Jagd im Moor

Ehe Peter am nächsten Morgen zur Jagd aufbrach, kauerte er vor dem Salzvorrat, um seine Augen an der Fülle dieses kostbaren Gewürzes zu weiden. Doch was war das? Am Rande des Salzhaufens waren ungezählte Tröpfchen und rund herum nasse Flecken auf dem Stein! Peter versuchte einen Tropfen – es war Salzwasser. Auch Eva versuchte – ja, es war Salzwasser. Also hatten die Salzkörnchen den Morgentau angezogen und waren in ihm zerflossen. Wie sollte das im Winter werden, wenn der ganze Vorrat zerging? Peter war entsetzt. Aber Eva nahm die Sache leichter.

»Tun wir halt das Salz in einen Korb; wir können ja große Blätter unterlegen.«

»Da rinnt’s durch!« sagte Peter.

»Muß aber nicht! – Wir können ja die Körb‘ mit irgendwas ausstreichen, mit Lehm – oder so was«, meinte Eva.

Das war ein guter Gedanke: die Körbe ausstreichen – ja, aber nicht mit Lehm! überlegte Peter, Lehm würde ja das Salzwasser noch gieriger aufsaugen als der Stein. Da fielen ihm die halberhärteten Harzklumpen ein, die er im Allerlei aufbewahrte. Sofort klaubte er sie hervor und versuchte, sie durch Anhauchen und Kneten weich zu machen. Eva mußte ihm dabei helfen. Nun nahm er einen plumpen Flachkorb und begann, ihn mit Harz auszustreichen. Als Spatel diente ihm das Schulterblatt eines Eichhorns.

Das Fertigmachen überließ er Eva und ging auf die Jagd. Im Weggehen rief er ihr noch zu, er sei wieder zurück, wenn ihre Seite des Sonnsteins im Schatten liege. Heute reizte es ihn, den Bären zum Trotz zur Südwand hinüberzugehen, wo der große Laubwald stand. Vielleicht gelang es ihm, die Edelkastanien zu finden, deren Früchte zur Winterszeit die Hauptnahrung abgeben sollten. Aber nicht durch den morastigen Urwald wollte er gehen. Lieber machte er den Umweg über das offene Steinfeld, das in lachendem Sonnenglanz vor ihm lag.

Schon auf dem Pfad zum Sonnstein hatte er Glück. Sein Pfeil holte eine Elster mit blaugrünem, langem Stoß aus dem Geäst eines Bergahorns. Mit dem schönen Vogelbalg wollte er Eva eine besondere Freude machen.

Als er unterhalb des Felsens auf der kleinen Insel dahinging, fiel ihm der glitzernde feine Sand auf, der, soweit das Wasser spülte, die Landzunge säumte. Er betrachtete ihn genau und sah darin winzige Blättchen schimmern.

Wozu die wohl gut sein mochten, und woher sie kamen?

Ein kantiges Steinstück, auf das er getreten war, gab ihm Auskunft.

Die weißen, glitzernden Blättchen staken ja auch im Stein. Er betrachtete ihn näher: Das war ein Gemenge von wasserhellen und gelblichen Hartsteinen und Glimmerblättchen. Er hatte ein Bruchstück sehr feinkörnigen Granits vor sich.

Die frischen Verwitterungsabbrüche am Sonnsteinfels zeigten die gleiche Zusammensetzung.

Peter betastete die glitzernden Bruchflächen. Unter seinen Füßen zerbrachen klirrend abgesplitterte Steinplättchen. Da bückte er sich und hob einige der größeren auf.

Sie waren dünn, ihre Flächen hartkörnig – die waren ja brauchbar zum Abschleifen von Holz und Knochen! Auf allen vieren kriechend, musterte Peter die Bruchsteine. Herrliche Keile gab es darunter, zum Wurzelgraben verwendbar, so wie sie dalagen, andere brauchten höchstens einige Zurichtschläge!

Am Ufer des rechten Bacharmes machte er eine andere Entdeckung. Zahlreich waren hier paarweise, dreieckige Grübchen im feinen Wellsand eingedrückt, deren Spitzen nah beisammenstanden. Spuren waren es, Wildspuren, schmäler und zarter als die von der Salzwand. Die konnten nur von Rehen herrühren. Also hatte das Rehwild hier eine Tränke. Peters Jagdeifer erwachte. Leise setzte er seinen Weg fort, von Busch zu Busch, immer auf Deckung bedacht, nach allen Seiten spähend. Es verdroß ihn, daß er es morgens unterlassen hatte, seine Haut mit Lehm zu bestreichen. Er wollte das nachholen. Das Wild hatte ihn gewiß längst eräugt.

Jetzt hob sich der Grund zu einer mit üppigen Kräutern bestandenen Erdwelle; der nur wenig sichtbare Boden war nicht mehr schotterig, sondern bestand aus feuchtem, fettigem, oben völlig wassersattem, blaugrauem Ton. Mit dem bestrich er sich den Leib, soweit dieser nicht von Fellen bedeckt war. Den tonigen Wall emporsteigend, gelangte Peter zu den silbrigen Weiden am Rande des Sumpfes, dessen zahlreiche Wasserspiegel gut zwei Mannslängen hoch über der Talsohle lagen.

Vor ihm dehnte sich hochgelegenes Moorland, das in Schilf und Busch überging. Rechts davon stieg eine breite Halde sanft zur dreifarbigen Felswand an, die er von der Salzlehne aus gesehen hatte.

Auf einem der nächsten Weidenbäume im Moor erspähte Peter ein unförmiges Nest aus vielen durcheinanderliegenden Zweigen. Er wollte ganz herankommen, doch im weichen, moosigen Wiesengrund sanken seine Füße ein. Die Spuren füllten sich sofort mit bräunlichem, trübem Wasser. Je weiter er ging, desto nachgiebiger wurde der moosige Grund. Peter war auf schwingendem Moorboden.

Um nicht einzusinken, legte er sich flach ins Gras und kroch auf Knien und Ellbogen vorwärts. Dabei scheuchte er unversehens zwei langschnäbelige Brachvögel auf, die sich schneller davonmachten, als er den Pfeil auf den Bogen legen konnte.

Die abfliegenden Vögel stießen ihr warnendes »Krii« so grell aus, daß sich im nächsten Augenblick eine Schar anderer Vögel aus dem Sumpfe hob, darunter Reiher und ein Flug Wildenten.

Der zu spät aufgelegte Pfeil verletzte den linken Flügel einer Ente, sie fiel ins Gras. Aber trotzdem suchte sie sich watschelnd und laut schreiend durch eilige Flucht zu retten.

Das war nun ein Wettlaufen auf dem schwankenden Boden! Peter, der sich beim Schuß ein wenig aufgerichtet hatte und dabei fußtief eingesunken war, wagte nicht, sich wieder zu erheben; auf Händen und Knien kriechend, folgte er seiner Beute und hatte sie beinahe eingeholt, als der verwundete Vogel sich plötzlich in einen klaren Tümpel fallen ließ, dessen Wasserspiegel vor den Augen des Jägers durch Schwertlilien verdeckt gewesen war.

Blitzschnell tauchte die Ente unter das Wasser. Und Peter, der durch die klare Flut jede ihrer Bewegungen beobachten konnte, lauerte mit gespanntem Bogen auf ihr Emportauchen. Sein zweiter Pfeil traf den Kopf des Vogels und blieb darin stecken. Leblos trieb die Ente auf der Wasserfläche. Schon wollte sich der Jäger nach einem Gegenstand umsehen, die kostbare Beute herzuholen, als er wahrnahm, daß eine stetige Strömung die Ente ans Ufer trieb. Vorsichtig kroch er der Stelle zu, wo sie ankommen mußte.

Während er geduldig wartete, bis der Vogel angetrieben wurde, durchforschten seine Augen den Tümpel. Dunkelbraungrüne, rotgefleckte Forellen schwammen auf einer Seite unter der Torfdecke hervor, durchquerten das klare Wasser und verschwanden auf der anderen Seite in schwarzer, unterirdischer Finsternis.

Endlich konnte Peter den Vogel packen. Zwei aufgekräuselte Bürzelfedern kennzeichneten ihn als Enterich.

Den Weiden folgend, kam Peter zum Schilfbestand des oberen Moorrandes. Er näherte sich dem gegen die Südwände ansteigenden Hinterland. Der Boden wurde allmählich fester, und der Bub konnte wieder aufrecht gehen. Jetzt war auch der Bach, der das Moor unter der Torfdecke durchfloß, zwischen den Weiden frei sichtbar, und Peter folgte ihm am linken Ufer stromauf.

Zu den Weiden gesellten sich Erlen, Haseln, Weißdorne und Birken. Auf dem sanft ansteigenden lehmigen Gelände stellte sich erst spärlich, allmählich aber dichter werdend, der Laubwald ein.

Peter suchte nach den Kastanienbäumen, wurde aber durch gestürzte, wirr bewachsene Baumleichen behindert. Ohne es zu wollen, kehrte er im Bogen wieder zum Bach zurück. Er hätte seine Nachforschung rechts zur Südwand hin wieder aufgenommen, wenn da nicht ein umgefallener Erlenstamm quer über den Bach geführt hätte, eine natürliche Brücke. Peter betrachtete zuerst das Wurzelgewirr der Erle, wie es aus dem unterwaschenen und dann niedergegangenen Ufer emporstarrte. Dann drängte er sich durch und betrat den Stegbaum, der sich unter seiner Last nur wenig senkte. Und weil der neue Weg sich als gangbar erwies, so schritt Peter auf ihm über das still ziehende, kaum knietiefe Wasser, in dessen flutenden, dunkelgrünen Fadenalgen Jungfische spielten, dem anderen Ufer zu.

Bewundernd sah Peter die neue Welt ringsum drüben, jenseits des Baches, den Laubwald und hüben das grünende Moor, zwischen dessen Weiden, Erlen und Birken die runden Wassertümpel als »Mooraugen« flimmerten.

Weit jenseits des Urwaldes mochte Eva in der Lichtluke ihrer Höhle stehen und warten. Sie sah ja, daß ihre Seite des Sonnsteins schon im Schatten lag; die Mittagszeit war vorüber.

Er durfte nicht länger säumen. Für diesmal gab er es auf, den Standort der Kastanienbäume im Laubwald zu suchen. Er hielt quer über das Steinfeld auf den Sonnstein zu und eilte dann auf dem Erntepfad heimwärts.

Tief stand die Nachmittagssonne über den Klammwänden und leuchtete grell ins Innere der Höhlen.

Peter, der geglaubt hatte, Eva werde ihn von ihrem Guckloch aus begrüßen, hatte sich getäuscht. Auf ihrem Lager fand er sie ausgestreckt, die Ellbogen im Laub und das Gesicht in den Handflächen. Sie weinte. Auf seinen Gruß gab sie keine Antwort. Diesmal brauste er nicht auf. Er ahnte, welche Angst er ihr durch sein langes Ausbleiben verursacht hatte.

Stumm legte er seine Beute vor ihr aufs Laub und setzte ihr die mitgebrachten Brombeeren und Kornelkirschen auf einer Steinplatte vor.

Er merkte wohl, daß sie neugierig durch die Finger blinzelte, und so begann er denn erst ruhig, dann lebhaft von seiner Wanderung zu erzählen.

Und als er erst noch beteuerte, wie eilig er heimgekehrt sei, da faßte sie seine Hand: »Morgen nimmst mich mit zum Moorbach, gelt? Und morgen ist Sonntag, da gehen wir auch zur Großmutter!«

»Gern«, stimmte Peter zu,»und wir erzählen ihr alles.«

Verschwunden war die Angst, verschwunden waren Trotz und Groll. Während Eva die mitgebrachten Beeren verzehrte, erzählte sie, was sie erlebt hatte: Eine Katze, eine richtige graue Katze hatte sie gesehen; die hatte sich am hellichten Tage vom Köderplatz die ausgelegten Überreste des Steinhuhns geholt. Keck war sie aus dem Walde gekommen, und keck war sie mit der Beute fortgetrabt, als hätte sie gewußt, daß der Jäger ausgegangen war.

Die Nachricht verblüffte Peter. Eine Katze? Nein, das glaubte er nicht. Immerhin freute er sich, daß das Raubzeug sich an den Köderplatz gewöhnte. Das gab gute Aussicht auf brauchbare Bälge.

Während Eva erzählte, häutete Peter Enterich und Elster ab. Das Fleisch der Vögel bereitete ihnen wenig Genuß, die Elster war zähe, und das von Fett durchzogene Fleisch des Enterichs schmeckte widerlich. Mehr Freude hatten sie am prächtigen Gefieder. Die blauen Spiegelfedern und das grünschillernde Halsgefieder des Enterichs bekam Eva, die geringelten Bürzelfedern aber befestigte Peter an seinem Stirnband, als Andenken an die glückliche Jagd über der drohenden Tiefe des Moores.

Den Elsterbalg spannte er über einen Reifen, sagte aber nicht wozu; das sollte eine Überraschung werden für Eva.

Als Peter seinen Gürtel ablegte, entdeckte er, daß die Eichhornbälge, die als Werkzeugtaschen daran hingen, durch die anhaftenden Salzreste geschmeidig geworden waren, ohne den Geruch feuchter Felle zu haben. Da sie aber auch glitschig waren, rieb er sie mit trockenem Lehmstaub ein. Vor dem Einschlafen nahm er sich vor, von jetzt an alle frischen Bälge auf der Fleischseite zu salzen und dick mit Lehmstaub zu bestreuen.

Peter trinkt das Blut des Besiegten

An einem sonnigen Wintertag, als die Sonne schon unterging, erlegte Peter im Birkenbestand der Grableiten eine Rehgeiß. Die stark blutende Beute, die er hinter sich herschleifte, hinterließ eine breite rote Spur im Schnee. Tags darauf gewahrte er beim Holzholen deutliche Abdrücke von langsohligen Bärentatzen. Die Fährte ging bis zum Klammbach, den Peter auf den Gangsteinen überschritten hatte. Diese Entdeckung ließ ihn befürchten, die Bären könnten sich noch näher an die Höhle wagen, vielleicht sogar eindringen. Ihr Winterschlaf schien vorbei zu sein.

Immer wieder stellte er sich vor, wie sein Kampf mit einem Bären verlaufen würde; er glaubte nämlich, daß ein im Winterschlaf gestörter Bär beutehungrig herumschweife. Er zweifelte, ob die klobige Steinspitze seines Speeres das zottige, dicke Fell des Ungetüms zu durchdringen vermöchte. Aus dem Allerlei suchte er den langen, bereits angeschliffenen Splitter vom jüngst gespaltenen Röhrenknochen des Hirsches hervor. Die weiße, fingerdicke Außenkruste des Knochens ließ sich auch auf dem Sandstein nur schwer scharfschleifen, sie war steinhart. Mit viel Mühe und Geduld gelang es Peter, den Knochensplitter zu einem langen, schmal zugespitzten, zweischneidigen Dolch umzuschleifen. Der ließ sich gut statt des Steinkeils in den gespaltenen Speer schäften. Dann nahm er eine eingewässerte Darmsaite, umwickelte die Schäftungsstelle und ließ alles erst einmal gut trocken werden. Um ganz sicher zu gehen, festigte er das Ganze noch dick mit Harzwachs. Wenn das nicht hielt!

Peter häutete die Rehgeiß ab, und Eva übernahm, wie gewohnt, das Ausweiden. Da fand sie unterhalb des Herzens ein zart gebautes, noch unbehaartes Rehkitz, dessen Leib an einem Schlauch hing, wie eine Blumenknospe am Stiel hängt, durch den sie von der Mutterstaude ernährt wird. Eine dumpfe Ahnung vom Wunder des werdenden Lebens dämmerte in Eva auf. Dann aber stieg ihr die Zornesröte in die Wangen. Weinend machte sie Peter heftige Vorwürfe, daß er das werdende Leben im Mutterleib zerstört hatte. Dieses zarte Wunder Gottes, der das Junge fürsorglich im Leibe der Mutter wachsen ließ, damit es dort reife und zum eigenen Leben fähig werde. Peter suchte sich zu rechtfertigen: »Ich kann mich doch nicht darum kümmern, ob eine Rehgeiß tragend ist. Wir brauchen Felle und Fleisch. Dafür hab‘ ich zu sorgen!« Tief im Herzen aber schämte er sich und ging Eva aus den Augen.

