklein zu festigen, von beiden Ufern her lebende Waldrebenranken seitlich um Querhölzer und Balken. Das Gezweig der langen, auf dem Boden liegenden Wipfelenden beschwerte er mit Steinen und Rasenstücken, und von den Wurzeln der Bäume schlug er so viel weg, daß die Brücke für den Schlitten befahrbar wurde. Er füllte den Ufereinbruch mit Steinen aus, so daß alles hüben und drüben fast eben ins Gelände eingebaut war.

Mit wiegenden Schritten ging er versuchsweise auf der Brücke hin und her, bevor er seinen Weg zum Laubwald auf der Sonnleiten fortsetzte. Als er in großer Entfernung an einer der niedergegangenen Steinlawinen vorbeikam, sah er zwei alte und einen jungen Bären sowie Geier und Krähen beim Fraß. Er wagte nicht, ihnen die Beute streitig zu machen. Obwohl das Raubwild ihn auch bemerkt hatte, ließ es ihn unangefochten vorbei. Seinem Feuerkorb, auf dessen Glut er Gras und dürre Blätter gelegt hatte, entquoll dicker, gelblicher Rauch. Klopfenden Herzens setzte Peter seinen Weg am oberen Rande des Laubwaldes fort. So kam er zur Südwand.

Dicht an einer großen Höhle, die er zum erstenmal näher sah, ging er vorbei. Aus der herumliegenden Losung und einer Menge gebleichter Knochen, die als Fraßreste darunter lagen, schloß er, daß hier die Bären hausten. Einige Wildschweinknochen nahm er mit, die konnte er brauchen. Er drang in den Laubwald ein.

Hin und wieder hörte er im Laub ein Rascheln, das von irgendwelchen darunter laufenden Wesen herrühren mochte.

Anfangs getraute er sich nicht, nach den unsichtbaren Tieren zu greifen, die ja auch giftig sein konnten; als er aber ein zwitscherndes Piepsen und Pfeifen vernahm, verlor er die Angst, griff rasch mit beiden Händen hinein und warf die Blätter in die Höhe. Ein schwarzes Tierchen, das mit emporgeworfen wurde, schlug er mit der flachen Hand tot. Es glich einer Maus, hatte aber ein spitzes Rüsselchen und verbreitete einen widerlichen Geruch. Nun, der Geruch mochte sich beim Braten verlieren, Peter hängte die kleine Beute mit einer Darmschlinge an den Lendengurt. Im Weitergehen fand er im Laub massenhaft benagte Ulmenfrüchte, Eicheln, Kastanien und Bucheckern. Nach und nach fing er noch vier dieser Spitzmäuse. Ihr glänzendes Fell gefiel ihm. Aus vielen kleinen Bälgen konnte sich Eva etwas nähen.

Er betrat eine kleine Lichtung, wieder rührte sich etwas unter dem Laub. Ein Griff: abermals eine Maus! Sie war gelbbraun, stumpfschnäuzig und auffallend langgeschwänzt; es war eine Waldmaus.

Kaum hatte er sie erschlagen, als sich eine zweite bemerkbar machte. Nach und nach fing er noch fünf Waldmäuse. Sie entstammten offenbar einem unter einer Hasel aufgedeckten Nest. Beim Ausräumen fand er einen Vorrat von angenagten Waldfrüchten, darunter auch – Holzbirnen! Wirklich und wahrhaftig Holzbirnen, wie sie einst die Ahnl von ihren Streifereien eingetragen hatte und im Laub ihres Lagers eingelegt weich werden ließ und so genießbar machte.

Er versuchte eine vom Liegen nachgereifte, braune: Sie war süß und überaus saftig, ein wahrer Leckerbissen. Davon mußte er mehr haben. Die Bäume konnten ja nicht weit sein.

Eifrig suchend ging er den Waldrand entlang und fand fast kreisrunde, violettbraune, glänzend lederige Blätter, die nur von Holzbirnbäumen herrühren konnten. Sie waren die Halde herabgeschwemmt worden; die gesuchten Bäume mußten also weiter oben stehen. Er ging wieder bergauf und drang am oberen Rande der sonnigen Leiten in den Wald ein. Nach wenigen Schritten sah er einen der dunklen Bäume fast entblättert vor sich, und unter ihm gab es walnußgroße Birnen genug. Die meisten waren überreif, braun und – wie er sich gleich überzeugte – wohlschmeckend, viele aber schwarzbraun, vergoren, verdorben. Es hatte zu lange geregnet. Nur wenige waren grün und gelblich, hart und noch ungenießbar. Was er an Früchten vom Gezweig erreichen konnte, pflückte er ab.

Mitten im Sammeln blieb Peter wie angewurzelt stehen. Er starrte auf eine zerquetschte Birne am Boden. Die hatte jemand zertreten!

Bald wußte er, wer vor ihm geerntet hatte und plump herumgetappt war. Da lag Losung mit unverdauten Obstkernen. Peter befand sich im Bereich der Bären, als ungeladener Gast! Noch waren sie drüben beim Fleischfraß an der Steinschlaglehne. Wenn nun einer unversehens zurückkam, was dann?

Rasch fegte Peter ein Fleckchen Erde vom Laub rein und fachte ein Schutzfeuer an. Dann legte er die harzgetränkten Pfeile bereit.

Kein Bär ließ sich blicken.

Als Peter seinen Buckelkorb mit Holzbirnen gefüllt hatte, briet er eine Handvoll der braunen, süßen Früchte. Nach dem Mahl kehrte er vorsichtig und auf schnellstem Wege durch die einbrechende Dämmerung heim. Eva lachte die Freude über die Nachernte an gutem Obst aus den Augen. Jetzt sollten sie auch noch gedörrte Birnen haben!

Für die Höhlenkinder gab es kein größeres Glück als gutes Essen im warmen Heim. Die mitgebrachten Mäuse waren Eva hochwillkommen. Sie freute sich auf das frische, zarte Fleisch, das wieder einmal anders schmecken würde als das hartgeräucherte Rehfleisch.

Im hellen Lichte dreier Kienspäne wurden die Tierchen abgehäutet. Während Peter die zarten Bälge mit einem Brei aus Salz und Lehm bestrich und mit Moos ausstopfte, machte sich Eva daran, die elf kleinen Leiber auszuweiden und zu salzen. An einer frischen Weidengerte aufgereiht, wurden sie über dem Feuer gedreht. Peter, der einen der kleinen Braten versuchte, mußte sich fast erbrechen: Das Fleisch stank unerträglich. Verärgert betrachtete er das Köpfchen des Tieres. Im dünnen Schnäuzchen waren keine Nagezähne, keine Lücken hinter den Vorderzähnen, sondern dicht aneinandergereiht viele spitze Zähnchen. Aha, das war eine Spitzmaus! Sie hatte also ihren Gestank bewahrt. Er warf sie ins Feuer und beeilte sich, einige Wacholderbeeren zu kauen, um den üblen Nachgeschmack zu vertreiben. Eva erging es besser. Sie hatte für sich eine Waldmaus erwischt, und die schmeckte vortrefflich. Peter, der jetzt mit Nase und Augen Stück für Stück untersuchte, warf die ungenießbaren Spitzmäuse ins Feuer und nahm sich vor, die kleinen Stinktiere in Zukunft laufen zu lassen. Die Waldmäuse aber schmeckten ihm so, daß er sich die Finger danach leckte. Eine Handvoll Haselnüsse und Birnen vervollständigten das Mahl.

Als es vorbei war, fragte Eva, indem sie mit der Hand einen Bogen rund um sich her beschrieb: »Ja, Peter, merkst du denn nicht, was ich inzwischen gemacht hab‘?«

In der Höhle war eine Ordnung wie nie zuvor. Der Boden war reingefegt, die mit Mergelplatten ausgelegte Feuerstelle mit sorgfältig aufgelegten Steinen umbaut, Evas Küchengerät und ihre Würzkräuterbüschel hingen wohlgeordnet an den Aststummeln der Trockenbodenstützen. Aus einem Sandhaufen sahen die Blattschöpfe eingelegter Schwarzwurzeln, Wegwarten und wilder Mohrrüben.

An der rechten Höhlenwand standen der gefüllte Wasserkorb und die neuen Tragkörbe.

Nah am Feuer waren die Hocker untergebracht, und vor der größten Lichtluke der Außenmauer stand Peters hoher Arbeitsstock – eine wohltuende Ordnung, wohin das Auge schaute.

»Gut hast’s g’macht, Eva«, sagte Peter anerkennend.

Glücklich über sein Lob, erzählte sie ihm, was ihn auch noch freuen mußte. Sie hatte das alte Laub seines Lagers in den Schiefen Gang geräumt und seine Schlafgrube hoch mit trockenem Moos gefüllt. Die Bettdecken aus Eichhornfellen, die bei feuchtem Wetter so unangenehm rochen und deren Nähte vielfach aufgegangen waren, hatte sie durch Rehhäute ersetzt. Einen vorbereiteten Hasenbalg hatte sie gereinigt, eingefettet und mit dürrem Moos ausgestopft: ein Kopfkissen für Peter. Evas Augen leuchteten voll Stolz, während sie aufzählte, was sie alles fertiggebracht hatte.

Da faßte Peter sie bei beiden Händen und sprach ihr die höchste Anerkennung aus, die er ihr sagen konnte: »Everl, wenn das die Ahnl erlebt hätt‘, daß du so g’scheit und fleißig geworden bist, die hätt‘ sich gefreut!«

Jagd im Schnee

Der sonnige Spätherbst lockte die Höhlenkinder hinaus, im Laubwald Nachernte zu halten. Sie fühlten sich im Umkreis des qualmenden Schutzfeuers sicher.

Acht Körbe voll überreifer Birnen hatten sie, die mußten rasch gedörrt werden. Peter erhöhte die Herdumfassung und deckte sie mit quer aufgelegten Mergelplatten, auf denen die Birnen braten konnten. So war aus dem offenen Feuer ein geschlossener Herd geworden, freilich nur vorübergehend, weil die Steinplatten in der Hitze barsten.

Den schönen Spätherbsttagen folgten ganz unvermittelt Schneestürme. Sie brachten sausende und klingende Massen von harten, glitzernden Nadeln und Sternchen, die an den Wänden niederfegten und in stäubenden Schwaden die Halden entlangwirbelten.

Am Fuße der Höhlenwand häuften sich die Schneewehen, wurden fortgetragen und häuften sich von neuem kniehoch, mannshoch. Eisiger Sturm drang durch die Fugen der Schutzmauer und wehte den feinen Schnee in die Höhle.

Als Peter versuchte, die Höhle zu verlassen, um den Vorrat an Brennholz zu ergänzen und Trinkwasser zu holen, sank er bis zu den Schultern im lockeren Schnee ein.

Mühsam arbeitete er sich am Steigbaum empor und erklärte, von Kälte geschüttelt: »So geht’s nicht.«

Und doch mußte er Mittel finden, zum Bach und in den Wald zu gelangen. Trinkwasser und Holz mußten beschafft werden. Der Schnee stillte den Durst nicht, und das nimmersatte Feuer durfte nicht ausgehen.

Da erinnerte er sich an seine Erlebnisse im Moor. Beim Aufrechtgehen war er eingesunken, beim Kriechen auf allen vieren hatte ihn der schwingende Boden getragen. Könnte er sich nicht auf dem Bauch über den Schnee fortbewegen? Wenn er seine Sohlen verbreiterte? Womit?

Er mußte sich große Tragsohlen flechten. Da er nicht in den Wald gehen und schmiegsame Gerten holen konnte, zog er aus dem Trockenboden vier fingerdicke Fichtenzweige, die noch frisch und biegsam genug waren. Aus schwach gekrümmten Zweigen stellte er zwei Rahmen her, indem er die Enden mit Darmsaiten umwickelte.

Dann holte er aus dem Allerlei ein Bündel Waldreben und einige Balgabfälle. Mit den Ranken verflocht er die Rahmen kreuz und quer, zerschnitt die Fußenden von Rehfellen zu breiten Streifen, fettete sie ein und machte sie als Bindung fest.

Als Wassergefäße hängte er sich die größten Steinbockshörner an Darmsaiten um den Hals. So ausgerüstet, wagte er den Gang ins Freie.

Die plumpen Schneeschuhe an den Füßen, hangelte er sich an den Aststummeln des Steigbaums hinunter, während er die Knie gegen den Baum stemmte.

Auf dem lockeren Schnee unten sank er nur wenig ein.

Da lachte er vor Freude, obwohl der Wind ihm die Schneenadeln durch jeden Ritz seines schlecht schließenden Fellkleides trieb.

Nachdem Eva ihr Wasser hatte, wühlte er den Schlitten aus dem Schnee, ließ sich die beste Steinaxt und den Feuerkorb herunterreichen, die er beide auf dem Schlitten festband, und fuhr dem Walde zu. Beim Abschlagen dürrer Äste flog ihm das Steinbeil aus der Bindung und versank irgendwo im Schnee, wo es nicht zu finden war. Verdrossen schleppte er einen riesigen Haufen Streuholz zusammen und band es auf dem Schlitten fest, so hoch er reichen konnte.

Langsam setzte er seine Last in Bewegung. Nicht ohne Gefahr, vom Wind umgeworfen zu werden, kam der hochbeladene Schlitten über die Brücke. Keuchend und prustend, an abschüssigen Stellen den Schlitten im Kreuz, strebte Peter am Bocksgraben abwärts der Höhle zu.

Krampfhaft umklammerten seine kältestarren Finger die Schlittenkufen. Als er endlich vor der Höhle hielt, waren Hände und Füße gefühllos geworden. Eva mußte ihm die Schneeschuhe losknüpfen. Ihr überließ er das Abladen und Schichten des Holzes, kauerte sich verdrossen in seine Schlafgrube und versuchte, warm zu werden.

Erst als die Herdmauern förmlich glühten und Peter das dampfende Holz aus ihrer Nähe schaffen mußte, war die Wärme im Höhlenraum gleichmäßiger.

Peter dachte an die Plage seiner Schlittenfahrt, an die Angst, seine Finger zu erfrieren. Die Hände brauchten einen Schutz! Er beschloß, sie in Zukunft mit Eichhornfellen zu umwinden.

Da es ihm nicht gelingen wollte, die Häute auch nur annähernd auf die gewünschte Weite zu dehnen, machte sich Eva daran, aus zwei Bälgen, die mit den Haarseiten zusammengelegt wurden, erst einmal den Fäustling für die rechte Hand zu nähen. Er wurde ein Sack, von dem ein unförmiger Daumen abstand. Peter lachte, war aber zufrieden und brachte ihr zwei andere Bälge für die Linke. Er überließ ihr die Arbeit ganz, während er für sein verlorenes Steinbeil einen Ersatz suchte.

Die Darmbindung hielt die Wucht der Schläge nicht aus, das wußte er nun. Wie war das doch mit Evas Fleischklopfer? Richtig, Eva hatte einen Schaft in das Markloch eines Wirbels geschoben – sollte er es nicht noch einmal versuchen, einen Steinkeil zu durchlochen und einen Schaft einzutreiben? Daß er einen Hartsteinbohrer nicht mit der bloßen Hand durch den Steinkeil bringen konnte, war ihm klar; die Drehung mußte rascher und anhaltender sein. Zunächst suchte er nach einem Steinkeil, der sich leichter bearbeiten ließ als die quarzigen Steine. Im Allerlei fand er den grob keilförmigen grünen Serpentin aus dem Neuen Steinschlag. Mühsam versuchte er, ihn an einer Sandsteinplatte zu einem möglichst flachen Beil zu schleifen. Das ging aber so langsam, daß er es nach redlicher Plage aufgab und sich mit dem Ergebnis begnügte: einem plumpen Gebilde, das ungefähr einem Beil glich. Als wuchtige Schlagwaffe mochte es recht brauchbar sein. Er klemmte es in eine Ritze des Werkstrunks, hockte sich davor, umklammerte den Strunk mit beiden Fußsohlen und setzte die Steinspitze seines Pfeils an die Bohrstelle. Dann nahm er den Schaft des zum Bohrer gewordenen Pfeils zwischen die Handflächen und versetzte ihn in eine quirlende Drehung.

