II. Das Kloster als historische Thatsache.

Vom Gesichtspunkte der Geschichte, der Vernunft und der Wahrheit aus ist das Mönchthum verurtheilt.

Wenn die Klöster bei einer Nation zu zahlreich sind, so bilden sie Knoten, welche die Cirkulation hindern und Mittelpunkte der Faulheit. Die Klostergemeinden verhalten sich zu der großen gesellschaftlichen Gemeinschaft wie die Mispel zur E:che, wie die Warze zum menschlichen Körper. Ihr Gedeihen ist die Verarmung des Landes. Die Mönchsherrschaft, welche im Anfange der Civilisation gut war und dazu beitrug, durch das Geistige die Roheit zu mäßigen, ist, nachtheilig im Mannesalter der Völker.

Die Klöster haben ihre Zeit gehabt. Nützlich der ersten Erziehung der modernen Civilisation, wurden sie ihrem Wachsthum lästig und ihrer Entwickelung schädlich. Im zehnten Jahrhunderte waren sie gut, im fünfzehnten konnte man über ihren Werth streiten, im neunzehnten Jahrhundert aber sind sie unbedingt verwerflich. Der Mönchsaussatz hat zwei bewundernswürdige Nationen, Italien und Spanien, von denen Jahrhunderte lang die eine die Leuchte, die andere der Glanz Europas gewesen waren, bis fast zum Gerippe zerfressen. Erst jetzt beginnen die beiden erlauchten Völker, Dank der gesunden und kräftigen Gesundheitslehre von 1789, zu genesen.

Das Kloster, namentlich das ehemalige Frauenkloster, wie es an der Schwelle unseres Jahrhunderts noch in Italien, in Oestreich und in Spanien erscheint, ist eine der düstersten Schöpfungen des Mittelalters.

Thatsachen sprechen. Sie lassen sich schwerlich in Abrede stellen, sie stehen fest.

Der Verfasser dieses Buches hat mit eigenen Augen, acht Meilen von Brüssel in der Abtei von Villers das Loch der Verließe gesehen, mitten in der Wiese, wo der Hof des Klosters gewesen war, am Dyle, vier steinerne Kerker, halb unter der Erde, halb unter dem Wasser. Das waren die in pace 5. Jeder dieser Kerker hat einen Ueberrest von einer eisernen Thür, eine Latrine und ein vergittertes Fenster, außen zwei Fuß über dem Flusse, innen sechs Fuß über dem Boden. Außen längs der Mauer hin fließt vier Fuß tief der Fluß. Der Boden ist immer feucht. Diejenigen, welche in pace wohnten, hatten diesen Boden als Bett. In einem dieser Kerker befindet sich ein Stück eines in der Wand geschmiedeten Halseisens; in einem andern sieht man einen viereckigen aus vier Granitplatten gemachten Kasten, zu kurz, um sich hinein zu legen, zu niedrig, um darin aufstehen zu können. Darein steckte man einen Menschen und darüber legte man eine Steindecke! Diese in pace, diese Kerker, diese Eisenangeln, jenes Halseisen, jenes Fenster, jener Fußboden, jener Steinkasten mit dem Steindeckel darauf wie ein Grab – sind das keine Thatsachen, sind das keine Zeugen!?

  1. D. h. in Frieden, bezeichnet in gewisser ironischer Weise Kerker.

III. Unter welcher Bedingung man die Vergangenheit achten kann.

Das Mönchsthum, wie es in Spanien bestand und in Thibet noch besteht, ist eine Art Schwindsucht für die Civilisation. Es hält das Leben auf, schon aus dem einfachen Grunde, weil es entvölkert. Dazu nehme man die so oft dem Gewissen angethane Gewalt, den erzwungenen Beruf für das Kloster, das sich auf das Kloster stützende Feudalwesen, das Erstgeburtsrecht, welches das Zuviel der Familie dem Kloster zuführte, die Grausamkeiten, von denen wir gesprochen haben, und wir werden zittern vor der Kutte und dem Schleier, diesen beiden Grabtüchern menschlicher Erfindung.

Gleichwohl dauert hartnackig an gewissen Orten trotz der Philosophie und des Fortschritts der Klostergeist noch fort mitten im neunzehnten Jahrhundert. Der Eigensinn veralteter Einrichtungen, fortdauern zu wollen, gleicht der Hartnäckigkeit ranzigen Parfüms, das unser Haar ölen, der Anmaßung eines verdorbenen Fisches, der gegessen sein will, der Anmaßung eines Knabenanzuges, den ein Mann noch tragen soll: ist grade so als wenn ein Leichnam noch zärtliche Umarmungen machen wollte.

Ihr Undankbaren! sagt der Knaben-Rock; ich habe Euch bei schlechter Zeit geschützt, warum wollt ihr nichts mehr von mir wissen? Ich war im frischen, klaren Wasser des Sees, sagt der Fisch. Ich war eins Rose, sagt das Parfüm. Ich habe Euch geliebt, sagt der Leichnam.

Ich habe zu Eurer Civilisation beigetragen, sagt das Kloster.

Darauf giebt es nur eine Antwort: Ehemals.

Ist es doch seltsam, zu glauben, Dinge, welche gestorben sind, lebten noch und würden noch ewig leben; es ist doch seltsam, wenn der Gegenwart die Vergangenheit sich aufdringen will. Und doch giebt es Vertreter dieser Theorie. Diese sonst geistreichen Leute haben ein sehr einfaches Verfahren: sie übertünchen die Vergangenheit und diesen Ueberzug nennen sie gesellschaftliche Ordnung, göttliches Recht, Moral, Familie, Achtung vor den Vorfahren, alte Autorität, heilige Tradition, Legitimität, Religion. Es ist dies die bekannte Logik der Alten, welche auch bei den Haruspices in Uebung war. Sie bestrichen eine junge schwarze Kuh mit Kreide und sagten: sie ist weiß. Der sogenannte bos eretatus (bekreidete Ochse).

Was uns betrifft, so achten und schonen wir hier und da die Vergangenheit, wir schonen sie jedoch nur dann, wenn sie nicht aufs Leben Anspruch machen, wenn sie todt sein will. Will sie leben, so greifen wir sie an und suchen sie zu tödten.