In der folgenden Nacht, Peter schlief längst, lag Eva noch wach; sie weinte um das Muttertier und das Junge. Plötzlich fuhr sie erschrocken auf und lauschte. Deutlich hatte sie Schritte gehört, schwere, tappende Schritte. Das war nicht Peter! Angestrengt horchte sie in die mondhelle Nacht. Nichts regte sich. Von der Luke her fiel ein bläulichweißes Lichtband schräg in ihre Kammer. Eva verließ ihr Lager, hüllte sich fröstelnd in ein Fell und sah hinaus. Über den Klammwänden stand der Mond, groß, rund, eine weiße Scheibe.

Und wieder kam ein Geräusch, ein Pusten und Schnuppern, dann ein Scharren im Schnee. Schauer überliefen sie. Die Furcht vor Waldgeistern ließ sie erzittern, sie hätte sich am liebsten verkrochen, um nichts mehr zu hören. Aber die Angst vor der unbestimmten Gefahr trieb sie hinunter zu Peter. Der schlief im vollen Mondschein mit offenem Munde und schnarchte. Sie faßte ihn an der Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: »Peter, draußen ist wer!«

Verschlafen streckte er sich und rieb die Augen. Plötzlich sprang er auf. Jetzt hatte auch er etwas vernommen. Mit einem Schlage war er völlig wach. Deutlich hörte er, daß unten im Schnee, über der Fleischgrube gescharrt wurde. Jetzt schlugen zwei Steine, die auf den Deckreisern lagen, hart gegeneinander…

Peter schlich geräuschlos zur Schutzmauer, wo die frische Haut der Rehgeiß noch am Türgitter hing. Behutsam stellte er es beiseite, hielt sich mit den Fingerspitzen an den obersten Steinen der Mauer fest und neigte sich weit vor. Einen mächtigen Bären sah er, der eben dabei war, die Decksteine von der Fleischgrube zu räumen. Peter überlegte einen Augenblick, machte zwei Schritte nach links, so daß er genau oberhalb der Fleischgrube stand. Alle seine Kräfte aufbietend, stemmte er sich gegen die Schutzmauer, und im nächsten Augenblick gaben die nur lose aufeinandergehäuften Steinblöcke nach. Polternd stürzten sie in die Tiefe. Ihrem wuchtigen Fall folgte ein grauenhaftes, langgezogenes Heulen, das mit tiefen Tönen einsetzte und in ein Stöhnen überging. Eva hatte inzwischen ein Bündel harziger Kiefernzweige entzündet und neigte sich, die lodernde Fackel in der Hand, weit über die Mauer hinaus. Peter raffte seinen Speer auf, den er neben seinem Lager liegen hatte, und sauste die Felsrinne hinunter.

Mühsam versuchte sich das verwundete Raubtier zu erheben. Sein Rumpf war von schweren Steinen bedeckt. Es öffnete den Rachen und wandte sich brüllend gegen den Menschen. Da stieß ihm der vor Entsetzen tollkühn Gewordene die schlanke Spitze der Waffe durch das weit aufgerissene Maul tief in den Schlund. Das Tier schlug mit den mächtigen Pranken nach dem Angreifer.

Peter riß den Speer zurück und beendete das Leiden des Tieres, indem er ihm die Waffe ins Herz bohrte. Der Bär erhob sich nicht mehr. Nach einigen krampfhaften Tatzenschlägen ins Leere blieb er reglos liegen. Dick quoll sein Herzblut aus der breiten Wunde. Jetzt stürzte sich der Sieger auf den gefällten Feind, preßte seinen Mund auf die Wundränder und schlürfte in gierigen Zügen das warme Blut des Starken, als wolle er dessen Kraft in sich aufnehmen.

Eva empfand Bewunderung und ein Grauen vor Peter. Erschlagen hatte er den gefürchteten Bären, und jetzt schlürfte er seine Kraft in sich ein, trank des Mächtigen Blut!

Still zog sie sich zurück. Von dieser Stunde an wußte sie, daß Peter ihr an roher Kraft überlegen war. Er aber, den die schneidende Kälte bald ernüchterte, verbrachte den Rest der Nacht und den Morgen damit, die Mauer notdürftig auszubessern und in der Wärme eines gewaltigen Feuers den Bären abzuhäuten.

Dann kroch er in seine Schlafgrube und schlief unter der schweren, noch feuchten Bärenhaut bis zum kommenden Mittag, wie berauscht vom starken Geruch, der dem Fell des Besiegten entströmte.

*

Wieder setzte der Winter mit aller Strenge ein. Stürme brausten einher und deckten den Grund mannshoch mit schimmernden Schneedünen, die, angeweht und fortgetragen, die Oberfläche stetig veränderten, bis Tauwetter und Frost sie unter einer Eiskruste erstarren ließen. Das Leben der Höhlensiedler war meist von harter Arbeit und tiefem Schlaf ausgefüllt.

Wenn Peter an stürmischen Tagen den schwerbeladenen Holzschlitten heimgebracht hatte, verkroch er sich steif vor Kälte und Erschöpfung unter sein Bärenfell und verschlief einen halben Tag, während Eva sich mit dem Zerkleinern und Schichten der ungefügen Äste plagte.

An windstillen, frostfreien Tagen pflegten die beiden sich in der behaglich durchwärmten Höhle mit Arbeiten zu beschäftigen, die geschmeidige Finger erforderten. Das Ausbessern der Steinbeile, das Zuschleifen knöcherner Pfeilspitzen, das Ergänzen der schadhaft gewordenen, ungleich gegerbten Fellbekleidung, all das waren dringende Aufgaben.

Peter erinnerte sich seines Versprechens, Eva das Bild der Ahnl zu schaffen.

Wenn er bis tief in den Tag hineingeschlafen hatte und nachts nicht gleich Ruhe fand, kreisten seine Gedanken um diese künstlerische Aufgabe, die ihm – nachts – kinderleicht erschien. Als er endlich daranging, seine Vorstellung von der Ahnl in knetbarem Lehm festzuhalten, da wurde eine verhutzelte Gestalt daraus, die nicht nur Hände und Füße hatte: Durch die Hakennase, die sich dem Kinn näherte und durch das gescheitelte Haar erinnerte die Figur tatsächlich ein wenig an die alte Frau. Eine zweite Lehmpuppe, etwas kleiner und mit flachem, ausdruckslosem Gesicht, sollte Peters Mutter vorstellen, deren Aussehen in seiner Seele verblaßt war; er hatte ihr ein winziges Püppchen in die Arme gegeben, das sein totes Schwesterchen sein sollte. Ermutigt von seinem Erfolg, bildete er noch einen alten Mann, der sich auf einen überlangen Bergstock stützte. Ein wallender Vollbart kennzeichnete ihn als den Ähnl. So roh auch die Darstellungen waren, die Höhlenkinder sahen nicht das, was sie vor Augen, sondern das, was sie in den Seelen hatten.

In der Nähe der Feuerstelle hartgetrocknet, wurden die Ahnenbilder in einer halbdunklen Felsennische der oberen Kammer aufgestellt.

Die Striche im Steinkalender führten von Sonntag zu Sonntag.

Die Kinder gingen am heiligen Tag nicht mehr zum tiefverschneiten Grabhügel; sie verrichteten ihre Andachten vor den Bildern der Ahnen, die sie mit Gott vereint wußten. Hier sprachen sie mit ihren Schutzgeistern. Hier suchte Eva Trost, wenn sie sich krank wähnte und bat um Schutz vor bösen Geistern. Hier erneuerte Peter seinen Mut für bekannte und geahnte Gefahren.

Und immer war es ihm, als spräche die Ahnl zu ihm: »Paß auf Eva auf, laß ihr kein Leid geschehen, sei gut zu ihr.«

Mochten auch die Gegensätze im Wesen der beiden wie eine unsichtbare Wand zwischen ihnen stehen, sie hatten doch manche gute Stunde miteinander; denn helfen, geben und nehmen gehören zum glücklichen Leben. Und das anerkennende Wort für den, der etwas Gutes zuwege gebracht hat! Auch die Höhlenkinder erfuhren die Wahrheit dieser Erkenntnis. Am Lob des anderen entzündete sich das Selbstvertrauen und wagte sich an neue, größere Aufgaben. So träumte Peter davon, die Wohnhöhlen zu erweitern, Bären, Wildkatzen und Schlangen auszurotten, durchlochte Steinbeile herzustellen.

Auch Eva dachte und plante weit voraus: Gut schließende Kleider wollte sie nähen, daß Peter und ihr weder Kälte noch Mücken etwas anhaben sollten. Betrachtete sie den hartgebrannten Lehmscherben mit dem Fußabdruck, so erschlossen sich ihr lockende Möglichkeiten. Der knetbare Lehm behielt ja jede Gestalt, die man ihm gab! Eva sah sich als Hausmutter, der es an nichts gebrach, und sie hoffte, daß es ihr gelingen werde, Peter zu ändern. Er mußte sein rohes Wesen ablegen; sie wünschte es, sie brauchte es – vielleicht tat er es ihr zuliebe.

Wohnhöhlen und Steigbaum

Ein nagender Hunger weckte Peter beim Morgengrauen.

Er fuhr sich über die Augen und reckte die steifen Glieder, kroch dann unter dem Busch hervor und schüttelte das anhaftende Laub von sich ab. Das Rauschen des nahen Baches und die verschwommenen Umrisse der Bäume im Morgennebel erinnerten ihn an die Ereignisse des Vortags. Zusehends wurde es heller. Von den armlangen Bartflechten der Fichten tropfte der Tau, eine prickelnde Kühle lag in der Luft. Behutsam beugte sich Peter über Eva. Sie schlief noch.

Er mochte sie nicht wecken. Aber er selbst mußte fort; wenn sie erwachte, wollte sie essen.

Ein brennender Schmerz am rechten Unterarm ließ ihn zusammenzucken, er sah nach und fand eine Zecke, wie sie im dürren Laub häufig sind; sie hatte sich in seine Haut gebohrt. Er wußte recht gut, daß er den Leib dieses Blutsaugers nicht losreißen durfte, weil sonst Kopf und Füße unter der Haut stecken geblieben wären und eine böse Wunde verursacht hätten. Peter griff zum Heilmittel der Ahnl für allerlei Hautübel: Ein Tropfen gelbes, halbflüssiges Fichtenharz auf das Tier gestrichen, mußte es zum Absterben und Abfallen bringen. Er nahm sich vor, mit Salbei, Germer und gelbem Labkraut das Ungeziefer von seinem künftigen Lager fernzuhalten.

Bis zu den Knien stieg er in die kalte, klare Flut des Baches. An zwei große Felsbrocken, die aus dem Wasser ragten, reihte er einen dritten, so daß er, von einem zum anderen springend, den Bach überqueren konnte. Drüben schlenderte er die Berglehne entlang, musterte den spärlich bewachsenen Boden und fand noch wenig entwickelte Blattsterne der Eberwurzdisteln, die hier verstreut wuchsen. Wie oft hatte er sich beim Ziegenhüten die Zeit damit vertrieben, Eberwurzen auszustechen, deren milchreiche Blütenböden nicht nur ihm geschmeckt hatten, sondern auch der Ahnl und der Eva. Die Blüten waren noch geschlossen. Ihre silbrig glänzenden Schöpfe ragten wie dicke Knospen aus dem Strahlenkranz der stachligen Blätter. Mit dem Zeigefinger bohrend und schabend bemühte er sich, eine der Pflanzen aus dem Boden zu holen. Es ging nicht. Die Pfahlwurzel steckte tief zwischen dem Gestein, und die stachligen Blätter ließen sich mit bloßen Händen nicht anfassen. Er sah sich nach etwas Scharfem um.

Unter den Bruchstücken kristallinen Kalkes, die in Menge umherlagen, fanden sich auch kantige Stücke, die aussahen, als wären sie von Menschenhand zugerichtet. Was ihnen an Schärfe abging, mußte der Druck der Hand ersetzen. Bald lag ein Dutzend Eberwurzen vor Peter, genug zum Frühstück für sie beide. Auf einer Felsplatte nahe am Ursprung des Bachs drückte er mit seinem groben Steinwerkzeug erst die Blätter ab, dann schabte er die geschlossenen Blütenblätter von ihren fleischigen Böden.

So fand ihn Eva. Sie kam langsam heran, als fiele ihr das Gehen schwer.

»Na, guten Morgen, Eva, ausgeschlafen?« begrüßte er sie, »was schleichst du denn so?«

»Mir tun die Fuß‘ so weh, ich glaub‘, sie sind geschwollen, und Hunger hab‘ ich. Hast die Geiß nit g’sehen?«

»Die Geiß? Ja, glaubst, die käm‘ her und ließ‘ sich melken? Da schau, ’s Frühstück wartet schon. Daß du geschwollene Füß‘ hast, ist kein Wunder; weißt, wie lang du schon die Schuh anhast? Nacht und Tag und Nacht. Zieh sie aus und steck die Fuß‘ ins Wasser, da wird’s dir gleich leichter werden.«

Eva ging zum Bach, doch bald schon kam sie zurück, barfüßig und weinend. Die Schuhe, die hatte der Bach fortgetragen, ganz fort.

»Na, deswegen brauchst du nicht weinen, schau mich an«, tröstete Peter, »jetzt sind wir halt gleich, ich bin schon seit vorigem Winter bloßfüßig.«

Dabei steckte er ihr eine Scheibe Eberwurz in den Mund. Die Sonne war indessen aufgegangen, und der Nebel löste sich vom Boden.

Die Kinder beobachteten zwei Gebirgsbachstelzen, die mitten im Gischt des Wassers auf überfluteten Steinen hin und her trippelten und mit den langen Schwänzchen wippten. Gespannt sahen sie, wie ein Wasserschmätzer im Fluge in den Bach stürzte und nach dem Tauchen unmittelbar von der Wasserfläche aufflog.

Aber die Eberwurzen schmeckten nach mehr. So machte er sich wieder ans Ausgraben und gab auch Eva einen Steinsplitter in die Hand. Das Schaben und Herrichten hatte sie zu besorgen. Obwohl Peter und Eva noch lange nicht satt waren, nahmen sie die Suche nach der Wohnhöhle wieder auf.

Wie groß war ihre Überraschung, als sie vom Ufer aus jenseits des Baches zwei schwarze Löcher in der Felswand gewahrten, groß genug, daß ein erwachsener Mensch aufrecht eindringen konnte. So nah waren sie den Höhlen gewesen! Peter sah sich nach einer seichten Stelle um, nahm Eva huckepack auf und watete durch die Furt. Durch taunasses Buschwerk und hohe Farnkräuter, über Geröll und umgefallene Baumriesen ging es den Höhlen zu.

Da, hinter den Bäumen stieg die Wand schräg auf zu der unteren Höhle, die sich gut zwei Mannslängen hoch über dem Boden auftat. Unter ihr war eine glattgeschliffene Rinne im Fels. Aha – da war der Bach früher einmal aus dem Berg herausgeflossen, bevor er sich im weichen Kalkfels einen tieferliegenden Weg ausgewaschen hatte!

Aber wie zu den Höhlen hinaufgelangen? In der glatten Rinne ging es nicht, und die nächsten Bäume standen nicht nahe genug.

Da fiel dem suchenden Peter eine abgestorbene armdicke Fichte auf – die gäbe einen Steigbaum ab, die wollte er hinüberlehnen! Der erste Versuch, den toten Baum zu brechen, gelang. Die Fichte knackte eine Handspanne über dem Erdboden ab. Aus dem morschen Strunk wimmelten Ameisen hervor, die ihre Wohnkammern ins tote Holz genagt hatten.

