Sonnwendfeuer

Wie Eva erwartet hatte, war Peter nicht mehr so rauh und jähzornig, seit er mit ihr vor Beginn des Tagewerkes seine Gedanken sammelte. Er mußte Evas laut und innig gesprochene Gebete mitdenken, in denen sie gute Eingebungen erflehte und der Verstorbenen gedachte, die bei Gott weilten.

Zum Grübeln über das Geheimnisvolle hatte Peter wenig Neigung. Sein Denken war mehr aufs Schaffen gerichtet. Es galt, die kürzer werdenden Tage auszunützen. Weil es sich mit dem Drillbohrer leichter und rascher arbeiten ließ, machte es ihm Freude, die Stiele seiner Waffen und Werkzeuge zu durchlochen und Hängeriemen durchzuziehen. Immer wieder kehrte er zum langsam fortschreitenden Steinbohren zurück. Auch er bohrte nicht mehr mit der eingeschäfteten Steinspitze, sondern mit vorbereiteten Quarzsplitterchen, die sich unter dem Druck der harten Randschicht des Holunderstabes in den Serpentin einfraßen.

Endlich, als die Sonne schon nahe am Winterhorn unterging, war Peter mit seinem Bohrer durch den Beilstein gekommen. Die neuartige, schöne Steinaxt, in deren Öhr er einen gut ausgetrockneten Hartriegelstab schattete, war fertig, ein Ereignis, das ihn mit unsagbarer Freude erfüllte. Das mußte gefeiert werden!

Eva meinte, die Feier könnte am besten an dem Tage stattfinden, an dem die untergehende Sonne die Spitze des Winterhorns berühren würde; denn von da an müßte sie sich wenden und sich wieder der Henne nähern, dem Markstein der Frühlings-Tagundnachtgleiche.

Der Tag kam, ein frostiger Wintertag. Peter und Eva schichteten vor dem Räucherofen auf der Salzleiten einen Holzstoß auf, dessen Lohe den sinkenden Sonnenball grüßen sollte. Und so kam ihr erstes Sonnwendfeuer zustande. Seine lodernden Flammen röteten alle Hänge des Heimlichen Grunds. Die Felswände nahmen das Jauchzen der Höhlensiedler auf, warfen es einander zu, als freuten sie sich mit den beiden Menschenkindern, die knisternde Wacholderfackeln um ihre Köpfe wirbelten in der Vorahnung besserer Lebensbedingungen.

Salzkammer

Der Winter kehrte sich nicht daran, daß die Sonne schon ihre Frühlingsreise angetreten hatte. Fröste und Schneestürme hatten den Heimlichen Grund in ihrer Gewalt.

Den Höhlensiedlern war der Tag immer zu kurz. Eva, die nicht nur das Essen kochte, sondern auch die Vorräte pflegen mußte, nützte die hellsten Stunden zum Nähen und Flicken der Kleider und Schuhe. Peter hatte, um der hereindringenden Kälte zu wehren, die Licht- und Luftlöcher in der unteren Höhle verkleinert, und so war Eva gezwungen, den Arbeitsplatz in ihrer Kammer vor der nahezu vermauerten Lichtluke einzurichten. Sie hatte aus Waldreben einen Rahmen geflochten, eine Tierblase darübergespannt, das Ganze in die Luke geklemmt und die Ritzen ringsherum mit Moos abgedichtet. Nur gedämpft drang das Tageslicht in das Höhleninnere. Eva, die für ihre Arbeit Licht brauchte, setzte sich damit dicht unter die Luke. Es half nicht viel – am Fußboden war und blieb es dämmerig. Während sie dasaß und sann, wie dem abzuhelfen wäre, fiel ihr ein Gitter ein, das sie vor einiger Zeit aus Weidenruten geflochten und als Dörrplatte für Beeren benutzt hatte. Das kramte sie hervor, verkeilte die eine Längsseite unter der Luke in den Mauerspalten, stützte die andere mit zwei in den Boden eingelassenen Stäben und hatte nun einen erhöhten, gut beleuchteten Arbeitstisch. Ein Baumstrunk davor diente als Sitz. Rechts davon, zwischen Lichtluke und Hausaltar, stand ihr Webrahmen.

Auch Peter hatte seinen Sitzstrunk nahe vor seine Lichtluke geschoben und den höheren Werkstrunk davorgestellt. Um sein mit unsagbarer Mühe durchlochtes Steinbeil beim Schärfen nicht zu gefährden, hatte er in eine Grube des Höhlenbodens einen flachen, harten, feinkörnigen Quarzsandstein fest eingelassen. Mit leichtem Druck führte er den Beilstein unermüdlich über den Schleifstein hin und her, her und hin. Und siehe da: er wurde schärfer und schärfer! Angefeuert vom Erfolg schliff Peter aus Stein- und Knochensplittern Dolche, Grabmesser, Pfriemen, grobe Nadeln und Vorstecher. In abgesägte Zinken des Hirschgeweihes schäftete er Steinmesser, Meißel und Bohrer.

Die Behaglichkeit und Lebensfreude der Höhlensiedler wurde zeitweise durch ein unheimliches Glucksen gestört, das aus dem Berginnern kam. Jetzt, wo die Höhlenstuben gegen die Geräusche der Außenwelt abgeschirmt waren, fielen diese seltsamen Geräusche besonders nachts auf.

Peter war fest entschlossen, der Ursache auf die Spur zu kommen. Er nahm sich vor, ins Berginnere einzudringen. Er flocht aus Reisig zwei Fackeln, die er gut pichte. Dann brach er die Vermauerung des oberen Höhlenganges heraus, die Evas Stube nach dem Berginnern hin abschloß, schlug die vorspringenden Felskanten ab und erweiterte so den Spalt. Klopfenden Herzens drang er ein. Die Luft im Berginnern war feucht und kalt. Ein scharfer Zugwind trieb ihm den Rauch des rußenden Leuchtbrandes ins Gesicht. Über seinem Kopf hingen in den Nischen unzählige Fledermäuse, die hier ihren Winterschlaf hielten.

Der Lehmboden fiel ab. In scharfem Winkel bog der Gang nach rechts. Die ruhiger brennende Fackel erleuchtete weithin den Raum. Von der Decke hingen weiß- und gelblichschimmernde Zapfen herab, die mit anderen, vom Boden aufstrebenden, vielfach zu Säulen vereinigt waren. An einer Stelle war ein Stück Wand und Decke, vom Wasser unterwaschen, niedergegangen; dort lagen Spitzkegel und flache Stücke wirr durcheinander, von reinweißem Sinter überkrustet. Mitten darunter stand aufrecht ein verhutzelter Zwerg mit Zipfelmütze, Vollbart und Hängebauch. War’s ein zu Stein gewordenes Wichtelmännchen? Und noch andere vieldeutige Gestalten waren da: geballte Klumpen, wie runde Bären oder brütende Riesenvögel mit absonderlichen Köpfen – eine erstarrte Märchenwelt. Bei jedem Flackern der Flamme bewegten sich die Schatten der Gestalten, deren Aussehen sich wundersam veränderte. Zaghaft betastete Peter ein zweigdünnes Zapfenende. Als es klirrend zerbrach, nahm er ein Stück davon mit für Eva.

Der von Säulenstummeln und Sinter bedeckte, naßglänzende, von Rissen durchfurchte Boden war für Peter ein schwer überwindbares Hindernis. Er blieb stehen und machte sich für den Rückweg Merkzeichen. Wieder vernahm er das Glucksen, das ihn und Eva so oft geängstigt hatte; es klang, als fiele aus großer Höhe ein Tropfen in ein tiefes Wasser.

Dem Klange folgend, der sich in regelmäßigen Zeitabständen wiederholte, stand Peter bald am Spiegel des unterirdischen Sees. Lauschend und schauend stand er da. Unverwandt starrte er auf die dunkle Glätte des tiefgrünen Wassers, das kaum merklich nach rechts zog; von dorther war die Flut matt durchleuchtet. Da sah er, wie ein Wassertropfen aufschlug, sah die Kreise, die er zog, und fast unmittelbar darauf hörte er das wohlbekannte Glucksen, das der Widerhall von fernen Wänden dumpf verstärkte. Peter blickte nach oben, zur Höhe der Seegrotte. Und er staunte über die Länge der Riesenzapfen, die weiß und gelb an der Decke schimmerten. An einem, der flach wie ein Vorhang wenige Mannslängen vor ihm hing, glänzte ein Tropfen im Fackellicht wie ein durchsichtiger, rundgeschliffener Stein. Klingend fiel auch er nieder und gleich nach ihm ein zweiter. Das also waren die Geisterstimmen!

Peter zündete am Stumpf der ersten die zweite Fackel an und wandte sich zum Rückweg. Im Licht der knisternden, rußenden Flamme fand er die Spuren, die seine beschmutzten Schuhe auf dem blendendweißen Kalksinter des Bodens hinterlassen hatten. Stolpernd vor Ungeduld kehrte er zu Eva zurück und zeigte ihr den mitgebrachten Tropfstein.

Schon am nächsten Tage begleitete sie ihn zur Höhle, sie trug ein Bündel Brennholz und drei Ersatzfackeln. Ihre Erwartungen wurden weit übertroffen, als am Ufer des Quellsees ein hohes Feuer brannte und seinen gelbroten Schein auf die säulenbehangene Decke warf.

Weiter ging es bergeinwärts, auf wunderlichen Pfaden, bald schmal, bald breit, um Abgründe herum, in deren Tiefe geheimnisvolle Wasser raunten. Kletternd und einander stützend drangen die Wanderer weiter nach links aufwärts. In der höchsten, entlegensten Felsenkammer war der Boden so glitschig, daß sie wiederholt stürzten. Eva hatte sich den Fingerknöchel blutig gequetscht und führte ihn zum Munde, um den brennenden Schmerz zu lindern. Doch wie seltsam – das schmeckte ja salzig!

Und in der Tat: die weißen, feuchtschimmernden Zapfen in dieser Grotte bestanden nicht aus Kalkstein, sondern aus Salz. Peters Axt räumte unter den Zapfen auf. Dann trugen die beiden Höhlenforscher eine Ausbeute des kostbaren Gewürzes heim, in einer Reinheit, die sie entzückte.

Der Verbindungsgang zu den Grotten wurde nicht mehr vermauert, nur eine gut abgedichtete Gittertür wurde sorgsam eingefügt. Und Peter nahm sich vor, den Weg zur Salzkammer im Berge durch Gangsteine und Stege bequemer zu machen. Das gab Arbeit für die nächsten Wochen.

Der Bastgürtel

Eva streifte oft, nach Wurzeln, Kräutern und Erdbeeren suchend, allein im Heimlichen Grund umher. Auf ihren Wanderungen, auf denen ihr immer wieder äsende Rehe neugierig, aber ohne Furcht, und auch Bären nachäugten, gelangte sie bis zum Moor. Hier fand sie zwischen blühenden Dotterblumen junges Riedgras in Menge. Mit ihren schwieligen Händen zog sie die scharfkantigen Halme aus dem lockeren Boden und aß die unteren bleichen Enden; sie schmeckten süßlich. Auch die saftigen Stengel von Bocksbart und Sauerampfer verschmähte sie nicht. Aber ordentlich satt wurde sie erst, wenn sie sich daheim aus Wildgemüse, zerquetschten Kastanien und zerschnittenem Speck Mus bereitet und es warm genossen hatte.