Aberglaube, Bigotterie, Muckerthum, Vorurtheile, diese Larven haben, obgleich sie Larven und Schatten sind, ein zähes Leben. Der Schatten ist schwer an der Kehle zu packen und niederzuwerfen.«

Ein Kloster im vollen Mittag des neunzehnten Jahrhunderts, mitten in der Stadt von 1789, 1830 und 1848, Rom in Paris, ist ein Anachronismus.

VII. Einige Silhouetten dieses Schattens.

Während der sechs Jahre, welche 1819 von 1825 trennen, war die Priorin von Klein-Picpus Fräulein von Blameur, die als Nonne Mutter Innocentia hieß. Eine ihrer Vorfahren hatte »das Leben der Heiligen vom Orden des heiligen Benedikt« geschrieben. Sie war wieder erwählt worden. Sie war eine Frau von sechszig Jahren, klein und dick. Ihre Stimme hörte sich an, als spräche sie aus einem gesprungenen Topf. Sonst war sie vortrefflich; die einzige heitere im ganzen Kloster und deshalb verehrt.

Mutter Innocentia war belesen, gelehrt, wußte viel, eine zuverlässige Beurtheilerin, hatte merkwürdige Geschichtskenntnisse, verstand etwas Lateinisch und Griechisch, viel Hebräisch und war mehr Benediktiner als Benediktinerin.

Die Subpriorin war eine alte, spanische, fast blinde Nonne, Mutter Cineres.

Mutter St. Mechtildis, welche mit der Leitung des Gesanges und des Chors beauftragt war, verwendete hierzu gern die Pensionärinnen. Gewöhnlich nahm sie sieben Mädchen, also eine ganze Tonleiter, Mädchen von zehn bis sechszehn Jahren, und stellte sie genau nach Stimme und Wuchs der Reihe nach neben einander. Das sah wie eine aus kleinen Mädchen gebildete Papagenopfeife aus, wie eine lebendige Panflöte von Engeln.

Alle Nonnen waren freundlich gegen alle Kinder, sie waren nur streng gegen sich selbst. Nur im Pensionat wurde geheizt und das Essen war, wenigstens im Vergleich zu dem im Kloster, schmackhaft und gewählt. Nur antwortete die Nonne niemals, wenn ein Kind bei ihr vorüberging und sie ansprach.

Diese Regel des Schweigens hatte bewirkt, daß im ganzen Kloster das Wort sich von den menschlichen Geschöpfen zurückgezogen und auf unbelebte Dinge sich übertragen hatte. Bald sprach die Kirchenglocke, bald die Schelle des Gärtners. Eine sehr laut schallende im ganzen Hause hörbare Klingel neben der Pförtnerin gab durch verschiedene Klänge, durch eine Art akustischer Telegraphie, alle Verrichtungen des materiellen Lebens an, sowie sie, wenn es nöthig war, die oder jene Bewohnerin des Klosters in das Sprechzimmer rief. Für jede Person und für jede Sache gab es ein besonderes Klingeln. Neunzehn Töne meldeten ein außerordentliches Ereigniß, nämlich die Oeffnung des Hauptthores, ein schreckliches mit Eisen beschlagenes, von Riegeln starrendes Brett, das sich nur vor dem Erzbischof in seinen Angeln bewegte.

VIII. Post corda lapides.

4

Nachdem wir von der geistigen Gestalt des Klosters eine Skizze gegeben, dürfte es nicht unnütz sein,, mit einigen Worten auch sein körperliches Aussehen, die Gestalt und Lage der Gebäude zu besprechen, wenn auch Einiges dem Leser hiervon schon mitgetheilt worden ist.

Das Hauptgebäude war eine Nebeneinanderstellung nicht zusammen gehörender Bauten, die, aus der Vogelperspective gesehen, ziemlich genau wie ein am Boden liegender Galgen aussahen. Das Knie des Galgens war ein vierseitiger Saal, welcher als Speisekammer benutzt wurde. In dem großen Arm befanden sich die Zellen der Mütter und Schwestern und das Noviciat; in dem kleinen die Küchen, das Refectorium und die Kirche. Das Pensionat, das man von außen gar nicht sah, lag zwischen dem Einfahrtsthor in der Picpusstraße und der Ecke eines Gäßchens.

Mitten im Garten stand auf einer Erhöhung eine schöne, kegelförmig gewachsene Tanne, von welcher vier große Alleen und, zwei zu zwei in der Verästung der großen angebracht, acht kleine der Art ausliefen, daß, wenn der Raum rund gewesen wäre eine Zeichnung der Alleen einem Kreuze auf einem Rade geglichen hätte. Die Alleen, welche alle auf die sehr unregelmäßigen Mauern des Gartens stießen, waren von ungleicher Länge. Sie waren an den Seiten mit Johannisbeersträuchen bepflanzt. Vor dem kleinen Kloster hieß ein Stück der kleine Garten. Denkt man sich zu diesem Allen einen Hof, allerlei verschiedene Ecken, welche die inneren Gebäude bildeten, Gefängnisse, Mauern, als Aussicht und Nachbarschaft nichts als eine lange, dunkele Dächerreihe, so wird man sich ein vollständiges Bild von dem machen können, was das Haus der Bernhardinerinnen von Klein-Picpus vor fünfundvierzig Jahren war. Dieses heilige Haus war genau auf der Stelle gebaut worden, wo vom vierzehnten bis zum sechszehnten Jahrhunderte ein berühmtes Ballspielhaus gestanden hatte, welches unter dem Namen »der elftausend Teufel« bekannt gewesen ist.

  1. Erst das Herz (das Innere), dann die Steine (das Aeußere.

II. Die Regel Martin Vergas.

Dieses Kloster, welches im Jahre 1824 schon seit vielen Jahren in der Picpus-Straße existirte, war eine Gemeinschaft von Bernhardinerinnen von der Regel Martin Vergas, welcher im Jahre 1425 diesen Ordenszweig nach den Grundsätzen des heiligen Benedikt zu Salamanka stiftete.