In die Rinne gelegt, bot der Baumstamm mit seinen Astquirlen Halt genug für Hände und Füße. Nach kurzem Klimmen hatte Peter die untere Höhle erreicht.

Mit klopfendem Herzen trat er ein. Sein erster Gedanke waren die Bären. Aber der Lehmboden zeigte keine Tatzenabdrücke, die Höhle war unbewohnt. Und Peter konnte darin aufrecht umhergehen. Seine Füße wateten in trockenem, lehmigem Sand, der mit Steinen, Vogelmist und vermodertem Laub untermischt war. Das mochte wohl der Wind hereingeweht haben. Peter forschte weiter. Seine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht. Bald konnte er Einzelheiten unterscheiden. Auf der dünnen Sinterschicht der Wände lag ein Hauch von Ruß; nur wo der blättrige Sinter abgebröckelt war, schimmerte der helle Kalkfels hervor. Hier also hatte die Ahnl gehaust! Nach links hin hob sich der Boden. Dort führte ein schmaler Spalt aufwärts zur zweiten Höhle, die sie von außen bemerkt hatten. Ein anderer Gang senkte sich rechts zum Quellsee, aus dem der Bach kam. Dieser Teil der Höhle war dunkel und kalt. Der linke aufsteigende Gang verengte sich zu einem schmalen Schlot.

Knie und Ellbogen gegen die Wände gestemmt, arbeitete sich Peter hinauf.

Sein Eintritt in die zweite Höhle verscheuchte eine Schar Felsentauben, die in überstürzter Flucht durch die hohe Öffnung abflogen. Der Raum war ganz trocken und in seinem vorderen Teil hell. Nach hinten verengte er sich zu einem schmalen, stockfinsteren Loch, das schräg aufwärts führte und sich im Innern des Bergs verlor. Dorthin konnte Peter nicht vordringen. Fledermäuse flatterten auf und suchten erschrocken das Freie. Die obere Höhle war viel schmäler als die untere. Da sie aber heller war, machte sie einen wohnlicheren Eindruck. Durch das Lichtloch schimmerte das Grün der nahen Baumwipfel. Peter war geblendet von der Fernsicht. Zwischen den Wipfelzweigen der Bäume sah er bis zu den rosig überhauchten Klammwänden und noch weiter auf ferne Gipfel, deren Firnfelder im Alpenglühen flammten. Weit beugte er sich über die steile Wand hinab zu Eva, die unverwandt zur unteren Höhle schaute.

»Everl!« jauchzte er, »das Kammerl ist gut!«

Eine rasche Kopfwendung – sie hatte ihn entdeckt. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. Eilig kletterte sie den Steigbaum empor und stand, von Peter durch den Spalt gezogen, im Nu neben ihm. Ihr erster Blick galt dem Grün vor der Luke. Ohne den schmutzbedeckten Boden zu betreten, meinte sie: »Sauber auskehren muß ich wohl!«

Und als wäre es ein Spiel, sagte sie: »Das ist mein Kammerl, gelt?«

»Ja, freilich.« Peter war gleich einverstanden. »Das wirst aufräumen, gelt? Du wirst heroben hausen und ich drunten. Wenn ein Bär kommt, kriegt er’s zuerst mit mir zu tun.« Er sagte dies recht zuversichtlich, aber innerlich war ihm nicht recht wohl dabei.

Mit geschicktem Daumendruck öffnete Eva ein Taubenei und wollte es an die Lippen führen. Aber es war schon bebrütet. Ein zusammengekauertes Vögelchen mit übergroßem Kopf und plumpen Füßen lag schlummernd darin. Enttäuscht legte sie es weg. Mehr als die Hälfte der Eier war in diesem Zustande, vom Rest waren die meisten ungenießbar.

»Weißt Peter, was dazu gut wär‘?« meinte Eva, als sie ihr letztes geschlürft hatte.

»Freilich weiß ich’s – und ich wollt‘, ich hätt‘ die Ahnl danach gefragt – Salz fehlt. Das wird uns noch stark abgehen. Ob’s überhaupt da herin Salz gibt? Wenn der Ähnl noch da wär‘, der wüßt’s vielleicht zu finden. Der hat uns ja immer die Salzsteine gebracht.«

Ach, die Ahnl und der Ähnl! Die beiden Kinder waren sich wieder ihrer Verlassenheit bewußt geworden. Aber die Gegenwart nahm ihre Aufmerksamkeit bald ganz in Anspruch. Die Höhlen mußten erst wohnlich werden. Mit einem Fichtenzweig versuchte Eva, sie auszukehren, aber das ging nicht so recht mit dem einfachen Zweigbesen. Peter schnürte mit einer Waldrebenranke drei Zweige zu einem buschigen Besen, das erste Gerät für die neue Hausfrau.

Das nächste war die Herstellung der Lager. Dazu war viel Reisig, Laub und Moos nötig, Dinge, die nur der Wald liefern konnte. Über ein ausgetrocknetes Bachbett und einen schmalen Wiesenstreifen gehend, gelangten die beiden an den Waldrand. Während Eva mit den Händen Laub zusammenrechte und Moos vom Boden löste, stöberte Peter im Jungholz, brach dichtbelaubte Buchen- und Eschenzweige ab und versäumte nicht, Schößlinge von Bergholunder, Salbei, Lavendelstauden, Germer und Labkraut zu sammeln und im Sonnenschein auszubreiten. Diese Kräuter sollten, ins Lager eingelegt, das Ungeziefer fernhalten. Dann holte er von der Berglehne einige Arme voll verblühter Alpenrosenstauden, deren federndes Gezweig das Lager locker machen sollte.

Mit Vorbedacht ging Peter nun ans Werk, Evas Bett zu richten. Erst legte er eine Schicht Reisig auf den Boden, darüber kamen Alpenrosenstauden und Schutzkräuter, dann Laub und Moos. Als er fragend zu Eva aufschaute, nahm sie seinen Kopf zwischen beide Hände und gab ihm einen herzhaften Kuß.

Er wandte sich zur unteren Höhle. »Everl, jetzt hilf mir, mein Bett richten.«

Die Sonne stand hoch am Himmel, ihr Licht fiel in die Höhle; von außen drang der warme, würzige Duft der Fichtenwipfel herein und das Zwitschern der Meisen und Girlitze in den Baumkronen. Tröstlich war das.

Als die beiden sich nach getaner Arbeit in die Lichtluke lehnten, erblickten sie auf dem untersten Ast eines Ahorns ein graues Eichhörnchen, das von einem nahen Zweige die geflügelten, noch unreifen Früchte erntete und mit seinen Nagezähnen flink öffnete. Die ausgekörnten Samenflügel ließ es hinunterwirbeln.

Peter lag die Sorge für das nächste Essen näher als das Treiben des zierlichen Tierchens, das, knapp zwei Armlängen vor ihm, leicht erreichbar schien. Mit einem faustgroßen Stein traf er es so wuchtig im Genick, daß es tot zu Boden stürzte.

Das Abhäuten der Beute aber machte Schwierigkeiten. Nach einigen Versuchen gab es Peter vorläufig auf und verwahrte seine Beute unter einer Steinplatte im Hintergrund seiner Höhle. Er mußte einen Hartstein finden, der wie ein Fuchszahn die Haut zerschnitt.

Je länger er nachdachte, um so stärker drängte sich die Frage auf: Wenn in dem Talkessel überhaupt keine Hartsteine wären, wie sollte er schneiden, womit sich und Eva gegen die Bären verteidigen?

Er hoffte, im Geröll auf einen scharfen Hartstein zu stoßen. Eva blieb an seiner Seite. Aber scharfkantige Steine gab es hier nicht; alles war vom Rollen im Wasser rundgeschliffen und mußte von weither aus dem Berg stammen. Diese runden Steine drängten sich förmlich als Wurfgeschosse auf.

Spielend nahmen die beiden einzelne Steine in die Hand, zielten auf herumliegende Felstrümmer und freuten sich, wenn die geworfenen Steine beim Aufschlag in Splitter zersprangen. Mit solchen Splittern beschäftigte sich Eva eine Weile und warf sie dann weg. An einem spannenlangen, blattdünnen Stück, das schaligen Bruch zeigte, fiel ihr die schöne grünliche Färbung, die Glätte und Schärfe der Ränder auf. Die Form dieses zufällig scharfgewordenen Splitters verlockte geradezu, seine Schneidefähigkeit zu prüfen. Noch immer spielend, köpfte Eva damit Disteln und Kletten.

Da sprang Peter auf sie zu, nahm ihr den Steinsplitter aus der Hand und versuchte ihn zunächst an seinem Daumen und dann an einem Stück Schwemmholz. Der Stein schnitt besser, als Peter gehofft hatte.

Erregt forderte er die erstaunte Eva auf, fleißig nach solchen Steinen zu suchen, er brauche sie. Und Eva ging, um ein anderes Gebiet zu durchstöbern. Jetzt fielen auch Peter genug Hartsteinknollen auf, schöne glatte Steine, die einen braun, andere rot, wieder andere grünlich, schwärzlich, gelblich und hornfarben. Stücke waren darunter so groß wie Männerfäuste, manche sogar von der Größe eines Kinderkopfes. Was er davon in den Armen tragen konnte, schleppte er mit sich. Neben einem Felsblock legte er seine Ausbeute an Hartsteinen nieder und machte sich daran, sie zu bearbeiten.

Er schleuderte einfach jeden Knollen mit aller Kraft gegen den Fels und las dann die weitverstreuten Bruchstücke auf. So entstanden durch Zufall allerlei Brocken und Splitter, die erst geprüft werden mußten, wozu sie taugen mochten; einzelne waren sofort gebrauchsfertig. Da gab’s längliche Stücke mit schneidenden Rändern, andere mit langen, scharfkantigen Spitzen, und flache, die sich leicht zwischen Daumen und Finger halten ließen, wenn es etwas zu schaben gab; aber auch grobe, keilförmige Fauststücke zum Hauen und Hacken waren dabei. In der Notlage eines Menschen ohne Metallwerkzeuge war Peter auf die Hartsteine angewiesen. Kein Wunder, daß ihn die Formen der Stücke überlegen ließen: Wozu taugen sie am besten? Manche brauchte er nur in die Hand zu nehmen, und schon fühlte er sich versucht, damit zu hauen, zu stechen, zu bohren oder zu schneiden. Peters Freude über die reiche Ausbeute an Hartsteinbrocken war so groß, daß er, ein faustgroßes Stück aus schieferigem Quarz in der Rechten schwingend, wie ein Wilder herumsprang, drohende Schreie ausstieß und nach allen Seiten in die Luft stach, als hätte er es mit einer Schar Feinde zu tun.

Eva meinte, er habe eine Tollkirsche gegessen und schrie ihn an: »Peter! Peter! Was hast denn? – Hast ‚leicht Schwindelbeer gegessen?«

Mit rollenden Augen trat er an sie heran, hielt ihr den Fauststein unter die Nase und prahlte: »Jetzt können die Bären kommen!«

Eva atmete erleichtert auf und zeigte ihm, was sie gefunden hatte: einen spindelförmigen, hornfarbenen Hartstein, so groß wie eine ausgewachsene Mohrrübe; ein zweizinkiges Rehgehörn, das wohl seit dem vorigen Herbst im Gras gelegen hatte; es war auf einer Seite gebleicht. Peter tat einen langen Pfiff.

»Eva, du hast heut die Augen offen! Das hat ein Gabler abg’worf en!«

Entzückt betrachtete er das Rehkrickel, drehte es hin und her und fand endlich, daß es, unter der Rose gefaßt, ein prächtiges Werkzeug zum Stechen und Graben abgab.

Aber wie sollten die vielen Dinge heimgebracht werden ?

»Ein Korb tat not! Eva, du hast ja schon früher allerhand g’flochten, versuch’s wieder.«

»Ja, du mußt mir halt Ruten schneiden, junge Weidenschößlinge, recht biegsame«, sagte Eva.

Nun mußten aber die gefundenen Sachen verpackt werden, so gut es ging.

Große Pestwurzblätter, mit Reisern unterlegt, ließen sich zum Einwickeln gebrauchen und Weidenrutenrinde zum Binden. Eva suchte angestrengt nach einem zweiten abgeworfenen Rehkrickel; aber nur die kleine Stange eines Spießers fand sie noch; die behielt sie zum Wurzelgraben. Peter handhabte mit wahrer Lust bald sein bestes Steinmesser zum Abschneiden von Weidenschößlingen und Waldrebenranken, bald die Gehörnstange zum Ausgraben von Wurzeln; davon sammelte er soviel, daß sie nicht zu hungern brauchten, wenn es regnete.

Dann wanderten sie auf dem Pfad, den sie sich vor kurzem gebahnt hatten, langsam der Höhle zu. Sie gingen in ihrer alten Spur zurück und traten sich so den ersten Pfad aus, den Erntepfad.

In ihrer Freude war es ihnen entgangen, daß sich der Himmel bewölkt hatte, und sie waren überrascht, als sie die ersten Regentropfen spürten. Gehörig durchnäßt erreichten sie ihr neues Heim.

Fröstelnd wühlten sie sich in ihre Liegestätten ein und ließen in Gedanken die Ereignisse der letzten Tage an sich vorüberziehen. Da fiel es Peter ein, daß Ahnl und Ähnl am Freitag gestorben waren. Er schlug vor, den nächsten Tag als ersten Sonntag, den sie im Heimlichen Grund verbracht hatten, und jeden wiederkommenden siebenten Tag mit einem langen Ritz an der Höhlenwand über seinem Lager zu bezeichnen. Kleinere Ritzmarken dazwischen sollten die Werktage angeben. Und jeder Sonntag sollte ein Ruhetag sein, wie in Ahnls und Ähnls Zeiten.

Tragkorb und Steindolch

Draußen strömte der Regen herab, in den Höhlen aber war es behaglich. Trocken und angenehm durchwärmt richteten sich die beiden Höhlensiedler auf, streiften mit den Fingern Moos und Blätter aus den Haaren und begannen ihre Funde zu mustern. Als ob mit der Erfindung der Steinwerkzeuge ein neuer Geist von Mut und Zuversicht in die jungen Menschen gekommen wäre, träumten und sprachen sie von nichts anderem als von Jagd und Kampf. Das heißt, Peter beschrieb, wie er den Rehen, Füchsen und Bären beikommen wollte, und Eva lauschte mit offenem Munde. Das Blut des Bären wollte er trinken, um dessen Stärke in sich zu schlürfen; Fleisch und warme Felle wollte er in Menge heimbringen. Er hatte keine Angst vor dem Winter.

Während Peter so von kommenden großen Taten redete, hatte er das Eichhörnchen unter den Händen; er schnitt ihm mit einem scharfen Steinsplitter den Balg auf und zog ihn über den Kopf ab. So hatte er es unter Ähnls Anleitung beim Abhäuten von Alpenhasen und Murmeltieren gemacht.

Das Fell schlitzte er nur an der Innenseite der Hinterbeine, schnitt die Pfoten ab und zog die Haut im Ganzen herunter. Damit der Balg nicht schrumpfte, stopfte er ihn, Haarseite nach innen, mit Laub aus. Dann klemmte er ihn mit Hilfe eines Zweiges in eine Felsritze der Höhle zum Trocknen. Das Gedärm des Hörnchens spülte er im Bach durch und hängte es vor die Höhle über einen Zweigstummel des Steigbaumes; getrocknet mochte es gute Bindfäden abgeben.

Das nackte Körperchen des Nagers aber reichte er Eva: »Iß! – die Füchs‘ und Marder haben’s auch nicht besser.«

Da sie nicht gleich zugriff, trennte er für sich einen Hinterschenkel ab, dessen pralle Springmuskeln ihn zum Hineinbeißen reizten, und begann zu essen.