Wohl entstanden an der Bohrstelle Kratzer im Stein, aber immer wieder glitt die Spitze des Pfeiles ab. Peter legte einen Rehwirbel über die Bohrstelle, kittete ihn mit Wachs und Harz fest, steckte die Bohrerspitze durch das Markloch des Wirbels und zwang sie so, beim Drehen an derselben Stelle zu bleiben; jetzt schien ihm das Gelingen nur noch eine Frage der Zeit und der Geduld.

Erst als er die Hände nicht mehr bewegen konnte, nahm er die Führung ab und stellte fest, daß er sehr, sehr wenig ausgerichtet hatte. Die Kratzer waren noch immer Kratzer.

Entmutigt legte er sein Bohrgerät hin und suchte Trost in der Mahlzeit, die Eva bereitet hatte.

Die angefangene Arbeit ließ ihm keine Ruhe. Nach dem Abendessen nahm er die Bohrversuche wieder auf, wobei Eva ihn ablösen mußte, wenn er nicht mehr konnte. Da er meinte, durch starken Druck auf den Bohrer mehr auszurichten, mußte Eva einen Knochen mit der Gelenksgrube gegen das obere Ende des Bohrers drücken, während er weiter quirlte.

Sobald er müde wurde, löste Eva ihn ab, und er übernahm das Aufdrücken. Lange, lange arbeiteten sie so. Plötzlich zerbrach der Pfeilschaft, und das Ergebnis ihrer Mühe war so kläglich, daß sie verstimmt und entmutigt schlafen gingen. Wieder ein Fehlschlag?

Während Peter grübelnd und schlaflos in seiner Grube lag, begann es draußen wieder zu schneien. Es war windstill. Sacht fielen die Flocken und breiteten eine lockere Decke über den Heimlichen Grund.

Am nächsten Tag frühstückten die Höhlenkinder sehr spät und freuten sich über ihr warmes Zuhause. Der Schnee hatte alle Fugen der Schutzmauer und der Gittertür ausgefüllt und lag handhoch in den Lichtluken. Peter nahm seine Bohrarbeit wieder auf, kam aber nicht viel weiter. Er legte den angeritzten Steinkeil samt dem Bohrer ins Allerlei und holte ein älteres Steinbeil hervor, das in einen gabelig verzweigten Ast gebunden und festgekittet war.

Gegen Mittag hörte der Schneefall auf. Der Himmel war wolkenleer und von leuchtender Blässe. Frostige, klare, regungslose Luft lag über der flaumigen Schneedecke, die alle kleinen Unebenheiten des Bodens ausgeglichen hatte. Während Eva an einer Fellmütze für Peter nähte, fuhr er hinaus, Brennholz zu holen. Am Schlitten hatte er lange Riemen aus Beinfellen befestigt.

Von den Bären war bei der eisigen Kälte nichts zu befürchten, die schliefen in ihren Höhlen. Ohne Feuerkorb, nur mit seinem Arbeitsgerät und den Waffen ausgerüstet, stapfte der Junge vor seinem Schlitten den Bocksgraben aufwärts, dessen seichtes Wasser tief zwischen den überhängenden Schneepolstern seiner Ufer dahinmurmelte.

Glücklich kam Peter mit seinem Schlitten über die hochbeschneite Brücke und in den Wald, wo er die Schneeschuhe abschnallte, weil unter den Bäumen nur wenig Schnee lag.

Unverzüglich ging er daran, das unter der dünnen Schneedecke liegende Bruchholz zu sammeln und gleich auf dem Schlitten zu verstauen.

Schon hatte er die Schneeschuhe wieder angeschnallt und hielt die aufgebogenen Kufen des hochbeladenen Schlittens in den Händen. Da ließ ihn ein Knistern, das ein leichter Windhauch vom Waldrand herübertrug, aufhorchen. Dort, wo im Schutz der hohen Bäume der Schnee das Bodenreisig nur wenig deckte, wurden dürre Zweige niedergetreten. Wer ging da?

Mit einem Schritt war Peter hinter dem nächsten Baum in Deckung und spähte hinüber. Ach, ein schwacher Rehbock, dessen graues Winterkleid sich kaum vom kümmerlichen Buschwerk abhob! Ruhig knabberte der Bock an der Rinde einer Haselstaude. Sein kleines Gehörn, das aus je einer stumpfen Stange bestand, war im Bast, war von Haut und Haaren bedeckt.

Noch stand das Wild zu weit.

Sachte nahm Peter den Bogen von der Schulter, legte einen Pfeil mit wuchtiger Steinspitze auf die Darmsaite und schlich sich, von Baum zu Baum Deckung nehmend, lautlos an. Je mehr er sich dem Bock näherte, um so stärker wehte ihm der Wind entgegen.

Mit klopfendem Herzen stand er endlich in Schußweite. Die Hand zitterte am Bogen. Trippelnd äste der Bock am Gesträuch. Jetzt stand er auf den Hinterläufen, stemmte den linken Vorderlauf gegen eine Astgabel und reckte den Hals, um das junge Gezweig zu erreichen! Jetzt bot er dem Jäger die Flanke! Peters Arme strafften sich, und im nächsten Augenblick schwirrte der Pfeil von der Bogensehne. Er drang dem Tier tief in die Weichteile.

Mit einem Satz sprang der Getroffene auf und flüchtete in langen, zuckenden Sprüngen. Von den Schneeschuhen behindert, konnte Peter nur langsam folgen. Er blieb weit zurück.

Das schwerverwundete Tier hielt im Laufen ein, unschlüssig, wohin es sich wenden sollte. Da verließ der Jäger die blutige Spur und schlug einen Bogen gegen die Südwand zu. Dorthin sollte das Tier nicht flüchten.

Mit lautem Geschrei trieb er es vor sich her, dem Graben zu. Langsamer wurden die Bewegungen des weidwunden Bocks. Es gelang ihm nicht, durch den tiefen Schnee des offenen Geländes zu kommen, er strebte deshalb zum Waldrand zurück. Peters Geschrei trieb ihn zum Bachbett, wo er erschöpft mit zitternden Flanken im Schnee steckenblieb. Da traf ihn die gutgeworfene Steinaxt des Jägers im Genick, und mit der überhängenden Schneewehe stürzte er ins Bachbett.

Peter freute sich, ein so junges Tier erbeutet zu haben; das Fleisch mußte noch zart sein. Endlich langte er mit seiner Last bei Eva an und prahlte mit den überwundenen Schwierigkeiten.

Eva sparte nicht mit ihrer Bewunderung. In ihre Freude mischte sich aber tiefes Mitleid mit dem anmutigen Tier; sie konnte nicht anders, sie mußte den Kopf des Rehes streicheln, dessen Augen noch im Tode schön waren.

Auch sie konnte sich vor Peter ihrer Arbeit rühmen. Sie stülpte ihm eine aus allerlei Bälgen zusammengesetzte Mütze auf den Kopf und stemmte beide Arme in die Hüften. »Siehst du!« sagte sie, sehr mit sich zufrieden. Beide waren stolz aufeinander.

Peter, der jetzt erst an den Füßen fror, streifte seine durchweichten Dachsschwarten ab, rieb seine Füße kräftig mit Schnee und wühlte sich in seine Schlafgrube ein.

Die gebratene Zunge des Rehbocks war eine arge Enttäuschung. Zusammengeschrumpft, hornig hart und ungenießbar lag sie reizlos auf der Mergelplatte. Um so besser schmeckten die gerösteten Kastanien.

Während des Essens liebäugelte Peter mit seiner Beute und überlegte, wozu er den neuen Balg am besten verwenden könnte.

Eva, die darüber klagte, daß der Wasserkorb, dessen Harzbelag abbröckelte, das Wasser durchsickern ließ, brachte ihn auf einen neuen Gedanken.

Wie wär’s, wenn er die Haut des Bocks nicht auf der Bauchseite schlitzte, sondern nur in der Hals- und Schultergegend und sie im ganzen abzöge, wie er kleinere Tiere abzubalgen pflegte? Wenn der Kopfteil abgeschnitten wurde, ließ sie sich als Wasserschlauch gebrauchen.

Noch kaute Peter am letzten Bissen, als er schon an der Arbeit war. Mit Evas Hilfe häutete er den Bock ab. Kopf und Laufenden schnitt er weg und band die Öffnungen fest zu.

Dann machte er aus altem Laub, Rindenstücken, Salz, Asche und Schnee einen Brei an, füllte damit den umgestülpten Rehbalg und hängte diesen im Schiefen Gang auf.

Dann hieß er Eva, am Bach das Gedärm des Bocks zu reinigen und die Harnblase aufzublähen. »Nimm meine Schneeschuhe«, sagte er, »daß du gut ’nunterkommst.« Eva wollte nicht gehen. Da trieb er sie hinaus. Er brauchte die Tageszeit, um an der neuen Steinaxt zu arbeiten. Wenn er den grünen Stein auch noch nicht zu durchbohren vermochte, so wollte er ihm wenigstens eine scharfe Schneide anschleifen.

Den Steinkeil selbst hatte er in einer Fuge des Arbeitsblockes festgeklemmt. Mit beiden Händen führte er ein längliches, flaches Sandsteinstück darüber hin und her. Der grünliche Schleifstaub stieg ihm so lästig in die Nase, daß er den Steinkeil immer wieder mit Wasser begoß; dabei merkte er, daß der feuchte Stein sich besser schleifen ließ als der trockene.

Bevor er viel ausrichten konnte, kehrte Eva zähneklappernd zurück; ihre Knie zitterten vor Kälte, so daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Sie warf die oberflächlich gereinigten Eingeweide auf den Boden, streifte mit steifen Fingern die Schneeschuhe ab und wollte in ihre Kammer hinauf. Peter aber, der über ihr Aussehen erschrocken war, rieb ihre Füße und Hände mit Schnee ab.

Eva verkroch sich alsbald in ihrem Lager. Sie kauerte sich unter ihrem Rehfell zu einem Knäuel zusammen und hauchte in die gefalteten Hände. Da fiel Peter ein, daß er den beladenen Schlitten holen mußte. Er beeilte sich damit, um Eva nicht lange allein zu lassen. Als er zurückkam, zitterte sie noch immer vor Kälte.

Da machte er sich daran, zwei Schulterstücke des Rehböckchens vielfach zu schlitzen und mit Wacholderbeeren, Lauchschnitten, Salz und Quendel zu würzen. Das sollte ein Braten werden!

Noch war er nicht fertig, als Eva leise, mit kaum verständlicher Stimme rief: »Peter, Peter, mir – ist – ist – sooo – ka-alt!«

»Ich bring‘ dir gleich was Warmes zum Essen!« rief er hinauf und fuhr fort, die an einen grünen Stab gespießten Fleischstücke über dem Feuer zu drehen. Während der halbgare Braten ein wenig abkühlte, belegte er den Rand des Feuers mit Kastanien. Auf einer Mergelplatte trug er dann die Rehschulter, umgeben von halbverkohlten Kastanien, zu Eva hinauf, und sie grub ihre Zähne in das noch dampfende Fleisch.

Peter nickte ihr befriedigt zu: »Essen, Eva, essen – das macht warm!« Dann holte er sich auch seine Mahlzeit herauf. Diesmal aßen beide mehr, als zur Stillung des Hungers nötig war.

Als Eva die letzte Kastanie verzehrt hatte, schob sie Peter die leere Steinplatte zu: »So, gut war’s, jetzt ist mir wärmer. Nur für die Fuß‘ hätt‘ ich gern einen Wärmstein.«

Peter beeilte sich, ihr nicht einen, sondern gleich drei Wärmsteine zu bringen, die er nacheinander im Traghaken heraufschleppte und, heiß wie sie waren, ihr zu Füßen ins Moos bettete.

Bevor er selbst zur Ruhe ging, grub er für den Rest des Bocks draußen eine Grube unterhalb der Schutzmauer. Wie gut hatte das ungeräucherte Fleisch des jungen Tieres geschmeckt! Auch das übrige sollte frisch genossen werden. Die Fleischgrube beschwerte er mit Steinen.

Eva hütet das Feuer

Die Höhlenwand, an der Peter lag, war längst im grellen Sonnenschein, aber er wachte nicht auf.

Eva war schon eine geraume Weile auf den Beinen, hatte sich am Bach gewaschen und sah mit blanken Augen und klarem Kopf in die Welt.

Ihre erste Arbeit war, drei Tauben zum Frühmahl herzurichten. Von der Feuerstelle stieg ein dünner Rauchfaden auf.

Das Feuer war schon längst ausgegangen; doch der stark angekohlte Strunk glomm auf der Unterseite. Auch unter der Asche fand sich noch Glut.

Eva legte trockenes Moos und Wacholderzweige darauf, dann blies sie die Kohlen mit vollen Backen an. Das harzige Reisig fing Feuer, die grünen Nadeln knisterten und pufften, die Wacholderbeeren blähten sich und zersprangen. Eva legte Holz zu, rupfte die Tauben, nahm sie aus, tat Salz und Gewürz daran, spießte sie auf einen grünen, hakenförmig gebogenen Zweig, dem sie einen gegabelten Ast als Stütze gab, und drehte sie rasch über dem Feuer. Sie freute sich, dem hungrigen Peter einen so leckeren Frühstücksbraten vorsetzen zu können. Vorüber waren die Tage, da sie das Fleisch roh essen mußten. Nie mehr durfte es ausgehen, das wärmende, lichtspendende, das freundlich-gefährliche Feuer … Eifrig drehte die Hand den Spieß.

Der Duft von qualmendem Wacholder und angebrannten Flaumfedern zog durch die Höhle und kitzelte den Schläfer in der Nase, so daß er laut niesend erwachte.

Noch wußte er nicht, was die Düfte zu bedeuten hatten und rieb sich die Augen. Er brauchte lange, bis er sich zurechtfand. Sein Kopf war wie benebelt, und die geröteten Augen schmerzten. Peter hatte Hunger und Durst, quälenden Durst. Ein Blick auf das Feuer brachte auch ihm die neue Sachlage zum Bewußtsein. Er stieg zum Bach hinab, kauerte sich ins strömende Wasser und tauchte den Kopf ganz hinein. Das tat wohl.

Als er zu Eva zurückkehrte, streifte er ein halbgares Täubchen vom Bratspieß, packte mit jeder Hand ein Bein und riß den Braten auseinander. Eva sah ihm vergnügt zu und mußte lachen, weil er sich beinahe die Lippen verbrannt hätte. Bald aber folgte sie seinem Beispiel. Sie bliesen die heißen Stücke an, schlenkerten sie in der Luft und schmausten mit einer Lust, die ihnen aus den Augen leuchtete.