Die Bernhardiner-Benediktinerinnen dieser Regel essen das ganze Jahr über kein Fleisch, fasten nicht blos in den Fasten, sondern an vielen andern Tagen, stehen im besten Schlafe zwischen ein und drei Uhr früh auf, um das Brevier zu lesen und die Metten zu singen, schlafen ohne Rücksicht auf die Jahreszeit in wollenen Tüchern auf Stroh, nehmen nie ein Bad, brennen nie Feuer an, geißeln sich alle Freitage, beobachten die Regel des Schweigens, sprechen nur während der Erholungszeiten, die sehr kurz sind und tragen sechs Monate lang vom vierzehnten September, das ist vom Tage der Kreuzes-Erhöhung bis Ostern rauh wollene Hemden. Diese sechs Monate sind eine Ermäßigung: die Regel schreibt solche Hemden das ganze Jahr vor, in der Sommerhitze sind dieselben aber unerträglich und veranlaßten Fieber und Nervenkrämpfe. Man mußte deßhalb den Gebrauch beschränken. Selbst aber nach dieser Milderung haben die Nonnen vom vierzehnten September an, an welchem Tage sie die rauhen Hemden anlegen, drei bis vier Tage Fieber. Gehorsam, Armuth, Keuschheit, Ausdauer sind ihre durch die Regel noch sehr erschwerten Gelübde.

Die Priorin wird auf drei Jahre von den Müttern erwählt, welche die »Stimmmütter« heißen, weil sie eine Stimme im Kapitel haben. Nur zweimal kann eine Priorin wieder gewählt werden, so daß die Regierung einer Priorin sich auf neun Jahre beschränkt.

Den Geistlichen, welcher das Amt abhält, sehen sie niemals. Er ist ihnen stets durch einen neun Fuß hohen wollenen Vorhang verborgen. Bei der Predigt in der Kapelle ziehen sie den Schleier über das Gesicht. Sie müssen immer leise sprechen und beim Gehen die Augen niederschlagen und das Haupt senken. Nur ein einziger Mann darf in das Kloster eintreten, der Erzbischof der Diöcese.

Zwar ist noch ein anderer da, der Gärtner: das ist aber stets ein Greis. Auch haben wir bereits gesehen, wie die Nonnen vor seiner Nähe gewarnt werden.

Der Priorin sind sie unbedingten, blinden Gehorsam schuldig. Ohne ihre ausdrückliche Erlaubniß dürfen sie selbst nichts lesen oder schreiben.

Der Reihe nach hat eine Jede die reparatio 2 zu verrichten. Es ist dies ein Gebet für alle Sünden, alle Fehler, alle Ungehörigkeiten, alle Verletzungen, alle Unbilligkeiten und alle Verbrechen, die in der Welt begangen werden. Zwölf ganze Stunden lang hinter einander, von vier Uhr Abends bis vier früh, oder von vier Uhr früh bis vier Uhr Abends, kniet die Schwester, welche die reparatio verrichtet auf dem Stein vor der Monstranz mit gefalteten Händen, den Strick um den Hals. Wenn die Müdigkeit unerträglich wird, so legt sie sich glatt auf den Leib, mit dem Gesicht am Boden, die Arme gekreuzt, das ist ihre ganze Erleichterung. In dieser Stellung betet sie für alle Schuldigen der Welt. Das ist bis zur Erhabenheit großartig.

Da dieser Act vor einem Pfahl geschieht, auf welchem eine Kerze brennt, so sagt man sowohl die reparatio verrichten, als »am Pfahl sein.« Die Nonnen ziehen aus Demuth die letztere Bezeichnung vor, weil in ihr eine Idee von Strafe und Erniedrigung liegt.

Die reparatio nimmt die ganze Seele in Anspruch.

Die Nonne am Pfahl würde sich nicht umwenden und wenn der Blitz hinter ihr einschlüge.

Außerdem kniet eine Nonne stets vor der heiligen Monstranz. Sie hat eine Stunde dazubleiben. Sie lösen einander alle Stunden ab, wie wachestehende Soldaten. Das ist die »Ewige Anbetung.«

Sie nennen nichts mein. Sie besitzen nichts, sie dürfen auf nichts Werth legen. Sie sagen von Allem unser, z. B. unser Schleier, unser Rosenkranz; auch wenn sie von ihrem Hemd sprechen, sagen sie unser Hemd. Bisweilen fangen sie an sich an irgend einen kleinen Gegenstand, an eine geweihte Medaille zu gewöhnen. Sobald sie dies aber bemerken, müssen sie ihn weggeben. Sie erinnern sich der Worte der heiligen Therese, zu welcher eine vornehme Dame bei dem Eintritt in ihren Orden sagte: »Gestatten Sie Mutter, daß ich eine Bibel holen lasse, an welcher ich sehr hänge.« »Ha, Sie hängen an irgend etwas! In diesem Fall treten Sie nicht bei uns ein.«

Keine, welche es auch sein mag, darf ein Zimmer für sich haben. Sie wohnen in nicht geschlossenen Zellen. Wenn sie einander begegnen, so sagt die Eine: »Gelobt und angebetet sei das heilige Sacrament des Altars.« Die Andere antwortet: »In Ewigkeit.«

Wenn die Eine bei der Andern anklopft, findet dieselbe Ceremonie Statt. Kaum ist die Thür berührt, so hört man hinter derselben eine sanfte Stimme rasch sagen: »In Ewigkeit.«

Bei jedem Stundenschlage des Tags ertönen an dem Thurme der Kirche des Klosters noch drei Ergänzungsschläge. Auf dieses Zeichen unterbrechen Alle, die Priorin, die Stimmmütter, die, welche die Gelübde abgelegt haben, wie die Novizen das, was sie sagen, thun oder denken und alle sprechen gleichzeitig wenn es z. B. fünf Uhr ist: »Um fünf Uhr und zu, jeder Stunde sei gelobt und angebetet das heilige Sacrament des Altars.«

Die Nonnen von Klein-Picpus hatten unter ihrem Hochaltar ein Grabgewölbe für sich anlegen lassen. Die Regierung aber erlaubte nicht, daß Särge hineingestellt würden. Im Tode mußten sie also das Kloster verlassen. Das betrübte sie sehr und hatte sie in die größte Bestürzung versetzt.