Doch wie sonderbar, so sehr er sich bei den faden Wurzelmahlzeiten nach einem Stück Fleisch gesehnt hatte – nun widerstand es ihm wegen des eigenartigen Blutgeruchs. Um aber Eva Mut zu machen, nagte er das zarte Fleisch ab und hob die Knöchelchen auf. Wer weiß, wozu sie einmal taugen mochten. Eva nahm sich den zweiten Hinterschenkel und versuchte zu essen. Auch sie kam über den Geruch nicht hinweg.

»Peter, meinst nicht, daß ein paar Lauchzwiebeln gut wären? Die täten den zuwideren Geruch wegbringen.«

Im Nu war Peter auf den Beinen und kletterte, das Rehkrickel zwischen den Zähnen, über den Steigbaum hinunter. Er brauchte nicht lange zu suchen.

Und eine Freude war es, mit dem harten, handlichen Werkzeug das stark duftende Wildgewürz auszugraben. Auf dem Rückweg fand er einen Wacholderbusch und pflückte davon eine Handvoll unreifer Beeren. Zum Überfluß rupfte er ein Büschel blühenden Gundelkrautes aus.

Eva hatte unterdessen das Eichhörnchen mit einer Steinklinge in mundgerechte Teile zerlegt; jetzt ritzte sie das zarte Fleisch, belegte es mit Lauch und Wacholderbeeren, rieb es mit den herb duftenden Gundelkrautblättern ein und kostete. In ihren Augen leuchtete es auf. »Das ist jetzt etwas anderes, gelt?« Und sie aßen das gewürzte Wildbret um die Wette.

»Ein paar Händvoll Heidelbeeren obendrauf«, meinte Eva, »das wär‘ erst das Rechte.« Gesagt, getan: durch das regenfeuchte Gras liefen sie der Grableiten zu; dort ergänzten sie ihre Mahlzeit.

Heimgekehrt, schauten sie sich nach Arbeit um; zum Schlafen war es noch zu früh. Peter nahm die gesammelten Steine Stück für Stück vor und probierte wieder deren Verwendbarkeit. Viele waren ohne weitere Bearbeitung brauchbar. Andere hatten gerade dort scharfe Kanten, wo er sie beim Arbeiten anfassen mußte. Da versuchte er, durch Wegschlagen kleiner Splitter die Kanten abzustumpfen.

Eva legte Ruten und Ranken zurecht und streifte die Blätter ab. Sie wollte ja einen Tragkorb flechten. Die Weidenzweige und Waldrebenranken waren viel weniger biegsam als die Grashalme, aus denen Eva früher ihre ersten Körbchen geflochten hatte. Sie wußte noch nicht, daß Ruten, um geschmeidig zu werden, eine Zeitlang im Wasser liegen müssen.

Ihre zarten Finger wurden mit dem widerspenstigen Holz nicht fertig. Kaum hatte Eva die Weidenruten mühsam verflochten, da strebten sie schon auseinander. So ging es nicht. Aber wie ging es denn? Eva wußte es nicht und legte mutlos die Hände in den Schoß.

Nach einer Weile begann sie von neuem. Sie fügte eine Handvoll dünner Weidenzweige mit den Wipfelenden zusammen, spaltete mit den Zähnen einen Zweig und umwand damit das Büschel eine Spanne weit vor den dünnen Enden, bog dann diese über den Bund zurück und überband sie noch einmal. So, das war das untere Ende eines spitzen Korbes! Dann knickte sie die Zweige in halber Armlänge nach innen um und verband sie mit einem Ring aus Waldreben.

Nun machte sie sich ans Flechten. Sie zog, von unten beginnend, Rebenranken quer durch die Gerten, einmal darunter, einmal darüber, und wenn sie herumgekommen war, legte sie den nächsten Reifen in umgekehrter Weise ein, einmal darüber, einmal darunter.

Als die untergehende Sonne durch die vom Wind gejagten Wolken brach, war Eva schon dabei, die Enden dreier zopfartig verflochtener Rebenranken als Henkel unter den Ring einzuflechten, und zwar so, daß sie auch nicht losgingen, wenn man einen Stein in den Korb legte. Strahlend hielt sie Peter das Werk ihrer Hände hin.

Der tat gleich eine Menge Steine hinein und schlenkerte den Korb, dann erst sprach er seine Anerkennung aus: »Gut ist’s, es halt‘ schon.«

Peter legte seine Steinwerkzeuge vor Eva auf den Boden und rühmte die Vorteile jedes einzelnen. »Aber schau meine Händ‘ an«, fuhr er fort und zeigte ihr stolz die blutunterlaufenen Schwielen und Quetschwunden.

»Schau meine Händ‘ an«, versetzte Eva nicht minder stolz. Auch sie hatte vom Flechten Blasen und Hautrisse. Und beide freuten sich über die Spuren ihrer erfolgreichen Arbeit.

Noch in der Abenddämmerung machten sie fröhlich einen Erntegang zum Sonnstein und füllten den neuen Korb mit einem Vorrat an Brombeeren und Wurzeln. Schwatzend verzehrten sie ihr Abendessen, zogen zur Sicherheit den Steigbaum in die Höhle herein und suchten ihre Liegestätten auf. Während draußen der Nachtwind brausend durch die Baumkronen fuhr, träumte Eva von kunstvoller Korbflechterei und Peter von Kämpfen mit Bären.

Die Schlagfalle

Nun kam eine schlimme Zeit, Eva wurde krank. Zerschlagen, fröstelnd, von bohrenden Kopfschmerzen und Schnupfen gequält, lag sie in ihrer Schlafgrube. Es war so grimmig kalt, daß in den Nächten die Füchse bellten und in den Höhlen dicker Nebel stand, während draußen das Frostwetter die Luft weithin klar und durchsichtig machte. Eva hegte einen Groll gegen Peter, der sie in die nasse Kälte hinausgetrieben hatte und so an ihrer Erkrankung schuld war. Seine Pflege war rührend, aber unzulänglich, mindestens anfangs. Er legte ihr erhitzte Steine in das Lagermoos; sie nahm es dankbar hin. Doch seinem Vorschlag, allerlei herbe Kräuter zu kauen, folgte sie höchst ungern. Sie schmeckten so abscheulich bitter, daß Eva nach kurzer Zeit genug hatte und weitere Heilversuche rundweg ablehnte. Nur die hellste Zeit des Tages verbrachte sie außerhalb ihres Lagers und bereitete die Mahlzeiten. So zog sich ihr Zustand wochenlang hin. Anfangs blieb Peter noch ganze Tage daheim und bearbeitete die Felle oder schliff an seinem Beil. Auch die Versuche, das Steinbeil zu durchlochen, nahm er wieder auf, ohne viel zu erreichen. Schließlich aber mußte er den Vorrat an Brennholz und Fleisch erneuern.

Auf seinen Streifzügen in der Nähe der Eichenbestände am Alten Steinschlag stieß er auf einen Wildschweinwechsel. Wie ein Hohlweg führte er durch die Schneemassen. Peter entschloß sich, dort eine Falle aufzurichten, wie er sie in schlaflosen Nächten ausgedacht hatte.

Als Schlagbolzen, der über der engsten Stelle des Wechsels hängen sollte, hackte er ein armlanges, schenkeldickes Stück einer Föhre zurecht und ließ vom Astquirl spannenlange Stummel daran; an die wollte er Steine binden, um die Wucht des Bolzens zu steigern, in dessen unteres Ende er eine Hartsteinspitze schäftete. Aus Bocksgedärm drehte er ein langes Seil, das stark genug sein mußte, das Gewicht großer Fallsteine zu tragen. Es sollte, über den Wechsel gespannt, den Weg versperren und, unter einer Baumwurzel durchgezogen, am Stamm des nächsten Baumes bis zum ersten Ast und an ihm bis zu einer Gabelung geführt werden. Dort mußte der Schlagbolzen fallbereit befestigt werden. So weit war Peter mit seinen Überlegungen, als er im Schutz seines qualmenden Feuerkorbes die Falle in den Wechsel einbaute. Noch wußte er nicht, wie er den Schlagbolzen anbringen sollte, damit dieser bei einer Berührung des Seiles niedersauste. Er verließ sich darauf, daß ihm schon noch etwas einfallen werde.

Durch einen Zug unten am Seil mußte dem Bolzen oben der Halt entzogen werden. Also befestigte er am oberen Ende des Spannseiles einen zwei Finger dicken, glattgeschabten, gut eingefetteten Gleitpflock, um den er die Tragschlinge des Schlagbolzens legen wollte. Quer über den Schenkeln der Astgabel, genau über der Mitte des schmalen Wechsels, band er Hölzer fest, die den vom Schlagbolzen beschwerten Gleitpflock tragen sollten.

Endlich war es soweit; der Schlagbolzen hing so hoch über dem Spannseil, daß Peter die Stummel des Astquirls gerade noch mit den Händen fassen konnte. Nun holte er von der nahen Schutthalde des Alten Steinschlags Felsbrocken, die er am Quirl des Bolzens befestigen wollte. Vorsichtig versuchte er, ein schenkeldickes Felsstück von halber Armlänge an dem Aststummel festzubinden, ohne daß der Gleitpflock oben aus seiner Lage käme. Aber mit den kältestarren Fingern legte er den Stein so unvermittelt auf, daß der Bolzen ins Schwingen und der Gleitpflock aus seiner Lage geriet; im nächsten Augenblick sausten Stein und Bolzen herab. Nur der Schwingung des Bolzens hatte es der Fallensteller zu verdanken, daß der schwere Stein ihm nicht die Zehen zerquetschte, sondern sich dicht vor seinen Füßen in die Erde bohrte. Das war ein schöner Schreck für Peter! Immerhin, die Schlagfalle war gelungen. Ehe er sie richtete, trabte er heim, um Köder zu holen. Gegen Abend, als der Schneefall aufgehört hatte, kehrte er zu der Falle zurück und streute in Schrittabständen Kastanien auf den Wechsel, und zwar vor und hinter der Falle. Dann erst kletterte er mit einem Fellstreifen, an dessen Ende er den Schlagbolzen angebunden hatte, auf den Baum, der das Spannseil führte, hangelte am Ast seitwärts bis zur Traggabel, zog den Bolzen auf und hängte ihn mittels der Tragschlinge an den Gleitpflock.

Vorsichtig kletterte er hinunter und machte sich ans Beschweren des Schlagbolzens. Durch sein vorheriges Mißgeschick gewitzt, verhinderte er das Schwanken des Bolzens, indem er wiederholt je zwei Steine gleichzeitig rechts und links auflegte, soviele der Quirl halten konnte.

Der tragende Ast bog sich unter dem Zug der Steinbrocken, das Spannseil war gestreckt. Ehe Peter die Falle verließ, verwischte er seine Spuren im Schnee und kehrte heim.

Als sich am anderen Morgen der Nebel von den Hängen löste, trabte Peter voll Zuversicht vor seinem Schlitten her, der Südwand zu. Aus dem mit Laub und grünen Fichtenreisern bedeckten Glutkorb quoll der Rauch in dicken Schwaden und trieb, vom Wind erfaßt, vor ihm her. Bei der Falle fand Peter ein junges Wildschwein, einen sogenannten Überläufer, das die Längsstreifen des Frischlings verloren hatte. Tot lag es unter dem Schlagbolzen, von dem sich die Trümmer gelöst hatten. Die Beute war steif gefroren, mußte also schon nachts oder am frühen Morgen der Jägerlist erlegen sein.

Sie war eine leichte Bürde für den Schlitten. Ehe der vergnügte Fallensteller sich mit seiner Last heimwärts wandte, stellte er die Falle wieder her, bedeckte die Blutflecken und seine Fußspuren mit frischem Schnee und streute den Mundvorrat, den er mitgebracht hatte, als Köder.

In der Höhle angekommen, eilte Peter zu Eva hinauf. Sie sah ihm verdrossen entgegen und rührte sich nicht aus ihrer Schlafgrube. Unbekümmert darum zeigte er ihr seine Beute, begann ausführlich von seiner Erfindung und dem Erfolg zu erzählen und auszumalen, wie der Braten schmecken würde, ja müsse: mit Lauch und Kümmel gewürzt und triefend von Fett! Salzspeck und Rauchfleisch, das nach Wacholder roch! Wie zu Ahnls Zeiten!

Vor so viel Vorfreude vergaß Eva ihre Mißstimmung; auch ihr lief das Wasser im Munde zusammen. Sie stützte sich auf den Ellbogen, putzte sich die Nase mit einem Büschel Moos, strich sich die Haare aus der Stirn und stand auf. Nach flüchtiger Morgenwaschung trat sie zur Feuerstelle, legte eine Handvoll Kastanien in die Glut und begann, Reiser zu brechen und ein tüchtiges Feuer anzufachen.

Peter zog das Wildschwein ab. Ihm lag daran, aus der Schwarte, die sich nur schwer vom angemästeten Speck löste, ein widerstandsfähiges Leder für Schuhe zu gewinnen. Noch ehe er mit dieser langwierigen Arbeit fertig war, nahm Eva Herz, Leber und Milz des Schweines, schlitzte sie mit dem Steinmesser und würzte die Innereien mit Salz, Lauch und Wildkümmel. Die so vorbereiteten Stücke spießte sie mit dazwischengelegten Speckstreifen auf einen grünen Stab und begann, sie über den Flammen zu drehen.

Ehe das Mahl so weit ausgekühlt war, daß es genossen werden konnte, hing das gespannte Fell neben Schinken und Speckseiten am Gestänge des Trockenbodens im Rauch.

Dann aber kam ein Schmaus, der alles übertraf, was die Höhlenmenschen bis dahin an Leckerem genossen hatten. Das eingesalzene Fleisch des Jungschweins kam in die Fleischgrube.

Den Nachmittag verbrachte Peter am Klammbach, wo er im offenen Wasser Gedärm und Blase des Schweins reinigte. Schlotternd vor Kälte kehrte er in der Dämmerung heim und stürzte sich auf das Essen, das Eva aus den Resten vom Mittagsmahl bereitet hatte: Wildschweinbraten mit gerösteten Kastanien, getrockneten Beeren und Birnen, das konnte man gut zweimal essen!

Räucherkammer

Zum Frühstück tischte Eva nur Kastanien und gedörrte Heidelbeeren auf. Nicht riechen konnte sie das fette Schweinefleisch – mit einem Wort: sie hatte sich daran übergessen.

Ihr Blick fiel auf einen Lehmbrocken, den sie mit der Asche vom Boden der ersten Feuerstelle gelöst hatte. Sie erschrak, denn er zeigte deutlich einen Fußabdruck und war klingend hart gebrannt. Langsam und nachdenklich verzehrte sie ihr Frühstück, drehte den sonderbaren Lehmscherben hin und her und hatte dabei ihre eigenen Gedanken. Daß der Lehm, offenbar vom ersten, in die Höhle gedrungenen Schnee naß geworden, den Abdruck von Peters Fuß zeigte, begriff sie, weil sie dergleichen schon oft bemerkt hatte. Sie konnte sich jedoch nicht erklären, warum er in der Gluthitze steinhart geworden war und die gegebene Gestalt behalten hatte. Das war eine wunderliche Entdeckung.

Schon oft hatte sie bemerkt, daß es ihr schwerfiel, sich an das Aussehen der Ahnl zu erinnern, gerade in Augenblicken, wo sie sich nach deren Gegenwart sehnte; aber der Wunsch, die Gestalt der geliebten Toten vor sich zu haben, war ihr bisher als etwas Unerreichbares erschienen. Jetzt, da sie den Lehmklumpen in Händen hielt, der den Fußabdruck treu bewahrt hatte, kam es ihr ganz leicht vor, die Gestalt der Ahnl aus Lehm zu kneten und dann als »Bildstöckl« im Feuer zu härten. Freilich, sich selbst traute sie eine solche Leistung nicht zu. Aber Peter, der schon oft auf Bildsteinen allerlei Gesehenes festgehalten hatte, der mußte auch das zustande bringen.