Inzwischen waren Narzissen und Rasenlande des Moores erblüht, und der Wind trug ihren süßberauschenden Duft herbei. Auch die blauen Glockenblüten der wilden Akelei begannen sich zu erschließen. Von ihren Gängen brachte Eva immer auch Blüten in ihr einsames Heim; vor den Ahnenbildern gingen die Blumenopfer nicht aus.

Eva war selbständig geworden; sie ging auch dann nicht zu Peter, wenn der Rauch seines Lagerfeuers verriet, daß er sich vom frisch erlegten Wild eine Mahlzeit bereitete. Ihr war es ein Greuel, daß er Muttertiere tötete und aß. Er konnte nicht begreifen, warum Eva plötzlich so fremd und abweisend war. Um sie zu versöhnen, brachte er ihr das Beste, was er besaß: frisches Fleisch. Als sie ihn aber immer wieder schroff zurückwies, ging er seiner Wege; ja, er legte sich unter einem überhangenden Glimmerschieferblock der Moorleiten eine zweite Schlaf- und Feuerstelle an. Zur Höhle kam er jetzt wochenlang nicht. Und hätte nicht Eva die Striche im Steinkalender gemacht, sie hätte nicht einmal gewußt, wann Sonntag war.

Sooft sie Peter begegnete, wurde sie von seiner zunehmenden Unsauberkeit angewidert. Das angetrocknete Blut an seinen Händen, an den Steinwaffen, an seinem Lendengürtel ließ sie, ob sie wollte oder nicht, an getötete Tiermütter denken; es war ja Frühlingszeit, Rehe und Wildhühner hatten Junge!

Der große Bastvorrat reizte Eva, sich an ihre Flechtarbeiten zu machen. Gelbe Bastbündel fluteten, von einem Stein festgehalten, im Bach unter dem Gesträuch am Sonnstein. Hier schlug sie ihre Werkstatt auf. Bald merkte sie, wie schwer es war, aus freier Hand ein größeres Gewebe zu flechten. Sie sah sich suchend um und fand – ohne zu ahnen, welch großen Fortschritt sie damit machte – in dem waagerecht von einem Stämmchen abstehenden Zweig ein geeignetes Werkzeug, das ihr die hängenden Fäden festhalten sollte, damit sie die Hände zum Einflechten der Querfäden freibekam. Den Lendenschurz wollte sie zuerst machen, bis zu den Knien sollte er reichen.

Es ging langsam. Die nicht gespannten Fäden verwirrten sich immer wieder, und das Entwirren hielt auf. Als Eva abends ihr Lager aufsuchte, wurde auch sie, wie sonst Peter, vom Denkfieber des Erfinders gepackt. Sie mußte noch dahinterkommen, wie sie die Fäden am Verwirren hindern konnte! Endlich schlief sie ein und beschäftigte sich auch im Traum mit dieser Schwierigkeit. Beim Erwachen am frühen Morgen war es ihr, als sei ihr im Schlaf eine Lösung eingefallen.

Im Licht der aufgehenden Sonne stand Eva vor ihrem einfachen Gerät und band, wie sie es im Traum getan hatte, längliche Steine als Gewichte an die Enden der Fäden. Es war nicht leicht, sie so aufzuhängen, daß sie sich nicht aneinander und an den Fäden rieben; aber schließlich hingen alle Fäden senkrecht. Mit der Linken hob sie jeden zweiten Faden und führte mit den Fingern der Rechten den Querfaden abwechselnd darunter und darüber. Anfangs schob sie die Querfäden mit den Fingern dichter zusammen, bald aber fand sie in einer dreifach geteilten Zweiggabel ein besseres Werkzeug. Sooft sie einen Querfaden aufgebraucht hatte, knüpfte sie den nächsten daran. So ging das eine Weile, aber auch wieder viel zu langsam, wie Eva fand. Freilich wäre die Matte recht dicht geworden, aber die Flechterin wurde so ungeduldig, daß sie die Längsfäden abknüpfte, als sie einen kaum drei Finger breiten Gürtel geflochten hatte. Ihr war ein neuer Gedanke gekommen: Sie knotete die Fäden kreuzweise, das ging schneller und ergab eine Art Netz. Dichtmachen wollte sie sie später durch eingezogene Bastbänder. Jetzt ging die Arbeit ungehemmt vonstatten, schnell und schneller knüpften und flochten die Finger.

Eva war glücklich, daß ihr das Werk so gut von der Hand ging. »Gidlio – gidlio«, flötete ein Pirol. Ein Kuckuck rief, ein anderer gab Antwort. Rotschwänzchen und Drosseln, Amseln und Wasserschmätzer sangen und pfiffen um die Wette. Inmitten dieses Maienjubels saß Eva an ihrem ersten Webstuhl und sah ihr Werk wachsen. Sie war so glücklich wie schon lange nicht mehr.

Ziegenmilch

Peter holte Eva zu Hilfe. Er fesselte die Geiß, wälzte sie auf ein Rehfell und zog sie über eine aus Erdschollen hergestellte schiefe Ebene aus der Grube. Dann band er sie auf einer aus Ästen angefertigten Tragbahre fest. Als Evas Kräfte unterwegs versagten, handhabte er die Bahre wie einen Schlitten und ließ sich nur beim Umladen aufs Floß und beim Abladen daheim helfen. Während er um das gebrochene Bein des Tieres einen kühlenden Umschlag aus gequetschten Huflattichblättern legte und es dann mit Stäben und Bastfaden schiente, labte Eva die willenlose Scheckin mit Salzwasser, machte ihr ein weiches Lager in ihrer eigenen Stube zurecht und beeilte sich, Grünfutter zu besorgen. Am nächsten Tag schmiedete Peter für Eva ein Grasmesser mit flachem Stiel, den er in einen Stab schäftete, und für die Geiß baute er an der Vorratshütte ein Schutzdach. Später wollte er es durch Wände aus Flechtwerk und Lehmbelag zum Stall ergänzen.

Erst am zweiten Tage ließ sich das von Hunger gepeinigte Tier von Eva bewegen, etwas Grünfutter aufzunehmen. Von diesem Augenblick an legte es die Scheu vor der Pflegerin ab, die sich viel in ihrer Nähe aufhielt und an einem Tragkorb flocht. Sie sprach mit dem kranken Tier vom Gesundwerden, von dem vielen Heu und von den getrockneten Baumzweigen, die es im Winter bekommen werde. Eva zweifelte keinen Augenblick daran, daß die Scheckin verstand. Langsam genas die Geiß, humpelte aber, denn das gebrochene Bein war klumpig zusammengewachsen.

Eine Woche vor der Sommersonnenwende brachte die Scheckin zwei Junge zur Welt, von denen eines nackt, verkümmert und tot war. Das andere aber, ein fast schwarzes Böcklein, war schon am Tage seiner Geburt ein kräftiges Kerlchen. Da es keine Spielgenossen hatte, stieß »Schwärzel« mit seinen kurzen Hornstummeln die gute Eva und hatte es bald auch auf Bläff abgesehen, die ihm mit gespieltem Ernst entgegenbellte. Eva schüttelte sich vor Lachen, wenn Schwärzel mit allen vier Beinen zugleich die Tür ihrer Hütte ansprang, dann seitlings davonhopste, plötzlich wie angewurzelt stehenblieb und mit gesenktem Kopf zu ihr hinauf schielte.

Bei seinem Spielen, Springen und Hüpfen kam Schwärzel oft so gefährlich nahe an das Randgeländer des Pfahlplatzes, daß Eva von Peter eine höhere Umzäunung verlangte. Doch während Peter noch das Stabholz für den Schutzzaun zusammensuchte und herbeischaffte, geschah das Unglück.

Als Eva eines Tages auf der Triftleiten Grünfutter gesichelt hatte und mit hochbeladenem Floß heimfuhr, sah sie unterhalb des Pfahlbaus etwas Dunkles regungslos in der Strömung treiben – es war das ertrunkene Böcklein. Wohl fuhr sie ihm nach und zog es auf das Floß; aber kein Streicheln, kein Kosewort rief das Tierchen ins Leben zurück, das noch am Morgen sich so übermütig seines Daseins gefreut hatte. Eva tat der Tod des fröhlichen Tierkindes bitter weh, und sie fühlte Mitleid mit der klagenden Mutter.

Peter ging der Verlust nicht so nahe. Es war ja nur ein Böcklein gewesen; sein Fell war brauchbar, und das Fleisch gab für einige Tage Hundefutter und Fischköder ab. Die Milch des Muttertieres aber kam jetzt ihm und Eva zugute. Er zeigte auf das pralle Euter der Scheckin: »Eva, du mußt der Geiß die Milch abmelken, sonst tut ihr das Euter weh – ich zeig‘ dir, wie.« Dann holte er eine Schale. Kaum hatte seine Hand das Euter berührt, da machte die Geiß eine blitzschnelle Wendung und stieß ihm beide Hörner gegen die Brust. Fast gleichzeitig schlug sie mit den Hinterbeinen aus und zerrte am Riemen.

Erst als er sie an der Hüttenwand kurzgebunden hatte, konnte er sie melken. Mit der ersten Milch, die er in die hohle Linke molk, wusch er ihr nach Hirtenbrauch das Euter. Nach und nach beruhigte sich die Scheckin; sie spürte die Erleichterung und ließ Peter gewähren. Noch immer traurig, weigerte sich Eva, von der Milch zu kosten. Peter aber trank die Schale in langen Zügen leer. Und während er trank, stiegen neue Hoffnungen in ihm auf. Wieder und wieder wollte er List und Arbeit daran wenden, Wildziegen zu erlangen. Eine Herde wollte er aufziehen, ein reicher Hirte werden, Milch und Fleisch und Felle im Überfluß haben! Da mußte Eva doch wieder froh werden!

Gold, Lüge, Leid

Fast eine Woche lang rief die Tiermutter nach ihrem verlorenen Zicklein, dann hörte sie auf. Sie gewöhnte sich daran, ihre Milch, die immer wieder das Euter füllte, von Peter abmelken zu lassen. Auch Eva beruhigte sich so weit, daß sie sich entschloß, ebenfalls von der Milch zu genießen – ja, sie übernahm sogar das Melken, und ihr machte die Geiß keine Schwierigkeiten. Sie spürte, daß dieses Wesen es von Herzen gut mit ihr meinte. Zeitweise war Eva von einer Traurigkeit, die für Peter etwas Bedrückendes hatte. Fragte er sie in seiner rauhen Art: »Was hast du denn? Fehlt dir was?«, erhielt er keine Antwort. Verletzt wandte er sich ab und verbiß sich in seine Arbeit.

