Grelle Sonnenstrahlen weckten Eva aus ihrem unruhigen Schlaf. Verständnislos schaute sie von ihrem Nest aus auf ihre Umgebung: Bäume und Wasser.

Sie fand sich in der Krone einer Fichte, deren Stamm sie krampfhaft umfaßt hielt. Ihre Glieder schmerzten vom Druck der Querstäbe, die, mit wenigen Zweigen bedeckt, auf dem Astquirl ruhten. Die Äste, schwer vom Gezweig, senkten sich so stark nach außen, daß Eva sich wunderte, im Schlaf nicht hinabgerutscht zu sein. Von der Buche herüber drang das Knicken und Brechen von Zweigen. Eva setzte sich auf und sah Peter damit beschäftigt, eine Art Dach zu flechten, indem er durch die Zweige der nächsthöheren Äste Reiser flocht und mit Waldreben festband.

Am Fuße der Buche lagen die geretteten Geräte und Nahrungsvorräte der Höhlensiedler verstreut. Evas Blicke schweiften weiter. Mit Entsetzen nahm sie wahr, daß die Grashalme und Disteln der Wiese vom Wasser überflutet waren und der Bocksgrabenbach sich oberhalb des Fuchsenbühels geteilt hatte. Seine lehmigen Wellen umspülten die kleine Insel und vereinigten sich unterhalb davon mit dem Wasser auf der Wiese: Ein See dehnte sich hinüber bis in den Urwald!

Eva fühlte sich auf der Insel sicher. Hier ließ sich das Fallen des Wassers abwarten. An Nahrung fehlte es nicht. Von Astquirl zu Astquirl niedersteigend, gelangte sie auf die Erde und holte sich eine geräucherte Forelle. Während sie nachdenklich aß, wurde sie von Peter angesprochen.

»Lang darfst du nicht herumstehen, das Wasser steigt. Schau, daß dein Nest ein Dach kriegt! Mach dich auf Regen gefaßt, der Wind kommt von der Klamm her.« Sie watete, noch immer essend, zum Jungholz, das den Hügel säumte, und begann Ruten zu brechen und Waldreben auszureißen. Damit durchflocht sie den Astquirl oberhalb ihres Lagers und legte Fichtenzweige auf das Geflecht, so daß ein spitzrundes Dach zustande kam, dessen Außenränder, durch Waldreben und Zweige mit den Ästen des unteren Quirls verbunden, sich als struppige Wand niederzogen. Dann belegte sie ihr Lager mit einer Schicht Moos, das sie unter den Fichten und von der Wetterseite der Stämme abgelöst hatte.

Beruhigt suchten die beiden ihre Lager auf und schliefen trotz der ungewohnten Umgebung bald ein. Mitten in der Nacht wurden sie von grellen Blitzen und rollenden Donnerschlägen geweckt. Wie seltsam, ein Gewitter so früh im Jahr! Unsicher, ob das eine Verschlimmerung oder eine Verbesserung ihrer Lage bedeute, konnten sie nicht mehr einschlafen. Am Einschlupf ihrer Baumnester festgeklammert, starrten sie immer wieder auf die überhell beleuchtete Wasserfläche und lauschten beklommen dem Sausen des Sturmes, der auch ihre Baumkronen zauste und an ihren Nesthütten zerrte. Hastig begannen die Nestsiedler die Bindungen fester anzuziehen.

Als in Bogenschußweite vor ihnen eine hohe Fichte vom Blitz gefällt hoch aufloderte und ein knatternder Donnerschlag folgte, schrien sie gleichzeitig auf und begannen laut zu beten. Entmutigend kam ihnen als schwere Schuld zum Bewußtsein, daß sie alles, was Gott geweiht war, in der gefährdeten Höhle gelassen hatten. Ihre Aufregung wuchs, als weithin leuchtend das Feuer im Urwald um sich griff und der Sturm den heißen Rauch herübertrug. Als aber ein wolkenbruchartiger Regen den Waldbrand löschte, beruhigten sie sich. Das Gewitter zog bald vorüber. Von Schlafmangel und ausgestandener Angst erschöpft, kauerten sich die beiden auf ihre Liegestätten zu kurzer Ruhe.

Der Morgen war kalt, aber wohltuend still; die von der Sonne matt durchschienenen Nebel strichen, vom Winde leise bewegt, an den Lehnen und Wänden empor. Es begann sachte wieder zu regnen. Gewohnt, den Tag tätig zu verbringen, machten sie sich daran, auf dem Eiland Holz zu sammeln und ihre Nester ringsum sorgfältig zu umflechten. Sie konnten ja nicht wissen, wie lange sie darin hausen mußten.