Ein Mal wöchentlich versammelt sich das Kapitel. Die Priorin führt unter den beisitzenden Stimmmüttern den Vorsitz. Eine Schwester nach der andern kniet auf den Stein und bekennt mit lauter Stimme in Aller Gegenwart die Fehler und Sünden, welche sie in der Woche begangen hat. Die Stimmmütter berathschlagen nach jeder Beichte und sprechen dann laut die zuerkannte Buße aus.

Außer der lauten Beichte, für welche man alle etwas schwereren Fehler aufspart, haben sie für die geringeren Fehler die sogenannte Culpa. Die Culpa verrichten, heißt während des Gottesdienstes sich platt auf den Leib vor die Priorin legen, bis diese, welche nicht anders als »unsere Mutter« genannt wird, der Büßenden durch ein leises Klopfen auf den Lehnstuhl andeutet, daß sie aufstehen könne. Die Culpa Verrichtet man wegen sehr geringer Kleinigkeiten, wegen eines zerbrochenen Glases, eines zerrissenen Schleiers, einer unwillkürlichen Verspätigung um einige Secunden beim Gottesdienst, eines falschen Tons beim Gesang u. s. w. Die Culpa ist freiwillig: die Schuldige 3 selbst richtet und straft sich.

Die Priorin nur allein kann mit den Fremden verkehren. Die andern dürfen nur die nächsten Mitglieder ihrer Familie sehen und auch nur sehr selten. Wenn zufällig Jemand von außen sich meldet, um eine Nonne zu sehen, die er gekannt oder vielleicht geliebt hat, so veranlaßt das eine ganze Unterhandlung. Ist es eine Frau, so kann die Erlaubniß bisweilen gegeben werden. Die Nonne kommt und der Besuch spricht zu ihr durch den Laden, der nur für eine Mutter oder Schwester geöffnet wird. Selbstverständlich wird Männern die Erlaubniß stets versagt.

Das ist die durch Martin Vergas erschwerte Regel des heiligen Benedikt.

Die Nonnen sind nicht heiter, rosig frisch wie es oft jene der andern Orden sind. Sie sind bleich und ernst. In den Jahren von 1825 bis 1831 wurden drei wahnsinnig.

  1. Wiederherstellung, Versöhnung, Abbitte.
  2. Culpa heißt Schuld.

III. Strenge.

Man hatte in der Regel zwei, oft auch vier Probejahre durch zu machen. Nur in seltenen Fällen war es gestattet, das Gelübde vor dem drei oder vierundzwanzigsten Jahre abzulegen. Wittwen wurden gar nicht aufgenommen.

In ihren Zellen unterwerfen sie sich vielen unbekannten Peinigungen, von denen sie nicht sprechen dürfen.

An dem Tage, an welchem eine Novize das Gelübde ablegt, legt man ihr den schönsten Schmuck an, schmückt ihr Haar mit weißen Rosen, glättet und lockt ihr Haar. Darauf wirft sie sich kniend zur Erde. Man breitet einen großen schwarzen Schleier über sie und singt die Todtenmesse. Demnächst theilen sich die Nonnen in zwei Reihen. Mit den in klagendem Tone ausgesprochenen Worten: »Unsere Schwester ist todt« zieht die eine Reihe an ihr vorüber, die andere Reihe antwortet laut: »Lebend in Jesus Christus.«

In der Zeit, in welcher unsere Geschichte spielt, war mit dem Kloster eine Pensionsanstalt für junge vornehme, meist reiche Mädchen verbunden. Diese jungen von den Nonnen innerhalb vier Mauern erzogenen Mädchen wuchsen auf in Abscheu gegen die Welt und gegen das Jahrhundert.

Eine von ihnen sagte eines Tages zu uns: »Wenn ich das Straßenpflaster sah, zitterte ich vom Kopfe bis zu den Füßen.« Sie waren blau gekleidet und trugen ein weißes Häubchen und auf der Brust die Taube des heiligen Geistes von vergoldetem Silber oder Kupfer. Au gewissen großen Festtagen, besonders am Tage der heiligen Martha, gestattete man ihnen als hohe Gunst und höchstes Glück sich wie Nonnen zu kleiden und einen ganzen Tag lang wie diese zu beten, zu singen und sich zu kasteien und ganz nach der Regel des Heiligen Benedikt zu leben.

Die Zöglinge gewöhnten sich an fast alle die strengen Uebungen des Klosters. Die Gewohnheit wurde ihnen zur zweiten Natur. So war eine junge Frau, welche in die Welt eingetreten, selbst nach mehrjähriger Verheirathung noch nicht dazu gelangt, sich abzugewöhnen, jedes Mal, wenn es an ihrer Thür klopfte, rasch zu antworten: »In Ewigkeit!« Wie die Nonnen, so sahen auch die Pensionärinnen ihre Verwandten nur im Sprechzimmer. Selbst ihre Mütter erlangten nicht das Recht, sie umarmen zu dürfen. So weit ging die Strenge in diesem Punkte. Eines Tages wurde ein junges Mädchen von ihrer Mutter besucht. Dieselbe war von ihrer kleinen, dreijährigen Schwester begleitet. Das kleine Mädchen weinte, denn es hätte gern ihre Schwester umarmt. Unmöglich! Sie bat wenigstens zu erlauben, daß das Kind die kleine Hand durch das Gitter stecke, damit sie sie küssen könne. Auch dies wurde versagt, ja es entstand beinahe ein Aergerniß darüber.

IV. Heiterkeit.

Nichts desto weniger haben die jungen Mädchen dieses ernste Haus auch mit reizenden Erinnerungen erfüllt.

Zu gewissen Stunden blitzte die Kindheit in diesem Kloster. Wenn die Erholungsstunde schlug, so drehte sich eine Thür in ihren Angeln. Die Vögel dachten: »Gut! Jetzt kommen die Kinder!« Ein Strom der Jugend ergoß sich über den Garten. Strahlende Gesichter, weiße Stirnen, treuherzige Augen voll heiteren Lichts, alle Arten Morgenröthen zerstreuten sich in diesem Dunkel.