So ungern die Höhlenkinder früher Wurzeln und rohes Fleisch hinuntergewürgt hatten, weil der Hunger sie dazu zwang, so genußvoll aßen sie jetzt vom Gebratenen und Gewürzten. Das sah anders aus, duftete und schmeckte anders als rohes, nach Blut riechendes Fleisch.

Sie aßen und aßen, bis von den drei Tauben nichts mehr übrig war als die Knochen. Die dünnen Röhrenknochen der Beine und Flügel kamen ins Allerlei.

Übersatt und faul legte sich Peter wieder ins Laub. Aber Eva ließ ihn nicht lange ruhen.

Das Feuer war niedergebrannt, Holz mußte beschafft werden. So ging er denn, seine Trägheit überwindend, in den Wald. Da lagen abgestorbene Bäume genug. Er hieb sich einen Astschlitten zurecht, belud ihn und schleppte zur Höhle, was er fortbringen konnte: dürre Äste, Zweige und Stammstücke.

Den Rest des Tages und einen Großteil der Nacht verbrachten beide damit, die Rehe auszuweiden und abzuhäuten. Dann zerlegten sie das Fleisch in handliche Stücke, salzten es und hängten es nahe über dem Feuer an die Randhölzer des Trockenbodens, so daß der aufsteigende Rauch es bestreichen konnte.

Alles Bangen vor der grimmigen Winterkälte war vorbei, alle Angst vor den Bären geschwunden. Im Bereiche des Feuers war Eva vor ihnen sicher. Sorglos konnte Peter der Jagd und der Waldarbeit nachgehen, während Eva als Hausfrau das Feuer hütete und das kostbare Rauchfleisch betreute, indem sie ab und zu durch Wacholder und dürres Laub die Glut nährte, so daß sie ruhig glimmend duftenden Rauch erzeugte.

Auch das Reinigen und Spannen des Gedärms der drei Rehe besorgte sie, holte sich den am Bachufer unter Steinen eingewässerten Bergflachs herauf, trocknete ihn am Feuer, klopfte ihn mit einem Holzschlegel, um die brüchig gewordene Rinde loszulösen, und war glücklich über das – wenn auch karge – Ergebnis an Flachs, den sie zwischen den Handflächen zu Fäden zwirbelte.

Ein Übelstand aber vergällte ihr den Aufenthalt in der unteren Höhle. Die drei Rehdecken im schrägen Gang verbreiteten, obwohl sie eingesalzen waren, einen unerträglichen Gestank.

Peter kam auf den Gedanken, auch die Felle durch Räuchern vor dem Verderben zu schützen. Zwei davon sollten bald zu Kleidern verarbeitet werden; er holte sie herein, reinigte sie mit einem Schabstein vom anhaftenden Fett, rieb sie mit Lehmstaub trocken, spannte sie über gekreuzte Stäbe und hängte sie, Fleischseite nach unten, an ein Gerüst aus Eschenstämmchen hoch über das Feuer. Dann legte er Gras auf die Glut und sah mit Befriedigung, wie der aufsteigende Qualm die feuchten Hautflächen bestrich. Was schadete es, wenn sie verrußten, er wollte sie schon wieder sauber bekommen.

Die dritte Haut, das Fell des stärkeren Bocks, sollte einstweilen auf die Bearbeitung warten, ohne die Luft der Wohnhöhlen mit ihrem Geruch zu verpesten. Er trug sie hinunter in den wasserleeren Waldgraben, der sich vom Fuchsenbühel zum Klammbach zog und mit zusammengeschwemmtem Laub gefüllt war. Dort vergrub er sie und legte Steinbrocken darauf.

Peters Vermutung war richtig gewesen: Das Räuchern nahm den Fellen den üblen Geruch.

Eva schliff an einem flachen Granitbrocken, den sie in den Lehmboden ihrer Höhle eingelassen hatte, neue Nadeln zurecht, denn sie wollte aus den Fellen anliegende Winterkleider anfertigen.

Das Nähen selbst war eine langwierige, unbehagliche Arbeit. Für jeden Stich mußte zuerst mit dem Hartsteinbohrer ein Loch gemacht werden, die handgezwirbelten Fäden waren knotig, die nicht gewalkten Felle widerspenstig.

Diese Schwierigkeiten störten Eva nicht, aber etwas anderes. Ein brennender Durst, an dem der zu stark gesalzene Braten schuld war, zwang sie, die Arbeit immer wieder im Stich zu lassen und zum Bach hinunter zu eilen. Wenn sie nur ein Gefäß gehabt hätte, um sich einen Trinkwasservorrat in die Höhle zu schaffen! Peter wußte Rat: Aus dem größeren Rehbockschädel wollte er ihr ein Gefäß machen. – »Pfui!« Eva spuckte vor Ekel aus, denn der Schädel stank abscheulich! In der Wärme waren Reste vom Gehirn, Fleischfasern und die Beinhaut an den Knochen in Fäulnis übergegangen. Da grub Peter eine handtiefe Grube in den Lehmboden des schiefen Ganges und füllte sie mit einem wässerigen Brei aus Asche und Lehm. Dahinein legte er den Schädel, dessen Hirnkapsel er mit demselben Brei gefüllt hatte. Als er ihn nach einigen Tagen herausnahm und im Bache mit frischgebrochenen Fichtenzweigen von innen und außen gebürstet hatte, war der üble Geruch verschwunden.

Bis die Schädeldecke mit der Hartsteinsäge abgesägt, die Schalenränder zugeschliffen, die Schädelnähte verpicht waren, vergingen mehrere Tage, und das Ergebnis war doch nur eine flache Schale, die freilich durch die zwei Stirnzapfen, die als Füße dienten, standfest war. Je nun, viel war’s nicht, aber besser als gar nichts. »Weißt, Everl, die Steinbockshörner, die wären richtig.«

Doch auch das Steinbocksgehörn mußte mit denselben Mitteln gereinigt werden wie der Schädel. Aber ganz geruchlos war es auch dann noch nicht. Peter lehnte die Hörner an die Höhlenwand und wollte die gründlichere Reinigung anders versuchen. Da fiel sein Blick auf die angekohlten Holzstücke, die um die Feuerstelle lagen. Von denen kratzte er mit einem Hartsteinschaber die Holzkohle, füllte damit die Hörner und goß Wasser nach. In einigen Tagen mußte es sich ja zeigen, ob er das richtige Mittel gefunden hatte.

Eva aber war ungeduldig. Sie benützte weiter die Schädelschale und ärgerte sich laut, daß so wenig hineinging. Wie das im Winter werden solle ?

»Ich kann doch das Wasser nicht in einem Korb heraufschleppen!« sagte Peter, als Eva wieder einmal schimpfte. Oder doch? Konnte er nicht die Fugen des Geflechts auch mit Lehm oder Harz verstreichen, wie er es beim Salzkorb getan hatte ? Ohne Zögern ging er daran, alle Fugen eines Tragkorbes von innen und außen dick mit breiigem Lehm zu verstreichen. Peter hielt den Korb gegen das Licht der untergehenden Sonne. Sie schimmerte nicht durch. Da konnte auch das Wasser nicht durchsickern. Wenn sich der Lehm einmal mit Wasser vollgesogen hatte, war er undurchlässig.

Behutsam stieg Peter mit dem neuen Gefäß zum Bach hinunter und brachte es halbgefüllt in die Höhle. Das Wasser war trüb. Eva mußte abwarten, bis es sich klärte. Sie brauchte nicht lange zu warten.

Wieder war ein brauchbares Gerät geschaffen!

Beim Abendessen schwatzten die Höhlenkinder von einer behaglichen Zukunft, bis die Müdigkeit sie auf ihre Lager trieb. Peter schaute noch lange im flimmernden Lichte des knisternden Feuers zur Decke der Höhle empor, wo der Fleischvorrat im langsam ziehenden Rauch hing, und dachte an die Erlebnisse der letzten Tage und Nächte. Kichern mußte er, als ihm einfiel, wie die Bären vor den brennenden Zweigen geflohen waren. Er nahm sich vor, ihnen noch öfter so heimzuleuchten.

Doch dazu sollte er etwas haben, worin er das Feuer mit sich tragen konnte, ein Gefäß, das die Glut bewahrte, ohne selbst zu verbrennen …

Wie einfach! Ließ sich in einem mit Lehm ausgestrichenen Korb Wasser tragen, warum nicht auch glühende Kohlen? Moderholz darauf, das nur langsam glimmen konnte, und einige harzbestrichene Stäbe, harzbestrichene Pfeile zur Hand, die sollten taugliche Waffen werden gegen die Bären – ja, das mußte möglich sein.

Dann fiel ihm ein, daß er unlängst im Schlaf einen Steinschlag gehört hatte. Ob’s ein Traum gewesen war, ob Wirklichkeit, das wollte er morgen erkunden. Das Feuer wollte er mitnehmen, um sich die Bären vom Leib zu halten. Feuerkorb und Brandpfeile!

Feuerkorb

So gern Peter gleich am Morgen des nächsten Tages aufgebrochen wäre, er konnte nicht gleich fort.

Der Wasserkorb gab ihm zu schaffen. Der Lehmbelag der Seitenflächen war im Wasser zergangen. Während er den Schaden behob, fiel ihm sein Plan, einen Feuerkorb zu machen, wieder ein.

Ach was, dazu konnte der mit Lehm ausgestrichene Korb dienen, der als Wassergefäß doch nichts taugte. Für das Wassertragen mußte etwas anderes her! Peter holte einen von Evas Körben her, nahm eine Rippe, die als Spachtel diente, und strich damit Harz, das er zuvor auf einem heißen Stein erwärmt hatte, in seine Fugen. Dann hielt er den Belag über das Feuer. Das Harz schmolz und verschloß alle Zwischenräume des Geflechts. Als dabei abstehende Holzfasern in Brand gerieten, löschte er die Flammen mit Lehmstaub und bestreute damit den Korb innen und außen, um die Klebmasse zu decken. Während dieser Arbeit, die fast den ganzen Vormittag in Anspruch nahm, ließ Peter den Lehmbelag seines Feuerkorbs in der Nähe der Feuerstelle übertrocknen und verstrich die entstehenden Risse des Belags immer wieder mit Lehm.

Eva, die Peter bei der Arbeit zugesehen hatte, wußte, wie sehr es ihn zum Steinschlag zog, aber ihr zuliebe machte er erst den Korb fertig. Nun war sie mit dem neuen Wasserbehälter zum Bach geeilt und hatte ihn gleich ausprobiert: Das Gefäß, in dem das Wasser klar blieb, war leicht und undurchlässig.

Nach einer ausgiebigen Mahlzeit schaufelte Peter mit einem Schulterblatt glimmende Kohle und Moderholz in den alten Wasserbehälter und zog durch den oberen Rand einen starken, aus Waldreben geflochtenen Zopf, das war ein vorzüglicher Traghenkel. Peter war zufrieden und machte sich wohlbewaffnet auf den Weg.

Am Fuchsenbühel fand er viele neue Knochenreste, ließ sie aber liegen. Er hoffte auf bessere Beute. Als der Schatten des Sonnsteins gerade gegen die Südwand zeigte, langte Peter bei der Stelle an, wo er nach dem ersten Steinschlag den Steinbock gefunden hatte. Hier entdeckte er gebleichte Knochen und ein abgenagtes Ziegengerippe. Das Gehörn war flach und eine gute Handspanne lang; es zeigte schwache Wülste und eine geringe Krümmung; wahrscheinlich stammte es von einer noch jungen Geiß. Die Hörner ließen sich leicht von den Stirnzapfen ziehen, und Peter steckte sie trotz ihres üblen Geruchs hinter seinen Gürtel. Das eine sollte ein tragbares Salzgefäß werden, das andere ein Trinkbecher oder eine Messerscheide. Da nichts mehr zu finden war, wandte er sich dem Laubwald zu, hinter dem er die Höhle der Bären vermutete.

Bevor er das gefährliche Gebiet betrat, legte er dürres Gras und Laub unter das glimmende Moderholz auf die Glut seines Feuerkorbes, blies sie an und sah beruhigt dichten Qualm daraus emporsteigen. Er verließ sich darauf, daß schon der Rauchgeruch die Bären fernhalten werde.

Wohlgemut drang er in den Wald ein, dessen Eichen und Buchen den Boden dicht beschatteten. Zahlreiche Wildschweinspuren ließen erkennen, daß diese nahrhafte Gegend das Schwarzwild anzog.

Die Baumkronen waren von Buchfinken, Meisen, Kernbeißern, Grünlingen, Hähern, Holztauben, aber auch von Eichhörnchen bevölkert. Eines davon, ein junges Tierchen, schoß Peter herab und nahm es als Wegzehrung mit. Im Weitergehen suchte er auf dem Waldboden nach abgefallenen Früchten. Da gab es grüne, angenagte Eicheln und viele hohle, von Würmern ausgefressene oder von Hörnchen entkernte Bucheckern. Nur selten fand Peter in den borstigen, vierblättrigen Fruchtbechern die dreikantigen Bucheckern unversehrt. Mit den Zähnen löste er die Kerne heraus. Sie schmeckten ihm wegen ihres größeren Fettgehaltes besser als Haselnüsse.

Plötzlich wurde der Wald lichter. Durch niederes Strauchwerk trat Peter auf eine mit Steingeröll bedeckte Waldwiese.

Drüben, wo der Boden zur Sonnleiten und Südwand anstieg, standen saftig grüne, großblättrige Bäume mit weit ausladenden Kronen. Uralte Bäume mußten es sein. Darunter lagen, im Gras verstreut, soweit die Zweige reichten, mehr als walnußgroße, feinstachelige Kugeln, aus deren klaffenden Rissen braune Kerne hervorlugten. Da waren sie ja, die Edelkastanien, die Maroni! Peter kannte sie von der Ahnl her.

Er löste erst eine aus ihrem Stachelkleid, riß die braune, lederartige Haut mit den Zähnen ab und knusperte den harten, weißen Kern.

Der schmeckte fast so gut wie eine Haselnuß, war aber härter. In heller Freude darüber, daß er endlich in den Kastanien die rechte Winternahrung entdeckt hatte, machte sich Peter ans Einsammeln. Da er nichts hatte, worin er die Früchte hätte forttragen können, legte er sie in den Feuerkorb auf Moder und Asche. Als er nichts mehr unterbringen konnte, gedachte er zu rasten und sein Eichhörnchen zu braten.

Eben wollte er mit einem gegabelten Zweig glühende Holzkohlen aus dem Korb holen, als ihm eine sonderbare Bewegung unter den Kastanien auffiel. Die drehten sich und hüpften, und plötzlich krachte es in der Glut. Lebhafter sprangen die Kastanien, einige hüpften sogar über den Rand des Korbes. Ihre verkohlte Haut war geplatzt, und die braungebrannten Kerne rauchten und dufteten. Was gut riecht, schmeckt meist gut. Leicht ließen sich die locker gewordenen Kerne aus den spröden Schalen lösen. Sobald sie ein wenig abgekühlt waren, kostete Peter davon. Sie waren weich, mehlig und süß. Jetzt fachte er sein Feuer an, balgte das Eichhörnchen ab, salzte es, steckte das kleine Wildbret an einen Zweig, drehte es über der Glut und hielt ein königliches Mahl.

Als das Feuer niedergebrannt war, tat er die glühenden Kohlen in seinen Korb, legte Moderholz und Asche darüber, tat oben drauf noch einen Vorrat von Kastanien für Eva und setzte seine Nachforschungen fort.

Oberhalb der Lichtung betrat er wieder den Wald, blieb aber schon nach wenigen Schritten überrascht stehen.