Über den Ereignissen der letzten Woche hatte er den Töpferofen vergessen. Als er ihn aufräumte, fand er ganz oben, über mißratenem, geborstenem und beim Brennen verbogenen Rohgeschirr einzelne Töpfe und Schüsseln, die ungleichmäßig mit einer glänzenden, harten Schicht von goldbraunem Schmelz überzogen waren. Also hatte Eva Salz in den Ofen getan, wie er es vorgehabt, aber versäumt hatte! Vergnügt eilte er zu ihr: »Eva, das mit dem Salz war ein guter Einfall von dir.« Doch sie gab fast gleichgültig zurück: »Du wirst es besser können.« Entschlossen, diese Erfindung sobald wie möglich noch vollkommener zu machen, brachte Peter den Ofen wieder in Ordnung und bat die Gefährtin, neue Geschirre zu formen.

Wo er ging und stand, was er auch arbeitete, immer rätselte er an Evas sonderbarem Wesen herum. Er konnte es sich nicht erklären. Und wieder fielen ihm die Goldkörner ein, aus denen er Sonne, Mond und Sterne zu einem Halsschmuck für sie schmieden wollte. Und wenn sie sich dann freute, wollte er sie in seine Arme schließen und ihr sagen, daß er sie lieb hatte. Voll Zuversicht suchte er seine Pfahlhütte beim Moorbach auf, aus der ihn damals die Baumschlange vertrieben hatte. Er tastete die Stelle ab, wo er das Gold verborgen wußte: Es war nicht mehr da! Weiter suchte er, auch an den unmöglichsten Stellen: Das Gold war nicht mehr da! Sollte Eva …?

Er suchte sie vor ihrer Hütte auf, wo sie gerade am Webstuhl arbeitete. Zaghaft wie noch nie wählte er seine Worte, er wollte ihr nicht wehe tun. Nach langem Hin und Her fragte er endlich: »Eva, sag, hast du das Gold genommen?« In jähem Schreck ließ sie die Webnadel fallen und starrte den Fragenden an. Ihre erste Eingebung, einfach »ja« zu sagen, verwarf sie aus Angst vor Peters Zorn. Peter drängte: »Hat’s dir die Red‘ verschlagen? Brauchst nur mit dem Kopf zu nicken. Hast du es oder hast du es nicht?« Er wollte nicht hart mit ihr sein, aber ihr Schweigen reizte ihn. Hochaufgerichtet stand sie vor ihm. Ihre Augen drängten sich aus den Höhlen, ihre Nasenflügel bebten, und ihre Lippen waren fest aufeinandergepreßt. Da packte er sie mit seinen rußigen Händen an beiden Schultern und schüttelte sie. Eva ballte die Fäuste, und heiser brachte sie die Worte hervor: »Ich hab’s nicht, und du kriegst’s nicht.«

Da stieß er sie von sich, der Webstuhl fiel polternd um: Die Türe zu ihrer Stube war frei. Er durchwühlte ihr Lager, riß den lehmigen Bodenbelag auf. Nicht einmal von den Herdmauern ließ er Stein auf Stein. Als er endlich, mit Staub und Asche bedeckt, Evas Stube verließ, entschlossen, ihr, wenn es sein mußte, mit Gewalt zu entreißen, wo sie das Gold verborgen hatte, da war Eva nirgends zu sehen. Er suchte sie im Vorratshaus, sogar in seiner eigenen Hütte und fand sie nicht. Jetzt begann er zu rufen, zu schreien: »Eva! Eva!« Nur das Echo, von den fernen Felswänden zurückgeworfen, gab Antwort. Ein furchtbarer Gedanke ließ ihn über den Zaun des Pfahlhofes hinausschauen auf die klare Flut des Moorwassers, wo das Böcklein ertrunken war. Wie ein Gehetzter umkreiste er die Siedlung. Sein Zorn war verflogen. Klagend, bittend klang sein Ruf über den See: »Eva! Eva! Komm doch, ich tu‘ dir nichts – ich hab‘ dich ja lieb!« Vor Evas Hintertür kauernd, starrte er hinab zum Wasser. Schwärme von Jungfischen zogen an der Oberfläche dahin, ihre schlanken Leiber glitzerten im Sonnenschein. Ringsum Stille. Da fiel ihm auf, daß Evas Binsenfloß, das gewöhnlich am Steigbaum angebunden war, am Ufer drüben festlag, wo der Torfboden zur Triftleiten anstieg. Jetzt wußte er, daß Eva geflohen war. Bläff, ihre stete Begleiterin, war auch nicht mehr da. Peter schnellte empor, sprang auf sein eigenes Fahrzeug und stieß mit seinem langen, eisenbeschlagenen Speer, der noch vom letzten Jagdgang darauf lag, vom Pfahlbau ab. Ein kräftiger Wind von der Klamm herüber legte sich ihm in den Rücken und beschleunigte seine Fahrt.

Kaum nahm er sich Zeit, sein Floß neben dem Evas festzupflocken, da begann er den Boden nach Spuren abzusuchen. Er fand niedergetretene Grasbüschel. Wie gehetzt eilte er über den Lehmdamm, der den Moorsee vom Klammbachsee trennte, aufwärts. Die Spuren führten zum Moorbach. Unsicher, wie weit sie im Wasser gegangen sein mochte, hielt er Umschau und rief, beide Hände am Mund, mit aller Kraft: »Eva – Eee-va!« Der Wind schlug ihm seine langen, schwarzen Haare um das Gesicht und riß ihm die Worte vom Mund. Das größere Floß, auf dem er den Klammbachsee zu überqueren pflegte, lag unberührt zwischen dem Schwemmholz der Trift. Über den See war Eva nicht geflohen. In der Meinung, sie sei im Bach weiter aufwärts gewatet, lief er, immer wieder rufend, bis zu der Stelle, wo der Moorbach aus der Kalkhöhle trat und über das mit Algen und Moos bedeckte Urgestein als dünner Wasserfall niederplätscherte. Hier suchte er den mit Gras, Farn und Stauden bewachsenen Geröllboden nach Spuren ab – vergeblich.

Da kam die alte Einäugel, triefend naß, aus dem Dickicht. Sie war durch den Moorsee ihrem Herrn nachgeschwommen und seinen Spuren gefolgt. Jetzt schüttelte sie sich das Wasser aus dem Pelz und sah ihn fragend an.

Er trieb die Füchsin an: »Geh, Einäugel, such, such!« Und Einäugel begann zu suchen, kam aber mit hängender Lunte sichtlich verwirrt wieder zu ihrem Herrn zurück. Jetzt drängte sich Peter aufs Geratewohl durch das Gewirr von Haseln, Brombeeren und Waldreben, das den Laubwald bis zur Sonnleiten säumte. Eine Sandviper, die er unterwegs aufscheuchte, übersprang er und stürmte fort. Immer wieder ließ er seinen Ruf erschallen: »Eva! Eva!« Sie mußte ihn längst gehört haben! Da regte sich der Zorn in ihm. Verbissen brach er durchs Gestrüpp. Und schließlich verfiel er auf den Gedanken: Wenn Eva nicht antworten will, ihr Hund soll sie verraten! Er durchquerte den Wald, pfiff schrill und rief immer wieder: »Bläff! Bläff! Komm her! Bläff, komm her!« Endlich vernahm er ein heiseres Bellen. Es klang so fremd, so ängstlich, so ganz anders als das Gekläff, mit dem Bläff ihn zu begrüßen pflegte, wenn er von der Jagd heimkehrte. Peter ahnte drohende Gefahr. Von Angst gehetzt stürmte er dahin, dem Gekläff nach.

Bis zu den Knöcheln im Moor des Waldbodens versinkend, arbeitete er sich mit seinem Speer von einem liegenden Baumstamm zum anderen. Da – was war das? Ein markerschütternder Schrei zerriß die schwüle Luft des Urwalds – es war kein Wort, es war ein gellender Hilferuf! Dann aber klang es deutlich herüber: »Pe-ter Pe-ter!« Springend und stolpernd erreichte er die Lichtung, wo er vor Jahren die ersten Holzbirnen gefunden hatte. Da sah er hoch oben in der Baumkrone eines wilden Birnbaumes Eva auf einem dünnen Ast stehen, der sich unter ihrer Last bog. Mit gestreckten Armen hing sie am Geäst, und in bedrohlicher Nähe löste sich die Gestalt eines Bären vom Stamm. Vermochte das schwere Tier Eva auch nicht zu erreichen, es mußte sie zum Absturz bringen, wenn es ihm gelang, den Ast niederzubiegen oder zu knicken.

Da sprang Peter vor mit dem Ruf: »Eva, halt dich fest!« Weit ausholend schleuderte er den wuchtigen Speer. Die spitze Waffe drang zwar dem Raubtier in die Weichteile, glitt aber im nächsten Augenblick, der eigenen Schwere folgend, zu Boden. Der verwundete Bär brüllte auf und fiel seitlich ins Gras. Während Peter nach seinem Speer griff, erhob sich auch sein Gegner auf die Hinterpranken und warf sich auf ihn. Das Messer in der Faust, jeden Muskel seines gedrungenen Körpers gespannt, rang Peter verzweifelt mit dem Bären. Im nächsten Augenblick saß eine Klinge zwischen den Rippen des Raubtieres, das im Fall den Jäger unter seiner Körperlast zu Boden drückte. Die Fangzähne des zu Tode Verwundeten drangen durch das Fellkleid in die Brustmuskeln seines Gegners, während sich die Krallen der Vordertatzen ins Fleisch seiner Oberarme bohrten. Peters Rechte löste sich vom Messergriff und sank schlaff herab. Die Augen starr emporgerichtet, schaute er zur Baumkrone auf. Er suchte Eva. Da sah er die schlanke Gestalt niedergleiten, von Ast zu Ast, das blasse Gesicht umweht vom fliegenden Haar. Gleich darauf fühlte Peter, daß der schwere Leib des Bären sich von ihm abwälzte. Eva bohrte die lange Speerspitze tief in die Brust des Braunen, der sich vergeblich gegen sie zu wenden versuchte.

Erst als das Leben des Bären entwichen war, ließen Evas Hände den Speerschaft los. Peter lag regungslos; Blut quoll ruhig, aber stetig aus seinen Wunden und sickerte ins Moos. Mit bebenden Händen durchsuchte Eva Peters Gürteltaschen: Sie räumte sein Schlagfeuerzeug heraus, grobe Hornsteinsplitter und einen Funkenstein, eingewickelt in einen handtellergroßen Lappen Feuerschwamm. Den zerzupfte sie und drückte die Läppchen zwischen die Ränder der einzelnen Wunden. Das Blut hörte auf zu fließen. Matt lächelnd schaute der Verwundete dem Mädchen ins Gesicht. Was er mit goldenem Geschmeide hatte erreichen wollen, das war ihm in höchster Lebensgefahr geworden: Eva war ihm wieder gut! – Mit diesem Gedanken schlummerte Peter ein. Und Eva schob ihm sachte einen Armvoll Gras unter den Nacken und ließ ihn schlafen. Ehe sie wegging, um aus ihrer Pfahlhütte Verbandzeug zu holen, zündete sie ein Schutzfeuer an und befahl beiden Hunden, bei ihm zu bleiben.