Nach den Psalmen, Singen, Beten, dem Glockenläuten, dem Gottesdienst, plötzlich dieses Gesumme kleiner Mädchen, sanfter noch als das Summen von Bienen. Der Bienenkorb der Freude öffnete sich und jedes Bienchen brachte seinen Honig freudig herbei. Man spielte, rief einander, sammelte sich in Gruppen, lief; hübsche kleine, weiße Zähne plauderten in den Ecken und Winkeln. Von fern bewachten die Schleier das Lachen, die Schatten hielten Wache über die Strahlen, aber gleichviel! Man strahlte und lachte. Es war wie ein auf Trauer fallender Rosenregen.

In diesem Hause sind vielleicht mehr als irgend wo anders »Kinderworte« gesprochen worden, welche so viel Reiz haben und alle Mal wenn wir sie hören, uns ein träumerisches Lächeln abgewinnen.

So verzeichnen wir hier folgendes Gespräch, welches einst geführt wurde:

Eine Stimmmutter: »Warum weinst Du, mein Kind?«

Das Kind (sechs Jahre alt, schluchzend): »Ich habe zu Alix gesagt, ich wüßte meine französische Geschichte ganz gut. Sie meint, ich wüßte sie nicht und ich weiß sie doch.

Alix, die ältere (neun Jahre alt): Nein; sie weiß sie nicht.

Die Mutter: Wie so nicht, mein Kind?

Alix: Sie sagte mir, ich solle das Buch auf’s Geradewohl aufschlagen und ihr eine Frage daraus vorlegen. Sie würde sie beantworten.

»Nun?«

»Sie hat sie nicht beantwortet.«

»Sieh doch! Was hast Du sie denn gefragt?«

»Ich schlug das Buch auf Geradewohl auf und fragte die erste Frage, die ich fand.«

»Was war das für eine Frage?«

»Sie lautete: was geschah hierauf?«

Ferner wurde auf einer Steinplatte dieses Klosters eine schriftliche Beichte gefunden, die eine siebenjährige Sünderin sich vorher aufgeschrieben hatte, um sie nicht zu vergessen:

»Mein Vater, ich klage mich an, geizig gewesen zu sein.«

»Mein Vater, ich klage mich an, die Ehe gebrochen zu haben.«

»Mein Vater, ich klage mich an, meine Blicke zu den Männern erhoben zu haben.«

Das dunkele und feuchte Refectorium war, wie die Kinder sagten – voll Thiere. Jede der vier Ecken hatte in der Sprache der Pensionärinnen einen besonderen, ausdrucksvollen Namen erhalten. Da gab es die Ecke der Spinnen, die der Raupen, die der Asseln und die der Heimchen. Die Heimchenecke war mit der Küche benachbart und sehr geschätzt. Da war es weniger kalt als anderswo. Von dem Refectorium waren die Namen in das Pensionat übertragen worden und dienten hier wie im alten College von Mazarin zur Unterscheidung von vier Nationen. Jede Schülerin gehörte zu einer der vier Nationen je nach der Ecke des Refectoriums, in welcher sie in den Eßstunden saß. Eines Tages sah der Erzbischof bei seinem Besuch im Kloster in die Classe ein hübsches, kleines, blühendes Mädchen mit bewunderungswürdigen, blonden Haaren eintreten. Er fragte eine in seiner Nähe stehende, andere Pensionärin, eine reizende Brünette mit frischen Wangen:

»Wer ist die?«

»Eine Spinne, Ew. Gnaden.«

»Ah! und die andere?«

»Ein Heimchen.«

»Und die da?«

»Eine Raupe.«

»Wirklich? Und was bist Du?«

»Ich bin eine Assel, Ew. Gnaden.«

V. Zerstreuungen.

Ueber der Thür des Refectoriums stand mit großen schwarzen Buchstaben das so genannte »weiße Vater Unser«, ein Gebet, welches die Kraft besitzen soll, die Leute, diejenigen welche es beten, jedenfalls ins Paradies zu bringen.

Im Jahre 1827 war es unter dem Anstrich verschwunden, jetzt ist es auch in der Erinnerung der meisten jungen Mädchen von damals, welche heute alte Frauen sind, erloschen.

Ein großes, an die Wand genageltes Crucifix vervollständigte die Ausschmückung des Refectoriums, dessen einzige Thür sich nach dem Garten zu öffnete. Zwei schmale Tafeln bildeten zwei lange, parallele Linien von einem Ende des Refectoriums, bis zum andern. Längs der Tische standen zwei Bänke von Holz. Die Wände waren weiß, die Tische schwarz. Diese beiden Trauerfarben sind die einzigen Abwechselungen in den Klöstern. Die Mahlzeiten waren unfreundlich und selbst das Essen der Kinder war spartanisch. Eine einzige Schüssel Fleisch und Gemüse oder gesalzener Fisch; das war der Luxus. Dieses allein für die Pensionärinnen vorbehaltene Essen war indeß eine Ausnahme. Die Kinder aßen schweigend unter der Aufsicht der Wochen-Mutter, welche von Zeit zu Zeit, wenn eine Fliege gegen die Regel zu fliegen und zu summen anfing, geräuschvoll ein hölzernes Buch auf- und zuschlug. Dieses Schweigen würzten Lebensbeschreibungen von Heiligen, welche auf einer kleinen Kanzel mit einem am Fuße des Crucifixes angebrachten Pult mit lauter Stimme vorgelesen wurden. Die Vorleserin war eine große Pensionärin, welche die Woche hatte. In gewissen Entfernungen standen auf dem ungedeckten Tische Schüsseln, in denen die Pensionärinnen selbst ihr Couvert abwuschen und in die sie zuweilen auch einige Stücke von Ueberbleibseln warfen, zähes Fleisch oder verdorbenen Fisch. Das wurde bestraft.

Dasjenige Kind, welches das Schweigen brach, machte »mit der Zunge ein Kreuz.« Wo? Am Fußboden. Der Staub, dieses Ende aller Freuden, mußte diese armen kleinen Rosenblätter züchtigen, die sich des Rauschens schuldig gemacht.

In dem Kloster befand sich ein Buch, das nur in einem einzigen Exemplar gedruckt worden und in dem zu lesen verboten ist. Es enthält die Regel des heiligen Benedikt, ein Geheimniß, in das kein profanes Auge dringen darf.