Mit einem Male erzitterten die Bäume unter ihnen, die Erde bebte; ein Dröhnen, ein Knattern und Prasseln kam von der Klamm her. Schreckensstarr lauschten die beiden in die Ferne. Was war dort geschehen? Das ferne Rauschen des Klammbachs, das sonst als ein gewohnter, ununterbrochener Grundton alle Laute im Heimlichen Grund begleitet hatte, war plötzlich verstummt, und der neue Wasserfall, der aus der verlassenen Wohnhöhle stürzte, war aufdringlich laut geworden. Was war geschehen? »Ob eine Klammwand niedergegangen ist?« Zögernd sprach Peter es aus. Mit Schaudern dachte er an die Folgen.

Wenn die Klamm versperrt war und das Wasser nicht mehr durch die Schlucht abfließen konnte, dann mußte es steigen, steigen – vielleicht gar über die Baumwipfel, bis es die Höhe der stauenden Felsmassen in der Klamm erreicht hatte! Diese Gedanken sprach Peter nicht aus. Langsam glitt er zum Boden nieder. Am Stamm eines Ahornbäumchens, dessen Wurzeln vom steigenden Wasser bespült wurden, brachte er mit seinem Steinbeil scharfe Schnitte an, immer einen um einen Handbreit höher als den anderen, so weit er reichen konnte. Dann stieg er in sein Nest hinauf, kauerte sich am Einschlupf nieder und starrte unverwandt auf die Wassermarken. Lange schien es ihm, als bliebe der Wasserstand gleich. Vor Anstrengung begannen ihm die Augen zu schmerzen, er mußte sie schließen.

In sein Bangen und Sinnen klang das aufgeregte Gezwitscher der Zaunkönige und Bergfinken, die, von ihren Nistplätzen im Tale verdrängt, in großer Zahl im Gezweig der Buche herumflatterten. Und zum erstenmal beneidete er die gefiederten Bewohner des Heimlichen Grunds um ihr Flugvermögen. Oh, wenn auch er Flügel hätte! Und Eva! Fliegend würden sie sich emporheben und fortschweben in ein fernes Land …

Plötzlich riß er die Augen auf und starrte hinunter zum Ahorn. Das Wasser war gestiegen! Mit Entsetzen sah er, wie es sich schon der zweiten Marke näherte. Als das Wasser die fünfte Marke erreicht und die Kleintiere sich auf ein winziges Fleckchen um die Buche herum zusammengedrängt hatten, gab Peter alles Hoffen auf.

Er drückte die geballten Fäuste gegen seine Augen und begann zu schluchzen. Und Eva mochte fragen, was er denn auf einmal habe, er gab keine Antwort. Es mußte etwas Furchtbares geschehen sein! Weinend warf sie sich auf ihr Lager.

Das Wasser stieg und stieg. Auf seinen Fluten trieben lebende und tote Tiere dahin: Igel, Mäuse, Bilche, Maulwürfe. Was an den Baumstämmen emporklimmen konnte, verlor sich im Gezweig. Gemeinsame Todesgefahr hatte den Unterschied zwischen Raub- und Beutetier ausgelöscht. Schlangen kletterten an den Menschen vorüber in das Geäst. Als die Insel gegen Abend völlig überflutet war und die Krone des jungen Ahorns langsam in den ziehenden Fluten verschwand, als das steigende Wasser die untersten Äste der Wohnbäume erreichte, da schrien die Nestsiedler laut auf, daß es schauerlich von den Felswänden des Heimlichen Grunds widerhallte. Sie hatten die heiligen Bilder dem Wasser preisgegeben; jetzt kam die Strafe!

Peter gelobte auf Evas Anraten, das Kostbarste zu opfern, das er besaß, seine durchlochte und geschliffene Steinaxt, wenn Gott die stauenden Steinmassen in der Klamm von den Wassern wegräumen ließe. Die Flut aber stieg unaufhaltsam. Hoffnungslos und untätig warteten die Entmutigten auf den Augenblick, wo das Wasser sie erreichte und mit sich fortführte.

Von Schlafmangel entkräftet, brachten sie nicht mehr den Willen auf, die Dächer ihrer Nesthütten zu zerstören und höher in die Baumwipfel zu klettern. Dumpf vor sich hinbrütend, kauerten sie in ihren Nestern, ohnmächtig der unaufhaltsam steigenden Flut preisgegeben, die den Talgrund füllte, Felsen und Wälder bedeckte und alles Leben zerstörte – die Sintflut.