Evas Bitten nachgebend, sagte Peter zögernd zu. Nur nicht gleich, erst wollte er sich’s gut überlegen.

Ihn zog es zu der Schlagfalle; einen Traum, den er vor zwei Nächten gehabt hatte, nahm er als Vorahnung der Wirklichkeit. Wenn es stimmte, was der Traum verheißen hatte, dann – ja, dann mußte unter dem Bolzen ein starker Keiler liegen. Trotz dieser Zuversicht war er freudig überrascht, als er, bei der Falle angekommen, wirklich einen starken Keiler fand, der sich kaum einen Pfeilschuß weit vom Schlagbolzen fortgeschleppt hatte, bevor er tot war. Allein konnte Peter die schwere Beute nicht wegbringen.

Erst mit Hilfe Evas, die er geholt hatte, gelang es, das mächtige Tier mittels untergeschobener Knüttel zu heben und zu wälzen.

Sie brauchten einige Tage, bis sie den neuen Fleischvorrat für das Räuchern vorbereitet hatten. Das Überbraten des Eberkopfes nahm Peter selbst vor. Sorgfältig schabte er jede Fleischfaser von den Knochen. Mit einem gebogenen Buchenstab holte er das Gehirn aus dem Schädel. Den Stab hatte er am stärkeren Ende gespalten und im Spalt einen stark gekrümmten oberen Schneidezahn des Ebers festgebunden und -gekittet. Mit diesem an der Schneide hohlgewölbten Kratzer gelang es ihm, den größten Teil des Gehirns aus der Schädelkapsel zu ziehen. Der sorgfältig gereinigte Schädel sollte ihn immer an die gelungene Jägerlist erinnern.

Eva verwahrte sich dagegen, daß Peter die Wohnhöhlen in Räucherkammern verwandelte, in denen sie beide mitgeräuchert worden wären.

So entschloß sich Peter zum Bau einer besonderen Räucherkammer auf der Salzlehne, wo es genug Bruchsteine gab. Eine Höhle wollte er bauen, viel kleiner als Evas Kammer. Peter machte sich ans Werk, stand aber schon am Anfang vor einer großen Schwierigkeit: Durch die anhaltende bittere Kälte saßen die Steine so fest, daß sie sich nur durch ein starkes Feuer vom Grunde lösen ließen. Auch das schaffte er und schichtete die Brocken zu einer mannshohen Ringmauer. Eva, ganz verzagt durch die Kälte, konnte ihm nicht viel helfen, und so dauerte es fünf volle Tage, ehe die Räucherkammer bis auf die kniehohe Feueröffnung geschlossen war. Endlich wurden die mit Wacholderbeeren, Lauch, Kümmel und Salz gewürzten Fleischstücke an grünen Stäben zwischen den obersten Steinen festgemacht, wo der Rauch sie bestreichen konnte. In der Mitte ihrer Höhe war die Kammer verengt. Dort befand sich der Feuerraum für Moderholz, Wacholderreisig und Laub. All das war eine mühsame Arbeit, die nicht wenig Zeit kostete, da die Laubmassen des Waldbodens unter der Schneedecke hervorgeholt und übertrocknet werden mußten. Lose aufgelegte Mergelplatten bildeten das Dach der Räucherkammer.

Als Peter endlich mit Hilfe eines Reisigfeuers das Moderholz im Räucherofen zum Glimmen brachte, wurde der Rauch so, wie er es vorausgesehen hatte, von der einströmenden kalten Außenluft im Ofen zum Fleisch emporgetrieben. Gottlob, es ging – für die Nahrung war gesorgt!

Allerdings stellte die Versorgung zweier Feuerstellen nicht geringe Anforderungen an Peters Kraft und Ausdauer. Rumpf und Beine mit Fellen umschnürt, zog er Tag für Tag mit seinem Schlitten aus. Und als sich dann die Winterstürme einstellten und Massen von Neuschnee vor den Höhlen anwehten, konnte er mit Eva die Gefangenschaft ertragen. Weder das eingesalzene noch das geräucherte Fleisch verdarb. Peter wähnte es auch sicher vor dem rauchscheuen Raubwild. Während andauernde Fröste das Wasser im Bocksgrabenbach zu Eis erstarren ließen, war es in den wohlverwahrten und gutgeheizten Höhlen anheimelnd warm.

Eva hatte mit der Zubereitung der Mahlzeiten und dem Ausbessern der Fellbekleidung vollauf zu tun, während Peter sich mit Behagen dem Basteln hingab. Die Arbeit am Serpentinbeil machte kaum merkliche Fortschritte; um so besser gelangen ihm die neuen, etwas plumpen Winterschuhe aus geräuchertem Schweinsleder. Es waren zwar nur Lappen, die geschickt um die Füße bis zur halben Wade gewunden und umschnürt werden mußten, sie hatten aber drei Vorzüge: Sie waren nahtlos, wegen der nach außen gekehrten Fettseite immer trocken, und die borstige Innenseite hielt den Fuß warm. Auch Eva verbesserte ihre Schweinsschwartenschuhe, indem sie sorgfältig zugeschnittene, mit Sandstein geglättete Rindensohlen einlegte und die Wadenwickel mit Eichhornbälgen, Haarseite nach innen, fütterte.

Sie war nicht wenig stolz darauf, daß Peter ganz unvermittelt von ihr verlangte, sie solle seine Schuhe auch so herrichten.

Beim nächsten Holzfahren durfte sie ihn begleiten. Es wurde ein lustiges Fahren. Auf dem Heimweg saß Eva, den Feuertopf vor sich, auf dem Schlitten, und Peter war vorgespannt; er lief, um sich zu erwärmen. Zum erstenmal seit Winteranbruch freute sich Eva über die Schönheit der im Rauhreif schimmernden Baumkronen. Vorher hatte die peinigende, von den Füßen aufwärtssteigende Kälte sie vollkommen empfindungslos gemacht für die leuchtende Pracht der winterlichen Welt.

Ihre Augen folgten dem anmutigen Flug der Blaumeisen und Goldhähnchen; sie weideten sich am leuchtenden Rot der Gimpel, die als Gäste des Heimlichen Grunds hergezogen waren aus Gegenden, wo der Winter strenger herrschte. Als Peter an seinem Holzstapelplatz im Walde haltmachte, lauschten beide dem wundersamen Hochzeitslied der Kreuzschnäbel, die keine Sorge hatten, ihre Jungen gerade in der kalten Jahreszeit aufzuziehen. War doch der Nadelwald reich an harzreichen Samen, ihrem Lieblingsfutter.

Pelztiere

Die Nebeltage vergingen, die Sonne schien wieder. Peter und Eva sammelten, was sie finden konnten, und wieder kam eine regenreiche Woche, aber die beiden mußten weiterernten. Peter fürchtete einen allzu frühen Schneefall. Die nasse Kälte zwang die Kinder, sich jetzt schon in ihre für den Winter bestimmten Tierfelle zu hüllen. Eva trug einen Brustfleck aus dem Fell der Wildkatze; die stark eingefettete Decke der Rehgeiß dagegen benutzte sie – Haare nach innen – als Rückenschutz. Eichelspangen verbanden den Brustfleck über den Schultern und an den Hüften mit dem Rehfell. Jede Eichel war durchlocht und auf eine Darmsaite gefädelt. Mit dieser war sie am Rande des einen Fells befestigt, während sie durch einen Schlitz des anderen gezogen und außen quergestellt war. Die Beinfelle hatte sie zu Streifen aneinandergenäht, mit denen sie die Unterschenkel umwand. Spangen aus Eicheln und gedrehtem Darm hielten die durchlochten Fellränder zusammen.

Die Kleinbälge des schadhaft gewordenen Schultermantels benützte Eva, um ihren Lendenschurz bis über die Knie hinab zu verlängern.

Peters Bekleidung war einfacher. Sie bestand aus den beiden Hälften der alten Steinbockshaut, die von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurden. Das Hasenfell hatte sich Eva angeeignet. Prall mit Moos gefüllt, diente es ihr nachts als Kopfkissen und bei Tag mit der nach innen gestülpten Haarseite als Handmuff, den sie sich an einem Band aus Fellstreifen um den Hals hängen konnte.

In den bitterkalten Nächten machte sich der Luftaustausch zwischen dem Berginnern und den geheizten Wohnhöhlen als scharfer Zugwind bemerkbar, gegen den sich die Bewohner schützen mußten. Peter scharrte sich in der dicken Lehmschicht seiner Höhle eine so tiefe Schlafgrube aus, daß er in seinem Laublager wie ein Dachs versank. Eva, unter deren Lager Felsboden war, errichtete mit Peters Hilfe einen kniehohen Wall aus Felsbrocken, dessen Zwischenräume sie mit Moos verstopfte. Aus den vielen Eichhornfellen wurden zwei Decken geheftet, die die Schläfer vor der kalten Nachtluft schützten. Trotz der Fellkleider, die nur grob zusammengeheftet waren, fürchtete Peter den Bergwinter. Sie brauchten noch andere Felle, rauhhaarige Pelze; Füchse wollte er haben und Wildkatzen – ja, er verstieg sich in seinen Wünschen sogar zu Bärenpelzen!

Das Raubwild aber ließ sich am Köderplatz nicht mehr sehen; der Rauchgeruch in der Umgebung der Menschenhöhlen machte die Tiere mißtrauisch und vorsichtig. Kolkraben und Nebelkrähen waren die Gäste am Köderplatz; ihre Wachtposten hielten benachbarte Baumwipfel besetzt und meldeten jede Annäherung der Menschen. So beschloß Peter, den Bewohnern des Fuchsenbühels ihre Pelze abzunehmen. Der Bau lag ja im felsigen Gelände, die Füchse würden sich also nicht leicht einen Fluchtausgang graben können. Aushungern wollte er sie, zum Verlassen ihres Baues durch diejenige Röhre zwingen, vor der er eine Falle aufstellen wollte. Diese Falle, das Ergebnis nächtelangen Grübelns, konnte nach seiner Überzeugung nicht versagen.

Die notwendigen Vorarbeiten am Fuchsbau kosteten Peter nicht geringe Mühe. Erst schleppte er eine Menge Felsbrocken herbei und verkeilte alle Ausgänge bis auf einen, der, nach den Spuren zu schließen, am meisten befahren war. Diesen Ausgang verlängerte er um gut drei Schritte, indem er aus großen, schweren Steinen zwei gleichlaufende Reihen von halber Kniehöhe herstellte. Der Gang dazwischen war ungefähr eine Handspanne breit. Diesen Aufbau deckte er mit großen, flachen Steinen. Zwei davon stützte er, die Breitseiten nach unten, mit je einem schräg nach außen gestellten Pflock derart, daß die Pflöcke im Weg waren. Der dem Fuchsbau am nächsten liegende Fallstein hatte nur den Zweck, dem Fuchs den Rückweg abzuschneiden, falls er an den Sperrstab stieß und den Stein zum Einfallen brachte. Der zweite, wuchtigere Fallstein aber war einen Schritt weiter so in der Schwebe gehalten, daß er dem darunter vordringenden Fuchs beim Herabfallen das Rückgrat abschlagen mußte. Die Falle war fertig, nun hieß es abwarten. Drei Tage vergingen, ohne daß ein Stein sich gerührt hätte. Gab es noch einen Ausgang, den Peter nicht kannte?

Endlich, am vierten Morgen, lagen beide Fallsteine unten. Als Peter, zitternd vor Aufregung, den ersten Deckstein abhob, lag da nicht, wie er erwartet hatte, ein Fuchs, sondern ein plattgequetschtes Tier, bedeutend größer als eine Katze, mit weißer Stirn und breiten, schwarzen Augenstreifen. Es war ein Dachs. Mit bebenden Händen hob Peter die Beute auf, stellte die Falle möglichst geräuschlos von neuem und trabte heim.

Die nächsten Tage brachten ihm unerwartet reiche Beute. Eines nach dem anderen suchten die ausgehungerten Tiere das Freie und fielen der heimtückischen Falle zum Opfer. Zwei Dachse und fünf bei ihnen wohnende Füchse, von denen drei noch Spuren des wolliggrauen Jugendkleides trugen, waren der Erfolg menschlicher Jägerlist. Vorläufig wurden die Felle ungeteilt, Innenseite nach außen gekehrt, vom anhaftenden Fett freigeschabt, mit Moos prall gestopft, mit Salz, Lehm und Asche eingerieben und in den Rauch gehängt. Aus den Dachsbälgen sollten Winterschuhe, aus den Fuchspelzen Kleider gemacht werden, bestimmte Peter.

Schon wurden die Tage merklich kürzer; das Wetter heiterte sich auf. Auf Morgennebel folgte milder Sonnenschein. Die Höhlenkinder durchstreiften gemeinsam den Heimlichen Grund und trugen ihre Ernte ein. Nur noch eines wünschte sich Peter: Ein ausgewachsenes Wildschwein wollte er erlegen, um Fett zu gewinnen.

In Gelb, Rot und Lila prangten Sträucher und Laubbäume. Die Füße der Kinder furchten die immer höher werdende Schicht des abgefallenen Laubes. Noch einmal unternahm Peter einen gefahrvollen Aufstieg zur Salzlecke, um Vorrat zu holen, und dann hatte er Muße zu weiten Jagdgängen, bei denen er sich so recht als Mann zu fühlen begann. Am achten Sonntag nach der Entdeckung des Feuers, als die Kinder gerade am Grabe der Ahnl ihre Andacht verrichteten, schwebten die ersten Schneeflocken bei völliger Windstille sachte vom Himmel herab. Sie deckten den Boden mit einer dünnen Schicht von zartem Weiß, aus dem die vergilbten Grashalme hervorsahen. Doch schon am Nachmittag war der Schnee vom Talgrund verschwunden. Noch war es Herbst.

Mochte der Winter kommen mit seinen Frösten und Schneestürmen! Die Höhlenkinder hatten ein Heim, sie hatten Felle und Nahrungsvorräte. Behütet und genährt wohnte das gezähmte, Wärme spendende Feuer bei ihnen. Heller als der Mond erhellte ihnen ein brennender Kienast die Höhle im Berge. Und wenn Peter sich mühte, mit seinem Steinmesser harzige Kiefernzweige zu spalten, die als Leuchten dienen sollten, mußte er an den Ähnl denken, wie er an Winterabenden beim Klieben von Kienspänen mit der Ahnl geplaudert hatte.

Beute im Schnee

Als sei der frühe Schnee nur eine Laune des Himmels gewesen, kamen jetzt heitere, wenn auch kühle Wochen. Der Laubfall vollzog sich nur allmählich; noch war kein Frost eingetreten, kein Sturm hatte die Blätter von den Bäumen geräumt. Den herrlichsten Schmuck des Heimlichen Grunds bildeten die leuchtenden Kronen der Ahorne an den Rändern der Waldbestände und auf den Lehnen. Goldgelb schimmerte das Laub der oberen Zweigenden, ging nach unten in Rot über und ergab mit dem Grün der tiefer sitzenden, noch genährten Blätter einen berauschenden Farbendreiklang. Und die weißstämmigen Birken erst! Sie verwandelten ihre Kronen in zarte, blaßgelbe Schleier, die das Düster des Moorgrundes und die Nadelwaldbestände auf der Grableiten mit goldenem Leuchten durchsetzten.

Angst hatten die Kinder in der Dämmerung nur vor Wildkatzen. Obwohl es Peter bei der ersten Begegnung mit einem dieser Tiere gelungen war, es zu töten, so zweifelte er doch, ob er sich auf die Treffsicherheit seines Pfeiles verlassen konnte. Die Zeit der früh einbrechenden Dunkelheit war für die jungen Menschen eine Zeit des Grauens und des Bangens. Die sinkende Nacht erfüllte sie mit Ahnungen von Gefahren; es trieb sie nach Hause in die behagliche Sicherheit ihrer Höhlen, die vom Duft des Holzrauchs, der gedörrten Früchte, der würzigen Kräuterbüschel und der Fleischvorräte erfüllt waren.