Eines Tages gelang es den Pensionärinnen das Buch zu entwenden und sie fingen gierig an darin zu lesen, machten aber das Buch schnell wieder zu, da sie in ihrer Lectüre durch die Angst, überrascht zu werden, zu häufig unterbrochen wurden. Einige unverständliche Seiten über die Sünden kleiner Knaben, war noch das »Interessanteste« darin gewesen.

Trotz der ungeheueren Aufsicht und Strenge der Strafen gelang es ihnen doch bisweilen, wenn der Wind die Bäume geschüttelt hatte, verstohlen einen grünen Apfel, eine verdorbene Aprikose oder eine wurmstichige Birne aufzuheben. Ich lasse jetzt einen Brief sprechen, der vor mir liegt und den vor fünfundzwanzig Jahren eine der ehemaligen Pensionärinnen, die jetzt Herzogin M… und eine der elegantesten Frauen von Paris ist, geschrieben hatte. Er lautet wörtlich wie folgt:

»Man versteckt seine Birne oder seinen Apfel wie man kann. Wenn man hinauf geht, um vor dem Abendessen den Schleier auf das Bett zu legen, so steckt man das Obst unter das Kopfkissen und ißt es Abends im Bett oder, wenn das nicht geht, im geheimen Orte.« Das war das größte Vergnügen.

Einmal, auch um die Zeit eines Besuches des Erzbischof’s in dem Kloster, wettete ein junges Mädchen, ein Fräulein Bouchard, gewissermaßen eine Verwandte der Montmorency, daß sie den Erzbischof um einen freien Tag bitten würde, etwas Unerhörtes! Die Wette wurde angenommen, aber keine von denen, die sie annahmen, auch Fräulein Bouchard nicht, glaubte daran. Als der Augenblick gekommen war, als nämlich der Erzbischof an den Pensionärinnen vorbei ging, trat Fräulein Bouchard, zum unbeschreiblichen Entsetzen ihrer Kameradinnen, aus der Reihe heraus und sagte: »Gnädiger Herr, einen freien Tag!« Fräulein Bouchard war groß und frisch, mit dem niedlichsten Rosengesicht von der Welt. Herr von Quelen lächelte und sagte: »Wie, mein liebes Kind, einen freien Tag? Drei Tage, wenn Du willst. Ich bewillige drei Tage.« Die Priorin konnte nichts dagegen thun, der Erzbischof, hatte gesprochen. Es war ein Aergerniß für das Kloster, aber eine Freude für das Pensionat. Die Wirkung kann man sich denken.

Dieses abstoßende Kloster war indeß nicht so fest ummauert, daß das Leben der Leidenschaften, der Außenwelt, das Drama, sogar der Roman nicht hineingedrungen wären. Zum Beweise beschränken wir uns hier kurz eine wirkliche und unbestreitbare Thatsache anzudeuten, welche indeß an und für sich mit der Geschichte, die wir erzählen, in gar keiner Verbindung steht. Wir erwähnen die Thatsache um das Bild des Klosters im Geiste des Lesers zu vervollständigen

Um diese Zeit also befand sich, in dem Kloster eine geheimnißvolle Person, die nicht Nonne war, die man mit großer Achtung behandelte und »Madame Albertine« nannte. Man wußte weiter nichts von ihr, als daß sie irr war und daß sie in der Welt für todt galt.

Es steckten, wie man sagte, Vermögensbeziehungen dahinter, welche wegen einer großen Heirath nöthig gewesen waren.

Diese kaum dreißig Jahre alte, brünette ziemlich schöne Frau sah mit großen schwarzen Augen unsicher um sich her. Sah sie wirklich? Man zweifelte daran. Sie glitt mehr als sie ging; sie sprach niemals, es war nicht einmal gewiß, ob sie athmete. Ihre Nase war spitz und bleich wie nach dem letzten Seufzer. Ihre Hand berühren hieß Schnee anfühlen. Sie hatte eine seltsame gespenstische Anmuth. Man fror, wo sie erschien.

Man erzählte hunderterlei Geschichten über Madame Albertine. Sie war der Gegenstand der ewigen Neugierde der Pensionärinnen. In der Kapelle befand sich eine Tribüne, welche man das »Ochsenauge« nannte. Auf dieser Tribüne, die nur ein rundes Fenster hatte, ein »Ochsenauge«, wohnte Madame Albertine dem Gottesdienste bei. Sie war gewöhnlich hier allein, weil man von der im ersten Stockwerke befindlichen Tribüne den Geistlichen oder den Administranten sehen konnte, was den Nonnen verboten war. Eines Tages stand ein junger Priester von hohem Range auf der Kanzel, der Herzog von Rohan, Pair von Frankreich, gestorben 1830 als Cardinal und Erzbischof von Besançon. Er predigte zum ersten Mal in dem Kloster von Klein-Picpus. Madame Albertine wohnte gewöhnlich der Predigt und der Messe in vollkommener und vollständiger Unbeweglichkeit bei. An diesem Tage aber richtete sie sich, als sie kaum Herrn von Rohan bemerkt, halb in die Höhe und rief laut in die Stille der Kapelle hinein: »Sieh doch, August!«

Die ganze Klostergemeinde sah sich entsetzt um, der Prediger blickte empor, Madame Albertine aber war wieder in ihre Unbeweglichkeit versunken. Ein Hauch von der äußeren Welt, ein Schein des Lebens war einen Augenblick auf diese verschlossene, eisige Gestalt gefallen, dann war alles wieder verschwunden und die Irre war wieder Leichnam geworden.

Jene drei Worte aber machten Alles, was im Kloster reden durfte, reden. Was lag Alles in dem: »siehe da! August!« Welche Enthüllungen! Herr von Rohan hieß in der That August. Offenbar hatte Albertine den höchsten Kreisen angehört, da sie Herrn von Rohan kannte; offenbar hatte sie selbst eine hohe Stellung eingenommen, da sie von einem so hohen Herrn so familiär sprach; offenbar stand sie in Verbindung mit ihm, vielleicht gar in verwandtschaftlicher, und am Ende war sie gar ganz nahe mit ihm verwandt, da sie seinen Taufnamen kannte.