Bald kehrte sie zurück, bestrich weichgeklopften Buchenschwamm mit frischem Fichtenharz und legte die Lappen auf die Wunden. Dann stellte sie einen mitgebrachten Napf Milch auf drei Steine, machte Feuer darunter, rührte Schwadenschrot ein, kauerte sich zu Häupten des Schlafenden und lauschte seinen ruhigen Atemzügen. Als Eva den Breitopf vom Feuer nahm, ließen die Hunde vom Bären ab, an dessen Blut sie geleckt hatten, und setzten sich erwartungsvoll zu ihr. Eva aß langsam und achtete nicht auf die bettelnden Blicke der beiden. Als nur noch wenig vom Brei übrig war, ging Bläff die Geduld aus, laut kläffend verlangte sie ihren Teil am Mahle. Da schlug Peter die Augen auf und bat um Wasser. Eva schüttete den Rest ihres Breies den Hunden ins Gras, lief mit dem Napf zum Moorbachfall und brachte Wasser. Peter trank gierig und versuchte aufzustehen. Nur mit Evas Hilfe gelang es ihm. Von ihr um die Hüfte gefaßt, legte er schwankend den Weg zum Floß zurück. Und als sie ihn in seiner Wohnstube zu Bett gebracht hatte, fiel er in den tiefen Schlaf der Erschöpfung.

Versöhnung

Als Peter erwachte, fand er sich auf seinem gewohnten Lager, bis zum Hals zugedeckt mit einer Bastmatte, die mit weichem Rehfell gefüttert und am Rande sauber umnäht war. Schwer lag sein Kopf auf einem Polster aus zusammengenähten Buchenschwammlappen. Das Morgenlicht fiel durch die offene Fensterluke in seine Stube, die ihm heute viel geräumiger erschien als sonst. Leuchtende Sonnenstäubchen tanzten im schrägen Strahlenbündel. Im warmen Lichtfleck auf dem Fußboden schlief die alte Einäugel und zuckte mit den Pfoten. Sie träumte wohl von fröhlicher Jagd. Mitten in der Stube lag Schnapp und nagte am Knorpelkopf eines Röhrenknochens.

Langsam ließ Peter seine Blicke durch den Raum schweifen. Der Lehmboden war reingefegt, das Durcheinander seines Allerleis, über das er sonst ungerührt stolperte, war verschwunden. Hölzer, Steine, Metallklumpen, Scherben und Knochen lagen, Gleiches bei Gleichem, zu Haufen geordnet, an der Wand. Neben seinem Lager stand ein großer, rostfarbig glasierter Napf; und in der Ecke am Fußende seines Lagers lehnte sein Jagdgerät.

Eva hatte hier aufgeräumt wie einst in der Wohnhöhle. Wo war sie? Er versuchte, sich auf den Ellbogen aufzurichten. Ein qualvolles Zerren und Spannen in den Oberarm- und Brustmuskeln ließ ihn stöhnend zurücksinken. Er war ja verwundet. Ja – der Bär hatte ihn unter sich gehabt. Da schob er trotz der Schmerzen, die ihm jede Bewegung verursachte, die Bastmatte von seiner Brust. Und da fand er sie beklebt mit Lappen aus Buchenschwamm, die nach Fichtenharz dufteten. Matt schloß er die Augen und lauschte dem leisen Schlag der Wellen, die ein sanfter Wind gegen die Pfähle der Hütte trieb. Wie hatte Eva ihn nur heimgeschafft? Seine Gedanken verwirrten sich, er schlief wieder ein, und im Traume sah er sie hochaufgerichtet am Vorderende des Floßes stehen und fühlte sich sanft gewiegt vom ab und auf wippenden Floß.

In Wirklichkeit kniete Eva am Kopfende seines Lagers. Mit angehaltenem Atem hatte sie das Erwachen und Wiedereinschlummern des Verwundeten beobachtet. Jetzt schlich sie auf den Zehenspitzen aus dem Raum, melkte die Ziege und näherte sich wieder dem Lager des Kranken. Lautlos stellte sie die Milchschüssel auf den Boden und kniete am Kopfende nieder. Erst wollte sie abwarten, bis Peter wieder erwachte, als er aber im Schlaf unruhig wurde und, mit schwerer Zunge lallend, angstvoll ihren Namen rief, da beugte sie sich über ihn und strich ihm die langen schwarzen Haare aus der Stirn. Ein Zittern lief über den Körper des Schlafenden, seine Augenlider flatterten, als wollten sie sich öffnen, dann wurde er wieder ruhig. Geduldig kauerte Eva neben dem Lager des Träumenden. An der Genesung des Verwundeten zweifelte sie nicht. Als sie eine Fliege verjagte, die sich auf Peters Stirn niedergelassen hatte, versuchte er von neuem, die Augen zu öffnen. Es gelang. Sein Blick fiel auf Eva, die errötend und lächelnd vor ihm stand. »Eva, bis du’s?« begann er zu flüstern, »jetzt ist alles gut!« Da sagte sie leise: »Ja, Peter, alles ist gut, und ich bin dir auch gut.« Sie umklammerte seine Rechte mit beiden Händen und fuhr eindringlich fort: »Verzeih du mir, ich verzeihe dir alles, alles, und nichts mehr soll zwischen uns kommen; was mein ist, sei dein, was dein ist, sei mein. Ich danke dir mein Leben, und du dankst mir dein Leben. Wir sind die einzigen Menschen im Heimlichen Grund, und wir wollen einander liebhaben bis zum Tode. Hörst du, bis zum Tode!« Große Tränen rollten über Peters Wangen in den weichen, dunklen Bart. Er preßte ihre Finger und sprach nach: »Ja, bis zum Tode.«

Müde schloß er die Augen. Sie aber zog die Milchschale heran, schob ihren linken Arm um Peters Nacken, hob seinen Kopf und führte mit der Rechten vorsichtig den bis zum Rand gefüllten Löffel an seine Lippen. Er schlürfte die noch laue Milch. In Evas Art, ihn zu betreuen, lag so viel mütterliche Zartheit und Strenge, daß er dankbar nachgab.

Als Peter satt die Lippen schloß und Eva den müde gewordenen Arm unter seinem Nacken hervorzog, sank er in tiefen Schlaf und träumte seit vielen, vielen Jahren zum erstenmal wieder von seiner Mutter. Wie seltsam, daß sie Evas Züge trug! Leise schlich seine Pflegerin aus der Stube, frisches Futter für die Scheckin zu holen.

Als sie wieder eintrat, fand sie Peter bewußtlos neben der Falltür in der Mitte der Stube. Bei ihrem Versuch, ihn aufzurichten, kam er zu sich und verlangte heftig, sie solle gehen, fort, fort, und den Bären suchen, der ihm die Kraft aus dem Leibe genommen hatte. Das Herz des Bären wolle er haben, essen wolle er es; darin waren ja die Kräfte des starken Feindes.

Eva, die den Aberglauben des Verwundeten teilte, beeilte sich, seinen Wunsch zu erfüllen. Aber erst nachdem sie Peter zu Bett gebracht hatte, konnte sie den Pfahlbau verlassen. Es kostete sie schwere Mühe, das dicke Fell des Bären zu schlitzen und seinem Brustkorb das Herz und die Lunge zu entnehmen. Das Abhäuten mußte sie auf den nächsten Tag verschieben. Während sie über die abendliche, mattleuchtende Fläche des Moorsees heimwärtsfuhr, war ein großer Jubel in ihr. Sie brachte ja das Heilmittel, das Peter seine Kraft zurückgeben sollte. Und sie überlegte, wie sie das Herz des Bären feingeschnitten mit Gundelkraut, wildem Kümmel, Salz und Schwadenkornschrot zubereiten und in duftender Tunke ihm vorsetzen wollte.

Als sie mit der Ampel an Peters Lager trat, schien er sie gar nicht zu sehen. Seine glänzenden Augen schauten an ihr vorbei, seine Wangen glühten, und seine Lippen murmelten Unverständliches. Während Eva das Bärenherz zubereitete, suchte ihre angstgepeinigte Seele Zuflucht bei der Ahnl und beim Allmächtigen.

Als sie mit dem Essen an Peters Lager trat, kehrte sein Bewußtsein zurück. Während er noch am ersten Bissen kaute, mahnte er: »Iß auch du, Everl, und gib der Einäugel was und auch dem Schnapp. Wir alle brauchen es.« Dann wurde er still und schlief lächelnd ein. Evas Nähe tat ihm wohl.

Sie wachte die ganze Nacht am Lager des Kranken. Und während sie seinen gleichmäßigen Atemzügen lauschte, erstarkte ihre Zuversicht, daß er in ihrer Obhut gesunden werde. Auf die stillen Wochen, in denen der Genesende ihrer Fürsorge bedurfte, baute sie die Hoffnung, daß es ihr gelingen werde, ihn so zu machen, wie sie ihn haben wollte.

Und dann, wenn er gesund war, wollte sie ihn ins Heiligtum ihrer alten Wohnhöhle führen. Dort wollte sie vor Gott feierlich das Gelöbnis wiederholen, das sie beide nicht mehr vergessen sollten: »Wir wollen einander gut sein bis zum Tode.«

Flechtnadel

Erst am dritten Tag war Eva mit dem Grundgeflecht ihres Lendenschurzes fertig. Es war leider nicht sehr dicht geworden; dem half die Weberin ab, indem sie breite Baststrähnen durch das Geflecht zog. Es war ein richtiger Rock geworden, der bis unter die Knie reichte, wo jeder Bastfaden mit einem Knoten abschloß. Als Eva ihr neues Kleidungsstück zum erstenmal anlegte, scheuerten die Knoten so stark, daß sie diese mit einem Stein flach- und weichklopfen mußte.

In der Höhle, in die sie sich vor einem Platzregen geflüchtet hatte, trug sie wieder ihren alten Fellschurz, dessen Haarseite fast kahl war.

Auch Peter mußte etwas Frohes erlebt haben. Mit vergnügtem Gesicht kehrte er im strömenden Regen heim und rief, als ob kein Verdruß zwischen ihnen stünde: »Everl, ich bring‘ dir was Gutes!« Bei der Erinnerung an das, was Peter im Frühling unter »etwas Gutes« verstand, erwiderte sie: »Behalt’s, ich mag’s nicht!« und ging in ihre Schlafkammer hinauf. Einschlafen konnte sie lange nicht. Sie hörte Peter am Herdfeuer herumstochern, Reiser knicken und auflegen; bald roch sie einen eigenartigen Bratenduft, den sie nicht kannte.