Ein wilder Walnußbaum stand da, an dessen tief herabhängenden Ästen viele Nüsse hingen, deren grüne Rinde schon braune Flecken zeigte. Auf dem Boden verstreut lagen einige völlig ausgereifte Früchte, deren schwarzbraune, eingeschrumpfte Rinde sich beim Auffallen von der Schale gelöst hatte. Ein handlicher Schlagstein und ein flacher Grundstein waren bald gefunden, die ziemlich dicken Nußschalen barsten unter Peters Schlägen, der sich dann die fettreichen Kerne schmecken ließ.

Auch hier war viel zu ernten. Bei der Vorstellung, wie Eva sich über den Reichtum an Nüssen und Kastanien freuen würde, wollte er ihr einen gellenden Juchzer hinüberschicken, da bemerkte er, daß er nicht allein war.

Kaum einen Pfeilschuß weit oberhalb stand zwischen den Baumstämmen ein mächtiger Bär aufrecht auf den Hinterbeinen, die linke Vordertatze auf den Wurzelballen eines umgeworfenen Baumes gestützt, die rechte Pranke hing schlaff herab. Er hatte die Äuglein neugierig auf den Eindringling gerichtet und wiegte kaum merklich den Oberkörper. Peter erschrak; in seinen Halsadern pochte es. Ein dünner, blauer Rauchschleier stieg aus dem Feuerkorb und strich, vom Wind verteilt, sachte hinüber zum Bären, der mit vorgestreckter Nase die Luft prüfte. Den Geruch kannte er. Sein Fell war an der Brust stark versengt. Erinnerte er sich des flammenden Pfeiles?

Peter überlegte, ob er das Raubtier wieder mit einem brennenden Pfeil angreifen sollte. Freilich konnte er nicht wissen, wie es sich bei Tage verhalten würde. Da nieste der Bär und ließ sich kopfschüttelnd auf alle viere nieder. Dann machte er kehrt und trabte gemächlich der Felswand zu.

»So«, sprach Peter zu sich selbst, »gehst du mir aus dem Weg, dann sollst auch Ruhe vor mir haben.«

Glücklich über den Schutz, den sogar der Rauch seiner glimmenden Kohlen bot, packte Peter sein Gerät und schritt, die Südwand zur Linken, weiter.

Er näherte sich dem Steinkar, das dem Neuen Steinschlag vorgelagert war, und kam an Mispeln vorbei zu Schlehen und wilden Apfelbäumen. Zahlreiche geschundene Bäume, geknicktes Jungholz und herumliegende, frisch niedergegangene Gesteinsbrocken zeigten ihm, daß er im Bereich des letzten Steinschlags war. Er hatte also nicht geträumt! Vorsichtig trat er aus dem Schatten des Waldrandes, fachte erst ein helles Schutzfeuer an und begann die Halde abzusuchen. Zwar fand er kein Steinwild, hingegen einen Alpenhasen im braunroten Sommerkleid. Beinahe hätte er den Hasen in den gleichfarbigen Bruchstücken des Gesteins übersehen, wenn ihm nicht die weißen Augenringe und die schwarzgeränderten Löffel sowie der blendend weiße Bauch aufgefallen wären.

Peter fand noch zwei Murmeltiere, halb begraben unter Steintrümmern. Das eine war bereits von Füchsen benagt; sie mußten noch vor kurzem dagewesen sein und hatten wahrscheinlich vor dem verdächtigen Rauchgeruch das Feld geräumt.

Beim Bloßlegen der Murmeltiere fand Peter grüne, weißgeäderte, fettig glänzende Steine – Serpentine –, die zu Werkzeugen taugen mochten. Er steckte sie in seine Gürteltaschen. Beim Weitergraben fiel ihm auf, daß andere harte Steintrümmer deutlich geschichtet waren. Sie bestanden aus winzigen runden Kieselhörnchen und Glimmerplättchen. Es waren Sandsteine, die von hoch oben herabgekollert sein mochten. Im Heimlichen Grund hatte er derlei sonst nicht gefunden. Einige davon steckte er in seinen Korb quer über die Kastanien. Sie mochten als Schleifsteine besser dienen als die Granitbrocken. Die beiden Murmeltiere und den Hasen band er an den Hinterbeinen zusammen und hängte sie über die linke Schulter.

Am Ufer des Moorbachs balgte er die Tiere ab, warf das schon etwas riechende Fleisch ins Wasser und freute sich am Gewimmel der Fische, die sich daran gütlich taten. Dann wanderte er langsam im Bachbett abwärts.

In der leise bewegten Luft schwebten die weißen Spinnweben des Altweibersommers und einzelne Samenflocken von Disteln, Bocksbart und Löwenzahn. Hummeln und Bienen suchten die letzten Gipfelblüten des Himmelbrandes und der Wegwarten nach Nahrung ab. Hier und da flatterte ein müder Falter träge auf, von dessen zerfransten Flügeln der Farbenschmelz abgerieben war. Es herbstelte.

Eva empfing ihn sehr vergnügt. Nicht nur, daß sie sich über die vier neuen Felle, über die Nüsse und gebratenen Kastanien freute, auch sie hatte etwas zu zeigen. Ihr war es gelungen, das Wildkatzenfell sauber und geschmeidig zu machen. Zuerst hatte sie seine Innenseite mit Talgresten eingerieben. Das sei eine arge Schmiererei gewesen, erzählte sie, sie habe es aber mit Aschenlauge und Lehm wieder gesäubert und entdeckt, daß der Brei aus Fett, Lehm und Aschenlauge nicht nur den Katzenbalg, sondern auch ihre Hände von jedem Schmutz gereinigt hatte. Wohlgefällig drehte sie vor Peters Augen ihre Hände hin und her. Und noch etwas anderes freute sie: Die Steinbockshörner hatten durch die Holzkohle ihren üblen Geruch ganz verloren; eines davon sollte nun als Trinkgefäß, das andere als Salzbehälter im Wohnraum bleiben. Es war ihr auch geglückt, das trocken gewordene Katzenfell geschmeidig zu machen, indem sie es über die Kante ihres Sitzstrunkes gezogen hatte. Von nun an sollte jedes Fell gewalkt werden.

Im ruhigen Wasserspiegel des Wasserkorbes hatte sie gesehen, wie abscheulich zerzaust sie aussah. Das Kämmen mit den Fingern war halt ein unzulänglicher Notbehelf. Da war sie auf den Einfall gekommen, statt der Finger etwas Dünneres zum Ordnen der Haare zu verwenden. Sie hatte harte Zweige geschält, die Stäbchen angebrannt, damit sie nicht zerspleißen konnten, und an einem Granit spitz zugeschliffen; dann hatte sie eines neben das andere mit kreuzweis gespannten Darmsaiten an ein Querholz gebunden. Stolz zeigte sie Peter das sauber gekämmte, vom Stirnband zusammengehaltene Haar, ließ ihn ihren neuen Kamm bewundern und begann, auch seine lang und wirr gewordenen Haare zu kämmen.

Peter hatte nichts dagegen. Als er sich gar die Hände nach Evas Beispiel mit dem von ihr erfundenen Gemisch gereinigt hatte, schmeckte ihm das Essen außerordentlich gut. Er kam sich wie ein besserer Mensch vor. Was war geschehen? Aus Aschenlauge, Fett und mit Sand vermischtem Lehm war eine brauchbare Seife geworden! Seife und Evas Kamm brachten die jungen Höhlenmenschen wieder zwei Schritte vorwärts auf dem Wege zu einem behaglichen Leben. Schön wollte sie’s haben, die Eva. Nach der argen Not, in der sie ihr Leben kümmerlich gefristet hatten, ohne sich sonderlich um ihr Äußeres zu kümmern, waren sie endlich so weit, daß es ihnen an nichts Notwendigem gebrach, so daß auch für das Schöne Sinn und Zeit blieb.

Herbsternte

Nun besaßen sie den Feuerkorb, in dem sie die Glut als schützenden Begleiter mit sich tragen konnten. Das gab den beiden ein solches Gefühl der Sicherheit, daß sie sich ohne Angst in die Gegend der Südwand wagten, um dort mit der Kastanienernte zu beginnen.

Für Eva war der erste Erntetag ein Freudenfest. Der Herbstwind schüttelte die Kastanien massenhaft aus den Kronen und trug den Qualm des Schutzfeuers in alle Richtungen, so daß ein dünner Rauchschleier weithin durch den Wald zog.

Peter ließ Eva allein sammeln und folgte den Spuren der Wildschweine, bis er ihrer am Eichenbestand unterhalb des Alten Steinschlags ansichtig wurde, wo sie eine große Schlafgrube, den Kessel, bezogen hatten. Er brachte den halben Tag damit zu, dem weiterziehenden Rudel nachzuspüren. Von der anfangs gehegten Absicht, mit Pfeil oder Speer einen Frischling zu erlegen, kam er ab, da er die Bache und nicht minder einen abseits vom Rudel wühlenden Keiler fürchtete. Er suchte nach etwas Wuchtigem, das sich schleudern ließe, um das junge Tier aus sicherer Entfernung durch einen einzigen Wurf zu töten. Endlich fand er einen armlangen Wipfelstummel mit einer mehr als faustgroßen Wucherung, eine natürliche Keule. Behutsam nahm er sie auf und schlich, von Baum zu Baum Deckung suchend, dem Schwarzwild nach. Erst als er sich dem Waldrand näherte, wo das Rauschen des Moorbachfalles das Knacken der Reiser unter seinen Füßen übertönte, wurde er kühner. Da merkte er, daß einer der Frischlinge hinter den anderen zurückgeblieben war und zwischen zwei toten, von hohen Farnen überwucherten Baumriesen im feuchten Grunde wühlte. Über den weichen Moderboden hin gelang es Peter, lautlos näherzuschleichen; dann duckte er sich unter die Farne und schlug den Frischling gerade in dem Augenblick mit seiner Keule zu Boden, als der Kleine sichernd den Kopf hob. Lautlos war das Jungtier zusammengebrochen. Mit klopfendem Herzen hob Peter es auf, blieb aber, die Keule in der Rechten, hocken, jeden Augenblick bereit, sich zur Wehr zu setzen. Nichts regte sich, nur das gleichmäßige Rauschen des Moorbachfalles war zu hören.

Vorsichtig erhob er sich und lugte aus. Ihm schien, als sei die Alte unruhig geworden und suche ihr Junges. Er schnellte empor und jagte mit seiner Beute zurück. Ohne umzuschauen, stürmte er weiter, über tote Bäume, durch Morast und Ried, der Stelle zu, woher der Wind ihm den Rauch entgegentrug. Atemlos langte er bei Eva an. Die Freude, mit der sie die Beute entgegennahm, schien ihm ein wenig lau. Als sie ihn bat, ihr einen Dorn aus der Fußsohle zu ziehen, begriff er, warum sie nicht zum Jubeln aufgelegt war. Obwohl er den nur leicht eingedrungenen Dorn entfernt hatte, konnte Eva vor Schmerzen kaum auftreten. Erst als er zerkaute Beinwellblätter auf die Wunde gelegt und den Fuß mit großen Huflattichblättern und grünen Rindenstreifen verbunden hatte, konnte sie humpelnd weitergehen. Und nun kehrte auch ihre gute Laune zurück. Wohlgefällig streichelte sie das noch weiche Borstenkleid des Frischlings, an dessen rötlicher und gelber Längsstreifung sie sich nicht sattsehen konnte. Dann zeigte sie stolz, was sie gesammelt hatte. Ihr und Peters Korb, beide waren beinahe voll brauner Kastanien, aber auch Bucheckern, Mispeln und einige Wildäpfel waren darunter. Neben den Körben lagen große Sträuße von Mehl- und Eisbeeren, zwei Büschel Steinquendel und Lauchzwiebeln, die Eva am Waldrande ausgegraben hatte.

Langsam legten sie mit ihren Lasten den Heimweg zurück. Durch den Wald wagten sie sich nicht. Sie mußten einen Umweg machen. Als sie aus dem Laubwald auf das Steinfeld hinaustraten, ging die Sonne gerade hinter der Henne unter, umgeben von rotgolden gesäumten Wolken, in deren Widerschein der Sonnstein leuchtete, während die Firne hoch über den Salzwänden in feierlichem Alpenglühen erstrahlten.

Glücklich saßen sie am Höhlenfeuer und atmeten den köstlichen Duft des bratenden Frischlings ein, der an einem grünen Stab von beiden abwechselnd über der Glut gedreht wurde. Und als das Fett herabtroff und im Feuer ungenützt verprasselte, beeilte sich Eva, eine der gereinigten, längst geruchlos gewordenen Rehschädelschalen darunter zu halten, in deren Nasenhöhle sie einen Stab gesteckt hatte. Dieser »Schöpflöffel« fing den Saft auf, der, mit Wasser versetzt, eine warme, schmackhafte Suppe ergab.

Am Rande des Feuers hüpften und knisterten die Kastanien; die Schmausenden malten sich aus, wie behaglich sie den Winter verbringen wollten: geschützt vor Kälte, mit reichen Vorräten an Kastanien, Rauchfleisch, Salz und Gewürz versehen. So mochte er denn kommen, der harte, lange Bergwinter!

Als am nächsten Morgen ein heftiger Herbststurm den Regen gegen die Außenwand ihrer Höhle peitschte, schliefen die Sorglosen lange in den Tag hinein. Eva war als erste wach. In ihrem verletzten Fuß brannte und klopfte es. Sie stand auf, nahm eine Handvoll Werg vom Bergflachs, tauchte ihn in das Wasser, das noch vom Vortag im Wasserkorb war, und begann den Fuß zu kühlen.

Peter, der endlich auch aufstand, holte einen Klumpen frisches Fichtenharz, bestrich damit Evas Wunde und verband sie mit Werg, das er auch noch mit Harz tränkte.

Vom Frischling, dessen Rest am Gestänge des Trockenbodens im Rauch hing, nahmen die Kinder weniger als am Vortag, aßen statt dessen reichlich Kastanien und versuchten auch einige Holzäpfel, die aber viel zu sauer waren. Gebraten ließen sie sich genießen. Eva, immer darauf bedacht, die Vorräte zu mehren und zu sichern, begann gleich, Apfelschnitze zu machen, die sie in der Nähe des Feuers auf Steinplatten zum Dörren auflegte. Peter nahm seine neue Keule vor, mit der er den Frischling erschlagen hatte, entrindete sie, verstärkte ihr dickes Ende durch eingetriebene Hartsteinsplitter, wirbelte sie um den Kopf und dachte dabei an einen Kampf mit Bären, vor denen ihm jetzt nicht mehr angst war.

Eva drängte Peter, auf einem Zeichenstein die Ereignisse des Tages festzuhalten. Geschmeichelt nahm er das neue Bild in Angriff. Eine geeignete Mergelplatte war bald gefunden. Er zeichnete zunächst den Frischling, wie er von der Keule getroffen wurde; daneben ritzte er stachelbesetzte Kreise für die Kastanien ein, dann einen übergroßen Dorn und daran das wenig gelungene Abbild von Evas Fuß. Über alles aber setzte er die Sonne, wie sie hinter der Henne unterging – und mitten in die Fläche einen einzelnen Strich.

Die eingeritzten Zeichen bedeuteten: »Im ersten Jahr unseres Daseins im Heimlichen Grund, zur Zeit, als die Kastanien reif waren und die Sonne gerade hinter der Henne unterging, habe ich mit der Keule ein Jungschwein erlegt, und Eva hat sich einen Dorn eingetreten.«

Während Peter die Striche noch mit Rötel verstärkte, begann Eva, sich eine schützende Fußbekleidung zurechtzumachen. Sie wollte sich nicht wieder einen Dorn eintreten.