Von außen drang kein Geräusch in das Kloster. Nur in einem gewissen Jahre drang der Ton einer Flöte bis hier hinein. Das war ein Ereigniß, dessen sich die Pensionärinnen von damals noch erinnern.

Jemand in der Nachbarschaft blies die Flöte und zwar immer ein und dieselbe Melodie; zwei bis dreimal hörte man sie den Tag über. Stunden lang hörten die jungen Mädchen zu. Die Stimmmütter waren außer sich, alle Köpfe waren verkehrt, es regnete von Strafen. Das dauerte mehrere Monate. Die Pensionärinnen waren alle mehr oder weniger in den unbekannten Flötenbläser verliebt. Sie hätten alles versucht, um, und wenn auch nur eine Secunde, den »Jüngling« zu sehen, zu bemerken, der so köstlich die Flöte blies. Es war aber ein alter, emigrirt gewesener, blinder und zuletzt in Vermögensverfall gerathener Edelmann, welcher in seinem Dachstübchen die Flöte blies, um sich die Langeweile zu vertreiben.

VI. Das kleine Kloster.

Innerhalb der Grenzmauern von Klein-Picpus standen drei ganz von einander verschiedene Gebäude: das große Kloster, wo die Nonnen, das Pensionat, wo die Zöglinge wohnten und endlich das sogenannte kleine Kloster. Es war ein Gebäude mit Garten, in welchem gemeinschaftlich alle Arten alter Nonnen von verschiedenen Orden wohnten, Reste aus den durch die Revolution zerstörten Klöstern, eine buntscheckige Sammlung von schwarz, grau und weiß, von allen Gemeinschaften und allen Raritäten. Wenn eine solche Wortpaarung zulässig wäre, hätte man es ein Harlekin-Kloster nennen können.

Seit dem Kaiserreich war es allen diesen armen vertriebenen und umher verstreuten Mädchen erlaubt worden, unter den Fittichen der Bernhardiner-Benedictinerinnen Schutz zu suchen. Die Regierung gab ihnen eine kleine Pension und die Frauen von Klein-Picpus hatten sie mehr als gern mit religiös schwesterlicher Liebe aufgenommen. Das war ein seltsames Durcheinander. Jede lebte nach ihrer Ordensregel. Bisweilen erlaubte man den Pensionärinnen als besondere Erholung ihnen einen Besuch zu machen.

Um 1820 oder 1821 wollte Frau von Genlis, welche damals eine kleine periodische Schrift unter dem Titel »Der Unerschrockene ( l'Intrèpide) herausgab in das Kloster von Klein-Picpus als Mietherin einziehen. Der Herzog von Orleans empfahl sie. Das gab Aufregung in dem Bienenkörbe! Die Stimmmütter zitterten, Frau von Genlis hatte ja Romane geschrieben; sie hatte aber erklärt, daß sie die erste sei, welche dieselben verwerfe und dann hatte sie auch einen verzweifelt hohen Grad von Frömmigkeit erreicht. Gott half, der Prinz auch und sie zog ein. Nach Verlauf von sechs oder acht Monaten zog sie aber wieder aus, weil der Garten nicht schattig genug war. Die Nonnen waren entzückt darüber. Obgleich sie schon sehr alt war, spielte sie noch die Harfe und zwar sehr gut.

Als sie auszog, ließ sie ihr Zeichen in der Zelle zurück. Frau von Genlis war abergläubisch und verstand lateinisch. Diese beiden Worte geben ein ziemlich treues Bild von ihr. Noch vor einigen Jahren sah man an der Innenseite eines kleinen Schrankes ihrer Zelle, in welchem sie ihr Geld und ihren Schmuck bewahrte, einige lateinische Verse angeklebt, die sie eigenhändig, mit rother Dinte auf gelbes Papier geschrieben hatte und welche ihrer Meinung nach die Kraft hatten, die Diebe zu verscheuchen.

I. Strategische Zickzacks.

Es ist hier eine Bemerkung nöthig.

Seit vielen Jahren schon ist der Verfasser dieses Buches, der leider jetzt gezwungen ist, von sich zu sprechen, von Paris abwesend. Seit er es verlassen, hat es sich umgestaltet. Eine neue Stadt, die ihm in gewisser Beziehung unbekannt, hat sich erhoben. Daß er Paris liebt, braucht er wohl nicht zu sagen; es ist ja die Geburtsstadt seines Geistes. In Folge von Neubauten ist das Paris seiner Jugend, jenes Paris, das er andächtig in seinem Gedächtnisse mitgenommen hat, heutzutage ein Paris von ehemals. Man erlaube ihm, von diesem Paris zu sprechen als existire es noch. Möglicher Weise ist da, wohin der Verfasser die Leser mit den Worten führen will: »in der und der Straße steht das und das Haus« heutzutage weder eine Straße noch ein Haus. Die Leser mögen berichtigen, wenn sie sich die Mühe nehmen wollen. Was ihn, den Autor, selbst betrifft, er kennt das neue Paris nicht; er schreibt in einer Illusion, die ihm theuer ist, mit dem alten Paris vor den Augen. Der Gedanke ist süß für ihn, es sei etwas von dem hinter ihm geblieben, was er sah, als er in der Heimath war und daß noch nicht Alles geschwunden sei. So lange wir in der Heimath hin und her gehen, glauben wir, die Straßen wären uns gleichgültig; die Fenster, die Dächer, die Thüren seien nichts für uns; die Mauern seien uns fremd; die Bäume seien wie alle anderen; die Häuser, in die wir nicht gehen, nützten uns nichts und das Straßenpflaster, auf dem man geht, wäre nichts als Steine. Später aber, wenn man nicht mehr da ist, erkennt man, daß jene Straßen uns theuer, daß jene Dächer, Fenster und Thüren uns fehlen, daß jene Mauern uns nothwendig, jene Bäume unsere Lieblinge waren, daß wir in die Häuser, in die wir nicht gingen, doch jeden Tag gehen konnten und daß wir etwas von unserm Innern, von unserm Blute, von unserm Herzen auf jenem Straßenpflaster zurück gelassen haben. Alle jene Orte, die man nicht mehr sieht, die man vielleicht nie mehr wieder sehen wird, deren Bild man bewahrt, erhalten einen schmerzlichen Reiz; sie tauchen in uns immer und immer wieder auf mit der Melancholie einer Erscheinung, machen uns das theuere Land sichtbar und sind gewissermaßen die Gestalt des Vaterlandes selbst. Man liebt sie, man erinnert sich ihrer wie sie waren, hält daran fest und will nichts daran ändern; denn an dem Bilde des Vaterlandes hängt man wie am Gesicht seiner Mutter.