Aber ihr Eigensinn war stärker als ihre Neugierde. In Gedanken beschäftigte sie sich mit ihrer nächsten Aufgabe: Der Schultermantel mußte besser werden als der Rock. Sie dachte an die Schwierigkeit, die Querfäden mit den Fingern abwechselnd unter und über den Längsfäden durchzubringen. Und dann fiel ihr ein: Wenn ich den Faden durch eine Nadel zöge? Ließe er sich nicht leichter durchschieben als mit den bloßen Fingern? Im Halbschlaf träumte sie, sie säße vor der begonnenen Arbeit am Sonnstein. Plötzlich fand sie sich an einer verlassenen Feuerstelle mit einem leicht angekohlten Zweigstück in der Hand, das sie an einem Granitbrocken zu einer fingerlangen flachen Nadel zurechtschliff und mit einem Hartsteinbohrer durchlochte.

Dann schlief sie tief und traumlos bis zum Morgen. Frühzeitig strebte sie ihrem Werkplatz zu. Unterwegs fand sie an einer verlassenen Feuerstelle zu ihrer großen Verwunderung ein Zweigstück, das dem im Traume geschauten glich. Sie schliff und bohrte, bis die lange Webnadel fertig war, wie sie sich’s hatte träumen lassen.

Um die Längsfäden zu spannen, band sie nicht mehr Steine daran, das dauerte viel zu lange. Sie ersetzte sie durch länglichrund geformte Lehmgewichte, die sie an einem Ende durchlochte und in der Sonne trocknete. Am nächsten Tag war es soweit, mühelos ließen sich die Lehmklunker an die Fäden binden, und dann begann sie zu arbeiten, sehr hastig, um die verlorene Zeit hereinzubringen. Aber die neuen Fadengewichte waren spröde und zerbrechlich. Zwei davon, die etwas heftig aneinanderschlugen, brachen an der durchlochten Stelle auseinander und mußten doch wieder durch Steine ersetzt werden. Von da an arbeitete Eva sehr behutsam – und es ging. Der durch das Aufwickeln auf die Webnadel kurz gewordene Querfaden ließ sich flink über und unter die Längsfäden führen. Die locker eingelegten Querfäden schob sie mit einem groben Kamm von halber Armlänge zusammen; den hatte sie sich aus einem flachgeschabten Holzstück und daran festgebundenen Querstäben gebastelt.

Eva arbeitete bis zur Dämmerung. Erst hatte sie nur ein Schultermäntelchen machen wollen, jetzt aber war sie dabei, ein ärmelloses Leibchen herzustellen. Es sollte aus zwei Teilen bestehen, die über den Schultern so weit aneinandergenäht wurden, daß der Kopf hindurchging. Auch für die Arme mußten links und rechts breite Schlitze bleiben, unter denen das Vorderteil mit dem Rückenteil zusammengeheftet wurde. Nach zwei Tagen unverdrossener Arbeit war das Gewebe fertig, die Fransen des unteren Randes waren zu einem losen Maschengewebe kreuz und quer verflochten und mit Knoten abgeschlossen. Eva tauchte das Bastleibchen ins Wasser, klopfte dann alle Knoten flach und legte es an, feucht wie es war, zog und zupfte daran, bis es paßte, und überließ es ihrer Körperwärme, das neue Kleidungsstück am Leibe zu trocknen.

Vor lauter Arbeitseifer hatte sie in den letzten Tagen zuwenig gegessen. Von Hunger gepeinigt, redete sie sich ein, es müßten ja nicht gerade Muttertiere sein, die Peter oben briet, und lief quer über das Steinfeld dem Moorbach zu, wo sie Rauch aufsteigen sah. Unterwegs zog sie die verwelkten Blumen aus ihrem Stirnband und ersetzte sie durch große Maßliebchen. Am Moore angelangt, fügte sie weiße, duftende Narzissen hinzu. Es war hoher Mittag, schwer lag die Hitze über dem stillen Grund, kein Vogel ließ sich hören. Eine weiche Stimmung kam über Eva; sie machte sich Vorwürfe, daß sie Peter so schlecht behandelt hatte. Was wäre aus ihr im Winter geworden, wenn sie ihn nicht gehabt hätte? Grob war er ja, war er aber nicht auch gut? Wie er sie wohl aufnehmen würde, wo sie ihn unlängst so schroff abgewiesen hatte?

Am Moorbach aufsteigend, kam sie zu einer Stelle, wo zwei gerade Reihen von Stäben in schräger Richtung von beiden Ufern aus stromaufwärts zur Mitte des Baches führten und einen schmalen Durchlaß bildeten. Die Stabreihen waren mit Weidenruten so durchflochten, daß sich hinter dem Geflecht das Wasser schwach staute. Oberhalb dieser niederen Zäune war das Bachbett von groben Steinen gesäubert und ein kleiner, flacher Tümpel entstanden. Der wurde oben von einem Geflecht begrenzt, das das Bachbett quer absperrte. In diesem Geflecht staken Tannenzweige und beschatteten den Tümpel. Wozu das? Vom würzigen Duft brennender Wacholderzweige verlockt, wandte sie sich vom Bach ab und entdeckte im Schutz eines überhängenden Felsens ein qualmendes Feuer. Davor stand Peter mit einem aufgeschlitzten Fisch in der einen Hand, mit der anderen drückte er Spannhölzchen zwischen die Bauchseiten. Im Rauch hingen an Waldrebenranken eine Anzahl Forellen. Von ihnen ging jener eigentümlich appetitliche Duft aus, den sie sich nicht hatte erklären können.

Eva wartete, ob Peter sich umwenden würde. In seine Arbeit vertieft, sah und hörte er nichts. Als er aufstand, den Fisch salzte und quer durch die Kiemen auf die nächste Rute fädelte, trat Eva leise an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. Erschrocken fuhr er herum. Dann aber rief er freudig erstaunt: »Everl?« Mit einem Blick, der ihre ganze Erscheinung erfaßte, die Blumen im Stirnband, das neue Kleid, die vom Waten im Bach blendend rein gescheuerten Füße, rief er aus: »Schön bist, Everl!« Da packte sie ihn am Handgelenk: »Peterl, sei gut!« Er mußte lachen. Noch immer lachend, holte er eine braungeräucherte Forelle von der Rute herunter und hielt sie ihr hin: »Hast Hunger?« Und während sie den Fisch mit großem Appetit verzehrte, erzählte er von seiner Arbeit der letzten Tage. Auch ihn hatte es schließlich verdrossen, Muttertiere und Kitze oder brütende Vögel zu töten; ihm war es immer gewesen, als sähe er Evas zornige Blicke auf sich gerichtet. Statt dessen hatte er Forellen gefangen. Die schrien nicht auf, wenn er sie erschlug. Aber die Fische zu beschleichen und mit bloßen Händen unter den Steinen hervorzuholen, hatte sich wenig gelohnt. Da war er darauf verfallen, im Bach einen Verhau zu errichten, in den er, stromaufwärts schreitend, die Fische mit Ruten vor sich hertreiben konnte; im seichten, abgesperrten Wasser oberhalb der Reusen, wo sie sich unter dem Zweigdach zusammendrängten, war es dann ein leichtes, sie nacheinander abzufangen. Von einem Vorrat an geräucherten Forellen könnten sie an Regentagen und auch im Winter gut leben, meinte er. Als Eva fertig war, wusch sie ihre Hände mit Holzasche und Wasser, wischte sie am Moos ab und begann, von ihrer Flecht- und Webarbeit zu erzählen.

Sie sah mit Wohlgefallen, daß auch Peter, durch ihr Beispiel veranlaßt, in die Asche griff und seine fetten, rußigen Hände säuberte. Erst als er sie reingespült und im Moos getrocknet hatte, trat er an Eva heran und fuhr mit der Hand über das Bastgewebe. »Bist halt ein findiges, ein geschicktes Dirndl geworden. Ich hätt‘ die Flechterei nicht so schön zusammengebracht.«

Eva war glücklich. Ihr ging es wie ihm. Erst das Lob des anderen macht die Freude über eine Leistung vollständig. Sie wollte auch Peter ein Bastkleid anfertigen, das er wenigstens an Sonntagen anlegen sollte. Für die Wochentage, an denen er schwere und schmutzige Arbeit zu verrichten hatte, mochten seine schäbiggewordenen Fellkleider genügen. Eines Tages würde sie auch ihm ein schöneres Arbeitskleid machen. Ja, das wollte sie tun, Peter durfte nicht wieder verwildern.

Wie vor dem Streit saßen sie beim Abendessen schwatzend im Eingang der unteren Höhle. Staunend hörte Peter, daß Eva auf ihren Streifzügen wiederholt Bären begegnet war, die ihr nichts getan hatten, ihr nicht nachgegangen waren. So war das also: Ihm, dem Verfolger, dem Jäger mißtrauten sie auf Schritt und Tritt, und ihr, die mit den Tieren auf friedlichem Fuß lebte, taten sie nichts, wie merkwürdig … Als Eva in ihre Schlafkammer verschwunden war, kehrte er nachdenklich über das hellbeleuchtete Steinfeld zu seinem Lagerplatz zurück.

Drei Tage später suchte er Eva bei ihrer Weberei am Sonnstein auf. Er brachte ihr gebratene Fische und Kiebitzeier, die er auf dem Moor aufgelesen hatte. Sie arbeitete an einem Bastkleid für ihn. Während sie zeigen wollte, wie flink ihr die Arbeit von der Hand ging, schlugen wieder zwei Lehmklümpchen aneinander und zerbrachen.

Tags darauf brachte er ihr bessere Spanngewichte. Er hatte Schilfhalmstücke genommen und sie mit einem zähen Brei aus Lehmstaub, erhitztem Wachs und Harz umknetet und trocken werden lassen. Nun waren sie steinhart geworden. Jetzt konnte der Faden von unten her durch das Gewicht gezogen werden, das, lang und schmal geformt, wuchtig und unzerbrechlich auf dem Abschlußknoten saß. Eva freute sich, weil Peter sich die Mühe gemacht hatte, ihre Erfindung zu verbessern.

Steinkocherei

Noch vor dem nächsten Sonntag waren Peters Bastrock und Schultermantel fertig; Eva hatte sogar noch zwei geräumige Jagdtaschen geflochten, die an breiten Bändern über die Schultern gehängt werden konnten. Bei seinem Bad im Klammbach am Sonntagmorgen sparte Peter weder mit Asche noch Sand, weder Lehm noch Moos, um sich alle Spuren von Fett, Harz und Ruß vom Leibe zu reiben, ehe er das neue Gewand anzog. Sein mit Federn geschmücktes Stirnband über dem schwarzen Haar, der Leibgurt mit Steinbeil, Köcher und Steinmesser und die neue Jagdtasche vervollständigten seine schmucke Erscheinung. »Sauber schaust aus«, sagte Eva und musterte ihn von allen Seiten. Ehe der Tau verging, brachen die jungen Höhlenmenschen auf.