Murmeltierbälge mochten das richtige sein. Eva schlitzte die Bauchseite auf, fettete die Felle innen tüchtig ein, walkte sie geschmeidig und verlängerte die Haut der Pfoten mit daran geknüpften Fellstreifen, so daß sie diese »Schuhe« kreuzweise über den Knöcheln befestigen konnte. Um die wunde Sohle nicht unmittelbar mit dem Fell in Berührung zu bringen, wollte sie Birkenrinde einlegen, Rinde von einem jungen Baum. Ihre Oberfläche ist glatt und zart wie Leder und nicht knorrig und rissig wie das Rindenkleid alter Bäume. Sie holte sich ein passendes Stück, ergriff einen Brocken Holzkohle, stellte erst den rechten Fuß auf die Rinde und fuhr mit der Kohle seine Umrisse nach. Mit dem linken machte sie es ebenso und schnitzelte mit einem Jaspissplitter die Rindensohlen nach der Zeichnung zurecht. Da sich die trockene Rinde immer wieder aufrollte, weichte sie sie ein und legte sie dann in ihre Schuhe, die sie gleich anzog und ungeachtet der Schmerzen, die ihr der Druck in der Wunde verursachte, an den Füßen festschnürte. Die klaffenden Maulöffnungen der Murmeltierfelle, aus denen ihre Zehen hervorguckten, verschnürte sie so gut es ging und war nicht wenig stolz auf ihre Leistung.

Als der Regen nachließ, zog Peter allein zur Ernte aus, für die ihm der Wind gut vorgearbeitet hatte: Der Waldboden war mit Früchten dicht besät.

Die reiche Ernte machte das Flechten neuer Vorratskörbe notwendig, und der Dörrboden in beiden Höhlen mußte verbreitert werden.

Eva fiel die Aufgabe zu, das Eingesammelte zu ordnen und so zu schichten, daß es möglichst wenig Platz einnahm. Brombeeren, Schlehen und die vom Liegen weich gewordenen Mispeln dörrte sie auf erhitzten Steinplatten.

Peter betrieb das Früchtesammeln nicht lange. Bald ging er wieder der Jagd nach. Auch von erlegten Kleintieren wurde das Fleisch eingesalzen, geräuchert oder getrocknet. Ebenso wurden die Bälge der Hörnchen und Vögel in den Rauch gehängt. Bald zeigte sich, daß eingesalzene und geräucherte Felle, sorgfältig gewalkt, den üblen Geruch und die Sprödigkeit verloren.

Jeder Tag machte die Kinder müde. Evas Fußwunde eiterte zwar, verheilte aber bald.

Sonntags wurde nicht gearbeitet. Wohlgewaschen und gekämmt, machten sie ihren Morgengang zum Grab der Ahnl. Hier berichteten sie der Toten von ihren Erlebnissen, ihren Arbeiten, ihren Sorgen, Freuden und Hoffnungen; hier beteten sie zum Allmächtigen, den die Verstorbene angerufen hatte und von dem sie so wenig wußten.

Den Rest des Tages verbrachten sie, durch den Heimlichen Grund schlendernd, in eifrigem Gespräch über die Arbeiten, die in der nächsten Woche getan werden sollten.

Viele Mühe machte ihnen das Feuer, das nicht ausgehen durfte. Wenn sie auch zeitweise nur Moder auflegten und es auf diese Weise erhielten, so brauchte es doch Holz, und es war für Peter nicht leicht, genügend herbeizuschaffen. Er kannte von früher her, als die Ahnl noch lebte, die Schrecknisse eines Gebirgswinters. An den Geierhängen waren oft wochenlang die Schneemassen so hoch um die Hütte angeweht gewesen, daß keine Möglichkeit bestanden hatte, vom tiefliegenden Wald Brennholz zu holen. Darum war die Ahnl immer darauf bedacht gewesen, große Holzvorräte für den Winter um die Hütte her anzuhäufen. Diese Erfahrungen trieben Peter, rastlos Holz einzuschleppen und vor der Höhle aufzustapeln.

Die Tage wurden merklich kürzer, und die Notwendigkeit, die Arbeitszeit um einige Stunden zu verlängern, zwang die Kinder, darüber nachzudenken, wie sie die unstete Beleuchtung, die das flackernde Feuer gab, verbessern könnten. Bald kamen sie darauf, Föhrenzweige in Ritzen der Höhlenwände zu klemmen. Weil aber gespaltene Zweige mehr Licht gaben als runde, wurden fortan nur gespaltene verwendet.

Nicht immer lebten die beiden in Frieden. Obwohl Peter wiederholt erfahren hatte, daß Eva in manchen Dingen nicht minder findig war als er, hatte er sich ein herrisches Wesen angewöhnt, das sie oft verletzte. Wenn sie etwas, das er ihr auftrug, nicht gleich oder nicht so geschickt ausführte, wie er es haben wollte, fuhr er sie ungeduldig an. Daß sie jünger und schwächer war als er, darauf nahm er keine Rücksicht.

Es kamen neblige Tage mit Regenschauern, und Eva wurde von einem Schnupfen befallen. Zum Schneuzen hatte sie nichts als Moos und Werg. Sie war nicht in bester Stimmung. Peters Grobheit und sein allzu großes Selbstbewußtsein verletzten sie mehr denn je. Sie wehrte sich auf ihre Art, wurde scheu und abweisend, und plötzlich stand zwischen ihr und ihm eine unsichtbare Schranke.

Werkfreuden

Den Hirschschädel, mit dessen verwittertem Geweih sich nicht viel anfangen ließ, und den Bärenschädel befestigte Peter über dem Höhleneingang neben dem Geierbalg und dem Schädel des Steinbocks, das übrige tat er einstweilen ins Allerlei.

Die neuen Entdeckungen erfüllten ihn mit Unrast. Was mochte der Heimliche Grund noch bergen an Schätzen und Geheimnisvollem? Das mußte Peter zuerst ergründen, alles andere konnte warten. Ein Dauerregen zwang ihn aber, daheim zu bleiben, und so machte er sich daran, sein Jagd- und Arbeitsgerät zu vervollständigen. Eva flocht für die bevorstehende Herbsternte Trag- und Vorratskörbe. Draußen rauschte der Regen nieder, die jungen Höhlensiedler aber taten stillvergnügt ihre Arbeit. Peter pfiff unbewußt vor sich hin und zerschlug eifrig die spröden Röhrenknochen, aus deren Bruchstücken Knochendolche, Schaber, Nadeln und Pfeilspitzen entstehen sollten.

Sein großer Vorrat an Hartsteinsplittern und starken Schilfhalmen reizte ihn, Pfeile anzufertigen, von denen er nicht genug haben konnte. Die harten, wuchtigen Spitzen schäftete er mit Wachs, Harz und Darmsaiten sorgfältig ein. Ein Jaspissplitter mit langer, pfriemenförmiger Spitze verlockte ihn zu Bohrversuchen. Zwar splitterte der Jaspis an den Rändern ab, es blieb aber doch so viel vom festen Kern in der Spitze, daß sie als Bohrer dienen konnte. In seiner Freude an diesem Erfolg durchlochte Peter das breitere Ende eines Knochendolches sowie zwei Bärenrippen und zog Darmsaiten durch, um die neuen Stech- und Grabgeräte leicht am Gürtel oder auch am Handgelenk tragen zu können. Aus schmalen Knochensplittern schliff und bohrte er Nadeln für Eva.

Unter allen Gegenständen seines Allerleis reizten ihn die beiden Bärenkieferhälften mit ihren wuchtigen Eckzähnen am meisten. Daraus mußte sich doch etwas machen lassen !

Seine Versuche, eine Kieferhälfte als gestielte Axt zu verwenden, fielen kläglich aus. Erst flog der Zahn aus seiner natürlichen Grube, und dann zersplitterte er, weil er vom langen Liegen spröde geworden war.

Trotzdem war jede dieser beiden Kieferhälften eine natürlich gewachsene Axt und geeignet, mit dem harten, spitzen, scharfrandigen Eckzahn in Haut und Fleisch und Knochen einzudringen. Man brauchte nur den hinteren Kieferrand abzuschlagen, um sie handlich zu machen.

Was nun? Mußte es denn gerade ein Zahn sein? Konnte nicht ein Hartstein seine Stelle einnehmen?

Gewiß! Peter schlug mit vieler Mühe einen Jaspissplitter zurecht, verkeilte ihn in der Zahngrube und meinte, damit das Steinbeil geschäftet zu haben.

Vergnügt über die neue Erfindung, begab er sich trotz des Regens in den Wald, um das neue Werkzeug zu erproben: Einen besseren Steigbaum wollte er fällen. Bald hatte er eine geeignete junge Fichte gefunden und machte sich an die Arbeit, aber die Axt bewährte sich nicht. Ihr Stiel war zu kurz, die Wucht des Schlages zu gering, der Stein griff nicht tief ins Holz. Die Erfindung war ein Fehlschlag. Zur Holzbearbeitung taugte das neue Werkzeug nicht, nur zum Wurzelgraben.

So griff Peter denn zum Granitsplitter, um den Stamm anzusägen. Aber die Kante des Granits bröckelte ab, sie wurde stumpf. Da blieben dem Enttäuschten nur seine alte Steinsäge und der Fauststein, um den Stamm anzukerben.

Freilich hätte dieser noch mehr Wucht bekommen, wenn auch er am Ende eines längeren Stiels eingeschäftet gewesen wäre. Wie schade, daß das Hirschgeweih auf einer Seite zu mürb und im ganzen spröde war! Eine frische, unverwitterte Geweihstange wäre zum Schäften eines Steinkeils brauchbar gewesen. Während Peter überlegte und nachdachte, vertiefte sich unter seinem Fäustel die Kerbe im Baum, und dieser neigte sich endlich. Peter sprang zur Seite. Krachend fiel die Fichte und drückte im Fallen allerlei Jungholz nieder, das im Wege war. Da gewahrte er in der Krone eines nahen Baumes eine Holztaube, die, aufgescheucht vom Krachen der stürzenden Jungfichte, sich zum Abfliegen anschickte. Sein Pfeil holte sie herunter. Erfreut machte sich Peter daran, die Astquirle der Fichte derart zu stutzen, daß die nach links und rechts gerichteten Aststummel als Steigsprossen dienen konnten. Was nach oben und unten strebte, mußte entfernt werden. Das war eine langwierige Arbeit, denn Peter mußte jeden einzelnen Ast erst ankerben und dann abbrechen. Endlich war auch das getan; er schleppte den neuen Steigbaum heim, lehnte ihn neben den alten an die Felswand, stieg hinauf und begehrte stürmisch etwas zu essen. Eva machte sich eilig an die Zubereitung der Taube.

Staunend sah Peter zu, wie sie das von den Knochen geschabte Fleisch auf einer Steinplatte weichklopfte.

Was für einen sonderbaren Schlegel hatte sie sich da zurechtgemacht? Das war ja ein Bärenwirbel, durch dessen Markloch sie einen Knüttel gesteckt hatte!

Und wie geschickt sie das Ding handhabte! Als das Fleisch weichgeklopft und mit Salz, Bärenlauch und Gundelkraut gewürzt war, begann Peter wortlos zu essen.

Kaum hatte er den ärgsten Hunger gestillt, da holte er sich den sonderbaren Fleischklopfer und betrachtete ihn ganz genau. Fest steckte der Schaft in dem Markloch; auf einer Seite gab der Wirbelkörper einen Hammer ab, während auf der anderen der Dornfortsatz sich wie eine schmale Axt ausnahm.

Als Axt war das Ding nicht brauchbar, höchstens als Haue zum Wurzelgraben. Eines aber wurde Peter klar, während er Evas Klopfer betrachtete: Zum Schäften eines Steinbeils brauchte man nicht unbedingt einen Kieferknochen oder eine Geweihstange, um den Stein darin zu befestigen, ein Ast konnte den gleichen Dienst tun. Da er keinen durchlochten Stein hatte, konnte er nicht Holz in Stein, wohl aber Stein in Holz schäften. Noch kauend machte er sich daran, einen Holzstab zu spalten; es kostete ihn viel Mühe und nicht weniger als zwei Steinmesser. Dann klemmte er einen schmalen Steinkeil in den Spalt und band ihn sorgfältig fest. Recht brauchbar sah sie aus, die neue Axt. Aber o weh! Beim Hacken zerschnitten die Kanten des Steins nur zu bald das Gedärm der Bindung. Nun galt es, die Kanten abzudrücken, die Bindung zu erneuern und mit dem Gemenge aus Wachs und Harz zu verkitten, zu festigen. Auch das half nichts; sobald Peter die Axt gebrauchte, lockerte sich die Bindung, und der Kitt aus Hartwachs zerbröckelte. An die Möglichkeit, einen Hartstein zu durchlochen, war gar nicht zu denken. So war die Frage, wie eine Axt dauerhaft geschäftet werden konnte, für Peters erfinderischen Geist eine Aufgabe geworden, die ihn lange beschäftigen sollte.

Es gelang ihm, vier verschiedene Beilformen herzustellen; mit keiner war er ganz zufrieden. Bei der einen Axt war der Steinkeil in einer Astgabel festgebunden; bei der anderen steckte ein spitzer Steinkeil im erweiterten Loch eines Astknorrens; bei der dritten wurde ein großer flacher Steinsplitter wohlverkeilt und gebunden zwischen zwei niedergezwungenen Zweigen eines Fichtenquirls gehalten, und bei der vierten endlich war er an einem hakenförmig abstehenden Aststummel festgebunden. Aber bei jedem dieser Beile lockerte sich die Bindung, wenn Peter damit arbeiten wollte. Noch war das reichlich aufgewickelte Gedärm der Bindung feucht, es mußte erst trocknen und sich ganz zusammenziehen. Damit rechnete Peter und beschloß, dies erst einmal abzuwarten und es dann durch eine Harzschicht vor dem Feuchtwerden zu schützen. Ja, so mußte es gehen…

Die beste Lösung der Frage war für Peter undurchführbar. Noch wußte er nicht, wie er einen Stein durchlochen sollte. Wohl hatte er versucht, mit einem spitzen Hartstein seinen Faustkeil anzubohren, aber das ging viel zu langsam. Seine Hand erlahmte vor Anstrengung, und er hatte nicht mehr als Kratzer erbohrt. Entmutigt gab er diese Versuche auf.

Eva, die beim Graben mit ihrem Fleischklopfer gemerkt hatte, daß der schmale Wirbelfortsatz das Wegscharren der Erde mit der Hand nicht ersparte, versuchte einen harten Röhrenknochensplitter so zu schäften, daß seine Schneide quer zum Stiel stand. Peter machte ihr die Haue fertig, in der er nur eine Nachahmung seiner Erfindung sah. Und doch war da etwas Neues: Die quergestellte Schneide ersetzte die scharrende Hand!

Feuer

Neblige Morgen und sonnige Tage. Eine Überfülle von Beerenobst und Pilzen hielt Eva in Atem. Das Sammeln, Eintragen und Aufbewahren war so recht nach ihrem Sinn.