Es sei uns also erlaubt in der Gegenwart von der Vergangenheit zu sprechen. Wir bitten den Leser dieses zu berücksichtigen und fahren nunmehr weiter fort.

Johann Valjean hatte sofort den Boulevard verlassen und sich in die Straßen hineingemacht. Er ging möglichst wenig gerade aus und kehrte bisweilen sogar um, um sich zu überzeugen, daß man ihm nicht folge.

So macht es der verfolgte Hirsch. Auf einem Boden, wo die Spur sich eindrücken kann, hat solches Verfahren unter Anderem auch den Vortheil, daß die Jäger und die Hunde durch das Hin und Her getäuscht werden. Man nennt dies in der Jagdsprache »einen falschen Rückgang.«

Es war eine Vollmondnacht. Johann Valjean war deshalb nicht betrübt. Der noch tief am Horizonte stehende Mond warf große Flecken Schatten und Licht in die Straßen. Johann Valjean konnte auf der Schattenseite an den Häusern und Mauern hinschleichen und die helle Seite beobachten. Vielleicht dachte er nicht genug daran, daß die dunkele Seite sich ihm dadurch entziehe. Indeß hielt er sich überzeugt, daß in den öden Gäßchen um die Straße Poliveau herum Niemand hinter ihm hergehe.

Cosette ging neben ihm, ohne eine Frage an ihn zu richten. Die Leiden der ersten sechs Jahre ihres Lebens hatten ihrer Natur etwas Passives gegeben. Uebrigens – und das ist eine Bemerkung, auf die wir noch bei mehreren Gelegenheiten zurückkommen werden – war sie, ohne sich hierüber Rechenschaft zu geben, an die Seltsamkeiten des guten Mannes und an die Wunderlichkeiten des Geschicks gewöhnt. Und dann fühlte sie sich auch sicher, wenn sie bei ihm war.

Johann Valjean wußte eben so wenig wie Cosette, wohin er ging. Er vertraute sich Gott an wie sie sich ihm anvertraute. Es kam ihm vor, als hielte auch er die Hand eines Größeren, als er selbst sei und das ihn leite. Er glaubte ein unsichtbares Wesen zu fühlen, das ihn führe. Uebrigens hatte er keinen bestimmten Gedanken, keinen Plan, keine Absicht. Er wußte nicht einmal gewiß, ob es Javert gewesen. Und konnte es denn Javert sein, ohne daß dieser wußte, er sei Johann Valjean? War er nicht anders gekleidet? Hielt man ihn nicht für todt? Freilich gingen seit einigen Tagen seltsame Dinge vor. Mehr bedurfte es für ihn nicht. Er war entschlossen, in das Haus Gorbeau nicht mehr zurückzukehren. Wie das aus seinem Lager vertriebene Thier suchte er ein Loch, wo er sich verstecken könne, bis er eines zu einer Wohnung gefunden haben würde.

Johann Valjean beschrieb auf seiner Wanderung mehrere Labyrinthe in dem Stadtviertel Mouffetard, das bereits schlief, als bestehe noch die Ordnung des Mittelalters und das Joch der Feierabendglocke. Mit der Klugheit eines Feldherrn ging er durch verschiedene Gassen, trat aber in keines der Häuser ein, da er etwas Passendes nicht fand. Er zweifelte nicht, daß, wenn man zufälligerweise seiner Spur nachgegangen, man ihn nicht hätte verlieren können.

Als es elf Uhr schlug, ging er in der Straße Pontoise vor dem Bureau des Polizeicommissars in No. 14 vorbei. Einige Augenblicke später veranlaßte ihn der Instinkt, von dem wir oben gesprochen, sich umzuwenden. In diesem Augenblicke sah er deutlich, Dank dem Lichte der Laterne des Commissars, die sie verrieth, drei Männer, die ihm ziemlich nahe folgten, wie sie einer hinter dem andern unter der Laterne in der Schattenseite der Straße vorbeigingen. Der Eine trat in den Flur des Hauses des Commissars hinein. Der, welcher voranging, kam ihm entschieden verdächtig vor.

»Komm, Kind!« sagte er zu Cosette, und er beeilte sich die Straße Pontoise zu verlassen. Er machte einen Cirkel durch verschiedene Gassen bis er sich endlich in der Post- oder, wie sie eigentlich heißen sollte, Topf-Straße verlor. Der Mond warf ein helles Licht auf die eine der Straßenecken. Johann Valjean versteckte sich unter eine Hausthür, weil er meinte, daß wenn ihn die drei Männer weiter verfolgten, er sie jedenfalls deutlich würde sehen können, sobald sie über diesen hellen Fleck gingen.

Es waren in der That kaum drei Minuten vergangen, als die Männer erschienen. Es waren jetzt vier, Alle groß, in lange braune Röcke gekleidet, mit runden Hüten und dicken Stöcken in der Hand. Ihr düsterer Gang im Finstern war nicht weniger beunruhigend, als ihre Größe und ihre starken Fäuste. Sie sahen aus wie vier Gespenster in Bürgerkleidung.

In der Mitte des erleuchteten Straßenplatzes blieben sie stehen und stellten sich so zusammen, als berathschlagten sie. Sie schienen unentschlossen zu sein. Derjenige, welcher ihr Führer zu sein schien, wandte sich um und zeigte lebhaft mit der rechten Hand in der Richtung hin, wo Johann Valjean sich versteckt hatte, ein Anderer schien mit Hartnäckigkeit die entgegengesetzte Richtung zu bezeichnen. In dem Augenblicke, als der Erste sich umwendete, beschien der Mond sein Gesicht. Johann Valjean erkannte deutlich Javert.