Nach einem Umweg über die halbe Höhe der Grableiten, wo es neben blühenden Heidelbeeren große rote Feuerlilien, blauen Sturmhut und gelben Berg-Lein gab, stiegen sie zum Grab der Ahnl nieder und legten ihr Blumenopfer darauf. Nach kurzer Andacht überquerten sie das Steinfeld, schritten auf den Gangsteinen über den Klammbach und stiegen im wasserarmen Bett des Moorbachs aufwärts. Wie im Vorjahr fanden sie rundliche Granate, einige davon haselnußgroß. »Laß sie liegen«, meinte Peter, »ich weiß dir schönere Steine drüben in der Moorleiten.«

Die Sonne stand schon hoch über der Grableiten, als sie an Peters Lagerplatz bei den Fischreusen rasteten. Während sie aßen, erblickten sie eine graue, von dunklen Fleckenreihen gezeichnete Viper, die sich auf einem Stein sonnte. Einige Schritte davor suchte eine gelbbraune Waldmaus nach Nahrung. Geschäftig trippelte das niedliche Tier im Moose hin und her, als die Viper geräuschlos näherglitt, den Vorderleib aufstellte, daß die fast schwarze Unterseite sichtbar wurde, und mit erhobenem Kopf die Maus beäugte. Langsam ging der Schlangenkopf zurück, stieß blitzschnell vor, und im nächsten Augenblick zuckte die Maus unter dem Biß der Schlange zusammen. Freigelassen rannte sie ein paar Schritte weiter, ein krampfhaftes Zittern überlief ihren Körper, und dann streckte sie die kurzen Beinchen von sich. Züngelnd glitt die Schlange näher an ihr Opfer, da brach unversehens ein Igel aus dem Bodenlaub der nahen Haselsträucher und faßte die Schlange im Nacken. Wohl peitschte ihr Leib die stacheligen Flanken des Angreifers. Der aber verzehrte sie schmatzend an Ort und Stelle. Seine rote Zunge leckte über das Schnäuzchen.

Mit angehaltenem Atem hatten Peter und Eva die Ereignisse verfolgt und zwei Dinge gelernt: Vor dem todbringenden Biß der Schlange mußten auch sie sich hüten; sie durften selbst im Sommer nicht barfuß herumstreifen. Und an den Igeln hatten sie Bundesgenossen gegen die giftigen Kriechtiere.

In gedrückter Stimmung setzten sie ihre Wanderung fort, ängstlich den Boden musternd, ehe sie einen Schritt vorwärts taten. Wo sie zuvor sorglos dahingeschlendert waren, vermuteten sie jetzt lauernde Schlangen. Am sichersten war es noch, im schmäler werdenden Bachbett aufzusteigen. Als sie den kleinen Wasserfall am Ursprung des Baches erreichten, sahen sie eine Bachstelze; sie stand wippend auf einem sonderbaren Stein. Es war ein Felsbrocken, in dessen Mitte ein dünner Seitenarm des Wasserfalls eine tiefe Mulde ausgewaschen hatte. Darin drehte sich unter dem Druck der Strömung ein faustgroßer, rundgeschliffener Kiesel. Gemeinsam zogen sie den Muldenstein samt dem Drehstein aus dem Bachbett. Eva war entzückt: Das war endlich ein Gefäß, in dem sie etwas Gutes zum Essen bereiten konnte: Kastanienbrei und fette Kräutersuppen, wie die Ahnl sie gekocht hatte!

»Was, den Felsbrocken willst du ins Feuer legen?« rief Peter.

»Ach woher denn! Der wär‘ mir viel zu schwer zum Hin- und Hertragen, ich mach’s mit Wärmsteinen. Ein paar faustgroße Kiesel, im Feuer glühheiß gemacht, leg‘ ich in die Suppe oder in den Brei. Wirst sehn, das geht.«

»Ja, ’s geht«, gab Peter zu, »und schau dir den Drehstein an, wie der sich in die Hand legt … ein schöner Quetscher!«

Eva stimmte vergnügt zu: »Mit dem kann ich im Muldenstein Kastanien zerdrücken und Nußkerne!«

Die glücklichen Finder schwenkten nach links ab ins Glimmerschiefergelände. Peter zeigte auf einen breitklaffenden Riß, eine kleine Höhle, deren Wände mit Kristallen besetzt waren. Wasserhelle, glatte, scharfkantige Kristallstäbchen mit sechskantigen Spitzen saßen da in ganzen Nestern an den Seitenwänden, von der Sonne durchleuchtet. Es waren Bergkristalle, einzelne kurz und dünn wie Grashalme, andere fingerlang und daumendick! Eva klatschte in die Hände. Noch nie hatte sie so viele Kristalle beisammen gesehen. Peter aber zog jetzt seine neuen Pfeile aus dem Köcher und wies auf die als Spitzen eingefügten Kristallsplitter: »Hartsteine sind’s! – Das ist wohl das Beste daran.« Dann setzte er eine Rehkrickelstange, die ihm sonst als Grabwerkzeug diente, an das untere Ende eines Kristalls und schlug mit seinem Steinbeil kräftig auf den Rosenstock des Geweihes. Klingend sprang der abgeprellte Kristall von seinem Muttergestein ab. In Peters Tasche häuften sich bald die Kristalle. Nicht nur wasserhelle Bergkristalle fand er, sondern auch veilchenblaue Amethyste und gelbe Zitrine. Darunter gab es Stücke von der Stärke eines Handgelenks. Was für Werkzeuge ließen sich daraus spalten: Messer, Sägeblätter, Pfeil- und Lanzenspitzen; ja, die stäbchenförmigen Hartsteine waren auch ohne Zurichtung als Bohrer brauchbar!

Peter suchte die Geröllhalde unterhalb des Granits und Glimmerschiefers ab und fand vieles, das zur Verwendung lockte: weiche, grünlichgraue und gelbliche Steine, die wie Talg aussahen und sich mit dem Fingernagel ritzen ließen – es waren Specksteine –, dann wieder grüne, weißgeäderte, harte Serpentine, achtflächige schwarze Kristalle, die im Glimmerschiefer saßen; es waren Magneteisensteine. Im Geröll der Schuttlehne lagen verstreut derbe, halbharte, glanzlose Steine, grün die einen, herrlich blau die anderen. Es waren Kupfererze, Malachit und Kupferlasursteine. Auch die kannte er nicht, nahm sie aber wegen ihres auffallenden Aussehens ebenso mit wie die walnußgroßen, vielkantigen Granate, mit denen er noch nichts anzufangen wußte. Eva, die sammeln half, wünschte, er solle ihr die schönen Steine irgendwie durchlochen, sie wolle sie auffädeln und um den Hals legen. Da mußte er lachen. Er wäre froh gewesen, wenn es ihm endlich gelungen wäre, sein grobes Steinbeil zu durchbohren!

Schweigsam, aber zufrieden mit ihrer Ausbeute, wandten sich die beiden Sammler zum Gehen. Das kühle Rinnsal des Moorbaches, sein klares, trinkbares Wasser, das üppige Grün der Farne an den Uferrändern, die weitüberhängenden Ranken der blaublühenden Alpenrebe, das muntere Treiben der Wasseramseln, all das erquickte sie und machte sie glücklich. Die obersten Zinnen der Salzwände erglühten im Abendrot, als die beiden eine Kristalldruse aufs Grab der Ahnl legten, ein Opfer vom Schönsten, das sie besaßen.

Im Morgengrauen des nächsten Tages schleifte Peter mit Evas Hilfe den Topfstein samt dem Quetscher in einer Rehhaut heim und sammelte unterwegs noch rundliche Bachkiesel dazu. Der dicke Brei, den Eva darin bereitete, war ein gesalzenes Gemengsel von erst gerösteten, dann zerquetschten Kastanien mit Lauch und geräuchertem Speck. So heiß, wie es Peters Hand vertragen konnte, nahm er den Brei aus dem Muldenstein und strich ihn sich mit den Fingern geschickt in den Mund. Was er übrigließ, verdünnte Eva mit Wasser, salzte es und tat allerlei Würzkräuter dazu, legte einen neuen, schieferig geschichteten heißen Kochstein ins kalte Wasser und sah mit Freude, wie es dampfend aufwallte. Der Stein aber zersprang. Jetzt wußte sie, daß sie zu dieser Art Kocherei nur fugenlose Steine verwenden durfte, die nicht so leicht zersprangen. Zum Schöpfen ihrer Kräutersuppe aus dem seichten Topfstein war der Rehschädel ungeeignet. Da kramte sie in Peters Allerlei und fand eine große Walnußschale, aus der sie sich mittels eines quergewickelten Darmfadens und eines Stäbchens den ersten Löffel machte.

Von da an gehörten Brei und Suppe zu den täglichen Gaumenfreuden der Höhlensiedler. Es war oft ein wunderliches, überwürztes Gemengsel, aber es sättigte und wärmte. Mit der Zeit merkte Eva, daß weniger Salz und Würzkräuter dem Gaumen und der Nase wohler taten als zuviel. Als Peter eines Tages einige aufgelesene Schalen der Teichmuschel heimbrachte, erkannte Eva mit einem Blick: Das sind die richtigen Löffel! Sie nahm Schilfhalme, spaltete sie am einen Ende und schob die Muschelschale in den Schlitz. Jetzt waren sie richtig, die Löffel!

Der Feuerbohrer

Eines Tages, es ging auf Mittsommer zu, geschah das Unfaßbare: das Feuer ging aus. Eva hatte vergessen, in der Höhle Holz nachzulegen, und auch Peter war es nicht gelungen, die Glut seines Lagerfeuers zu erhalten. Nach einem schrecklichen Streit schickten sich die Unglückseligen in dumpfer Ergebenheit in den schweren Verlust des Feuers. Zu der Angst vor den Bären gesellte sich die Mückenplage in den rauchlosen Höhlen. Die erzwungene Rückkehr zur rohen Pflanzen- und Tierkost machte Peter und Eva schwer zu schaffen. Es gab kein Bratfleisch mehr, keinen Brei, keine Suppen.

Kein Wort des Vorwurfs fiel mehr, aber auch keines der Versöhnung. Peter taten die harten Worte, die er Eva gegeben hatte, längst leid, er brachte es aber nicht über sich, ihr zu sagen, wie sehr auch er sich schuldig fühlte. Sie kam ihm so ganz anders vor als einst. Jetzt, da er sie stetig beobachtete und auf ein Lächeln wartete, fiel ihm eine Veränderung auf, die sich allmählich an ihr vollzogen hatte: Ihr Gesicht war schmal geworden, ihr Körper hatte sich gestreckt. Mit Unbehagen stellte Peter fest, daß sie um eine Handbreite größer war als er. Auch ihr Gesichtsausdruck erschien ihm anders als sonst, fremder. Es war nicht mehr das Gesicht eines gekränkten Kindes; auf ihren Zügen lag ein Stolz, der ihn zurückstieß. Peter hatte keine Ahnung davon, daß er die entstandene Entfremdung durch seine Art zu leben steigerte. Er sah nicht die verächtlichen Blicke, die ihn streiften, wenn er wie ein Raubtier das blutige Fleisch von den Knochen riß; er sah nicht den Abscheu, den seine schmutzigen Hände mit ihren dunklen Nagelrändern und seine verschmierten Füße erregten. Doch er hatte nicht die Muße, sich Grübeleien hinzugeben. Die nackte Tatsache, daß ihm nicht mehr das qualmende Feuer die Bären vom Halse halten würde, zwang ihn, sich auf unausbleibliche Kämpfe vorzubereiten.