Peter, von seinen eigenen Aufgaben in Anspruch genommen, duldete es, daß sie auch ohne ihn der Ernte nachging, während er den Spuren der Rehe und Wildziegen folgte. Felle mußte er bekommen, denn der Herbst konnte schon böse Kälte bringen. Was der junge Höhlenmensch an Eichhörnchen- und Vogelbälgen erbeutete, genügte ja noch lange nicht, ihn und Eva vor der Winterkälte zu schützen.

Noch war es ihm nicht gelungen, am Köderplatz jene »Katze« zu ertappen, von der Eva so viel Aufhebens gemacht hatte. Er glaubte nicht an das Vorhandensein von wilden Katzen im Heimlichen Grund.

Um so größer war sein Erstaunen, als er eines Spätnachmittags im Halbdunkel des Waldes unweit des Sonnsteins auf dem untersten Ast einer alten Fichte zwei grünleuchtende Punkte gewahrte und erkannte, daß sie einem dämmerungsfarbigen Tier gehörten, das lauernd auf dem Ast hingeschmiegt lag. Es konnte doch nur eine Katze sein. Ihr gekrümmter Rücken und der buschige Schwanz hoben sich deutlich vom Himmel ab, dessen Wolken von der sinkenden Sonne gelbrot durchleuchtet waren. So unheimlich, so feindselig schaute das Tier zu ihm herab, als rüste es sich zum Sprung. Peter legte einen Pfeil auf den Bogen.

Der Pfeil schwirrte ab; mit einem hohen Kreischen, das in markerschütterndes Miauen und dann in tiefe, rollende Kehltöne überging, sprang das Tier auf und stürzte zu Boden. Hier wälzte es sich zuckend vor Schmerz und bemühte sich vergebens, mit den Vorderpfoten den Pfeil aus der Wunde zu ziehen.

Näher trat der Jäger, da sprang das verwundete Raubtier auf ihn zu, sprang aber, vom Pfeil in seinem Hals behindert, zu kurz und empfing im nächsten Augenblick den erlösenden Schlag mit der Steinaxt; sonst hätte Peter seine Unvorsichtigkeit zu bereuen gehabt. Wahrhaftig, Eva hatte richtig gesehen: Eine Katze, eine Wildkatze war es!

Die Dämmerung nahm zu, Peter wollte nicht durch den Urwald nach Hause gehen, sondern lief über das Steinfeld dem Sonnstein zu. Als er mit seiner Beute ins Jungholz am Felsen trat, fiel es dem Erregten nicht auf, daß tiefgehende Wolkenmassen über den Grund hinfegten.

Unten war es schwül. Nur ein matter Windhauch von der Klamm her spielte mit dem Laub der Haseln, durch deren Gezweig Peter hinüberspähte zum Fels. Von der Insel unterhalb der alten Fichte schimmerte etwas Rötliches herüber. Jetzt bewegte sich’s. Eine Rehgeiß äste dort; er kannte sie wohl. Der Wind kam aus ihrer Richtung, sie witterte nichts von der Nähe des Menschen.

Wenn er heute noch ein zweites Fell erbeuten könnte! Peter zitterte vor Jagdbegierde, ein Frösteln überlief seinen schweißbedeckten Leib. Noch stand er zu weit entfernt für einen wirksamen Pfeilschuß. Näherschleichen wollte er sich. Die Rehgeiß streckte den Kopf vor und ließ einen gequetschten Pfiff vernehmen: »Pii-pii, pie!« Da geschah etwas, das Peters Aufregung noch steigerte: Ein tiefes Bellen erschallte. Aus dem Gebüsch trat ein Rehbock, nur ein Gabler, aber kräftig gebaut; er stieß, bei der Ricke angekommen, sein »Bäö, bäö, bö!« aus. Unmittelbar darauf dröhnten von der Grableiten her die gleichen Laute, aber heftiger: Durch das knackende Gestrüpp kam ein zweiter Bock über den Bach herübergestürmt. Die reich beperlten dreizinkigen Geweihstangen gesenkt, stürzte er sich auf den Gabler. Der wich dem Stoß aus und suchte die Flanke des Angreifers zu gewinnen. Blitzschnell fuhr dieser herum, und im nächsten Augenblick schlugen die Gehörne der Nebenbuhler hart gegeneinander.

Peter wagte es nicht, einen Pfeil abzuschießen oder den Speer zu schleudern. Die Behendigkeit der Wendungen, die Wucht der Zusammenstöße ließen den Beobachter fast atemlos zuschauen. Plötzlich fuhr Peter geblendet zurück. Wie eine Feuerschlange glitt ein Blitz am Stamm der Wetterfichte nieder und peitschte das Wasser des Baches zu einer leuchtenden Sprühkugel auf. Fast gleichzeitig erfolgte ein schmetternder Schlag, der Boden erbebte, und ein Windstoß warf Peter rücklings ins Gras.

Da lag er und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Ihm war, als hätte er einen Hieb auf den Schädel erhalten, im Hinterkopf spürte er einen dumpfen Druck.

Mußte er jetzt sterben? Er befühlte seinen Kopf. Beruhigt versuchte er aufzustehen; es gelang ihm, auf die Knie zu kommen; seine Oberschenkel zitterten.

Vor seinen Augen war noch immer grelles Licht. Das konnte doch der Blitz nicht mehr sein?

Mit einem Ruck sprang Peter auf. Sein Blick fiel auf die Wetterfichte, die zersplittert und als lodernde Fackel zum Himmel ragte. Quer über den Bach lag ihre obere, vom Blitz abgeschlagene Hälfte. Lichterloh brannten die dürren Äste der abgestorbenen Seite, qualmend und puffend das grüne Gezweige der anderen.

Die beiden Rehböcke auf dem Rasen waren tot. Peter tat zaghaft einen Schritt vorwärts.

Vom prasselnden Feuer ging eine wohltuende Wärme aus. Peter trat mit weit ausgebreiteten Armen näher und zuckte zurück: Glühendheißer Wind nahm ihm fast den Atem. Rauch und fliegende Aschenteilchen beizten ihm die Augen. Er umging den Brandherd an der rechten Seite und zerrte die gefallenen Tiere aus dem Bereich der Glut.

Ihre noch unversehrten Felle waren die ersehnten Winterkleider!

Oh, wenn sie doch in den Höhlen daheim auch ein wärmendes Feuer hätten!

Halb unbewußt brach Peter einen angebrannten Ast ab und lief, den Feuerbrand über dem Kopfe wirbelnd, auf dem Erntepfad bachaufwärts den Höhlen zu.

Er stürmte dahin; über ihm jagten die Gewitterwolken. Nur jetzt keinen Regen! Er wollte es doch heimbringen, das wohltuende Feuer, nähren wollte er es in der Höhle, daß es fortbrenne ohne Unterlaß. Doch sonderbar! Blitze zuckten von einer Wolke zur anderen, der Donner rollte ohne Unterlaß, aber kein Tropfen Regen fiel.

Und Peter begann zu hoffen. Vielleicht, daß der obere Wind die Wolken davontrieb, wie schon oft … Es wurde ihm zu langwierig, auf dem schmalen Erntepfad durchs Gesträuch zu kriechen, dessen Zweige ihm von beiden Seiten ins Gesicht schlugen.

Er verließ den Pfad und begab sich ins Bachbett, watete durch das Wasser und freute sich über den rotflimmernden Widerschein seiner Fackel auf den unruhigen Wellen. Seine Füße schmerzten vom Gehen auf klobigem Geröll.

Juchzend betrat er das Ufer und entdeckte Eva, die im Rahmen der sanft geröteten Felsen aus ihrer Höhle sah.

In wenigen Augenblicken hatte er den neuen Steigbaum erklettert und stand in der unteren Höhle. Rasch zerbrach er den schwelenden Ast, riß aus seinem Lager trockenes Gras und Reisig, kauerte nieder und blies in die Glut, wie es die Ahnl beim Feuermachen getan hatte. Flackernde Flammenzungen entstiegen den knisternden Reisern, blauer Rauch kräuselte empor. Die Höhlenkinder knieten vor dem Feuer, sie haschten nach den Flammen und sahen mit Entzücken die Lichter und ihre eigenen Schatten über Wände und Decke des Höhlenraumes huschen. Jetzt erst merkten sie, daß die Höhle größer war, als sie geahnt hatten. Im Hintergrund, wo sie die Decke geschlossen wähnten, gähnte ein schwarzes Loch, und weiter rechts vor der schrägen Rinne, die sich zum Quellsee senkte, führte schmal und hoch ein anderer Gang ins Freie.

Jetzt fiel Peter die Wildkatze wieder ein, die er am Sonnstein gelassen hatte. Prahlend schilderte er, wie er das furchtbare Tier erlegt hatte. »Das Fell kriegst du, Eva. Das gibt einen warmen Brustlatz für den Winter.«

Hastig erzählte er auch von den Rehböcken. »Die hol‘ ich gleich.« Zuvor zertrümmerte er noch den alten, halbmorschen Steigbaum. Eva legte einige Scheite auf das zusammengesunkene Reisigfeuer, und dann eilten sie zum Sonnstein.

Sorglos gingen sie durch die Dämmerung – sie hatten ja das Feuer, das ihnen den Weg erhellte. Vom beizenden Rauch vertrieben, verließen Fledermäuse ihre Schlupfwinkel und flohen aus den Wohnungen der Höhlenmenschen, in die das leuchtende Feuer eingezogen war.

Der Urschlitten

Im unruhig zuckenden Licht der Astfackeln näherten sich die Höhlenkinder der Insel. Dichte Rauchschwaden quollen ihnen entgegen: Der Riesenbaum war niedergebrannt. Mannshoch ragte sein schwarzer Strunk, der Quere nach vielfach geborsten, von einer dünnen Aschenschicht überzogen. Über seine dunkle Oberfläche huschten glimmende Lichtstreifen, leuchteten auf und verlöschten. Die toten Rehböcke waren unversehrt. In der Luft lag ein eigentümlicher, halb widerlicher, halb lockender Geruch.

Eva hatte die Wildkatze gefunden und kauerte sich damit zu den toten Rehen. Liebkosend streichelte sie das Fell und die schönen Köpfe der Tiere. Peter stöberte im Gesträuch herum und suchte nach der Ursache des sonderbaren Geruchs.

Am Bachrand, unter versengten Brombeerranken, fand er die Rehgeiß. Ihr vom Brand entstellter Kopf lehnte am heißen Felsen, der dünne Hals war von einem Schorf angebrannter Haare bedeckt. Vom versengten Fell ihrer Vorderläufe und der Brust stieg der widerlich brenzliche Geruch auf. Peter löste mit seinem Steinmesser ein Vorderbein samt der Schulter aus. Hei, wie das gebratene Fleisch duftete!

Er versuchte davon. Nicht schlecht, aber fad! Einer seiner Gürteltaschen entnahm er ein wenig Salz, streute es auf das Fleisch und kostete wieder. Jetzt war es richtig! »Eva, es schmeckt!« Schmausend und schmatzend saßen sie beisammen, den Rücken gegen den durchwärmten Fels gelehnt, Köcher und Bogen neben sich.

Peter ruhte nicht lange. Er dachte ans Heimschaffen der vierfachen Beute. Schon wurde aus Abend Nacht. Er suchte einen großen gegabelten Ast, legte die beiden Böcke und die Ricke darauf, schnürte das Ganze mit Waldrebenranken fest und hatte so einen einfachen Schlitten gebastelt, auf dem sich die Last heimziehen ließ.

Peters Versuch, die drei Tiere auf einmal fortzuschaffen, zeigte ihm, daß er seine Kraft überschätzt hatte, er versuchte es mit nur zweien; aber auch das war zu schwer.

Plötzlich hörte er durchdringende Schreie – Schreie, aus denen Entsetzen, tödlicher Schreck, ein Flehen um Hilfe gellten. Ihn überlief es kalt. Er suchte nach seinen Waffen. Den Bogen fand er sofort, wo aber waren die Pfeile?

Da kam Eva herangestürmt und warf sich schluchzend am Feuer nieder.

»Eva, was gibt’s ? Gib Antwort!«

»Ein schwarzer Mann, da draußen!« Sie deutete in die Heide hinaus.

Peter schirmte seine Augen vor dem Feuerschein ab und starrte angestrengt in die Dunkelheit hinaus. Lange vergeblich. Endlich gewahrte er die Umrisse einer klobigen Gestalt. Sie richtete sich spähend auf, duckte sich, bewegte sich zwischen grellbeleuchteten Blütenständen des Himmelbrands vorwärts.

Jetzt stand sie im vollen Lichte der Flamme. Ein Bär, die schmale Schnauze witternd vorgestreckt, die schweren Tatzen gesenkt, unschlüssig, ob er weiter vordringen solle. Und hinter ihm tauchte ein zweiter auf.

Peter suchte fieberhaft seinen Speer. Da entdeckte er die Pfeile. Sie lagen am Boden verstreut. Und einer von ihnen hatte Feuer gefangen. Das Harz seiner Spitzenbindung schmolz, rann am Schilfrohr entlang, begann zu brennen. Den legte er auf die Sehne, gerade den!

Er zielte nach der Brust des vorderen Bären, und im nächsten Augenblick schwirrte der Pfeil dem Feinde entgegen.

Angefacht von der raschen Bewegung durch die Luft, flammte der Stab lichterloh, als er sich im dichten Pelz des Bären verfing. Das verwundete und geblendete Raubtier brüllte auf und wandte sich zur Flucht, den lodernden Pfeil im Pelz, gefolgt von seinem Gefährten.

Peter aber ergriff eine Handvoll brennender Reiser und stürmte ihnen brüllend nach. Johlend kam auch Eva hinter ihm gelaufen. Auch sie schwang brennende Zweige, daß die Funken stoben und schrie, was die Kehle hergab.

Die großen, zottigen Riesen flohen in überstürzter Hast vor den beiden, in deren Händen die Feuerbrände loderten. Mit einem Lachen, in dem noch die überstandene Angst zitterte, nahm Peter Eva bei der Hand und führte sie zum Sonnstein zurück. Sie leuchtete ihm zur Arbeit; am nahen Waldrand schlug er harzige Zweige von den Föhren. Prasselnd, fauchend und qualmend nahm das Feuer die grünen Reiser auf. Die Kinder legten noch Knüttel, Rindenstücke und Laub zu. Dicker, gelblicher Rauch wälzte sich im Windhauch über das Steinfeld.

Dann machten sie sich auf den Heimweg. Eva trug die Wildkatze. Sie ging mit einem brennenden Kiefernast auf dem Erntepfad voran, und hinter ihr schleifte Peter den stärkeren Rehbock auf dem urtümlichen Schlitten. Keiner sprach.

Rechts von ihnen zog der murmelnde Bach; zur Linken dehnte sich der Wald, dessen flechtenbehangene Baumriesen im Widerschein der Fackel leuchteten und sich von der tiefschwarzen Finsternis des Waldgrundes gespenstisch abhoben. Noch zweimal machten sie den Weg, bis alle drei Stücke des Rehwildes geborgen waren. Beim letzten Gang ereilte sie der Gewitterregen. Er löschte die Flamme am Kiefernast in Evas Händen; im Finstern mußten sie heimtappen zur Höhle. Dort aber begrüßte sie das helleuchtende Feuer, das mit seinem heißen Hauch den Raum durchwärmte. Das leuchtende, wärmende Feuer hatte den Höhlensiedlern die Nacht zum Tage gewandelt.

Eva holte vom Trockenboden eine Handvoll getrockneter Beeren und machte dabei eine traurige Entdeckung: Viele Beeren und die meisten Pilzschnitten waren verschimmelt. Sie räumte das verdorbene Zeug fort. Erst als ihre Augen vom beißenden Rauch tränten und sie dem Schlaf nicht mehr widerstehen konnte, suchte sie ihr Lager auf.