Als die Schlehen und Kornelkirschen schon überreif waren, stellten sich die ersten großen Schneefälle ein.

Eines Tages watete Peter, dessen Füße wohlverwahrt in eingefetteten Dachsschwarten steckten, bis zu den Knöcheln im glitzernden, stäubenden Neuschnee, um für die Trockenböden, die sich unter der Fülle der Vorräte bedenklich bogen, neue Stützen zu holen. Schon hatte er am Sonnstein junge Ahorn- und Eschenstämmchen aus dem Jungholz am Bachufer neben dem Feuerkorb angehäuft und trug nur noch Tannenreisig herbei, mit dem er das Deckengeflecht verdichten wollte, als sein Blick auf flüchtig verwischte Fuchsspuren fiel. Also gab es noch irgendwo in der Nähe Füchse, deren Bau ihm unbekannt war! Er ging den Fährten nach und bekam zwar nicht die Füchse zu sehen, aber das verendete Stück Rehwild, dem der Besuch der roten Räuber gegolten hatte. Es war ein alter Bock mit einem sonderbar gestalteten Geweih, dessen Wucherungen wunderlich nach allen Seiten abstanden. Peter staunte, daß der Bock um diese Zeit sein Geweih noch nicht abgeworfen hatte. Der Schnee, der das Tier bedeckte, war zum Teil weggescharrt, und aus dem offenen Maul des Bockes, dessen Muffel zerbissen war, hingen die blutigen Reste der Zunge, an der die Füchse gerissen hatten. Peter packte den Bock an dem überstark beperlten Geweih und schleifte ihn zum Feuerkorb. Dabei fiel ihm auf, daß das Tier über Erwarten mager und leicht war. Er beeilte sich, es abzubalgen.

Da der Bock offenbar an einer Krankheit oder an Altersschwäche zugrunde gegangen war und Peter dem Fleisch nicht traute, überließ er es dem Raubwild. Er suchte nun einen Schlittenast, um das Fell, den Schädel und die Holzlast fortzuschaffen. Sein Blick fiel auf zwei junge, aus einer Wurzel wachsende Eschenstämmchen. Ihre Wipfel waren unter der Last einer vom Wind umgelegten morschen Fichte gekrümmt. Der Wurzelballen der Bäumchen ragte zur Hälfte aus dem Erdreich. Gewöhnt, auffallende Dinge und ihre Verwendbarkeit zu prüfen, erkannte Peter in den gebogenen, unten verwachsenen Jungstämmen die Hauptbestandteile eines besseren Beförderungsmittels, als es der einfache Ast gewesen war. Wenn er die in der Erde steckende Wurzel abhieb, die krummen Stämmchen von allen unnützen Ästen und Zweigen befreite und durch Querhölzer verband, hatte er ein tragfähiges Schleppzeug, vielleicht auch für später. Peter machte sich sofort an die Arbeit, hatte aber große Mühe, die Wurzeln aus dem Geröll zu lösen. Als er sie nach eifrigem Graben und ungezählten Hieben mit der Steinaxt bloßgelegt hatte, war er trotz der Kälte in Schweiß gebadet. Seine Geduld war so erschöpft, daß er wie ein Rasender an den im Boden steckenden Wurzeln zerrte.

Da entdeckte sein suchender Blick einen armdicken Knüttel. Den schob er unter den Wurzelballen, legte einen Steinbrocken unter den so gewonnenen Hebel und drückte mit aller Kraft auf dessen frei emporragendes längeres Ende. Ein Krach, ein Prasseln von Steinen und Reisig – Peter fiel längelang in den Schnee, und um ihn her lag zerbrochenes Geäst der verdorrten Fichte; sie war im selben Augenblick niedergestürzt, als Peter ihr die Stütze genommen hatte. Mit Entsetzen erkannte er, daß er von dem stürzenden Baum beinahe erschlagen worden wäre. Wie hatte er nur die Fichte außer acht lassen können! Wenn ihm etwas geschehen wäre! Wenn Eva allein zurückbleiben müßte, könnte sie ohne ihn leben? Peter beschloß, in Zukunft besser aufzupassen, umsichtiger zu werden. Aber schon im nächsten Augenblick begann er, seine Schlittenkufen von allem störenden Ast- und Wurzelwerk freizumachen. Querstäbe band er unten in den Winkeln an den nach oben ragenden Ästen fest; diese sollten als Seitenstützen stehenbleiben. Es kam ein schmaler, aber brauchbarer Schlitten zustande. Als Peter seine Ausbeute an Stäben der Länge nach an den Querstangen festgemacht hatte und den Schlitten zu ziehen versuchte, fand er die Last so leicht, daß er von der zerbrochenen Fichte eine ansehnliche Tracht Brennholz dazupackte. Als letztes verstaute er das Fell, den Bockschädel, und obenauf kam der Feuerkorb. Seinen Jagdspeer und den Bogen steckte er zwischen die Hölzer, er selbst stellte sich zwischen die steil aufgebogenen Schlittenkufen.

Wie leicht die Bürde über den Schnee glitt! Nur wo die Holzladung für den Erntepfad zu breit war, spießte sich die Fracht am Gesträuch; aber einige Axthiebe halfen durch. Peter nahm sich vor, den Erntepfad breiter zu bahnen und seine Unebenheiten auszugleichen. Aus dem Pfad mußte ein Fahrweg werden. Schon war die Dämmerung hereingebrochen, als er sich mit seiner Fuhre den hellerleuchteten Wohnhöhlen näherte. Blauer, duftender Holzrauch strich zu ihm herüber.

Peter dampfte vor Anstrengung, als er beim Steigbaum anlangte. Vor dem lodernden Herdfeuer streckte er sich der Länge nach auf den Lehmboden und ließ sich von Eva füttern. Sie reichte ihm erst gebratene Kastanien, dann eine Mergelplatte voll Frischlingsbraten und Preiselbeeren. Mit vollen Backen kauend, erzählte der Heimgekehrte von seinen Erlebnissen und Plänen, wie er erlegtes Wild, Ernteertrag und Brennholz heimbringen wollte.

Am nächsten Tag begann Peter mit dem Bau eines Schutzwalls am Eingang der unteren Höhle; er verstopfte auch die beiden Seitengänge, um die kalte Außenluft abzuhalten. Eva, die gerade das Essen zubereitete, freute sich, daß die Höhle nun viel besser durchwärmt wurde. Der Rauch stieg ruhiger zur Decke auf, wo er sich im Gestänge des Trockenbodens staute, ehe er durch das Loch ins Freie entwich.

*

Peter war von seiner Arbeit so in Anspruch genommen, daß Eva sich der Rehdecke annehmen mußte, die auf dem nassen Boden neben dem Schlitten lag. Die Haut zu reinigen und im Bocksgraben bei dem bereits eingelagerten Fell unter Laub und Steinen zu vergraben, war keine appetitliche Arbeit. Sie tat sie aber und entdeckte dabei, daß die früher eingelagerte Haut nicht faulig roch, sondern vom durchnäßten Laub einen herben, nicht unangenehmen Geruch angenommen hatte. Die Haare lösten sich vom aufgequollenen Leder. Eva fröstelte. Beim Arbeiten in der Nässe waren die Murmeltierfelle ihrer Schuhe feucht geworden. Heimgekommen, zog sie sich in ihre Kammer zurück und vergrub sich förmlich im Laub und Moos ihres Lagers.

Kaum hatte sie sich einigermaßen erwärmt, so stopfte sie ihr aufgeweichtes Schuhwerk mit dürrem Moos aus, damit es beim Trocknen nicht einschrumpfe. Dabei stellte sie fest, daß die Sohlen an einigen Stellen durchgerieben waren, während die eingelegte Birkenrinde widerstanden hatte. Also war Birkenrinde zäher. Eva überlegte und beschloß, zur Verstärkung des weichen Leders auf jede Sohle zwei Rindenstücke zu nähen. Das Vorbohren der Nählöcher an den Sohlenrändern mit einem spitzigen Knochensplitter war eine Heidenarbeit und machte sie so ungeduldig, daß sie die Löcher daumenbreit voneinander entfernt anbrachte, nur um schneller fertig zu werden. Als sie daran ging, die trockengewordenen Schuhe mit den neuen Sohlen zu benähen, war sie mit ihrer Kunst am Ende. Was sie auch versuchte, es gelang ihr nicht, die Nadel mit der Darmsaite dort durchzuführen, wo sie es beabsichtigte. Sie mußte die Schuhe auf der Ristseite schlitzen. Aber die Häute waren so mürbe, daß sie keinen Stich hielten. Eva war den Tränen nahe und warf die Arbeit entmutigt beiseite. Dann dachte sie nach und fand einen Ausweg. Sie holte aus dem Bocksgraben eines der eingelegten Rehfelle, reinigte es, schnitt zwei große Lappen heraus und nähte sie so feucht, wie sie waren, zwischen den äußeren und inneren Rindensohlen fest, stellte dann den einen Fuß auf ein inneres Sohlenblatt und faltete über dem Rist die Lappenenden empor, nähte sie über der Fußspitze zusammen und schnitt Überflüssiges weg. Hinter der Ferse zog sie das Leder hoch und nähte an den Seiten die Falten zusammen. An die Zipfel heftete sie breite Lederstreifen, wickelte sie kreuzweise um Fußgelenk und Wade und band sie unter dem Knie fest. Nachdem sie auch den anderen Fuß bekleidet hatte, überließ sie es ihrer Körperwärme, das weiche Leder zu trocknen. Als es einigermaßen hart geworden war, rieb Eva die Außenseite ihrer Schuhe mit einem Gemisch von zerlassenem Wachs und Fett ein, wobei sie besondere Sorgfalt auf das Dichten aller Nähte verwendete.

Freudestrahlend zeigte sie Peter ihr verbessertes Schuhwerk, das keine Nässe durchließ. Noch am selben Tag sah sie mit Genugtuung, daß Peter, der bisher einfach Dachsschwarten um seine Füße gewickelt hatte, sich nach ihrem Muster neue Schuhe machte. Gleich nach dem Abendessen verschwand Eva hinter ihrem Lagerwall und wühlte sich ins Moos und Laub. Sie wollte ungestört nachdenken, wie sich aus der Schwarte des Wildschweins, das Peter bestimmt noch erlegen würde, dauerhafte Schuhe herstellen ließen.

Peter kniete auf dem Boden vor einem Sandstein und führte auf dessen rauher Fläche einen Knochensplitter hin und her, er wollte eine flache, lange und zweischneidige Speerspitze zurechtschleifen. Nach kurzer Zeit tat er die Arbeit beiseite. Seine Augen waren trocken und heiß vor Schlaf, und so legte auch er sich zur Ruhe, ohne einen Block Moderholz auf die Glut zu legen. Zum erstenmal hatte er es vergessen.

Der Föhn

Als die letzte Glut unter der Asche des vernachlässigten Feuers erloschen war, wurde es kühl in den Höhlen. Eva, deren einer Arm bloßgelegen hatte, erwachte im Morgengrauen und stieg fröstelnd über den Steinwall ihres Lagers, um nach dem Feuer zu sehen. Dichter Nebel erfüllte ihre Höhle; die Wände, an denen sie sich hinabtastete, troffen vor Nässe. Draußen schneite es, und der Wind hatte Schnee in die Höhlen geweht. Eva stocherte in der Asche der Feuerstelle. Plötzlich schrie sie auf: »Das Feuer ist aus, ganz aus!«

Peter schnellte auf. Verflogen war seine Schläfrigkeit. Ungläubig kauerte er vor der Feuerstelle im Schnee. Kein Rauch! Kein Fünkchen Glut! Zitternd vor Aufregung und Kälte, hob er die vom Schnee feucht gewordenen angekohlten Holzreste vom Rand der Feuerstelle ab, drehte sie um, blies sie an, sie blieben schwarz.

Vorsichtig streifte er die Asche beiseite, sie war noch lauwarm.

Hoffend und bangend wühlte er weiter. Da schrie er plötzlich auf in Schmerz und Freude. Er hatte sich die Finger verbrannt. Tief unter der Aschenschicht war noch Glut!

Rasch legte er sie bloß und streute trockenes Moos, Wacholderzweige und Fichtennadeln darauf, dann blies er erst vorsichtig und ein wenig später mit vollen Backen von einer Seite hinein und Eva von der anderen.

Kleine Flämmchen schlugen aus der Glut und schlängelten sich an den harzreichen Reisern empor. Das neuerweckte Feuer leuchtete, knisterte, qualmte, reichlich genährt von den beiden Höhlenkindern. Und als die Flammen kniehoch emporzüngelten, da packte Peter Eva an den Schultern und schüttelte sie in einem Übermaß von Freude.

In abgebrochenen Sätzen machte er sich Luft: »Das wär‘ was g’wesen! Zugrund hätten wir gehen müssen in der Bärenkälte. Das darf nicht mehr passieren! Der Schnee muß draußen bleiben!« Daß er vergessen hatte nachzulegen, verschwieg er. Als er Eva losließ, griff sie sogleich nach ihrem Wurzelbesen und kehrte den Schnee zu einem Haufen zusammen.

Dann holte sie aus dem Allerlei ein Schulterblatt vom Hirsch und beeilte sich, den Schnee, der in der Wärme zu schmelzen begann, über die Steinbrüstung hinauszuschaufeln. Peter schickte sich gleich an, dem Schnee, dem er das Verlöschen des Feuers zuschob, den Zugang zu verwehren.

Erst mußte er die lückenreiche Schutzmauer, die er am Eingang zur unteren Höhle aus losen Steinen kaum kniehoch aufgeführt hatte, zerklauben und daraus eine sichere Unterlage für den Weiterbau schaffen. Da er aber viel mehr Steine brauchte, als er hatte, war er gezwungen, neue herbeizutragen. Draußen lag der Schnee fußhoch. Gleich nach dem Frühstück suchte Peter im Bachbett aus dem groben Geröll die größten Trümmer heraus, verstärkte seinen Schlitten durch aufgelegte Quer- und Längshölzer und führte Steinbrocken herbei.

Als er die meist abgerundeten Steine auf die Grundmauer legen wollte, erwiesen sie sich als untauglich. Besser waren flache, eckige, scharfkantige Bruchsteine, wie sie auf der Salzlehne herumlagen. Dorthin begab er sich. Den Schlitten ließ er auf der rechten Bachseite. Auf den Gangsteinen, die mit ihren Schneehauben weit aus dem seichten Wasser ragten, überschritt er den Bach. Mit Evas Schneeschaufel, die er an einen langen Stiel gebunden hatte, säuberte er einen Fleck der Schutthalde von Schnee und zerrte eine Anzahl Mergelplatten aus dem Gesteins-Schutt.

Da er die Steine einzeln zum Schlitten tragen mußte, wurde ihm vom Schleppen gehörig warm. So arbeitete er tagsüber und nahm sich kaum Zeit, etwas zu essen. Erst in der Dämmerung fiel er über das Fleisch her, bastelte noch ein wenig im Schein des Feuers und schlief dann die Nacht durch. Am Abend des dritten Tages war die Mauer bis zur halben Höhe des Höhleneingangs gediehen.

Nur an der Seite, wo Peter sein Lager hatte, standen die obersten Steine an der Höhlendecke an.

Daneben war eine Lücke als Durchlaß für den Steigbaum, zu deren Verschluß ein aus Ruten geflochtenes, mit Fellen behängtes Türgitter eingefügt werden konnte.

Am Morgen des vierten Tages war es unmöglich, draußen etwas zu unternehmen. Es schneite nicht, aber dicker, gelbgrauer Nebel erfüllte den Talkessel, die Luft schien zu stehen. Matt leuchtete die Sonne als rote Scheibe durch den Dunst, den ihre Strahlen nicht aufzulösen vermochten. So blieb es bis Mittag, dann wurde der Ausblick über den Talgrund frei, die Sonne brach durch die Nebelmassen und verzehrte sie.