Eine Knorrenkeule versah er mit scharfkantigen Hartsteinsplittern, die er mit Harz und Wachs einkittete. Er nahm alle seine Beile vor, um die stumpfgewordenen Kanten durch Absplittern zu schärfen und locker gewordene Bindungen zu erneuern.

Eines Tages zwang ihn die Dämmerung, die in der Höhle besonders früh eintrat, die Arbeit an den Beilen einzustellen. Statt dessen zerschlug er Hartsteinknollen, um scharfkantige Faustkeile zu erhalten. Bei jedem Schlag bemerkte er an den Schlagflächen der Steine ein Flimmern, das ihm nie aufgefallen war, wenn er tagsüber oder im Schein des Feuers Hartsteine bearbeitet hatte. Ein Erinnerungsbild stieg in ihm auf: der Ähnl, der immer einen grauen Hartstein bei sich getragen und aus dessen Kanten mit Hilfe eines harten Bügels Funken geschlagen hatte. Und die Funken hatte er mit »Zundel« aufgefangen, mit »Zundel« aus Buchenschwamm. Die harte Rinde hatte er weggehackt … das braune Mark des Schwammes auf einen flachen Stein gelegt … mit einem Holzschlegel darauf herumgeklopft, bis daraus ein dünner, weicher, lederartiger Lappen geworden war …

Peter warf die Hartsteine ins Allerlei und verließ die Höhle. An der alten Buche auf dem Fuchsenbühel wußte er einen erreichbaren Holzschwamm, der eine halbe Armlänge breit war. Den schlug er vom morschen Stamm und brachte ihn heim. Das Abschälen aber schien fast unmöglich; selbst die schärfsten Steinbeile versagten, prallten von der harten, federnden Rinde ab. Es wurde dunkler. Da riß Peter, zornig und ungeduldig, einen fast kopfgroßen Steinbrocken aus der Höhlenvermauerung und hämmerte damit wie besessen auf den Buchenschwamm ein, bis ihm der Schweiß von der Stirn rann. Der Schwamm wurde rissig und nach und nach polsterig weich.

Eva kam neugierig herab: »Was machst du denn?« – »Zundelschlagen wie der Ähnl.« Und schon zupfte er vom Pilzklumpen ein zwei Finger breites Läppchen los, legte einen Hornsteinsplitter darauf und begann dessen Kante mit einem Jaspisknollen zu schlagen. Beide sahen das schwache Leuchten an den Schlagstellen, ein eigenartig brenzliger Geruch wie von angebrannten Haaren stieg ihnen in die Nase, ja, einmal behauptete Peter sogar, er habe einen wirklichen Funken herausspringen sehen – aber alles Schlagen blieb vergeblich, der Zundel wollte nicht glimmen. Erschöpft und hungrig verkroch sich der Entmutigte in seiner Schlafgrube.

Eva hielt die Steine an ihre Nase: Ja, sie rochen brenzlig! Sinnend betastete sie den stellenweise so wohlig weichen Pilzknollen. War er auch als Zunder nicht brauchbar, sie wollte ihn noch weicher klopfen und im Winter als warme Einlage in ihren Schuhen tragen. Und außerdem – vielleicht gelang ihr, was Peter nicht gelungen war? Fest klemmte sie den Hornstein mit dem untergelegten Zunder zwischen Daumen und Zeigefinger der Linken, faßte mit der Rechten einen scharfen Jaspissplitter und begann damit zu schlagen. Schon beim ersten Hieb hatte sie den zu weit vorgeschobenen Daumen angeschnitten. Das Blut tropfte auf den Rand des Feuerschwamms und wurde von ihm gierig aufgesogen. Da umwickelte sie den verwundeten Daumen mit dem Buchenschwammlappen, und die Blutung hörte auf. Das Feuerschlagen hatte sie versucht, und ein blutstillendes Mittel hatte sie gefunden! Eva ertastete im Finstern eine Handvoll roher Kastanien und nahm sie mit in ihre Kammer.

Die Angst vor einem Winter ohne Feuer machte die Höhlenkinder ernst. An einem regnerischen Tage besserte Peter an seinen Waffen herum, zerschlug große Bergkristalle und Zitrine und erhielt nicht nur eine Anzahl sehr scharfer Pfeilspitzen, sondern auch zwei lange, dünne, haarscharfe Splitter, die ihn durch ihre Gestalt zu einer besonderen Verwendung anregten. Den einen, dessen Kante splitterig war, versah er mit weiteren Kerben und schattete ihn mit der Rückenkante der Länge nach in ein daumendickes Stück Waldrebe, das beim Austrocknen einen Längsriß erhalten hatte. Mit der so gewonnenen Säge schnitt er, nur um ihre Leistungsfähigkeit zu prüfen, nicht ohne Mühe eine Zinke von dem im Vorjahr gefundenen Hirschgeweih ab. Da das innere Knochengewebe des handlichen »Hirschhorns« im Vergleich zur harten Außenseite auffallend locker war, ließ es sich leicht bohren, und das neue Stück bot sich förmlich zur Schäftung des zweiten Splitters an, der als Messer verwendbar war. Mit warmgeknetetem Wachsharz, das beim Erkalten hart wurde, sorgfältig eingepicht, saß die Messerklinge im Hirschhornschaft fest. Peter hatte an den neuen Geräten so viel Freude, daß er damit zu Eva eilte, er wollte ihr Lob haben. Aber die Art, wie sie die gelungenen Werkzeuge nach einem flüchtigen Blick zurückgab, hatte etwas Demütigendes, er kam sich wie ein abgewiesener Bettler vor.

Ein feuchter Serpentinbrocken, der sich mit dem Schlagstein über Erwarten gut bearbeiten ließ, machte ihn den Verdruß vergessen; vielleicht gelang es ihm, daraus ein durchlochtes Beil herzustellen!

Der Hunger zwang Peter, die Arbeit in der Höhle zu unterbrechen und auf Jagd zu gehen. Wie gewohnt, umwickelte er beim Herumstreifen den schußbereiten Pfeil der Länge nach straff mit der Sehne und umklammerte ihn mit der Hand, während er den Bogen rechts geschultert trug. Die Entdeckung, daß die gespannte Sehne, sobald er den Griff der Hand lockerte, den Pfeil in drehende Bewegung versetzte, brachte ihn auf einen neuen Gedanken: Wenn er den quer zum Bogen gestellten Pfeil mit der Sehne umwickelte und seine Steinspitze als Bohrer auf Holz oder Stein stützte, während er das untere Ende niederdrückte und so den Bohrer in der senkrechten Lage erhielt? Dann mußte sich der Pfeil durch Hin- und Herziehen des Bogens immer rascher drehen lassen, oder nicht? Der Versuch gelang! Nach drei Tagen hatte er das Serpentinbeil so weit bearbeitet, daß er mit dem Bohren des Schaftloches beginnen konnte. Aber die neue Bohrvorrichtung bewährte sich erst, nachdem Peter den Stein, aus dem das Beil werden sollte, in einer Vertiefung des Lehmbodens festgelegt und dem Bohrer zwischen gegabelten Stäben eine Führung gegeben hatte. Aber so schnell, wie Peter gehofft hatte, ging’s auch nicht. Die schräg im Boden steckenden Führungsstäbe gaben bald nach, er mußte sie tiefer eintreiben; dann zersprang die Bogensaite und mußte erneuert werden. Die Linke mit dem schalenförmig vertieften Speckstein als Druck am oberen Ende des Bohrpfeiles, die Rechte am Bogen, hockte Peter denkbar unbequem auf der Erde und drillte unverdrossen so lange fort, bis er einen Wadenkrampf hatte.

»Eva, sei so gut, lös mich ab!« Ungewohnt klang das.

Wortlos nahm sie seine Arbeit auf.

Und er reckte die steifgewordenen Glieder, griff nach seinem Jagdzeug und ging.

Eva hielt die Arbeit in der Weise, wie Peter sie betrieben hatte, nicht lange aus. Der Bohrer lief erst kreischend, dann leise quietschend im Bohrloch. Nein, so kam nicht viel dabei heraus! Sie sah den Bohrer genau an und fand, daß der Bohrstein in den Schaft geglitten war und ihn gesprengt hatte. Eva mußte sich einen neuen Bohrer richten und verwendete dazu einen hartgetrockneten Holunderstab. Um dem Beilstein mehr Halt zu geben, verkeilte sie ihn im Riß eines Holzstrunks. Da sie keinen Bohrstein fand, der genau in das Markloch des Bohrstabs gepaßt hätte, streute sie scharfkantige, winzige Quarzsplitter unter den Bohrstab. Um beide Hände zur Führung des Bogens freizubekommen, preßte sie den Druckstein mit den Zähnen gegen den Bohrstab. Und nun begann sie zu drillen, es knirschte hart, ein Beweis, daß die Quarzsplitter gut eingriffen. Dabei spürte sie das Prellen des holprig arbeitenden Bohrers so stark, daß ihr der Kopf brummte. Sie ersetzte den Druckstein durch ein Stück Holz, an dem ein Astloch rundherum vernarbt war. Ihre Zähne griffen in die Holzfasern, und die Vertiefung im Astloch nahm das Stabende auf. Im Eifer der Arbeit schwand ihr Zorn auf Peter. Der sollte staunen! Schneller und schneller drillte sie den Bohrer in den Beilstein. In heftigem Atem bewegten sich ihre Nasenflügel. Da – was war das? Ein feiner Rauchgeruch stieg ihr in die Nase, und vor ihren Augen kräuselte sich ein blaues Fädchen in die Luft: Holzrauch. Holzrauch!

Ihre Blicke irrten durch die Höhle. Plötzlich sprang die durchgeriebene Bogensaite, erschrocken ließ Eva das Druckholz aus den Zähnen fallen. Da sah sie, daß der zarte, blaue Rauchfaden aus dem geschwärzten Loch des Druckholzes stieg. Sie drehte es um, beroch das von der Reibung angekohlte Grübchen, betastete es: Es war heiß! Ein Freudenschauer lief durch ihren Körper. Mit dem angekohlten Holzstück sprang sie hinauf in ihre Kammer, legte es vor die Ahnenbilder und warf sich auf die Knie. Sie bat Gott und die guten Geister, ihr einen Gedanken einzugeben, wie sie dem Brandgrübchen das Feuer entnehmen könnte. Lange lag sie auf den Knien. Dann kehrte sie in die untere Höhle zurück. Sie suchte nach etwas Zartem, leicht Brennbarem, das sich zum Auffangen der Glut verwenden ließe. Ihr Blick fiel auf den Buchenschwamm, den sie vor einer Woche zu einem weichen braunen Lappen geklopft hatte und der jetzt ganz trocken war und als Zunder dienen konnte. Sie versah den Bogen mit einer neuen Saite, drehte sie um den Bohrstab, stemmte den Bohrer gegen das Grübchen im trockenen Holzklotz und umklammerte diesen mit den Fußsohlen. Dann preßte sie mit der Linken eine Specksteinschale gegen das obere Ende des Bohrstabes, faßte den Bogen kräftig mit der Rechten und mühte sich voll Zuversicht, das Feuer zu erbohren.