Peter aber plagte sich noch weiter. Er wurde mit dem Abhäuten der Beutetiere nicht fertig. Trotz der Müdigkeit, die schließlich auch ihn bezwang, vergaß er nicht, das Feuer zu nähren. Er legte noch den Strunk des alten Steigbaums in die Glut. Das Feuer durfte nicht ausgehen, unter keinen Umständen durfte es ausgehen! Vorsorglich zog er noch den neuen Steigbaum herauf und lehnte ihn in die Luke, die aus der Höhle hinaufführte zu einem noch unbekannten oberen Raum.

Draußen begann der Tag zu grauen. Taumelnd vor Müdigkeit streckte sich Peter auf sein Laublager, das Gesicht der Wand zugekehrt, um den Qualm nicht einatmen zu müssen, der die Höhle erfüllte.

Eva und Peter

Die dreijährige, flachsblonde Eva wäre der Liebling der Windisch-Garstener gewesen. Aber sie lebte als Waise bei ihrer Großmutter, der alten Stoderin, die der Hexerei verdächtig war. Das war schlimm für die alte Frau und für ihre Enkelin, die Eva.

Die Stoderin, Witwe des einst weit und breit bekannten Wundarztes Eusebius Theophil Stoder, sammelte Würz- und Heilkräuter an den Hängen des Toten- und des Sengsen-Gebirges. Sie tat ihr Bestes, um Mensch und Tier von Gebrechen zu heilen. Daß sie die Wirkung der Heilpflanzen durch uralte heidnische Sprüche erhöhen wollte, bestärkte die Menschen in der Meinung, sie sei eine Zauberin. Und doch waren es nur uralte Segensworte aus verschollener Zeit, mit denen die Stoderin zum Beispiel den verrenkten Fuß eines Pferdes »besprach«, bevor sie einen kühlenden Umschlag aus zerdrückten Huflattichblättern darumband. Wo ein Kranker starkes Vertrauen hatte zur erfahrenen Witwe des Arztes, trat oft Besserung ein.

Als im Frühsommer 1683 ein Hagelwetter die Fluren von Windisch-Garsten verwüstete, wurde die Stoderin, die das Unwetter in den Wäldern draußen erlebt hatte, angeklagt, sie habe das böse Wetter gemacht. Nur durch eilige Flucht gelang es der alten Frau, einem Hexenprozeß zu entgehen, der sie auf den Scheiterhaufen gebracht hätte. Jeder, der ihr geholfen hätte, wäre selbst der Hexerei verdächtig geworden.

Wie ein gehetztes Wild im Dickicht Bergung sucht, so wanderte die alte Frau im Schutz der Gebirgswälder südwärts, um bei ihrem Bruder Hans Zuflucht zu suchen. Der hauste als Köhler und Pechsieder in der menschenfernen Einöde der Geiergräben, wenn er nicht gerade irgendwo am Eisack eine Rindenhütte bezogen hatte und seinen Kohlenmeiler betreute.

Fünf Wochen lang zog sie mit ihrer Enkelin Eva auf dem Rücken dahin. Sie nährte sich und die Kleine von rohen Pilzen, Wurzeln und Beeren. Endlich gelangte sie in die Geiergräben, von wo aus sie ins Gelände aufstieg. Vom Bruder wurde sie gern aufgenommen. Sie war ja erst einundsechzig, zehn Jahre jünger als er, und so durfte er von ihr und dem Mädchen Eva Pflege im Alter erhoffen.

Der Stoderin, die von ihrem Manne her wußte, wie Arzneipflanzen anzuwenden waren, gelang es meist, Tiere und Menschen von Krankheit zu heilen. Sie tat es um Gotteslohn und verlangte nie etwas; da sie aber arm war, nahm sie gern, was ihr die Leute aus Dankbarkeit gaben. Im Tauschhandel brachte sie ihre Büschel wilden Kümmel, Fenchel, Bitterklee, Quendelkraut, Schafgarbe und andere Gewürz- und Arzneipflanzen leicht an. Von ihren weiten Streifzügen zu Bergbauern und Hirten kehrte sie erschöpft heim, beladen mit Feldfrüchten, mit Brot, Mehl, Hühnerfutter, süßen Kastanien, Käse, Butter, geräuchertem Fleisch und Speck, manchmal sogar mit einem Stück grober Leinwand oder hausgewebten Wollzeugs.

In der verräucherten Köhlerhütte war es behaglich, obwohl ihre Bewohner hart arbeiten mußten. Alles, was sie brauchten, mußten sie auf dem Rücken eintragen, denn die Pfade und Steige vom Tal herauf waren nicht einmal für einen Schiebkarren befahrbar. Bald nach der Ankunft der Stoderin belebten einige Ziegen und Schafe, eine graue Hauskatze und ein halbes Dutzend Hühner die kleine Wirtschaft.

Eva gedieh in der Einsamkeit der Bergwelt; nur still war sie und viel zu ernst. Auch die Ahnl, die Großmutter, war wenig gesprächig, und den Großonkel, den Eva nicht ganz zutreffend Ähnl, Großvater, nannte und trotz seines langen, struppigen Graubarts und verwitterten Aussehens liebgewann, sah die Kleine nur selten.

Von den Kindern der entlegenen Gehöfte abgeschnitten, war Eva in ihren Spielen auf das angewiesen, was sie sich ersann und zusammenbastelte.

Wollige Rosengallen, in die sie vier Hölzchen steckte, waren ihre Schäfchen. Auch einen Hühnerhof schaffte sie sich, indem sie Eicheln mit Federn besteckte und auf zwei Holzbeine stellte. Holzpüppchen mit Köpfen aus Galläpfeln stellten den Ähnl, die Ahnl und sie selbst dar. Beim Spiel mit diesen Dingen redete sie leise vor sich hin. Wohl gab es Zeiten, wo ihr helles Lachen durch die Einsamkeit schallte, weil die jungen Zicklein oft mit allen vieren in die Höhe sprangen und sich vor Eifer überpurzelten, wenn sie ihnen Futter streute. Aus dem wenigen, das ihr die beiden Alten über Wichtel, Kobolde und Waldfrauen erzählten, und aus dem, was sie selber sah, baute sie sich eine eigene, eine Märchenwelt.

Als Eva fünf Jahre alt war, erlebte sie einmal spät nachts etwas, das sie zu neuen Grübeleien zwang. Vom flackernden Schein des angezündeten Kienspans geweckt, sah sie, wie Ähnl und Ahnl sich an der sonst verschlossenen Wandnische zu schaffen machten. Der Ähnl nahm ein schmales Holzkästchen aus dem Wandschrank, öffnete es und holte ein zottiges Wurzelmännlein heraus. Es war mit einem Ledergurt, mit Pantöffelchen und einem Feuerschwammhütchen angetan. Die Ahnl zog den Alraun aus, badete ihn in einer bereitgehaltenen Schüssel und murmelte etwas Unverständliches. Dann goß sie das Wasser vorsichtig in eine irdene Flasche, denn jeder Tropfen dieses Badewassers galt als kostbare Arznei. Das Wurzelmännchen wurde wieder angekleidet und in sein Bett gelegt. Eva, die sich auf ihrem Lager aufgerichtet hatte, sah, wie der Ähnl allerlei Glitzerndes und Klingendes um das Männlein ordnete. »Vergiß das Gold nicht!« hörte sie die Ahnl sagen, die dem Alten winzige Stücke des Edelmetalls zureichte. »Ach!« entfuhr es Eva unwillkürlich – da blies der Ähnl so stark in die Flamme des Kienspans, daß sie erlosch, und beeilte sich, beim Schimmer der Glut den »Hausgeist« wieder in seinen Schrank zu stellen. Jetzt wußte Eva um ein Geheimnis der Großen. Mehr erfuhr sie freilich nicht.

Doch wie es mit verbotenen Dingen geht: Der Alraun reizte Evas Neugierde. Obwohl sie wußte, daß sie unrecht tat, öffnete sie heimlich den mit einem Pflock verschlossenen Wandschrank, nahm das geheimnisvolle Kästchen aus dem Dunkel der Mauernische und betrachtete den Inhalt.

Da waren Rosengallen, Haselnüsse, Zirbelzapfen, Stücke von Edelsteinen, aber auch Körner und Fäden eines hellgelben Metalls, an denen Eva sich nicht sattsehen konnte.

Immer wieder nahm sie das Gelbe, Schimmernde in die Hand. Es mußte etwas ganz Kostbares sein. »Vergiß das Gold nicht!« hatte die Ahnl gesagt … Da hörte sie den Bergstock der heimkehrenden Großmutter aufschlagen und stellte mit Windeseile das Holzkästchen in sein Versteck zurück. Die Ahnl hielt den Besitz des Alrauns, dieses heidnischen Hausgeistes, vor aller Welt geheim. Er hätte sonst nach ihrer Meinung seine Heilkraft verloren.

Später, als Eva schon gut das Haus hüten konnte, begann die alte Frau ihre Wanderungen auszudehnen. Mochten auch die abergläubischen Älpler glauben, sie sei mit dem Teufel im Bunde, man rief sie doch, wenn man sie brauchte, diese alte, hagere Frau mit dem scharfgeschnittenen, vom Leid gezeichneten Gesicht und den entzündeten Lidern. Argwöhnisch und hoffnungsvoll zugleich lauschten die Menschen auf die unverständlichen Worte ihrer »Besprechungen«.

Da geschah etwas Schlimmes. Eine Bäuerin, die einen Heiltrank der Stoderin getrunken hatte, erkrankte an einer Gliederlähmung, gegen die kein Mittel helfen wollte. Das Gerücht, die Stoderin habe ihr’s »angehext«, gewann so viel Glauben, daß die alte Frau wieder flüchten mußte, wenn sie nicht auf dem Scheiterhaufen brennen wollte. Der Bruder selbst geleitete sie bei Nacht übers Gebirge südwärts nach dem »Heimlichen Grund«, der ihm aus seiner Jugendzeit bekannt war; dort hatte er als junger Bursch mit Armbrust und Pfeilen Steinböcke gejagt. Von den abergläubischen Anwohnern wurde der Bergkessel Jahrzehnte ängstlich gemieden. In der engen Klamm, die den einzigen Zugang bildete und die »Teufelsschlucht« hieß, waren drei tollkühne Eindringlinge nacheinander vom Steinschlag getötet worden. In seiner Fürsorge schleppte der alte Mann trotz der schwierigen nächtlichen Wanderung eine Ziege mit; sie sollte der Schwester wenigstens so lange Nahrung geben, bis die Kastanienbäume, eine Hauptnahrungsquelle der Tiere des Heimlichen Grunds, Früchte trugen.

Nach dem lebensgefährlichen Anstieg durch das noch wasserarme Bett des Klammbachs wies der alte Hans seiner Schwester die Wohnhöhlen unter den Salzwänden des Heimlichen Grunds und kehrte eiligst in die Geiergräben zurück, wo Eva allein zu Hause war. Als die Ahnl wochen- und monatelang ausblieb, wurde das Mädchen immer bedrückter, denn der alte Onkel war noch mürrischer und noch wortkarger geworden.

Ein Jahr verging. Die gelähmte Bäuerin war inzwischen fast genesen, und die Verdächtigungen gegen die Stoderin verstummten. Schon wollte sich Hans auf den Weg machen und seine Schwester wieder heimholen, als sie ungerufen zurückkehrte. Sie kam ohne die Ziege, aber nicht allein. Ein stämmiger, braunäugiger, schwarzhaariger Junge von ungefähr sieben oder acht Jahren, den sie unterwegs aufgelesen hatte, begleitete sie. Er hieß Peter.

Seine Mutter, auch eine Flüchtige, wie es damals viele im Lande gab, war im einsamen Bergwald bei der Geburt eines toten Mädchens in den Armen der ihr völlig fremden alten Frau gestorben. Die Stoderin hatte sie begraben und mit dem verwaisten Buben ein Gebet gesprochen. Als könnte es gar nicht anders sein, führte sie ihn an der Hand mit sich fort und brachte ihn heim in die Geiergräben; auch ihm wurde sie eine fürsorgende Ahnl. Peter war ein früh gereifter, fleißiger Bub.

Er und Eva gewöhnten sich rasch aneinander – ja, die stille Eva wurde zusehends heiterer und gesprächiger.

Der kräftige Junge half unermüdlich beim Einschleppen von Holzvorräten und beim Heuen und erwies sich auch beim Kräutersuchen und Wurzelgraben, beim Sammeln von Pilzen als gelehrig und geschickt. Besser denn je zuvor konnte die Stoderin ihrer Sammelarbeit nachgehen und zeitweise ihre Talwanderungen unbesorgt tagelang ausdehnen. Für die verlorene Ziege tauschte sie nach und nach mehrfach Ersatz ein, und Peter wurde ein verläßlicher Ziegenhirt, der seine kleine Herde beisammenzuhalten wußte. Die Tageszeiten las er vom Stand der Sonne ab; Größe und Gestalt des Mondes sagten ihm, welche Woche es war. Sein Verstand entwickelte sich im Laufe der nächsten Jahre durch die Anforderungen der Arbeit, durch Beobachtung der Wetterzeichen und nicht zuletzt durch die Erklärungen der alten Stoderin über die Wirkung der Gift- und Heilkräuter. Sie behandelte den Jungen bald wie einen verständigen Erwachsenen und besprach mit ihm alles, was mit ihrer und seiner Arbeit zusammenhing. Mit dreizehn Jahren war er ein tüchtiger Hirt, der den Muttertieren alle Sorgfalt angedeihen ließ. Je mehr die Stoderin den Buben liebgewann, um so öfter sprach sie zu ihm von ihren Heilerfolgen bei Menschen und Tieren; es war, als wollte sie ihm alle ihre Erfahrungen vererben. Was Peter im Gebirge an Wundern erschaute und erlauschte, verwob sich mit den Erzählungen der alten Frau zu einem Bild von der Welt, das reich an Vermutungen und Irrtümern war. Von dem, was er an der Seite der Mutter gelernt hatte, vergaß er vieles.

Alles Wissen der alten Stoderin von den Heilkräutern war ein Erbe vergangener Geschlechter und Zeiten und samt den Pflanzennamen, die an längst vergessene Götter, Holde und Trolle erinnerten, überliefert worden. Die Heckenrose, deren Gallen sie als Schlafmittel sammelte, nannte sie »Friggadorn«, die Hauswurz »Wodansbart«, die Mistel »Marentaken«, die Tollkirsche »Lokiwurz«. Die Blüten der Ragwurz, »Frauentränen«, gemahnten an die »Liebe Frau« der Vorfahren, an Freia, die als blaublühende »Wegwarte« der Heimkehr ihres Gatten Odin harrt.

Peter kannte die eßbaren Kräuter und Wurzeln der Alpenwelt bald so gut, daß er draußen um eine Mahlzeit nie verlegen war. Wenn es ihm an Quellwasser fehlte, kaute er saftigen Sauerklee und löschte so seinen Durst. Vor den Tollkirschen, vor den appetitlichen Beeren des Seidelbastes und anderer Giftpflanzen war er gewarnt; er kannte die gefährlichen Pilze und vermied sie wie die Ziegen die giftigen Blätter der Nieswurz. Alles, was die Ahnl dem Peter beim gemeinsamen Kräutersammeln mitteilte, erzählte er Eva. Und während sie, allein gelassen, die gesammelten Pflanzen und Pilze verlas, schnitt und trocknete, war sie mit ihren Gedanken in einer Welt des Wundersamen und Geheimisvollen.