Als die Ostseite des Sonnsteins im Schatten lag, schien die Mittagssonne hell in die Tiefe des Heimlichen Grunds. Schneewasser tropfte von allen Zweigen und rieselte glitzernd an Ästen und Stämmen herab.

Peter, der erst aus seiner Schlafgrube gekommen war, als Eva ihn zum Essen gerufen hatte, aß im Stehen und machte sich dann zur Salzlehne auf, um neue Bausteine zu holen. Er stapfte durch Schneematsch. Als er den Bach überschritt, fiel ihm auf, daß die Gangsteine verschoben und leicht überflutet waren. Der Bach rauschte lauter als sonst. Die Luft über dem Talgrund war so klar, daß Peter die Umrisse der drei Gipfel über den Klammwänden – Horn, Henne und Spitz – deutlicher sah als jemals. Über den Zinnen der Grabwände entstanden leichte Wölkchen und lösten sich rasch wieder auf. Dann bildete sich eine lange, massige Wolkenbank, die am Rande der Felsen zu kleben schien.

Das alles sah Peter mit Befremden. Von Ahnls Zeiten her wußte er, daß der warme Föhn, der Schneefresser, auf den diese Vorzeichen gepaßt hätten, im Frühling wohl zu fürchten war, wo er große Schneemassen zum Schmelzen brachte. Jetzt aber war es Spätherbst, und es lag wenig Schnee.

*

Als Peter das Steinesammeln wieder aufnahm, bemerkte er, daß der Schnee zusehends schwand, und unter seinen Füßen und ringsumher raunten und rieselten Wässerchen. Von den einzeln stehenden Bäumen fielen große Tropfen wie nach einem Platzregen. Peter brauchte die Schaufel nicht mehr, die Steinplatten sahen naßglänzend aus dem Geröll hervor. Er nahm auf, was er heben konnte, und schleuderte es die Lehne hinab. Dabei wurde ihm sonderbar heiß. Noch schrieb er die Wärme seiner Anstrengung zu; aber eine seltsame Niedergeschlagenheit erfaßte ihn, eine angstvolle Unrast und Mattigkeit, die er nicht zu deuten wußte. Plötzlich horchte er auf: Ein gewaltiges Brausen ging durch die Luft. Und die Wolkenbank dort drüben am Rande der Grabwände hatte sich in Fetzen aufgelöst, die, vom Sturm gedrückt, über die Wandränder niederfegten zum Grund, wo sich noch kein Blatt regte.

Dann stieß ein heißer Windstoß herab, der die Eschen und Fichten wie Schilfhalme bog; da und dort stürzte krachend ein Baum. Peter stand wie gelähmt. Gebannt sah er die rasende Bewegung der Wolkenfetzen, die der brausende Sturm von den Grabwänden zum Talgrund niederjagte und dann an der Südwand emporriß.

Der Schnee um ihn her war ganz verschwunden. Plötzlich erschütterte ein donnerartiges Getöse, dem ein Prasseln und Knattern folgte, die Luft. War eine Lawine, ein Steinschlag niedergegangen? Ungewiß, ob nicht auch über ihm todbringende Massen in Bewegung geraten seien, stürzte Peter in langen Sätzen abwärts, durchwatete den stark angeschwollenen Bach und hastete nach seiner Höhle. Dort angekommen, hockte er sich hinter die Mauer ins Laub seines Lagers. Jetzt erst fühlte er sich geborgen. Eva kauerte sich schluchzend neben ihn. Er starrte wie betäubt vor sich hin. Draußen wuchs das Sausen und Brausen des Sturmes, der sich breit und massig auf den Urwald geworfen hatte. Bebend lauschten die beiden dem Krachen abgestorbener Äste, dem Niederwuchten toter Baumriesen.

Über die niedere Schutzmauer drangen Sturzwellen der bewegten Luft in die Höhle ein, wirbelten die Asche der Feuerstätte hoch, zerstreuten die glimmenden Holzreste, fachten die Glut zu Flammen an und ließen die Feuerzungen gierig über den Boden lecken. Da fuhr Peter aus seiner Betäubung auf: Das Feuer durfte sich nicht ausbreiten, durfte die Stützen des Trockenbodens nicht ergreifen!

Mit dem Wurzelbesen fegte Eva die verstreuten Kohlen gegen die Schutzmauer, kehrte sie auf ein Häuflein, bedeckte sie mit abgebrannten Stücken von Moderholz und beschwerte diese mit aufgelegten Steinplatten.

Als Peter an der Mauer vorbei in seinen geschützten Winkel zurückkehren wollte, warf ihn ein Windstoß zu Boden.

Er blieb liegen, stützte sich auf die Ellbogen und schaute, unbekümmert um den warmen Sturm, der in seinem Haar wühlte, hinaus in das Wogen der Baumkronen.

Er sah geknickte Äste und Baumwipfel dahinfliegen, er lauschte dem Sausen, Klingen und Brausen des Sturmes, er hörte das grobe Bruchholz zur Erde stürzen.

Da überkam ihn plötzlich eine Freude: Der Schneefresser arbeitete für ihn, schaffte ihm neue Vorräte an Brenn- und Werkholz, ersparte ihm unzählige Axtschläge! Was die Borkenkäfer an Bäumen getötet hatten, brach der Sturm nieder.

Der Föhn tobte nicht lange. Unvermittelt trat wieder Ruhe ein. Die Bäume standen regungslos. Unten im Bocksgraben, wo die zwei Häute unter Laub und Steinen lagen, schoß gelbes Wasser dem Klammbach zu. Die Felle mußten gerettet werden!

Trotz der Sorge, ein Steinschlag könnte ihn treffen, eilte Peter hinunter, fand die Felle noch unter den Beschwersteinen und kam mit ihnen heil zu Eva zurück. Während sie angstvoll warteten, was noch kommen würde, und in die unheimliche Stille des Grundes hinauslauschten, sahen sie den Bocksgrabenbach anschwellen. Bald schoß das lehmgelbe Wasser in der Höhe des Grabenrandes dahin. Es führte Rasenstücke und Schwemmholz dem Klammbach zu, aber auch ertrunkene Waldmäuse, Vogelleichen, Schneckenhäuser, Stauden von Alpenrosen und Heidekraut, Wurzelstöcke und ausgewaschene Zwiebeln. Peter litt es nicht mehr in der Höhle. Blitzschnell war er unten im neuen Rinnsal und fing alles auf, was er brauchen konnte.

Zwei Alpenhasen warf er ans Ufer, eine Menge Lauchzwiebeln, einen Haufen Holz und Moos. In seinem Sammeleifer war es ihm entgangen, daß der Himmel sich verfinstert hatte. Erst als ein schwerer, lauer Regen auf seinen Rücken fiel, schaute er auf.

Er schaffte das Erbeutete eiligst zur Höhle, wo es von Eva mit Jubel entgegengenommen wurde.

Draußen rauschte der Regen. Eva trug dem Feuer neue Nahrung zu und umbaute es mit einer niederen Steinmauer. Dann bereitete sie das Essen, und Peter stellte das Schwemmholz zum Trocknen auf. Rings um die Feuerstelle stapelte er die nassen Knüttel, die bald zu dampfen begannen. Den Rest des Holzes schichtete er an der Schutzmauer und über sie hinaus bis zur Höhlendecke. Nur einige Lichtluken und den Eingang ließ er frei.

Eva, die fleißig Scheiter und Zweige zugereicht hatte, zog sich, als die Dämmerung hereinbrach, müde in ihre Schlafkammer zurück. Peter aber arbeitete beim Licht eines brennenden Föhrenastes weiter. Er stäubte die glitschigen Rehfelle, deren Haardecke vielfach losgegangen war, tüchtig mit Asche ein und schnitt Ruten zu, um so bald wie möglich eine Trennungswand zwischen dem Herdraum und seiner Schlafstelle aufzurichten. Er wollte endlich vor der Rauchplage ein wenig geschützt sein. Bevor er seine Schlafgrube aufsuchte, zog er den Steigbaum herauf, versorgte das Feuer und schloß den Höhleneingang und den Aufgang zu Evas Kammer ab. Der eintönig niederrauschende Regen schläferte ihn ein.

Als Peter am nächsten Tag die zwei geretteten Rehfelle am Bach schwemmte, fiel ihm ihr herber Rindenduft auf, der den üblen Fäulnisgeruch verdrängt hatte. Daß die Holzasche alle Haare glatt weggebeizt hatte, war für ihn eine nicht minder wertvolle Erfahrung. Das ältere Fell spannte er ans Gestänge des Trockenbodens; für das neuere vertiefte er einen aufgefüllten Tümpel.

Schon am Nachmittag desselben Tages war der Bocksgrabenbach stärker angeschwollen und brachte viel Kleinholz, aber auch Baumstrünke mit, die Peter rasch einheimste.

Als das nasse Holz in der Höhle zum Trocknen ausgebreitet war, füllte sich der ganze Raum mit Dampf, der sich an den Wänden zu Wasser verdichtete. Unbehaglich war’s in den Höhlen. Ihre Umgebung war ungangbar, da der Bocksgrabenbach über seine Ufer getreten war. Die Höhlensiedler arbeiteten daheim und zankten sich. Peter ärgerte sich, daß viele getrocknete Beeren verschimmelt waren. Auch die gedörrten Pilze waren verdorben, sie rochen abscheulich. Vieles, was sie mit Mühe eingetragen hatten, mußte weggeworfen werden. Für den langen Steigbaum war die Höhle zu niedrig, und Eva mußte, auf Peters Schultern stehend, sich mit der einen Hand am Trockenboden festhalten und mit der anderen herumräumen. Peter, dem das zu langsam ging, verlor die Geduld.

Er entschloß sich, einen der Baumstrünke aus dem Bocksgrabenbach zum Daraufsteigen zu richten, um nicht immer von Evas Hilfe abhängig zu sein. Das Zurechtzimmern des hüfthohen Strunkes, von dem die abstehenden Wurzeln abgehackt werden mußten, kostete Peter viel Zeit. Besonders hielten ihn die immer wieder notwendigen Ausbesserungen seiner Steinbeile auf, deren Schäftung mangelhaft war: Die Bindung lockerte sich während der Arbeit. Das Zurichten der Steinbeile war eine Nebenarbeit, die ihn von seiner Hauptaufgabe so ablenkte, daß er mehr Zeit auf das Ausprobieren neuer Bindungen verwendete als auf die Zimmerarbeit selbst. Endlich, nach zwei Tagen angestrengter Tätigkeit, war der Trockenboden in Ordnung. Das Flechten der Trennungswand, die den Rauch von den Schlafstellen abhalten sollte, konnte Eva allein besorgen. Inzwischen war das Schwemmholz halbwegs trocken geworden, und Peter begann mit der Verarbeitung.

Einen bewurzelten Baumstrunk, der ihm bis zu den Ellbogen reichte, bestimmte er zum Werkstock, zwei kleinere zu Hockern. Die Betreuung des Feuers, das Trocknen und Schichten des Holzes überließ er jetzt Eva ganz. Dafür erfüllte er ihr den Wunsch, den Ausblick ihrer Kammer mit Steinen und Holz zu verbauen, so daß nur eine kleine Lichtluke blieb, durch die nicht viel Schnee eindringen konnte.

Eva, die einen angeborenen Sinn für Ordnung besaß, bemühte sich, den Fußboden der unteren Höhle, der mit Zweigen, Rinden, Geräten und Werkzeugen übersät war, zu säubern.

Das Allerlei schaffte sie in den rechten Hintergrund der Höhle und machte so einen Raum, der wegen der niedrigen Decke nicht begangen werden konnte, wenigstens als Lagerplatz für Dinge nutzbar, über die sie nicht immer stolpern wollte. Was sie an unbrauchbaren, übelriechenden Abfällen fand, das kehrte sie in den kurzen »Schiefen Gang«, jenen zuletzt entdeckten Höhlenausgang, aus dem sie leicht ins Freie geschafft werden konnten.

Mit der Rumpelkammer war Peter einverstanden, als Eva aber auch die Aschen- und Holzreste hinüberkehren wollte, erhob er Einspruch.

Die angekohlten Holzreste waren noch brauchbares Brennmaterial, und die Asche war nicht nur zum Reinigen der Hände notwendig, sondern auch zum Entfetten der Bälge. Er legte eine Aschengrube an und machte sich an die Bearbeitung der Fuchsbälge.

Im Lehmboden seiner Höhle hob er eine kleine flache Grube aus, rührte darin aus Wasser, Salz, Lehm und zermürbtem Laub einen Brei an, rieb damit die Fuchsbälge auf der Fleischseite ein und breitete sie in der Nähe des unteren Schiefen Ganges aus; dort mochten sie eine Zeitlang liegen bleiben. Dann nahm er den fast in Vergessenheit geratenen Elsternbalg vor, den er zu einer Kopfbedeckung für Eva bestimmt hatte, scharrte den Rest des salzigen Lehmbreies aus der Grube und füllte damit die zukünftige Haube.

Während der Arbeit an den Fellen erwachte in Peter die Jagdlust. Aber draußen rauschte noch immer der Regen nieder, Tag und Nacht, Nacht und Tag. Doch in den Wohnhöhlen gab es dringende Arbeit genug. Die nur flüchtig eingegrabenen Stützen des stark belasteten Trockenbodens zeigten eine bedenkliche Neigung umzufallen. Durch schräge Stäbe, die Peter einrammte und an die Stützen band, gab er dem Ganzen größere Standfestigkeit. Nachdem dies getan war, machte er sich wieder an die Felle, die unter dem ausgetrockneten Lehmbrei beinahe geruchlos, aber auch so hart geworden waren, daß sie erst eingefettet und mühsam weichgerieben werden mußten. Dann klopfte er die fast trocken gewordene Lehmmasse aus dem Elsternbalg, zog innen eine Waldrebenranke als Spannring ein, verband ihn mit den in die Flügel und den Kopf eingelassenen Stützruten, steckte ein paar abgeschliffene Granate als Augen in den Vogelkopf und freute sich, als Eva die Haube aufsetzte und sich im Spiegel des Wasserkorbes beschaute. Durch mancherlei Halsverrenkungen brachte sie es sogar fertig, auch den blaugrün schillernden Stoß, der ihr über den Nacken hing, im Spiegelbild zu sehen.

Aus den beiden stärkeren Fuchsbälgen wollte Eva für Peter Kniestutzen machen, aus den zwei schwächeren Stutzen für sich selbst. Der fünfte Balg endlich sollte Evas neuer Muff werden. Das mit Moos ausgestopfte Hasenfell blieb jetzt ihre Kopfstütze.

Der nächste Tag war, wie Peter an seinen Zeitstrichen ablas, ein Sonntag. Der Regen hatte schon in der Nacht aufgehört. Als die Nebel sich im Laufe des Vormittags verzogen hatten, war das Grasland am Bocksgrabenbach vom Wasser frei, und der helle Herbsttag lud die Kinder ein, ihre Höhle zu verlassen. Zum Grab der Ahnl wollten sie. Sorgfältig gewaschen und gekämmt, angetan mit ihren Winterkleidern, an den Füßen die neuen Schuhe, die Kniestutzen an den Waden, im Federschmuck ihrer Kopfbedeckungen stiegen sie, den Feuerkorb in den Händen, den Steigbaum hinab.

Sie gingen langsam am Fuß der Höhlenwand den Bocksgrabenbach aufwärts.

Schon waren sie am Fuchsenbühel angelangt, und noch immer konnten sie den Bach nicht überspringen. Aber auf dem unterwaschenen Ufer standen dicht beieinander zwei armdicke Tannen, die sich schräg über den Bach neigten. Wären sie drüben aufgelegen, so wären sie als Stegbäume brauchbar gewesen. Peter versuchte, sie niederzudrücken. Eva erriet seine Absicht. Gemeinsam stiegen sie die Bäume hinan, die Hände im Gezweig verkrallt; da gab das Ufer langsam dem Drucke nach, und die beiden Stämme legten sich sachte über den Bach.