Sooft ein dünnes Rauchwölkchen aufstieg, beeilte sie sich, die Glut, die sie im Bohrloch vermutete, mit dem Zunder aufzunehmen. Nach einigen vergeblichen Versuchen kam sie darauf, daß sie erst eine starke Rauchentwicklung abwarten, den Zunder sachte niederdrücken und gleich anblasen mußte. Zitternd vor Freude legte sie endlich den glimmenden Feuerschwamm an trockenes Torfmoos und fächelte die Glut mit einem Entenflügel. Flämmchen züngelten auf! Sie entzündete daran ein Wacholderreis, legte den Brand zwischen die kalten Herdmauern, tat Reisig darauf, und bald loderte ein helles Feuer.

Dann suchte sie die Fleischbrocken, die noch von Peters letzter Mahlzeit übrig waren, salzte und würzte sie, steckte sie der Reihe nach an einen grünen Stab und begann diesen Bratspieß über dem Feuer zu drehen. Nach getaner Arbeit kauerte sie im Lichtkreis des Feuers und genoß seine wohlige Wärme. Darüber wurde es Abend.

Vom unerwarteten Feuerschein angelockt, hastete Peter heim. Als er den Steigbaum emporeilte, roch er den Duft von Rauch und Bratfleisch. Mit offenem Munde, die Augen weit aufgerissen, blieb er am Eingang der Höhle stehen. Seine Beute – drei junge Holztauben – ließ er sprachlos zu Boden fallen. Eva weidete sich an seinem Staunen. Als er sich endlich soweit gefaßt hatte, daß er fragen konnte: »Ja sag, wie ist das gekommen?« gab sie ihm die geheimnisvolle Auskunft: »Mit dem Feuerbohrer hab‘ ich’s erbohrt und aus dem Bohrloch genommen. Gott und die guten Geister haben mir das so eingegeben.« Gott und die guten Geister! Mit einer an Ehrfurcht grenzenden Scheu sah Peter zu, wie Eva dem Feuer glimmendes Holz entnahm, es in den Feuerkorb tat, mit trockenem Moderholz zudeckte und den Glutkorb in ihre Kammer hinauftrug, wo sie ihn unter die Ahnenbilder stellte. Peter folgte ihr schweigend.

Was in der kurzen feuerlosen Zeit an Angst vor Kälte und Not in seiner Seele gewesen war, fiel von ihm ab. Der Feuerbohrer sicherte den Höhlensiedlern für alle Zeit ein behagliches, mückenfreies Heim, Bratfleisch und – den täglichen warmen Brei. An Stelle des Feuers, dem vom Blitz entzündeten Baum entnommen und dann mit viel Aufwand an Holz und Mühe genährt, diente ihnen nun ein Werkzeug, das sie selbst erdacht hatten: der Feuerbohrer!

Das Sonnenbild

Mit einem neuen, von Eva geflochtenen Feuerkorb ausgerüstet, bezog Peter wieder seinen Fischplatz und fuhr fort, den Vorrat an geräucherten Forellen zu mehren, während Eva Beerenobst zur Breibereitung und zum Dörren eintrug. Regentage verbrachte sie meist in der unteren Höhle, wo sie webte. Weil sie keinen Baum hatte, an dessen Ast sie die Längsfäden hätte aufreihen können, stellte sie sich einen plumpen Webrahmen auf. Er bestand aus einem Holzklotz, den sie an seinen Enden mit dem Holunderstab und untergelegten Steinsplittern angebohrt hatte, und aus zwei in die Bohrlöcher eingelassenen, oben gegabelten Stäben, die den Tragstab hielten. An diesem hingen die einzelnen Längsfäden mit ihren Spanngewichten. Es war ein klobiges Webgerät, aber es tat seinen Dienst. Dauerte das Regenwetter allzu lange, dann verließ Peter seinen Fischplatz und stellte sich in der Höhle ein, um an seinem Beil weiterzubohren. Draußen regnete es in Strömen, in der Höhle aber ging vom Feuer eine wohlige Wärme aus, während das gleichmäßige Schnurren des Drillbohrers und das leise Aneinanderschlagen der Webgewichte die Stille in der Werkstätte belebten. Die beiden aufeinander angewiesenen Menschen teilten sich in die Arbeit; jeder machte das, wozu er besonders taugte. So war es auch in ihrem Denken: Peter dachte an gute Jagd, an Vorräte von Fleisch und Fellen, die er beschaffen wollte. Eva stellte sich vor, wie sie das Heim einrichten, wie sie gutschließende Kleider herstellen könnte, die vor Nässe und Kälte, vor Mückenstich und Sonnenbrand schützen sollten.

Mußte sie Gott nicht Dank dafür sagen, daß er ihr geholfen hatte, den Feuerbohrer zu erfinden?

Sie grübelte darüber nach, wie sie sich der tröstlichen Nähe Gottes versichern könnte. Sie suchte nach einem Sinnbild des erahnten Allmächtigen, das seine Kraft und Güte veranschaulichen sollte. Und sie fand nichts Mächtigeres als die Sonne, nichts, von dem Leben und Gedeihen so sichtbar abhing wie von der Sonne. Licht spendete sie und belebende Wärme; wenn sie entschwand, kam das Dunkel, kam die Kälte.

Sie traute es Peter zu, dieses Bild zu schaffen, das ihre Gedanken emporheben sollte aus den Kleinlichkeiten des Alltags.

*

Der Regen hörte auf, es wurde warm und schön. Überall um den Fuchsenbühel sprossen gruppenweise Milchreizker, die für Peter und Eva schon roh genossen Leckerbissen waren. Diese Pilze, mit Mehl- und Elsbeeren, mit Markfett, Kümmel und Salz gemischt, ergaben eine kräftige, wohlschmeckende Suppe. Die Sonne war an der Henne, dem Markstein der Tagundnachtgleiche, vorbeigekommen und näherte sich beim Untergehen mehr und mehr dem Winterhorn: die Tage wurden kürzer, und die Wälder und Hänge des Heimlichen Grunds flammten in vielfarbiger Pracht.

Die Kastanien-, Nuß- und Birnenernte brachte reichen Ertrag. Eva hatte auch einen großen Vorrat an Schwarzwurzeln und Lauchzwiebeln in Sand eingelegt. In großen Büscheln hingen am Gestänge des Trockenbodens die Würzkräuter: Wildkümmel, Wacholder, Gundelkraut. Es kamen die Dauerregen des Spätherbstes und nach ihnen die Schneestürme.

Mit Eifer und Begeisterung ging Peter nun daran, ein Abbild der Sonne zu schaffen. An der Längswand von Evas Kammer, ihrem Lager gegenüber, baute er aus großen Quadern und Lehm zwei Säulen bis zur Höhe seiner Hüfte auf; darüber legte er eine große, längliche Sandsteinplatte, die er auf die gleiche Breite von zwei Handspannen zugehauen hatte. Dann setzte er die Säulen fort bis zur Höhe seines Scheitels, wo er sie mit zwei Mergelplatten dachartig abschloß.

So waren zwei Nischen entstanden. In die untere stellte er einen fast würfelförmigen Steinblock, der ein Glutbecken tragen sollte. Evas Glaube, daß die wärmespendende Sonne eine Dienerin Gottes sei, ließ Peter auch das Feuer, das zur Winterszeit die Höhlen wärmte, als einen Diener Gottes empfinden. Hatte er doch selbst gesehen, wie es vom Himmel niedergefahren war!

Die Stirnwand der oberen Nische war für das Bild der aufgehenden Sonne bestimmt, vor dem er die Ahnenbilder aufstellen wollte. Das Schwierigste war die Herstellung des Sonnenbildes. Leuchten sollte es trotz der Dämmerung des Raumes. Da genügte nicht das Gelb des lehmigen Ockers und nicht das Rot des Rötels. Blinkende Steinsplitter sollten es sein, die er an der Felswand festkleben wollte. Mit einem Faustkeil aus Hartstein zerschlug er gelbe Zitrine, wasserhelle Bergkristalle, veilchenblaue Amethyste, dunkelrote Granate und grüne Serpentine. Himmelblaue und saftgrüne Kupfererze, deren Wesen und Namen er nicht kannte, die er aber um ihrer schönen Farben willen gesammelt hatte, zerkleinerte er zu fingernagelgroßen Splittern und bereitete aus Lehmstaub, Wachs und angewärmtem Harz einen Brei, mit dem er sie festkleben wollte. Aber der Kitt haftete nicht an der feuchten Felswand. Peter wußte sich auch da zu helfen. Ein dünnes Geflecht aus Reisern, deren Enden zwischen den Säulen und der Wand eingeklemmt wurden, ergab eine rauhe Fläche, in deren Lücken das Klebmittel haften mußte. Mit dem Schulterblatt eines Hasen strich er die vorgewärmte Harzwachsschicht glatt und begann bedächtig, die farbigen Steine einzusetzen. Da sie in kaltem Zustand nicht haften wollten, wärmte er Splitter für Splitter in der heißen Asche vor und drückte sie tief in den Kitt.

Erst setzte er grüne Malachit- und Serpentinsplitter ein, bis eine dunkelgrüne Fläche belegt war, die nach oben in grobe Zacken auslief und bewaldete Berge darstellte. Dann kamen kahle Hochgipfel aus braunem Jaspis und darüber schimmernde Eiskuppen aus Bergkristall. Und von einem der Gipfel überschnitten, der steilaufragend an den Sommerspitz erinnerte, entstand der Feuerball aus Zitrin- und Granatsplittern: eine gelbrote Sonne, von der Strahlenbündel ausgingen. Den Himmelsraum zwischen Strahlenbündeln und Umrissen der Eisgipfel säumten Splitter von Kupferlasur, von dessen ruhigem Blau sich leuchtend das Tagesgestirn abhob. Als das letzte Steinchen eingesetzt war und der Kitt sich gefestigt hatte, stellte Peter die Ahnenbilder vor das Bild der Sonne. Zuletzt holte er das Glutbecken, stellte es in die untere Nische auf den Block, warf ein paar Wacholderbeeren und Fichtenharzperlen auf die Glut und legte den Feuerbohrer daneben. Dann erst holte er Eva.

Schräg fielen die Strahlen der untergehenden Sonne auf das Heiligtum und brachen sich im bunten Gefüge der hellen Steine. Wie verklärt sanken die beiden jungen Menschen auf die Knie. Sie ahnten die Schönheit der Schöpfung.