Der Sonntag war der einzige Tag, an dem die Kinder in ihrer Märchenwelt schwelgen konnten. Die alte Stoderin wußte nichts von den Sonntagsbräuchen der heidnischen Vorfahren. Verwirrt vom Glaubensstreit der Zeitgenossen, hielt sie jedoch daran fest, daß nach der harten Arbeitswoche der heilige Tag ein Feiertag sein sollte, durch keine grobe Arbeit entweiht. Dann führte Peter seine Gefährtin auf die hochgelegenen Halden, wo Edelweiß und leuchtend rote Alpenrosen prangten.

Da die Geiergräben mehr als eine Tagreise weit vom nächsten Kirchdorf entfernt waren, wußten nur wenige Menschen von den Höhlensiedlern, und niemand kümmerte sich darum, daß die Kinder bei der Stoderin fast als Heiden aufwuchsen. Aber es war kein reines Heidentum. Ab und zu entnahmen sie aus einem Stoßseufzer der Ahnl, daß sie mit einem allmächtigen Gott sprach, dem Allvater, der aber nicht zu sehen war.

Peter arbeitete gern und war stolz, wenn die Ahnl zu ihm sagte: »Du schaffst wie ein Großer!«

Auch dem Ähnl war der Junge ans Herz gewachsen. Er zeigte ihm, wie man von grünen Weidenschößlingen durch Klopfen die Rinde lösen und daraus Hirtenflöten machen kann. Unermüdlich schleppte er für den Jungen heim, was er an Kristallen im Urgestein fand, aber auch Mergelplatten aus dem Kalkgebirge, sonderbar geformte Baumschwämme, Knorren, Garns- und Rehkrickel aus dem Lawinenschutt. Peter barg in seinem Winkel auf dem Dachboden einen reichen Schatz, den er durch neue Funde vermehrte, ohne mit den Dingen viel anfangen zu können, weil die Arbeit ihm keine Zeit ließ. Nur an regnerischen Sonntagen, wenn er die Haustiere versorgt, Holz und Wasser geschleppt hatte, pflegte er seine Schätze vor Eva auszukramen und hatte seine Freude daran. Ab und zu regte ihn die Form eines Gegenstandes an, daraus ein Gerät zu basteln. So diente ihm ein Ziegenhorn als Scheide für den Wetzstein zu seiner Sichel, und einen dünnen Bergkristall benützte er als Griffel, mit dem er so gut es ging die Umrisse von Tieren und Menschen in die Mergelplatten ritzte.

War Peter mit seinen Ziegen allein im Gefels, so vertrieb er sich die Zeit nach Hirtenbubenart: Er warf mit Steinen nach allerlei Zielen. Bald gelang es ihm, einen faustgroßen Steinbrocken, den er auf die Spitze eines Felsens gelegt hatte, aus ziemlicher Entfernung zu treffen und wurde darin so geschickt, daß er ein Murmeltier vor dem Bau und einen Alpenhasen beim Äsen erlegte. So steuerte er wie ein Jäger der grauen Vorzeit manches Stück Wildbret für die Küche bei und schulte Auge und Hand. Für die Bälge der erlegten Tiere, die Peter sorgfältig abgezogen hatte, tauschte die Ahnl bei den Bauern allerlei Eßbares ein.

Der altwerdende Köhler Hans pries den Tag, an dem Peter ins Haus gekommen war; nun brauchte ihm vor den Jahren der Gebrechlichkeit nicht mehr angst zu sein. Und wenn er mit seiner weißhaarigen Schwester ausruhend vor der Hütte saß, sprachen beide davon, daß Eva einst Peters Frau werden sollte.

Da kam wieder Unglück in das bescheidene Leben dieser Menschen. An einem Sommernachmittag hielt der Knecht des Kohlenbauern mit seinem Ochsengespann am Meiler. Er erzählte, im Stall eines Bauern, der die alte Stoderin in der Futterkammer hatte übernachten lassen, sei die Klauenseuche ausgebrochen. Das alte Gerücht, die Stoderin sei eine Hexe, sei wieder laut geworden, und die Meraner Gerichtsbarkeit habe Soldknechte ausgeschickt, sie gefangen zu nehmen. Daß ein Hexenprozeß nicht nur der Greisin den Martertod, sondern auch ihren Angehörigen Unheil bringen konnte, das wußten die beiden Alten nur zu gut. Noch am Abend mußten sie mit den beiden Kindern nach dem Heimlichen Grund aufbrechen. Die Stoderin verkleidete sich als Mann, um wenigstens von weitem Verfolger zu täuschen.

Über pfadlose Schutthalden stiegen sie empor zu einem Gebirgssattel, der südwärts führte.

Die Flucht zum Heimlichen Grund

Am Tage verbargen sie sich in den Schluchten, bei Nacht zogen sie weiter, und am dritten Morgen langten sie auf der Höhe einer Glimmerschieferhalde an. Mit rundlichen Blöcken bedeckt, fiel sie sanft ab zu einem tiefausgewaschenen Tal, aus dessen Bodennebeln vereinzelte Zirbelkiefern undeutlich aufragten. Jenseits des Baches hingen rostgelbe, vom Wasser unterhöhlte Kalkwände über, in denen sich als schwarzer, nach oben weit auseinanderklaffender Riß die Teufelsklamm abzeichnete.

Ohne Deckung wagten sie es nicht, bei Tag den langwierigen Abstieg zu unternehmen. Und todmüde waren sie auch. Jeder bekam ein Stück steinhartes Brot und trockenen Käse, und dann kauerten sich die Kinder mit der Ahnl auf dem harten Boden zum Schlafe hin. An einen Felsblock gelehnt, hielt der Alte scharf Ausschau, ob nicht irgendwo ein Verfolger auftauchte.

Gewohnt, auf Wettervorzeichen zu achten, musterte er den Himmel. Vom Osten, wo über sattblauen Bergketten Eisfelder leuchteten, bis zum fernen Westen, wo Gletscher im Alpenrot glühten, war die Welt der Berge überwölbt von wolkenloser, weißdurchleuchteter Bläue. Stechend strahlte die Sonne hernieder, trotz des frühen Morgens.

Dem Alten war die Morgenhitze verdächtig. Alles deutete auf ein bevorstehendes Gewitter. Und schon im Laufe des Vormittags zeigte sich im Nordwesten über den Schroffen eine Trübung des Himmels, die sich zusehends zu Wolken verdichtete.

Jetzt stand die Sonne fast über der Klamm und beleuchtete grell die schrägen Halden ihrer klaffenden Ränder. An ihnen hingen wunderlich verwitterte Gerölltrümmer so gefährlich, als könnten sie jeden Augenblick niedergehen.

Von dorther kamen die Steinschläge, vor denen niemand sicher war, der es wagte, zur Zeit der Schneeschmelze, nach Regenwetter oder gar bei einem Gewitter in die Klamm einzudringen, um den Heimlichen Grund aufzusuchen! Der Alte legte die Stirn in Falten. Ging das Gewitter vor Nacht nieder, dann würde sich der Klammbach in ein gischtendes Wildwasser verwandeln, das die schmale Schlucht hoch anfüllte; kam es in der Nacht, während sie in der Klamm waren, so brachte es ihnen den sicheren Tod. Im offenen Gelände aber durften sie nicht vordringen. Jeder, der ihnen auf die Spur kam, konnte sie dem Gericht ausliefern. Erst im Dunkeln durften sie den Abstieg wagen.

Der alte Köhler bangte um die Kinder, die noch das Leben vor sich hatten, und um seine Schwester, die ihnen als Pflegemutter unentbehrlich war. Eilig nestelte er seinen Rucksack auf, in dem er neben dem Feuerzeug und den notwendigsten Werkzeugen den Alraun versteckt hatte. Er öffnete das Kästchen des Schutzgeistes, um sich von ihm Rat zu holen. Da rollten einige Erzstücke, die beim Tragen ihre Lage verändert hatten, dem Alraun auf die verbogenen Füße. Er richtete sich von seinem Lager auf und blieb dann ruhig sitzen, das Gesicht der Klamm zugekehrt. Jetzt gab’s für den Alten keinen Zweifel mehr: Der Alraun wies nach der Klamm!

In der Mittagssonne des überheißen Sommertages überkam den alten Mann eine große Mattigkeit; er wäre eingeschlafen, wenn der Durst ihn nicht so gepeinigt hätte. Rasch weckte er die Schwester.

Sie rüttelte die Kinder wach und teilte vom geringen Rest an Brot, Speck und Käse aus ihrem Rucksack jedem sein Mittagsmahl zu. Die Kinder schliefen wieder ein.

Am Spätnachmittag wurden sie unruhig. Zuerst wachte Eva auf, rieb sich die Augen und klagte über Hunger und Durst. Dann erhob sich Peter, holte sein Messer aus der Joppe und begann nach Hirtenbubenbrauch Eberwurzen und Sauerklee in seinen Hut zu sammeln. Hier und dort fand er auch eine Schwarzwurzel. Er selbst kaute während der Arbeit mit vollen Backen, dann bewirtete er mit den flüchtig ausgeschälten Blütenböden der Eberwurzdistel, den noch recht mageren Schwarzwurzeln und dem Sauerklee die anderen.

Das Gewitter schien den Flüchtenden noch so weit entfernt, daß sie vor seinem Ausbruch durch die Klamm zu kommen hofften. In abergläubischem Vertrauen zum Alraun begannen sie den Abstieg. Als sie bei den Zirbelkiefern des Talgrundes anlangten, ließ ein Knistern im Bodenreisig sie vor Schreck zusammenfahren. Gott sei Dank, es waren keine Verfolger! Zwei Stück Rehwild brachen durch das Jungholz und verschwanden im dunklen Wald. Endlich standen die Flüchtlinge im Bett des Klammbachs, dem einzigen Weg durch die Klamm. Im kühlen Wasser watend, drangen sie durch die Schlucht aufwärts, zwischen den Felswänden durch, die das Murmeln des Baches zum Getöse anwachsen ließen. Gegen das strömende Wasser, das ihnen über die Knöchel, manchmal sogar bis zu den Knien reichte, gingen sie mühsam an. Langsam schritt der Alte voran; seine Rechte tastete die Felsblöcke ab, mit der Linken zog er Peter nach sich, der Eva führte. Die Ahnl folgte als letzte.

Solange der Widerschein des Mondlichtes auf dem unruhigen Wasserlauf lag, bewegte sich der Alte sicher vorwärts. Als es aber völlig finster wurde und er nicht wußte, ob ein überhängender Fels oder eine Wolke das Licht verdeckte, begann er zu stolpern, so daß er sich wiederholt die Schienbeine blutig schlug. Dann kamen Stellen, wo der Bach über Felsblöcke niedersprühte, die überklettert werden mußten. Das Getöse des stürzenden Wassers schwoll an solchen Stellen betäubend an und machte jedes Wort unverständlich. Als der erste Blitz die Finsternis erhellte und ein lang nachrollender Donner das Losbrechen des Gewitters anzeigte, wurde dem Alten bewußt, daß von der Schnelligkeit ihrer aller Leben abhing. Je höher sie in der Klamm emporkamen, desto schwieriger wurde das Vordringen. Stärker rauschte das Wasser, das nun steiler fiel. Dazu gesellte sich das Scheuern und Anschlagen des vom Bach geschobenen Gerölls; von den nahen und fernen Felswänden kam der Schall tausendfach gebrochen als Nachhall und Widerhall zurück.

Plötzlich flammte wieder grellweißes Licht auf und zerriß für einen Augenblick die schwarze Nacht. Unmittelbar darauf erzitterte die Luft von einem Donnerschlag. Ihm folgte ein scharfes Knattern und grollendes Rollen. Das Gewitter war da. Blitz folgte auf Blitz, ein Donnerschlag löste den anderen ab.

Dann setzte ein Platzregen ein. Lange, lange strömte es herab. Die Ahnl warf den Rucksack und die regenschweren Überkleider ab; die Kinder folgten ihrem Beispiel. Es galt, das nackte Leben zu retten.

Gegen die anschwellende Ache ankämpfend, dachten die Alten an nichts anderes als an das steigende Wasser und an die unausbleiblichen Steinschläge.

Da – ein Knattern, das Gepolter stürzender Felsblöcke und ein Aufklatschen im Wasser, das hoch aufspritzte. Steinschlag!

Der Alte drehte sich nach den Kindern um und winkte ihnen zu, sich seitwärts zu halten, wo die vorspringende Felswand den Bach schirmte. Im nächsten Augenblick brach er zusammen, niedergeschlagen von einer schweren Steinplatte, die ihn im Bach begrub. Die Kinder standen wie versteinert da. Die Ahnl aber faßte sie an den Händen und zog sie fort, vorbei am überfluteten Grabstein.

Die Felsen nahmen in der wachsenden Tageshelle bestimmte Umrisse an; durch den feinen Nebel, der die Schlucht erfüllte, sahen die Überlebenden den nahen Ausgang.

Was an Kraft noch in ihnen war, boten sie auf. Dort vorne winkte die Rettung: der Heimliche Grund!

Im Spalt, den oben weit vorhangende Felsen überdachten, nahm das Licht eine grünliche Färbung an. Noch wenige Schritte im Geröll neben dem Bach, und sie atmeten erleichtert auf: Vor ihnen lag der Heimliche Grund – ein weiter Talkessel, rings eingeschlossen von hohen Felswänden, an deren Fuß sich schräge, stellenweise mit Nadelbäumen bewachsene Schutthalden hinzogen! Der schotterige Grund aber, durch den sich der Bach schlängelte, war von hohem Gras, breitblättrigem Huflattich, üppigen Pestwurzen, blühenden Stauden und Jungholz bedeckt.

Da kniete die Ahnl nieder. Die Kinder folgten ihrem Beispiel. Die gefalteten Hände zum Himmel erhoben, betete sie laut und flehentlich: »Lieber Gott im Himmel, erbarme dich! Behüt mir die Kinder!« Dann stand sie taumelnd auf, und die drei Geretteten setzten ihren Weg in das Tal fort. Aus dem Lärmen des Bachs war nun ein Murmeln geworden, das die Stille im Talkessel kaum störte. Die tief hängenden grauen Wolken und darunter die Nebelschwaden an den Felswänden hatten etwas Einschläferndes.

Steifbeinig und langsam, aber zielbewußt, ging die Ahnl dahin, immer bachaufwärts; dort in der oberen Wand mochten wohl die Höhlen sein, von denen sie den Kindern oft erzählt hatte; still kam Peter nach und zog Eva, die kaum noch gehen konnte, mit sich.

Plötzlich änderte die alte Frau die Richtung. Sie bog nach rechts ab, wo ein überhängender Fels ein Dach gewährte. Dort lag eine Schicht braunen Laubes, vom Vorjahre her angeweht und angeschwemmt, halbvermodert. In diesen Laubhaufen vergrub sich die Stoderin, ihre Augen sahen ausdruckslos ins Leere. Peter und Eva kauerten sich zu ihr. Noch im Einschlafen spürten sie die Schauer, die den Körper der Ahnl überliefen.

In der Klamm aber lag unter einem Felsstück begraben der Ähnl samt Werkzeug und Gerät, das ihnen hätte dienen sollen: Beil und Handsäge, Meißel, Bohrer, Messer, Kochpfanne und Feuerzeug, alles war dahin, alles verloren!