Diese Bäume sollten eine Brücke über das schmale, aber tiefe Bachbett werden, beschloß Peter, begnügte sich aber vorläufig damit, nur die paar aufragenden Wurzeln und Äste abzuschlagen. Dann belegte er mit Evas Hilfe die Brückenbalken mit aufgelesenem Prügelholz.

Beim Grab, das von angewehtem Laub hoch überdeckt war, knieten sie nieder und verrichteten ihre Andacht. Sie hatten der Toten viel zu erzählen und dem Allmächtigen viel zu danken, aber auch viel von ihm zu erbitten. Der Winter war nicht mehr weit.

Verwaist

Dem Gewitterregen folgte ein sonniger Morgen. Wallende Nebel stiegen von der Talsohle an den Hängen empor. Durch die klare Luft drang der vielstimmige Gesang der Ringdrosseln, Wasserschmätzer, Bergfinken, Girlitze und Grünlinge. Peter erwachte. Er rieb sich die Augen und sah die Sonnenpracht um sich her. Dann fiel sein Blick auf Eva, sie lag noch in tiefem Schlafe, eng hingeschmiegt an die Ahnl. Ein quälendes Hungergefühl trieb den Jungen zum Aufstehen. Seine Blicke prüften den reichen Pflanzenwuchs der Umgebung. Im Talgrunde blühten stachelige Männertreustauden und Wegwarten. Waren die Wurzeln auch mager, genießbar waren sie doch. Schon wollte Peter aufstehen, als er eine Rehgeiß gewahrte, die aus dem Jungholz ins freie Grasland trat. Ihr folgten zwei Kitze, deren hellrotbraunes Fell noch weiß getüpfelt war. Sorglos näherten sie sich dem Beobachter. Jetzt bemerkte auch die Ricke den Jungen; sie äugte neugierig herüber, ohne Angst.

Peter durchfuhr der Gedanke: Beschleichen, fangen, töten, essen! Ohne zu überlegen, wie das Wild zubereitet werden könnte, ließ er sich auf Hände und Knie nieder und begann sich anzuschleichen. Er hatte Hunger, wütenden Hunger.

Unter ihm knackte dürres Reisig. Die Ricke sicherte mißtrauisch. Nur ihre nach vorn gerichteten Lauscher verrieten, daß sie aufmerksam geworden war. Klopfenden Herzens und mit angehaltenem Atem kroch Peter näher. Kaum fünf Schritte vor der Ricke duckte er sich zum Ansprung. Da hörte er sie heftig aufstampfen. Plötzlich schnellte sie empor – schon flog sie in langen, bogenförmigen Sprüngen über das Steinfeld und setzte über den Bach, ihr nach die beiden Kitze und hinterher der Jäger. Die Entfernung zwischen ihm und dem Wild wurde größer. Unmöglich, diese Tiere mit den Händen zu fangen! Einen Stein, einen Stein sollte man haben … Da lagen ja faustgroße Steine genug auf dem Boden! Im Laufen hob er einen auf und stürzte dem Wilde nach. Er rannte sich heiß, nur von einem Gedanken beseelt: töten, töten und essen. Das Wild war im Vorteil. Vertraut mit seinem Revier, schlankbeinig und gelenkig, flog es über den Boden dahin, dem Dickicht zu, das am Waldesrand die Talsohle säumte. Reiser knickten, Zweige rauschten, und fort war es, den Blicken des Verfolgers entschwunden. Peter stürzte in das Dickicht und prallte mit einem Aufschrei zurück. Eine Brombeerranke hatte ihm das Gesicht zerkratzt, und von der tiefen Schramme, die über Nase und Wangen führte, rann das Blut. Der Stein entfiel seiner Hand, Peter wandte sich zum Gehen.

Mit hängendem Kopf kehrte der Jäger auf seinen Spuren zurück. Unterwegs wusch er seine Wunde im Bach und schlenderte mißmutig zwischen den hohen Königskerzen und Weidenröschen dahin, deren Blüten sich in der warmen Vormittagssonne erschlossen hatten. Trotz der schmerzenden Wunde begann er seine Umgebung aufmerksam zu mustern. Der knurrende Magen schärfte seine Augen. Auf dem feuchten Hang über dem Fels entdeckte er reichtragende Heidelbeerstauden; mit beiden Händen stopfte er sich die herbsüßen Früchte in den Mund.

Als der ärgste Hunger gestillt war, begann Peter für Eva und die Großmutter zu sammeln. Aber worin sollte er die Beeren fortbringen? In die hohle Hand ging nicht viel. Vor ihm stand eine Klettenstaude. Rasch pflückte er eines der großen Blätter, steckte die Blattränder mit einem Zweig zu einer Tüte zusammen und füllte sie bis zum Rande.

Als er damit unter dem Felsendach anlangte, fand er Eva noch schlafend an der Seite der Großmutter, die mit blassem Gesicht und mit offenen, seltsam starren Augen dalag. Ihr Kinn war herabgesunken. »Ahnl, schau, Heidelbeeren!« Sie gab keine Antwort und sah an ihm vorbei ins Leere. »Sie wird noch müd sein«, murmelte er vor sich hin.

Er berührte Eva an der Schulter. Die fuhr erschrocken auf. Dann sah sie Peters zerschundenes Gesicht. »Ja, Peterl, wie schaust denn du aus?«

»Die Brombeerstauden haben mich so hergericht’t, ein Reh wollt‘ ich fangen.« Und er reichte ihr die Tüte mit den Beeren. Gierig aß sie davon, dann erhob sie sich.

»Ich geh‘ mit dir, wo gibt’s denn die?«

»Schon recht«, sagte der Bub zögernd, während er mit steigendem Befremden die Großmutter beobachtete. Sie regte sich noch immer nicht.

Daß die Frau, die Peter noch nie krank gesehen hatte, erkranken oder gar sterben könnte, daran hatte er nicht gedacht. Und doch kam ihm jetzt der Gedanke: Am End‘ ist sie tot? Auch Eva betrachtete ängstlich das starre Gesicht der Ahnl.

Beide begannen, die Leblose zu rütteln, versuchten vergeblich, ihre krampfhaft geschlossenen Hände zu öffnen. Eva legte ihren Arm um den Hals der alten Frau. »Ahnl! – Ahnl!« rief sie bittend. Die Großmutter aber hörte sie nicht. Da kauerten sich die Kinder neben sie und weinten.

In der Klamm war der Ähnl erschlagen und begraben, und vor ihnen lag tot die liebe, gute Ahnl.

Peter faßte sich zuerst. Für Eva mußte nun er sorgen, das wußte er. Eine Wohnung mußte er finden, für sich und für sie, und auch für die Nahrung mußte er sorgen. Vor allem aber durfte er die Tote nicht den Raubtieren überlassen.

Ohne sich um Eva zu kümmern, die zusammengesunken neben der Toten kauerte, machte er sich an die Arbeit. Er kam nicht weit damit. Seine Hände waren zu schwach, der Geröllboden zu hart. Er erinnerte sich seines Messers. Aber das hatte er ja nicht mehr, das war in der Joppe, und die war in der Klamm geblieben.

Da entschloß er sich, die Ahnl dort zu bestatten, wo sie lag, wie sie lag. Er begann Steine herbeizutragen und schichtete sie um den Leichnam auf.

»Was tust du denn?« fragte Eva verstört.

»Die Ahnl begraben.«

Wieder begann Eva zu weinen, sie versuchte, ihm zu wehren. Erst als Peter sie auf die Geier, diese Leichenfresser, hinwies, war sie bereit, ihm bei der traurigen Arbeit zu helfen. Aus Heidelbeerlaub und einem halbverblühten Almrauschzweig machten die beiden ein Sträußlein und steckten es der Toten zwischen die starren Finger; die Augen, deren leerer Ausdruck sie ängstigte, deckte Eva mit Vergißmeinnicht und Weidenröschen zu. Peter nahm einen Stein und grub damit eine Siegwurz aus, er legte sie auf die Herzgegend der Toten, auf daß ihr die bösen Geister nichts anhaben könnten. Den Leib deckten die Kinder mit Moos, Heidekraut und Rasenstücken, dann legten sie noch Steine herum und darauf. Peter sprach leise: »Ahnl, ich dank‘ recht schön für alles Gute, das du mir getan hast. Mußt dir keine Sorg‘ machen um Eva. Zum Essen find‘ ich genug. Die Geißen werd‘ ich auch finden – und die Höhlen auch. Und für’n Winter werd‘ ich vorsorgen, wie wir’s mitsammen gemacht haben. Und wir bleiben da, die Eva und ich, wir bleiben bei dir. Gelt, du …« Seine Stimme versagte. Ganz behutsam legten er und Eva weiche Moospolster und flache Steine auf das Gesicht der Verstorbenen. Stumm kauerten sie noch eine Weile am Grab, dann nahm Peter das Mädchen bei der Hand und führte es hinweg von der heilig gewordenen Stätte.

Oberhalb des Grabhügels stiegen sie die Lehne hinauf und aßen Heidelbeeren. Doch bald mußten sie weiter und die Höhle suchen, in der einst die Ahnl gewohnt hatte. Inzwischen sank die Sonne, die Schatten der Bäume wurden länger, und Peter beschäftigte die Frage nach der Unterkunft. Er dachte zurück an den Morgen und erinnerte sich, daß die Ahnl erst bachaufwärts hatte gehen wollen. Dort irgendwo mußten die Höhlen liegen.

Bachaufwärts also stolperten sie über klobiges Geröll und drangen in dichtes Buschwerk. Nur langsam kamen sie voran zwischen Hasel-, Weiden- und Weißdornbüschen, die stellenweise von Waldreben dicht umsponnen waren.

Als Peter mit den Armen das Rankenwerk lockerte, scheuchte er eine gelbbäuchige Bachstelze vom Nest, das samt vier braunscheckigen Eiern ins Gras fiel. Das war eine unverhoffte Mahlzeit; die Eier waren noch frisch, aber viel zu winzig.

Zwei Ringdrosseln, wunderlich anzusehen mit ihren weißen Halsbinden im braunen Gefieder, begleiteten mit scheltendem Schnalzen die Eindringlinge von Busch zu Busch und flogen schließlich auf einen hohen Felsblock, der dort, wo sich der Bach in zwei Arme teilte, baumhoch zum Himmel ragte. Sein grobkörniges, mit Glimmerplättchen durchsetztes Gestein glitzerte in der untergehenden Sonne. Eine alte, hochstämmige Wetterfichte überragte den Fels, an dessen sonnenwarmem Fuß üppige Stauden von Kornelkirschen, Brombeeren und Himbeeren wucherten.

»Den sonnigen Stein wollen wir uns merken«, meinte Peter und zeigte auf den Felsen.

Eva wies auf die Brombeerstauden, die den feuchten Bachrand säumten. In großen Trauben hingen die blau bereiften Beeren zum Wasser nieder, und eine Fülle von rotgrünen, unreifen Früchten und weißen, rosig angehauchten Blüten versprachen noch für lange Zeit reiche Ernte. Das Wasser der beiden Bacharme war um den Sonnstein so seicht, daß die Kinder auf die andere Seite waten konnten, wo der spärlich bewachsene Boden eines Steinfeldes das Weiterkommen erleichterte. Ein Rascheln im dürren Laub des Ufergebüsches erschreckte sie, entsetzt sahen sie eine fast schwarze Schlange durch das kurze Gras gleiten. Sie flohen waldwärts. So vom Bach abgedrängt, betraten die beiden einen uralten Nadelwald, der düster und weitgedehnt den Ausblick auf die dahinter aufsteigenden Felswände nahm. Zwischen starken Fichtenstämmen lagen gestürzte Baumriesen, morsch, von Moos überwuchert.

Die Füße der Vorwärtsstapfenden versanken im feuchten Moder und schwellenden Torfmoos, während ihre Wangen an die üppigen Wedel mannshoher Adlerfarne streiften.

Totenstille ringsum, kein Vogelgezwitscher tönte aus den hohen Baumkronen. Das Dämmern des nahenden Abends wurde im Walde zur schauervollen Finsternis, aus der ein atembeklemmender Modergeruch drang. An ein Übernachten in einem solchen Walde war nicht zu denken.

Erleichtert atmeten sie auf, als sie den Bach wieder erreichten, auf dessen bewegter Fläche die Abendröte einen zarten Schimmer legte. Und schon sahen sie vor sich die Felswand, von deren hellem Gestein sich zackig die Umrisse dunkler Bäume abhoben.

Das Bachbett wurde steiler, der Bach lauter. Noch wenige Schritte, und die Kinder standen gebannt: Vor ihnen wölbte sich im hellen Kalkfels ein dunkles, niederes Felsentor, der Ausgang einer Grotte. Und die ganze Breite des Höhlentors nahm eine spiegelglatte Wasserfläche ein, deren tiefes Grün zum Hintergrund hin in Schwarz überging. Stille war’s drinnen im Berg, als dehnte sich die regungslose Wasserfläche weit ins Erdinnere. Da war nun eine Höhle, da wäre eine Wohnung gewesen, aber die gehörte dem Bach.

Peter wagte nicht, in der Dämmerung weiterzuforschen. Die Ahnl hatte von Bären erzählt, die da in Höhlen hausten. Schon war die Sonne hinter den Klammwänden verschwunden. Die Kinder sahen einander verzagt an. Sie mußten doch irgendwo übernachten, wo sie vor der Kälte geschützt waren; sie kannten die Nächte im Gebirge. Und Peter sah Evas Augen feucht glänzen vor Bangigkeit. Da wandte er sich dem Walde zu. Ohne lange zu suchen, fand er in der Nähe der Felswand eine riesige Buche, deren Stamm über dem Boden eine Höhlung zeigte, groß genug für Eva, daß sie sich darin zum Schlafe zusammenkauern konnte. Aus Laub und Gras machte er ihr ein Nest und forderte sie auf, sich in die Höhlung zu ducken. Zögernd gehorchte Eva.

Er selbst kroch unter ein Gebüsch am Fuße der Buche, über dessen Zweige sich ein dichtes Gewinde von Waldreben gesponnen hatte. Hier häufte er dürres Laub als Lager und Decke für sich auf. Das war für Eva eine Beruhigung. Lange flüsterte er noch zu ihr hinüber und versprach ihr, morgen ganz gewiß eine schöne Höhle im Gefels zu finden. Als er Eva endlich in Schlaf geplaudert hatte, überfiel ihn wieder die Sorge. Obwohl er sich tief in das Laub eingewühlt hatte, hielt ihn die zunehmende Nachtkälte wach. Er horchte den unerklärlichen Geräuschen und Stimmen des Waldes nach. Ganz nahe bei ihm krabbelte allerlei im Laubwerk, und aus dem Walde drangen von Zeit zu Zeit, das Raunen der Baumkronen und das Rauschen des Baches übertönend, unheimliche Rufe, bald ein tiefes »Pu-hu!«, bald ein hohles, gedehntes »Hu-hu! Hu-hu-huu!« –, das in ein Weinen, Wiehern, Lachen und Jauchzen überging. Peter standen die Haare zu Berge. Er kannte nicht das Locklied der Waldohreule, und seine Phantasie bevölkerte den Wald mit märchenhaften Unholden. Dazu kam seine nicht unberechtigte Angst vor Bären.

Peter tastete den Boden ab und fand bald einen scharfkantigen Stein, den er als Waffe gebrauchen wollte. Mit dem wollte er den Bären mitten auf die Schnauze schlagen. Doch je mehr er sich in den ungleichen Kampf hineindachte, um so geringer wurde seine Zuversicht – ja, er begann am ganzen Leibe zu zittern, als vom Walde herüber das Knistern zerbrechenden Reisigs zu ihm herüberdrang.

Nie im Leben hatte er solche Angst ausgestanden. Sooft er auch mit der Ahnl im Wald übernachtet hatte, in ihrer Nähe war ihm immer sicher zumute gewesen. Er dachte an die Tote und wurde ruhiger, und als sich das Geräusch in der Ferne verlor, löste sich die Angst.